Jonathan Swift: Gedanken und Schriften über Religion und Kirche [Reprint 2020 ed.] 9783112341384, 9783112341377

De Gruyter Book Archive (1933-1945) This title from the De Gruyter Book Archive has been digitized in order to make it

170 48 52MB

German Pages 194 [204] Year 1935

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Jonathan Swift: Gedanken und Schriften über Religion und Kirche [Reprint 2020 ed.]
 9783112341384, 9783112341377

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Britannica In Verbindung mit dem Seminar für englische Sprache und Kultur an der Hamburgischen Universität herausgegeben von Emil

Wolff

Heft 9

Jonathan Swift Gedanken und Schriften über Religion und Kirche

Von

Hans Reimers

Friederichsen, de Gruyter 8c Co. m. b. H. / Hamburg 1935

Inhaltsverzeichnis. Einleitung

1

Kapitel

I: Kirchen- und Geistesgeschichte zur Zeit Swifts (Hauptströmungen)

5

Kapitel

II: Swift im Verhältnis zur Kirche und zur Aufklärung im allgemeinen

30

Kapitel III: Swift und die anglikanische Kirche .

.

.

Kapitel IV: Swift und der Dissent Kapitel

V: Swift und der Deismus

Kapitel VI: Swift, eigene Stellung zur Religion und Kirche Literaturverzeichnis

38 102 146 182 193

Einleitung. J o n a t h a n S w i f t , Dean von St. Patrick in Dublin, der große Satiriker und Pamphletist des Zeitalters der Königin Anna, gilt bis zum heutigen Tag als umstrittene Persönlichkeit sowohl in bezug auf einige seiner Charaktereigenschaften, als auch auf seine Schriften und Ansichten in Verbindung mit seinem Leben. Die Kritik hat sich von S w i f t s Lebzeiten an ununterbrochen mit diesem hervorragenden Geist im englischen Staats- und Geistesleben zu Anfang des 18. Jahrhunderts beschäftigt. Parteigeist und Verschiedenheit der religiösen Auffassungen sind zu Urteilen gekommen, die in ihrer Gegensätzlichkeit Mißtrauen erwecken müssen. Kam die Reihe der Kritiker aus whiggistischen Kreisen, etwa J e f f r e y , M a c a u l e y, T h a c k e r a y , zu den ungünstigsten Ergebnissen, so führten die umfassenderen biographischen Studien, etwa von C r a i k und C h u r t o n C o l l i n s , zu freundlicheren Resultaten. Ihre größte Gegensätzlichkeit erreicht dabei die Kritik in der Behandlung der Ansichten S w i f t s über Religion und Kirche. Alle Stufen, von tiefster religiöser Überzeugung bis zum vollständigen Atheismus werden vertreten. Aber auch im gegen S w i f t eingestellten Lager ist man sich keineswegs einig. O r r e r y, der in seinen "Remarks on Swift" dem Dichter durchaus nicht wohlwollte, spricht im 23. Briefe von seiner Überzeugung, daß S w i f t es in Handlungen und Schriften für die Kirche aufrichtig meinte 1 ). Dem ständig wiederkehrenden Motiv des Egoismus und des Ehrgeizes als bestimmender Kraft in der kirchlichen Laufbahn S w i f t s , überhaupt in seinem ganzen Leben, der Verlogenheit seiner kirchenpolitischen und religiösen Schriften"), stehen Urteile gegenüber, die keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit und inneren Überzeugung von Wert und Aufgaben der Kirche bei S w i f t zugeben wollen 3 ). Gerade diese Verschiedenheit in der Beurteilung S w i f t s gibt den Anreiz, das Wesen und die Gedanken dieses Mannes näher zu betrachten. Dabei ist eine Antwort auf die Frage nach dem 1) O r r e r y : R e m a r k s on Swift. S. 2 8 3 f. 2) B r o s c h : B d . 8. S . 5 4 9 . 3) E . P o n s : " S w i f t " gibt in einer Einleitung eine Ü b e r s i c h t stellung der B i o g r a p h e n . S. 6 — 1 0 5 .

ü b e r die

Ein-

Ursprung dieser gegensätzlichen Urteile nicht ohne Weiteres zu geben. Daß der Parteien Haß und Gunst und Verschiedenheit religiöser und konfessionellerAnschauung den Blick für ein objektives Urteil getrübt haben, steht außer Frage. Daß sich aber diese Gegensätzlichkeit der Urteile bis in die neueste Zeit hineingezogen hat, wo politische Gegensätze sich auf ganz anderen und neuen Gebieten wirksam zeigen, wo konfessionelle Gesichtspunkte die Objektivität der Forschung weniger trüben, deutet auf die tatsächliche Schwierigkeit des Problems. Zweifellos beruhen viele Urteile in umfassenderen Darstellungen des Geisteslebens und der Geschichte Englands auf Entlehnungen aus anderen Darstellungen. Sie haben zwar für eine Spezialuntersuchung keine Bedeutung, aber sie haben dazu beigetragen, die falschen Vorstellungen über S w i f t außerordentlich zu verbreiten. Wichtiger und gefährlich sind schon Auffassungen, die sich bei einer Behandlung S w i f t s auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis aus seinem Schrifttum beschränken und darauf ihr Urteil gründen. Gerade in dieser Tatsache scheint ein grundlegender Fehler für die objektive Beurteilung S w i f t s zu liegen. Natürlich sind es die Hauptwerke, die sich bei einer Behandlung S w i f t s zunächst in den Vordergrund drängen. Aber müssen "A Tale of a Tub" und "Gulliver's Travels", weil sie die bedeutendsten Werke des Dichters sind, unbedingt den größten Quellenwert besitzen? Setzt sich das Urteil, was oft genug geschehen ist, über die kirchliche und religiöse Überzeugung S w i f t s zusammen aus einer Interpretation seiner beiden Hauptwerke, so muß ein schiefes Bild entstehen, das sich leicht noch, etwa durch das Gedicht "The Last Judgment", verstärken läßt. Treten dann noch die Schriften für die Kirche aus dem Jahre 1708 hinzu, scheint sich ein unlösbarer Zwiespalt zu ergeben, den man nur zu gern, selbst unter Erwähnung der Predigt über die Trinität, durch kirchliche Heuchelei zu erklären suchte. Aber schon die Menge des Schrifttums bei S w i f t für die anglikanische Kirche sollte gegenüber dieser nur unvollkommenen Auswertung des Materials und der Bequemlichkeit des Urteils zu denken geben 4 ). Tatsächlich kommen die modernen Biographen L e c k y, C r a i k , C h u r t o n - C o l l i n s zu ziemlich einheitlichen und auch günstigeren Ansichten, die auf einer Kenntnis des gesamten religiös-kirchlichen Schrifttums S w i f t s , unter Aus4 ) Die g e s a m t e n rein kirchlichen S c h r i f t e n S w i f t s mit dem U r t e i l der s e l b s t s ü c h t i g e n H e u c h e l e i a b z u t u n , ist u n k r i t i s c h ; s c h o n die allgemein a n e r k a n n t e n vorteilhaften Charaktereigenschaften S w i f t s , neben a n d e r e n im V e r l a u f der A r bedt zu behandelnden G r ü n d e n , s p r e c h e n gegen eine d e r a r t i g e Auffassung. —

2



wertung der für diese Fragen wichtigen Korrespondenz, beruhen. Aber sie können im Rahmen einer Gesamtbiographie für diese Seite des S w i f t sehen Werkes nur eine verhältnismäßig zusammengedrängte Darstellung geben, die zudem durch das Fortschreiten des biographischen Teils dauernd unterbrochen, der Übersichtlichkeit und Einheit entbehrt. Daß in diesem Fall eine genaue Interpretation und die Möglichkeit, alles zu belegen, sich von selbst verbieten, ist unschwer einzusehen. Es soll in dieser Arbeit nun der Versuch gemacht werden, die Schriften S w i f t s über Religion und Kirche in ihrer Gesamtheit zu interpretieren. Das scheint bisher außerhalb des Rahmens einer Gesamtbiographie noch nicht geschehen zu sein. Die Vorteile eines solchen Unternehmens scheinen auf der Hand zu liegen. Zunächst steht fest, daß die Auswertung des gesamten umfangreichen Schrifttums die Klarheit in der Interpretation dieser Fragen zu fördern vermag. Eine endgültige Entscheidung will und kann sich das Ergebnis dieser Arbeit nicht anmaßen; die Schwierigkeit des Problems und die unzureichenden Mittel, die zur Verfügung stehen, werden eine endgültige, klare Erkenntnis wohl nie ermöglichen. Daß dieser Fragenkomplex aus dem Gesamtrahmen der Biographie herausgelöst und so zu einer Einheit zusammengedrängt erscheint, vermag die Eindringlichkeit seiner Wirkung und die Ungetrübtheit des Blickfeldes zu erhöhen. Allerdings durfte dabei keinesfalls die Verbindung zum Leben S w i f t s und zu seiner Zeit gelöst werden. Man hat oft genug von der unauflöslichen Verbundenheit von Zeitgeschehen, Privatleben und Schrifttum S w i f t s gesprochen. Eine entscheidende Bedeutung erhalten •diese Wechselbeziehungen bei der Beurteilurig der religiös-kirchlichen Fragen. L e s l i e S t e p h e n hat S w i f t sogar als charakteristisch und in seinen Ansichten geradezu als den Ausdruck für seine Zeit hingestellt 5 ). Darzustellen, wie sich in S w i f t die religiös-kirchlichen Strömungen seiner Zeit spiegeln, welchen Einfluß die geistesgeschichtliche Entwicklung des ausgehenden 17. und der Anfänge des 18. Jahrhunderts auf die Gedanken und die Schriften S w i f t s gehabt hat, ist die andere Seite der Aufgabe, die sich diese Arbeit gestellt hat. Sie möchte den Versuch machen, durch Gegenüberstellung von Zeitgeschichte und den Anschauungen S w i f t s eine gewisse Abhängigkeit festzustellen, die uns die Ansichten S w i f t s verständlicher machen und ihn im Rahmen historischer Bedingtheit erscheinen lassen, wogegen sich dann die Originalität S w i f t » 5) L e s l i e

Stephen:

"Engl. Thought".

Vol.

II. S.

366—374

wieder abzuheben vermag. Dabei läßt sich möglicherweise eine gerade Linie durch alle Schriften, die Religion und Kirche betreffen, ziehen. Das erfordert aber eine Stellungnahme nicht nur zu den kirchenpolitischen Fragen, mit denen sich S w i f t vorwiegend beschäftigt hat, sondern ebenfalls eine Untersuchung seiner Ansicht über die geistesgeschichtlichen Probleme seiner Zeit, im Vordergrund steht hier die Aufklärung in ihrer universalen Wirkung, sodann in ihrem speziell antitheologischen Ausdruck, dem englischen Deismus. Diese Beurteilung bietet ohne Frage wertvolle Ansatzpunkte zum Eindringen in das Verständnis S w i f t s . Angeregt worden ist eine solche Betrachtung der englischen Literatur und ihrer Träger durch S c h ö f f l e r , der den Wandlungen durch die Aufklärung speziell beim Klerus nachgegangen ist 8 ). Daß diese Methode auch für S w i f t anwendbar ist, bestätigt L e s l i e S t e p h e n , der S w i f t mit S a m u e l J o h n s o n zusammen für bestimmte Ideen und Richtungen als den treffendsten Ausdruck der Zeit hinstellt. Diese Auffassung wird sich im Laufe dieser Arbeit noch nach anderen Seiten ergänzen und vervollständigen lassen. S w i f t s Gedanken über Kirche und Religion im Rahmen seiner Zeit betrachten, heißt aber, eine ganze Reihe von Fragen, die in diesem Zusammenhang von sekundärer oder unwesentlicher Bedeutung sind, ausschließen. Die literarische Beurteilung wurde kaum berücksichtigt; bibliographische Angaben ergänzt man am besten aus der Ausgabe der Prosa-Werke S w i f t s von T e m p l e S c o t t (1898). Auf biographische Vollständigkeit konnte kein Gewicht gelegt werden, hier mögen zur genauen Orientierung C r a i k , P o n s und das DNB dienen. Sie mußten jedoch eingefügt werden, um die theoretischen Teile durch die Schilderung der persönlichen Entwickelung des Dichters zu vervollständigen. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß auf eine genaue Untersuchung der Frage, ob und wie weit bei S w i f t egoistische und persönliche Motive eine Rolle spielen, wegen der Fragestellung der Arbeit verzichtet werden mußte. Es wird aber aus dem Laufe der Schrift erhellen, daß diese Frage für dieses Gebiet relativ unbedeutend ist..

6) S c h ö f f 1 e r. P r o t e s t a n t i s m u s

und

Literatur.

S.

222.

KAPITEL I Kirchen- und Geistesgeschichte zur Zeit (Hauptströmungen).

Swifts

Man betont die enge Verknüpfung, die zwischen den Schriften S w i f t s und dem Leben seiner Zeit besteht. DieseVerbundenheit beschränkt sich nicht allein auf die sachlichen Verhältnisse und historischen Umstände, sondern liegt darüber hinaus noch fester im Geistesgeschichtlichen verankert. Will man S w i f t , wenn auch nur von einer bestimmten Seite gesehen, als den Ausdruck und gleichsam die Verkörperung dieser Zeit fassen, so muß zunächst das kirchliche und geistige Geschehen jener Periode in größeren Umrissen gezeichnet werden, aus dessen Bedingungen S w i f t herauswächst. Seine bedeutendsten Schriften über Religion und die Kirche fallen in die Regierungszeit der Königin Anna. Aus diesen Ereignissen heraus formen sich in ruhigeren Zeiten (ab 1714) abschließende Urteile und zeitweise weniger bedeutende Gelegenheitsschriften für die Kirche (etwa 1731—33). Unsere Betrachtungen setzen bei dem Zeitpunkt ein, der für das Zeitalter der Königin Anna von grundlegender Bedeutung wurde: bei der Glorious Revolution von 1688. Theorien, Probleme und Zwiespältigkeiten der nachfolgenden Jahrzehnte haben meist ihren Ursprung in den neu geschaffenen Zuständen und der Verletzung althergebrachter Lehren durch die Umwälzung beim Erscheinen Wilhelms III. Schon damals konnte man High Church und Low Church ungefähr mit Tories und Whigs gleichsetzen. Es fehlten im Staatsleben im. großen und ganzen die politischen Gegensätze, sie konzentrierten sich lediglich auf den spanischen Erbfolgekrieg. Hingegen zeigte sich als Kennzeichen der engen Verbindung der Staats- und Kirchen-Politik in diesem Zeitalter, daß die schärfsten Gegensätze zwischen den Parteien auf religiösem Gebiet lagen 1). 1) D i e D a r s t e l l u n g d i e s e s der E i n f ü h r u n g dienenden K a p i t e l s s c h l i e ß t s i c h im W e s e n t l i c h e n an die W e r k e v o n T r o e l t s c h , L e c k y , S t e p h e n und W i l s o n an.

Der Hauptstreitpunkt, — als solcher wieder nur ein Symptom für die grundsätzliche Einstellung der kirchlichen Parteien, — zwischen High Church und Low Church war zu dieser Zeit die verschiedene Auffassung über Ursprung und Umfang der bischöflichen Jurisdiktion. Während die Hochkirche die Auffassung des göttlichen Ursprungs der bischöflichen Regierungsgewalt vertrat und sich mit größtem Eifer für die Bewahrung der Vorrechte und der machtvollen Stellung der Kirche einsetzte, wurde die Low Church zur Vertreterin einer durchaus gemäßigten Richtung. Ihr lag die Stärkung der bischöflichen Jurisdiktion nicht so sehr am Herzen, und sie fühlte sich sogar bereit, einer religiösen Organisation, selbst wenn sie nicht unter episkopaler Leitung stand, wie etwa die Presbyterianer, die Anerkennung als Kirche einzuräumen. Damit aber hatte diese kirchliche Partei Lehren aufgegeben, die die Kirche seit langem fest in ihr Dogmensystem aufgenommen hatte. Die Folgen sollten sich nach nicht allzu langer Zeit in der Haltung des englischen Volkes gegenüber der Low Church und den Whigs zeigen, wie sie auch S w i f t s Parteistellung wesentlich beeinflußten. Neben der Lehre vom göttlichen Ursprung der bischöflichen Gewalt standen die Lehren vom "Divine Right of the Kings" und der „Passive Obedience", die durch die Revolution von 1688 in ihrem Bestand gefährdet wurden; ihrem Sinne nach bedeuteten sie eine Verurteilung der Revolutionen. Dieser Grundsatz erforderte, daß man sich im Falle einer Entscheidung eher dem Hause Stuart als dem hannoveranischen Königshaus anschließen mußte. In diese Theorien brachte der endgültige Erfolg der Revolution einen unheilbaren Riß. Wilhelm von Oranien kam mit dem Versprechen nach England, die protestantische Religion zu schützen. Hier befand sich die anglikanische Kirche im Kampfe gegen die Versuche Jakobs II., den Katholizismus wieder einzuführen. Diese Tatsache versetzte die Geistlichkeit in eine zwiespältige Lage, denn jetzt war sie gezwungen, im Widerspruch zu einer Lehre, die sich fest in die Theologie der Kirche eingegraben hatte, zu handeln. Das Oberhaupt der Church of England, eben König Jakob II., hatte das in ihn gesetzte Vertrauen verletzt, hatte versucht, auf illegale Weise dem Lande eine Religion zu geben, die es verabscheute. Die Kirche mußte sich verteidigen, um ihren Bestand zu sichern, mußte aber gleichzeitig auf die Lehren vom göttlichen Recht und vom passiven Gehorsam verzichten. Trotzdem blieben diese Lehren ein Bestandteil der anglikanischen Dogmatik, die Majorität des Klerus vertrat sie weiter, und auf Grund des entscheidenden Einflusses der Kirche auf dem

Lande, blieben sie auch dort allgemein anerkannt. Demzufolge begegnete man Wilhelm bei seiner Ankunft mit Mißtrauen; er war Fremder und ohne Frage kein Freund der anglikanischen Kirche. Seine Absichten in bezug auf eine Vereinigung der Kirchen von Holland und England brachten ihn nicht weniger in Gegensatz zur englischen Staatskirche als die Tatsache, daß er die Lehre von der "apostolical succession" niemals ernsthaft anerkennen konnte. Der extreme Teil der englischen Hochkirche lehnte die Anerkennung Wilhelms ab. Ihm stand der Glaube an das göttliche Recht höher als die Furcht vor der katholikenfreundlichen Politik der Stuarts; vielleicht sahen sie in der Aufgabe eines Dogmas überhaupt eine Gefahr für den Bestand der Kirche. Diese Geistlichen lehnten die Act of Settlement ab und 1691 mußten der Erzbischof Sancroft, 5 Bischöfe und über 400 andere Geistliche aus ihren Ämtern scheiden, ein Ereignis, das S w i f t zum Gegenstand einer seiner ersten dichterischen Versuche machte 2 ). Hingegen ist man erstaunt, wie gering bei der engen Verknüpfung der Lehre von der gottgewollten Erbfolge mit dem Dogmengebäude der anglikanischen Kirche der Widerstand war, den der größte Teil der Geistlichkeit dem neuen Herrscher entgegensetzte. Zwar bekannte man sich weiterhin zu der Lehre der unantastbaren Erblichkeit der Krone und der Sünde jeglichen Widerstandes gegen Bedrückung, aber man nahm doch den Eid auf die revolutionäre Regierung auf sich, wenn auch nach langen Besorgnissen und unter möglichster Verklauselung. Möglicherweise spielte der Gesichtspunkt eine Rolle, daß man zunächst auf die Nachfolge einer der Kirche freundlich gesinnten Königin warten wollte. Als der Klerus den Huldigungseid leistete, lag die übliche Zuflucht in der Unterscheidung zwischen einem Königtum de j u r e und de facto. Sherlock und andere Geistliche vertraten, obgleich sie sich zum Gesetz der passive obedience bekannten, den Standpunkt, daß der Eid geleistet werden müsse gegenüber einem König, der tatsächlich die Macht besaß. So brauchte man die Revolution nicht zu verteidigen. Zwar erkannten die Geistlichen in ihrem Eid eine Sünde; da aber Wilhelm auf dem Throne saß und Rebellion gegen den Herrscher auch in diesem Falle eine Sünde war und im Gegensatz zu ihren Lehren stand, so glaubten sie sich zum Gehorsam verpflichtet. Schwieriger wurde die Lage, als Wilhelm III. nach dem Tode Jakobs II. (Dezember 1701) den Abjuration Oath verlangte. 2) Ode to Archbishop S a n c r o f t .

Poems,

B d . [ S. 1—8.

Damit forderte er, daß der Klerus eidlich bestätigen sollte, daß der Prince of Wales, der Pretender, wie er allgemein genannt wird, keinen Anspruch auf den englischen Königsthron habe und daß man dem jetzigen Herrscher als "lawful and rightful" huldigte. Damit enthielt dieser Eid ein bestimmtes Urteil über die Revolution, das in keinem Falle mit der kirchlichen Lehre» vom divine right vereinbar war. Mit Recht hätte man von dieser Forderung ein neues Schisma erwarten können, aber die unversieglichen Quellen kirchlicher Kasuistik waren auch diesem Problem gewachsen, wohl auch unter dem Einfluß der antidogmatischen Strömungen der Zeit. Jedenfalls leistete man auch jetzt mit wenigen Ausnahmen den Eid und schien damit endgültig dem Dogma aufzusagen. Das Inkrafttreten dieser Akte fiel zeitlich etwa mit der Thronbesteigung der Königin Anna zusammen, und man leistete den Eid, um sich auch ihr& Zuneigung zu erhalten. Dadurch trug man aber dazu bei, das Nonjuror-Schisma zu erhalten, denn der Eid stieß jene Kräftezurück, die beim Tode Jakobs in den Schoß der Kirche zurückgekehrt wären. Trotz dieses Verhaltens der Geistlichkeit predigten sie aber zu keiner Zeit seit der Restoration die Lehr© vom passiven Gehorsam und vom göttlichen Recht mit m e h r Nachdruck, als zur Zeit der Königin Anna! Wilhelm war es gelungen, die Geistlichkeit in sich zu spalten und die hohen Würdenträger f ü r sich zu gewinnen, di& in der Mehrzahl Whigs waren. Nach dem Ausscheiden der nichtschwörenden Bischöfe hatte der König eine Neuernennung ganz in seinem Sinne getroffen. So bildete das Oberhaus der Convocation eine Gruppe, die den Ideen der Toleranz nahestand und die Pläne Wilhelms in bezug auf die Kirche von Holland billigte. Sie bestand meist aus Latitudinariern, die unter der F ü h r u n g Burnets, Tillotsons und Tenisons im scharfen Gegensatz zum Unterhaus der Convocation und den von diesem vertretenen Interessen standen. Ihren Ursprung hatten sie hauptsächlich in Cambridger Kreisen zur Zeit Cudworths und HenryMores; zu ihnen gehören auch Stillingfleet und Cumberland. Die Bischöfe repräsentierten so in ihrer Gesamtheit eine sehr gemäßigte und liberale, nachdrücklich protestantische Gruppe innerhalb des Klerus, und sie waren vor allem zur Allianz mit den Dissentern bereit. Burnet war der energische Vertreter der Comprehension, die die protestantischen Sekten in die englische Staatskirche aufnehmen wollte unter Lockerung des Dogmengebäudes der anglikanischen Kirche und ihrer Disziplin. Im großen und ganzen h a t die Regierung Wilhelms von Oranien dazu beigetragen, Gegensätze auszugleichen. Die Fun-

damente der Kirche hatten sich, trotz eines scharfen Antagonismus zur Revolution, verbreitert; extreme Richtungen zu beiden Seiten der Kirche blieben mehr und mehr isoliert. Die große Menge des Klerus hing fest an der Kirche und folgte der Politik der Ministerien; sie waren zwar Tories, aber keine extremen Tories. Allerdings reagierten sie besonders empfindlich auf den Ruf: the Church in danger; ihre eifersüchtige Wachsamkeit über ihren Einfluß und ihre Privilegien auf dem Lande entsprach dieser Empfindlichkeit. Zwar standen sie den modernen Bestrebungen der Toleranz nicht feindlich gegenüber, hier ist vielmehr eine anerkennende Indifferenz charakteristisch; aber den Vorschlägen und Gedanken der whiggistischen hohen Geistlichkeit zu folgen, waren die niederen Geistlichen keinesfalls bereit. Gewiß unterstützten sie die Bestrebungen zur Sicherung der protestantischen Erbfolge, aber ihre alten Lehren ließen doch den Gedanken an das Ideal einer direkten Nachfolge des Stuarts, gemäß dem Krönungseide, nicht verschwinden. So hat es auch an Anknüpfungen mit dem Pretender in St. Germain nicht gefehlt, sie blieben jedoch vereinzelt und der Klerus handelte in der Majorität nach den Gesichtspunkten des Vorteils für Kirche und Staat. Man sah ein, daß die Verbindung mit dem Prätendenten nur zerstörend wirken konnte, und man setzte sich mit allen Mitteln für die Sicherung der protestantischen Erbfolge ein. Inzwischen war es einer anderen Richtung gelungen, die Kräfte der Kirche, die sich gegen den niederkirchlichen Latitudinarianismus sträubten, für sich einzuspannen. Diese Bewegung zeigt in ihren Theorien eine deutliche Verwandtschaft mit der Hochkirche, aber ihre Anhänger handelten weniger aus Gewissenszwang als aus staatspolitischem Interesse. Sie hatten sich die Lehre vom göttlichen Recht ebenso zu eigen gemacht, wie die vom leidenden Gehorsam. Von ihrer Seite ging unermüdlich und mit allem Nachdruck der Ruf: "the Church is in danger" aus. Trotzdem war ihr Interesse viel weniger diesem Gegenstand gewidmet, als der Furcht, der Einfluß der Whigs könnte zu sehr überhand nehmen. Aus diesem Grunde drangen sie auch unablässig in die Königin, um sie für die Rückführung des Pretenders zu gewinnen, da die protestantisch-hannoversche Nachfolge zu einer weiteren Stärkung der Whigs führen mußte. Die Vertreter dieser Gedanken ("high-flying" nennt S w i f t sie gelegentlich) verstanden es unter taktischer Ausbeutung ihrer Vorteile, die Kirche in ihr Fahrwasser zu ziehen. Der ganze schwindelnde Aufstieg der Tories und der Hochkirche vom Regierungsantritt Annas (1702) bis zu ihrem Tode (1714) ist eine

Folge dieser Bestrebungen. Die Anträge der Occasional Conformity Bill von 1702, 1703 und 1705, die "Church in dangerDébatte" 1705, der Prozeß Sacheverell (1709), die gewaltige ToryMehrheit bei den Wahlen 1710, die Durchbringung der Bill against Occasional Conformity und schließlich die Schism-Act von 1714 sind die einzelnen Stufen eines unerhörten Aufstiegs. Aber man überspannte letzthin den Bogen; die Kirche war gewiß bereit, den gemäßigten Gedanken und Plänen H a r 1 e y s und auch S w i f t s zu folgen, aber sie lehnte letzten Endes die Ziele B o l i n g b r o k e s und A t t e r b u r y s ab. Als Gegenpol zu dieser extremen Rechten der Kirche bildete sich die Low Church Party, die unter Burnets Führung eng mit der Idee der protestantischen Nachfolge verwachsen, ihre politischen Lehren auf den Prinzipien der Revolution aufgebaut hatte. Die stark betonte protestantische Seite ihrer Propaganda, fand in der Idee der Universalität des Protestantismus und seiner Einheit Ausdruck. Man forderte die Zusammenfassung der protestantischen Elemente des Dissents und der anglikanischen Kirche auf Grund einer Annäherung der beiderseitigen Dogmen, womöglich unter Verzicht auf nebensächliche Zeremonien und Lehren. Die Kontroverse zwischen beiden Richtungen spielte sich vornehmlich im Rahmen der Convocation ab, worauf weiter unten noch eingegangen wird 5 ); während auch das Schrifttum S w i f t s diese Gegensätze getreu widerspiegelt. Der Regierungsantritt der Königin Anna war für die Hochkirche das Zeichen zum Alarm. Es waren genügend Anhaltspunkte für die kirchenfreundliche Gesinnung der Königin vorhanden, und ihre ersten Reden im Parlament bestätigten die in sie gesetzten Hoffnungen: "My principals must always keep me firm to the interests of the religion of the Church of England and will incline me to countenance those who have the truest zeal to support it" 4 ). Wenn die Königin auch leicht zu beeinflussen war, so hing sie doch mit hartnäckiger Festigkeit an ihren Prinzipien, und das ihr am meisten am Herzen liegende Geschäft war ihre Liebe und Fürsorglichkeit für die anglikanische Kirche. In dieser Hinsicht ließ sie sich um so lieber und leichter beeinflussen, da sie, im allgemeinen überhaupt der Schmeichelei zugänglich, hier ganz im Sinne ihrer eigenen Interessen vorwärtsgetrieben wurde, was auch S w i f t zu nutzen verstand. Tories und die Vertreter der Hochkirche hatten bei der Königin kein allzu schweres Spiel, und S w i f t gelang es 3) K a p i t e l I S . 16 ff. 4) W i 1 s o n, S . 23 f. —

10



1710 sehr schnell, die First Fruits and Tenths f ü r den irischen Klerus, durch die Fürsprache H a r 1 e y s zu sichern. Aber nicht nur, daß die Königin ihre Kirchlichkeit durch regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes zeigte, — S w i f t erw ä h n t jedes Mal im Journal to Stella, wenn sie zu seiner Überraschung die Kirche nicht besuchte, — sondern sie griff nunmehr persönlich in die Funktionen des kirchlichen Verwaltungswesens ein. Eine ihrer ersten Regierungshandlungen war die Auflösung einer von Wilhelm III. eingesetzten whiggistischen Kommission, die die Besetzung der höheren geistlichen Ämter überwachte. Von dieser Zeit ab pflegte die Königin selbst die Verteilung der Vakanzen vorzunehmen, eine Tatsache, a n der die Beförderung S w i f t s in eine ihm angemessene geistliche Stellung gescheitert ist. Ihre Fürsorglichkeit für die Kirche bewies Anna auch auf einem schon erwähnten Gebiete; auf Grund einer Anregung B u r n e t s entschloß sie sich durch Verzicht auf die ihr aus den First Fruits and Tenths — alten päpstlichen Annaten, die durch das Suprematsgesetz an die Krone gefallen waren, — zustehenden Einkünften die Not der niederen Geistlichkeit zu lindern. Zunächst beschränkte sich diese Maßnahme nur auf den englischen Klerus, während der irische, obgleich er im Verhältnis noch schlechter gestellt war, erst 6 Jahre später, 1710 die gleiche Vergünstigung erlangte. S w i f t f ü h r t e als Vertreter der irischen Kirche die Verhandlungen und brachte sie allein zum glücklichen Abschluß, wobei es ihm gleichzeitig gelang, in nahe Beziehungen zu den führenden Ministern zu treten. In dieser Zeit knüpfte sich die enge Freundschaft, die S w i f t und B o l i n g b r o k e später verband. Trotzdem gestaltete sich der Aufstieg der Hochkirche sehr schwierig. Der Energie und dem Eifer des Klerus stellte sich eine Reihe der glänzendsten Waffentaten gegenüber; die englischen Truppen eilten unter Marlborough auf dem Kontinent, von Sieg zu Sieg. Ganz England verfiel einem Freudentaumel, und die Tories, als Vertreter des Grundbesitzes am Kriege nicht interessiert, gerieten ins Hintertreffen. So hatte der Krieg vorerst die Anteilnahme des öffentlichen Lebens a n kirchlichen Fragen verdrängt, die Unterstützung Marlboroughs wurde von allen Seiten gleichermaßen gefordert. Ununterbrochen wühlte die Hochkirche während dieser Zeit im Volke gegen die herrschende Whigregierung und gegen die Low Church-Bischöfe. Man arbeitete mit dem Schlagwort der gefährdeten Kirche, sprach vom Betrug der hohen latitu—

11



•dinarischen Geistlichkeit und nützte das schlechte Verhältnis, das zwischen der Königin und ihren Ministern bestand, um von der einer Gefangenschaft gleichzuachtenden Bevormundung der Königin durch die Whigs zu reden. Die Gelegenheit zur „Befreiung" setzte ein, als der Einfluß Marlboroughs auf die mißtrauische Königin, von der er das Oberkommando auf Lebenszeit gefordert hatte, nachließ. Jetzt nahm die hochkirchliche und toryistische Partei ihre Arbeit mit besonderer Intensität auf, und als S w i f t mit seinem Traktat "The Conduct of the Allies" die ungeheuren Summen, die der Krieg verschlang, aufdeckte, wandte sich die Stimmung allmählich gegen das kriegswillige Whigministerium und seinen Feldherrn. Die Königin hatte schon wegen ihrer kirchlichen Einstellung von jeher im Gegensatz zum Whiggismus gestanden. Sie lieh darum um so lieber ihr Ohr der Mrs. M a s h a m, die ihrerseits mit dem T o r y H a r l e y in enger Verbindung stand. Unter diesem Einfluß wagte es die Königin 1706, zunächst zwei Bischöfe aus Torykreisen zu ernennen. Aber vorerst erwiesen sich die Macht der Whigs und der Einfluß Marlboroughs noch als zu stark, und 1708 mußten H a r 1 e y und St. J o h n (der spätere Viscount Bolingbroke) ihre Ministerstellen verlassen. Damit war zwar der Einfluß der Tories vorläufig erschüttert, aber H a r l e y hielt durch die Vermittlung der M r s . M a s h a m die Verbindung mit der Königin aufrecht. Dieser Einfluß konnte sich wieder verstärken, als 1709 die herrschsüchtige L a d y M a r l b o r o u g h in Ungnade fiel und M r s . M a s h a m nun endgültig mit ihren Gedanken die Handlungen der Königin bestimmte. Jetzt führten die unermüdlichen Bestrebungen der Hochkirche zu den ersten Erfolgen. Man versuchte die Macht der W h i g s endgültig zu brechen, unter Ausnutzung aller Mittel, indem man vor allem die 1707 erfolgte Union Englands mit Schottland anfeindete. Man sah darin in kirchlichen Kreisen eine Gefahr für die Staatskirche, da durch die Verbindung mit Schottland presbyterianische Abgeordnete ins Parlament einbogen. Hatten sich die Whigs durch diese Maßnahmen und den für England unvorteilhaften Krieg die Gunst des Volkes verscherzt, so ließ die Kirche den günstigen Augenblick nicht verstreichen, um die frei gewordenen Kräfte für sich zu gewinnen. Die Macht der Kanzel im englischen Volksleben, wie die der Kirche überhaupt, erwies sich als außerordentlich stark; die • öffentliche Meinung drängte sich rückhaltlos zu den Tories. Das Hauptthema wurde wieder die Gefährdung der Staatskirche, die —

12



sich durch die Gesetzgebung und die Theorien der Whigs praktisch beweisen ließ. Die Absichten der latidunarischen Bischöfe, ihr Wunsch nach Verbindung mit den Dissentern und mit ausländischen Protestanten, brachten das Volk in allgemeine Unruhe und Aufregung. Durch den Prozeß gegen Sacheverell kam die kirchenfreundliche Stimmung endgültig zum Durchbruch. Dieser im Grunde unbedeutende hochkirchliche Geistliche hatte am 5. November 1709 in St. Paul's Cathedral über „die Gefahren von falschen Brüdern" gegen das gegenwärtige Ministerium gesprochen und in einer persönlichen Anspielung Godolphin als Volpone bezeichnet. Es kam zu einer Anklage, die die entscheidende Rolle im Sturz des Whigministeriums spielte. Daneben war innerhalb des Prozesses die Diskussion über die Prinzipien der Revolution eines der bedeutendsten Themen. Wenn auch innerhalb der Kirche in dieser Hinsicht schon ein Wandel festzustellen war, so kam es durch die Vertretung hervorragender F ü h r e r beider Richtungen der Geistlichkeit zu entscheidenden Erörterungen der gegenseitigen Tendenzen. An dieser Stelle interessieren weniger die Theorien der Whigs, die sich im allgemeinen auf das Recht der Revolution bei Vertragsbruch duch den Monarchen festlegten, als vielmehr die der Kirche, die sich vornehmlich durch ihren bedeutenden Führer A t t e r b u r y vertreten ließ. Wir haben die unmißverständliche Sprache der Kanzel in bezug auf das Widerstandsrecht kennen gelernt. Man hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß das Königtum eine so hervorragend göttliche Institution sei, d a ß keine Ungerechtigkeit, keine Tyrannei und keine Verfolgung einen Widerstand rechtfertigen können. Hatte auch S a c h e v e r e l l in seiner Predigt diesen Standpunkt wieder betont, so wichen schon seine Verteidiger von dieser Einstellung erheblich ab: sie gaben das Recht des Widerstandes in extremen Fällen (und in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Verhalten 1688) zu. Sie behaupteten, daß der Geistliche gerechtfertigt sei, wenn er moralische Vorschriften in großen Zügen darlege, ohne dabei zu verweilen, die möglichen Ausnahmen in der Anwendung zu nominieren, und H a r c o u r t behauptete sogar im Gegensatz zur Torytheorie, daß die oberste Gewalt in England nicht der Krone, sondrrn der Legislative zukäme, eine Ausflucht, die vielerseits aufgegriffen wurde. Das bedeutete praktisch die Aufgabe der alten Lehre vom Divine Right of Kings und diese Tatsache sollte in der weiteren Entwicklung des englischen Kirchenwesens eine bedeutende Rolle spielen. — 13 —

Zunächst aber brachte der Prozeß der Kirche den erstrebten plötzlichen Aufstieg. Über das ganze Land ging unter dem Eindruck der Anklage gegen einen hochkirchlichen Geistlichen eine Welle religiöser Begeisterung. Selbst die unbedeutende Bestrafung S a c h e v e r e l l s glättete die Wogen der Erregung nicht: der Sturz der Whigs erfüllte sich schnell. Im August 1710 wurde G o d o l p h i n durch H a r 1 e y ersetzt und dieser wurde im allgemeinen Toryüberschwang mit hinweggerissen, obgleich er im Grunde eine zu Kompromissen und Mäßigung neigende Natur war. Jetzt aber vermochte er sich dem von der Kirche vorbereiteten und sorgsam genährten Strom toryistischer Begeisterung nicht entgegenzustellen, die Wahlen von 1710 führten zu einer starken Majorität der Tories und damit zu einem Höhepunkt des Einflusses der Hochkirche auf die Politik. In schlagender Weise hatte der Ministersturz von 1710 den Beweis der Kraft der Kirche geliefert; die Staatsmänner erkannten, daß, wenn richtig angefacht, kein anderer Stand im Lande ein derartig großes Maß von Enthusiasmus beherrschen konnte und daß, mit Ausnahme ganz besonderer und abnormer Umstände kein anderer Stand einen so ständigen und sicheren Rückhalt in der Zuneigung des Volkes hatte, wie der Klerus. Aber diese Kraft der Kirche offenbarte sich hier zum letzten Male; schon 5 Jahre nach diesem Ereignis war in dieser Haltung ein vollkommener Wechsel eingetreten, von dem weiter unten gehandelt werden soll. Der Lauf der englischen Kirchengeschichte bis zu diesem Zeitpunkt hat die enge Verknüpfung zwischen Staats- und Kirchenpolitik gezeigt. Von diesem Gesichtspunkt interessiert auch eine andere Frage, die eine Hauptstellung in den damaligen kirchenpolitischen Diskussionen einnahm: das Problem der Toleranz. Es handelt sich dabei hauptsächlich um die Erörterung dieser Frage im Rahmen der englischen Gesetzgebung, weniger um die religionsphilosophische Rechtfertigung etwa durch J o h n L o c k e , die im Zusammenhang unseres Themas weniger interessiert und auf die nur hingewiesen sein soll. Auch in diesem Falle setzt unsere Betrachtung mit der Revolution von 1688 ein. Staatskirche und Dissent hatten sich in der gemeinsamen Abwehr des drohenden Katholizismus zusammengefunden. Mit der Thronbesteigung durch Wilhelm von Oranien erwarteten die Dissenter eine Anerkennung für ihre Hilfe, die der König ihnen in der Toleranzakte von 1689 gewährte. Kaum hatten sich die Unruhen; der Revolution gelegt, als man auf Seiten der anglikanischen Kirche diesen — 14 —

Schritt schon bedauerte und die von Bischof Burnet geförderten Verhandlungen über eine Zusammenfassung (Comprehension) aller protestantischen Kirchen Englands scheiterten. Der Gedanke der Einheit von Staat und Staatskirche war zu fest eingewurzelt und hatte sich bisher keinesfalls gelockert. Sein sichtbarer Ausdruck war die 1673 von Jakob II. erzwungene Testakte, die, in Irland erst 1703 durchgeführt, alle Nichtanglikaner von Staatsämtern ausschloß. Diese Lehre bildete eine der Grundtheorien der Tories, und man hoffte, nachdem man während der Regierung Wilhelms die Bestimmung sehr nachsichtig angewendet hatte, daß durch Maßnahmen der Königin Anna auch in dieser Hinsicht Wandel geschaffen würde. Das Machtstreben der Kirche erforderte eine Sicherung ihrer Alleinherrschaft nach allen Seiten, sie mußte also im Grunde gegen jede Toleranz sein. In dieser Hinsicht interessierte es sie weniger, ob sie theoretisch Unterschiede zwischen protestantischen Dissentern und Papisten machen sollte, praktisch lehnte sie jede kirchliche Organisation neben der eigenen ab. So griff man, nach dem toleranten Interregnum des Oraniers, mit der Thronbesteigung der Königin Anna diesen für den Bestand der Staatskirche ungeheuer wichtigen Punkt mit voller Energie wieder auf. Gerade hier war die Aktivität der High Flyers von großer Bedeutung. Der schärfste Kampf entbrannte um die Bill against occasional Conformity. Die Testakte hatte sich für den Ausschluß gemäßigter Dissenter von Staatsämtern als nicht scharf genug erwiesen. Die Nichtkonformität dieser Dissenter hatte meist in einer Bevorzugung des Presbyterialsystems vor dem Episkopalismus in bezug auf den Gottesdienst oder anderer nebensächlicher Kleinigkeiten der Disziplin und Lehre bestanden. Sie trugen also weiter keine Bedenken, wenn sie auch in der Regel ihren eigenen Gottesdienst besuchten, gelegentlich in einer anglikanischen Kirche das Sakrament nach anglikanischem Ritus zu nehmen. Gegen diesen Mißbrauch vermochten auch die Gegenarbeit der Independenten und einiger Baptisten, sowie die Schriften D e f o e s nichts zu erreichen. Hatten schon nach Einführung der Act of Uniformity 1662 die entlassenen Minister beschlossen, das Sakrament nach anglikanischem Ritus zu nehmen, so lassen sich von da ab die Beispiele für diese Profanation der Kirche durch hochgestellte Persönlichkeiten häufen. ( S w i f t erwähnt dasselbe von B o l i n g b r o k e im Journal to Stella.) Als Abwehrmaßnahme gegen diesen dauernden Einschub von Nichtkonformisten in die Staatsämter versuchte die Hoch— 15 —

kirche die Bill against Occasional Conformity durchzubringen. In den Parlamentssessionen von 1702, 1703 und 1705 mußte die Bill jedes Mal unter der Majorität der Wighs fallen. Erst 1711 tauchte sie dann wieder auf, als eine neugewählte Torymehrheit Aussicht auf Annahme des Gesetzes bot. Auch in diesem Falle hatte man erst Erfolg, als sich im Oberhaus der extreme rechte Flügel der Hochkirche nicht scheute, den Whigs als Gegenleistung die Unterstützung gegen die Friedensbestrebungen der Tories zu versprechen. Damit entstand nun eine Verfügung, daß alle Personen in Vertrauens- und Erwerbsposten, alle behördlichen Beamten, von denen man wußte, daß sie in der Zeit, in der sie ihr Amt innehatten, sich in Dissenterkirchen aufgehalten und am Gottesdienst teilgenommen hatten, ihr Amt verlieren und nicht wieder in der Lage sein sollten, ein öffentliches Amt zu bekleiden, bis sie nachgewiesen hatten, daß sie ein ganzes Jahr lang kein Konventikel besucht hatten. Die Absicht der Hochkirche mit dieser Akte war die Abdrosselung dissentierenden Einflusses in die Staatsämter und damit eine neue Dokumentierung ihrer Alleinstellung und Herrschaft im Staat. Es ist in diesem Falle nicht so sehr um die Wirkung dieser Bestimmung — die übrigens in den wenigen Jahren ihrer Gültigkeit nur sehr gering war, — als vielmehr um die Feststellung des Geistes zu tun, der mit ihr als für die Unduldsamkeit der Hochkirche charakteristisch zum Ausdruck kam. Es sind gewiß nicht vornehmlich religiöse Motive, sondern Fragen der Kirchenpolitik, die die Triebfeder zu diesen Bestrebungen der Staatskirche bildeten. Mochte der Geist der Toleranz noch so weit um sich gegriffen haben und letzten Endes auch die anglikanische Kirche nicht abgeneigt sein, dem Dissent freie Religionsübung zu gewähren, die Einheit von Staat und Staatskirche durfte dadurch nicht gefährdet werden. Jeder Angriff von Seiten der Nonkonformisten ließ eine Flut von Verteidigungsschriften für den Standpunkt der Hochkirche entstehen. In diesem Geiste konnte die Kirche unter den günstigen Bedingungen des Toryministeriums 1710—1714 nach außen ihre Ausnahmestellung noch weiter festigen: in der Schism Act von 1713 gelang es ihr, das ausschließliche Aufsichtsrecht über das gesamte Bildungswesen zu erlangen. Damit war der Zenith der Macht der anglikanischen Kirche erreicht. Und doch ist schon dieser Höhepunkt nur ein Trugbild, das zwar nach außen seinen vollen Glanz zu entfalten vermag, an dem aber der innere Kern seit langem schon von vielfachen Gegenströmungen zersetzt worden ist. Das zeigt sich äußerlich zunächst schon deutlich an der Entwicklung der Kirchenver—

16



Sammlung, der Convocation. Sie hatte sich in Parallele zum Parlament entwickelt und bildete in dieser Ähnlichkeit von Aufbau und Vergangenheit ein getreues Spiegelbild des Gegensatzes, der das ganze Land spaltete. Der Kampf der Parteien vollzog sich hier, im kleineren Rahmen, nur um so schärfer, und die Kämpfe, die sich im englischen Staatsleben in großen Formen abspielten, fanden eine Wiederholung in den erbitterten Kontroversen zwischen Upper und Lower House of Convocation. Dabei waren durch die engere Begrenzung die Kernpunkte der allgemeinen Gegensätze nur um so deutlicher zu erkennen. Die Bedeutung der in dieser Kirchenversammlung wirklich geleisteten Arbeit blieb dadurch nur gering. Auf das bedeutendste Privileg, das Recht der eigenen Steuerfestsetzung, hatte man schon 1664 zu Gunsten des weltlichen Parlamentes verzichtet; damit war die Versammlung praktisch zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Es fehlte von diesem Zeitpunkt an die Unabhängigkeit, zumal ein Zusammentreten der Convocation nur mit königlicher Lizenz möglich war. Wilhelm III. erteilte der Convocation den Auftrag, das Common Prayer Bock zu revidieren, und als es während der Verhandlungen zu Unbotmäßigkeiten kam, löste er die Versammlung auf. Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen kam es 1697 auf Grund eines "Letter to a Convocation Man" zur Forderung derselben Privilegien für die Kirchenversammlung, die das Parlament besaß. Die Antwort des Oberhauses stellte sich in scharfen Gegensatz zu dieser Forderung der niederen Geistlichkeit. Die daraus entstehende Kontroverse verschärfte die Spaltung zwischen beiden Häusern so stark, daß während der Regierungszeit der Königin Anna an ein© gemeinschaftliche Arbeit innerhalb der Kirchenversammlung nicht mehr zu denken war. Der Aktivismus des von Atterbury geführten hochkirchlichen Unterhauses stieß bei den niederkirchlichen Bischöfen dauernd auf Widerstand. Eine weitere Verschärfung des Gegensatzes brachte die Theorie der Bischöfe, daß es das Recht des Erzbischofs sei, die Versammlung zu vertagen, wenn es ihm beliebte. Unter dem Eindruck der hieraus entstehenden erbitterten Kämpfe und der anderen Gegensätze spielt sich die Geschichte der Convocation in den Jahren 1702—1715 ab. Positive Arbeit war nicht geleistet worden; in endlosen Diskussionen, Protesten und Zensuren hatte man sich verloren und obendrein den Gegensatz im eigenen Lager verschärft, als nach dem Sturz der Tories 1715 das neue Whigministerium die Kirchenversammlung wegen ihrer Bedeutungslosigkeit auflöste. Danach lag das Schwergewicht nun völlig beim Parlament, und dieses — 17 —

stützte sich wiederum entscheidend auf die öffentliche Meinung. Solange sich die Kirche noch auf die Gunst des Volkes verlassen konnte, w a r sie gesichert, aber eine solche Grundlage w a r von jeher unsicher. Der fanatische Haß der niederen Torygeistlichkeit, der in der Convocation beredten Ausdruck fand, pflanzte sich von dort über das ganze Land fort; wir finden seinen Niederschlag auch bei S w i f t . Das Nachlassen des Einflusses der Kirche auf das politische Leben Englands zeigte sich auch in dem allmählichen Herabsinken der hohen Geistlichkeit aus den Ämtern des weltlichen Staatslebens. Bedeutender war der Schaden, der sich an anderer Stelle zeigte und den kirchlichen Einfluß schwächte. Durch die Act of Settlement und den Abjuration Oath hatte eine große Zahl von nichtschwörenden Geistlichen die Reihen der anglikanischen Kirche verlassen müssen. Da die Nonjurors Ansichten huldigten, die der gemäßigten Dogmatik der anglikanischen Kirche nicht entsprachen, wurde dieses Schisma auch durch die Thronbesteigung der Königin Anna nicht behoben. Sie lehrten nicht nur, daß der Stand der Bischöfe und das Anrecht des Klerus auf den Zehnten direkten göttlichen Ursprungs wären und damit vor und über aller Gesetzgebung, — S w i f t hat sich selbst darin ihnen gelegentlich angeschlossen —, sondern sie neigten im besonderen Maße katholischen Lehren zu. Vor allem lag ihnen die priesterliche Macht am Herzen, und aus diesem Grunde traten sie mit Vorliebe mit solchen Kommunionen in Verbindung, in denen die Macht der Kirche eine Rolle spielte. Dementsprechend gab es Verhandlungen über eine Union sowohl mit der gallikanischen als auch mit der Kirche des Ostens. Unter dem Drucke der Aufklärung konnten sich die strengorthodoxen, dogmatisch betonten Lehren n u r kurze Zeit halten, während das Schisma als solches zur Schwächung der Autorität der Kirche beitrug. Unter der gleichen Verbindung von kirchlichen und politischen Zielen schadeten die Nonjurors noch auf anderem Gebiete den Ideen und der Macht der Hochkirche. Ihre Anhänglichkeit an alte Lehren der Kirche hatte sie zur Verweigerung der Anerkennung Wilhelms geführt. Aber schon die Thronfolge der Königin Anna ließ sich nach den Prinzipien des alten Erbfolgerechts rechtfertigen und n u n wagten sich die stuartfreundlichen Nonjurors energischer hervor und versuchten, um das göttliche Thronfolgerecht ganz wieder herzustellen, die Königin zu Verhandlungen über die Restauration des Prätendenten zu gewinnen. Die Schwierigkeiten dieser Verhandlungen lagen tatsächlich auch n u r in einem P u n k t : der Stuart-Prinz war —

18



katholisch, während die Königin in ihrer Treue zur anglikanischen Kirche von ihm zuvor die Bekehrung zum Anglikanismus verlangte. Zudem bildeten die sie beratenden whiggistischen Bischöfe eine nicht zu unterschätzende Hemmung. In ihren politischen Zielen waren sich H i g h F l y e r s und N o n j u r o r s einig, sie mußten die Erbfolge des Hauses Hannover verhindern, und da die Kirche hinter ihnen stand, versuchte man mit Hilfe der Königin und allein die Verhandlungen mit dem Hofe von St. Germain zum Abschluß zu bringen. Die Gefolgschaft der Kirche sollte ihren Sturz beschleunigen. Um die Rückkehr des Stuart-Prinzen vorzubereiten, tat der Klerus sein Möglichstes mit politisierten Reden von der Kanzel. Die Folge war eine günstige Stimmung f ü r das alteingesessene Königshaus, aber die Bedingung für die Rückkehr des Pretender blieb bei Volk und Klerus gleichermaßen die Bekehrung* zur Church of England. Die Abneigung gegen die Zeiten Jakobs II. war zu allgemein, und die anglikanische Kirche konnte auch nur einen Fürsten ihrer Konfession billigen; das Versprechen ausreichender Sicherheit f ü r den Protestantismus genügte hier keinesfalls. Inzwischen nahmen die direkten Verhandlungen mit dem Pretender durch B o l i n g b r o k e , O r m o n d und A t t e r b u r y in aller Heimlichkeit ihren Fortgang; selbst hochgestellte und einflußreiche Kirchenmänner und Politiker, wie z. B. S w i f t , waren mit diesen Plänen nicht vertraut. Die allgemein toryund kirchenfreundliche Stimmung des Landes f ü h r t e nahe ans Ziel, nur daß der Pretender sich hartnäckig weigerte, den katholischen Glauben abzulegen. Diese Bedingung hatte selbst B o l i n g b r o k e f ü r unumgänglich gehalten, und wenn der Pretender sie angenommen hätte, wäre er zweifellos in nächster Zeit unter Billigung von Königin und Volk nach England zurückgekehrt. Der Gesundheitszustand der Königin drängte die High Flyers zu raschem Handeln, eine Klärung der Angelegenheit mußte in aller Kürze erfolgen, und so war B o l i n g b r o k e im Jahre 1714 bereit, auch den katholischen Pretender nach England zu holen. Der Tod der Königin machte allen Plänen ein Ende. Das Haus Hannover folgte ihr auf den Thron und die Whigs, die sich in ihrer Treue zu dieser Erbfolge nicht hatten erschüttern lassen, gewannen den entscheidenden Einfluß auf das neue Herrscherhaus. Die Tories und ihr jakobitisches Ministerium waren zunächst f ü r lange Zeit von einer einflußreichen Teilnahme an den Regierungsgeschäften ausgeschlossen. Mit dieser Umwälzung wurde auch die Macht der Hochkirche gebrochen. Ihre enge Verbindung mit den Tories hatte — 19 —

sie in Gegensatz zur hannoverschen Erbfolge gebracht; die nun anbrechende langjährige Periode einer whiggistischen Vorherrschaft während der Ära Walpole führte zu einer Ausschaltung der Hochkirche. Trotzdem hätte diese plötzliche Umwälzung nicht so umfassend sein können, wenn nicht inzwischen ein tiefgreifender Wandel im Geistesleben der Zeit sich ausgewirkt hätte. Dieser Wandel erklärt vor allem den schon 1715 offensichtlichen Verfall der Kraft der Kirche, die sich noch 1710 so einheitlich gezeigt hatte. Diese das Kulturleben in allen Fundamenten erschütternde Umwälzung vollzieht sich durch den in allen Lebensgebieten endgültig zum Durchbruch kommenden Geist des Rationalismus, der dem 18. Jahrhundert als dem Zeitalter und dem Höhepunkt der Aufklärung seinen Stempel gegeben hat. Schon seit dem Mittelalter, stärker noch seit der Zeit der Renaissance hatte sich der Kampf für eine Befreiung von der bis dahin herrschenden kirchlich und theologisch bestimmten Kultur abgespielt. Ausgangspunkt und Ursprungsländer der neuerlichen Welle dieses Kampfes waren Holland und England geworden; hier tat man die ersten und entscheidenden Schritte der Befreiung aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit" und versuchte selbständig mit der Vernunft als allein gültigem Erkenntnismittel eine Erklärung der Welt. Es soll an dieser Stelle nicht im einzelnen auf den Verlauf der Aufklärung eingegangen werden, ein Hinweis auf ihre Wirkungen, besonders in bezug auf unseren Gegenstand, dürfte genügen. Ihr erstes Ziel war eine vernunftgegründete Ordnung des gesamten Lebensgebietes der Menschheit in Hinsicht auf allgemein gültige nützliche Zwecke. In dieser Richtung traute man allein der Vernunft eine weltverbessernde' Wirkung zu. Diese fast einseitige Betonung der ratio gab der ganzen Bewegung das charakteristische Gepräge: eine nüchtern zergliedernde Verständigkeit griff überall um sich und bestätigte sich in der Gestalt eines reformfreudigen Utilitarismus und in einem ausgesprochenen Optimismus im Gegensatz zum Pessimismus der christlichen Lehre. Die im Rahmen der Arbeit näher interessierenden Wirkungen waren vor allem die Rationalisierung der Politik und der Kirchenpolitik, überhaupt eine weitgehende Politisierung aller Lebensgebiete, der Drang nach Einheit und Ordnung trotz eines gewissen Individualismus. Diesen Geist nach vernünftiger Ordnung begleitete ein ausgesprochener "furor paedagogicus" und der ganzen Bewegung als solcher, als auch den von ihr ergriffenen einzelnen Lebensgebieten fehlte nicht —

20



ein starker Drang zur propagandistischen Verbreitung der eigenen Ideen und Richtungen. Als weiteres Charakteristikum der Aufklärung gilt die Entdeckung des Menschen und der Seele mit Hilfe der Psychologie; man erfaßte die Bedeutung der Seelenvorgänge, der Triebe, Gefühle und Leidenschaften nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die Masse. Es ist schwierig, die Gesamtheit dieser sich weit mannigfacher gestaltenden Wandlung und ihrer Inhalte auf eine einfache Formel zu bringen; und doch ist eben in dem Charakter des Kampfes gegen die alte, mittelalterlich-theologisch orientierte Kultur ein einheitliches Moment zu sehen. Die ganze Bewegung war durch die Betonung der Vernunft diesseitsgerichtet, sie zielte hauptsächlich auf die Uberwindung des kirchlichen Supranaturalismus und auf eine Entlastung des transzendenten Gedankens. Selbst im Rahmen der Kirche wurde der Dualismus von Vernunft und Offenbarung in unzähligen Kontroversen und Diskursen ausgefochten. Die Wirkung der Aufklärung auf das gesamte Gebiet von Theologie, Dogmatik und Kirche gestaltete sich außerordentlich vielseitig. Es soll unsere Aufgabe sein, aus der Zahl der Stellungsmöglichkeiten späterhin die zu erkennen, die S w i f t eingenommen hat und die Momente, die ihn zur Ablehnung der anderen führten, anzudeuten. Tatsächlich hatte die Aufklärung neben zahlreichen gemeinsamen Einflüssen auf die gesamte Geistlichkeit und ihre Lebenshaltung gleichzeitig eine größtmögliche Verschiedenheit der individuellen Ansichten hervorgerufen, die trotz der Anregung durch die Aufklärung in den Punkten ihrer extremsten Entwicklung in Gegensatz zu deren Tendenzen gerieten. Wesentlich ist zunächst die Feststellung, daß die philosophische Seite der Aufklärung sich für eine überraschend lange Dauer in einer inhaltlichen Abhängigkeit von der Theologie befindet. Das ist vielleicht auf Grund des Charakters der bis zum Anfang dieser Epoche noch vorherrschenden Geisteshaltung nicht verwunderlich. Selbst N e w t o n und B e r k e l e y haben diesen Rahmen nicht überwunden und erst durch H u m e erfolgt die endgültige Lösung von der inhaltlichen Herrschaft der Theologie. Trotzdem haben aber schon vorher die der Denkweise der Aufklärung zu Grunde liegenden allgemeinen Methoden und Prinzipien im Geistesleben eine weite Verbreitung gefunden, und es beginnt schon zu einer frühen Zeit die Arbeit, deren Errungenschaften einen bleibenden Wert durch ihre einschneidende Neuerung der Grundlagen der modernen Kultur haben. —

21



Bei diesen frühen Wandlungen schon bildet sich der für die Aufklärung und ihre religiöse Haltung charakteristische ethische Geist, der in einem Mißtrauen gegen alles Mystische wie gegen alle Phantasie, in einer Beurteilung nur nach der Nützlichkeit für den unmittelbar vorgefundenen Menschen, in der Oberflächlichkeit der Betrachtung und in einem Hinweggleiten über sich auftuende Tiefen seinen Ausdruck findet. Die Ursprünge dieses Geistes, um nur einige zu nennen, stammen teils .aus dem reformfreudigen Optimismus im Gegensatz zur Enge der bisherigen religiösen Erziehung, teils aus der Opposition gegen alles Alte, teils aus der Betonung des allein gültigen Verstandes zum Aufbau einer neuen Lebensform. Diese moralische Tendenz des Zeitalters wandte sich gegen die dogmatische Verhärtung des Christentums; sie verlangte nicht mehr nach verkirchlichter Religion, sondern nach Sittlichkeit. So wandte sich die Forderung der Autonomie der menschlichen Sittlichkeit gegen die übernatürlichen Sanktionen der Kirche und des Dogmas, gegen Lohnethik und Bestrafungen, gegen die Notwendigkeit übernatürlicher Erleuchtungen und Krafterteilungen, vor allem aber gegen den Natur und Geist entzweienden Pessimismus der christlichen Lehre unter voller Betonung der Diesseitigkeit. Unter diesen Prinzipien mußte sich der Charakter der Kirche in den Theorien der Aufklärung wandeln: an die Stelle des alten supranaturalistischen Anstaltsbegriffes und des für England eigentümlichen Verhältnisses von Kirche und Staat setzte man teilweise eine neue, rein politisch konstruierte, naturrechtliche Auffassung der Kirche als eine aus einem Vertrage Gleichgesinnter entstandene Genossenschaft. Konkreteren Ausdruck fanden diese Prinzipien der Aufklärung in den sich über mehrere Jahrzehnte hinziehenden Kontroversen zwischen den das ganze supranaturalistische Dogmengebäude angreifenden extremen Rationalisten und den die Stellung ihrer Kirche hartnäckig verteidigenden Anglikanern. Der Grad, in dem sich der rationalistische Skeptizismus gegenüber der ganzen Kirche und ihren weitverzweigten Organen äußerte, löste andererseits auch eine unterschiedliche Haltung in den Reihen der sich verteidigenden Kirche aus. Zeigte sich der Skeptizismus nicht besonders heftig und aggressiv, forderte er also, gewissermaßen als konstruktives Element, keine Wandlungen im Staat und Gesellschaft, so ging seine gewöhnliche Wirkung nicht über eine gewisse Verminderung des religiösen Enthusiasmus und des Aberglaubens hinaus. Hier pflegt das Prinzip der Betrachtung der Religion von ihrer moralischen Seite sich zu entwickeln. —

22



Anders sind die Wirkungen des aktiveren religiösen Skeptizismus auf das Wesen der Kirche. Wenn der schwächere Grad eine Art von halbgläubigen Menschen erzeugte, so förderte dieser zweite Grad als Reaktionserscheinung das Entstehen von religiösem Fanatismus. Durch die destruktive Kritik an den wichtigsten Fundamenten erschreckt, wirft sich der kirchliche Mensch in die Arme der Reaktion und es vermag sogar zu einer Vorherrschaft des geistlichen Einflusses der Kirchen zu kommen. Die Wirkungen des Skeptizismus in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren vornehmlich der ersten Art; daneben beschränkt sich der entschiedene Skeptizismus in seiner Wirkung nur auf eine verhältnismäßig kurze Zeit und findet dabei im Deismus seinen typischen Ausdruck. Die Vorherrschaft des latenteren Skeptizismus führte zu einer organischen Weiterentwicklung der Kirche, und auch die Theologie der Church of England kam den Strömungen der Zeit so weit entgegen, daß der Versuch einer Aussöhnung zwischen Christentum und rationaler Religion viel mehr Aussicht auf Erfolg hatte, als etwa in katholischen Ländern. Eine Regung fortschrittlichen Geistes hatte die englische Staatskirche schon den rational-ethischen Ideen des Humanismus Raum geben lassen, so daß die anglikanische Kirche in gewissem Sinne stets Rationalismus und „Aufklärung" in ihrer Mitte gehabt hatte. Diese Kirche, in der das kultisch-sakrale Element die Bedeutung der Predigt im Gottesdienst überwog, war gegen die religiösen Anschauungen des Einzelnen weitherzig genug, so daß sie, sofern Anerkennung ihrer Formen und Ordnungen gewährleistet wurde, ebenso eine gemäßigte rationalistische Religionsphilosophie wie die irrationalistischen Gegenströmungen des Evangelikanismus in sich aufnehmen konnte. Erst als der Deismus über die Ablehnung des dogmatischen und historischen Christentums in nackten Naturalismus ausartete, rief er die entschiedene Gegnerschaft der Theologen der Staatskirche hervor. Ihm gegenüber versuchten die Anglikaner nun von sich aus, ganz im rationalistischen Sinne, den Supranaturalismus der Offenbarung durch Vernunftbeweise zu rechtfertigen. Der Deismus hat sich auch schließlich deswegen nicht durchgesetzt, weil ihm die Unterstützung der begabtesten Köpfe jener Zeit fehlte. Diese beschäftigten sich vielmehr damit, die Theologie der Kirche in der Weise wiederherzustellen, daß sie sie mit den neuen, durch die Revolution geschaffenen Prinzipien in der Regierung harmonisierten, und, ohne eines der Bollwerke der Moral zu schwächen, versuchten sie, die Bedeutung — 23 —

der dogmatischen Elemente im Christentum auf ein Minimum zu beschränken. So sind für jene Zeit L o c k e , Burnet, T i l l o t s o n , C l a r k e und H o a d l e y viel charakteristischer als die extremen Exponenten, wie etwa C o 11 i n s und T o 1 a n d. Mit den Zielen der Hochkirche standen allerdings auch sie keinesfalls auf freundlichem Fuße. In diesen ganzen Fragen spielte, auch für die Haltung der Hochkirche und 'die der bedeutenden englischen Religionsphilosophen, der intensiv politische Charakter des englischen Intellekts eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese Veranlagung führte immer wieder dazu, die öffentliche Meinung von Gesichtspunkten abzulenken, die die Gesellschaft heftig zu erschüttern und erprobte Einrichtungen ohne irgendeinen praktischen Nutzen zu zerstören drohten. Die Gewohnheit des Engländers, die Systeme nicht nach ihrer logischen Verbundenheit, sondern wegen ihres praktischen Wertes zu würdigen, ist auch in der englischen Geistesgeschichte außerordentlich bedeutungsvoll. Dasselbe gilt auch für die Theologie, und es ist bemerkenswert, daß ein großer Teil der deistischen Kontroverse sich viel weniger um die Wahrheit und Falschheit der Meinungen drehte, als um die Frage der Notwendigkeit für die Wohlfahrt der Gesellschaft. Unter diesem Gesichtspunkt der Nützlichkeit kam es zu der sich mehr und mehr verbreiternden Wirkung des Latitudinarianismus innerhalb der Kirche, unter Erschlaffung des dogmatischen Interesses, während der Deist der Verfolgung und sozialen Verachtung ausgesetzt blieb. Mit aller Kraft wurde er von den Theologen der Kirche zurückgewiesen, das ganze offizielle England lehnte sich gegen dies Extrem der Aufklärung auf. Die anglikanische Kirche bekämpfte im Deismus, wie einstmals im Puritanismus und dann im Kryptokatholizismus eine aktuelle kirchenpolitische Gefahr. Daraus erklärt sich auch die persönliche Gereiztheit des Kampfes. Auf Einzelheiten im Verlauf des Deismus, seine kirchenfeindlichen Theorien, seine verschiedene Intensität und seine Mehrseitigkeit soll weiter unten im Verlauf der Betrachtung der Stellung S w i f t s zu diesen religionsphilosophischen und kirchenpolitischen Fragen eingegangen werden. An dieser Stelle sei lediglich auf die Wirkung, die die bloße Aufwerfung des ganzen Fragenkomplexes auf die weitere E n t w i c k l u n g der Kirche hatte, hingewiesen. Die Möglichkeit der Kritik an den Lehren der Kirche führte neben dem Streben nach Loslösung der natürlichen Religion von der historisch verfälschten Religion zu dem mehr und mehr um sich greifenden Indifferentis— 24 —

mus gegenüber dogmatischen Fragen im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Damit versetzte sich der Deismus gleichzeitig den Todesstoß. Ähnlich wirkte auch die trinitarische Kontroverse. Das Problem der Erklärung und Verteidigung einer Trinitätslehre, die unter rationalistischen Gesichtspunkten weder tritheistisch noch sabellianistisch sein sollte, beanspruchte das volle Interesse der Geistlichen. Anlaß boten dazu die Schriften des Bischofs H o a d 1 e y von Bangor (daher Bangorian Controversy), der als Nachfolger B u r n e t s einer der bedeutendsten Latitudinarier seiner Zeit war und in betontem Gegensatz zu den Tories stand. Im März 1717 predigte er vor dem König über das Königreich Christi und wandte sich dabei nicht nur gegen die Lehre der apostolischen Sukzession und die einer sichtbaren, von Gott eingerichteten Kirche, sondern überhaupt gegen das ganze System eines autoritativen Glaubensbekenntnisses. Christus selbst sei der einzige Richter und Gesetzgeber der christlichen Kirche, keine menschliche Macht hat das Recht, weltliche Teste und Bestrafungen aufzuerlegen. Die wahre Kirche Christi ist keine sichtbare Ordnung, sondern die Gemeinde derer, die ihm vertrauen. Die Ablehnung der Glaubensbekenntnisse führte zu einer langen Auseinandersetzung, die aber jetzt schon nur literarisch blieb, ohne daß das Volk ergriffen wurde. Diese Ideen griffen rasch um sich und wurden teilweise vom Presbyterianismus übernommen. In seinen Reihen machte vor allem der Arianismus ( H u t c h e s o n in Glasgow, E x e t e r) Schule, eine ganze Reihe der bedeutenden Geistlichen neigte sich ihm zu, während der Bischof B u l l , Waterland, S o u t h und S h e r lo c k die anglikanische Kirche verteidigten. Daneben hat der Socinianismus in England weniger Verbreitung gefunden, obgleich der holländische Einfluß keinesfalls unterschätzt werden darf, gerade in Hinsicht auf das religiöse Vorbild. Als letztes Moment der Wirkung der Aufklärung iauf religiöse Fragen und von da aus auf die Lehren der Kirche soll noch auf die Entwickelung der Idee der Toleranz hingewiesen werden. Welche Richtung der Gedanke in der Politik der Tories bis zum Jahre 1714 genommen hatte, ist bereits gezeigt worden 4 ). Trotz dieser Verschärfung der Kirchenpolitik durch intolerante Maßnahmen, der bei einer längeren Regierungsführung durch die High Flyers unter der Königin Anna 4) S. o. S. 14 ff.



25



vielleicht auch die Toleranzakte von 1(689 und mit ihr die Errungenschaften der Glorious Revolution zum Opfer gefallen wären, setzte sich im allgemeinen der Geist der Duldung gegenüber anderen, außerstaatskirchlichen religiösen Organisationen* durch. Auch hier pflegte nicht selten der Gesichtspunkt rein politischer Zweckmäßigkeit bestimmenden Einfluß zu haben. Aber die nivellierende und antidogmatische Wirkung der Aufklärung auf die Geisteshaltung ist als stärkstes Moment zu werten. Neben dem ¡durch die Nonkonformität propagierten und durch das Erscheinen Wilhelms von Oranien geförderten Gedanken der Toleranz, half vor allem L o c k e ihn religionsphilosophisch begründen und damit zur Anerkennung zu bringen. L o c k e rechtfertigt die Toleranz von mehreren Gesichtspunkten, unter anderen von dem der Moralität der Duldung: ein unschuldiger Irrtum in religiösen Fragen ist zweifellos möglich; dabei ist es eine sittliche Grundnotwendigkeit, daß man in Fragen des Glaubens seine eigene Überzeugung bekennt. In diesem Falle schließt eine Verfolgung für das Bekennen von Glaubensformen, die der Staatskirche nicht entsprechen, eine Strafe für eine Handlung ein, die an und für sich tugendhaft ist. Obendrein können Gewalt und Verbrennung nur "outward conformity", niemals wahren Glauben erzwingen. Darum meint auch L o c k e , daß man, wenn man den Dissentern Gleichberechtigung gibt, vor ihnen viel mehr Sicherheit haben würde, als wenn man sie bedrückt. Ausgeschlossen werden sollen allerdings auch bei ihm die Atheisten und Katholiken. Die Idee der Toleranz hatte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England so weit ausgebreitet, daß nur noch ganz extreme Parteigänger sich ihr verschlossen. Verschiedenheit der Ansichten über den Umfang der religiösen Duldung blieben aber unter den vielgestaltigen Gesichtspunkten, die auch der Geist 'der Aufklärung möglich machte, bestehen. Die Verstandeskultur des Zeitalters führte so im allgemeinen dazu, daß 'die Religion viel weniger Ausdrucksmittel der tiefsten Gefühle oder als das Gebäude alter, mit poetischen Zugehörigkeiten ausgestatteter Tradition aufgefaßt wurde, sondern sie galt als praktische und moralische Lebensregel. Damit ging aber auch, durch die Absorption rationalen Geistes innerhalb der Staatskirche die Pflege wahrhaft innerlichen und religiösen Lebens durch die Kirche im wesentlichen verloren, wenn auch Spuren dieses Lebens vorhanden blieben. Der Wandel innerhalb der Kirche verfehlte seinen Einfluß nicht auf die Träger der Ämter dieser Organisation. Sobald die anglikanische Kirche Aufklärung in sich aufzunehmen —

26



geneigt war, mußte sie eine bedeutende Wandlung der Geistlichkeit in bezug auf kirchliches Leben und seine Ausdrucksformen hervorrufen. Dadurch, daß auch die Kirche die Wichtigkeit des Dogmas einzuschränken sich bemühte und eine Reihe von Glaubenssätzen der Vernunft nicht standzuhalten vermochte, ließ die Beschäftigung und Anteilnahme des Klerus an dogmatischen Fragen nach. Durch diese Uninteressiertheit an einem ehemals umfangreichen Gebiet klerikaler Beschäftigung wurde eine große Anzahl von Kräften frei, die sich nun einen Ausgleich in der Betätigung auf allen Gebieten weltlichen Lebens suchten. Die Aufklärung hatte die Kirche an allen Enden erfaßt und gewandelt. Der dogmatische Geist war erschlafft, das ethische Moment war in den Vordergrund getreten, der Gedanke einer allgemein gültigen, natürlichen Religion hatte sich verbreitet. Diese Entwicklung äußert sich in den Ereignissen des politischen Lebens: den ersten Schritt machte die Toleranzakte von 1689. Es folgten der Fehlschlag des Nonjuror-Schismas und die schwächliche Haltung des Klerus in der Festhaltung der Lehren vom Divine Right, die das Vertrauen des Volkes auf die Unantastbarkeit der Church of England und ihrer Dogmen erschütterten. Im weiteren waren die Vertagungen der Convocation 1715 und 1718 für über 100 Jahre, die latitiudinarisohen Ernennungen die äußeren Anzeichen dieses tief wurzelnden Prozesses. Darüber kann auch die kurze Gegenbewegung von 1710 bis 1714 nicht hinwegtäuschen. Die Kirche verlor durch die geistigen und politischen Umwälzungen ihren Einfluß. Die schwächliche Haltung der Kirchenversammlung, das Nachgeben gegenüber den dem kirchlichen Dogma widersprechenden Prinzipien der Revolution, die Untätigkeit in der Abstellung von Mißständen und Schäden, die Verweltlichung des hohen Klerus, die überspitzte Machtpolitik der Kirche mit ihrem Fehlschlag, der Mangel an wirklich innerlicher Frömmigkeit und der Dualismus im eigenen Lager haben, um zusammenfassend nur wieder einige Punkte herauszugreifen, zu einer außerordentlichen Schwächung des kirchlichen Geistes in England geführt. Ein allgemeiner Indifferentismus gegen alle Fragen der Religion und Kirche hatte gegen Ende der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Platz gegriffen. H u m e sagt in seinem "Essay on National Characters", daß die Nation in kühlem Indifferentismus in bezug auf religiöse Dinge ruhe. Dem heftig bewegten Anfang des Jahrhunderts folgte eine Zeit der Entspannung. Die Breite und Tiefe der rationalen Umwälzung zeigt sich schon ungeheuer schnell 1715, ein Jahr nach dem Höhepunkt — 27 —

der Machtstellung der Kirche. Verstärkt durch die politischen Konstellationen, wird der Fall der Church of England klar. Als Reaktion gegen das neue Whigregiment schien das hochkirchliche System noch einmal seinen ganzen Einfluß auf das Volk aufbieten zu wollen, um den verhaßten Whiggismus hinwegzufegen. Kirche und Landadel standen in heftiger Feindschaft zu Georg I. und seiner Regierung, dahinzu kam der starke Gegensatz des niederen Klerus zu den latitudinarischen Bischöfen. Im Jahre 1715 glaubte man noch die Kräfte zu besitzen, um sich mit einer Rebellion durchzusetzen. Zwar konnte man auch an vielen Orten eine öffentliche Bewegung für die Hochkirche entzünden, Standbilder Wilhelms III. wurden vernichtet, dissentierende Geistliche verbannt, nonkonformistische Kirchen und Kapellen verbrannt; aber der Bewegung fehlte der einheitliche Charakter, die Begeisterung für die Kirche war erlahmt. Der jakobitische Aufstand von 1715 wurde ohne viel Mühe erstickt. Die Thronfolge des neuen Herrscherhauses hatte der Lehre vom göttlichen Erbrecht der Könige die meisten Anhänger genommen und durch den abermaligen Wechsel der Dynastie hatten sich die Prinzipien der Revolution endgültig durchgesetzt. Die Hauptämter in der Kirche hatte man Geistlichen vorbehalten, die sich für diese Ideen entschieden. Die Unbeständigkeit des Klerus während der letzten drei Regierungenhatte dessen Autorität geschwächt und die Kraft der anglikanischen Tradition gebrochen. Unter dem schnellen Erschlaffen des Interesses an doktrinärem Leben und der stillen Umwandlung des Christentums in ein bloßes System erhöhter Sittlichkeit mußten die alten Theorien über Regierung und Dogma, die sich dazu noch auf rein religiöser Doktrin aufbauten, mehr und mehr widersinnig wirken. Die säkularisierenden Tendenzen taten ihr Werk, viele Nonjurors wurden hingerichtet und die Vertagung der Convocation verursachte kaum noch Unruhe. A t t e r b u r y wurde 1722 in den Tower geworfen und trotz mancher Sympathiekundgebung verbannt. Noch vor kurzerfl hatte eine solche Bestrafung eines Geistlichen zweimal den heftigsten Gegenschlag gegen die Regierung ausgelöst: die Verfolgung von sieben Bischöfen trug zum Sturz der Stuarts, die Anklage gegen S a c h e v e r e l l zum Sturz des Whigministeriums entscheidend bei — bei der Verbannung des langjährigen Führers der Hochkirche behauptete sich die whiggistische Regierung unerschüttert. Inmitten der ganzen Fülle dieses Geschehens steht S w i f t . Alle Ströme dieses Lebens, alle Wandlungen und Ereignisse wirken auf ihn ein und er ist gezwungen, zu ihnen Stellung - -

28



•zu nehmen. Er hat sich mit allem auseinandergesetzt, hat alles geprüft. Er erlebte dieses heftig bewegte Auf und Ab teils aus nächster Nähe, in seinen Wirbel hineingezogen, teils als abwägender Beurteiler aus ruhiger Ferne. In seinen Schriften über Religion und die Kirche spiegelt sich das Geschehen der kirchlichen Welt mit erstaunlicher Vollständigkeit wieder, und trotz der Fülle der Stellungsmöglichkeiten wertet S w i f t die Gesamtheit der Ereignisse auf kirchlichem und geistigem Boden zu einer Anschauung von eigenwilliger Originalität aus. Seine nur aus seinem Innenleben heraus zu interpretierende Einstellung gegenüber den Fragen der Religion und der Kirche ist eine eigentümliche Mischung aus individueller Mentalität und den vielseitigen Einflüssen des Zeitgeistes. Sie rechtfertigt die einleitende Darstellung der Periode von 1688 bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts; von ihr aus lassen sich die Einwirkungen der Zeit bei S w i f t in vielen Richtungen entdecken, während man gleichzeitig auf Grund dieses Fundamentes die Eigenwilligkeit der S w i f t sehen Anschauungswelt zu erkennen vermag. Es ließ sich allerdings im Laufe der Arbeit n u n nicht wieder in jedem Fall neu die Parallele zu den allgemeinen Verhältnissen, viel weniger noch zu den vielgestaltigen speziellen Richtungen der Zeitgeschichte ziehen. Die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen der subjektiven Betrachtungsweise S w i f t s und den Einwirkungen der Umwelt bleiben trotzdem unverkennbar, so daß sich der Vergleich mit den Zeitströmungen auf Grund des .Einleitungskapitels von selbst gestaltet. Auch die Einstellung, die S w i f t endgültig charakterisiert, läßt sich keinesfalls vollkommen in die Ziele einer zeitgeschichtlichen Gruppe einspannen. Wenn das geschieht, so besteht zwar in den wichtigsten Fragen eine Übereinstimmung, ohne daß S w i f t seine Gedanken mit denen einer solchen •Gruppe identifiziert und sich ihnen innerlich rückhaltlos unterordnet. Vielmehr wird schon sein Standpunkt unabhängig individuell gewonnen und auch auf ihm bewahrt S w i f t nach allen Seiten weitgehend ein persönliches Urteil. Von hier aus versäumt er es nicht, sich mit den anderen Standpunkten auseinanderzusetzen und seine Einstellung zu verteidigen.

— 29 —

KAPITEL II Swift

im Verhältnis zur Kirche und zur Aufklärung im allgemeinen.

S w i f t aus dem Zeitgeschehen allein zu begreifen, ist nicht möglich, dazu ist die Gestaltung der eigenen Kräfte zu individuell. Aber es kann die subjektive Einstellung gegenüber den Geschehnissen und dem geistigen Leben der Zeit herausgestellt werden, und eben diese Einstellung erforderte von seiten des Historikers eine objektive Darstellung der Zeitströmungen, die f ü r S w i f t im Tatsächlichen Voraussetzung sind. Es gilt zunächst, S w i f t in aller Kürze biographisch in das Zeitgeschehen einzuordnen. 1667 in Dublin geboren, besuchte er das Trinity College in Dublin, das er auf Grund der kriegerischen Ereignisse des Jahres 1688 verlassen mußte. Nach vorübergehender Tätigkeit im Hause Sir William Temples vollendete er seine Studien und erwarb den Grad eines Master of Arts 1692 in Oxford. Die Berichte über diese sehr wichtigen Entwicklungsjahre sind sehr spärlich, und bei dem entscheidenden Einschnitt im Leben S w i f t s , dem Eintritt in den geistlichen Stand, findet man den vollendeten Menschen bereits vor. Dabei hat er die Ereignisse um 1688 mit vollem Verständnis miterlebt, 1689 sich mit der Ode an Sancroft zum ersten Male literarisch betätigt und in Oxford eine Studienzeit verlebt, die auf seine Ansichten in geistlichen Fragen gewiß nicht ohne Einfluß gewesen ist. Genaueres über diese, gerade f ü r das gestellte Thema wichtige Phase seines Lebens ist nicht bekannt, obgleich man in späteren Anschauungen oft den Oxforder Geist wiedererkennen zu können glaubt. 1694 erfolgt der Eintritt in die Kirche, den S w i f t erst dann vollzieht, als seine persönliche Lage sich so gestaltet, daß er den Eindruck vermeiden kann, diese Laufbahn mit Rücksicht auf seine wirtschaftliche Sicherstellung einzuschlagen. Die nun folgende Periode bis zum Jahre 1710 sieht S w i f t in kleinen geistlichen Pfründen Irlands und im Dienste Temples. Der Dienst bei Berkeley nach dem Tode Temples (1699) dürfte nicht ohne Einfluß auf die moralische Grundhaltung S w i f t s gewesen sein. — 30 —

Mit dem Regierungswechsel 1710 begann für S w i f t die Zeit des Höhepunktes seiner Laufbahn. Als Vertrauter Harleys und Bolingbrokes spielte er in den Kreisen der Regierung eine bedeutende Rolle, deren Staats- und Kirchenpolitik er mit seiner Feder wirksam unterstützt. Mit dem Sturz 'des Torymmisteriums findet diese glanzvolle Periode seines Lebens 1714 ihren Abschluß, nachdem S w i f t als Belohnung für seine Dienste die Deanery von St. Patrick's in Dublin erhalten hatte. Von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Ende (1745) sind in seiner geistlichen Laufbahn kaum wesentliche Veränderungen vorgekommen, so daß er, innerlich mit seinem Schicksal unversöhnt, ohne die ersehnten Ziele innerhalb des geistlichen Stande« erreicht zu haben, in Dublin wie in der Verbannung sein Leben beschließen mußte. Mit diesen kurzen Angaben läßt sich eine ausreichende Einspannung in die geschichtliche Tatsachenchronik der Zeit vornehmen. Die Ereignisse der Revolution 1688 fänden S w i f t in seiner Entwickelung ziemlich abgeschlossen vor, verfehlen aber ihren Eindruck keinesfalls. Nach seiner Ordinierung muß auch von ihm der Abjuration Oath verlangt worden sein, den er seiner ganzen Auffassung nach auch ohne Zögern geleistet haben wird. Die Aufwärtsentwickelung der hochkirchlichen Bewegung begleitet S w i f t mit dem Wunsch, sich literarisch für diese kirchliche Richtung zu betätigen, und diese Einstellung führt 1710 zu den entscheidenden Beziehungen zum Toryministerium. Seine Wirksamkeit in diesem Kreise ist sehr bedeutend gewesen, fand aber durch den schnellen Wechsel 1714 ein jähes Ende. Die politischen Ereignisse der folgenden Jahrzehnte, die S w i f t meist in Irland verbrachte, haben ihn persönlich kaum noch betroffen und auch seine kirchenpolitische Haltung kaum noch beeinflußt. Eine schon in jüngeren Jahren auftretende Krankheit führt, verbunden mit eigener Veranlagung, zu einer bitteren Verfeindung mit der Welt und schließlich zu geistiger Umnachtung. Sehr interessant ist der Vergleich dieser rein biographischen Einordnung mit der schriftstellerischen Tätigkeit S w i f t s für die anglikanische Kirche. Sie konzentriert sich zu einzelnen Perioden seines Lebens und wird dann vornehmlich von ganz bestimmten Gesichtspunkten beherrscht. Der erste Zeitpunkt gesteigerter literarischer Produktion für die Kirche liegt um 1708. Vorher ließ die politische Parteikonstellation und das eigene Verhältnis zu den Whigs ihn auf diesem Gebiete untätig sein. Erst als der Aufstieg des tory— 31 —

istischen Elementes ihn den Gegensatz seiner geistlichen Stellung zu den Theorien der Whigs stärker empfinden läßt, unterbleiben die Rücksichten und der Einsatz für allgemeine und kirchenpolitische Ziele beginnt. 1708 erscheinen von S w i f t s Hand fünf große Traktate, die über seine kirchenpolitische Eingruppierung keinen Zweifel mehr lassen, die aber auch gleichzeitig seine Auffassung vom Wesen der Religion erstmalig klarstellen. Vorwiegend kirchenpolitischen Charakters setzen sie sich ganz im Sinne der Hochkirche sowohl für die zeitgemäßen allgemeinen Ziele der Kirche und christlichen Religon als auch gegen alle Feinde der Kirche ein. Sowohl das Sektenwesen als auch der Deismus und die Low-Church werden angegriffen. Nach dieser endgültigen Klärung der Stellung zum Gesamtkomplex der anglikanischen Kirche folgt in ungleich intensiverer Haltung zur Zeit des höchsten Einflusses der Kirche 1713 ein erneuter Angriff gegen die Low-Church, den Dissent und den Deismus, ebenfalls wieder vornehmlich unter dem Einfluß des S w i f t damals interessierenden kirchenpolitischen Standpunktes. Mit dem Aufhören des politischen Tätigkeitsfeldes wandelt sich auch der Charakter der religiös-kirchlichen Schriften. Zwischen 1714 und den aufregenderen Jahren des politischen Kampfes für die irischen Interessen folgt eine Zeit der Entspannung, in der die kirchenpolitischen Schriften ganz fehlen, dagegen um 1719 eine Schrift erscheint, die sich mehr mit den innerkirchlichen Aufgaben befaßt und neben der nur einige Predigten stehen, die erst aus dem Nachlasse publiziert worden sind. Sie tragen durchweg das Merkmal der kirchenpolitischen Entspannung und innerer Sammlung und sind darin nach den Jahren der Vormachtstellung religiösen Interesses in England nioht nur ein Ausdruck für die derzeitige geistige Haltung S w i f t s , sondern zugleich auch des religiös-kirchlichen Lebens im allgemeinen. Erst nach dem Einsatz für die Interessen Irlands in weltlicher Hinsicht erfolgt auch 1731 etwa drei Jahre lang eine erhöhte Produktivität für die Church of Ireland, die sich von den vorhergehenden Phasen wiederum deutlich unterscheidet. In 'diesen Jahren handelt es sich um eine thematisch ziemlich beschränkte Betätigung auf kirchenpolitischem Gebiet, wobei sich S w i f t vornehmlich für die Interessen der niederen Geistlichen in Irland zur Hebung ihrer sozialen Lage und nach 1708 erstmalig wieder für das Bestehen der Testakte einsetzt. Damit lassen sich also mit ziemlicher Eindeutigkeit in der literarischen Tätigkeit S w i f t s für die Religion und die — 32 —

Kirche vier Perioden feststellen, die unter sich im Spezialthema alle ziemlich unterschieden, gleichzeitig ein Abbild für die jeweilige innere Haltung S w i f t s liefern. Auf die allgemein kirchenpolitisch-religiös interessierte Periode folgt die intensivere Beschäftigung in der Kirchenpolitik nach der endgültigen Einengung und Entscheidung für die Hochkirche, nach ihrem Sturz eine Periode moralisch-politischer Schriften, der nach langjähriger Unterbrechung der letzte kirchenpolitisch beschränkte Einsatz in Irland folgt. Die einzelnen Zwischenräume erklären sich aus dem erhöhten Einfluß anderer, S w i f t dann vornehmlich interessierender Elemente. Aus den erwähnten Schriften lassen sich die Ansichten und Gedanken S w i f t s über Religion und Kirche nicht ohne weiteres ableiten. Dieses Schrifttum trägt vornehmlich den Charakter der Gelegenheitsarbeit und zweckbestimmter Polemik und läßt die ihm zu Grunde liegenden allgemeinen Prinzipien oft nur sehr schwer erkennen. Aus diesen Tatsachen erklärt es sich, daß der Quellenwert der einzelnen Schriften außerordentlich unterschiedlich ist. Diese Gegensätzlichkeit wird weiter getrübt durch Spott und Ironie, über die hinweg die tatsächliche Stellungnahme S w i f t s erst abzuleiten ist, und vor allem durch eine Zwiespältigkeit im Wesen S w i f t s selbst, die keinesfalls trotz größter Ernsthaftigkeit die wahrhaft innere Überzeugung S w i f t s in seinen Schriften zu Tage treten läßt. Den größten Quellenwert besitzen ohne Frage die Aufzeichnungen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren und in denen sich die tatsächliche Ansicht S w i f t s darum ausdrückt, also z. B. neben dem Teil seiner Korrespondenz, der sich mit religiös-kirchlichen Fragen befaßt, seine "Thoughts on Religion", aus denen wirkliche Überzeugung spricht. Aber auch zwischen den veröffentlichten Schriften muß unbedingt ein Unterschied gemacht werden, der schon von S w i f t bewußt hineingebracht wurde. Je nachdem, an wen S w i f t sich mit einer literarischen Arbeit wandte, pflegte er Unterschiede sowohl in der allgemein geistigen Konzeption als auch in der Aufstellung von Thesen zu machen. Gerade diese Unterschiede gilt es bei der Klarstellung des Verhältnisses S w i f t s zur Religion zu beachten. Der einseitig politische und polemische Charakter der Schriften mahnt vielerorts zu besonderer Vorsicht, da S w i f t im Verlaufe seiner Darstellungen meist eine „objektive" Methode verfolgt, die so geschickt aufgebaut ist, daß man tatsächlich vor einer historisch einwandfreien, Schilderung zu stehen glaubt. Gewiß haben, neben dem biographischen Quellenwert, — 33 —

die Schriften in bezug auf historische Fakta eine wertvolle Orientierungs- und Beweiskraft; darüber hinaus ist aber ihre Brauchbarkeit zur historischen Interpretation nur mit großer Vorsicht zu behaupten. Neben der Unterschiedlichkeit in der geistigen Haltung und der historischen Darstellung gilt es als Drittes die Übergänge von voller Ernsthaftigkeit zu beißender Satire in den Rahmen der Betrachtung zu ziehen, um ein richtiges Urteil zu gewinnen. Die Schriften S w i f t s tragen, trotz der Veranlagung ihres Autors, durchaus nicht immer satirischen Charakter, und gerade aus dem Auftreten fraglos ernstgemeinter Behauptungen, die an anderer Stelle mit ironischem Einschlag auftreten, lassen sich oftmals endgültige Entscheidungen über die tatsächlichen Verhältnisse fällen. Neben dieser kritischen Betrachtung verdienen die Schriften S w i f t s vor allen Dingen in ihrer rein äußeren Art Beachtung, weil sie dem Wesensausdruck S w i f t s entsprechen. In ihrer feurigen Aggressivität, in ihrer zornigen Kraft, in der ätzenden Scharfsichtigkeit und Kritik, in dem unüberwindlichen Spott und der empörten Verteidigung eigener Standpunkte spiegelt sich das Wesen S w i f t s in der ganzen geistigen Mannigfaltigkeit des Genies wieder; ihre in den Grundzügen überall gleich konsequente Gnadlinigkeit, ihre Intensität in der Behauptung einer einmal gewonnenen Grundlage und ihre Ausdrucksweise sind biographisch von nicht zu übersehendem Wert. Auch hier steht neben der Auswertung des äußeren Charakters des Schrifttums für die natürliche Veranlagung S w i f t s die Möglichkeit, eine Parallele zwischen den allgemein aufklärerischen Kennzeichen der Literatur und den Schriften S w i f t s zu ziehen. Dabei fällt zunächst die Tatsache auf, daß S w i f t bis auf eine weniger bedeutende Ausnahme alle Schriften anonym veröffentlicht hat; gerade auf Seiten des englischen Deismus ist diese taktische Maßnahme allgemein üblich, und man kann sie, bei aller Äußerlichkeit, doch als ein Charakteristikum der literarischen Produktion jener Zeit betrachten. Wesentlichere Ergebnisse bietet schon eine Beurteilung der Sprache und der inneren Struktur der Schriften. S w i f t befleißigt sich, hierin ganz den Forderungen seines aufgeklärten Zeitalters zu entsprechen. Die Sprache ist einfach und ganz im Sinne des common-sense gehalten. Das wirkt sich auch auf die Struktur der Schriften aus, die darüber hinaus meistens sehr straff gefaßt und nach festen Regeln inneren Aufbaus — 34 —

gehalten ist. Einfachheit der Sprache und logisch-zergliedernde Nüchternheit sind nicht nur f ü r S w i f t charakteristisch, sondern liegen gleichfalls ganz im Sinne der Aufklärung. Es kann a n dieser Stelle nicht gleichzeitig auf die inhaltlichen Übereinstimmungen mit den Forderungen der Aufklärung eingegangen werden, die sich in einer Bevorzugung staatsund kirchenpolitischer, moralischer und utilistischer Themen ausdrückt, aber im Laufe der Darstellung wird auch dieses Charakteristikum sich von selbst aus seinen Schriften herausschälen. Sehr schwierig ist der Umfang des aufklärerischen Einflusses auf S w i f t festzustellen, da sein Wesen in sich noch so viel Originalität und eigene Kraft birgt, daß sich die Größe seiner schöpferischen Stärke gegenüber den Einwirkungen eines Zeitgeistes kaum abgrenzen läßt. Daneben gilt es vor allem auch die Regungen des typisch-englischen Intellekts, der bei S w i f t ganz unverkennbar einen Niederschlag findet, zu beachten. Da sich aber die genannten Wirkungen der allgemeinen Geisteshaltung der Aufklärung und der kirchlich-religiösen Entwicklung jenes Zeitalters gar nicht verleugnen lassen, so hat auch die Wandlung, die zu dieser Zeit überall u m sich griff, bei S w i f t ihren Ausdruck gefunden, und zwar nicht ganz unbewußt, sondern in einzelnen Teilen mit der direkten Forderung aufklärerischer Prinzipien. Als Beispiel dessen mögen an dieser Stelle die Predigten S w i f t s genannt werden, die, aus dem Nachlaß publiziert und im' großen und ganzen wenig beachtet, doch gerade den Geist der Aufklärung in ganz besonderem Maße tragen. Man kann aber gleichzeitig darauf hinweisen, daß sowohl "A Tale of a Tub" als auch "Gullivers Reisen" typisch aufklärerischen Charakters sind. Wenn S w i f t s Predigten im Tatsachenmaterial und in der Wahl der Themen auch durch eine gewisse Parteistellung gebunden sind, so dokumentieren sie doch den charakteristischen Geist der Predigten des 18. Jahrhunderts, der zu dem voraufgehenden Zeitalter auch im Predigtwesen einen großen Gegensatz bringt. Man verlangte in den Predigten eine prosaische Allgemeinverständlichkeit, common-sense und commonplace-morality 1 ). Es fehlte darum der religiös empfindsame Geist; und 1) Vgl.

Leslie

Stephen:

English

— 35 —

Thought.

Vol.

II. S.

337.

leidenschaftliche Gemütsbewegung oder trostreiche Erhebung wurden gar nicht geschätzt. Man findet in den Pradigten den ausgesprochenen Wunsch, 'auf den Durchschnitts verstand in moralischer Hinsicht mit vernünftigen Vorschlägen zu wirken, um den Menschen zu einem sittlich reinen Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu machen. Dadurch wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Predigten meist eine Art von moralischen Essays, die nur auf vernünftige Motive anspielten und auch die Politik, vor allem die der Kirche, in den Bereich der Kanzelrede zogen. Damit trat das Dogmatische der christlichen Lehre auch hier zurück, um einem praktisch nüchternen Moralismus Platz zu machen. Dieser inhaltliche Wandel wirkte sich auf die äußerliche Form der Predigt aus, in der ein klarer und kaum geschmückter Stil vorherrschend wurde. Stellt man C 1 a r k e oder S h e r 1 o c k als für diesen Typus der neuen Predigten charakteristisch hin, so kann man mit dem gleichen Recht die Predigten S w i f t s anführen. Er hält ganz bewußt seine Predigten im Rahmen der aufklärerischen Forderungen und versucht, seine Prinzipien zum, Allgemeingut zu machen. Er gibt in bezug auf die Predigt jungen Geistlichen Ratschläge, die er selbst in seinen Predigten beherzigt hat 2 ). Man soll sich einer natürlichen und ungekünstelten Sprache befleißigen, die sich immer da einfindet, wo die Gedanken, die in eine Form gebracht werden sollen, richtig verstanden sind. Einfachheit ist nirgends dringender notwendig als hier. Die pathetische und auf das Gefühl des Menschen zugeschnittene Ausdrucksweise wird abgelehnt; ein einfacher, überzeugender Vernunftschluß kann sowohl bei gelehrten als auch bei ungelehrten Menschen für das ganze Leben wirksam sein, und er wird auch tausendmal mehr erbauen als die Kunst, Tränen zu erzeugen, wenn man das überhaupt mit Sicherheit erreichen kann. Sind die Argumente des Predigers stark, so mögen sie in einer, der Natur der Sache entsprechenden rührenden Art vorgebracht werden; aber Vernunft und guter Ratschlag sollen die sicheren Wegweiser für die Predigt sein, und der pathetische Teil darf nie die Vernunft verschlingen. Darüber ist sich die Philosophie einig, daß die Vernunft nie von der Leidenschaft beherrscht werden soll. Hauptaufgabe bleibt immer, — und das muß ein Geistlicher auch dem beschränktesten Menschen klar machen können —, zu zeigen, was für die Menschen Pflicht ist und sie zu überzeugen, daß sie sie erfüllen 2) P r o s e

Works:

III. S .

201 ff.

— 36 -

müssen. Dogmatische Fragen müssen aus der Predigt ganz verschwinden, sie gehören in gelethrte Diskurse; die Predigt ist für mittlere und niedere Volksschichten bestimmt, denen theologische Ausdrücke unverständlich sind; dazu liegt das Ziel der Predigt hauptsächlich auf moralisierendem Gebiete. Da die Aufklärung einen starken Einfluß auf das Gepräge und die Ziele der Kirche ausübte, die Predigten hinwiederum aber ein Ausdruck des in der Kirche vorherrschenden Geistes sind, so läßt sich eine enge Verbundenheit S w i f t s mit den Prinzipien der Aufklärung einerseits und andererseits auch mit der Kirche in der allgemeinen Grundhaltung feststellen. Wie weit diese sich auf Einzelheiten erstreckt, wie weit aber auch die Aufklärung überwunden wird, bleibt eine Frage, die erst im Verlauf der Darstellung gelöst werden kann. Jedenfalls darf, trotz der mannigfachen Ubereinstimmung der Ansichten S w i f t s mit den Gedanken der Aufklärung, nicht eine grundsätzliche Eingliederung erfolgen. Vor allem die Ablehnung der Bildungswerte der modernen Zeit, die schon in "The Battie of the Books" beginnt, die fast an Nichtachtung grenzende Interesselosigkeit a n den Erfolgen der Naturwissenschaften, die inhaltliche Bevorzugung der Antike sind Überzeugungen, die sich mit dem Geist der Aufklärung nicht vereinbaren lassen. S w i f t nimmt ihre Geisteshaltung und ihre Prinzipien zwar in sich auf, aber dank der eigenen Kraft seines Verstandes vermag er ihre Schäden zu vermeiden, sie mit dem Voraufgegangfenen auszugleichen und sie innerlich zu überwinden. Diese Entwicklung läuft ganz parallel zu einer anderen Erscheinung in seinem literarischen Werk. Wenngleich S w i f t der höchste Ausdruck des englischen Klassizismus in der Prosaliteratur ist, so zeigen gerade die Werke, die den besten Wesensausdruck S w i f t s in sich fassen, daß auch dieser Standpunkt von iihm bereits überwunden ist. Die Ironie, die sein Schaffen krönt, weist über den Geist des Klassizismus hinaus in die Empfindungswelt wirklicher Romantik. So werden in dieser einen Persönlichkeit Aufklärung und Klassizismus zugleich überwunden. Es bleibt jetzt zu zeigen, wie sich diese allgemeine Geisteshaltung S w i f t s auf die Formung seiner Anschauungen über Religion und Kirche ausgewirkt hat.

— 37 —

KAPITEL III. Swift und die anglikanische Kirche. Aus der Gleichmäßigkeit der Ansichten S w i f t s über Religion und Kirche in den literarischen Äußerungen jeder Periode kann man schließen, daß der Entwicklungsprozeß S w i f t s im wesentlichen abgeschlossen ist, als sein Schrifttum einsetzt. Das gilt darüber hinaus auch für das innere Wesen S w i f t s , das sich in seinem Verhältnis zur Welt in den charakteristischen Grundzügen seihon damals ausgeprägt findet und sich im Laufe des Lebens auch unter Enttäuschungen und einer fortschreitenden Krankheit nicht mehr grundsätzlich ändert. Es ist für die Anschauungen, die S w i f t über Religion und Kirche entwickelt, bedeutungsvoll, daß sich der Zwiespalt zwischen S w i f t und den Menschen i n der Gesamtheit schon in den ersten Schriften ausgeprägt findet, wenn auch nicht jeweils in gleich starkem Maße. Der persönliche Anteil und die innere Beschäftigung mit den Fragen der Welt vermochten den Dualismus teilweise auszugleichen, der krankhaft gesteigert gelegentlich in völliger Verachtung der Menschheit durchbricht 1 ), um gleichzeitig vor der Erkenntnis der Zugehörigkeit zu den verhaßten Menschen nicht zurückzuschrecken. Sein tragisch gequältes Wesen versucht vielmehr, diesen Kontrast, der zwischen seinem überlegenen Genius und der Welt besteht, noch zu verschärfen, indem er das Gemeinste und Niedrigste erbarmungslos enthüllt. Diubei aber muß er in der Erkenntnis der eigenen Teilhaftigkeit unter der Schlechtigkeit der Welt umsomehr leiden. Dieser tragische Zwiespalt hat S w i f t sein ganzes Leben lang erschüttert und seine Einstellung zur Welt entscheidend beeinflußt. Man muß daher von vornherein vermuten, daß er auch in der Sphäre, die das Tiefste des Menschlichen betrifft, in ähnlicher Schärfe klafft, zumindest aber sich nicht verleugnet: in der Einstellung zum Religiösen. Tatsächlich findet sich auch hier ein Dualismus, der von vielen Biographen ohne Frage geahnt und erkannt, in seinem 1) C o r r . III. 277.

— 38

vollen Umfang nicht herausgestellt worden ist, wahrscheinlich aus dem Grunde, daß sich die Grenzen in dieser Hinsicht gar nicht scharf ziehen lassen. Vielmehr ergibt sich eine so vielgestaltige wechselseitige Durchdringung von persönlichem Empfinden und utilistischem Festhalten an äußeren Prinzipien, d a ß eine eindeutige Trennung in individuelle Überzeugung und äußeren Ausdruck sich nicht vornehmen läßt, ohne jeweils auf die gegenseitigen Wechselwirkungen hinzuweisen. Allerdings lag die Aufdeckung dieses Zwiespalts u m so näher, als er im Zeitalter S w i f t s auch bei vielen anderen Größen in Fragen der Religion eine nicht unbekannte Erscheinung war, und man geradezu von dem inneren Widerspruch des Deismus gesprochen hat 2 ). Man behielt das religiöse System, das man durch Reflexion erworben hatte, esoterischen Kreisen vor, um daneben sowohl die positive Religion als auch ihre äußere Erscheinungsform, die Kirche, als unbedingt notwendig aufrecht zu erhalten. Eine ähnliche Unterscheidung scheint auch S w i f t ge' troffen zu haben, bei dem ebenfalls eine unverkennbare Trennung in esoterische und exoterische Religionsauffassung vorliegt, die, aus dem Wesen S w i f t s erklärlich, einen bemerkenswerten Parallelismus zu seinem Werk auf anderen Gebieten darstellt. Sein formales Glaubensbekenntnis, wie es zunächst vornehmlich sich an der Oberfläche seines Schrifttums zeigt, ist k a u m verbunden mit der ihn beherrschenden wirklich inneren Religiosität. Um diesen Dualismus schärfer herauszustellen, wird es sich nicht vermeiden lassen, das Gegensätzliche etwas zu vergröbern und nur das zu betonen, was als das Wesentliche ständig wiederkehrt, ohne allerdings dabei dem Tatsächlichen Gewalt anzutun. Die gelegentlich bewußte Absicht S w i f t s zu harmonisieren, hat auch den Gegensatz nicht überbrücken können, obgleich er sich selbst meist nur auf eine Seite stellt und in seinen Schriften den Gegenpol geflissentlich zu ignorieren sucht. Das Verhältnis, das zwischen S w i f t , Religion und Kirche besteht, läßt sich nur unter Beachtung des Kontrastes zwischen eigener Religiosität und der Auffassung von der allgemeinen Religiosität des Durchschnittsmenschen, zwischen persönlichem Irrationalismus und einem rational-exoterischen System, zwischen subjektiver Sittlichkeit und der Moral der Masse begreifen. Bevor man jedoch grundsätzlich in esoterische und exoterische Religionsauffassung scheidet, muß die Existenz eines gemeinsamen Fundamentes betont werden, von dem sich in f ü r 2) H i n n e b e r g :

Kultur

der Gegenwart.



39 —

B d . I, 5, S. 514.

S w i f t ganz charakteristischer Weise die Trennung vollzieht. Diese Basis ist die tatsächliche Anerkennung des Wertes der Religion 3 ), damit also eine rein individuelle Einstellung S w i f t s . Wenn die Darstellung aber vornehmlich mit der exoterischen Auffassung beginnt, so ist damit, wenn es auch den Anschein eines Vordringens vom falschen Ende haben kann, doch insofern methodisch vorgegangen, als sie von außen zunächst in der niedersten Stufe den ersten Abschnitt auf der Entwicklung zur höheren Religiosität S w i f t s selbst bildet. Vor allem aber ist dieser Weg der Interpretation schon deswegen der einzig mögliche, weil die Schriften S w i f t s über Kirche und Religion fast ausschließlich exoterischen Charakter tragen, d. h., daß S w d f t bewußt den Blick auf die Allgemeinheit und das Gemeinwohl bei der Abfassung seiner Werke gerichtet hat und die Wirkung der Religion vornehmlich als Faktor der Gesellschaft behandelt. Wenn die Darstellung sich im wesentlichen diesen Schriften widmet, so könnte das einer Behandlung von Schriften, die gewiß nicht den originellsten Teil der Arbeit S w i f t s ausmachen, gleichkommen. Es gilt aber eben, über die bloße Interpretation dieses Schrifttums hinaus in das innere Wesen S w i f t s vorzustoßen, und gerade darin kann der Wert einer Untersuchung liegen, die in den Fragen, die den Menschen S w i f t zutiefst betreffen und die der eindeutigen Klärung nicht zugänglich sind, dieselben Erscheinungen findet, die für den Charakter S w i f t s eigentümlich sind. Die exoterischen Ansichten müssen eben, wenn sie nicht bloße Heuohelei sein wollen, mit dem Inneren verknüpft sein, wenn sie auch mit eigener Religionsauffassung nicht identisch zu sein brauchen. Unaufrichtigkeit kann man aber, obgleich es nicht an zahllosen Versuchen gefehlt hat, S w i f t nicht vorwerfen, dagegen spricht schon die pathetische Kraft, deren das exoterische Religionsschrifttum S w i f t s nicht entbehrt, und die nur aus leidenschaftlicher Gemütsbewegung entstanden sein kann. Wenn in dieser Darstellung der Versuch gemacht wird, a u s den Schriften S w i f t s eine bestimmte systematische Behandlung der religiösen Fragen durch S w i f t zu erkennen, so soll damit nicht gesagt sein, daß S w i f t immer ganz bewußt nach einem festen Schema gearbeitet hat. Eindeutig ist allerdings immer der Gesichtspunkt der praktischen Nützlichkeit der vertretenen Anschauungen, und darin unterscheidet er sich 3) Jedenfalls muß schon an dieser S t e l l e die aufrichtige Religiosität S w i f t s apriori anerkannt w e r d e n , w e n n sie darzustellen auch dem Verlauf d e r Abhandlung v o r b e h a l t e n bleibt.

— 40 —

letzthin grundlegend von den Deisten, deren Religionssystem im Grunde doch esoterisch blieb. Während T o l a n d und S h a f t e s b u r y unter anderen die Unbrauchbarkeit ihrer Gedanken für die Allgemeinheit erkannten und eine Beschränkung auf gebildete Kreise forderten, geht S w i f t mit seinen Schriften gerade den umgekehrten Weg. Er verlangt, daß m a n a u s den eigenen religiösen Gedanken eine Sphäre geheimen u n d individuellen Innenlebens macht, und nach außen n u r so weit seine Gedanken verbreitet, als sie mit den bestehenden und als allgemein praktisch erkannten Zuständen übereinstimmen 4 ). Dieser Standpunkt wird von ihm mit allem Ernst ausschließlich in seinem ganzen religiösen Schrifttum erstrebt, und er verfolgte in seiner Gewinnung ein Ziel, von dessen Notwendigkeit er fest überzeugt war. Wenn^er dabei zur Unterdrückung von Zweifel oder abweichenden Gedanken gezwungen war, so brachte er damit kein eigentliches sacrificium intellectus, vielmehr ein freiwilliges Opfer den Prinzipien, die er f ü r das Allgemeinwohl f ü r wesentlicher hielt, als die Verbreitung eigener Zweifel, mit denen praktisch nichts Positives erreicht wurde. In dieser Beziehung überragt er den Standpunkt des bloßen Kritizismus gerade in der Religion, wo er durchaus erhaltend, wenn zunächst auch weniger aufbauend ist. Aber gerade der Wunsch, ein 'gewisses Dekorum weitgehendst zu bewahren — mehr aus innerer Überzeugung als aus dem Solidaritätsgefühl des anglikanischen Geistlichen — mußte in dem Maße, mit dem die Misanthropie bei S w i f t herrschte, durch den freiwillig verschärften Gegensatz zur Menschheit auch den Zwiespalt zwischen exoterischen und esoterischen Anschauungen vergrößern und damit die Trennung der praktischen Forderung vom Individuum unerträglich gestalten, weil der, Gesichtspunkt der Notwendigkeit immer niedrigere Maßnahmen erforderte, je verzerrter das Bild vom Menschen wurde. Hinzu kam der Mißbrauch der Religion und die Betonung von Gesichtspunkten, die dem praktischen common sense widersprachen, u m S w i f t die selbstgesteckten Grenzen überschreiten zu lassen. In diesen Fällen steht er vor uns, wie er wirklich innerlich dachte, und es mag festgestellt sein, daß auch in diesen Ausbrüchen ein Widerspruch zu Religion und Kirche in den Punkten, die S w i f t vornehmlich betonte, nicht auftrat. Das läßt sich auch von dem Hauptwerk dieser Gruppe, dem „Tonnenmärchen" sagen, in dem C r a i k sogar einen mit moralischen Tendenzen unternommenen Angriff gegen den neu4) P r o s e W o r k s III. 307 und 308.

— 41 —

zeitlichen Skeptizismus einerseits und das fanatische Sektenwesen andererseits sehen will 5 ), d. h. eine Schrift, die ganz in der Richtung der wichtigsten Punkte im Verteidigungssystem S w i f t s liegt. Wo S w i f t selbst fühlt, daß der Zorn ihn zu weit getrieben hat, ist das Bedauern über den Mißgriff in Form einer Apologie die natürliche Folge, obgleich sie den modernen Leser vornehmlich deswegen nicht zufriedenstellt, weil er instinktiv einen Dualismus und damit eine Unaufrichtigkeit bei S w i f t empfindet. Es scheint zum Teil so zu sein, daß sich die gegensätzlichen Urteile über das Verhältnis S w i f t s zur Religion aus dieser zwiespältigen Anschauungsweise ergeben. Eine Divergenz zwischen "A Tale of a Tub" und den zahlreichen hochkirchlichen Schriften ließ sich nicht leugnen, woraus man für die eine oder die andere Seite das Prädikat der Unaufrichtigkeit prägen zu müssen glaubte. In Wirklichkeit überträgt sich nur der Zwiespalt im Wesen S w i f t s auch auf seine Schriften und nur eine Trennung beider Standpunkte ermöglicht die Gewinnung eines eindeutigen Bildes. Da das Schrifttum S w i f t s fast ohne Ausnahme exoterischen Charakter trägt, kann für die Beurteilung der Schriften eigentlich nur der Standpunkt richtig sein, der sie als das wertet, wofür sie bestimmt waren, nämlich als zweckbestimmte Werke von praktischem Wert, die S w i f t s tatsächlichen Anschauungen über das menschliche Leben auf breiter Basis entsprachen. Unter diesem Gesichtspunkt zieht sich auch eine einheitlich gerade Linie durch die Schriften über die Religion, und von ihm a u s sind die Abweichungen auch wiederum psychologisch erklärbar. Daneben besteht noch der esoterische Standpunkt, der von den höchsten geistigen Voraussetzungen bei S w i f t ausgehend, den igroßen Riß zum exoterisehen System empfindet, und, während er das Bestehen des letzteren verkennt, den größten Teil des religiösen Schrifttums als egoistische Heuchelei verwirft. Er stellt den Zwiespalt zwischen dem hohen Niveau des Autors und den tatsächlich von ihm aufgestellten Forderungen fest, um von hier aus das ganze System — was durchaus möglich ist — als leichtsinnigen Hohn darzulegen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß S w i f t auch dann, wenn er sich nur von praktischen Tendenzen leiten läßt, das eigene Empfinden nicht immer so weit zurückdämmen konnte, daß seine innere Überzeugung ganz unterdrückt wunde. Das ist schon des5) C r a i k :

L i i e of S w i f t , S . 105.

— 42 —

halb selbstverständlich, weil er ein vielzu selbständiger Denker war, als daß er sein persönliches Gedankengut bedingungslos dem exoterischen Programm unterworfen hätte. Die Folge davon ist, daß überall der Verdacht der Ironie naheliegt, selbst wo an der grundsätzlichen exoterischen Absicht des Autors kein Zweifel besteht. Durch dieses Schwanken im Wesen S w i f t s tritt sogar die Möglichkeit ein, daß Vorschläge, die an einer Stelle ganz unverkennbar den Stempel absoluter Ernsthaftigkeit tragen, gelegentlich an anderer Stelle wie bitterer Hohn klingen, obgleich auch in idiesem Falle an ihrer relativen Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln ist. Während S w i f t immer individuell dachte und deshalb auch seine esoterische Auffassung von der Religion hatte, die bei einem überragenden Menschen, wie er es war, der Tiefe nicht entbehrte, mußte das, was er systematisch geprüft über Religion und Sittlichkeit der Masse schrieb, als Sarkasmus gewertet werden. Wenn man aber diese Systematik trotzdem als ernstgemeint fassen will, so muß man sich über die Größe des Zwiespalts, der zwischen dem Individuum und der Menschheit klaffte, zwar immer im Klaren sein, dabei aber mit S w i f t den Versuch machen, den persönlichen Skeptizismus auszuschalten und nach Möglichkeit den Gesichtspunkt der praktischen Brauchbarkeit der Religion für den Durchschnittsmenschen gewinnen. Auf ihm fußt vorerst der weitere Verlauf der Darstellung. Eine systematische Darstellung seiner exoterisch-religiösen Anschauungen hat S w i f t nirgends gegeben; man ist in dieser Hinsicht auf eine Rekonstruktion aus einzelnen Teilen seiner Werke angewiesen, die in großen Zügen einen gradlinigen Aufhau der Religionsauffassung zu zeigen vermag. Während der Deismus ( S h a f t e s b u r y , T o l a n d , B o l i n g b r o k e ) das Esoterische betonte, legt S w i f t den besonderen Wert auf die Erhaltung und Verbreitung einer allgemein zweckmäßigen Religiosität. Darin folgt er offenbar dem Bedürfnis der Zeit, die unter Abwendung vom metaphysischen Denken den Hauptstandpunkt ihrer Anschauung in die praktische Vernunft legt. Durch diese Wandlung wurde die praktische Sittlichkeit zur vornehmlichen Forderung des Zeitalters. Man kann bei S w i f t ähnliche Postulate feststellen. Darin äußert sich die enge Verbindung S w i f t s mit seiner Zeit, und es zeigt sich im Grundsätzlichen der sittlichen Forderung wenig Originalität. Die sittenverbessernde und reformfreudige Richtung des ganzen Zeitalters, die Betonung der Moral und die Versuche einer Hebung der Sittlichkeit durchdrangen am Ende — 43 —

des 17. und zu Anfang des 18. Jahihunderts das ganze englische Volkstum und mußten in einer Persönlichkeit von der sittlichen "Größe S w i f t s ihren Widerhall finden. Literarischen Ausdruck fand dieses Gefühl sowohl in der Allgemeinheit als auch — wie sich herausstellen wird — bei S w i f t, in einem tiefen Interesse für soziale und moralische Gesetze unter Abkehr vom Spekulativen. Durch das Fehlen dieses tieferen Grundes rückte die Betrachtung der unmittelbar praktischen Wirklichkeit des Lebens in den Vordergrund. Nicht die theoretische Entdeckung von verborgenen Prinzipien für die Kräfte des menschlichen Lebens, sondern die Aufstellung ausreichender moralischer Maximen für die Lebensführung, Analyse der menschlichen Leidenschaften und die Aufdeckung der treibenden Kräfte in der Gesellschaft gewannen die vornehmliche Bedeutung. Das psychologische Wissen um die menschliche Natur und 'die hervorragende Wertschätzung des Sittengesetzes waren also die Hauptinhalte der Zeit 6 ). In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Ursprung und den hauptsächlichen Vertretern dieses typischen Moralismus für die Stellungnahme S w i f t s von wesentlicher Bedeutung, da sie das Problem der äußeren Einflüsse auf S w i f t befriedigend zu lösen vermag. Grundlegend für den Moralismus waren H o b b e s und L o c k e geworden, weniger der Neuplatonismus der Cambridger Schule und die Ideale S h a f t e s b u r y s . Die Verhältnisse, auf die sie allgemein aufbauten, haben ihre Wurzel in der Wandlung durch die puritanische Revolution und in den anarchischen Zuständen als Folge des independentistischen Regimes. Mit dem Zusammenbruch der christlichen Kulturidee war der stärkste Antrieb für die Reflexion über neue Fundamente der Ethik gegeben. Daß diese sich im Sinne der neuen sich bahnbrechenden rationalistischen Kultur entwickelte, konnte auch die sittlich minderwertige Gegenströmung der Restaurationszeit nicht verhindern. Die bisherige Methode der theologisierenden Ethik wurde abgelöst durch die psychologische Analyse der Triebkräfte des Menschen, zu der H o b b e s den entscheidenden Schritt tat. Diese Bewegung wurde zur Zeit S w i f t s vorherrschend; die empirischen Interessen des Einzelwesens traten in den Vordergrund und mit ihnen die psychologischen Voraussetzungen für eine Ethik, wie H o b b e s sie aufgestellt hatte. Diese Erkennt6) D i e allgemeine Verbreitung d e s englischen Moralismus fand ihren charakteristischen Widerhall z. B. in den m o r a l i s c h e n W o c h e n s c h r i f t e n und im p s y c h o l o g i s c h e n Sittenroman.



44



nisse förderten im englischen Moralismus die Wandlung zum Utilitarismus. Allerdings ist gerade für die spätere Einstellung S w i f t s von Bedeutung, daß bei H o b b e s die Frage nach den Beziehungen der christlichen Religion zum Sittlichen noch ungeklärt blieb. Die Ethik des Christentums, die in den Begriffen der göttlichen Offenbarun,gssanktion, der göttlichen Belohnungen und Bestrafungen, der Sündenvergebungen und der Gnadenhilfen ihren Ausdruck findet, pocht auf die Notwendigkeit göttlicher Vergebung und göttlicher Sanktionen überhaupt. H o b b e s stellte, zunächst im Gegensatz zu den Offenbarungen und der christlichen Gnadenethik, seine Theorien auf das für ihn sicherste Fundament der sinnlichen Gefühle und Empfindungen und kam dann von einem rein weltlichen, an M a c c h i a v e l l orientierten Standpunkt in Hinsicht auf die Gesamtwohlfahrt zur Forderung der Staatsreligion als Zwangsgeltung; ihr gegenüber mußte der Dissent kritische Gedanken für sich behalten. So fand der seit dem Humanismus in England bekannte und durch M a c c h i a v e l l begründete Gedanke der Religionen in enger Verbindung mit dem Staate bei H o b b e s für England seine bedeutendste Einbruchsteile und weite Verbreitung. Daneben wurde L o c k e der andere wichtige Ausgangspunkt für die Entwicklung der Morallehren im 18. Jahrhundert. E r baute seine Ethik auf die Motive der Glücksfolgen des Handelns auf, verließ aber trotz des eudämonistischen Charakters seiner Lehren nicht die Forderung des Christlichen. E r hielt starr an der Offenbarung und dem kirchlichen Supranaturalismus fest. Je nach der höheren Bewertung des einen oder anderen Elementes seiner ethischen Lehre, wurde L o c k e der Ausgangspunkt einer radikalen, Religion und Moral identifizierenden Religionsphilosophie, wie sie unter Ablehnung des supranaturalistischen Dogmengebäudes der englische Deismus vertritt, oder auch die Basis für die Theorien der Gegner des Deismus, die an einem rationalsupranaturalistischen Utilitarismus festhielten. Unter dem Einfluß dieser Theorien waren Systeme über eine Verknüpfung oder Lösung des Religiösen vom Sittlichen unter den verschiedensten Gesichtspunkten, mit Extremen nach links und rechts, dem Zeitalter durchaus geläufig. Die Probleme des Verhältnisses von Christentum und Sittlichkeit und die Verwendung der psychologischen Methode finden auch bei S w i f t einen Niederschlag, der die Kenntnis von L o c k e und H o b b e s und ihren Einfluß keinem Zweifel unterliegen läßt.

— 45 —

S w i f t s erbarmungslose Scharfsichtigkeit, die unselig gezwungen in die sittlichen Schäden der Menschheit hineinleuchtet, legt den Grundstock zum Moralismus und einer streng individuellen Ethik. Sein Pessimismus ist nicht in der Lage, das Bild der Verdorbenheit und Ungläubigkeit der Masse zu harmonisieren, und die Klage und der wütende Zorn über Sittenlosigkeit und Korruption durchzieht einen großen Teil des S w i f t sehen Schrifttums. Die sittliche Entrüstung und die Kritik an der englischen Sittlichkeit findet da ihren Höhepunkt und geradezu klassischen Ausdruck, wo S w i f t im unterdrückten Zorn die große Satire auf die Verhältnisse seiner Zeit erstehen läßt. Von allem Sarkasmus befreit, in der trostlosen Aufrichtigkeit aber nicht minder eindrucksvoll, enthüllt S w i f t schon 1708 ohne Übertreibung die Laster des gemeinen Menschen und des Volkes. Bevor er praktische Vorschläge zur sittlichen Hebung der Masse macht, überzeugt er von der Notwendigkeit solchen Unterfangens durch eine Sittenschilderung 7 ). In allen Zweigen des Berufslebens, besonders in den großen Städten, halten sich Ruchlosigkeit und Ignoranz in kaum zu -überbietender Weise breit gemacht. Den schrecklichsten Tiefstand haben Heer und Flotte erreicht, bei denen man keine Bedenken mehr trägt, von seinen Lastern und Verfehlungen wie über alltägliche Dinge offen zu sprechen. Trostlos steht es mit dem weiblichen Geschlecht; tugendhaften und lasterhaften Frauen begegnet man überall mit der gleichen Gunst, die letzteren legen ihren Leidenschaften keinerlei Beschränkungen auf und erfreuen sich unbegrenzter Freiheiten. Verdorbenheit von Universität und Bühne, das Überhandnehmen von Glücksspiel und der daraus folgenden endlosen Kette von Übeln, die Prunksucht und Unzucht, werden gegeißelt. Alle diese Laster hinwiederum sind nur Kleinigkeiten im Vergleich zu Betrug und Täuschung, wie sie sich etwa bei Händlern und kleinen Ladenbesitzern abspielen. Korruption im Ämterwesen, die unerhörte Bestec'hungsarbeit bei Parlamentswahlen, Eigennutz und Parteiinteresse der Abgeordneten, daneben Unwissenheit bei einem Teil des niederen Kreises, die niedrig dienstfertige Natur anderer Menschen geben nur einen kurzen Ausschnitt aus einem Bilde, aus dem der Abscheu vor dem gegenwärtigen Zustand der Menschheit spricht. Die Folge dieser trostlosen sittlichen Verhältnisse ist die Verachtung der christlichen Religion, da diese hauptsächlich Sittlichkeit fordert, 7) P r o s e W o r k s : Project III. 29 ff.

— 46 —

die tatsächlichen Zustände aber zu ihr in Widerspruch stehen. Wenn die sittlichen Forderungen des Christentums dem gegenwärtigen Zustand aber in solchem Maße entgegenstehen, ist der Mensch geneigt, die christliche Religion zu verachten, weil nach ihrem Maßstab sein Lebenswandel erbärmlich ist. In dieser Hinsicht erscheint die christliche Religion als die Lehre von der Sittlichkeit, deren Vernachlässigung zwar nicht die Ursache, aber doch die Folge der allgemeinen Verdorbenheit ist und deren Fehlen die Sittenlosigkeit fördern muß 8 ). Zu diesem pessimistischen Sittenbild kann die eigene sittliche Unantastbarkeit S w i f t s in keinerlei Harmonie gebracht werden, sondern aus dem Gegensatz zu einer so gezeichneten Menschheit entspringt in teilweise krankhafter Ubersteigerung die unerhört tiefe Misanthropie. Trotzdem besteht aber neben diesem negativen Kritizismus ein gewisser positiver Wille, ein Bekenntnis zu wirklicher Sittlichkeit, das hinter der grausamen Maske S w i f t s hervorschimmert. Das Bewußtsein eigener Sittlichkeit treibt ihn, mit Menschen von gleichem Niveau sich zusammenzuschließen und mit ihnen empfindet er, wie etwa B o l i n g b r o k e , das Bedürfnis, die Menschheit auf eine ähnliche Stufe gehoben zu wissen. Jedenfalls ist der Wert der Sittlichkeit von S w i f t sehr hoch gefaßt worden und sein Wesen von den Ideen des zeitgemäßen Moralismus tief durchdrungen. Wenn an dieser Stelle auf die Betonung des Moralismus im Schrifttum S w i f t s nur im großen und ganzen hingewiesen werden kann, so läßt sich seine tatsächliche Stärke erst dann ermessen, wenn man die gesamten Schriften über Religion und Kirche, selbst unter Einschluß von " A Tale of a Tub" und "Gulliver's Travels", in den Rahmen der Betrachtung zieht. Deshalb wird sich auch erst im Laufe der Darstellung S w i f t s Forderung der Sittlichkeit in vollem Umfang erfassen lassen. In auffallendem Maße wird alles nach dem Gesichtspunkt des Moralismus beurteilt, und. in diesem Zusammenhang werden auch die heidnisch-philosophischen Morallehren in den Vordergrund der Betrachtung gezogen, wie sich überhaupt die Antike bei S w i f t innerlich ganz besonderer Wertschätzung erfreut. Vom Gesichtspunkt des Sittlichkeitswertes wurde vornehmlich das Verhältnis zur christlichen Religion bedeutungsvoll. Grundsätzlich läßt sich hier feststellen, daß bei S w i f t Religion und Sittlichkeit eng verknüpft sind, wie schon oben mit der Sittenlosigkeit gleich der Mangel an Religiosität cha8) P r o s e W o r k s :

III. 215 f.

— 47 —

rakteristisch verbunden wurde. Dabei ist auch hier der Kernpunkt des Problems Sittlichkeit — Religion schwer festzulegen, da er unter Verschiebung vom Esoterischen zum Exoterischen schwankt. Bleibt man bei dem einmal eingenommenen exoterischen Standpunkt, so dürfte das Schwergewicht auf seiten der Sittlichkeit liegen, die damit aber noch nichts anderes als eine Vorstufe zu wahrer Religiosität zu sein braucht. Das Fundament und das Vorbild für die von S w i f t immer wieder vertretene Sittlichkeit ist aber die christliche Religion; er weist selbst auf diese Grundlage hin, wenn er in seiner Predigt "On the Testimony of Conscience" davon spricht, daß die sittliche Makellosigkeit sich nur dann erreichen läßt, wenn das menschliche Gewissen sein Handeln nach den Lehren und Vorschriften der christlichen Religion einrichtet 9 ). Weiter lassen gelegentliche Äußerungen über den Wert des Christentums die Betonung des christlichen Sittensystems als den vornehmlich interessierenden Teil des Evangeliums hervortreten. So scheint in diesem exoterischen Zusammenhang das moralische Element das Wesentliche zu sein, das sich im Christentum in hoher Vollendung und praktischer Brauchbarkeit offenbart. Die Bibel wird in einem solchen Verhältnis mehr das Lehrbuch wahrer Sittlichkeit, das Evangelium ist weniger Vermittler innerlicher Religiosität und tiefen Gottesglaubens, als göttlich sanktionierte Ethik. Folglich verblassen neben dem für S w i f t als maßgeblich gewonnenen Standpunkt des Moralismus die anderen Bestandteile des Christentums zu relativer Bedeutungslosigkeit und erhalten erst dann wieder ein gewisses Interesse, wenn sie praktisch auf irgendeine Weise einen Einfluß auf die Gewinnung christlicher Sittlichkeit ausüben können. Damit bekommt aber auch sowohl die Geistlichkeit als auch ein Teil ihrer Funktionen, besonders die Predigt, ein ganz bestimmtes Ziel, auf das S w i f t wiederholt hinweist. S w i f t war zur Betonung des Moralismus um so stärker berechtigt, als sein Beispiel und seine innere Gesinnung den Anforderungen christlicher Sittlichkeit entsprachen. Das Bedürfnis, die Menschheit auf eine ähnliche Stufe zu heben, liegt damit ohne Frage nahe, nur bleibt das Problem, ob die eigene Mentalität voraussetzungslos genug war, auf dem vorhandenen Fundament eigener Unantastbarkeit positive Aufbauarbeit zu leisten und im optimistischen Geiste der Zeit praktische und menschliche Sittlichkeit zu predigen. Die Methode, mit der die Sittlichkeit garantiert werden soll, ist für S w i f t kennzeichnend und wegen der engen Ver9) Prose Works: IV. 122.

— 48 —

bundenheit mit seinem eigenen Wesen unbedingt individuell, wenn auch in den einzelnen Teilen nicht neuartig. Sie entspringt a u s der zeitgemäßen Neigung zur psychologischen Durchdringung der Sittlichkeit und verleugnet deshalb auch nicht H o b b e s als das Vorbild der exoterischen Auffassungen. Ihr Ziel ist eine vernünftige Sittlichkeit, deren Voraussetzung vor allem der praktische Wert f ü r den Durchschnittsmenschen ist, wodurch der Schwerpunkt aus dem theoretisch-theologischen Wissen in das moralische Gewissen verlegt wird; sie beschränkt sich also vornehmlich auf solche Gesichtspunkte, die f ü r das moralisch-religiöse Wollen und Handeln unerläßlich scheinen. Aus dieser Einstellung heraus gewinnen im System S w i f t s Kirche und daneben auch die Eirchenlehre maßgebende Bedeutung. Der Pessimismus S w i f t s hat die Methode seines Sittensystems entscheidend beeinflußt. Es kommt dadurch zu Vorschlägen f ü r die Hebung der Sittlichkeit, denen man ernstgemeinte Aufrichtigkeit hat absprechen wollen; von einem bestimmten Standpunkt aus — es sind f ü r S w i f t zwei Beurteilungsmöglichkeiten zu beachten — konnte man damit durchaus recht haben: die Vorschläge entsprechen nicht den endgültigen esoterischen Zielen und Ansichten S w i f t s und sind nach diesem Maßstab nur als ironisch zu verstehen. Der in diesem Falle eingenommene exoterische Standpunkt zeigt die Projekte aber in ganz anderem Licht, obgleich S w i f t selbst oft im Ton seiner Schrift die Unterdrückung subjektiver Gefühle nicht ganz gelungen zu sein scheint, und ein Zug der Resignation über dem Ganzen schwebt, der es im Grunde bedauert, zu derart niedrigen und geradezu irreligiösen Mitteln greifen zu müssen, um zunächst einmal einen Anfang der sittlichen Reformation in die Wege zu leiten; der Utilitarismus nahm auch solche Schranken. Dies trifft vor allem auf den zweiten Teil des "Project for the Advancement of Religion and the Reformation of Manners" 10) zu, der sich im wesentlichen auf eine systematische Reform der Sitten bezieht und in der Anlage seiner Vorschläge für die Arbeits- und Anschauungsweise S w i f t s ungemein charakteristisch ist. S w i f t geht von der Beobachtung der realen Triebkräfte des menschlichen Lebens aus. Die psychologische Menschenkenntnis in ihrer unbeirrbaren und schonungslosen Aufdeckung der Grundmotive f ü r das menschliche Handeln findet bei 10) P r o s e

Works:

III. 31 ff.

— 49 —

S w i f t ihre Auswirkung in der Wahl und praktischen Anwendung von Mitteln, die zur Hebung der allgemeinen Sittlichkeit führen sollen, denen die Auffassung vom Menschen bei S w i f t ihren Stempel gegeben haben. Es ist nicht das Vorbild allein, das zur Nachahmung anzuspornen vermag, sondern es handelt sich im menschlichen Leben u m andere Autoritäten, die zur sittlichen Lebensführung anspornen. Nicht das Gute um seiner selbst willen ist, wenn es erkannt wird, das Ziel des Handelns, sondern die Triebkräfte liegen auf einer wenig idealen, aber ungleich realeren Empfindungsbasis im menschlichen Seelenleben. Im Project ist es die Autorität der Staatsmacht, d. h. in diesem Fall die Königin Anna, der es unter voller Ausnutzung des ihr zur Verfügung stehenden Gesetzes möglich ist, die Pflege der Religion und Sittlichkeit zu erzwingen, "by rendering vice a disgrace, and the certain ruin to preferment and pretensions" "). Um eine Sittenreformation praktisch und mit bestimmtem Enderfolg durchzuführen, muß man im Hofleben den Anfang machen; unter Drohung des Verlustes ihrer Stellung sollen die Hofbeamten zu regelmäßigem Gottesdienst und häufiger Kommunion angehalten werden; ihnen soll das Fluchen und irreligiöse Unterhaltung verboten und es soll zumindest der äußere Anschein von Mäßigkeit und Keuschheit von ihnen verlangt werden. Diese Forderung muß bis in die höchsten Stellen der Ratgeber der Königin durchgeführt werden, und durch die E i n f ü h r u n g einer Überwachung oder Inquisition sollen Männer von festen moralischen Qualitäten, etwa hohe Geistliche, der Königin Nachricht über anfechtbare Prinzipien ihrer ersten Untertanen geben. Der Autor zweifelt nicht daran, daß eine strenge Durchführung dieses Planes Sittlichkeit und Religion zu den bevorzugten Hoftugenden werden läßt. Hochadel und Gentry werden sich ihrer eifrig befleißigen, wenn sie allein die Qualifikation zum Hofdienst bieten. Wenn sich zunächst die hohen Beamten u m eine derartige Makellosigkeit bemühen, so müssen sie auch bei ihren Untergebenen auf die gleichen Qualitäten achten, und so würde sich zwangsläufig diese Reformation über das ganze Land ausdehnen und die ordentliche und ehrliche Verwaltung der Ämter gleichzeitig fördernd beeinflussen 12 ). 11) P r o s e W o r k s :

III. 31.

12) T h o m a s L o v e P e a c o c k spricht an einer S t e l l e einmal davon, daß die Sittlichkeit bei Hofe fördernd auf die Hebung der allgemeinen Moral eing e w i r k t hat, s o daß der P l a n S w i f t s keinesfalls utopisch ist.

— 50 —

Eine genauere Kontrolle soll die Einführung von Zensoren nach römischem Vorbild bringen; diese sollen im Lande umherreisen und sich nach dem sittlichen und religiösen Verhalten der Beamten umsehen, indem sie Erkundigungen einziehen, bestrafen und dem Ministerium eidliche Mitteilung machen. Auf eine andere Weise kann man Lastern wie dem Atheismus, der Trunksucht und dem Geiz gesetzlich nicht beikommen. Wenn erst einmal Krone, Hof, Regierung und Ministerium mit ihrem gesamten Anhang auf die Ausführung der geforderten Sittlichkeit achten, wird auch schnell die Metropole von diesem Geist erfaßt werden und ihren starken Einfluß auf alle Gebiete des Königreichs nicht verfehlen. Ist die Religion erst einmal zum wichtigsten Bestandteil der Anforderungen, die man f ü r eine Beförderung stellt, geworden, dann wird sich niemand gegen sie kehren, der nur die geringste Rücksicht auf seinen Ruf und sein Vorwärtskommen le,gt. Bei der Verfolgung der eigenen Interessen gibt es im menschlichen Leben nichts, dem sich der Mensch mit Rücksicht auf sie nicht unterziehen würde. "The proudest man will personate humility, the morosest learn to flatter, the laziest will be sedulous a n d active, where he is in pursuit of what he has much at heart. How ready, therefore, would most men be to step into the paths of virtue and piety, if they infallibly led to favour and fortune" 13->. Gesetze gegen Immoralität haben sich bisher stets als wirkungslos erwiesen, und religiöse Gesellschaften, die zwar unter der F ü h r u n g wahrhaft frommer Männer ausgezeichneten Zielen zustrebten, sind schnell zu niederen Zwecken herabges u n k e n " ) . Es vermag nur das Eine zu helfen: Religion und Tugend müssen den entscheidenden Einfluß auf Ruf und Beförderung haben; auf diese Weise wird das, was eigentlich natürliche Pflicht ist, durch eigenes Interesse tief in der Seele verankert und selbst einem schlechten fürstlichen Vorbild wird es dann schwer fallen, die frühere Verdorbenheit wiederher-. zustellen. Dies soll genügen, u m im wesentlichen die Richtung anzuzeigen, die dieser Entwurf S w i f t s einschlägt. An der grundsätzlichen Ernsthaftigkeit der Vorschläge braucht nicht 13) Prose Works: III. 34. 14) Hier handelt es sich anscheinend um eins der seltenen Urteile S w i f t s über die neuen Gesellschaften des Evangelicalism (Society for the Promotion of Christian Knowledge 1696, Society for the Propagation of the Qospel 1701), die auch wegen ihrer grundsätzlichen Einstellung sich nicht mit den Anschauungen S w i f t s deckten und deshalb sich kaum angedeutet finden.

— 51 —

gezweifelt zu werden 15), da sie auch in anderen Schriften, z. B. in den Predigten, wieder auftauchen, wo ihr ernstgemeinter Charakter einwandfrei feststeht. Darüber hinaus sind einige der Pläne tatsächlich praktisch durchgeführt worden, wie etwa der Vorschlag einer rechtzeitigen Schließung der Wirtshäuser oder der Bau von Kirchen, der einem dringenden Erfordernis entsprach und nachgewiesenermaßen durch S w i f t s Anregung zur Durchführung gekommen ist. (1711). Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß die Vorschläge aus einem gemeinsamen Fundament entspringen, ohne daß sie in ihrer Eigenart mißverstanden werden können. Eben hier sind die Bahnen der psychologisierenden Ethik unverkennbar, und ähnlich wie H o b b e s sucht S w i f t nach einem allgemein gültigen Prinzip, das das christlich-sittliche Handeln auch tatsächlich gewährleistet. Wie H o b b e s die Sittlichkeit auf den Naturtrieb der Selbsterhaltung gründen zu können glaubte, so erkennt S w i f t im menschlichen Egoismus die entscheidende Triebkraft. Von dieser Uberzeugung ist S w i f t tief durchdrungen und sie hat darum auch für das exoterische System maßgebliche Bedeutung. Dieses Prinzip kehrt in den religiösen Schriften S w i f t s ständig wieder und verfällt schon dadurch nicht dem Verdacht der Ironie, weil nach persönlichen Äußerungen S w i f t s die tatsächliche Berechtigung -dieser Maxime feststand. Seit "A Tale of a Tub" hebt S w i f t den Egoismus als die eigentliche, Triebkraft f ü r das menschliche Handeln hervor und wenn sich sein "Project for the Reformation of Manners" auf diese Ansicht mit zu stützen versucht, so ist die Entfernung von einem Naturalismus, wie ihn seit H o b b e s etwa S p i n o z a , M a n d e v i l l e und B o l i n b r o k e vertraten, im Prinzip nicht sehr groß. S w i f t selbst fand eine Bestätigung seiner Anschauungen in den "Maximen" von L a R o c h e f o u c a u l d , den er deswegen von früher Jugend geschätzt zu haben scheint 16 ). 15) Die Leipz. D i s s e r t a t i o n v o n M e y e sieht in den Motiven zu dieser Schrift bei S w i f t vornehmlich e g o i s t i s c h e Gesichtspunkte. Aus diesen Rücksichten soll sich S w i f t in g e w i s s e m Sinne Z w a n g angetan und unter A b l e g u n g d e s sonst für seine Schriften eigentümlichen S a r k a s m u s sich „ s c h ö n e Gefühle" a u f g e z w u n g e n haben, mit dem Z w e c k , die S c h a r t e w i e d e r a u s z u w e t z e n , die "A T a l e of a T u b " bei der Königin g e r i s s e n hatte. D e m g e g e n ü b e r scheint die Schrift keinesfalls aus der Reihe der übrigen religiösen Traktate S w i f t s zu fallen, selbst w e n n ein b e s o n d e r e r Z w e c k letzten Endes den Anstoß g e g e b e n haben sollte. S w i f t w a r nicht der Mann, der seiner wirklichen U b e r z e u g u n g aus persönlichen A b s i c h t e n widersprach. 16) Am 6. Juni 1713 bestätigt ein Schreiben' v o n V a n e s s a an S w i f t , daß sie auf seine Empfehlung hin die Maximen g e l e s e n habe. Am 26. N o v e m b e r 1725 schreibt S w i f t an P o p e , w i e sehr er La R o c h e f o u c a u l d s c h ä t z t , in dem er seine

— 52 —

Auf diesen Grundsatz bauen sich die Vorschläge Sw i f t s auf, indem sie sich folgerichtig an der psychologischen Erkenntnis orientieren und bewußt in den Grenzen des wirklich praktisch Erreichbaren bleiben. Das Ausmaß des von S w i f t als durchführbar Erkannten ist aber, das beweist der Charakter des Projects, nur außerordentlich gering. Der Pessimismus S w i f t s treibt mit den Vorschlägen ein Spiel, daß man an der Aufrichtigkeit der Reformpläne zweifeln zu müssen glaubt. Wenn S w i f t sich schon dann freuen würde, wenn unter 20 zur Sittlichkeit bekehrten Menschen auch nur einer wahrhafte Frömmigkeit empfindet, die geheuchelte Sittlichkeit der übrigen 19 schon gegenüber offenem Atheismus einen Aufstieg bedeutet, so muß man darin einen Zynismus sehen, der sich nur aus dem tatsächlichen Verhältnis zwischen S w i f t und der Welt erklären läßt. Hält der Pessimist S w i f t den Egoismus für die einzige Triebkraft, die zwangsläufig das Handeln des Menschen beeinflußt, so muß dieser Zwang auch im Sinne moralischer Ziele ausgenutzt werden. Hier genügte es nicht, wenn man wie andere Moralisten sich an die Einsicht des Volkes wandte und bei jedem Einzelnen den guten Willen zum sittlichen Handeln voraussetzte. Bei S w i f t muß der Gedanke der Freiheit des Volkes einem starren Zwangs- und Autoritätsprinzip weichen. ' Men must be governed" ist eine Art Wahlspruch für ihn, und seine Pläne zeigen zur Genüge, daß auf Sittlichkeit nur zwangsläufige Maßnahmen einen Einfluß haben können. Wenn er für Krone und Hof moralische Tugenden empfiehlt, so geschieht das nur deswegen, weil der menschliche Egoismus eine Nachahmung solchen Verhaltens erzwingt. In diesem System hat der zu jener Zeit so hoch gepriesene Individualismus keinen Platz mehr; straffe und einheitliche Führung, ohne die Möglichkeit offenen Widerspruches, wird im System S w i f t s vornehmstes Gesetz, dem er sich selbst während seines ganzen Lebens zu unterwerfen bemühte, soweit es sich um Auftreten nach außen handelte. Wenn man die Forderungen S w i f t s in ihrer Gesamtheit im Aujge behält, und mit ihnen die Ziele der Kirche vergleicht, dann werden die Vorzüge der anglikanischen Kirche ganze c h a r a k t e r l i c h e Ü b e r z e u g u n g w i e d e r f ä n d e . ( C o r r . II. 44, III. 2 9 3 ) . In dem Gedicht " O n the D e a t h of D r . S w i f t " heißt es in bezug auf diese M a x i m e : " I n all d i s t r e s s e s of our friends W e first consult our p r i v a t e e n d s ; W h i l e n a t u r e kindly bent to e a s e us, P o i n t s out s o m e c i r c u m s t a n c e t o please u s " .

— 53 —

für eine praktische Verwirklichung von Gedanken S w i f t s in ihrer Mannigfaltigkeit klar. Sie konnte durch ihre Zielsetzung ihm zunächst die Handhabe bieten, der Korruption der Menschheit zu steuern, da sie ebenfalls die Schwächen der menschlichen Natur in ihrer Lehre erkannte und sich bemühte, die Seele des Menschen zu bessern, indem sie eine sichere Richtschnur für die Wahl der besten Motive zum Handeln gab. Diese moralische Aufgabe der Kirche stimmte mit den Absichten, die S w i f t in seinen Predigten verfolgte, überein, wenn er sich bemühte, den Leuten zu sagen, was ihre sittliche Pflicht sei, um sie dann davon zu überzeugen, daß sie es tatsächlich sei. Diese Ziele ließen sich nur verwirklichen, wenn man ihre Durchführung erzwang, und auch in dieser Hinsicht leistete die Kirche den an sie gestellten Anforderungen Genüge, indem sie die Autorität und göttliche Sanktion des christlichen Sittensystems sichtbar nach außen vertrat. Dieses Ansehen der anglikanischen Kirche wurde noch verstärkt durch die autonomistische Anerkennung als Staatskirche, wodurch die eigene Autorität noch um die des Staates vermehrt wurde. Die praktische Folge dieser Vorzüge im Sinne S w i f t s war der tatsächliche Einfluß der Kirche auf die Bevölkerung, auf den sich um 1710 eine ganze Volksbewegung aufbauen ließ. Neben dieser organisatorischen Gewalt besaß die Kirche Mittel, mit denen sie ähnlich wie die weltliche Macht, einen Anreiz auf die menschlichen Triebkräfte ausüben konnte. Wandelt man die Theorie S w i f t s über den Egoismus, wie er es selbst tat, dahin um, daß man in der Furcht vor Bestrafung und in der Hoffnung auf Belohnung, im Grunde also egoistischen Prinzipien, bestimmende Kräfte des Handelns sah, dann wies auch die christliche Religion in ihrer Kirchenlehre Gesetze auf, die einen Zwang auf den Menschen ausüben konnten. Indem die christliche Lohnethik Hoffnung auf das zukünftige Leben und Angst vor Strafe nach dem Tode zur Beeinflussung der Diesseitigkeit benutzte, traf sie auf das von S w i f t bevorzugte Prinzip, der die Lehre oftmals in diesem Sinne auswertet, wenn er "rewards and punishments in a life to come . . . the greatest principles for conscience to work upon" nennt 17 ). Man mag zu diesem Satze der Dogmatik stehen, wie man will, seine praktische Anwendbarkeit zur Beeinflussung der Sittlichkeit läßt sich nicht leugnen, und gerade auf dieses Prinzip legte S w i f t Wert. Der Mensch kann sich in sittlichen Dingen nicht allein behaupten, er muß geführt und mit allen Mitteln, 17) P r o s e Works: z. B . Bd. IV. 124 ff.

— 54 —

am besten durch Zwang, auf das Gute hingewiesen werden. S w i f t mochte von der Wirksamkeit der Lohnethik deshalb besonders überzeugt sein, weil die eigene intensive Beschäftigung mit dem Problem des Todes 1S) ihn den gleichen Maßstab an die übrige Menschheit anlegen lassen mußte, und diese im rationalen Sinne der zwingenden Kraft der christlichen Transzendenz nicht entfliehen konnte. Aus der Vielgestaltigkeit der Übereinstimmung konnte S w i f t seine Ziele mit denen der Kirche identifizieren und die wirklich überzeugungsmäßige Zugehörigkeit zur Kirche läßt sich bei S w i f t nicht erschüttern. Der sinnfällige Ausdruck dieses Verhältnisses ist die Zugehörigkeit S w i f t s zum geistlichen Stande. Mit dieser inneren und äußeren Konformitätserklärung setzt der Kampf S w i f t s für die Ideen der Staatskirche ein, der allmählich neben der kirchenpolitischen Betätigung das sittliche Element zurücktreten läßt, weil S w i f t seinen Fähigkeiten entsprechend sich dem ersteren Gebiete mehr zuwandte. Für die Aufgaben des sittlichen Reformators hatte er letzten Endes doch nicht die hohe voraussetzungslose Natur, die diese Arbeit zu fruchtbaren Erfolgen hätte führen können; sein System war doch zu individuell, um sich allgemein segensreich auszuwirken, und nur Zorn, Misanthropie, selten ein positiver Ansatz sind die Wege, in denen sich der Moralismus bei S w i f t ausdrückt. Gehörte S w i f t einmal der Kirche an, so konnte seiner ganzen Einstellung nach seine Stellungnahme im Rahmen der Church of England nicht lange mehr zweifelhaft sein. Das Bestehen einer Staatskirche war ihm absolute These, da sie schismatischer Zersplitterung gegenüber allein die geforderte Führung übernehmen konnte, die zu den von S w i f t geplanten religiös sittlichen Zielen anwies. Nur Einheit nach innen und nach außen, verbunden mit der alleinigen staatlichen Aberkennung unter weltlichem Schutz, vermochte die Durchführbarkeit der Aufgaben zu (garantieren. Jeder Individualismus, der diese Einheit sprengte, mußte überbrückt werden, um die straffe Führung aufrechterhalten zu können, die für die Sittlichkeit der Menschen nun einmal unumgänglich notwendig geworden war. Darum schloß die Zugehörigkeit zur Staatskirche gleichzeitig die Parteinahme auf der Seite der Hochkirche ein 19 ). Von der ersten literarischen Äußerung S w i f t s 18) C o r r . IV. S. 144. 19) Vgl- M e y e ( L e i p z . Dissertation v o n 1903 „ D i e politische Stellung J o nathan S w i f t s " ) der den richtunggebenden Einfluß der hochkirchlichen T e n -

— 55 —

über sein Verhältnis zur Kirche an, besteht denn auch kein Zweifel, daß er sich dem rechten Flügel der Church of England angeschlossen hat und schon die Ode an den Erzbischof Sancroft zeigt S w i f t als den Vertreter entschiedener Hochkirchlichkeit. Diese Parteinahme verleugnet sich in dem exoterischen Schrifttum S w i f t s bis an das Ende seines Lebens niemals. Wenn S w i f t die Konsequenz der Notwendigkeit einer staatlich fundierten autoritären Kirchenorganisation zieht, so geschieht das gewiß auch mit dem Hinblick, daß ein straffer Moralismus in der Wechselwirkung auch dem Staat selbst wieder von Nutzen sein kann. Keinesfalls aber betont er die Religiosität als einer politischen Macht im weltlichen Staate; die Macchiavellistische Lehre von der Erfindung der Religion durch schlaue Staatsmänner, die mit ihr, obgleich sie von ihnen als Betrug erkannt ist, das Volk in Ehrfurcht halten wollen, ist S w i f t zwar bekannt 20 ), aber sie widerspricht seiner Auffassung, da es ihm schließlich doch nur auf den versittlichenden Selbstwert des Christentums und nicht um politische Winkelzüge zur Festigung der Staatsautorität ankommt. In seiner Betonung der positiven Religion war es ihm daher auch weit mehr Uberzeugungssache, als etwa B o l i n g b r o k e , bei dem die Forderung der Staatsreligion einen inkonsequenten Umbruch bedeutet, oder bei T o 1 a n d und S h a f t e s b u r y , die in ihr nur eine unumgängliche Verlegenhcitslösung sehen konnten. Hatte sich S w i f t erst in die Reihen der Kirche gestellt, so gehörte er ihr auch mit ganzem Herzen an, ihr ergebener Diener und unerschütterlicher Verteidiger 21 ). Unermüdlich stellte er die Kraft seiner Feder in ihren Dienst; die kirchlichen, politischen, religionsphilosophischen Fragen seiner Zeit spiegeln sich in seinen Schriften über Kirche und Religion wider. Von seinem eigenen Standpunkt als Vertreter der anglikanischen Kirche ergeben sich in logischer Konsequenz die Ansichten über Staat, Dissent und Deismus. denzen für S w i f t s politische H a l t u n g anläßlich d e s M i n i s t e r w e c h s e l s 1710 nachw e i s t , d a b e i a b e r unter einer zu s t a r k e n B e t o n u n g der S e l b s t s u c h t den inneren Z u s a m m e n h a n g mit der K i r c h e a u s der gleichen ethischen Grundeinstellung ü b e r s i e h t . 20) P r o s e W o r k s :

z. B . IV. 126.

21) A m 9. N o v e m b e r 1708 schreibt S w i f t an E r z b i s c h o f K i n g : " . . . no p r o s p e c t of m a k i n g m y fortune, shall e v e r p r e v a i l on m e to g o a g a i n s t w h a t b e c o m e t h a m a n of c o n s c i e n c e and truth and an entire friend to the E s t a b l i s h e d C h u r c h " . C o r r . I. 116 f.

— 56 —

Mögen auch die Gefühle, die ihn zu dieser engen Verbindung mit der anglikanischen Kirche geführt haben, noch so stark und fast ausschließlich aus moralischen Motiven entspringen, so verlangte er von sich a u s eine möglichst unkritische Haltung gegenüber den Gesetzen und Dogmen der Church of England, womit er aber keinesfalls eine grundsätzliche Unterwerfung unter die Autorität der Kirche für sich selbst ausspricht. S w i f t bleibt trotz der Konformität mit der anglikanischen Kirch© und trotz des äußerlichen Aufgreifens des Autoritätsgedankens der natürliche und ungebundene Denker. Wenn er sich auch zur Hochkirche bekennt, weicht er doch innerlich in vielen Punkten von ihren Lehren ab. Der Einsatz f ü r die Kirche erfolgt nun nicht in dem Sinne, wie ihn der Moralismus S w i f t s erwarten lassen sollte. Er überläßt die ethischen Tendenzen der Kirche, um sich selbst schützend vor die Church of England zu stellen. Er mochte fühlen, daß ihm seiner Natur nach die Voraussetzungen zum sittlichen Reformator fehlten. Auch war das eigene Vorbild zu individuell, um im größeren Kreise fruchtbar wirken zu können. Die Begabungen S w i f t s , mit denen er der Kirche positive Dienste zu leisten vermochte, lagen auf anderem Gebiete. Um der Kirche ihre versittlichende Arbeit nach den Gedankengängen S w i f t s garantieren zu können und ihren Bestand und ihre Einheit zu erhalten, um ihre Autorität im Staate und ihren Charakter als Staatskirche zu gewährleisten, — alles Voraussetzungen f ü r die Durchführung moralischer Ziele im Sinne des S w i f t sehen Systems — wandte er sich vornehmlich den Aufgaben der Kirchenpolitik zu. Damit stellte er sich fraglos der Kirche dort zur Verfügung, wo seine Kräfte ihr den größten Dienst erweisen konnten und wo die Gewalt seiner Feder sich bereits erprobt hatte. Man hat festgestellt, daß die kirchenpolitische Betätigung S w i f t s sich nicht in positiver Zielstrebigkeit, sondern nur in einer Verteidigung der Kirche, also im Grunde negativ, äußere. Das ist insofern richtig, als seine kirchenpolitischen Schriften durchaus konservativen Charakter tragen. Daneben darf man aber nicht die positiven Ziele unberücksichtigt lassen, derentwegen S w i f t den Standpunkt der Kirche erst gewinnt und deren Erreichung es ermöglichen heißt. S w i f t ist sich der aufbauenden Werte der Kirche durchaus bewußt, und wenn er für sie hauptsächlich nur auf einem Gebiete arbeitet, so leistet er damit auch positive Hilfe f ü r die universaleren Ziele. Der Wunsch, der Kirche wegen ihrer versittlichenden Kraft — 57 —

zu helfen, ist auch im kirchenpolitischen Rahmen noch immer wieder ausgesprochen worden und für Einheit, Kirchenzucht und Ordnung galt es, die notwendigen politischen Voraussetzungen zu erhalten oder zu schaffen. Eine unumgängliche Folge der Zeitverhältnisse ist es, daß die kirchenpolitischen Schriften im großen und ganzen mehr das Merkmal der Verteidigung als des An,griffes tragen. Der Angriff auf die Staatskirche, der gleichzeitig von den politischen Whigs, vom Sektenwesen und vom vordringenden Rationalismus und Individualismus erfolgte, drängte diese vorwiegend in die Abwehrstellung, soweit sie die neuen Ideen nicht absorbieren konnte. S w i f t selbst hat die Verteidigung nicht sonderlich .gelegen, Naturen seines Geistes fühlten sich im Angriff wohler, und der feurige Haß gegen alle Gegner prägt seinen Schriften darum auch den Stempel schneidiger Gegenoffensive auf. Gerade deshalb bleibt es aber oft nur bei Vorwürfen gegen die Gegner der Kirche und bei einem Zurückweisen von Angriffen mit Hilfe scharfer und überlegener Dialektik, im Grunde also für den positiven Aufbau minder bedeutendem Schaffen. Aus derartigen Schriften die tatsächliche Stellung S w i f t s zur Kirche herauszuschälen, heißt nicht selten, aus der Negation die Anschauung S w i f t s abzuleiten, auch um den kirchenpolitischen Standpunkt festlegen zu können. Dieser hatte auf Grund der pessimistischen Einstellung des Sittensystems schon auf die Hochkirche gewiesen; daß diese Stellungnahme tatsächlich erfolgt war, beweisen die Ansichten, die S w i f t im Rahmen der Kirche selbst vertritt. Wie eine politische Programmschrift muten die " S e n t i m e n t s of a C h u r c h of E n g l a n d M a n , w i t h r e s p e c t t o R e l i g i o n a n d G o v e r n m e n t " 2 2 ) (1708) an, die, obgleich sie wegen der unentschiedenen Verhältnisse in der Staatspolitik Extreme zu vermeiden sucht, nichts an Eindeutigkeit über die tatsächliche Parteistellung zu wünschen übrigläßt. Dabei erfaßt sie die anglikanische Kirche in ihrer ganzen Breite und zeigt, in welcher Form S w i f t sie anerkennt. Als die Fundamente seiner Anschauung von der christlichen Religion gelten der Glaube an einen Gott, seine Vorsehung und der Glaube an eine geoffenbarte Religion und1 die Gottheit Christi. Damit ist das Dogma in bezeichnender Kürze erledigt, entspricht aber wahrscheinlich der inneren Überzeugung S w i f t s . 22) P r o s e W o r k s :

III. 50—75.

— 58 —

Er fordert treue Verehrung des gesetzlich fundierten Systems des anglikanischen Kirchenregiments; ohne sich über den göttlichen Ursprung des Episkopats zu verbreiten, hält er es f ü r weitgehendst übereinstimmend mit den urchristlichen Einrichtungen, und vor allen Systemen geeignet, Ordnung und Reinheit zu erhalten, wobei es in seiner gegenwärtigen Anordnung den Erfordernissen des weltlichen Staates am besten entspricht. Eine Abschaffung dieser Kirchenordnung kann nur sittliche Verderbnis bringen! Auch an den Äußerlichkeiten der Kirchenordnung, an Ritus und Zeremoniell soll möglichst nichts geändert werden; eine Ausnahme ist dann zu machen, wenn durch weniger bedeutende Zugeständnisse die Einheit im Protestantismus sich fördern läßt und die Legislative die Bildung neuer Sekten verhindert. Das ist wahrscheinlich so zu verstehen, daß die anglikanische Kirche durch geringfügige Konzessionen den Dissent in sich eingliedern soll und damit unter Vermeidung neuer Schismen die erstrebte Einheit unter den notwendigen autoritären Voraussetzungen erzielt. Mit dieser Betonung der Einheit und Ausnahmestellung der anglikanischen Kirche ist das Urteil über den Dissent bereits gefällt, dem, soweit Sekten bereits bestehen, zwar Toleranz zugebilligt wird, wobei aber ausdrücklich jede Neubildung von Sekten schon im Entstehen erstickt werden soll. Aus dieser Unduldsamkeit folgt zwangsläufig die Privilegisierung der Anglikaner gegenüber den zerstörenden Elementen an Kirche und Staat. S w i f t fordert f ü r die Vertreter der Staatskirche alle Zeichen des Vertrauens und des Vorteils, die der Staat zu vergeben hat, um dadurch das Sektenwesen unschädlich zu machen. Mit Abscheu spricht S w i f t vom Verhalten der Whigs gegenüber der anglikanischen Kirche, die unter den Angriffen dieser Partei zu leiden hat. Die Whigs hätten sich in den Reihen des Klerus eine Mehrheit schaffen können, wenn sie Schritte gegen das gemeine Schrifttum ihrer Gesinnungsgenossen gegen die Kirche unternommen hätten, anstatt es zu fördern. Man spricht in ihren Kreisen von Ehrgeiz, Orthodoxie und Habgier des Klerus, von Engherzigkeit im Dogmatischen und jakotoitischen Umtrieben in der Geistlichkeit und a n den Universitäten, u m dabei zu übersehen, daß es die anglikanische Kirche war, die die Opposition gegen die Anmaßungen Jakobs II. aufnahm, während der Dissent die Partei des Königs ergriff. Weiter schleudern die Whigs Vorwürfe gegen die Geistlichkeit, ohne dabei zu berücksichtigen, daß diese auch nur aus Menschen mit menschlichen Schwächen besteht. Wenn man —

59 —

ihnen dabei unersättliche Gier nach Macht und Reichtum vorwirft, so überträgt man damit Zustände, die auf die Verfehlungen der katholischen Kirche vor 1000 Jahren zutrafen, auf die Church of England, die vor 200 Jahren ihren weltlichen Besitz und zum Teil auch ihren kirchlichen Einfluß einbüßte. Derartige Vorwürfe waren vor allem aus den Reihen der englischen Deisten erhoben worden, und ihnen versucht S w i f t mit der Forderung eines Pressegesetzes entgegenzutreten, weil die Verbreitung solcher Ansichten die Fundamente frommen Glaubens und der Sittlichkeit bedrohen. Aus dem Beispiel der puritanischen Revolution hatte S - w i f t erkannt, daß sittliche Reinheit durch den Parteihader im Staate gefährdet war. Die Verwirrung des Sektenwesens bedingte sittenlose Anarchie, der nur durch einen innerlich gefestigten und einheitlichen Staat begegnet werden konnte. Auch für den weiteren Verfall der Sittlichkeit spielt sie deswegen im Kampfe der Parteien eine maßgebliche Rolle, deren Abstellung wegen er mit der Forderung des autoritären Staates auftritt. Auf diese Weise besteht auch im Verhältnis von Sittlichkeit zum Staat ein festes Verhältnis, das Moralismus, geistliche Macht und weltliche Macht bei S w i f t in einen sehr engen Zusammenhang bringt. Dadurch k a n n S w i f t auch häufig die Sicherheit des Staates gegen das Sektenwesen ausspielen und den Staat ¡ganz in den Dienst der Kirche einspannen, da beide ein wechselseitiges Interesse an der gegenseitigen Festigung haben. Bei Kirchenspaltungen liegt im gesetzlichen Sinne das Schisma auf der Seite, die sich gegen die Religion des Staates wendet. Ein Schisma ist aber nicht n u r ein (geistliches, sondern auch ein politisches Übel, denn durch sein Bestehen entsteht eine Partei, die unter dem Deckmatel der Religion jede Gelegenheit benutzt, den Staat zu gefährden. P 1 a t o n schon stellte die Forderung der Staatsreligion aus diesem Grunde und verurteilte deswegen S o k r a t e s . Man muß deshalb von staatlicher Seite ein Erstarken des Dissents verhindern und den Sektierern wohl Behaglichkeit, aber keinesfalls politische Macht gewähren. Gewiß hatte die anglikanische Kirche Interesse daran, die Macht des weltlichen Staates zu sichern, da mit dieser ihre eigene Existenz stand und fiel. Die Autorität des Staates mußte sich, wenn sie im Sinne der Church of England gehandhabt wurde, auch f ü r die Kirche günstig auswirken. Wenn S w i f t bei dieser Abhängigkeit die Sorge der Kirche um das Wohl des Staates fortlaufend betont, so ist das eine verständliche —

60



taktische Maßnahme; aber die Behauptung, daß nur die Besorgnis um den Frieden des Staates den anglikanischen Klerus zu einer Stellungnahme zu den Fragen der Toleranz veranlaßt und diese abgelehnt hat, schießt doch über das Ziel hinaus, vor allem, wenn S w i f t hervorhebt, daß von diesen Fragen weder die Macht noch die Einkünfte der Kirche berührt werden könnten, um im gleichen Absatz zuzugeben, daß mit. der Bedrohung des Staates durch den Dissent die Geistlichkeit zunächst gefährdet ist. In diesem ersten Teil der Sentiments erscheinen die Forderungen des S w i f t sehen Sittensystems in das Kirchenpolitische umgebogen. Vor allem der Gedanke der einheitlich straffen Leitung und Disziplin drückt sich in der politischen Betonung der Staatskirche mit allen daraus entstehenden Konsequenzen aus. Ein gemäßigter Rationalismus, der sich vor allem auf den f ü r die englische Mentalität charakteristischen Geist der praktischen Erfahrung stützt, erkennt die Erfordernisse zur Erreichung dieses Zieles: Erhaltung der Einrichtungen der Kirche, wenn sie nicht gerade ganz unwichtig sind; tatsachengebundene Intoleranz und Abwehr aller staatspoli-tischen, kirchenpolitischen, religionspolitischen und rationalistischen Angriffe durch scharfe Maßnahmen. Mit diesem Fundament erfolgt die Beurteilung der Fragen, die zur Zeit der Abfassung das allgemeine Interesse am stärksten in Anspruch nehmen. Dazu gehörte vor allem die Diskussion über die Prinzipien der Revolution, die die Geister der Kirche nicht zur Ruhe kommen ließ 23 ). Auch im zweiten Teil der Sentiments, der die Ansichten des Vertreters der Hochkirche im Hinblick auf die weltliche Politik behandelt, wahrt S w i f t die zeit seines Lebens erstrebte Einhaltung der goldenen Mitte. Er vermeidet sowohl das Extrem nach rechts, wo er sich im scharfen Gegensatz zu den High Flyers und Jakobitern sieht, als auch nach links, wo die staatskirchenfeindlichen Tendenzen jede Annäherung verbieten. Das entspricht im Grunde politisch einer gemäßigten toryistischen Einstellung, obgleich S w i f t jeweils sich als Whig gefühlt hat. Dieser Irrtum ist um so verzeihlicher, als S w i f t sich nie u m eine Unterscheidung beider Parteien aufrichtig bemüht hat und selbst die Übereinstimmung im Grundsätzlichen erkannte. Wenn er daneben sich bewußt auf die Seite des Grundbesitzes als maßgeblichen Maßstab f ü r die Staatsbürgerrechte stellte 24 ), so ist damit auch staatspolitisch der Anschluß zu den Tories gefunden. 23) Vgl. Kapitel I. S. 6 ff. 24) Corr. III. S. 121. —

61



Vor der Erkenntnis einseitiger Parteizugehörigkeit sträubt eich S w i f t 1708 noch. Er versucht sich über die Parteien zu stellen, indem er die grundsätzliche Übereinstimmung von Whigs und Tories behauptet. "Do not the generality of Whigs and Tories among us profess to agree in the same fundamentale, their loyalty to the Queen, their abjuration to the Pretender, the settlement of the crown in the Protestant line, and a revolution principle? Their affection to the Church established, with toleration of dissenters?" 25). Aus dieser Einstellung heraus sollte bei einem Bruche zwischen beiden Parteien die Stellungnahme S w i f t s erfolgen, und es konnte dann nicht zweifelhaft sein, daß er sich dorthin neigte, wo er die Sicherheit der Staatskirche vornehmlich gewährleistet sah. Wesentliche politische Hindernisse galt es bei der Absage an eine der beiden Parteien nicht zu überwinden. Um eine Klärung über die geschichtliche Entwicklung seit 1688 herbeizuführen, ist eine prinzipielle Entscheidung über Verfassungsfragen erforderlich, obgleich er nicht in der Verfassung die wichtigste Instanz für das Gedeihen des Staates sieht, sondern in der Sittlichkeit seiner Bewohner. Die Verfassung ist Ausdruck des gesamten Volkes und hat die Aufgabe, Sicherheit der Person und des Eigentums durch Gesetze zu regeln. Kommt die Staatsgewalt in die Hand von Personen, die nicht den Willen der Gesamtheit vertreten, dann ist der Sinn der Verfassung zerstört. Aus diesen Rücksichten hält Swift die absolute Monarchie für außerordentlich schädlich und er ist geneigt, ihr noch den Zustand der Anarchie vorzuziehen. Zwar hat der Klerus vor der Revolution auf dem Standpunkt des passiven Gehorsams gestanden und diese Forderung irrtümlicherweise auf das Königtum bezogen. Gehorsam ist man der höchsten Gewalt im Staate schuldig, die aber nicht durch den König, sondern durch die Legislative verkörpert ist. Hier tritt schon der Gedanke auf, den auch H a r c o u r t im Prozeß S a c h e v e r e l l im Gegensatz zu den Lehren der Tories vertrat. Diese politische Dialektik ermöglicht es, das Verhalten des Klerus gegenüber der Lehre vom passiven Gehorsam während der Revolution so zu wenden, daß das Dogma unverletzt geblieben ist, während die Lehre vom göttlichen Recht der Könige vorerst unerwähnt bleibt. Unter der Ablehnung des Absolutismus betont S w i f t die Vorzüge der konstitutionellen Monarchie, stellt ein sorgfältig ausbalanciertes Prinzip der 25) Prose Works: III. S. 64. —

62



Gewaltentejlung auf, wobei er den König als den ersten Diener seines Volkes aufgefaßt wissen will. "So that the best prince is, in the opinion of wise men, only the greatest servant of the nation; not only a servant to the public in general, but in some sort to every man in it" 2 6 ). Diese Prinzipien findet S w i f t am besten in der englischen Verfassung vereinigt, die er darum denen aller anderen Länder vorzieht, und er sieht mit ihr die Kirchenverfassung so glücklich und harmonisch verknüpft, daß ein Angriff gegen eine von beiden sich notwendig auf beide beziehen muß. Wichtig wird nach der Klärung der Verfassungsfragen die Entscheidung über die Anerkennung der oranischen Erbfolge, die aus den vorgenannten Prinzipien heraus entwickelt wird. Zwar hält S w i f t im Interesse der staatlichen Ordnung und Sicherheit die Erbmonarchie für die beste F o r m des Konstitutionalismus, sie muß mit allen Mitteln aufrecht erhalten werden. Eine Unterbrechung dieses Prinzips muß aber zugelassen werden, wenn der Staat durch es gefährdet wird. "As to what is called a revolution principle, my opinion was this; that whenever those evils which usually attend and follow a violent change of government, were not in probability so pernicious as the grievance we suffer under a present power, then the public good will justify such a revolution" " ) . Diese Voraussetzung war 1688 ¡gegeben, darum konnte der König durch die höchste Gewalt, die Legislative, entfernt werden. Aus der Stellung der Legislative folgt die Unsinnigkeit, eine Unterscheidung zwischen einem Königtum de jure und de facto zu treffen. In einer konstitutionellen Monarchie hat ein König seine Stellung immer nur de jure, da er nur mit der Zustimmung der Gesamtheit regiert, und das ist Autorität genug, alles vorhergehende Recht abzuschaffen. An diesen Verhältnissen ändert auch der Umstand nichts, daß der König, wie Wilhelm von Oranien, ursprünglich als Eroberer ins Land kommt und sich erst nachträglich der Beschränkung durch die Legislative unterwirft. Wenn ein König mit den Gütern seines Volkes ganz nach seinem Belieben schaltet, d. h. sie verschleudert und vernichtet, so schließen einige Leute trotzdem, daß er deswegen nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, da er diese Güter wie jeder andere Mensch von seinem Vater ererbt hat und, da die Erbfolge in jedem Fall erhalten bleiben muß, nur Gott Rechenschaft schuldig ist. Eine solche Beweisführung ist unmöglich, 26) P r o s e W o r k s : IV. S . 114. 27) Corr. III. S . 120.

— 63 —

denn das öffentliche Wohl steht auf dem Spiele, und wenn dieses für jedes Urteil in erster Linie maßgeblich als erkannt ist, läßt sich der Vergleich mit einem Privatmann nicht durchführen. Die höchste Gewalt kann deshalb die Krone von einem Fürsten auf einen anderen übertragen, da sie als die Vertreterin aller Staatsbürger ein Unrecht im Staat nicht begehen kann. Von diesem Gesichtspunkt läßt sich der Ausschluß des Prätendenten rechtfertigen, denn nachdem man Jakob II. die Abreise ins Ausland erleichtert hatte, war der Thron erledigt und es stand im Belieben der Volksvertretung, ihn nach ihrem Sinne neu zu besetzen. Weitere Einwände gegen die Gesetzwidrigkeit der Revolution von 1688 erledigt S w i f t unter dem Gesichtspunkt der Widersinnigkeit zum öffentlichen Gesamtwohl des Staates, so daß er schließlich zu einer zusammenfassenden Forderung kommen kann: die Freiheit der Nation beruht auf einer absoluten gesetzgebenden Macht, in der die Gesamtheit des Volkes den Verhältnissen entsprechend vertreten ist, und aus einer Exekutiven, die nach richtigen Gesichtspunkten beschränkt sein muß. Betrachtet man auf Grund dieser Ausführung zunächst die Art der Argumente S w i f t s , so stellt sich heraus, daß das positive Recht in seiner alten Bedeutung im Rahmen der Kirche und des Staatslebens seine Bedeutung für S w i f t verloren hat. Nicht die Lehren vom göttlichen Recht des Königtums, sondern eine ganz nüchtern praktische Politik unter dem Gesichtspunkt der Vernünftigkeit und der gegebenen Tatsachen, keine dialektische Spekulation über alte, durch den Verlauf der Ereignisse und höhere Kräfte überholte Kirchentheorien, leiten ihn bei der Interpretation von Fragen, die damals im Vordergrund des Interesses standen. Die Wege der klerikalen Politik finden bei ihm Rechtfertigung durch ein Urteil, das ganz dem common sense entspricht, das aber wohl doch erkannte, wie schwer man dem Klerus die Aufgabe von Dogmen, die er im Schoß der Kirche bewahrt hatte, zur Last zu legen geneigt war. Allerdings sah sich S w i f t in seiner Schrift vor die historischen Tatsachen gestellt und ihnen gegenüber ließ sich nur eine Entscheidung fällen, die nach einer Seite hin Opfer brachte. Diese Opfer hatte der Klerus bereits gebracht, so daß sich S w i ft nur noch bemühen konnte, ein derartiges Handeln zu rechtfertigen und ihm vorteilhafte Motive zuzumessen. Die Anerkennung des Revolutionsprinzips erfolgte bei S w i f t schon aus Gründen kirchenpolitischer Taktik. Das richtige Gefühl für die eindeutige Entwicklung der letzten Jahr— 64 —

zehnte scheidet ihn darum zunächst vom Verhalten des Klerus, der in den Jahren nach der Thronbesteigung Wilhelms von Oranien bis zur Erschöpfung aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Kasuistik dagegen ankämpfte, die Lehre vom Divine Right of Kings aufzugeben. S w i f t s Einstellung entsprach darin mehr vernünftiger Zweckmäßigkeit, und er war dank persönlicher Anschauungen um so leichter geneigt, ein Dogma, das durchaus illusorisch geworden war, aufzugeben. Das Gegenteil konnte nur schädlich sein, und auf Grund dessen folgte auch eine Ablehnung der Politik der nichtschwörenden Geistlichkeit, obgleich S w i f t „Verständnis" für ihre Ansichten zu haben vorgibt. Aber schon das Schisma als solches mußte nach S w i f t s grundsätzlicher Auffassung vermieden werden. Er äußert sich daher auch an anderer Stelle mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrigläßt, wie sehr er das Schema der Nonjurors verurteilt 28 ). Faßt man die Sentiments of a Church of England Man als eine kirchenpolitische Programmschrift S w i f t s , so kann man seinen tatsächlichen Standpunkt innerhalb der Kirche in bezug auf Dogma und Disziplin, auf Aufgabenstellung und auf das Verhältnis zum Staate und seiner Politik als endgültig festsetzen. Die Schrift selbst deutet schon nach allen Richtungen hin an, welche Einstellung gegenüber den wichtigsten Fragen der Kirche und ihrer Opposition S w i f t einzunehmen gezwungen, aber nicht minder individuell gewillt ist. Für diese Stellungnahme wurden zuerst die Verhältnisse innerhalb der Kirche selbst von besonderer Bedeutung. Es hanhandelte sich um die Forderung der inneren Einheit und Festigkeit, ohne die eine Durchführung der Aufgaben der Kirche noch überhaupt das Bestehen der Church of England gegen die Unzahl ihrer Widersacher nicht zu denken war. Die Strömungen, mit denen S w i f t auf Grund seines Standpunktes zunächst-in Konflikt geraten mußte, waren die Low Church Tendenzen. Aus den Gedankengängen L o c k e s und C h i l l i n g w o r t h s entstanden, begrüßte diese Gruppe die religiöse und bürgerliche Freiheit, die die Revolution gebracht hatte und machte keinen Hehl daraus, daß sie die Streitpunkte, die die Hochkirche und den Dissent entzweiten, als nebensächlich verachtete. Der hervorragendste Vertreter der Latitudinarier, G i l b e r t B u r n e t , dessen Ernennung zum Bischof von Salisbury durch Wilhelm von Oranien die erste und zugleich programmatische Promotion des neuen Königs war, konzentrierte auf sich 28) Corr. II. S. 337.

— 65 —

den ungeheuren Haß der Hochkirche. Man nahm in kleinen Charakterschwächen des Bischofs Anlaß zu den häßlichsten Angriffen, obgleich seine Fehler bei weitem durch glänzende Eigenschaften überschattet wurden, denen auch S w i f t sich in. seinen "Remarks on Burnet's 'History of My Own T i m e ' " nicht ganz verschließen kann. Was B u r n e t hauptsächlich in die Opposition zur Hochkirche brachte, war seine großzügige Toleranz und sein Kampf für die Prinzipien der Revolution. Nachdem er seine hohe geistliche Würde erlangt hatte, machte er sich zum Hauptziel, die religiöse Freiheit über alle englische Protestanten auszubreiten und nach Möglichkeit die Nonkonformisten wieder in den Schoß der Kirche zurückzuführen. Im Prinzip stand S w i f t dem Gedanken der Comprehension vielleicht nicht einmal ablehnend gegenüber. Aber der eingeschlagene Weg konnte ihm dabei aus mehreren Gründen nicht recht sein. Die Kirche hatte es im Grunde ,garnicht nötig, den Sekten Zugeständnisse zu machen, solange sie die "form by law established" vertrat. Und wenn die Kirche unwesentliche Zeremonien der Einigung zu opfern auch bereit war, so war damit der Erfolg der Bemühungen, das Sektenwesen zu vernichten und zu verhindern, keinesfalls garantiert. Es handelte sich bei den Verschiedenheiten zwischen der anglikanischen Kirche und dem Dissent letzten Endes gar nicht um die Überbrückung dieser nebensächlichen und vorwiegend äußerlichen Divergenzen, sondern um weit ernsthaftere Grundverschiedenheit oder zwangsläufige Oppositionsstellun,g nach Maßgabe des inneren Aufbaus. Weltanschaulich und politisch dachten die Sekten anders, zur Aufgabe ihrer Prinzipien waren sie nicht bereit, und im Schoß der Church of England drohten sie selbständige Fremdkörper zu bleiben. Damit wäre aber die Einheit der Kirche zerbrochen gewesen und gleichzeitig ihre Kraft, während die Intoleranz im Sektenwesen, die die Unduldsamkeit der anglikanischen Kirche sicher noch übertraf, zu neuen Herrschaftsansprüchen der dissentierenden Gruppen führen konnte. S w i f t , dem es vor allem auf Ordnung und Einheit, auf Zwang und Leitung ankam, dürfte die Zersetzungsarbeit der Sekten nicht unterschätzt haben, denn gegen diese Zerstörungsarbeit hat er alle Register seines schriftstellerischen Könnens gezogen; im Vollbewußtsein der letzthin von der Kirche noch geoffenbarten Kraft, aber in klarer Erkenntnis über die Größe der Gefahr schleudert S w i f t seine Angriffe auf die Niederkirche, die diese Gefahr zu fördern bemüht ist. S w i f t gehörte in dieser Hinsicht zu den Wenigen (außer ihm vielleicht nur noch A t t e r b u r y ) , die eine Auseinander—

66



setzung mit den bedeutenden Latitudinariern suchen durften. Dieser Zusammenstoß, den S w i f t 1713 herbeiführte, ist im kleineren Rahmen eine interessante Parallelerscheinung zu den Gegensätzen, die sich in der Convocation zwischen dem whiggistischen Oberhaus und der hochkirchlichen Geistlichkeit gebildet hatten. Der Grad persönlicher Gehässigkeit und übler Verleumdung steht auch bei diesen beiden Vertretern verschiedener Richtungen nicht hinter den tatsächlichen Konflikten in der Kirchenversammlung zurück, wenn auch S w i f t derjenige ist, der mit überlegener Ironie die temperamentvoll unvorsichtigen Angriffe B u r n e t s zurückweist, um aber auch an der Person des Bischofs selbst seinen unerhörten Spott auszulassen. S w i f t s Schrift stellt eine Entgegnung dar, mit der er auf eine Einleitung B u r n e t s zum 3. Bande seiner Reformationsgeschichte erwidert; der Bischof hatte es für notwendig gehalten, vor dem drohenden Einfluß des Katholizismus und der bevorstehenden Rückkehr des Stuart-Pretender zu warnen. S w i f t s Gegenschrift erschien 1713 zur Zeit des Toryministeriums, dessen Politik sie gegen die Angriffe B u r n e t s verteidigt, getragen von dem Bewußtsein der damaligen Kraft der Hochkirche. Im wesentlichen handelt es sich um eine Rechtfertigung der High Ghurch von den Vorwürfen romfreundlicher Politik und eine klare Entscheidung gegenüber den latitudinarischen Tendenzen der Niederkirche. B u r n e t hatte sowohl die Laienwelt als auch die Geistlichkeit vor der Bekennung zum Papismus gewarnt, und dabei, ähnlich wie S w i f t , den menschlichen Egoismus als das Moment gewählt, mit dem sich am besten vor den Neuerungen durch die Einführung der Katholizismus schrecken ließ. Dabei scheint die tatsächliche Absicht der katholischen Restauration ziemlich sichere Voraussetzung zu sein, denn B u r n e t be-' schränkt sich, wie S w i f t feststellt, hauptsächlich auf die Empfehlung von Abwehrmaßnahmen und das Aufzeigen von Schreckbildern, während der Beweis der tatsächlichen Gefahr zu kurz kommt und sich in unsinnigen Verallgemeinerungen oder vollkommen haltlosen Argumentationen erschöpft. F ü r den Widerstand gegen den Katholizismus hatte B u r n e t die Hilfe der hochkirchlichen Geistlichkeit ganz aufgegeben und ihr gegenüber sich zu Vorwürfen hinreißen lassen, die im Munde eines Geistlichen derselben Kirche erstaunlich klingen. _

67 -

Hier konnte S w i f t mit voller Uberzeugung seinen Gegner fassen, der bei der Verachtung des Klerus auch von der Convocation nichts hielt und sie in ihrer Bedeutungslosigkeit verspottete. Er erkennt in- B u r n e t den Freund der Deisten, die von der kirchlichen Versammlung ähnlich sprechen, der mit seiner Einstellung die Kirchenversammlung an positiver Arbeit hindert. Wenn die Anhänger B u r n e t s ihre persönlichen Neigungen etwas hintan stellen wollten, ließe sich von der Convocation sehr viel Gutes erwarten, denn ihre Unfruchtbarkeit beruht nicht auf der sittlichen Verdorbenheit der Geistlichen, sondern im Mangel an der notwendigen Einigung zwischen hoher und niederer Geistlichkeit. Aber die großen Würdenträger scheinen den Gegensatz noch bewußt verschärfen zu wollen, wenn sie sich seit Jahren schon nicht mehr zur Geistlichkeit rechnen und diese als einen anderen Stand betrachten. Der Prozeß S a c h e v e r e l l hätte diese Einstellung deutlich gezeigt. Auch T h o m a s M o r e hat den Wert der Convocation voll anerkannt, und ihre relative Bedeutungslosigkeit bedauert, deren Grund er in der Abhängigkeit von der königlichen Versammlungslizenz sah. Aber die Einstellung eines Bischofs wie B u r n e t läßt von vornherein jede ersprießliche Arbeit unmöglich erscheinen, der jeden Geistlichen nach eigener Aussage so lange für einen Schurken hält, bis er vom Gegenteil überzeugt ist. Welchen Eindruck muß B u r n e t vom Unterhaus der Convocation haben, wo er doch höchstens drei Personen finden wird, von deren Ehrbarkeit er überzeugt ist? Die niedere Geistlichkeit verzichtet aber darauf, in B u r n e t s Augen Anerkennung zu finden, denn das bedeutet nichts anderes, als seinen guten Ruf in der Welt zu verlieren. Um die anglikanische Kirche auf die Folgen des entscheidenden Schrittes, nämlich des Anschlusses an die Romkirche, aufmerksam zu machen, warnt B u r n e t vor einem Parallelfall zu den Verhältnissen in der gallikanischen Kirche, die durch das Konkordat zwischen Franz I. und Leo X. ihre Selbständigkeit verloren habe. Dadurch ist die Kirchenversammlung versklavt worden, das Recht der Bischofswahl in die Hand der Krone gefallen und folglich jede Freiheit der Kirche genommen worden. In diesem Zusammenhang kommen, wenn auch durch die Schärfe der Polemik gelegentlich überspitzt, die hochkirchlichen Anschauungen S w i f t s , der Drang nach unabhängiger Vormachtstellung der Kirche im Staate, besonders scharf zum Ausdruck. Das politische Urteil über historische Ereignisse —

68



wird ausschließlich von diesem Standpunkt aus gebildet. Die anglikanische Kirche ist auch jetzt noch nicht frei, nachdem sie durch die Vergewaltigung der sogenannten Reformation Heinrich VIII. einen weit schwereren Schlag erlitten hat, als die .gallikanische Kirche durch das genannte Konkordat. Heinrich VIII., der in zahlreichen Fällen in S w i f t s Urteil sehr scharf angegriffen wird, hatte keinesfalls die Absicht, in seinem Reiche die Religion zu ändern, sondern handelte nur von dem Gesichtspunkt seiner unersättlichen Gier nach Macht, und wurde dadurch zufällig das Werkzeug einer Bewegung, die in allen Ländern Europas die Trennung von Rom erstrebte. Vom wirklichen Geist der Reformation war Heinrich keineswegs erfaßt, sondern er verfolgte nach der Erklärung des Supremats alle Protestanten genau so scharf wie diejenigen, die seine Kirchenhoheit nicht anerkannten. Die Säkularisation und Besitzergreifung von kirchlichen Einkünften und kirchlichem Eigentum hat auch die anglikanische Kirche in einen Zustand der Versklavung gebracht, der n u r dann gebessert werden kann, wenn die Convocation wieder das ihr gebührende Maß von Achtung und Macht zurückgewonnen hat. Die Zustände bei der Wahl der Bischöfe in Frankreich, vor denen B u r n e t warnt, liegen in England kaum günstiger und werden sich auch nicht bessern, solange man von der Kirchenversammlung die Auffassung hat, die B u r n e t vertritt. Durch den Vorwurf der jakobitischen Politik des Klerus und der Regierung fühlte sich S w i f t sowohl als Geistlicher als auch als Vertrauter der regierenden Minister persönlich angegriffen; um so eifriger bemüht er sich, die Vorwürfe abzuwälzen. Irreligiosität und egoistische Verdorbenheit, die zur Annahme des Katholizismus führen können, sind in England nicht auf Seiten der toryistischen Geistlichkeit zu suchen, sondern wenn schon von diesen Lastern gesprochen wird, dann glaubt S w i f t darauf hinweisen zu müssen, daß von 100 sich offen bekennenden Atheisten und Socinianern mindestens 99 j n England vollendete Whigs sind und damit Anhänger der Prinzipien, die B u r n e t vertritt. Darum schätzt B u r n e t auch nicht den Angriff auf die Deisten und behandelt sie als seine Freunde, denen er nur freundschaftlich rät, falls sie überhaupt die Religion zulassen wollten, sie doch in der Form des Christentums zu bevorzugen. Dagegen waren die geistlichen und weltlichen Tories die hartnäckigsten Verteidiger gegen die grenzenlosen Übergriffe des katholisierenden Jakob, die besten Kontroversialisten gegen das Papsttum und die hervorragenden Vertreter der protestantischen Staatsreligion. — 69 —

Die Anzeichen, aus denen B u r n e t die Gefahr des Papismus entnehmen zu können glaubt, werden in ihrer Argumentationskraft von S w i f t nicht gebilligt. Von der anglikanischen Kirche erfolgt keine Annäherung an Rom, auch wenn B u r n e t in jeder neuen Gebietserwerbung einen Schritt zur vollkommenen Autonomie sieht. Wenn einige Nonjurors die Ohrenbeichte, die priesterliche Absolution und das Meßopfer vorschlagen, so ist damit noch nichts über die Stellung der anglikanischen Kirche zu diesen Institutionen gesagt, da es sich um Äußerungen einiger High Flyers handelt. Wenn der Jakobit C h a r l e s L e s l i e einen Vorschlag über die Union der gallikanischen mit der anglikanischen Kirche gemacht hat, so sagt das noch nichts gegen seine religiösen Ansichten, von deren gesunder Verständigkeit er erst letzthin überzeugt hat, als er sich unmißverständlich gegen den Katholizismus aussprach. Ebensowenig sind von Seiten der katholischen Kirche die Voraussetzungen derart, daß zwischen ihr und der Church of England von einer Harmonie gesprochen werden kann. Allerdings könnte es eine vollendete Union der gesamten christlichen Kirche geben, und das wäre ein Segen, den jeder gute Mensch wünscht, auf den aber — auch darin kommt die Zwiespältigkeit bei S w i f t sehr schön zum Ausdruck — jeder vernünftige Mensch gar nicht erst seine Hoffnung setzt. Damit, daß die Katholiken einige ihrer abergläubischen Narreteien aufgegeben haben, sind die Gegensätze zum Protestantismus noch nicht überbrückt. Die wesentlichen Punkte werden nach wie vor von den Katholiken behauptet und verteidigt. B u r n e t brauche aber nicht anzunehmen, daß jeder, der von seinen eigenen Ansichten über Kirche und Staat nur abweicht, als Tory sogleich bereit sei, an die Transsubstantiation, Fegefeuer und das Unfehlbarkeitsdogma zu glauben oder Heilige und Engel zu verehren. Bei B u r n e t lebt der Gedanke der bevorstehenden Rückkehr des katholischen Prätendenten und der Anschluß an die römische Kirche mit voller Überzeugung 29 ), und S w i f t will es nicht an der notwendigen Ehrfurcht vor dem tiefgründigen Witterungsvermögen des Prälaten fehlen lassen, "who can smell Popery at 500 miles distance, better than fanaticism just under 29) E r sieht die G r a u s a m k e i t e n der blutigen M a r i a w i e d e r aufleben und erw a r t e t die E r r i c h t u n g von S c h e i t e r h a u f e n durch die Inquisition in Smithfield. L e c k y (Mist, of E n g l a n d Vol. I. S . 207) e r w ä h n t die E n t s t e h u n g d i e s e s B i l d e s von den S c h e i t e r h a u f e n in Smithfield, s e t z t a b e r d a n a c h d a s darauf b e z u g n e h m e n d e E r e i g n i s mit 1714 zu s p ä t an.

— 70 —

his nose" 30 ). Aber er besteht darauf, daß B u r n e t den Whigs gegenüber den Vorwurf mangelnder Wachsamkeit und Schreierei gegen Papismus und den Prätendenten unterlassen müsse, da sie ihn nicht verdient haben. Aber S w i f t gibt B u r n e t trotzdem einen guten Rat: wenn er nachweisen könnte, daß das jetzige Ministerium jemals, sei es öffentlich oder privat, auch nur ein Wort zu Gunsten des Pretender hat fallen lassen, wenn fer zeigen könnte, daß nach dem Ministerwechsel auch nur ein Schritt in der Absicht, die hannoversche Erbfolge zu unterbinden, gemacht worden oder sonst jemand zur Thronfolge ermutigt worden ist — dann, aber auch nur dann, möge B u r n e t den Fanatismus seiner Partei mit aller Kraft anfeuern. Wegen der Gegenstandslosigkeit der Warnungen B u r n e t s , aber auch in anderen Fällen lehnt S w i f t die Beteiligung der Geistlichkeit an den Kontroversen ab, denn sie sind bestenfalls eine trocken-schwere Beschäftigung des Geistes; vor allem aber dann, wenn dafür so wenig Anlaß vorliegt und dieser noch von Tag zu Tag dank der Energie der Gesetze und der äußersten Abscheu des englischen Volkes vor der katholischen Abgötterei geringer wird. S w i f t glaubt aber mit B u r n e t nicht genügend abgerechnet zu haben, wenn er nicht seinerseits zur Offensive vorgeht, nachdem er die Vorwürfe der jakobitischen Umtriebe seiner Partei auf seine Weise abgewiesen hat. Er ergreift dabei gleich den Punkt, der zwischen beiden Richtungen das größte Streitobjekt bildet: die Frage nach dem Verhältnis zum Dissent. Wenn m a n überhaupt von einer Gefahr von Kirche und Staat reden will, dann muß man sie auf Seiten B u r n e t s und seiner Anhänger, der Freidenker, suchen. Hier sind die Verfassungen wirklich bedroht, denn die Presbyterianer und der ihnen nachlaufende Anhang von fanatischen Freidenkern und Atheisten sind nur zu sehr geneigt, nicht n u r die Religion zu vernichten, sondern sie wollen daneben noch die monarchische Verfassung stürzen. Bei der gegenwärtigen Lage der Dinge ist die Gefahr von ihrer Seite,i auch wenn m a n einen Katholiken f ü r dreimal schlimmer als einen Presbyterianer hält, größer, weil sie bewußt die Absicht haben, Staat und Kirche zu zerstören. Wenn man auch das Presbyterium der katholischen Kirche vorzieht, so ist doch die Gefahr von der letzteren nicht so groß. Da ein Papist die gleiche Gefährlichkeit hat, wie drei Dissenter und in England auf vierzig Dissenter ein Katholik entfällt, so besteht nach arithmetischer Rechnung f ü r die Kirche 30) P r o s e W o r k s : III. S. 151.

— 71 —

13^ mal so sehr die Wahrscheinlichkeit, vom Sektenwesen vernichtet zu werden. Mit diesem, nach S w i f t s tatsächlicher Auffassung gefährlichsten Feind wollen sich die Low Church Vertreter verbünden, um sie in den Schoß der Kirche zurückzuführen. Aber sie erweisen der Church of England damit einen schlechten Dienst, wenn sie die Gefahr in die Kirche hineinverpflanzen. S w i f t wandelt das von B u r n e t gebrauchte Bild, daß die Whigs sich in die Bresche der vom Papismus durchlöcherten Mauer des Kirchengebäudes zur Verteidigung einsetzen, so um, daß es gegen die Whigs spricht. Der Wall um Kirche und Staat wurde von denen gebaut, die die Verfassung beider verehrten. Die Whigs haben diesen Wall untergraben, haben sich in die Bresche gestellt und rufen n u n : Wir sind der Wall! Aber diese Ausbesserung ist nutzlos und verräterisch, denn von ihren Wachttürmen wecken die Whigs die treuen Anglikaner mit falschen Alarmrufen, rufen zur Verteidigung eines ungefährdeten Tores auf, während ihre Mitverschworenen durch ein anderes hereinbrechen. Wie an keiner anderen Stelle im Schrifttum S w i f t s tobt sich in diesem polemischen Traktat der Gegensatz von hoch- und niederkirchlicher Einstellung aus, wobei die Parteistellung S w i f t s durch die persönliche Gereiztheit sich ungewöhnlich einengte. Nicht minder interessant ist an der Schrift die Art S w i f t scher Polemik, die sich ganz einseitig und subjektiv einstellt. Trotzdem behauptet sie von sich, objektiv zu sein, und erreicht es auch bis zu einem hohen Grade, alle Vorwürfe durchführen zu können, ohne die Objektivität ernstlich zu gefährden, ein Zug, der die Kraft der Argumentation S w i f t s wesentlich erhöht und der seiner Polemik durchweg eigen ist. Es ist nicht zu vermeiden, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß S w i f t die Lage der anglikanischen Kirche zum Teil nicht richtig beurteilte; es sei denn, daß er absichtlich seine eigene Überzeugung verschleierte, was nicht anzunehmen ist. B u r n e t scheint über die Verhandlungen über eine Union der englischen und gallikanischen Kirche besser orientiert zu sein, als S w i f t . Solche Vereinbarungen lagen im Sinne des Autoritätsprinzips der anglikanischen Kirche, und wurden durch die Anwesenheit des Prätendenten am Hofe von St. Germain und durch seinen Katholizismus unterstützt. Obendrein fehlte es in England, das gibt auch S w i f t zu, nicht an Schriften, die sich dem katholischen Glaubensbekenntnis entschieden näherten. Die Klage über Anzeichen, daß man in einigen — 72 —

Kreisen eine Annäherung an die katholische Kirche wieder erwog, stützte sich auf begründete Symptome. Man gewinnt dabei von S w i f t nicht den Eindruck, daß er diese Tendenzen in vollem Umfang gekannt hat und n u r als starrer Hochkirchler die rechtmäßigen Klagen abgewiesen hat, um die Regierung und die Kirche zu verteidigen. Gewiß beging auch B u r n e t den Fehler, die jakobitischen Ansichten des Klerus, die sich auf die zähe Behauptung des Divine Right of Kings gründeten, mit katholisierenden Tendenzen zu identifizieren. Gerade dieser I r r t u m konnte zu falschen Schlüssen über C h a r l e s L e s l i e verleiten, der ein fester Anhänger des Protestantismus war, obgleich er als Nonjuror das göttliche Recht verteidigte. S w i f t macht wiederum die Tatsache, daß L e s l i e , wenn er auch einen Unionsvorschlag gemacht hatte, sein protestantisches Glaubensbekenntnis gegen den Katholizismus ausspielte, in Sicherheit gewiegt haben. Der Tatsache nach bedeutender ist die Unkenntnis der Verhandlungen, die die Regierung, vornehmlich B o 1 i n g b r o k e, mit dem Pretender führte, den man schließlich unter jeder Bedingung nach England zurückzukehren veranlassen wollte. S w i f t hätte diese Ansichten nicht geteilt, da er fest a n der protestantischen Erbfolge festhielt, wenn er einer Rückkehr des protestantischen Prätendenten vielleicht deshalb auch nicht abgeneigt war, weil er die Erbmonarchie f ü r vorteilhaft hielt. Aber er wußte auch nichts von den Unterhandlungen seiner Parteifreunde. Mit ihrem Abschluß bestand aber fraglos die Gefahr, daß mit einer Rückkehr des Pretender ohne vorherige Konversion das katholische Element zumindest mit Erleichterungen, wenn nicht sogar mit steigendem Einfluß rechnen durfte. Darin sah B u r n e t klarer, während S w i f t dem Toryministerium soweit trauen zu können glaubte, daß er von ihm keine Gefährdung der protestantischen Erbfolge befürchtete. Wenn S w i f t 1715 auf Grund seiner vertrauten Stellung zu B o l i n g b r o k e dem Verdacht einer jakobitischen Haltung verfiel, kann auch diese Schrift Zeugnis davon ablegen, daß S w i f t die Ziele des Ministers nicht gekannt h a t ; das spricht unmißverständlich aus dem Stil und der Argumentation des Preface. Sein Quellenwert scheint als Gelegenheitsschrift a u s der fraglichen Zeit deshalb auch größer als die Überzeugungsk r a f t seiner Korrespondenz nach Aufdeckung der verräterischen Absichten B o l i n g b r o k e s oder spätere Rechtfertigungsschriften 3 1 ). 31) Die S c h l ü s s e , die m a n aus der T a t s a c h e der Nichteinweihung z i e h e n kann, beleuchten seine tatsächliche Stellung zu den Ministern.

— 73 -

S w i f t s

Was-für die Beurteilung S w i f t s an dieser Schrift besonders auffällt, ist das vollkommene Fehlen moralischer Elemente. Seine politische Stellung seit 1708 hat ihn aus der sittlichen Arbeit des Pfarrers herausgerissen in die starken Ströme der englischen Geschichte dieser Zeit. Der Aufenthalt in London läßt den Moralismus zurücktreten, der erst in ruhigeren Zeiten wieder auftritt. S w i f t ist zum Kirchenpolitiker und -taktiker geworden, im Kampf um die Einheit und Vorherrschaft der Staatskirche. In diesem Kampf stieß er zuerst auf die Low Church, der gegenüber er sein Leben lang mit Haß erfüllt blieb und der niederen Geistlichkeit wertvolle Dienste leistete. Der Clergy war er durch diese Einstellung so eng verknüpft, daß er auch später, als er sozial und geistlich höher gestellt war, die enge Verbindung zur niederen Geistlichkeit nicht gelockert hat. Der hohe Klerus hatte, gewiß auch durch die Verständnislosigkeit für soziale Forderungen der Landgeistlichen bedingt, wegen seiner Zugehörigkeit zur Low Church für S w i f t zeitlebens einen Makel, der jede Annäherung S w i f t s an bischöfliche Würdenträger erschwerte. Trotz einer gewissen Identität seiner Anschauungen mit denen des Dubliner Erzbischofs K i n g , ist es zwischen beiden nie zu einem herzlichen Verhältnis gekommen. Der Gegensatz von High Church und Low Church, der S w i f t zu leidenschaftlichen Ausfällen in seinem Preface hinreißt, vermag auch zum Teil noch eine ähnlich gereizte Sprache in den Schriften erklären, die S w i f t 20 Jahre später als Fürsprecher des irischen Klerus anschlägt. Das Urteil, welches S w i f t über die kirchenpolitische Lage abgibt ist von seinem Standpunkt aus unbedingt richtig. Die Gefahr für die Staatskirche war dort erkannt, wo sie am größten war, wenn es sich um den unangetasteten Bestand und den autoritären Charakter der anglikanischen Kirche handelte. Allerdings hätte die akute Gefahr des vordringenden Katholizismus die Sachlage mit einem Schlage vollkommen verändert, aber da die Warnungen B u r n e t s nicht eintrafen, blieb S w i f t s Auffassung die richtige. Es ist erstaunlich, wie sehr schon die Schrift S w i f t s des religiös-christlichen Einschlages entbehrt. Bei ihm erschien die Politik, auch die der Kirche, verweltlicht. Noch vor nicht allzu langer Zeit war eine derartige Scheidung im Rahmen der christlichen Kulturwelt unmöglich gewesen; die Aufklärung zog einen deutlichen Trennungsstrich und die enge Verbindung von Staat und Kirche in England förderte diese Bewegung zu Gunsten der Säkularisation. — 74 —

Man hat von S w i f t gesagt, er wäre im Grunde an der Kirche uninteressiert gewesen und hätte sie als Mittel zum Zweck benutzt, um sich überhaupt eine sichere Lebensstellung zu schaffen. Dabei wäre sein einziges Ziel gewesen, als geistlicher Lord sich den Weg in das Oberhaus des englischen Parlamentes zu bahnen, da ihm als Geistlichen das Unterhaus verschlossen war. Daß die Gründe seines Eintritts in die Kirche weltanschaulich bedingt waren, ist gezeigt worden. Daß sein Ehrgeiz ihm innerhalb der Organisation den Weg zu den höchsten Ämtern wies, kann nicht zweifelhaft sein. Aber eine These, nach der die Kirche nur als Versorgungsstelle zu werten ist, widerspricht der ganzen Wesensart S w i f t s . Sie wird aber vor allem entkräftet durch die Leistungen, die S w i f t während seines ganzen ferneren Lebens f ü r die Kirche vollbracht hat, teilweise wohl auch um ihren Niedergang aufzuhalten. Eine Untersuchung der praktischen Arbeit, die S w i f t f ü r die Kirche und f ü r den niederen Klerus geleistet hat und ihre Erfolge, kann hier nicht gegeben werden. Aber auch die Schriften S w i f t s geben uns über diese Seite seiner Tätigkeit ein klares Bild; der Eindruck, daß ihm das Wohl der Kirche am Herzen lag, wird gerade durch seine selbstlose Arbeit f ü r die irische Geistlichkeit weiter unterstrichen. Daß er dabei immer auf Seiten der niederen Geistlichen stand, auch als er nach 1713 Dean of St. Patrick's in Dublin war, erklärt sich aus der bekannten Parteikonstellation der Kirche, aus dem Gegensatz gegen die gekauften Bischöfe der Walpole-Regierung und nicht zuletzt aus einem tiefen sozialen Verständnis für notleidende Geistliche, wie Menschen überhaupt, wozu die eigenen Erfahrungen, die er selbst als Pfarrgeistlicher kleiner Pfründen in Irland machte, beigesteuert haben mochten 3 a ). Die Verbindung von moralischen und sozialen Gedanken war für das Zeitalter der Aufklärung typisch und als ein charakteristischer Vertreter k a n n S w i f t gelten. Es sei in diesem Zusammenhang auf den Komplex der Schriften, die S w i f t f ü r die Besserung der Lage Irlands verfaßte (Drapier's Letters) hingewiesen; f ü r unsere Arbeit interessiert die soziale Wirksamkeit f ü r seine Kirche. Am bekanntesten ist S w i f t s Tätigkeit als Abgesandter der irischen Kirche, um von der Königin die Gewährung der First Fruits and Tenths zu erlangen, die dem englischen Klerus schon 1703/04 zurückgegeben worden waren. F ü r Irland war das 32) Vgl. auch die P r e d i g t : "On the C a u s e s of the w r e t c h e d Condition of Irland" ( P r o s e W o r k s : IV. S. 211—221) und überhaupt seine politischen S c h r i f t e n und K o r r e s p o n d e n z e n über Irland.

— 75 —

gleiche Zugeständnis nicht gemacht worden, da man wahrscheinlich der Ansicht war, daß dort die Lage des Klerus sich günstiger gestaltete, was nominell auch richtig war. Diese Mission, die S w i f t auch zur Zeit der Ministerkrise 1709/10 nach London führte, bot den Anlaß zu dem Verkehr mit den neuen Männern der Regierung. Er reichte an H a r 1 e y eine Denkschrift ein, in der er die Lage des irischen Klerus darstellte "); seine Bemühungen wurden endlich von Erfolg gekrönt"). Zu vielen anderen Gelegenheiten setzte S w i f t sich mit seiner Feder für die Geistlichkeit ein, deren teilweise trostlose Lage er zu Beginn seiner klerikalen Laufbahn am eigenen Leibe gespürt hatte. Zunächst suchte er dabei nach den Ursachen dieser Verhältnisse; er fand sie in der englischen „Reformation" durch Heinrich VIII. Nicht nur die Neigung des Klerus zu seiner Zeit, den Verlauf der Reformation in England zu mißbilligen, ließ ihn diese anfeinden 35 ), sie lief auch in ihren Maßnahmen dem Wunsch nach sozialer Besserung zuwider. Heinrich VIII. hatte, wie S w i f t schon an anderer Stelle angedeutet hatte, nicht im entferntesten die Absicht, in seinem Königreich die Religion zu ändern 36 ). Niemals empfing der Klerus einen schwereren Schlag, als durch die Aufgabe seiner Vorrechte unter Heinrich VIII. und durch die Einziehung seiner Ländereien. Die Säkularisation war tatsächlich an der Verarmung schuld, und unter dem Eindruck dieser für die Kirche ungünstigen Maßnahmen, nicht etwa als das Ergebnis objektiver Kritik, entsteht in S w i f t die Auffassung des Königs als eines "infernal beast" 37 ), wobei ihn nichts so entrüstet, als daß man einen der „minderwertigsten Fürsten aller Zeiten tma aller Länder" als eine Triebkraft jener großartigen Leistung der Reformation feiert 38 ). S w i f t stellt dabei in einer unvollendeten Schrift "Essay concerning the universal hatred which prevails against the clergy" 39) gar nicht in Abrede, daß vor der Reformation der Kirchenbesitz zu groß gewesen ist. Aber die Art, in der dieser gierige Tyrann die Kirche aussog, war skandalös. Um diesen noch herrschenden Mißständen abzuhelfen, vor allem aier, um einer weiteren Verarmung des Klerus vorzubeugen, schrieb S w i f t eine Reihe von Traktaten. 33) Corr. I. S. 200—203. 34) Vgl. Journal to Stella und Corr. I. S. 212 et 35) P r o s e W o r k s : III. 5 . 157 Anm. 2. 36) „ „ III. S. 149. 37) „ „ III. S. 301. 38) „ „ III. S . 150. 39) „ „ III. S. 301—304.

— 76 —

passim.

Zum ersten Mal erschien dieses Thema innerhalb des Preface to Burnet (1713)10). Man kann mit gutem Recht S w i f t in Fragen der kirchlichen Einkünfte, ihrer Entstehung, ihrer Veränderungen und der mit ihnen getriebenen Mißbräuche einen Spezialisten nennen, wie er auch gleichzeitig anderen Geistlichen das Studium dieses Gebietes empfahl. Man findet in den Schriften S w i f t s Berechnungen und Aufstellungen über Finanzfragen, deren Kenntnis und Beherrschung fast kalvinistisch anmutet. B u r n e t hatte die grundbesitzenden Laien davor gewarnt, daß die nach Einführung des Katholizismus drängende anglikanische Geistlichkeit die alten kirchlichen Ländereien zurückverlangen würde. Aber S w i f t nimmt den Klerus in Schutz, dessen wahre Ansicht er vermuten zu können glaubt, wenn er von dem Wunsch spricht, daß allerdings einige Abteiländer zur Vergrößerung armer Bistümer und als Pfarräcker in den Gemeinden Verwendung gefunden hätten. Ein ganz offensichtlicher Akt von Ungerechtigkeit und Bedrückung ist das nach der Reformation angewandte Verfahren, daß man den kirchlichen Zehnten weltlichen Personen hat zukommen lassen. Trotzdem verlangt S w i f t nicht, daß man sie sofort und in vollem Umfange den alten Besitzern wieder zurückgibt, sondern die Kirche soll sie langsam und unter Zustimmung der augenblicklich rechtmäßigen Besitzer wiedererwerben. Gewiß haben die Klöster in vorreformatorischen Zeiten mit dem Zehnten Mißbrauch getrieben, aber die Gegenmaßnahme, daß man später die Pfarrstellen mit so wenig Gehalt aussetzte, war zu scharf: an vielen Stellen sind alle kirchlichen Gebühren in Laienhänden und der Geistliche ist ganz von der Gnade seines Brotherrn abhängig. Immerhin hatte diesö Auseinandersetzung mit B u r n e t keine eigentlich aktuelle Ursache. Das war erst der Fall, als S w i f t 1723 " S o m e A r g u m e n t s a g a i n s t e n l a r g i n g t h e P o w e r of B i s h o p s i n L e t t i n g of L e a s e s " " ) verfaßte, in denen er gegen den Mißbrauch auftrat, den die Bischöfe mit den zu ihrem Bistum gehörigen Land trieben, indem sie es für lange Zeit verpachteten, um in einer vielleicht nur kurzen Amtszeit hohe Einkünfte aus ihnen herauszuschlagen 42). Karl I. war mit einem Parlamentsbeschluß dagegen aufgetreten, aber 1723 versuchte man die Rücknahme dieses Erlasses durchzusetzen. Der Eigennutz der verhaßten irischen Bischöfe hatte S w i f t zu seiner Bemer40) P r o s e W o r k s : III. S . 141 ff. 41) P r o s e W o r k s : III. S . 219—238. 42) Vgl. P r e f a c e to Burnet, P r o s e Works: III. S . 143 ff.

— 77 —

kung veranlaßt: "No blame rested with the court for these appointments. Excellent and moral men had been selected upon every occasion of vacancy; but it unfortunately happened, that a s these worthy divines crossed Hounslow Heath on their way to Ireland, to take possession of their bishoprics, they have been regularly robbed and murdered by the highwaymen frequenting that common, who seize upon their robes and patents, come over to Ireland, and are consecrated bishops in their stead" "). S w i f t s Ansichten über den kirchlichen Besitz gingen dahin, daß er ihn als sein anvertrautes Gut betrachtete, das man seinem Nachfolger in unversehrtem Umfange zurückgeben mußte. Diesen Gesichtspunkt hatten sich aber nicht die irischen Bischöfe zu eigen gemacht, denen es lieber war, daß das Geld in ihre eigene Tasche floß, als in die ihres Nachfolgere. S w i f t stellt fest, daß der Wertverlust von Gold und Silber die Einkünfte aller Geistlichen beschränkt hat; um ihre Einkünfte zu verbessern, nehmen die Bischöfe darum das, was rechtmäßig ihrem Nachfolger zusteht und damit läuft die Kirche Gefahr, gänzlich zu verarmen. Vom menschlichen Standpunkt könnte man das Verhalten der Bischöfe vielleicht verstehen, aber vor Gott können sie sich nicht rechtfertigen. Selbst B u r n e t hat vorausgeahnt, daß die Verpachtungen auf Lebenszeit durch die Bischöfe einstmals der Ruin der Kirche werden würden und hat deshalb die Akte Karls I. als Sicherheit dagegen gelobt. Die Nachteile des bischöflichen Vorgehens werden mit anzähligen Argumenten vorgetragen, und die Kenntnis der materiellen, geldlichen und verpachtungstechnischen Verhältnisse versorgt S w i f t mit einem schier unerschöpflichen Born von Beispielen. In den Rahmen der Versuche, die die irischen Bischöfe machten, um ihre Macht gegenüber der niederen Geistlichkeit zu stärken, gehören zwei weitere Anträge, die 1731 gegen den Klerus liefen. Die Bill of Residence forderte die Residenzpflicht für jeden Geistlichen und forderte von ihm, wenn er £ 100.—.— und mehr jährliches Einkommen hatte, den Bau eines Pfarrhauses, was für den verarmten Klerus eine unerhörte Belastung bedeutete. Dasselbe war mit der Bill of Division der Fall, die unter bestimmten Voraussetzungen die Teilung größerer Gemeinden in mehrere kleine durchsetzen wollte. An den Schriften, die S w i f t gegen diese Bills verfaßte, glaubte S c o t t den Ton der tiefen Unzufriedenheit mit den kirchlichen Promotionen im Gedanken an seine eigene Zurücksetzung feststellen zu können. Daß eine solche Stimmung über den Schriften 43) P r o s e W o r k s : III. S. 220.

— 78 —

liegt, kann nicht bezweifelt werden; aber es ist nicht nur die Möglichkeit, seine Oppositionsstellung zu den Bischöfen aus persönlichen Motiven zum Ausdruck zu bringen, sondern die Verurteilung des W a l p o l e s c h e n Systems und die wirkliche Anhänglichkeit an den ärmeren Klerus, die den Anlaß zu den Schriften gaben. S w i f t steht sein ganzes Leben bewußt auf Seiten der niederen Geistlichkeit aus den dargestellten Gründen und es ist zu betonen, daß er, nachdem er zum Dean befördert war, diejenigen nicht vergaß, mit denen er früher das gleiche Los geteilt hatte; daß ein solches Verhalten nicht f ü r alle Selbstverständlichkeit ist, beklagt er mit bitteren Worten. Es soll dabei nicht in Abrede gestellt werden, daß das Gefühl der Überlegenheit über die irischen Bischöfe dem Tono S w i f t s eine besondere Note der Bissigkeit mag verliehen haben. S w i f t s Ansicht über die beiden Bills finden wir in einem Schreiben an den Bischof von Clogher, S t e a r n e 4 4 ) , in dem er die Anträge "Bills for enslaving and beggaring the clergy, which took their birth from hell" nennt. Darum fühlt S w i f t sich auch zum Eingreifen verpflichtet. Befassen sich seine Bemerkungen zur Bill of Residence mehr mit einer Schilderung der besseren Lage des englischen Klerus gegenüber den Zuständen in Irland, wo die kirchlichen Einkünfte n u r nominell höher sind, so werden die Considerations upon two Bills 45) in ihren Ausführungen über die Lage der anglikanischen Geistlichkeit in Irland genauer. Keine Eigenschaft ist mit dem Menschengeschlecht in seiner Verdorbenheit so eng verbunden, als das Auftreten von Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit für die Leiden der Menschen und das plötzliche Vergessen der eigenen Lage, wenn man in der Welt befördert wird. Ganz besonders beliebt scheint ein solches Verhalten beim Bischofsstande gegenüber der Clergy zu sein. Die Erhaltung der niederen Geistlichkeit in Irland ist völlig ungesichert, sie sammeln ihr Gehalt unter bettelarmen Bauern, die den Priester zu übervorteilen suchen 46 ). Wenn der Geistliche daneben sein Amt noch pflichtgemäß ausüben will, kostet ihn das größte Mühe. Kaum aber ist er zum Bischof befördert worden, so ändert sich die Sachlage mit einem Schlage; seine Einkünfte sind beträchtlich und laufen pünktlich ein. Aber mit dem Beginn dieses Wohllebens sind sofort alle früheren Entbehrungen vergessen und leider auch dieje44) Corr. V- S. 17. Juli 1733. 45) P r o s e W o r k s : III. S. 261—272. 46) Corr. IV. S. 127.

— 79 —

nigen, die noch weiter in diesem elenden Zustande verharren müssen. Vorteile für die Landbevölkerung sind aus den geplanten Bills nicht zu ziehen. Die einzigen Gebiete, in denen noch größere Pfründen vorhanden sind, befinden sich im Norden Irlands. Wenn man sie zerstückeln will, zwingt man den armen Priester in den neuen kleinen Gemeinden, mit Weib und jedem Kind, das nur eben laufen kann, zur Erntezeit auf den Feldern zu wachen, damit keine der ihnen zustehenden Garben verloren geht, was für die arme Familie einen Tag Hunger bedeuten würde. Aus solchem Verhalten aber müssen Unstimmigkeiten und dauernder Streit mit der Gemeinde entstehen. Unter den augenblicklichen Verhältnissen sind die Pfarrer in entsprechenden Pfründen noch keineswegs so wachsam und scharf; im Gegenteil sind sie der Ansicht, daß man sie sehr zuvorkommend behandelt, wenn man ihnen nur ein Drittel ihrer gesetzlichen Ansprüche nimmt! Andererseits ist die Macht der Bischöfe jetzt schon so bedeutend, daß sie zur Beherrschung aller ihrer Amtszweige ausreicht; sie brauchen keine Gesetze, um über das Verhalten der ihnen unterstellten Geistlichen noch schärfer zu wachen. Das System der Pluralitäten ist ein Mißstand, den man nicht dem niederen Klerus zur Last legen darf; und hätte man bei den Geistlichen, die man in die Kirche wählte, mehr auf Unparteilichkeit und weniger auf Partei, Familie, Schmeichelei und Gunst geachtet, so würde man sich jetzt auch weniger über Abwesenheit, Vernachlässigung ihrer Pflichten, tadelnswertes Betragen, Dummheit und andere Schwächen beklagen müssen. Es gibt eine Reihe von Geistlichen, deren übles Gebahren, der Ton ihrer Stimme und das linkische Stelzen ihres Ganges, ohne daß sie das geringste Talent für irgendein Amt hätten, zur Erlangung einer einträglichen Pfründe verholfen haben, nur kraft ihrer Schmeichelei und Kriecherei. Die Kraft des Hasses, die S w i f t zeit seines Lebens begleitet hat, ist auch in diesem späten Stadium seines Lebens keinesfalls gebrochen; die Satire hat von ihrer alten Bissigkeit und inneren Gezwungenheit nicht viel verloren. S w i f t scheut sich an keiner Stelle, als Freund der irischen Clergy alle Schäden schonungslos aufzudecken, den Ursachen bis auf den Grund nachzuspüren und vorausschauend die Folgen der geplanten Maßnahmen zu enthüllen. Wirksam war in dieser Hinsicht der Vergleich mit den Lebensbedingungen der englischen Geistlichen. Während in England kirchenfreundliche Kreise die Lage; des Klerus zu bessern suchten, ging man diesen Bestre—

80



bungen an dem in jeder Weise stiefmütterlich behandelten Irland vorüber. Tatsächlich ist die Lage der kleinen Landpfarrer in Irland seit der Revolution und durch dauernd wechselnde Besitzergreifung, sowie durch die presbyterianische Einwanderung aus Schottland, erbarmungswürdig gewesen. Daher schnitt ein Vergleich mit der gewiß auch nicht günstigen Lage des englischen Klerus sehr zu Gunsten Englands ab, wodurch die Not in Irland noch mehr offenbar wurde. Mit diesem Mittel versuchte S w i f t auch die Haltung des irischen Parlamentes zu bestimmen, und so war z. B. seine Schrift "On the Bill for the Clergy's Residing on their Livings" 4 7 ) ganz auf diesen Gegensatz aufgebaut. Auch in den "Considerations upon two Bills" wird der glücklichere englische Zustand Basis für eine Bitte an das irische Parlament, die irischen Verhältnisse nicht noch weiter zu beschweren 18 ). S w i f t bleibt in seiner Argumentation auch jetzt noch der These von R o c h e f o u c a u l d treu, wenn er die Mitglieder des irischen Parlamentes an der Stelle zu fassen sucht, wo ihre menschlichen Interessen und Schwächen getroffen werden. Mit denselben Mitteln hatte B u r n e t in seiner Introduction gearbeitet und war darum, aus taktischen Erwägungen, getadelt worden. Aber diese Erkennnis bedeutet für S w i f t , der, indem er sich selbst über die Maxime zu stellen vermag, aus seiner Überlegenheit Kraft schöpft, die stärkste Seite seiner Satire. Uberall schimmert sie durch, auch an relativ unbedeutenden Stellen wie hier, wo er das Parlament davor warnt, den Bischöfen die Macht einer Teilung von Pfründen zu geben. Das würde eine Vermehrung der Zahl wahlberechtigter Kleriker geben, aus der die Bischöfe, dank der ihnen schon jetzt zustehenden Gewalt, einen schlagkräftigen kirchlichen Wahlkörper bilden können, der ihnen zu jedem Dienst — ausgenommen natürlich Gottesdienst (!) — willfährig wäre. Ebensowenig ist der Haß gegen den Dissent schwächer geworden oder gar versiegt. S w i f t weist darauf hin, daß bei der Durchführung der Division Bill eigentlich nur die Beschaffung der Geldmittel zum Bau von etwa 2000 Kirchen, damit die neuen Geistlichen auch Gottesdienst halten können, ein Problem ist. Ein guter Ausweg, so rät der Autor, ist die Benutzung von Scheunen, was noch den Vorteil hat, daß damit ein gewisser Angleich an die wahren protestantischen Brüder der irischen Kirche, die Dissenter, geschaffen wird. 47) P r o s e W o r k s : 48)





III. S .

251—255.

III. S . 266 f. —

81



Überhaupt feiert die Verachtung menschlicher Motive für das Handeln auch in dieser späten Schrift noch Triumphe. S w i f t kehrt die Angelegenheit der Pfründenteilung gegen die Bischöfe und schlägt vor, man möchte darüber beraten, die größeren Bistümer in Irland aufzuteilen. Man kann mit Recht die Frage erheben, ob die 22 hohen Wüdenträger in' der Lage sind, eine so große Zahl von niederen Geistlichen genügend zu überwachen. Der Sturm der Entrüstung, der diesem Vorschlag unbedingt folgen muß, läßt es S w i f t für geraten erscheinen, nicht auf einem solchen Antrag zu bestehen. Die elende Lage der irischen Geistlichen zwingt nach Einführung der Bill of Division zu besonderen Klauseln: ihnen muß verboten werden zu heiraten, ihre Ehen müssen für ungültig und ihre Kinder zu Bastarden erklärt werden, denn eine Bettlersippe kann Irland in seiner Lage nicht auch noch unterstützen. Eine weitere Klausel, die man als sehr nachsichtig ansehen muß, schlägt S w i f t vor: man soll den Geistlichen zur Besserung ihrer Lage eine Nebenbeschäftigung gewähren, die sie nicht zu sehr von ihren geistlichen Pflichten abhält. Gemeindeschreiber, Leinenwirker, Gerichtsdiener und Pflasterverkäufer könnten sie nebenher sein. Ihre Frauen und Töchter könnten für die Nachbarschaft oder das Militär Hemden nähen; man könnte Zimmer vermieten oder einen kleinen Wirtschaftsbetrieb einrichten. Empört ist S w i f t darüber, daß man in der Fra,ge der Bill of Division, in der es sich kurz um den Bestand des Klerus dreht, die Geistlichen selbst, obgleich sie die gesetzmäßigen Lehrer der Religion und Sittlichkeit sind, nicht zu Rate zieht. Ein ähnlich ungeheuerliches Vorgehen kann man in den letzten 1200 Jahren nicht nachweisen. Uber seine Parteistellung unter den Verhältnissen der irischen Kirche läßt S w i f t keinen Zweifel. W i e er zu den niederen Geistlichen steht, so stehen diese geschlossen gegen die Bischöfe. Zwar sollte zwischen beiden Pateien dieselbe Übereinstimmung herrschen, wie zwischen Christus und seiner Kirche, aber gerade im Antrag der Non-residence Bill scheint es S w i f t — er erkennt den Grundschaden der Walpoleschen Politik —, daß nicht nur der Gesichtspunkt, einem Übel in der geistlichen Organisation abzuhelfen, die Bischöfe getrieben hat. S w i f t standen noch weitere Argumente von bedeutender Schärfe zur Verfügung. Wenn er sie nicht brachte, so tat er das aus einer Erwägung heraus, die zeigt, daß man auch schon zu seinen Lebzeiten unlautere Motive für seine Schriften sah. Er will keinen weiteren Anstoß erregen, denn er hat es im —

82



Laufe der letzten Zeit schon zu oft getan. E r weiß, daß er ein harter Widersacher gegen Eifer und Prinzipien derjenigen gewesen ist, mit denen er in Angelegenheiten öffentlichen Interesses nicht übereinstimmte. Man hat seinem Vorgehen das Motiv persönlicher Unzufriedenheit zur Last legen wollen, aber gerade davon fühlt sich S w i f t freier als der Unverschämteste seiner Verleumder. Es besteht kein Anlaß, diesen Worten S w i f t s nicht vollen Glauben zu schenken, und die Tatsachen geben ihnen recht. Dieser Zug der Rührigkeit für den niederen Klerus, besonders in den späteren Jahren in Dublin, wird zu leicht bei der Betonung des Egoismus bei S w i f t übersehen. E r selbst befand sich als Dean in einer durchaus guten Lage, sprang aber trotzdem immer wieder zum Schutz der bedrängten Geistlichkeit ein, ohne selbst von ihrer Not betroffen zu werden oder durch sein Eingreifen Vorteile für sich erzielen zu können. Dies Verhalten entsprang aus menschlich edleren Motiven, als man sie S w i f t hat zubilligen wollen; der Haß gegen die Bischöfe, so verständlich er war, hat dabei nicht den bestimmenden Einfluß gehabt, so sehr er auch auf den Ton der Schriften gewirkt haben mag. Die sittlich verwerfliche Haltung der neu ernannten Bischöfe mußte den Moralisten S w i f t , der sich gerade auf diesem Gebiete sehr empfindlich zeigte und durch sein eigenes Vorbild seine Kritik rechtfertigte, Stoff und Anlaß genug zu Vorwürfen und Mißachtung geben. Dazu kam der kirchenpolitische Gegensatz. Daß S w i f t sich für den Klerus einsetzte, nicht um den Bischöfen zu grollen, wird gestützt durch die Tatsache, daß er auch der Geistlichkeit zur Seite stand, wenn es sich um Fragen handelte, an denen die Bischöfe unbeteiligt oder jedenfalls nicht Gegner waren. Dazu gehört eine Schrift, in der S w i f t 1734 gegen eine weitere Schädigung des Klerus auftrat. Selbstsucht und Erpressung der Landbesitzer drängten auf eine Einschränkung der kirchlichen Zehnten. Schon 1705 hatte man versucht, die Steuereinkünfte der Kirche, die auf Hanf -und Flachs lagen, durch eine feste Zahlung abzulösen. Damals konnte der Streit, obgleich er die schärfsten Formen ange-nommen hatte, noch gütlich beigelegt werden; bei einem neuen Vorstoß 1733 in derselben Richtung, trat S w i f t gegen die Landbesitzer auf den Plan 49). Der Zehnte auf die Hanf- und Flachsmanufaktur bedeutete für den Klerus eine seiner bedeutendsten Einnahmequellen. by

49) S o m e R e a s o n s a g a i n s t the Bill for Settling the T i t h e a Modus. P r o s e W o r k s : III. S. 2 7 7 — 2 8 5 .

— 83 —

of Hemp, F l a x

etc.

Eine Beschränkung auf eine jeweils zu zahlende feste Abfindungssumme hatte starke Geldverluste zur Folge. Eine von S w i f t , der auch in dieser Frage persönlich wieder uninteressiert war, unterschriebene Petition an das irische Parlament wurde von seiner Schrift begleitet, die wieder vornehmlich mit den Argumenten des gesunkenen Lebensstandards der irischen Geistlichen arbeitet. Aus allen Maßnahmen gegen die niedere Geistlichkeit erkennt S w i f t das Prinzip der englischen Politik gegen Irland, seine Haltung zum Klerus läuft mit der zum Volke ganz parallel. Es ist das Gefühl der Verbundenheit mit den Interessen des Landes, das Empfinden für Gerechtigkeit, das S w i f t , der Irland bis zu seinem Ende haßte, zum Patrioten der Insel machte; in der Opposition gegen Walpole faßte er auch die irische Geistlichkeit zusammen, um gegen die durchsichtige Absicht ihrer Knebelung zu kämpfen. Die englische Kirche blieb von allen diesen Maßnahmen verschont, was das Spiel der Regierung umsomehr unterstrich. Die Folgen des Modus, die S w i f t wieder mit einer ins kleinste gehenden Genauigkeit vorrechnet, erwecken den Eindruck, daß es sich mit diesem Gesetz um eine ähnliche Strafmaßnahme handelt, wie sie Nonjurors und Katholiken erfahren haben, wie sie aber der Klerus, der dem Parlament immer treu zur Seite gestanden hat, nicht verdient. Die vorgebrachte Bill steht dazu in direktem Widerspruch zu alten unverletzlichen Rechten der Kirche und dem königlichen Krönungsc-id, in dem es heißt, der König soll die Kirche in allen ihren Rechten verteidigen und schützen. Dasselbe Ziel der Unterschätzung der Geistlichkeit haben, mit oft ähnlichen Elementen und viel stärkerer Bitterkeit und 6chaFfem Sarkasmus, einige Schriften, die hier nur zitiert werden sollen. So wandte sich S w i f t 1724 für den Dubliner Klerus gegen den Erzbischof King, von dem er sich mit deutlichen Worten eine Übertretung seiner Amtsbefugnisse und ein eigenmächtiges Eingreifen in den Tätigkeitsbereich der Geistlichkeit verbat 50 ). Einem ähnlichen Vorgehen der Grundbesitzer, wie es mit dem Modus für Hanf und Flachs geplant war, stellte sich S w i f t mit seiner Satire "The Legion Club" 51 ) entgegen; in diesem Falle hatte man versucht, die kirchlichen Weidegelder, the tithe of agistment, abzuschaffen. Wie weit es dem Eingreifen S w i f t s zu verdanken ist, daß tatsächlich alle Bills letzten Endes vom Parlament abge50) R e a s o n s humbly o f f e r e d P r o s e W o r k s : III. S . 239—248. 51) P o e m s II. S . 264 ff.

to

His

Grace

— 84 —

William,

Archbishop

of

Dublin.

lehnt wurden, läßt sich nicht nachprüfen. Daß sie einen wirksamen Einfluß auf den Ausgang der Verhandlungen gehabt haben, ist anzunehmen. Die Bemerkungen von Sir Walter Scott und Temple Scott an mehreren Orten, daß auf Grund der Schrift, die S w i f t gegen eine Bill verfaßte, die Ablehnung im Parlament erfolgte, sind nur durch genaue Untersuchungen zu beweisen, in dieser Eindringlichkeit aber wohl abzulehnen. Wie sehr sich S w i f t mit der irischen Kirche und Hochkirche auf Lebenszeit verbunden fühlte, davon mag eine Episode Zeugnis ablegen, an der S w i f t gegen Ende seines Lebens, trotz des vorgeschrittenen Stadiums seiner Krankheit, lebhaften Anteil nahm. 1739 schwebte ein Streit über die Ernennung eines Parlamentsvertreters bei der Universität Dublin. Die Entscheidung lag zwischen zwei Kandidaten, von denen der eine der herrschenden whiggistischen Partei angehörte, während sein Gegenkandidat der Kirche genehmer war. S w i f t kannte die Haltung des irischen House of Commons und hatte seinen Gedanken über diese Versammlung in "The Legion Club" entsprechend Luft gemacht; da er wußte, nach welcher Seite von dieser Instanz die Wahl fallen würde, zögerte er nicht, gegen clas Parlament einen weiteren Schlag zu führen. Alle ihm geeignet erscheinenden Persönlichkeiten, (darunter Pope und Lyttelton, die sich für ihn an den Prinzen von Wales wandten,) setzte er f ü r den Kandidaten der Kirche in Bewegung 52 ). Daß alles schließlich vergebens gewesen war, ist f ü r uns nicht so wichtig, als das Zeichen der Treue zur Kirche, die er bis zu seinem Lebensende bewahrt hat. S w i f t spielte im Kampfe für die irische Kirche, für ihre Freiheit und ihre Privilegien, für ihre Unabhängigkeit von den Bischöfen, den Geschöpfen Walpoles, für die Aufrechterhaltung des Kirchenbesitzes gegen die selbstsüchtigen Übergriffe der gierigen irischen Landbesitzer eine ähnliche Rolle, wie es durch seine Anteilnahme an den allgemeinen irischen Angelegenheiten in weltlichen Dingen der Fall war. Aus dem Charakter des größten Teiles der Schriften für die Kirche erweist sich, daß das kirchenpolitische Element bei S w i f t zeitweise alles andere überwog, darunter auch seine Arbeit f ü r innerkirchliche Reformen. Trotzdem fehlt es nicht an Gedanken, die sich mit dem Leben des Geistlichen innerhalb der anglikanischen Kirche befassen. Die Geistlichkeit war ein Teil des äußeren Ausdrucks der Kirche und diese stand und 52) C o r r . VI. S. 116 et passim — S. 192.

— 85 —

fiel mit ihrer Repräsentation. Wollte man die Kirche auf der Höhe ihres Einflusses auf die Bevölkerung belassen, mußte man sie nach modernen Gesichtspunkten reformieren, um ihr Bestehen zu rechtfertigen. S w i f t war mit den Vertretern seines Standes nicht restlos zufrieden, denn auch vor dem Klerus pflegte das Laster nicht Halt zu machen. Überdies hatte er die Haltung der Geistlichkeit nach der Revolution nicht immer billigen können; aber diese Kritik bezog sich großen Teils nur auf Einzelerscheinungen. Tiefer dringt ein Ausbruch in den "Thoughts of Religion", der auch die Geistlichkeit in das misanthropische Gebäude einbezieht: "God's mercy is over all His works, but divines of all sorts lessen that mercy too much" 5J j. An die Reorganisation dieses Standes, den er trotzdem für berufen hält, Religion und Sittlichkeit der Welt zu predigen, macht S w i f t sich an verschiedenen Stellen seines Schrifttums, auch in seinen Briefen 51 ). Seine Vorschläge haften zunächst noch an der Oberfläche und passen sich damit dem allgemeinen Rahmen des Project an; es handelt sich um Verhaltungsmaßregeln für die Geistlichen, wie sie bei aller Äußerlichkeit S w i f t als praktisch erkannt hat 65 ). Zweifellos bedarf es, um die Aufgabe der Kirche, die Pflege der Sittlichkeit und Religion zu fördern, einer Arbeit des Klerus an sich selbst. Bisher hat sich die Geistlichkeit zu sehr von der Mitwelt abgeschlossen und sich, wenn sie einmal in weltliche Gesellschaft verschlagen wurde, unsicher und argwöhnisch im Hintergrund gehalten. Nach S w i f t s Ansichten liegt aber das Arbeitsgebiet inmitten der Laienwelt; gerade hier sollte sich der Geistliche an Unterhaltungen beteiligen, um seine versittlichenden Gedanken Allgemeingut werden zu lassen und auf diese Weise bessernd auf die Menschen einzuwirken. Viele Leute gibt es, die gar nicht zur Kirche gehen, und sich ein Bild von der Geistlichkeit nach ein paar armseligen Vertretern dieses Standes, die sich auf der Straße treffen, machen; ihnen bleiben die wirklich würdigen Vertreter der Geistlichkeit unbekannt. Aber unter die Laienwelt gemischt und durch seine Vorbildung qualifiziert, vermag der Geistliche viel zur Richtigstellung der herrschenden Ansicht über den Klerus beizutragen. Bevor nicht die Achtung vor dem Geistlichen und seinem Beruf wiederkehrt, wächst auch 53) P r o s e

Works:

III. S. 308.

54) C o r r . I. S w i f t an T i s d a 11. 16. D e z . 1703, 3. Febr. 1704. S w i f t sucht aus T . einen Geistlichen in seinem Sinne zu machen. 55) P r o s e W o r k s : III. S. 36 ff. —

86



ver-

die Hochachtung vor der Religion nicht. Achtet man einen Geistlichen in der Gesellschaft, so wird man sich hüten, in seiner Gegenwart sittenlose Dinge zu reden und man würde Gotteslästerungen unterlassen. Um den Gegensatz zur Laienwelt nicht hervortreten zu lassen, sollen Geistliche außerhalb der priesterlichen Verrichtungen weltliche Kleidung tragen. Damit würde gleichzeitig einem anderen Übelstand Abhilfe geschaffen werden: man hat gelegentlich Geistliche angetroffen, deren Zustand mit der allgemeinen Haltung des Standes nicht zu vereinbaren war. Die öffentliche Meinung war nur zu gern bereit, solche Vorkommnisse zu verallgemeinern und daraus ihr Urteil über den geistlichen Stand zu bilden. Weltliche Kleidung würde davor schützen. Mit solchen Vorschlägen wird das Übel natürlich nicht an der Wurzel getroffen. Es spricht f ü r die Achtung, die S w i f t selbst für seinen Beruf hatte, wenn er sich mit ernsthaften Gedanken um die geistige Hebung seines Standes bemüht. In den Ruhejahren zwischen seiner politischen Tätigkeit im Kreise; der H a r 1 e y und B o l i n g b r o k e und den aufregenden Zeiten, in denen er sich mit seinen Schriften für Irland einsetzt, verfaßt S w i f t 1719/20 den Brief an einen jungen Geistlichen 56 ). Er erkennt als Grundforderung f ü r sein Idealbild eines Geistlichen eine sorgfältige Ausbildung auf der Universität. Sie pflegt in der Regel aus wirtschaftlicher Notlage der Theologiestudenten viel zu kurz zu sein. Ungenügend vorbereitet verschwinden sie in einer kleinen Pfarre, u m dort bis an ihr Ende zu verbleiben. Für ihr geistiges Vowärtskommen pflegen sie dann nichts mehr zu tun; ihre kleine und nach keinen Gesichtspunkten gewählte Bibliothek könnte ihnen darin auch nicht helfen. Die Ausbildungszeit auf der Universität müßte sich auf 10 Jahre erstrecken, damit man sich vor seiner Tätigkeit im Leben eine gründliche Fülle menschlichen Wissens und "some knowledge of divinity" ") angeeignet hätte. Worin S w i f t die Hauptaufgabe des geistlichen Berufes sah, davon zeugt sein Hinweis auf die antike Moralphilosophie an dieser Stelle. Man pflegt sie in Kreisen der Geistlichkeit zu schmähen, ohne sie zu kennen. Gewiß hat man recht mit der Behauptung, daß die Philosophie der Antike mit dem Evangelium nicht zu vergleichen ist; ihr fehlt vor allem die gött56) A Letter to a Y o u n g C l e r g y m a n , l a t e l y e n t e r e d into Holy Orders. W o r k s : III. S. 199—217. 57) P r o s e W o r k s : III. S. 199.

— 87 —

Prose

liehe Sanktion. W a s aber das Evangelium mehr enthält als die Ethik der antiken Philosophen, sind meist Tatsachen und folglich Glaubenssachen, wie etwa die Geburt Christi, sein Wesen als Messias, Tod, Auferstehung und H i m m e l f a h r t ; kein menschliches Wissen, sondern Offenbarungen, die uns bis zur Erlösung weise machen sollen. Daß die antike Philosophie diese Tatsachen, die sich erst lange nach dem Tode ihrer Vertreter ereigneten, nicht kannte, kann man ihr nicht zur Last legen. Aber nirgends läßt sich ein besserer Kommentar für die W o r t e des Evangeliums finden, als in den Schriften dieser Weisen. Bei P 1 a t o finden w i r selbst die göttliche Vorschrift, unsere Feinde zu lieben. Die Durchschnittsmenschen jener Zeit waren dem Heidentum ferner, als die verdorbenen Juden, und sie glaubten alle, ganz gewiß aber die Philosophen, daß es nur einen Gott gebe. Sie nannten es die allmächtige Gewalt und schrieben ihr, wenn sie sie auch unter verschiedenen Namen verehrten, alle Eigenschaften Gottes zu: weiter kann menschliche Fassungskraft allein es nicht bringen. Das wahre Elend der heidnischen W e l t ist in einem Fehlen der göttlichen Sanktion f ü r ihre Gesetze zu erblicken; ohne sie entbehrten ihr Sittensystem und ihre Vorschriften einer wirklichen Autorität, und die Menschen kannten die wahren Forderungen der Moral nicht. Aber die Philosophen selbst kannten sie. Der Vorteil göttlicher Offenbarung für die Ausübung der Tugend und die Befolgung von Sittengesetzen, und damit der christlichen vor der heidnischen Welt, spricht sich in dieser Tatsache aus. S w i f t ist sich bewußt, daß seine Ansicht von der Auffassung einiger Kirchenväter abweicht, die die heidnische Philosophie verworfen haben. Diese heiligen Männer mögen selbst Männer von unantastbarem Lebenswandel gewesen sein, ihre Beweise für die Wahrheit alter Lehren ausgezeichnet; man kann keinen von ihnen einem jungen Geistlichen als Vorbild für seine Predigten empfehlen, denn über den Hauptzweck der Religion, die Versittlichung, haben sie nicht geschrieben. Deshalb eignen sie sich für das Studium eines jungen Klerikers viel weniger als die heidnischen Philosophen, und neben diesen vielleicht noch einige Redner, Historiker und Dichter. I m großen und ganzen handelt es sich in diesem Brief um eine praktische Schule der Predigt, Kritik an Mißständen. Daß die Forderungen, die S w i f t im Rahmen dieser Ratschläge stellt, dem Predigtideal der Zeit entsprachen und daß er sich selbst danach richtete, ist schon gesagt worden 5 '). 58) S .

o. K a p i t e l

I I . S . 35 f f . —

88



F ü r unser Thema bietet die Schrift noch mehr. S v/ i f t verknüpft mit ihr zunächst die Absicht, Priester auf einen Weg zu leiten, der seinen Anschauungen über das Wesen, die Arbeit und die Ziele der Geistlichkeit entsprach. Der Zweck der Predigt war im wesentlichen, verbessernd und moralisierend zu wirken; das war auch die Aufgabe der Geistlichkeit. Durch den in diesem Brief herausgearbeiteten Gegensatz zu den anderen Arbeitsgebieten der Kirche, wird diese Einstellung S w i f t s noch betont. Der Geistliche wird zum Sittenlehrer und sittlichen Vorbild. Das ethische Prinzip der Aufklärung drängt sich in dieser Schrift in den Vordergrund. Der Beruf des Geistlichen wird nur vom Gesichtspunkt der sittlichen Hebung des Menschengeschlechtes gesehen. Die antike Moralphilosophie, von den Kirchenvätern auf das heftigste bekämpft, rückt auch hier in den Vordergrund. Ihre Ethik wird dem jungen Geistlichen zum Studium empfohlen, die dogmatischen Spitzfindigkeiten und die betonte Transzendenz der Patristik finden vor S w i f t s Augen keine Gnade. Versittlichung ist das Ziel geistlicher Arbeit, nicht die Versenkung und Verzettelung in der Erklärung des Dogmas. Die Wirkung göttlicher Offenbarung, um dem Evangelium Autorität zu verleihen, wird gewiß nicht unterschätzt, aber neben der Wirkung, einen Druck auf die Befolgung der ethischen Gesetze der Bibel auszuüben, scheint die Tatsachenchronik des Evangeliums über die antiken Moralisten hinaus wenig zu interessieren. Glaubensartikel hatten für diese Ziele nur geringe Bedeutung, das mag schon daraus erhellen, daß S w i f t sich mit ihnen außerordentlich kurz abfand; ihr Inhalt interessierte ihn in seinem System der Moral n u r sehr wenig, aber ihr Bestand war für die Aufgaben der Kirche von praktischerm Wert, woraus S w i f t s exoterische Einstellung zum Deismus verständlich wird 5 9 ). Ihn befriedigte nicht die Spekulation über tote Glaubensbekenntnisse, an der konventionelle Theologen ihr Lebenswerk erschöpften, die 39 Artikel der anglikanischen Kirche waren ihm inhaltlich für seine Ziele ebenso nebensächlich wie die Dogmen, die er in "A Tale of a Tub" mit seinem Spott verfolgte. Er empfand mit ganzer Seele das Fehlen wirklicher Sittlichkeit und Religion und sah nur elende Menschen, die jederzeit bereit waren, f ü r eine geringe Entlohnung die größte Schurkerei zu begehen. Um darin Wandel zu schaffen, half das Dogma nicht. Dem Zuge der Zeit folgend, drängt S w i f t das Dogma aus seiner beherrschenden Stellung in der Theologie, läßt es allerdings als Bestandteil der Kirche und Erfordernis für ihre 59) S . u. K a p i t e l

V.

- 89 —

Einheit. In seiner bisherigen Vorrangstellung hat es nur zu schaden vermocht, denn Tausende von Menschen hätten in einem für die Kirche ausreichenden Maße orthodox sein können, wenn die Geistlichen nicht so beschränkt gewesen wären, Orthodoxie in den Bereich von Spitzfindigkeiten und peinlicher Genauigkeit zu zwingen, ohne dabei eine Gewähr von der Bibel, noch weniger aber von der Vernunft oder weitsichtiger Politik zu haben 60 ). Bei dieser Einstellung S w i f t s könnte man, neben dem Kirchentaktiker und Politiker, in ihm den sittlichen Reformator erwarten. Er sah in diesen Aufgaben die Ziele der Arbeit des Geistlichen und der Kirche. Sein Lebenswandel konnte als Vorbild dienen, seine eigene sittliche Höhe rechtfertigt die schonungslose Kritik an der Menschheit, die Aufdeckung von Verdorbenheit und Laster. Aber die Misanthropie, der Pessimismus machten wirklich positive Arbeitsmöglichkeiten zunichte. Er hat wohl, wie er noch 1729 an B o l i n g b r o k e schreibt 81 ), ein System, um England nach den Prinzipien der Tugend zu regieren; aber die Menschen sind nicht reif dafür. So klafft der Zwiespalt zwischen S w i f t und der Menschheit, der er nicht näherzukommen vermag und von der er sich, anstatt an ihr zu arbeiten, meist grollend zurückzieht. Diesem verstärkten Pessimismus entspringen seine Reformvorschläge, die im "Project for the Advancement of Religion" in einer für uns abschreckenden Weise an der Oberfläche bleiben. S w i f t s Pessimismus ist nicht geeignet, eine im wahren Sinne aufbauende Arbeit zu leisten. Seine tiefe Auffassung vom sittlichen Ernst der Religion durchzieht seine religiösen Schriften, aber den Menschen selbst Religion und Vertiefung zu geben, scheitert an der Verzweiflung über die Hoffnungslosigkeit jeden Versuches und erschöpft sich in hohlen Mitteln, die ihm, nach der psychologischen Durchdringung der menschlichen Seele, allein Erfolg versprechen. Von dieser Einstellung ist es bis zu "Gullivers Reisen" ein gerader Weg. Aber der Weg zu dieser Satire führt über Religion, nicht gegen sie! Die Predigten S w i f t s vermögen diese Ansicht weiterhin zu bestätigen. Auch sie sind nur in sehr beschränktem Maße als praktische Besserungsarbeit wirksam. Vorwiegend politischen, Inhalts halten sie allerdings doch den Zusammenhang mit der Religion lose aufrecht. Aber das Wort "party" erscheint in den 12 überlieferten Predigten häufiger, als „reli60) P r o s e W o r k s : III. iS. 308. 61) Corr. IV. S. 77.

— 90 —

gion". Das kommt nicht allein daher, daß S w i f t in der Zerrissenheit des Parteilebens die Wurzel der sittlichen Verkommenheit sah, sondern weil seinem Wesen die Kirchenpolitik mehr entsprach. Auch in seinen Predigten kämpfte er hauptsächlich politisch f ü r den straffen Zusammenhalt der Kirche. Machte er sich ausnahmsweise daran, moralisierend zu werden, so blieb er im Rahmen nüchtern praktischer, auf sein Auditorium zugeschnittener Vorschläge. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, daß die Vernunft als einziges Fundament des sittlichen Aufbaus gesetzt würde. Im Gegenteil blieb die Religion, d. h. die Morallehre des Christentums, die eigentliche Grundlage. Über den Wert der Religion und Sittlichkeit pflegt er sich theoretisch nicht auszulassen, vielmehr demonstriert er an praktischen Beispielen unter Berücksichtigung der Triebkräfte des menschlichen Handelns wirkliche Sittlichkeit. Mit dieser Methode versucht er in einer Predigt zu beweisen, daß nur wirklich religiöses Gefühl der einzig feste Maßstab für das Handeln sein kann. S w i f t fragt in der Predigt "On the Testimony of Conscience" 62 ) nach einem Gesetz, das f ü r alle Aktionen den richtigen Weg zu zeigen vermag. Er beweist an Beispielen, daß Ehre oder der Wunsch nach sittlicher Ehrbarkeit genau so wenig wie die Staatsgesetze allen Anforderungen, ein sittliches Handeln zu gewährleisten, gewachsen sind. Nur wer sich nach Gesetzen Gottes richtet, findet in ihnen f ü r alle Lebenslagen den richtigen Rat; alle anderen Maßstäbe sind unvollkommen und schwankend. Dieser Satz deckt sich gewiß mit den Anschauungen, die S w i f t auch f ü r sich gelten ließ: Achtung vor der christlichen Religion bestimmt das Gewissen zur richtigen Handlungsweise. Damit scheint das Gewissen an die Religion gebunden zu sein und seine Entscheidungen nicht in voller Selbstherrlichkeit treffen zu können. Jedenfalls gilt diese Auffassung f ü r den gewöhnlichen Menschen, daß also bei ihm die Sittlichkeit erst ein Produkt der christlichen Erkenntnis durch das Gewissen wird. Darum ist die Moral des Menschen auch abhängig von seiner religiösen Glaubensüberzeugung. Glaubt er a,n die christliche Religion, so kann diese das gesamte Handeln beeinflussen; sie hat die beiden größten Triebkräfte des menschlichen Handelns in ihren Dienst gestellt: Furcht und Hoffnung; F u r c h t vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung macht das Christentum, 62) Prose Works: IV. S. 120—127.

— 91 —

unter voller Ausnutzung des Prinzips, zur praktisch wirksamen Sittenlehre. Eine solche Anschauung wird n u r aus der pessimistischen Einstellung S w i f t s erklärbar; wenn sie a u c h ernst gemeint ist, so ist sie doch nicht identisch mit der wirklichen Stellung S w i f t s zur Religion. Es ist dies eine der wenigen Stellen in den religiösen Schriften S w i f t s , in der er mit transzendenten Momenten an die Menschen selbst herantritt, und sie haben auch hier nur den Zweck, in der Diesseitigkeit zu wirken. S w i f t folgt in seinen Theorien ganz dem Strom der englischen Psychologie, wonach der Mensch niemals etwas anderes wollen kann, als was seinem eigenen Dasein Vorteile zu bringen verspricht; der Anschluß zum Utilitarismus der englischen Morallehre ist dadurch hergestellt. Allerdings ist diese Theorie nichts als ein charakteristischer Ausdruck der allgemeinen Geisteshaltung S w i f t s , aber sie hat eine bedeutende Schwäche. Gewiß kann die menschliche Vernunft, wenn sie christlich eingestellt ist, keinen Ausweg finden, u m der christlichen Lohnethik zu entkommen. Wenn das religiös bedingte Gewissen die Hoffnung auf ewige Glückseligkeit und die Furcht vor ewiger Verdammnis als Belohnung oder Strafe f ü r die irdischen Taten als unvermeidlich erkennt, dann wird es im Sinne des Christentums handeln. Aber es bleibt doch ein Ausweg, und das ist die Ablehnung der christlichen Lohnethik. Damit schließt sich der Kreis: der Glaube an die christliche Lehre ist f ü r das menschliche Handeln unvermeidlich, u m in diesem Falle die Wirkung der Lohnethik zu gewährleisten. Neben dieser Grundeinstellung sind die Empfehlungen der Religion bei S w i f t relativ bedeutungslos, sie halten sich im konventionellen Stil der Kirche. Ein festes religiöses Gewissen leitet den Menschen, Gott zu lieben und Hoffnung und Vertrauen in ihn zu setzen. Die Liebe zu Gott macht die Sünde verabscheuungswert, läßt die Versuchungen der Welt verachten, d. h. auch im Grunde wieder nichts anderes, als daß die Religion allein der Welt den richtigen Weg zu weisen vermag. Zwar trifft sich S w i f t auf der pessimistisch beeinflußten Stufe seiner Argumente mit dem Gedanken des Macchiavellismus, denn auch dieser betont die Notwendigkeit eines religiös ^bestimmten Gewissens, um mit den Lehren der Religion die Menschen leiten zu können. Aber Ausgangspunkt und Ziel trennen S w i f t von der Lehre des Italieners; die Religion war f ü r S w i f t nicht die Erfindung schlauer Männer und ihr Ziel nicht die Erhaltung der Furcht, die vom Regenten zu nutzen — 92

war. S w i f t zieht aber aus diesem Macchiavellistischen Prinzip die Schlußfolgerung, daß selbst die verworfenen Anhänger dieser Lehre den Wert der Religion f ü r die sittliche Haltung des Volkes erkannt haben. Bei den verschiedensten Gelegenheiten beruft man sich auf die Religion als Bürgen. Man bindet Beamte durch einen Eid, daß sie ihr Amt zu allgemeinem Nutzen ausüben wollen, und das bedeutet einen Anruf Gottes; ohne diese feste Grundlage können also auch die Gesetze nicht bestehen. Daß so viele Betrügereien, Mißbräuche und Schlechtigkeiten vorkommen, ist für S w i f t ein Zeichen dafür, daß der Eid in seiner Bedeutung nicht eingehalten wird und daß Religion und Gewissen in der Welt kaum noch zu finden sind. Ganz ähnliche Forderungen werden in dieser Predigt gestellt, wie sie S w i f t im Project schon aufgeworfen hatte. Wenn er sie in diesem Falle allen Ernstes vor seiner Gemeinde vertritt, so erlaubt das Rückschlüsse auf die Bedeutung der Vorschläge in der älteren Schrift. Auch an dieser Stelle zieht er die Heuchelei der Religiosität noch dem Bekennen zum Atheismus vor, so daß der gleiche Gedanke im Project, wie die ganze Schrift überhaupt, doch ernst zu nehmen ist. Wenn S w i f t zum Schluß feststellt, daß der Mangel an Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit in der Welt ein Produkt der menschlichen Selbstsucht ist, so betont er doch dagegen, diesmal die Religion in ihrem ganzen Wert umfassend, daß es außer der Religion für das Gewissen keine Bindung gibt, durch die nicht einstmal Stolz, Lust, Geiz oder Ehrgeiz der Menschheit hindurchbrechen würden. Diese Predigt vermag einerseits zu zeigen, daß S w i f t persönlich die christliche Religion erfaßt hatte und sie anerkannte; daß er sie aber andererseits f ü r die Menschheit doch in gewissem Grade mißbrauchte. Seine Geisteshaltung gegenüber der Welt macht diesen Schritt verständlich. Auch hier dient die Religion zu nichts anderem, als ein festes Fundament f ü r die sittliche Handlungsweise zu bilden. Darum ist sie entkleidet von allem Kirchenglauben und aller Frömmelei, von Pogma und Disziplin. Nur der Kernpunkt bleibt erhalten, die Klärung des Verhältnisses von Religion und Sittlichkeit. Was zu dieser Frage nicht Stellung nimmt, ist aus der Predigt verbannt, und es tritt das moralische Element als der wesentliche Teil klar und ungetrübt zu Tage. Die Kirchenlehre wird Mittel zum Zweck, und die Erreichung wahrer Religiosität als Utopie kaum in den Bereich der Betrachtung' einbezogen. Wie sehr S w i f t in seinen Predigten auf sittliche Besserung abzielte, ohne auf die enge Bindung an die Kirche zu — 93 —

achten, zeigt der Sermon "The Difficulty of Knowing One's-self" 63 ). In ihr sind die christlichen Verbindungslinien fast ganz gelöst und S w i f t beruft sich allein auf die Moral, die er mit Hilfe einer psychologischen Methode, die sehr gegenwartsnah anmutet, zu fördern sucht. Die Predigt ist eine psychologische Anleitung zur Kontrolle des eigenen Wesens durch Reflexion, aber ohne die sonst doch noch üblichen Anspielungen auf Christentum und Bibel. Die Behandlung des Gewissens vom rein weltlichen Standpunkt zeigt den Einfluß des Verstandes, denn die irrationalen Elemente fehlen. Es handelt sich um positive, praktische Vorschläge zur Erkenntnis des eigenen Ich durch eigene Meditation, ähnlich fast denen Loyolas, aber doch ganz losgelöst von der mystischen Verknüpfung, die für diesen so charakteristisch war. Nicht Gott soll bessern, denn er verlangt gute Menschen; vielmehr muß der Mensch selbst an sich arbeiten, um seine Schwächen und Kräfte zu erkennen. Mystizismus lag S w i f t selbst ganz fern. Fällt diese Predigt auch aus dem engeren Rahmen der Kirchlichkeit heraus, so entspricht sie doch, wie wir gesehen haben, ganz den Anforderungen jener Zeit an eine Predigt. Zwar ist die kirchliche Verbindung als solche keinesfalls gesprengt, aber sie ist für dieses Thema nebensächlich geworden. Der Schluß pflegt jeweils den Hinweis auf die Kirche zu bringen. Es ist mehr als bloße Form, wenn es heißt, daß die Selbsterkenntnis dazu beitragen wird, nur so zu handeln, wie man will, daß man uns behandelt, d. h. für eine Verbreitung einer christlich-sittlichen Lebensauffassung sorgen wird. Trotz der teilweise abstoßend wirkenden Ausnutzung der Religion im Dienste der Sittlichkeit ist nach der Durchdringung der letztgenannten Schriften nicht daran zu zweifeln, daß S w i f t den Wert und die unendliche Tiefe religiösen und damit gleichzeitig sittlichen Lebens erkannt und in sich aufgenommen hat. Sie zu verbreiten hält er für die vornehmste Aufgabe des Geistlichen M ). Aber der Geist seiner Zeit schien den tiefen Gehalt des Christentums verkannt zu haben; es gab Mächte, denen Religion und religiöses Wesen in ihrer Verdorbenheit zuwider waren. Ihnen lag es am Herzen, den Einfluß der Religion als bestimmenden Faktor für sittlicher Handlungsweise zurückzudrängen oder, wie S w i f t es nennt, das Christentum abzuschaffen. Mit dem "Argument against abolishing Christianity" 65 ) wendet er 63) Prose Works: IV. S. 148—160. 64) Prose Works: III. S. 309. 65) Prose Works: III. S. 5—19.

— 94 —

sich gegen die Religion und Sittlichkeit zerstörenden Elemente seiner Zeit. S w i f t stellt zu Beginn seiner Satire mit Erstaunen lest, daß sich im Laufe eines halben Jahrhunderts die Auffassung über die Notwendigkeit des Christentums grundlegend gewandelt hat. Der Durchdringung des ganzen menschlichen Lebens mit christlichen Idealen und dem Ziel, einen Gottesstaat auf der Erde zu errichten, wie es die puritanische Republik wollte, ist in kurzer Zeit die Modeströmung gefolgt, alles Christentum abzuschaffen. Über die Ursachen dieses Wandels werden keine Betrachtungen angestellt. Vor dieser Moderichtung will S w i f t warnen. Zwar soll man ihn nicht für so einfältig halten, daß er die Absicht habe, das wahre Christentum zu verteidigen, etwa wie es zu urchristlichen Zeiten auf Glauben und Handlungen der Menschen Einfluß zu haben pflegte. Die Einführung dessen würde tatsächlich ein "wild project" sein; es würde alle Fundamente erschüttern, die ganze Gelehrsamkeit und den Wit des Königsreichs zerstören, den Handel ruinieren, Kunst und Wissenschaft samt ihrer Lehrer vertilgen, kurz, Höfe, Börsen und Kaufläden in Wüsteneien verwandeln. Jeder einsichtige Leser wird leicht erkennen, daß der Diskurs nur zur Verteidigung nominellen Christentums beabsichtigt ist; das andere Christentum ist ja in allgemeiner Zustimmung seit einiger Zeit ganz beiseite gelegt worden, da es sich mit dem gegenwärtigen System von Macht und Reichtum nicht verträgt. Mit Argumenten voller Ironie entfaltet S w i f t seine Tätigkeit gegen Sektenwesen und Deismus, den Feinden der Staatskirche. Ihre Theorien gibt er der Lächerlichkeit preis und zieht sich damit auf diese Weise, ihm selbst sicher nicht unbewußt, auf das Prinzip der Intoleranz zurück. Wem hat das Christentum und seine Institutionen Nachteile gebracht? Die Kosten der gesamten Religion sind nicht hoch; kaum kann man mit dem ganzen Gehalt der Geistlichkeit 200 junge Männer unterhalten. Schafft man aber die letzten Reste des Christentums und der Geistlichkeit ab, so würde es an einem Gegenstand fehlen, an dem geistreiche und gebildete Menschen ihren Witz zeigen können. Zudem würde zuweilen 0er Fall eintreten können, daß nach Abschaffung des Klerus in einigen Gemeinden überhaupt niemand mehr zu lesen oder zu schreiben verstünde. Die Vorteile, die man sich von der Abschaffung des Sonntags verspricht, beruhen gleichfalls auf falscher Kalkulation. — 95 —

Zu begrüßen wäre fraglos eine Abschaffung des Christentums, wenn, wie man voraussagt, damit alle Parteiungen, Tories und Whigs, High Church und Low Church, Staatskirche und Dissent etc. etc. sofort vom Erdboden verschwinden würden. Parteigeist ist aber mit der menschlichen Seele viel tiefer verschmolzen, als daß einige Ausdrücke, die man von der Religion geborgt hat, ihn allein ausmachten; es lassen sich ebenso schnell andere Bezeichnungen finden, die die Parteiprinzipien ium Ausdruck bringen. Es ist dem Menschen ganz gleich, mit welchen Beinamen man die Minister behaftet, um sie im Gegensatz zu denen, die es gern werden möchten, zu kennzeichnen. Sollte der menschliche Erfindungsgeist so beschränkt sein, daß er, wenn ihm die naheliegende Religion nicht mehr zur Verfügung steht, nicht neue passende Worte finden wird, um den Parteiunterschied zu bezeichnen? Man würde durch diese Maßnahme ebensowenig an den alten Zuständen ändern, als man, wenn durch einen Parlamentsbeschluß die Namen der Laster aus der englischen Sprache verbannt werden, a m nächsten Morgan tugendhaft erwacht. Auch hier würde die Abschaffung des Christentums also den erwarteten Vorteil nicht bringen. Eine Abschaffung würde weiter vielen Dingen ihren Reiz nehmen, denn man empfindet bekanntlich stets eine besondere Lust, etwas zu tun, wenn es verboten ist; damit würde das Leben noch langweiliger werden. — Ein anderer Vorschlag geht dahin, daß, wenn erst einmal das Evangelium abgeschafft sei, als Folge davon auch die Religion für immer verbannt wäre. Damit würden lästige Vorurteile schwinden, wie etwa Tugond, Gewissen oder Gerechtigkeit, die doch nur geeignet sind, den Seelenfrieden zu stören. Dann sollte man doch schon lieber ehrlich sein, und die Religion direkt ganz abschaffen. Und doch könnte sie einen kleinen Vorteil bringen. Nicht etwa den, daß die Religion als die Erfindung schlauer Männer die Menschen in Ehrfurcht halten könnte, — dazu sind selbst die Volksmassen schon' ebensosehr Freidenker und Ungläubige, wie die Herren vom höchsten Rang, — als daß vielmehr ein .so vertrauter Begriff von höheren Gewalten ganz vorteilhaft sein kann, u m Kinder in Furcht zu halten, wenn sie mürrisch werden, oder um ein spassiges Gesprächsthema f ü r lange Winterabende zu haben. Auch die Sekten werden nach der Abschaffung des Christentums nicht verschwinden. Der Geist der Opposition bleibt der Lieblingsfreund der Menschheit; ihn gab es schon vor der Einführung des Christentums, und er kann auch ohne es leichter bestehen. Und wenn m a n den Unterschied unter den Sekten — 96 —

genauer ins Auge faßt, so findet man, daß das Christentum dabei gar keine Rolle spielt; nirgends schreibt das Evangelium besonderes Gebahren oder Kleidung zum Unterschied von vernünftigen Menschen vor. Gäbe nicht die Religion dafür das Zeug her, so würde es schließlich zu Gegensätzen mit den Gesetzen des Landes und zur Störung des öffentlichen Friedens kommen. Enthusiasmus gibt es bei jedem Volke, und er will Beschäftigung haben. Die gibt das Christentum mit einigen Dogmen. Während man in anderen Ländern die verschiedenen Leidenschaften sich in Klöstern austoben läßt, bedarf es in England für jede Art einer besonderen Sekte. Wohin will die Regierung diese überschüssigen Kräfte leiten, wenn es kein Christentum mehr gibt? Neben den sogenannten „Vorteilen" durch die Abschaffung des Christentums bittet S w i f t doch auch einige Nachteile, die daraus entstehen könnten, aufmerksam zu beachten. Den Freidenkern würde der Gegenstand, an dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können, fehlen. "What wonderful productions of wit should we be deprived of, from those, whose genius by continual practice has been wholly turned upon raillery and invectives against religion, and would therefore never be able to shine or distinguish themselves upon any other subject" 6 e ). Wie kann man das einzige Thema, das geblieben ist, noch abschaffen, wenn man sich schon jetzt täglich über das Verschwinden der geistreichen Witzigkeit beklagt? Niemals würde man T o l a n d für einen Philosophen und T i n d a l für einen tiefgründigen Schriftsteller gehalten haben, wenn sie nicht den Gegenstand ihrer Themen so geschickt gewählt hätten. Auf Seiten der Religion wären sie sofort ewiger Vergangenheit anheimgefallen. Wenn sich nicht, fragt S w i f t weiter, bei einer Abschaffung des Christentums die Presbyterianer oder Katholiken die Gelegenheit zunutze machen, um ihre Konfession in den Vordergrund zu schieben? Das aber soll doch gerade vermieden werden, und das kann nur dadurch gelingen, daß man eben Jegliche Religion abschafft. Solange man noch einen Gott und eine Vorsehung hat, "with all the necessery consequences which curious and inquisitive men will be apt to draw from such premises" 67), ist das Übel nicht bei der Wurzel erfaßt. Denn die Freidenker wollen nicht Gedankenfreiheit, sondern Freiheit zu jeder Handlung; aber die sittliche Freiheit wird durch die Religion beschränkt. 66) P r o s e W o r k s : III. S . 17. 67) P r o s e W o r k s : III. S . 18.

— 97 —

Und sein Hauptargument gegen die Abschaffung spart S w i f t bis zum Schluß auf: "Whatever some may think of the great advantages to trade by this favourite scheme, I do very much apprehend, that in six months time after the act is passed for he extirpation of the Gospel, the Bank and East India Stock, may fall at least one per cent. And since that is fifty times more than ever the wisdom of our age thought' fit to venture for the preservation of Christianity, there is no reason we should be at so great a loss, merely for the sake of destroying it" 68 ). Es würde der Auffassung S w i f t s von der Religion und Sittlichkeit nicht entsprechen, wenn man ihn als von dieser Schrift innerlich unberührt hinstellen und sie nur für einen schönen Beweis seines eigentümlichen Humors halten wollte. Gewiß entwickelt er auch hier, indem er sich auf den Standpunkt der Freidenker stellt, die Prinzipien der Hochkirche und wendet sich mit scharfer Ironie gegen den Deismus und alle Toleranzbestrebungen. Man braucht aber nicht ein „wohlwollender Biograph" 6 9 ) zu sein, um darüber hinaus als die Triebkräfte, die hinter dieser Schrift stecken, wahre Religiosität zu erkennen. Tatsächlich erreicht der Sarkasmus in der Behauptung, wahres Christentum sei ein "wild project", man habe es auf allgemeinen Wunsch und Beschluß beiseitegelegt und der Versuch der Wiedereinführung müsse als unpraktisch abgelehnt werden, seinen Höhepunkt. Auch in dieser Schrift spielt, neben dem eigenen Gefühl aufrichtiger Religiosität, die Misanthropie für die Gedanken S w i f t s eine entscheidende Rolle und führt zu Äußerungen über das Christentum, denen man leicht einen falschen Sinn zumessen konnte; die Selbstverständlichkeit der Sprache und die Bestimmtheit des Ausdrucks mögen dabei ein Übriges getan haben. Trotz allem bleibt aber doch, wenn man die Grundeinstellung S w i f t s kennt, das wirklich religiöse Fundament unverkennbar; in dieser verdeckt liegenden Basis ist diese Schrift dem Project durchaus verwandt. Aber auch hier zeigt es sich wieder, daß S w i f t , so wie er die Dinge anfaßte, gar nicht die Möglichkeit hatte, im positiven Sinne für das Christentum zu werben. Seine Apologien sind grausam verzerrte Sarkasmen; unter seiner Feder wurde das Evangelium nicht liebenswerter, weil er die Menschen haßte, deren ganzes Leben in schreiendem Widerspruch zur Sittenregel der Bibel stand und er über diese Verdorbenheit nur zu grollen, sie der Lächerlichkeit preiszugeben, sie mit 68) Prose Works: III. S . 19. 69) M e y e, S. 66.

— 98 —

ätzender Kritik zu treffen verstand, er ihr gegenüber aber nicht den selbsterlebten Wert des Christentums aufzubauen vermochte. Jeder Vorschlag wurde, das war seiner Auffassung nach nötig, auf seine Zweckmäßigkeit im Leben geprüft; ihr entsprang unter der misanthropisch beeinflußten Beurteilung nach erfolgreicher Durchführbarkeit das abstoßende System S w i f t scher Projekte. Damit wird das Prinzip der Diesseitigkeit seiner Religionsauffassung entscheidend gefördert. Trostreiche Ausblicke auf das zukünftige Leben fehlen fast ganz, und die Transzendenz bleibt zunächst sittlichkeitsfördernder Faktor. So lag ihm die Auffassung fern, und seine Schriften beweisen das, das Leben nur als einen kurzen Traum zu begreifen, in Erwartung eines besseren Lebens nach dem Tode. Seine Gedanken bewegten sich nicht, wenn er über die Religion als Faktor der menschlichen Gesellschaft schrieb — diese Einschränkung ist gerade an dieser Stelle wieder zu betonen, — in mystischen und spekulativen Formen über die Grenzen des Todes hinweg in zeitlose Fernen, sondern hierin war S w i f t , wenn man von einigen Verzerrungen absieht, der Ausdruck einer durchaus gesunden Diesseitigkeit. Das bedeutet aber keineswegs minderwertigere Religiosität, wenn sie auch nicht gerade deutscher Mentalität so sehr entspricht. Diese Einstellung zur Religion schien für den Durchschnittsmenschen die geeignete, f ü r schwärmerische Gedanken hatte sie nicht viel übrig. Mochte sich der Einzelne darüber hinaus noch so viele eigene Anschauungen bilden, wenn er sie nur f ü r sich behielt und damit der Religion als sittlicher Lebensregel keinen Abbruch tat. Mit diesen Ausführungen mag die Einordnung S w i f t s in den Rahmen der anglikanischen Kirche genügend gekennzeichnet sein. Sowohl seine Anschauungen über Religion und Kirche, als auch die Arbeit, die S w i f t f ü r die Kirche innerhalb ihrer Organisation geleistet hat, zeigen, daß er ihr mit ganzem Herzen angehört hat. Mochte es noch so sehr den Gewohnheiten der Zeit entsprechen, daß man die Kirche zur Sicherstellung seines Lebensunterhaltes mißbrauchte, S w i f t s Eintritt in den geistlichen Stand hat sich nicht allein unter diesen Gesichtspunkten vollzogen. So wurde auch sein Wirken f ü r die Kirche in seiner Intensität nicht nur bedingt durch den Wunsch, sich in Geltung zu bringen, sondern auch durch die feste Überzeugung und das Bedürfnis, die eigene Stellung zu verteidigen mit den Gaben, die ihn dazu prädestinierten. Die Beachtung seiner sittlichen Unantastbarkeit und der Stärke seiner Charaktereigenschaft hat zu leicht unter der Wirkung seines feurigen Zornes, seiner abstoßenden Misanthropie und seiner erbarmungs— 99 —

losen Satire gelitten. Im Grunde seines Wesens besaß S w i f t doch ein ruhiges abgeklärtes Weltbild, das durch seine Konstruktion nach den weitsichtigen Prinzipien seines Genies in vielem seiner eigenen stolzen Zeit voraus war und das sich auch in seinen Schriften nicht verleugnet. S w i f t ruhte mit seinen Ansichten auf den Fundamenten der Aufklärung; das zeigt schon die Auffassung vom Diesseitswert der Religion. Die von rationalistischen Prinzipien erfüllte anglikanische Kirche konnte ihn dadurch bis zu einem gewissen Grade in ihren Bann ziehen, da beide praktische Moralität fördern wollten. Dabei unterwarf S w i f t die Selbständigkeit seiner Gedanken den Formen der kirchlichen Organisation nicht gänzlich. Er sah in der Kirche keineswegs einen identischen Ausdruck seines eigenen religiösen Innenlebens, sondern nur die Anstalt, die ihm unter denselben Gesichtspunkten einer moralischen Verbesserung der Menschheit zu arbeiten schien und die ihren Einfluß auf die Menschen in historischen Ereignissen bewiesen hatte. Die Konzentration auf die versittlichenden Kräfte der Kirche mußte, als weiteren Ausdruck der Aufklärung, eine Uninteressiertheit an dogmatischen Spekulationen nach sich ziehen. Das entsprach überhaupt der Geisteshaltung S w i f t s , dessen Neigungen sich zweckmäßigeren Zielen zuwandten, als dieser letzten Endes doch zwecklosen oder sogar schädlichen Beschäftigung. Die Unwichtigkeit des Dogmas vom Standpunkt des Utilitarismus hatte ihn zu seiner bitteren Satire im Tonnenmärchen gereizt, während er als Vertreter der in sich geschlossenen Hochkirche die Bedeutung des Dogmas für die Einheit der Kirche erkannte und es energisch gegen jeden Übergriff verteidigte. Seine Anschauungen über die Kirche und seine Parteistellung in ihr sind durchaus gemäßigt. Die Betonung des Einheits- und des Autoritäts-Prinzipes führten ihn folgerichtig auf die Seite der Hochkirche, die von dem Zeitpunkte an sein Werk maßgebend beeinflußte. Die extremen Verirrungen dieser Richtung konnte er wegen seiner gemäßigten und vernunftgegründeten Ansichten nicht billigen, sie entsprachen seiner taktisch richtigen Einstellung nach auch gar nicht den Interessen der Kirche. Dogma und Doktrinen waren wohl für die Einheit der Kirche da, aber diese durfte keinesfalls an ihnen scheitern. Die Ansichten S w i f t s über den Wert der Religion für die Gesellschaft, über ihre zwangsmäßige Durchführung, über den Wert des Dogmas, über die Einheit der Kirche, überhaupt alle Ansichten auf diesem Gebiet, sind Resultate vernunftgemäßer Überlegung. Bei der Betonung von Zwang und Ordnung —

100



k a m e n irrationalistische Momente in seinem System zu kurz. Auch die anglikanische Kirche hatte für Gefühlstiefe und überschwengliche Frömmigkeit wenig übrig. Als Gegengewicht gegen die nüchterne Verstandeskultur des Zeitalters bildete sich die Bewegung des Evangelikaiismus. Die Kirche hat zwar diese Kräfte f ü r sich eingespannt, sie ist aber nicht von ihnen bestimmt worden. S w i f t erwähnt sie fast gar nicht, es fehlen auch die Berührungspunkte mit der eigenen Auffassung von der Beligion, und er wird diesen Bestrebungen bei seiner Einstellung zur menschlichen Natur zumindest skeptisch gegenübergestanden haben. Das alles bedeutet kurz zusammengefaßt: in S w i f t verkörpert sich eine ganz bestimmte, wesentliche Einstellung jener Zeit. In der Form eines gemäßigten Rationalismus lebt er in Ideen der Versittlichung der Menschheit. Unter Auffassung der Religion als diesseitsbetonter Kraft im menschlichen Leben kommt er unter Vernachlässigung transzendenter Gesichtspunkte zu praktischen (wenn auch durch persönliche Mentalität verzerrten) Vorschlägen sittlicher Hebung. Die Gesamtheit dieser Ideen wiederum vermag er in den Rahmen der Staatskirche zu bringen, deren Kraft er erkennt und die er ganz im Geiste seiner Zeit sieht. Er kommt damit zur Ablehnung dogmatischer Spekulation und zur Übernahme der Doktrinen als eines leblosen, wenn auch wichtigen Fundamentes. Irrationalistische Strömungen dürfen dieses Bild der Kirche, in deren Einheit sich ihre Kraft repräsentiert, nicht stören. So trägt auch S w i f t die rationalistischen Tendenzen seines Zeitalters in die Kirche hinein, mit deren Interessen er die seinen eng verschmolzen hat.

— 101 —

KAPITEL IV. Swift und der Dissent.

S w i f t war fest mit den Bestrebungen der Hochkirche verbunden, es mußte ihn drängen, sich ihr gegenüber nützlich zu erweisen. Man könnte vemuten, daß das moralische Grundelement ihn vielleicht doch auf die Arbeit im kleineren Kreise einer Gemeinde durch Predigt und durch Verkehr mit den einzelnen Mitgliedern seines Kirchspiels verwiesen hätte. Obgleich S w i f t diese Art geistlicher Beschäftigung nicht vernachlässigt hat, lag sie ihm doch nicht. Wahrscheinlich war ihm ein solcher Wirkungskreis zu beschränkt, er entsprach seinen Fähigkeiten nicht. Zum Reformer und Moralphilosophen fehlte ihm, wie schon gesagt wurde, die natürliche Veranlagung. Die Abneigung gegen spekulative Betrachtungen über Dogmatik und Offenbarungsprobleme, die in diesem Zeitalter so viel Beschäftigungsmöglichkeiten verliehen, ließen ihn auch auf diesem Gebiet unfruchtbar bleiben. Näher lag die Beschäftigung auf kirchenpolitischem Gebiet; Scharfsichtigkeit und historische Kenntnisse ließen ihn in ungewöhnlichem Maße die größeren Zusammenhänge der religiösen und kirchlichen Angelegenheiten seiner Zeit erkennen. Der Verkehr mit den Führern der Politik und der Kirche gab ihm einen tiefen Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse und bis zu einem gewissen Zeitpunkt konnte er die Information über die Entwicklung aus erster Quelle genießen. Bis ins späte Alter stand S w i f t inmitten des politischen Getriebes, auf diesem Gebiet lag wie in weltlichen so auch in kirchlichen Fragen in ganz besonderem Maße seine Fähigkeit. Schon die meisten Schriften, von denen bisher gehandelt wurde, trugen das Merkmal kirchenpolitischer oder taktischer Zielsetzung; sie hatten sich entweder mit den Fragen der inneren Einheit der Kirche befaßt oder sich für die Kirche gegenüber Parlamentsvorstößen und Eigentumsbedrohungen eingesetzt. Auch die Schriften, die sich allgemein mit der christlichen Religion zu befassen schienen, waren im Grunde trotz —

102



verschiedener Motive nichts anderes als politische Pamphlete zu Gunsten der anglikanischen Kirche. Aus ihnen hatte das Gefühl der Unantastbarkeit der staatskirchlichen Rechte gesprochen, und u m diese zu sichern, verlegte S w i f t zeitweise seinen schriftstellerischen Kampf auf das Gebiet der Befehdung aller Feinde, die von außen die Alleinherrschaft der Church of England bedrohen konnten. Als Gegner der anglikanischen Kirche konnten zunächst zwangsläufig diejenigen gelten, die ihr nicht angehörten. Solange diese aber Einzelkräfte blieben, wurden sie der Kirche nicht gefährlich und sie an die Kirche zu fesseln, hat sich S w i f t in seinen Schriften, wenn er es auch als ein Ziel des geistlichen Berufes erkannte, sich bemüht. Wenn sie ihre Gedanken f ü r sich behielten und keine Unruhe stifteten, blieben sie f ü r S w i f t gleichgültig. Anders mußte es mit jeder religiösen Organisation stehen, die dieselben Funktionen wie die der Staatskirche erfüllte, dieser also auf ihren speziellen Arbeitsgebieten begegnen mußte und bei steigender Anhängerzahl ähnliche Privilegien und Rechte wie die gesetzlich fundierte Kirche fordern würde. Mit diesem Vordringen wurde nicht nur die Anhängerzahl der Kirche vermindert, sondern auch die Stellung der Kirche als der einzigen staatlich anerkannten religiösen Organisation gefährdet, was immerhin schon ein Schritt in der Entwicklung sein mußte, daß die Kirche wie alle anderen Sekten zu einer staatlich anerkannten Privatgesellschaft herabsank. Das widersprach aber der Einstellung, die S w i f t über Sinn, Ziel und Einheit der Kirche hatte; aus diesen Gedankengängen heraus scheint der betonte Gegensatz zum Dissent nicht weiterer Erklärung zu bedürfen. Die Antipathie hatte ihren Grund nicht nur im Kirchenpolitischen. Eine Folge des Zeitalters der Aufklärung, bedingt durch die große Revolution und den Glaubensstaat Cromwells, war das Entstehen neuer religiöser Bewegungen, deren gemeinsamer Charakter sich etwa in den Hauptthemen: Verinnerlichung und Individualisierung der Religion unter dem Gesichtspunkt der Entfernung von der autoritativen Kirche zusammenfassen ließe. Die aus diesem Gefühl entstehenden Sekten setzten sich zum Vorbild eine religiöse Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaft, unter Abkehr von einer von der Kirche durchgeführten Staatsmoral. So trennen sie zunächst die Sache der Religion von der des Staates und machen sie zu einer staatsfreien Sphäre individuellen Innenlebens, was vielleicht wahrer Religiosität in unserem Sinne am nächsten liegt. Der englische — 103 —

Staatskirchengeist, ebenso wie die Auffassung S w i f t s , widersprachen diesen Bestrebungen der Loslösung, wogegen S w i f t zu Zwang und einheitlicher Zusammenfassung drängte. Zudem hatte S w i f t aus der Geschichte des Sektenwesens gelernt. Der Presbyterianismus schien zwar vorerst nichts weiter zu erstreben, als neben der Kirche eine staatliche Gleichberechtigung zu erlangen, aber S w i f t verkannte die Tendenzen dieser Sekte nicht, wenn er, seine Folgerungen aus dem Verlauf der puritanischen Revolution ziehend, die presbyterianische Machtpolitik immer wieder zu brandmarken versuchte: ihr Ziel blieb die eigene Vormachtstellung. So wertete S w i f t am Kalvinismus hauptsächlich nur den Gegensatz zur Staatskirche, während seine neue religiöse Geisteshaltung weniger Beachtung fand. — Es wäre ein falscher Weg, bei der Höhe der Charaktereigenschaften S w i f t s die Motive für den Gegensatz zum Dissent im Gefühl des Futterneides oder in der Angst vor der Gefährdung kirchlichen Eigentums im besonderen suchen zu wollen. In dieser Beziehung mag schon an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß S w i f t sich gegen Gegner, von denen eine persönliche Gefährdung ebensowenig zu befürchten war, wie vom Dissent, mit der gleichen Heftigkeit wandte: gegen die Deisten. In der Beurteilung der kirchenpolitischen Stellungnahme S w i f t s scheint im wesentlichen das Motiv des Selbstzweckes für die Betrachtung überflüssig zu sein; für die Tätigkeit S w i f t s kann es höchstens intensivierend, niemals aber richtunggebend gewirkt haben. Die schriftstellerische Tätigkeit S w i f t s für die hochkirchlichen Ziele erforderte in gleichem Maße eine Abwehr- und Angriffsstellung gegen alle Gegner. Der Haß gegen diese Feinde ist vom ersten Augenblick an gleich stark im Vergleich zu späteren Ausfällen, obgleich sich die Verhältnisse im Leben S w i f t s vielfältig wandeln. Hochkirche bedeutet Kampf dem Dissent, wenn die Prinzipien als solche auch noch so gemäßigt sein mögen. "Pox on the Dissenters and Independents!" *) Vorstöße gegen diese Gegner der Kirche hatte S w i f t in fast jeder sowohl kirchlichen als auch politischen Schrift unternommen, der Gegensatz zu Nonkonformisten folgt seiner literarischen Produktion seit der Ode an den Erzbischof S a n c r o f t 2 ) und findet nach diesem Beweis seines Hasses einen Höhepunkt in Tonnenmärchen. Die Intensität dieses Hasses gegen alles Dissenterwesen gilt als Zeichen dafür, wie hoch er die Gefahr, die aus diesem Lager der Staatskirche drohte, 1) Corr. I. S. 44. 3. Febr. 1704.

2) Poems, Bd. I, S. 1—8.

— 104 —

schätzte. Der dauernde Hinweis auf diesen Gegner gleicht einem Carthaginem esse delendam. Die historische Entwicklung des Kirchenwesens in England ist der beste Beweis dafür, daß er die Größe der Gefahr von dieser Seite tatsächlich richtig gewertet hat. S w i f t warf sich mit seinem Kampf f ü r die Machtstellung der Kirche in einen Strom, der ihm politisch und geistesgeschichtlich entgegenarbeitete, so daß selbst die ungeheure Kraft seiner Arbeit nur beschränkte und zeitlich bedingte Erfolge hatte. Letzten Endes ist die Entwicklung über seine politischen und kirchlichen Ziele hinweggeschritten. Trotzdem aber ist die Zähigkeit, mit der S w i f t f ü r die herrschende Stellung seiner Kiche arbeitete, obgleich ihm nach 1714 fast alles entgegenwirkte, zu 'bewundern, da obendrein ihm letzthin die Aussichtslosigkeit seines Beginnens nicht unerkannt geblieben ist 3 ). In Irland nahm der Gegensatz zwischen der anglikanischen Kirche und den Nonkonformisten besonders scharfe Formen an. Nicht daß hier der hochkirchliche Geist in erhöhtem Maße aktiv gewesen wäre; zwar verfochten C h a r l e s L e s l i e und D o d w e 11 die Theorien der Nonjurors in Irland, B e r k e 1 e y vertrat hartnäckig die Lehre vom passiven Gehorsam, und auf den Universitäten zeigten sich jakobitische Umtriebe 4 ). Die Ursache, daß die Kirche in Irland viel intoleranter sein mußte als beispielsweise in England, war viel ernsthafterer Natur. Der wirtschaftliche Niedergang Irlands hatte vor der Revolution zu einer umfangreichen Auswanderung geführt, der durch die Billigkeit von Grund und Boden eine ständige Einwanderung schottischer Presbyterianer gefolgt war. Zahlenmäßig gewannen sie schon während der Regierungszeit der Königin Anna die gleiche Stärke wie die Angehörigen der bischöflichen Kirche, während sie im Norden, dem nächstliegenden Einwanderungsgebiet in der Überzahl waren. Politisch blieb ihr Einfluß vor der Einführung der Testakte gering, da sie, vorwiegend Händler und Bauern, kaum im irischen House of Commons vertreten waren. Die Toleranzakte Wilhelms III. war nicht auf Irland ausgedehnt worden, da die Majorität im House of Lords in ihr eine Gefährdung der irischen Staatskirche erblickte. Trotzdem hatte man eine allgemeine Duldung schon vorher durchgeführt, die seit Karl II. in dem Regium Donum f ü r die presbyteriani^ 3) Corr. I, S. LV. 4) P r o s e W o r k s : IV. S. 6