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German Pages [601] Year 2013
JOHANNES URZIDIL (1896–1970)
Ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York
HERAUSGEGEBEN VON STEFFEN HÖHNE, KLAUS JOHANN, MIREK NĚMEC
:: INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT
Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar), Alice Stašková (Prag/Berlin) und Václav Petrbok (Prag)
Band 4
JOHANNES URZIDIL (1896–1970) Ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York
Herausgegeben von Steffen Höhne, Klaus Johann und Mirek Němec
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Steffen Höhne ist Professor am Institut für Musikwissenschaft, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar-Jena. Klaus Johann ist Literaturwissenschaftler in Münster und Mitherausgeber des Johannes-Urzidil-Lesebuches „HinterNational“. Mirek Němec arbeitet am Institut für Germanistik der Jan-Evangelista-PurkyněUniversität Ústi nad Labem (Tschechien).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einem Porträt-Holzschnitt von Ernst Weber (s. auch S. 10). Mit freundlicher Genehmigung von Ernst Weber, Lenzburg.
© 2011 by the contributors and by the editors. © 2011 Jan Evangelista Purkyně University in Ústi nad Labem, Faculty of Philosphy. © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com This work is licensed under the Creative Commons NamensnennungNicht kommerziell 4.0 International License. To view a copy of this license, visit http://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ ISBN (Print) 978-3-412-20917-9 ISBN (OA) 978-3-412-21134-9 https://doi.org/10.7788/boehlau.9783412211349
Inhaltsverzeichnis Vorwort...................................................................................................................11
Einführung Der verlorene/unverlierbare Johannes Urzidil? Perspektivierende Bemerkungen zur Publikationsund Rezeptionsgeschichte Klaus Johann..............................................................................................................13
Geistiges Profil Johannes Urzidil im Spannungsfeld von Kultur und Politik Steffen Höhne.............................................................................................................53 Urzidil zwischen Engagement und Distanzierung. Geistige Verwandtschaften zwischen Norbert Elias und Johannes Urzidil Isabelle Ruiz...............................................................................................................75 Johannes Urzidil – Bohemismus, Begegnungen mit Bolzano Kurt F. Strasser..........................................................................................................89 Urzidil und die Moderne. Zur Rekonstruktion eines Konzepts der Moderne im literarischen und essayistischen Werk Johannes Urzidils Tom Kindt, Hans-Harald Müller..............................................................................115
Lyriker und Übersetzer im Umfeld des ‚Prager Kreises‘ Generation im Aufbruch. Johannes Urzidil und der Prager Kreis Ekkehard W. Haring...............................................................................................127
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Inhaltsverzeichnis
Manieristische ‚Gebilde‘: Sturz der Verdammten. Die frühe expressionistische Lyrik von Johannes Urzidil Klaus Schenk............................................................................................................145 Johannes Urzidil als Übersetzer Otokar Březinas Anne Hultsch...........................................................................................................167
Politischer Publizist Johannes Urzidil – politischer Kommentator der deutsch-tschechischen Frage in der Tschechoslowakei (1918-1939) Michael Havlin........................................................................................................189 Hinternationalismus und Nationalhumanismus. Johannes Urzidil und Max Brod über die Nationalitätenfrage Gaëlle Vassogne........................................................................................................201 Zur Charakteristik Johannes Urzidils als Schriftsteller und Journalist unter Zugrundelegung seiner Tätigkeit für die Freimaurerzeitschrift Die Drei Ringe und seiner Korrespondenz mit Josef Matouš Jitka Křesálková.......................................................................................................217
Kunstbetrachter, -historiker und -sammler Schöpferische Kunstbetrachtung nach Johannes Urzidil. Theoretische Erörterung und literarische Bilder zu Die Herzogin von Albanera und Der Schauspieler Gabriela Brudzyńska-Němec....................................................................................243 Der Mythos vom „Mythus der Hände“ – Johannes Urzidils Lektüre von Leonardo da Vincis Stimme für die Augen Michaela Nicole Raß................................................................................................255
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Inhaltsverzeichnis
Johannes Urzidil als Hollar-Biograph Ralph Melville..........................................................................................................275 Johannes Urzidils private Kunstsammlung und ihr Schicksal Milada Minaříková, Miloš Minařík.........................................................................297
Literarhistoriker und Essayist Johannes Urzidils Weltbild im Spiegel seiner Essays zu Goethes Faust Alwin Binder............................................................................................................311 Johannes Urzidils Goethe in Böhmen im Kontext der tschechoslowakischen Goethefeiern 1932 Václav Petrbok........................................................................................................319 Purkyně in Böhmen. Zur Entstehung des ‚Hinternationalismus‘ von Johannes Urzidil Mirek Němec...........................................................................................................343 Der „Wunsch nach Präsenz“ in Johannes Urzidils Goethe in Böhmen und in seinen Erzählungen der Erinnerung Jonathan Schüz.........................................................................................................363 Johannes Urzidils Kunstprosa im Exil – Paradigmen einer Erinnerungskunst Klaus Weissenberger..................................................................................................385 Johannes Urzidil, Günther Anders und Gustaw Herling-Grudziński: Drei zentraleuropäische Autoren im Exil lesen Kafka Monika Tokarzewska..............................................................................................395
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Inhaltsverzeichnis
Briefwechsel und Freundschaften im Exil Die „gute Prager Stimme aus New York“. Johannes Urzidils Exil-Korrespondenz mit Prager Autoren Valentina Sardelli.....................................................................................................415 Johannes Urzidils Verbindung zu seiner Mäzenin Bryher, zu der Lyrikerin Hilda Doolittle und seine Übersetzung von Doolittles By Avon River Gerhard Trapp.........................................................................................................431 „Meere zwischen uns und Kontinente des Schlafs“. Johannes Urzidils Briefwechsel mit Christine Busta Verena Zankl..........................................................................................................453
Erzähler im Exil – Böhmen und New York LIEBE oder Beile? Eine perspektivische Betrachtung zum ästhetischen Charakter von Johannes Urzidils Roman Die verlorene Geliebte Filip Charvát............................................................................................................475 Urzidil wie Rothacker wie Watzlik? Johannes Urzidil als Grenzland-Dichter Ingeborg Fiala-Fürst.................................................................................................489 „Zu den neun Teufeln“ Myriam Richter, Hans-Harald Müller.......................................................................499 Schlüsselerlebnisse im Leben eines Menschen und Künstlers. Das Bild Václav Hollars in Johannes Urzidils Erzählung Das Elefantenblatt und in Miloš V. Kratochvíls Roman Dobrá kočka, která nemlsá Jindra Broukalová....................................................................................................507
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Inhaltsverzeichnis
Der Blick auf New York: Heimat oder Fremde? Johannes Urzidils Das Große Halleluja im Kontext der deutschsprachigen New Yorker Exilliteratur Jana Mikota.............................................................................................................523 Von Zinshäusern und Stahlpalästen: Johannes Urzidils New Yorker Soziotope Vera Schneider.........................................................................................................539 Erinnerung als Konstante in Johannes Urzidils erzählerischem Werk Anja Bischof.............................................................................................................561 Anhang Bibliographie der selbständigen Veröffentlichungen Johannes Urzidils. Eigene Werke, Übersetzungen, Bearbeitung, Herausgeberschaft, Urzidil-Anthologien Klaus Johann............................................................................................................569 Personen- und Ortsregister..................................................................................579 Adressen der Autoren..........................................................................................593
Ernst Weber, Johannes Urzidil (Holzschnitt, 33 X 20 cm. Aus: Ernst Weber: Dichterwelten. Ein literarischer Bilderspiegel. Vorw. v. Peter André Bloch. Olten: Schelbert 2011, 63. © by Ernst Weber, Lenzburg.).
Vorwort Johannes Urzidil (1896-1970), nie um ein Goethe-Wort verlegen, hätte dem vorliegenden Band vielleicht folgenden Vers des Theaterdirektors aus dem Vorspiel auf dem Theater aus Faust I vorangestellt: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen [...]“ (V. 96). Denn in der Tat geben Vielzahl und Vielfalt der hier versammelten Beiträge eine gute Übersicht über das in Inhalt und Form überaus facettenreiche Werk dieses bedeutenden Prager deutschen Schriftstellers. Erstmals wird hier Urzidils in seiner böhmischen Heimat wie im New Yorker Exil entstandenes Gesamtwerk in dieser Breite en bloc in den Blick genommen und Urzidils Bedeutung nicht nur als Erzähler und Lyriker, sondern zugleich auch als politischer Zeitungs- und Rundfunkjournalist, als Verfasser von kunst-, kultur-, literatur- und landesgeschichtlichten Essays und Monographien sowie als Übersetzer aus dem Tschechischen und Englischen vorgestellt und diskutiert. Die 31 Beiträge von 33 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, der Slowakei, Tschechien und den USA repräsentieren zugleich das weite Spektrum der internationalen Urzidil-Forschung aus literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive. Dabei wird deutlich, aus welch unterschiedlichen wissenschaftlichen Interessen eine Beschäftigung mit Urzidil lohnt und mit welch unterschiedlichen Herangehensweisen man sich seinem Werk mit wissenschaftlichem Ertrag annähern kann. Um bei der Vielzahl der Beiträge eine gewisse Übersichtlichkeit zu erlangen, werden diese unter verschiedene Kategorien subsumiert, deren Abfolge sich grob an Urzidils Biographie orientiert; innerhalb der Kategorien sind die Beiträge wiederum chronologisch nach dem frühesten jeweils behandelten Text angeordnet (nur beim Erzählwerk werden die Beiträge zu ‚böhmischen‘ und zu ‚amerikanischen‘ Texten separat aufgelistet). Schon an den Titeln vieler Beiträge wird deutlich, dass sie auch in andere Kategorien gepasst hätten; sie sind im besten Sinne und frei nach Urzidil ‚hinterkategorial‘. So werden bereits an den Titeln vielfältige Querverbindungen erkennbar, die dann durch entsprechende Hinweise in den Beiträgen selbst zusätzlich hervorgehoben werden. Die meisten der hier abgedruckten Beiträge sind überarbeitete Vorträge der dritten internationalen und interdisziplinären Johannes-Urzidil-Konfe-
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Vorwort
renz, die die Herausgeber vom 4. (Vorprogramm) bzw. 5. bis 9. Mai 2010 in Ústí nad Labem (Aussig) organisiert haben.1 Daher möchten sich die Herausgeber bei all denen bedanken, die am Zustandekommen dieser Konferenz beteiligt waren, zunächst beim Lehrstuhl für Germanistik an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität (Ústí nad Labem) als Gastgeber, ebenso bei den Mitveranstaltern, dem Collegium Bohemicum (Ústí nad Labem), dem Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren, dem Österreichischen Kulturforum Prag und der Společnost Johannese Urzidila [Johannes-UrzidilGesellschaft] (České Budějovice [Budweis]). Das kulturelle Vor- und Begleitprogramm der Konferenz gestalteten Vera Schneider (Berlin), das Theater Činoherní studio (Ústí nad Labem), Blanka Mouralová (Ústí nad Labem), Brita Steinwendtner (Salzburg), František Černý (Prag), Šárka Chárová (Teplice [Teplitz]) und Ingo Kottkamp (Berlin). Nicht zuletzt danken wir den studentischen Konferenzhelferinnen und -helfern unter der Leitung von Milan Rudik. Gedankt sei ferner den Institutionen, ohne deren finanzielle Förderung die Konferenz nicht möglich gewesen wäre: dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds (Prag), der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung (Köln), der JanEvangelista-Purkyně-Universität (Ústí nad Labem), dem Österreichischen Kulturforum Prag und dem Goethe-Institut in Prag. Dafür, dass der vorliegende Band in dieser Form erscheinen kann, bedanken wir uns beim Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds (Prag), der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung (Köln) und der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität (Ústí nad Labem). Ernst Weber (Lenzburg) sei dafür gedankt, dass er uns seinen Urzidil so trefflich charakterisierenden Holzschnitt für die Gestaltung des Einbandes zur Verfügung gestellt hat. Mit diesem Band, der in der Summe seiner Teile auch eine Art UrzidilHandbuch (freilich mit Lücken) bietet, soll – das ist der Wunsch der Herausgeber – der, nicht zuletzt auch in seiner (wie er selbst es nannte) ‚hinternationalen‘ Orientierung als Mittler zwischen Deutschen und Tschechen, Christen und Juden, Europa und Amerika, wichtige Schriftsteller und Intellektuelle Johannes Urzidil wieder stärker in den Fokus wissenschaftlicher Beschäftigung wie auch des allgemeinen kulturellen Bewusstseins gerückt werden. Wenn dies gelänge, hätte unsere Arbeit ihren Sinn erfüllt. Weimar, Münster, Ústí nad Labem im April 2012
Die Herausgeber
1 S. a. den Konferenzbericht: Schneider, Vera (2010): Ein „hinternationaler“ Schriftsteller aus Böhmen: Dritte internationale Johannes-Urzidil-Konferenz. In: Bohemia 50/1, 178182; auch in: Aussiger Beiträge 4, 197-203; auch in: brücken NF 18/1-2, 410-415.
Klaus Johann
Der verlorene/unverlierbare Johannes Urzidil? Perspektivierende Bemerkungen zur Publikationsund Rezeptionsgeschichte1 Für Egon Schwarz zum 90. Geburtstag in freundschaftlicher Verbundenheit
1. Der ‚verlorene‘ Urzidil?
Johannes Urzidil fühlte sich der deutschen Sprache als „meinem geistigen Lebensquell“ (Urzidil 1972b: 195) in höchstem Maße verbunden (Thieberger 1986: 40-43). „Jeder Autor ist“, so schreibt er in dem schon zu Beginn der Exilzeit (ironischerweise zunächst 1945 auf Englisch) erschienenen Essay Die Sprache im Exil, „von Natur aus an das Instrument der Sprache fixiert, ja man kann sagen, er selbst sei dieses Instrument, er selbst sei die Sprache.“ (Urzidil 1946: 20) Gut zwanzig Jahre später heißt es in Urzidils Dankrede zum AndreasGryphius-Preis 1966 unter Bezug auf sein vielzitiertes Diktum (Urzidil 1956: 52): Wenn ich einmal gesagt habe, meine Heimat sei, was ich schreibe, so war dies ein Symbol für das Zufluchtsichernde der Sprache, in der ich die Heimat lebte und an der ich in den Zeiten ihrer großen Trübsal und Bedrängnis festhielt, indem ich […] jahrelang und ohne die geringste Aussicht auf Veröffentlichung Buch um Buch niederschrieb. (Urzidil 1967: 20)
Und in dem Unvoreingenommene[n] Rückblick auf sein Leben aus demselben Jahr erklärt Urzidil sogar: Die Sorge um die Menschen meiner Sprache liegt mir besonders am Herzen; nicht etwa mehr als die um die Menschen anderer Sprache, aber besonders, weil eine große Zahl von 1 Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Urzidil-Konferenz 2010 und allen Beiträgerinnen und Beiträgern des vorliegenden Bandes danke ich für vielfältige Anregungen und Hinweise, insbesondere meinen beiden Mitorganisatoren und Mitherausgebern Steffen Höhne (Weimar) und Mirek Němec (Ústí nad Labem [Aussig]). Wenn im folgenden ohne nähere Angabe auf einen Beitrag verwiesen wird, ist immer einer im vorliegenden Band gemeint.
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Klaus Johann ihnen im Schatten einer unverjährbaren Schuld [sc. der Shoa und des Zweiten Weltkrieges; KJ] steht, die gegen den Geist dieser Sprache verübt wurde. Denn in der Sprache liegt die Sittlichkeit einer Nation. Schuld ist ein Gemeingut. Die großen Religionen führen uns vor Augen, wie sehr ein jeder verantwortlich ist, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seinen Nächsten. Denn – wie der Apostel sagt – keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst. Die Idee der Gemeinverantwortung ist eine der Grundideen der Freimaurerei, die sie mit den Religionen verknüpft hält. Die Liebe zu meiner Sprache als meinem geistigen Lebensquell verpflichtet mich denen, die ihr angehören. In dem vollen Bewußtsein solcher Zugehörigkeit bekundet sich aber bereits das Inbegriffensein in den Auftrag der Sühne. Hier wird die entscheidende Aufgabe des deutschen Schriftstellers augenfällig. (Urzidil 1972b: 194f.)
Manche Begrifflichkeiten, deren Urzidil sich hier bedient, mögen uns Heutigen fremd erscheinen und erklärungsbedürftig sein, vor allem, was der „Geist dieser Sprache“, also des Deutschen, sein mag. Aber davon abgesehen ist doch etwas anderes viel wichtiger: Urzidil, der schon in den dreißiger Jahren, spätestens ab 1934, von Prag aus als Autor in seinen Artikeln gegen die Nazis gekämpft2 und der 1939 mit seiner Frau, der Dichterin Gertrud(e) Urzidil,3 als sogenannter „Geltungsjude“4 in höchster Lebensgefahr aus seiner Hei2 Hier sind insbesondere Urzidils Artikel in der von ihm von 1934 bis 1938 herausgegebenen Freimaurerzeitschrift Die Drei Ringe zu erwähnen, in denen er spätestens ab 1934 eindeutig und polemisch Position gegen den Nazismus bezieht (Urzidil 2001a, b); s. dazu Křesálková (2000b) sowie den Beitrag von Jitka Křesálková. Hinzuweisen ist ferner auf seine unter dem Pseudonym Jean Dupont 1936 bis 1938 im Genfer Journal des Nations veröffentlichten Artikel (Trapp 1996; 1999b: 130-132). Weitere antinazistische Artikel erschienen in anderen Zeitungen und Zeitschriften, etwa in Ferdinand Peroutkas Přítomnost (Ruiz 1997: 57-81; Trapp 1999b: 129f.). Zu Urzidils publizistischer Tätigkeit gegen die Nazis im Exil, vor allem in den Presseorganen der tschechoslowakischen Exilregierung, s. Trapp/Heumos (1999) und Thunecke (2009). S. im übrigen zu dieser Thematik auch den Beitrag von Steffen Höhne. 3 Zu Gertrude Urzidil s. Thunecke (2010); eine Anthologie ihrer Texte nebst ausführlicherem biographischen Abriss bereiten Christiana Puschak und Jürgen Krämer (Berlin) vor, denen ich für diesen Hinweis danke. 4 Die umgangssprachliche Bezeichnung „Geltungsjude“ war die „Bezeichnung für eine Person, die im Sinne der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 ‚als Jude galt‘, im Unterschied zu den Personen, die nach der Definition des Gesetzes ‚Juden waren‘ [...]. Die im Gesetz vorgesehenen diskriminierenden und entrechtenden Maßnahmen betrafen die beiden [...] Gruppen jedoch in gleicher Weise.“ (Schmitz-Berning 2000: 258f.) Auf Urzidil traf folgende Bestimmung des Gesetzes zu: „Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen Großeltern [den Eltern seiner zum Katholizismus konvertierten Mutter; KJ] abstammende staatsangehörige Mischling, [...] der beim Erlaß des Gesetzes mit einem Juden [Gertrude Urzidil; KJ] verheiratet war [...].“ (Schmitz-Berning 2000: 259) Zwar war Urzidil beim Einmarsch der deutschen Truppen in Prag nicht mehr (wie 1930 bis 1935)
Der verlorene/unverlierbare Johannes Urzidil?
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matstadt hat fliehen müssen, leitet hier für sich – nicht unähnlich Thomas Mann (1977) – als Schriftsteller aus der Zugehörigkeit zur deutschen Sprachgemeinschaft die Pflicht ab, durch sein Werk zur Sühne für jene Nazibarbarei beizutragen, deren Opfer und publizistisch aktiver Gegner er war. Wer nun darüber nachdenkt, warum ein doch relativ erfolgreicher Autor wie Johannes Urzidil bald nach seinem Tode in ‚seinem‘, dem deutschen Sprachraum in fast völlige Vergessenheit geriet, mag dieses Verantwortungsgefühls des Schriftstellers zumindest eingedenk sein und sich fragen, ob es nicht auch umgekehrt gelten sollte und die deutsche Sprachgemeinschaft, wie immer man sie definieren mag, nicht auch eine Verantwortung gegenüber Urzidil (und den vielen anderen in der Nazizeit ermordeten und ins Exil vertriebenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern) hat. Für das Vergessen Urzidils im deutschen Sprachraum bald nach seinem Tod kann man indessen verschiedene Gründe finden:5 Mitte und Ende der sechziger Jahre wurde, in Fortführung schon seit der Jahrhundertwende 1900 geführter Diskurse, heftig über die Krise oder gar das Ende des Erzählens, wenn nicht überhaupt der Literatur diskutiert (Bullivant/Briegleb 1992; Johann 2000: 28f.), eine Debatte, an der sich auch Urzidil schon recht früh gewohnt meinungsstark beteiligte (Urzidil 1965). Eine solche Zeit aber war für einen „Naturerzähler“, so Heinz Politzers6 (1972: 497) mehrdeutiges Prädikat für Urzidil, im literarischen Diskurs (nicht unbedingt beim breiteren Lesepublikum)7 eine schwere Zeit, auch wenn er die Forderungen Walter Benjamins und Theodor W. Adornos an einen Erzähler gleichermaßen erfüllte: Urzidil konnte „rechtschaffen etwas erzählen“ (Benjamin 1991: 439), und er hatte „etwas Besonderes zu sagen“ (Adorno 1997a: 42). Die Erfüllung der zeittypischen Forderung (Bullivant 1992) nach einer Politisierung8 der Literatur kam für einen ‚distanzierten‘ Autor9 wie Urzidil freilich nicht infrage. Auch die darauffolgende Phase der „Neuen Subjektivität“ (Marcel Reich-Ranicki) in der deutschsprachigen Literatur der siebziger Jahre (Schlösser 1992) war keine,
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preußischer, sc. deutscher, sondern (seit 1935) wieder tschechoslowakischer Staatsbürger (Trapp/Minařík 2008), dennoch muss ihm klar gewesen sein, dass das ihn und seine Frau nicht vor Diskriminierung, Entrechtung und Ermordung hätte schützen können. S. auch neuerdings die Überlegungen bei Quinkenstein (2011: 64). Zu Urzidil und Politzer (1910-1978) s. Johann (2008: 6f.), Weber (2008: 218f.) und Sardelli (2009: 33-37). Darauf weisen zumindest die Neuauflagen, Lizenz- und Taschenbuchausgaben von Urzidils Büchern in dieser Zeit hin. Wobei Adorno in seinem George-Essay (1997b) zeigt, dass auch vermeintlich unpolitische Dichtung eminent politisch sein kann. S. hierzu den Beitrag von Isabelle Ruiz.
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Klaus Johann
in die Urzidils Werk, bei aller Autobiographik, gut gepasst und in der es hätte Aufmerksamkeit erzeugen können; resignative Grübeleien und manisches Psychologisieren waren seine Sache nicht. Zu diesem Aus-der-literarischen-Mode-Sein kam eine oberflächliche und verengte Rezeption: Urzidil wurde vielfach lediglich als erinnerungsseliger Erzähler nostalgischer autobiographischer10 Geschichten gelesen. Als beispielhaft für diese Tendenz kann Max Brods durchaus freundschaftliches, aber doch vielfach missverstandenes Wort von Urzidil als dem „großen Troubadour jenes für immer versunkenen Prag“ gelten – meist unbeachtet bleibt aber dabei, dass Brod noch hinzufügt, Urzidil sei „weit entfernt davon, ein Prag-Spezialist sein zu wollen“ (Brod 1966: 170f.). Und gewiss ist auch Peter Demetz zuzustimmen, dass Urzidils „Meisterschaft nicht zuletzt darin [besteht], als gelehrtester aller Prager deutschen Schriftsteller zu erzählen und seine Gelehrsamkeit dabei höflich zu verbergen, um die Leute nicht zu stören, die ihn partout als Herz- und als provinziellen Heimatschriftsteller lesen wollten“ (Demetz 2006: 139). Urzidil legt also diese oberflächliche – und für den ‚gemeinen‘ Leser ja auch durchaus legitime – Lektüre zwar nicht unbedingt nahe, ermöglicht sie aber doch. Dabei ist er in der Tat, wie Giuseppe Farese (1986) ihn nennt, „ein Schriftsteller der Erinnerung“, aber diese Erinnerung ist, so auch schon Farese, eben keine bloß nostalgische, sondern eine vielfach reflektierte, oftmals ironisch gebrochene.11 Mit dem ‚Nostalgieverdacht‘ ging häufig das ebenso nur oberflächlich (wenn überhaupt) begründete cliché einher, Urzidil sei ein konservativer – gemeint ist traditioneller, rückwärtsgewandter, um nicht zu sagen epigonaler – Autor;12 so wurde er mit etlichen anderen, zum Teil noch in den fünfziger und sechziger Jahren erfolgreichen Autoren in dieselbe Schublade verräumt und dem Vergessen anheimgegeben. Nun mag mancher manche Ansicht, die in Urzidils Artikeln und Essays geäußert wird, politisch konservativ finden – aber: In seinem literarischen Ansatz kam Urzidil von der Moderne her,13 er 10 Zur Problematik einer aufs Auto(r)biographische verengten Lektüre s. Johann (2003: 100102). 11 S. zur Erinnerung bei Urzidil außerdem auch noch Kreuzer (2006) sowie die Beiträge von Anja Bischof, Jonathan Schüz und Klaus Weissenberger. Soeben erschienen ist die Monographie von Anja Bischof (2012) zu diesem Thema. 12 Zur Modernität scheinbar prämoderner Formen und Genres s. Johann (2000/2001). 13 Vgl. zu den expressionistischen Anfängen Urzidils Trapp (1967: 1-40), Fiala-Fürst (1996: 163-176; 1999) sowie den Beitrag von Klaus Schenk; zu Urzidils Stellung im literarischen Umfeld des sogenannten ‚Prager Kreises‘, aus dem sein Werk erwuchs, s. Binder (1995) sowie den Beitrag von Ekkehard W. Haring; zu den in diesem Umfeld entstandenen BřezinaÜbertragungen Urzidils den Beitrag von Anne Hultsch; zu seinen Exil-Kontakten mit Pra-
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verfolgte diesen Ansatz als Autor in seinem Werk durchaus weiter,14 bis hin zu seiner Kunstbetrachtung.15 Urzidil „zählt“, wie Demetz (2006: 138f.) schreibt, „zu jenen Modernen, die aus und mit der Literatur schreiben, und die wesentliche Frage ist, wie er in seinen Texten mit anderen Texten umgeht, wie er mit ihnen spielt und wie er sie in seiner Phantasie kombiniert.“ Die Beantwortung dieser Frage bleibt auch weiter eine wichtige Aufgabenstellung für die Urzidil-Forschung, ebenso wie auch die ausgiebigere Erforschung der beiden skizzierten literarhistorischen bzw. rezeptionsgeschichtlichen Problemfelder. Ob die angedeuteten Entwicklungen endgültig sind und man mithin – unter Anspielung auf sein, neben dem Prager Triptychon (1960), bekanntestes Buch Die verlorene Geliebte (1956) – vom ‚verlorenen Urzidil‘ sprechen muss, ist noch nicht ausgemacht: Zu den vornehmsten Aufgaben von Literaturwissenschaft gehören sowohl die permanente – korrigierende wie auch bestätigende – Revision von Meinungen der vorangegangenen Forschung als auch das Bemühen, sich überhaupt erst einmal eine Meinung über Texte und Themen zu bilden, die von dieser bis dato nicht behandelt oder sogar noch nicht einmal zur Kenntnis genommen wurden. Beide Aspekte kommen im vorliegenden Band und in der Vielfalt der darin behandelten Themen im Hinblick auf Urzidil und sein Werk zum Tragen.
ger Autoren Sardelli (2009) sowie den Beitrag von Valentina Sardelli; zu seiner literarischen Verarbeitung dieser Zeit die Beiträge von Monika Tokarzewska und Klaus Weissenberger. 14 S. zu Urzidils Rezeption der Moderne den Beitrag von Tom Kindt und Hans-Harald Müller. 15 S. zu Urzidils Konzept der schöpferischen Kunstbetrachtung den Beitrag von Gabriela Brudzyńska-Němec. Zu Urzidils Verhältnis zur Kunst s. neuerdings auch Rauchenbacher (2011).
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Klaus Johann
2. Das Œuvre Urzidils16
2.1. Bibliographien Worin besteht nun dieses Werk Urzidils? Bibliographisch ist es, soweit publiziert, sehr gut erfasst, angefangen mit der ersten, von Věra MacháčkováRiegerová noch mit Urzidil zusammen erarbeiteten Urzidil-Bibliographie (1972),17 die 666 Titel nennt, über die überarbeitete Bibliographie von Gerhard Trapp (1999a), deren Ergänzungen durch Jitka Křesálková (2000a, b) und Trapp (2004a) selbst, bis hin zu der neuesten von Miloš Minařík (unter dem Pseudonym Vladimír Musil) und Trapp (2006ff.), die mittlerweile 1488 Titel auflistet.18 Insgesamt kann man das Urzidilsche Œuvre nach den Publikationsweisen (bzw. im Falle der Briefe nach der Nicht-Publikationsweise) in die im folgenden beschriebenen vier Werkgruppen – Bücher, verstreut Publiziertes, Radiosendungen und Briefe – aufteilen, wobei natürlich noch weitere (Unter-)Sortierungskriterien vor allem inhaltlicher Art denkbar sind. Was der Nachlass an bislang Unpubliziertem (vor allem Urzidils tägliche Aufzeichnungen) enthält, bleibt noch bibliographisch zu erfassen.19
16 Ich verzichte in diesem Kapitel weitgehend auf die Nennung von Sekundärliteratur und verweise dafür auf die entsprechenden Beiträge im vorliegenden Band; s. ansonsten Johann (2005) bzw. die regelmäßig aktualisierte Fassung dieser Bibliographie auf . 17 Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte dieser Bibliographie unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur s. Macháčková-Riegerová (1999; 2004: 220f.). 18 Die Bibliographie wird immer wieder ergänzt und findet sich auf der Website der Společnost Johannese Urzidila [Johannes-Urzidil-Gesellschaft], České Budějovice [Budweis], die von Milada Minaříková und Miloš Minařík geleitet wird. Diese und die meisten der im folgenden genannten Websites werden auf der von Vera Schneider und mir betriebenen Website unter der Rubrik Linksammlung direkt verlinkt, sodass man auf diese Weise leicht auf sie zugreifen kann. 19 Seit Juni 2012 ist fast der komplette Nachlass der Urzidils, soweit er im Leo Baeck Institute, New York, aufbewahrt wird, im Internet frei zugänglich und einsehbar; s. Leo Baeck Institute (2004ff., ).
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2.2. Bücher20 2.2.1. Bücher in deutscher Sprache Nimmt man nur das zu seinen Lebzeiten in Buchform erschienene Werk Urzidils,21 so kommt man auf sechs Bände mit Erzählungen (Die verlorene Geliebte 1956,22 Prager Triptychon 1960,23 Das Elefantenblatt 1962,24 Entführung und sieben andere Ereignisse 1964,25 Die erbeuteten Frauen 1966,26 Bist du es, Ronald? 1968),27 einen Roman (Das Große Halleluja 1959),28 drei Gedichtsammlungen (Sturz der Verdammten 1919,29 Die Stimme 1930, Die Memnonssäule 1957), ein Buch mit autobiographischen Skizzen (Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York 1969), zwei kulturhistorische Monographien (Goethe in Böhmen
20 Genaue bibliographische Angaben zu den genannten Büchern finden sich in der Bibliographie der selbständigen Veröffentlichungen Johannes Urzidils am Ende des vorliegenden Bandes. 21 Ungerechnet die separaten (Erst-)Ausgaben von Der Trauermantel (1945; 1955) u. Denkwürdigkeiten von Gibacht (1958) – beide aufgenommen in Das Elefantenblatt –, die Neuauflagen von Die verlorene Geliebte (1958, 1964, 1969), Die erbeuteten Frauen (1968) u. Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York (1969), die Buchgemeinschafts- u. die Schweizer Lizenzausgaben von Die verlorene Geliebte (1956, 1958, dreimal 1964), Denkwürdigkeiten von Gibacht (1958), Das Große Halleluja (dreimal 1959; 1964), Prager Triptychon (1960), Das Elefantenblatt (1962), Goethe in Böhmen (1965; 1966), Die erbeuteten Frauen (1966) u. Bist du es, Ronald? (1970), die Taschenbuchausgaben Neujahrsrummel (1957, drei Erzählungen aus Die verlorene Geliebte mit kurzem Nachwort), Die verlorene Geliebte (1958; gekürzt 1967), Prager Triptychon (1963), Das Elefantenblatt (gekürzt 1964) u. Die erbeuteten Frauen (1970) sowie die Nachdrucke von Sturz der Verdammten in Reprints der Reihe Der Jüngste Tag (zweimal 1970). 22 Man kann, um mit einem typischen Urzidil-Wort zu sprechen, ‚füglich‘ darüber streiten, ob Die verlorene Geliebte (wie auch das Prager Triptychon) als Roman zu bezeichnen ist; s. dazu den Beitrag von Filip Charvát, außerdem zu der Erzählung Grenzland den Beitrag von Ingeborg Fiala-Fürst. 23 S. dazu den Beitrag von Anja Bischof im vorliegenden Band, zu der Erzählung Die Causa Wellner den Beitrag von Kurt F. Strasser. 24 Zur Titelerzählung dieses Buches s. den Beitrag von Jindra Broukalová, zu der Erzählung Zu den neun Teufeln s. den Beitrag von Myriam Richter und Hans-Harald Müller. 25 S. zu den Erzählungen dieses Bandes den Beitrag von Vera Schneider. 26 S. zu der Erzählung Die Herzogin von Albanera aus diesem Buch den Beitrag von Gabriela Brudzyńska-Němec. 27 S. zu den ‚amerikanischen‘ Erzählungen dieses Bandes den Beitrag von Vera Schneider. 28 S. dazu die Beiträge von Anja Bischof, Jana Mikota und Vera Schneider. 29 S. dazu den Beitrag von Klaus Schenk.
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1932/1962/1965,30 Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock 193631), eine historische Studie (Die Tschechen und Slowaken 1960),32 acht als Buch oder Büchlein erschienene kulturhistorische Essays oder Essaysammlungen (Zeitgenössische Maler der Tschechen – Čapek, Filla, Justitz, Špála, Zrzavý 1936, Über das Handwerk 1954,33 Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild 1958, Amerika und die Antike 1964, Literatur als schöpferische Verantwortung 1965, Da geht Kafka 1965/1966,34 Prag als geistiger Ausgangspunkt 1965, Der lebendige Anteil des jüdischen Prag an der jüngeren deutschen Literatur 1967/1968),35 einen Reiseführer durch Prag (1939)36 sowie den Bildband Prag – Glanz und Mystik einer Stadt (zus. mit dem Photographen Anselm Jaenicke, 1966), das von Urzidil herausgegebene Werk Karl Brands (Vermächtnis eines Jünglings 37 1921, Vorwort Franz Werfel), die Neubearbeitung von August von Kotzebues Text zu Ludwig van BeethovensDie 30 Dabei muss man freilich im Grunde die Erst- (1932) und die deutlich erweiterte und überarbeitete Neuausgabe (1962, nochmals überarbeitet 1965) von Goethe in Böhmen als jeweils verschiedene Bücher betrachten, wie aus dem Beitrag von Mirek Němec hervorgeht. Zu Goethe in Böhmen s. außerdem die Beiträge von Václav Petrbok, Jonathan Schüz, Kurt F. Strasser und Klaus Weissenberger. 31 Auch für die deutsche (und mit ihr für die tschechische) Ausgabe von Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock (1936 bzw. 1937) und ihre bearbeitete englische Teilübersetzung Hollar. A Czech Emigré in England (1942) gilt, dass letzere fast ein neues Buch ist, wie Ralph Melville in seinem Beitrag aufzeigt. 32 Die Studie erschien zuerst 1960 in dem von einem Prager Freund Urzidils, dem damals in New York lehrenden Historiker Hans Kohn (1891-1971), herausgegebenen Buch Die Welt der Slawen. Band 1, eine deutsch-tschechische Separatausgabe wurde 2005 unter dem Titel Malý průvodce dějinami Čech/Ein kleiner Begleiter durch die Geschichte Böhmens veröffentlicht. 33 S. dazu den Beitrag von Klaus Weissenberger. 34 Die Taschenbuchausgabe von 1966 ist gegenüber der Erstausgabe von 1965 um vier Essays erweitert. S. zu diesem Buch die Beiträge von Monika Tokarzewska und Klaus Weissenberger, zur Stellung Urzidils im sogenannten ‚Prager Kreis‘ und zu den anderen Prager Autoren s. die Beiträge von Ekkehard W. Haring und Valentina Sardelli. 35 Der Essay, den Urzidil als elfte Leo Baeck Lecture auf Einladung des Leo Baeck Institute in New York unter dem Vorsitz seines ebenfalls aus Prag stammenden Freundes Erich von Kahler (1885-1970) vorgetragen hatte, erschien zuerst 1967 deutsch im Bulletin des Leo Baeck Institute, eine separate Ausgabe erschien lediglich in englischer Übersetzung 1968 unter dem Titel The living contribution of Jewish Prague to modern German literature. 36 Ein von Urzidil im Auftrag der tschechoslowakischen Regierung verfasster Führer durch die Tschechoslowakei konnte aufgrund der deutschen Okkupation 1939 nicht mehr erscheinen, wohl aber in demselben Jahr anonym eine Teilausgabe u. d. T. Reiseführer durch Prag. Eine vollständige Vorabausgabe des ersteren hat sich jedoch in Urzidils Nachlass im Leo Baeck Institute erhalten. 37 Nicht zu verwechseln mit der gleichtiteligen Erzählung (1958, aufgenommen in Prager Triptychon, 1960), die ebenfalls das Schicksal Brands (1895-1917) thematisiert.
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Ruinen von Athen (1926),38 drei aus dem Tschechischen39 (Dr. Edvard Beneš, Masaryks Weg und Vermächtnis 1937; Dr. Jaroslav Papoušek, Dr. Edvard Beneš. Sein Leben 1937) bzw. Englischen (H. D. [Hilda Doolittle], Avon 1955)40 übersetzte Bücher sowie Ernst Schönwieses Urzidil-Anthologie Geschenke des Lebens (1962), die auch vorher nicht in Buchform publizierte Texte enthält. Schon allein diese Bücher wären zusammengenommen ein nicht gerade schmales Lebenswerk, was umso mehr ins Gewicht fällt, da die meisten von ihnen erst im Exil, also in gut dreißig, zumindest anfangs von großen, nicht nur materiellen Sorgen geprägten Lebensjahren entstanden sind. Diese rege und vor allem auch regelmäßige Erscheinungsweise von Urzidil-Büchern veränderte sich, zum Teil gewiss auch ‚naturgemäß‘ mangels Nachschubs von neuen Texten, nach seinem Tod in eine eher sporadische: Urzidils Hausverlag41 Artemis, zu dessen Gründer Friedrich Witz Urzidil ein freundschaftliches Verhältnis pflegte (Witz 1969: 343ff.; Popp 2008: 148f.), publizierte postum zwar noch die Erzählungssammlung Die letzte Tombola (1971) und den von dem um Urzidil höchst verdienten Hansres Jacobi42 herausgegebenen Band Bekenntnisse eines Pedanten (1972)43 mit autobiographischen Texten und Essays sowie der ersten Urzidil-Bibliographie von Věra MacháčkováRiegerová, aber nach der Übernahme des Winkler-Verlages konzentrierte Artemis sich doch zunehmend auf Klassiker-Ausgaben, sodass dort nur noch eine eine Kassettenausgabe (aber ‚keine‘ Neuauflage) Gesammelte Erzählungen 38 Die Uraufführung fand in demselben Jahr im Prager Neuen Deutschen Theater unter dem Dirigat von dessen musikalischem Direktor (1911-1927), dem Komponisten Alexander von Zemlinsky (1871-1942), statt (Jonckheere 1961: 23f., Trapp 1967: 39f.). 39 Zu Urzidil als Übersetzer aus dem Tschechischen, nämlich von Gedichten Otokar Březinas (1866-1928), s. den Beitrag von Anne Hultsch. 40 S. dazu den Beitrag von Gerhard Trapp. 41 Von der Neuausgabe von Goethe in Böhmen (1962) bis Bekenntnisse eines Pedanten (1972); eine erste Zusammenarbeit war bereits der Essay Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild (1958) in der Artemis-Reihe Goetheschriften. 42 Hansres Jacobi (1926-2006) war mit Urzidil seit einem New-York-Aufenthalt 1952/3 befreundet; von 1955 bis 1991 Feuilletonredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, veröffentlichte Jacobi nicht weniger als vierzehn Artikel und Rezensionen zu Urzidil, soviel wie kein anderer Literaturkritiker. Von besonderer Bedeutung war seine Besprechung (1957) von Die verlorene Geliebte; durch diese wurde der Feuilletonchef der NZZ, Werner Weber (1919-2005), auf das Buch aufmerksam, zugleich Vorsitzender der Jury des renommierten Prix Charles Veillon, den Urzidil dann 1957 zugesprochen bekam (Schmid 2000a: 523, Weber 2009: 116f.) und der ihn mit einmal im deutschsprachigen Feuilleton weithin bekannt machte. Zu Urzidil und Jacobi s. auch Kanyar-Becker (1999: 71-73). 43 S. zu dem Essay ‚Faust‘ und die Gegenwart aus diesem Buch den Beitrag von Alwin Binder im vorliegenden Band.
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in 5 Bänden (1976, zum 80. Geburtstag) der Artemis-Bände, Neuauflage der dritten Auflage von Goethe in Böhmen (1981) sowie zwei Neuauflagen von Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York (³1972, 41985) erschienen. Langen Müller, Urzidils erster Hausverlag im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg,44 publizierte noch den von Heinz Politzer nach einem Plan von Urzidil herausgegebenen Band Morgen fahr’ ich heim (1972) mit böhmischen Erzählungen – so auch der Untertitel – aus vorangegangenen Büchern und veröffentlichte späterhin Neuauflagen von Die verlorene Geliebte (1979, 1996) und Da geht Kafka (2004, Nachwort von Herbert Rosendorfer). Aber mit diesen Bemühungen, Urzidil wieder bekannt zu machen, scheinen die beiden Verlage ebensowenig in größerem Maße erfolgreich gewesen zu sein wie andere Verlage mit den postumen Taschenbuchausgaben von Die letzte Tombola (1973), Prager Triptychon (1980) und Die verlorene Geliebte (1982) oder wie der Residenz-Verlag mit der von Peter Demetz edierten und mit einem Nachwort versehenen Neuausgabe des Prager Triptychon (1997) innerhalb der von Wendelin Schmidt-Dengler herausgegebenen Österreichischen Bibliothek. Erwähnt sei auch, dass Sturz der Verdammten erneut in zwei Reprintausgaben (1981, 1982) der Reihe Der jüngste Tag nachgedruckt wurde. Ein Kapitel für sich ist schließlich die 1976 als einziges Urzidil-Buch in der DDR erschienene, von Dieter Simon zusammengestellte und benachwortete Erzählungssammlung Die Rippe der Großmutter (Böhme 2008: 469-473). Die Frage zu traktieren, ob die mangelnde Präsenz Urzidils auf dem Buchmarkt ein Grund für seine rapide abgenommene Bekanntheit ist oder umgekehrt, ist dabei vermutlich müßig. Ob das unlängst erschienene UrzidilLesebuch HinterNational (Johann/Schneider 2010) und der vorliegende Band der Urzidil-Rezeption auch im deutschsprachigen Raum neue und nachhaltige Impulse geben und dabei helfen können, Urzidil endlich „als zeitgenössischen Autor zu begreifen“ (Demetz 2006: 138), bleibt abzuwarten. 2.2.2. Bücher in anderen Sprachen Geradezu umgekehrt proportional zum deutschsprachigen Raum ist die Rezeption Urzidils nach seinem Tod im europäischen Ausland angewachsen, 44 Genau gesagt von der Zweitausgabe von Der Trauermantel (1955) bis zu Das Elefantenblatt (1962); den Kontakt zwischen Langen Müller und Urzidil hatte der mit diesem befreundete Solinger Schriftsteller und Wirtschaftsprüfer Heinz Risse (1898-1989) hergestellt. Urzidil hatte diesen Anfang der fünfziger Jahre kennengelernt; s. dazu die Autobiographie Risses (1980: 48-51, 56-58).
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nimmt man das Erscheinen von Büchern als Kriterium. Das gilt insbesondere für die Zeit nach der politischen Wende 1989, als der von Claudio Magris (1966, ital. 1963) schon ein Vierteljahrhundert zuvor so benamste „habsburgische Mythos“45 wieder auflebte und der Begriff Mitteleuropa sowie die darunter subsumierten Staaten und Regionen auch außerhalb derselben auf neues und großes Interesse stießen, ebenso wie die kakanische „Hinternationale“ (Straub 2010: 279, mit Rekurs auf Urzidil) als Modell eines zumindest halbwegs friedlichen Zusammenlebens der Völker. Am stärksten ausgeprägt ist das Interesse für Urzidil ausweislich der erschienenen Titel in der Tschechoslowakei bzw. (ab 1993) in Tschechien, was auch damit zusammenhängen mag, dass Urzidil dort in gewisser Weise als bürgerlicher, d. h. nicht-kommunistischer, tschechenfreundlicher Repräsentant der ‚goldenen‘ Zwischenkriegszeit gesehen werden kann.46 Es gibt zudem die Besonderheit, dass in Urzidils zweiter Sprache auch Bücher erschienen sind, die, zum Teil oder als Ganzes auf Tschechisch verfasst, nicht ‚nur‘ Übersetzungen sind, sondern als Originalausgaben zu den genuinen opera Urzidilia gehören. Schon 1938 war mit der bereits erwähnten tschechischen Übertragung von Urzidils Hollar-Monographie unter dem Titel Václav Hollar. Umělec, vlastenec, světoobčan [Václav Hollar. Künstler, Patriot, Weltbürger]47 zum ersten Mal überhaupt ein Buch Urzidils in Übersetzung herausgekommen. Aber erst 1985 konnte Hry a slzy [Spiele und Tränen], eine Zusammenstellung von zehn Erzählungen aus Die verlorene Geliebte und Das Elefantenblatt mit einem Vorwort von Jiří Veselý, als zweites Urzidil-Buch auf Tschechisch veröffentlicht werden – und erlebte prompt 1988 seine zweite Auflage. 1996, also dann nach der Wende von 1989, wurde mit Kde údolí končí [Wo das Tal endet] eine weitere Zusammenstellung von neun Urzidil-Texten publiziert, wiederum aus Die verlorene Geliebte sowie aus Die erbeuteten Frauen und Bekenntnisse eines Pedanten. Nur ein Jahr später folgte mit Pražský triptych eine Übersetzung des Prager Triptychon, versehen mit einem Nachwort von Ingeborg Fiala-Fürst. Die den Böhmerwald thematisierenden Werke Urzidils sind in seiner Heimat von besonderem Interesse: So edierten Vladimír Musil (i. e. Miloš Minařík) und Milada Urbanová (jetzt Minaříková) 1999 den tschechisch-deutschen Band Poslední host/Der letzte Gast mit vier Texten aus Die verlorene Geliebte, Das Elefantenblatt und Bekenntnisse eines Pedanten, Essays von Gerhard Trapp und Vladimír 45 Zu Urzidil in diesem Zusammenhang s. Magris (1966: 307f.) 46 Für diesen Hinweis danke ich Mirek Němec (Ústí nad Labem [Aussig]). 47 Dagegen lautet der Titel auf dem Schutzumschlag des Buches: Hollar: život umělce a Evropana [Hollar: Leben als Künstler und Europäer]. Für diesen Hinweis danke ich Ralph Melville (Mainz).
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Musil sowie Photos und Dokumenten. Einen thematisch ähnlich gelagerten Band, Jdu starým lesem [Ich gehe durch den alten Wald], gab 2005 der Übersetzer Jan Mareš mit einem Nachwort von Martin Gaži heraus, mit denselben vier Urzidil-Texten, außerdem mit drei Gedichten aus Geschenke des Lebens (bzw. Die Memnonssäule) sowie zwei Artikeln Urzidils aus den dreißiger Jahren.48 Der umfangreiche und opulent mit Bildmaterial ausgestattete Band Život s českými malíři. Vzájemná korespondence s Janem Zrzavým. Vzpomínky – Texty – Dokumenty [Leben mit tschechischen Malern. Briefwechsel mit Jan Zrzavý. Briefe – Texte – Dokumente], den wiederum Vladimír Musil und Milada Urbanová 2003 vorlegten, ist nur zum Teil, nämlich bei mehreren von Urzidils verstreut publizierten und hier erstmals gesammelten Schriften zur böhmischen Kunst der Moderne, eine Übersetzung.49 Daneben enthält er einige hier zum ersten Mal veröffentlichte Briefwechsel Urzidils (nicht nur mit Zrzavý, s. 2.5.) und die bis heute umfangreichste Studie zu Urzidils Leben (Musil 2003).50 M. Urbanová hat auch gemeinsam mit Robert Sak die Anmerkungen zu der schon erwähnten zweisprachigen Neuausgabe von Die Tschechen und Slowaken unter dem Titel Malý průvodce dějinami Čech/Ein kleiner Begleiter durch die Geschichte Böhmens (2005, mit einem Vorwort von Gerhard Trapp) beigesteuert. Das nächste tschechische Urzidil-Buch war erneut eine Originalausgabe, nämlich O české a německé kultuře [Über tschechische und deutsche Kultur] (2008, 22008), ein im New Yorker Exil tschechisch geführtes Gespräch zwischen Ferdinand Peroutka und Urzidil, auf Band mitgeschnitten und mit einer Einleitung von Jaromír Loužil von Václav Maidl u. a. herausgegeben.51 Ein weiterer Höhepunkt der tschechischen Urzidil-Rezeption war 2009 die von Václav Petrbok herausge48 Ein Teil der Texte, die Gedichte zudem in deutscher Originalfassung, und der Essay von Gerhard Trapp finden sich auch in der von Jan Mareš herausgegebenen und übersetzten Böhmerwald-Anthologie deutschsprachiger Schriftsteller im Internet: Kohoutí Kříž. Šumavs ké ozvěny/S Hohnakreiz. Des Waldes Widerhall : . 49 Der Band enthält darüber hinaus auch einige Urzidil-Texte in deutscher Sprache, darunter als Erstveröffentlichung die Originalfassung des titelgebenden Essays Leben mit tschechischen Malern, der in der tschechischen Übersetzung von Urzidils Freund Ladislav Radimský (alias Petr Den, 1898-1970) bereits 1966 in der Exilzeitschrift Proměny [Metamorphosen, s. 2.3.] und erneut 1968 in Výtvarná práce [Kunstwerk] sogar in der ČSSR publiziert wurde. 50 Zum Leben Urzidils s. u. a. auch Elfe (1989a), Johann/Schneider (2010: 13-67, Kap. Passagen) und Johann (2011). 51 Schon vorher waren Auszüge aus dem Gespräch verschiedentlich in tschechischen Zeitschriften publiziert worden. Eine deutsche Ausgabe erschien 1998, ebenfalls von J. Loužil sowie von Michael Berger herausgegeben (Peroutka/Urzidil 1998). Eine szenische Lesung des Gesprächs wurde am 17. Februar 2009 unter dem Titel Já budu trochu tvrdohlavý [Ich werde ein bisschen dickköpfig sein] in der Regie von Jana Válková vom Theater Činoherní studio
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gebene erste Übersetzung von Goethe in Böhmen, Goethe v Čechách, durch Veronika Dudková und Michaela Jacobsenová (Trapp 2011). Ein Jahr später folgte unter dem Titel To byl Kafka [Da war Kafka] nach verstreut veröffentlichten Teilübersetzungen die erste vollständige Ausgabe von Da geht Kafka auf Tschechisch. Bereits 1967 erschien eine italienische Übersetzung des Prager Triptychon – Trittico di Praga – mit einem Essay von Claudio Magris,52 eine zweite Übertragung kam 1993 (²2002, ³2005), ebenfalls mit einem (anderen) Essay von Magris sowie Anmerkungen der Übersetzerin Elisabetta Dell’Anna Ciancia unter dem Titel Trittico praghese heraus. 1982 folgte mit L’amata perduta (²1990, ³1994) eine Übersetzung von Die verlorene Geliebte. Zehn Jahre später wurde La fuga di Kafka – Kafkas Flucht – veröffentlicht, eine Zusammenstellung von vier Erzählungen aus Das Elefantenblatt und Entführung und sieben andere Ereignisse, herausgegeben, mitübersetzt und mit einem Nachwort von Antonio Pasinato sowie einem Vorwort von Italo Alighiero Chiusano. 1998 erschien unter dem Titel La vanessa noch einmal eine neu übersetzte Separatausgabe des bereits im letztgenannten Buch enthaltenen Der Trauermantel (mit einem Nachwort des Übersetzers Gianni Bertocchini). 2002 wurde schließlich die Übertragung Di qui passa Kafka von Da geht Kafka publiziert. Um das denkwürdige Jahr 1989 herum wurden gleich vier Bücher Urzidils in der französischen Übersetzung Jacques Legrands veröffentlicht: als erstes Le triptyque de Prague [Prager Triptychon, 1988], dann La Maison des neuf diables [Das Haus zu den neun Teufeln, 1989], eine Zusammenstellung von fünf Erzählungen aus Das Elefantenblatt und Bist du es, Ronald?, weiters La bien-aimée perdue [Die verlorene Geliebte, 1990] sowie schließlich La Fuite de Kafka et autres nouvelles [Kafkas Flucht und andere Erzählungen, 1991], eine Sammlung von drei Erzählungen aus Entführung und sieben andere Ereignisse und abermals aus Bist du es, Ronald?. 1998 folgte noch eine Separatausgabe der im Baskenland während des Spanischen Bürgerkrieges spielenden Erzählung L’or de Caramablu [Das Gold von Caramablu] aus Die letzte Tombola, übersetzt und mit einem Vorwort von Isabelle Ruiz. Ein bemerkenswertes Phänomen ist, dass es kaum Bücher von Urzidil gibt, die ins Englische übersetzt wurden, bemerkenswert insofern, als Urzidil einen großen Teil seines Lebens (1939-1970) in der englischsprachigen Welt gelebt hat, und vor allem insofern, als er sich, anders als die meisten deutschsprain Ústí nad Labem [Aussig] uraufgeführt und u. a. auch am 04.05.2010 im Vorprogramm des Collegium Bohemicum zur Urzidil-Konferenz in Ústí nad Labem wiederholt. 52 Eine kürzere Fassung dieses, zum Teil von persönlichen Erinnerungen getragenen Essays ist bereits Magris (1986).
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chigen Exilschriftsteller in den USA, „tief auf [...] die Kultur des Gastlandes eingelassen hat“ (Schwarz 1985: 223) und außerdem ein großer Teil seines erzählerischen Werkes in den USA spielt.53 Zwar erschien bereits 1942 in London die bereits erwähnte, von Urzidil selbst gekürzte und bearbeitete englische Ausgabe seiner Hollar-Monographie, Hollar. A Czech Emigré in England,54 darauf folgten aber lediglich55 eine in den USA publizierte Übersetzung von Da geht Kafka, There goes Kafka (1968),56 sowie in demselben Jahr der gleichfalls schon erwähnte Separatdruck der englischen Übersetzung seiner New Yorker Leo Baeck Lecture aus dem Vorjahr, The living contribution of Jewish Prague to modern German literature. Einzelne übersetzte Bücher von Urzidil erschienen darüber hinaus auf Niederländisch – Daar gaat Kafka [Da geht Kafka, 1968] –, Polnisch – Wielkie Alleluja [Das Große Halleluja, 1968] und Miedzioryt ze słoniem [Das Elefantenblatt, 1972] –, Rumänisch – Schiţă cu elefant [Das Elefantenblatt, 1972, mit einer Einleitung von Virgil Nemoianu] – und Spanisch – Tríptico de Praga [Prager Triptychon, 1997]57 sowie, angeregt durch die französische Separatausgabe, El oro de Caramablú [Das Gold von Caramablu, 2003]. Interessant ist dabei nicht zuletzt, dass die Übersetzungen ins Polnische und Rumänische lange vor dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ 1989 erschienen sind, in einer Zeit, als z. B. in der ČSSR während der sogenannten Normalisierung an die Veröffentlichung von Urzidil-Büchern noch nicht zu denken war. 53 Dazu Pistorius (1978), Pfanner (1983: 65f., 90f.), Patsch (1985), Schwarz (1985), Elfe (1989b), Stern (1989: 67f.), Grünzweig (1999), Strelka (1999: 237-239), Trapp (2000), Popp (2008: v. a. 137-157) und die Beiträge von Anja Bischof, Jana Mikota, Vera Schneider u. Gerhard Trapp. 54 Das Buch erschien freilich in einem Verlag, der der tschechoslowakischen Exil-Regierung nahestand, in deren Auftrag und mit deren Geld (Bauer 1995: 188); die Publikation entsprang also nicht dem Interesse eines englischen Verlages oder gar des englischen Publikums, wobei aber auf letzteres dank der Bekanntheit Hollars in Großbritannien zumindest spekuliert werden konnte. 55 Abgesehen davon, dass der Bildband Prag – Glanz und Mystik einer Stadt (1966) den Text auch in der engl. Übertragung eines Freundes von Urzidil enthält, des ebenso im New Yorker Exil lebenden Kultur-, v. a. Tanzhistorikers und Übersetzers Walter Sorell (1905-1997). Ferguson-Nevens (1984) Übersetzung von Die arme Pamela (1964) wurde nie publiziert. 56 Klaus Weissenberger merkte dazu in der Diskussion während der Urzidil-Konferenz 2010 an, dass dieses Buch in den USA lediglich als Sekundärliteratur zu Kafka rubriziert und gelesen wurde und noch werde, jedoch nicht als eigenständiges literarisches Werk. Das gilt wohl auch andernorts; Hinweise für eine Neubewertung bieten die Beiträge von Klaus Weissenberger selbst und von Monika Tokarzewska. 57 Die spanische Ausgabe des Prager Triptychon wurde im Juni/Juli 2011 mehrfach von dem Blogger „kowa“ in seinem Blog El Odradek angesprochen ().
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Außer in den genannten Sprachen wurden einzelne Texte Urzidils in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden u. a. auch in estnischer, japanischer, russischer und ungarischer Übersetzung publiziert.58 Insgesamt kann man also sagen, dass Urzidil zumindest europaweit – außer in Tschechien vor allem in der Romania – relativ weiträumig übersetzt wurde und so eine gewisse Verbreitung fand. Wie und wie intensiv die übersetzten Bücher in den jeweiligen Sprachräumen rezipiert wurden, müsste indessen noch näher untersucht werden.59
2.3. Verstreut Publiziertes Von den anderen drei umfänglichen Werkkomplexen Urzidils sind zunächst die verstreut in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern publizierten Artikel, Aufsätze, Erzählungen, Essays, Gedichte, Interviews und sonstigen Texte zu nennen, die nicht in die bislang erschienenen Bücher von Urzidil Aufnahme gefunden haben. Von den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts bis zu Urzi dils Tod 1970, zum Teil auch noch postum, kommen insgesamt wohl weit über tausend zusammen, die man grob in zeitgeschichtlich-tagespolitische,60 kulturhistorisch-feuilletonistische61 und belletristisch-literarische62 einteilen könnte.63 Das Spektrum der Zeitungen und Zeitschriften, in denen Urzidil 58 S. dazu die genannten Bibliographien. 59 Zur (auch wissenschaftlichen) Urzidil-Rezeption in Italien s. Trapp (2006: 35-41), zu der in Frankreich Trapp (2004b). 60 Zu diesem Teil von Urzidils Publizistik s. die Beiträge von Michael Havlin, Steffen Höhne, Jitka Křesálková, Isabelle Ruiz und Gaëlle Vassogne, zu den geistigen Wurzeln von Urzidils politischen Ideen im Bohemismus Bernard Bolzanos s. den Beitrag von Kurt F. Strasser. 61 S. zu Urzidils Essay Schöpferische Kunstbetrachtung (1926) den Beitrag von Gabriela BrudzyńskaNěmec, zu dem Essay Faust und das Deutschtum (1928) den Beitrag von Alwin Binder, zu dem Essay Das Nachtmahl der Heiligen und der Mythus der Hände aus demselben Jahr denjenigen von Michaela Nicole Raß, zu Urzidils Hollar-Artikeln seit den dreißiger Jahren den von Ralph Melville, zu Urzidils Purkyně-Essays aus dem Jahre 1937 den von Mirek Němec. Auf weitere kulturhistorische Aufsätze Urzidils, meist ebenfalls aus den dreißiger Jahren, aus der Freimaurerzeitschrift Die Drei Ringe geht Jitka Křesálková in ihrem Beitrag ein. 62 Zu Urzidils Erzählung Der Schauspieler (1918) s. den Beitrag von Gabriela BrudzyńskaNěmec. 63 Eine Textsorte sui generis bilden dabei die Berichte, die Urzidil zwischen 1922 und 1933 in seiner Eigenschaft als Pressebeirat der deutschen Gesandschaft in Prag für den deutschen
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publizierte, war ungemein breit; es seien hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, nur die genannt, in denen drei oder mehr Texte von ihm erschienen:64 In den Prager Jahren (bis 1939)65 zählten dazu vor allem das Prager Tagblatt (1913-39, 80 Beiträge)66 und die Deutsche Zeitung Bohemia (1923-38, 115 Beitr.) sowie der Berliner Börsen-Courier (1921-33, 144 Beitr.; lange Jahre mit dem gebürtigen Prager Emil Faktor als Chefredakteur). Daneben, vor allem nach dem Machtantritt der Nazis, veröffentlichte Urzidil seine Artikel zudem u. a. noch in der zunächst von Ferdinand Peroutka, ab 1924 von Bedřich Hlaváč redigierten Tribuna [Tribüne] (Prag, 1921-28, 6 Beitr.), in der von Josef Stivín redigierten Zeitung der tschechischen Sozialdemokraten Právo lidu [Recht des Volkes] (Prag, 1925-36, 6 Beitr.), in Peroutkas Přítomnost [Gegenwart] (Prag, 1927-37, 7 Beitr.), in Adalbert/Béla/Vojtěch Revs und Georg/Jiří Mannheimers Die Wahrheit (Prag, 1927-31, 5 Beitr.), in Vinzenz Walsas bzw. Lev Vohryzeks Die Brücke (Prag, 1935-37, 15 Beitr.), in Eduard Bass’ Lidové noviny [Volkszeitung] (Brno [Brünn] bzw. Prag, 1935-37, 4 Beitr.), in Emil Portischs Neuem Preßburger Tagblatt (Bratislava, 1935, 4 Beitr.) und in Kamil Kroftas Prager Rundschau (1935-37, 4 Beitr.) sowie in den Schweizer Zeitungen National-Zeitung (Basel, 1935-41, 6 Beitr.),67 Der Bund (Bern, 1937-39, 5 Beitr.) und (unter dem Pseudonym Jean Dupont) dem französischsprachigen Journal des Nations (Genf/ Genève, 1936-38, 38 Beitr.).68 Daneben publizierte er in politisch-literarischen, anfangs oft expressionistisch geprägten Zeitschriften wie in Franz Pfemferts Die Aktion (Berlin, 1916-18, 8 Beitr.), in Der Friede (Wien, 1918/19, 6 Beitr.), in dessen Feuilleton Urzidils Texte von Alfred Polgar lanciert wurden (Urzidil 1962a), in dem von Urzidil selbst zusammen mit Leo Reiss konzipierten, dann Gesandten Walter Koch (1870-1947) verfasst hat; zum Teil, kenntlich am Verfasserkürzel „Urz.“, mittlerweile abgedruckt in: Alexander (2004; 2009). 64 Was die Zählung der Beiträge angeht, folge ich Musil/Trapp (2006ff.). 65 S. zu dieser Zeit die aufschlussreiche Graphik im Beitrag von Steffen Höhne. 66 Auf der Website der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien kann man die überwiegende Mehrzahl (à la longue sollen es alle sein) der Beiträge Urzidils einsehen, die im Prager Tagblatt erschienen sind (). 67 Man kann vermuten, dass Urzidil den Kontakt zu dieser Zeitung Thomas Mann verdankte; denn nach einem Besuch Urzidils bei letzterem in dessen Exilort Küsnacht bei Zürich notierte dieser am 14.01.1935 in sein Tagebuch: „Zum Thee der ehem. Prager deutsche Gesandtschaftsrat Urzidil, dem ich eine Empfehlung an Dr. Bauer, Basel gab.“ (Mann 1997: 12) Der Österreicher Ludwig Bauer (1876-1935) war politischer Leitartikler der NationalZeitung (Mann 1997: 447), in der bereits am 23.06.1935 erstmals ein Artikel Urzidils erschien. 68 Auf der Website der Mailänder Biblioteca Nazionale Braidense sind alle Artikel Urzidils alias Jean Dupont im Journal des Nations nachzulesen ().
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von diesem verlegten und von Urzidil redigierten, aber nur sehr kurzlebigen Der Mensch (Brünn [Brno], 1918, 18 Beitr.) oder in Wolf Przygodes Die Dichtung (Berlin, 1920-23, 4 Beitr.), außerdem noch in Kulturzeitschriften wie Paul Westheims Das Kunstblatt (Berlin, 1924-28, 5 Beitr.) Albrecht Kochs Deutsche Kunst und Dekoration sowie Innendekoration (Darmstadt 1926-30, 6 Beitr. bzw. 1928/9, 2 Beitr.), Rudolf Löhrls Hochschulwissen (Warnsdorf/Varnsdorf, 192731, 5 Beitr.), Willy Haas’ Die Literarische Welt (Berlin, 1927/28, 3 Beitr.), Ernst Viktor Zenkers Freie Welt (Gablonz [Jablonec nad Nisou], 1928-33, 18 Beitr.), Josef Mühlbergers69 und Johannes Staudas Witiko (Eger [Cheb], 1928-31, 6 Beitr.), Miloš Hladíks und Otakar Štorch-Mariens Gentleman (Prag, 1929/30, 3 Beitr.), Emil Fillas bzw. Josef Wagners Volné směry [Freie Richtungen] (Prag, 1935-38, 6 Beitr.) oder im Forum, der von dem Architekten Endre Szönyi herausgegebenen dreisprachigen (slowakisch, ungarisch, deutsch), so der Untertitel, Zeitschrift für Kunst, Bau und Einrichtung (Bratislava [Preßburg], 1935-38, 70 Beitr.), sowie nicht zuletzt in der von 1934 bis 1938 dann auch von Urzidil selbst herausgegebenen Freimaurerzeitschrift Die Drei Ringe (Reichenberg [Liberec], ab 1935 Prag, 1925-38, 250 Beitr.).70 Im Exil (ab 1939)71 veröffentlichte Urzidil zunächst vor allem in den in London erscheinenden mehr oder minder offiziösen Organen der dort residierenden tschechoslowakischen Exilregierung: Čechoslovák [v Anglii/v zahraničí] [Der Tschechoslowake/in England/im Ausland] (1940-45, 60 Beitr.), Central European Observer (1940-45, 12 Beitr.) und Obzor [Horizont] (1941/2, 7 Beitr.) (Trapp/Heumos 1999; Thunecke 2009). Bald nach der Ankunft in New York wurde Urzidil (wie auch seine Frau) regelmäßiger Autor der deutsch-jüdischen Exilzeitung Aufbau (New York, 1941-72, 26 Beitr.),72 dessen Gründer und Chefredakteur Manfred George lobende Rezensionen von Urzidils Büchern schrieb (George 1945, 1957). Kulturzeitschriften wie Bryhers73 Life and Letters Today (New York/London, 1941-48, 5 Beitr.), das Menorah Journal (New 69 Zu Urzidil und Mühlberger (1903-1985) s. Bednářová (2006). 70 S. zu Urzidils Tätigkeiten für Die Drei Ringe den Beitrag von Jitka Křesálková, die auch eine umfängliche Anthologie aus Urzidils Texten für diese Zeitschrift ediert hat (Urzidil 2001a; 2001b). 71 S. zu den Zeitschriften, in denen Urzidil in dieser Zeit publizierte, nochmals Anm. 2 sowie Pistorius (1978: 49-54, 77-79, 82f., 88, 90, 94f., 102-104). 72 Im Zentralen Verzeichnis digitalisierter Drucke kann man aus den Jahren 1941 bis 1947 vierzehn Texte Urzidils (und sieben von seiner Frau Gertrud[e]) lesen, die im Aufbau abgedruckt wurden, sowie den einzigen (Heimat), der 1941 in Die Zeitung (London) erschien (). 73 Zu Urzidils Verhältnis zu seiner Gönnerin Bryher (1893-1983) s. den Beitrag von Gerhard Trapp.
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York, 1943-52, 3 Beitr.) der u. a. von Henry Hurwitz begründeten Intercollegiate Menorah Association, die von Yvan Goll herausgegebenen Hémisphères (New York, 1945, 3 Beitr.)74 oder die von dem befreundeten Literaturwissenschaftler André von Gronicka75 mit-herausgegebene Germanic Review der Columbia University in New York (1949-61, 4 Beitr.) kamen hinzu, später auch noch die von Urzidils Freund Ladislav Radimský (alias Petr Den) herausgegebenen Proměny [Metamorphosen] (New York, 1966-70, 6 Beitr.) der Společnost pro vědy a umění/Czechoslovak Society of Arts and Sciences (SVU) [Tschechoslowakische Gesellschaft für Künste und Wissenschaften].76 Die von Ernst Schönwiese herausgegebene Literaturzeitschrift das silberboot (Salzburg, 1946, 3 Beitr.) war das erste österreichische Publikationsorgan, das nach dem Krieg wieder Texte von Urzidil publizierte;77 zwei Jahre später veröffentlichte er in Die Neue Zeitung (München) seinen ersten Text (Tradition und Wechsel in USA) in Nachkriegsdeutschland. Zeitschriften, in denen Urzidil in der Folgezeit in Deutschland häufiger publizierte, waren Das literarische Deutschland bzw. die Neue literarische Welt, von Frank Thiess für die Darmstädter Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung78 herausgegeben (1951, 2 Beitr. bzw. 952/3, 5 Beitr.), der Merkur (Stuttgart, später Köln, dann München, 195474 Umgekehrt hatte Goll (1891-1950) 1918 zwei Gedichte in der erwähnten, von Urzidil redigierten Zeitschrift Der Mensch veröffentlicht. 75 S. auch von Gronickas (1912-1999) persönlich gefärbtes Portrait Urzidils (Gronicka 1956). 76 Urzidil wurde 1967 zum Ehrenmitglied dieser 1958 in Washington gegründeten Gesellschaft ernannt, der auch seine Freunde Ferdinand Peroutka (1895-1978) und Radimský (1898-1970) angehörten; letzterer war von 1964 bis zu seinem Tod erster Herausgeber der Proměny. S. auch den Nachruf Zdenka Münzrovás (1902-1986) in Zprávy SVU [SVU Nachrichten] und das Kurzportrait Miloslav/Míla Rechcígls jr. (* 1930), Mitbegründer, langjähriger Präsident und Autor einer Geschichte der SVU (Münzrová 1970; Rechcigl 2000). 77 Urzidil war vor dem Krieg auf Bitten Schönwieses (1905-1991) „Prager Vertreter und Redakteur“ (Strelka 2005: 135, s. auch Jonckheere 1961: 26-28) von dessen schon 1935/36 existierender Literaturzeitschrift gewesen und hatte darin auch 1936 ein Gedicht (Dich sing ich, Strophe) und eine Rezension zu Jean Giono veröffentlicht. Nach dem Krieg wagte Schönwiese, während der Nazizeit als Korrespondent in Ungarn tätig, einen Neuanfang (1946-52) seiner Zeitschrift, in der er auch viele Emigranten, oftmals Freunde von ihm, erstmals wieder in Österreich abdruckte. 1962 gab er das schon erwähnte erste UrzidilLesebuch Geschenke des Lebens heraus, zu dem er auch eine ausführliche Einleitung schrieb (Schönwiese 1962; dazu: Strelka 2005: 73-75). 78 Deren korrespondierendes Mitglied wurde Urzidil im Jahre 1962, unter der Präsidentschaft (1953-1963) seines langjährigen Freundes Hermann Kasack (1896-1966), den er „schon 1923 mit Prag vertraut gemacht hatte“ (Kasack 1996: 64). Sie kannten sich aber schon länger; denn Oskar Loerke (1884-1941) vermerkt bereits am 03.05.1921 in seinem Tagebuch, dass Urzidil – „etwas gesellschaftlich, erzählt Anekdoten, zuweilen bricht Tieferes durch.
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68, 15 Beitr.) von Hans Paeschke und Joachim Moras, die Prager Nachrichten (München, 1956-69, 11 Beitr.),79 und der von Melvin J. Lasky begründete, von Fritz René Allemann, Hellmut Jaesrich sowie Peter Härtling herausgegebene Der Monat (Berlin, 1961-64, 4 Beitr.). In Österreich waren es die Tageszeitung Die Presse (Wien, 1962-67, 5 Beitr.) und vier ebenfalls in Wien erscheinende Kulturzeitschriften: das damals von Rudolf Henz herausgegebene Wort in der Zeit (1956-65, 13 Beitr.),80 die von der Gemeinde Wien herausgegebenen Wiener Bücherbriefe (1957-65, 3 Beitr.),81 das reformkatholische Wort und Wahrheit Vital.“ –, Kasack und Wolf Przygode (1895-1926) bei ihm in Berlin zu Besuch gewesen seien (Loerke 1955: 80). 79 Schriftleiter dieser 1950 von Georg Schroubek (1922-2008) gegründeten Zeitschrift, seit 1953 zugleich auch Mitteilungsblatt des Adalbert-Stifter-Vereins, war, ebenfalls seit 1953, Walther Michalitschke (1894-1963). Diesen kannte Urzidil seit beider Schulzeit am GrabenGymnasium, wo Michalitschkes Vater, der Mathematiker Anton Michalitschke (1861-1924; Hemmerle 1975), Urzidils Lehrer war, und auch vom gemeinsamen Studium der Germanistik und Kunstgeschichte her (Michalitschke 1961). W. Michalitschke, der 1921 bei August Sauer über Friedrich Hebbel promoviert hatte, war bereits in der Zwischenkriegszeit und auch während der deutschen Okkupation als Redakteur tätig. Von 1941 bis 1945 war er Angestellter des Prager Kulturamtes; während der Besatzungszeit veröffentlichte er Schriften wie Was muß der deutsche Soldat über Prag wissen (1939 u. ö.), Wegweiser für den deutschen Soldaten durch das Protektorat Böhmen und Mähren (1940) oder Mährisch-Ostrau, ein Jahr im Großdeutschen Reich (1940) (Biographisches Lexikon 1984). Ob und wieviel Urzidil von diesen Tätigkeiten Michalitschkes wusste, ist nicht bekannt. Interessanterweise veröffentlichte dieser als Redakteur direkt vor seinem eigenen Gruß an Urzidil zu dessen 65. Geburtstag denjenigen des aus Mähren stammenden Journalisten Friedrich Bill (1894-1972), eines Studienfreundes von Urzidil, den es nach ersten Exiljahren in Südamerika dann ebenfalls nach New York verschlagen hatte (Bill 1961). Aufschlussreich könnte auch ein Vergleich von Michalitschkes 1939 in Prag verlegtem Prag. Ein Reiseführer mit dem Urzidils sein, der in demselben Jahr nur noch anonym erscheinen konnte (s. Anm. 36). Schon A. Michalitschke veröffentlichte 1923 die Bearbeitung eines Prag-Reiseführers, vor allem aber bereits ein Vierteljahrhundert zuvor eine Beschreibung und Gebrauchs-Anleitung des Caelo-Telluriums (zusammenlegbare Sphäre) (Michalitschke 1898), das als „Coelotellurium“ Eingang in Urzidils Erzählung Zu den neun Teufeln fand (Urzidil 1962b: 72, 80). 80 Die Website Literaturzeitschriften in Österreich 1945 bis 1990 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien zählt anders als die Bibliographie von Musil/Trapp noch zwei weitere Beiträge Urzidils für diese Zeitschrift zwischen 1955 und 1965, listet aber keine Titel auf (). 81 Die Website Literaturzeitschriften in Österreich 1945 bis 1990 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien zählt entgegen der Bibliographie von Musil/Trapp sogar sechs Beiträge Urzidils für diese Zeitschrift zwischen 1967 und 1970, ohne sie aber zu nennen ().
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(Wien, 1958-68, 8 Beitr.) von Otto Mauer und Karl Strobl und die von Henz, Gerhard Fritsch, Paul Kruntorad und später auch Jeannie Ebner herausgegebene Nachfolgezeitschrift von Wort in der Zeit, Literatur und Kritik (1966-70, 5 Beitr.);82 hinzu kam noch die Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Institutes in Linz (1956-68, 4 Beitr.).83 In der Schweiz publizierte Urzidil vor allem in den Schweizer Monatsheften (Zürich, 1958-71, 8 Beitr.).84 Insgesamt kann man sehen, dass im Exil, zum Teil notgedrungen, Urzidils Beiträge breiter gestreut wurden, was auch daran lag, dass er keinen festen Vertrag mehr mit einer Zeitung hatte wie zu Prager Zeiten mit dem Prager Tagblatt, der Deutschen Zeitung Bohemia oder dem Berliner Börsen-Courier und dass er auch nicht mehr selbst eine Zeitschrift herausgab wie Der Mensch oder Die Drei Ringe. Die Texte, die Urzidil in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, wurden in der Nachkriegszeit oftmals umfangreicher, es sind meist Essays und Erzählungen, was seinen Entschluss widerspiegelt, keine tagespolitischen Artikel mehr zu verfassen; folgerichtig sind es natürlich in der Summe auch weniger Beiträge.85 Und ebenso folgerichtig ist, dass diese Texte nur selten noch in Tageszeitungen erschienen, sondern vorrangig in Kulturzeitschriften. Man wird insgesamt davon ausgehen können, dass dieser publizistische Teil des Urzidilschen Werkes mindestens ebenso umfangreich ist wie der bislang in den Urzidil-Büchern publizierte, auch wenn Urzidil manche Texte und Textpassagen mehrfach verwertete. Gewiss ist manches Zeitbedingte darunter, was aber immerhin für die Forschung von Interesse und Bedeutung 82 Der neuerdings wieder verstärkt als Schriftsteller rezipierte Fritsch (1924-1969) war, vor allem als Redakteur von Wort in der Zeit, ein geradezu hymnisch lobender Urzidil-Rezensent (Fritsch 1956; 1960a; b; c; d). Ein Grund für die Urzidil-Affinität Fritschs könnte gewesen sein, dass seine Eltern aus Böhmen stammten. Nach dem Ende von Wort in der Zeit 1966 war Fritsch noch in demselben Jahr an der Gründung von Literatur und Kritik beteiligt und bis zu seinem Suizid deren Mitherausgeber, zeitweise auch Redakteur. Auch Henz (18971987), bei beiden Zeitschriften (Mit-)Herausgeber, der seit 1951 im österreichischen Exil lebende Kruntorad (1935-2006) und Ebner (1918-2004) betätigten sich später als UrzidilRezensenten (Henz 1972; Kruntorad 1971; Ebner 1973). 83 Urzidil wurde 1958 auf Betreiben von dessen Begründer, dem ihm in der Folgezeit freundschaftlich verbundenen Aldemar Schiffkorn [sen.] (1915-1987), korrespondierendes Mitglied des Instituts, in demselben Jahr wie Max Mell, Schiffkorns Doktorvater Josef Nadler und Rudolf Pannwitz; dazu Schiffkorn (1971: 74; 1983; 1986: 61f.). 84 S. zur Zusammenarbeit mit Urzidil den Nachruf von deren langjährigem (1965-1993) Kulturredaktor Anton Krättli (1922-2010) auf Urzidil (Krättli 1970). 85 Von 1913 bis 1939 erschienen 972 der 1488 Titel, die die von Vladimír Musil und Gerhard Trapp erstellte Urzidil-Bibliographie auflistet, also fast zwei Drittel, von 1940 bis 1970 418. Bei den 98 Titeln nach Urzidils Tod, seit 1971, handelt es sich vor allem um Wiederabdrucke und Übersetzungen.
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ist, daneben finden sich aber auch immer wieder Texte wie etwa die 1968 entstandene, postum veröffentlichte Anekdote Paul Kornfelds letztes Lachen (Urzidil 1972a), die es wert sind, dass sie auch einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden.
2.4. Rundfunksendungen Bereits in Prag hatte sich Urzidil über den Rundfunk Gedanken gemacht (Urzidil 1930) und sich für den deutschsprachigen Rundfunk in der ersten Tschechoslowakischen Republik engagiert (Trapp 2005), den sein ehemaliger Lehrer am Graben-Gymnasium, Oskar Frankl,86 in leitender Funktion prägte (Jirgens 2005). Im New Yorker Exil sorgte dann in den Jahren 1951 bis 1953 Urzidils Festanstellung bei der Österreichabteilung des Senders Voice of America, die ihm Robert Albert Bauer, ein angeheirateter Neffe87 seines Freundes Erich von Kahler und damals Direktor dieser Abteilung, beschafft hatte, eine Weile für materielle Sicherheit beim Ehepaar Urzidil (Pistorius 1978: 76; Bauer 1999; Cziczatka 2003: 275). Auch danach arbeitete Urzidil als freier Mitarbeiter für die Voice of America. Aus dieser Zeit stammen zahlreiche Sendungen, in denen Urzidil seinen Hörern die USA, ihre Kultur und Geschichte, aber auch ihren Alltag nahezubringen versuchte, insbesondere vermittels ihrer Architektur und Literatur. In 86 Frankl (1881-1955) sorgte auch für die erste ‚Veröffentlichung‘ Urzidils, indem er nämlich in einem Beitrag für den Jahresbericht des Graben-Gymnasiums 1910/11 über Die WeimarWartburgfahrt des Obergymnasiums vier Verse aus Urzidils Hymne an Weimar abdruckte, die der aus diesem Anlass dort am 15.05.1911 vorgetragen hatte (Binder 1986: 77f.). Frankl war später Direktor (1917-1937) des Prager Deutschen Volksbildungsvereins Urania (Jirgens 2005: 57-62, 82-89) und dann in der ČSR u. a. auch (Radiobund der Urania) maßgeblich für den deutschsprachigen Rundfunk aktiv. 1938 floh er aus seiner Heimat und gelangte über Paris, Bordeaux und London 1940 in die USA, wo er ab 1942 in New York lebte und lehrte (Armbrust/Heine 2008). 87 Zu Bauer (1910-2003) s. Cziczatka (2003: 238-243). Seine Frau Maria Bauer (*1919), Tochter von Urzidils Freunden Felix und Lilli von Kahler, hat über ihre Kindheit und Jugend im Prag der Zwischenkriegszeit, ihre Flucht 1939 über Paris und Portugal in die USA sowie die erste Wiederbegegnung mit ihrer Heimatstadt in den frühen Achtzigern, das Buch Beyond the Chestnut Trees [Jenseits der Kastanienbäume] (1984) geschrieben, in dem sie eingangs auch freundschaftlich Urzidils als Inspirator ihres eigenen Schreibens gedenkt (Bauer 1986: 5).
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seinen Sendungen sprach „Johannes Urzidil aus New York“, wie er sich den Hörern vorstellte (Kottkamp 2010), nicht nur über seine im New Yorker Exil neu bzw. wieder entdeckten literarisch-philosophischen ‚Hausheiligen‘ Henry David Thoreau und Walt Whitman (Grünzweig 1999: 105-112), sondern auch über viele andere klassische und moderne Autoren der amerikanischen Literatur wie Harriet Beecher Stowe, Emily Dickinson, William Faulkner, Robert Frost, Ernest Hemingway, Mark Twain, Marianne Moore, Carl Sandburg oder Gertrude Stein, von denen er zum Teil sogar Texte eigens für seine Sendungen ins Deutsche übertrug.88 Die bislang nicht detailliert bibliographisch erfassten, geschweige denn publizierten89 Manuskripte dieser Sendungen (und damit auch der Übersetzungen) werden in Urzidils Nachlass im Leo Baeck Institute aufbewahrt.90 Urzidil machte darüber hinaus auch tschechische Sendungen für den amerikanischen Sender Freies Europa/Radio Free Europe.91 Daneben war Urzidil für Sender in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig (Pistorius 1978: 91f., 96f., 102), er wurde interviewt, verfasste Manuskripte für Sendungen oder sprach eigene Texte ein, wobei die Sender anscheinend auch teilweise Sendungen, die für die amerikanischen Sender gemacht worden waren, übernahmen.92 88 In seinem Nachlass befindet sich eine handschriftliche Liste Deutsche Übertragungen amerikanischer Dichtung Urzidils für Sendungen der Voice of America mit gut 100 Gedichten von 34 amerikanischen Autorinnen und Autoren des 18. bis 20. Jahrhunderts, von Philip Freneau über Lydia Sigourney, William Cullen Bryant, Ralph Waldo Emerson, Henry Wadsworth Longfellow, John Greenleaf Whittier, Oliver Wendell Holmes sr., Edgar Allan Poe, Henry David Thoreau, James Russell Lowell, Walt Whitman, Emily Dickinson, Emma Lazarus, Edwin Markham, George Santayana, Edgar Lee Masters, Edwin Arlington Robinson, Robert Frost, Carl Sandburg, Nicholas Vachel Lindsay, Wallace Stevens, Hilda Doolittle oder Marianne Moore bis zu Robert Peter Tristram Coffin und Edna St. Vincent Milley sowie mit anonym publizierten Gedichten. 89 Eine Ausnahme ist Urzidils Voice of America-Sendung Besuch bei Friderike Zweig von 1955 (Urzidil 1985). 90 Die Manuskripte sind seit Juni 2012 im Internet einsehbar unter Subseries 5: Radio Programs by Johannes Urzidil on America, 1951-1967 auf: Leo Baeck Institute (2004ff.). 91 Anna Bischof (München) danke ich für den Hinweis, dass sich im Archiv des Senders in Prag auch Aufnahmen und Manuskripte dieser tschechischen Sendungen Urzidils befinden, auf die schon Antonín Měšťan (1999: 55f.) nachdrücklich hingewiesen hat. 92 Die Österreichische Mediathek in Wien verzeichnet in ihrem Onlinekatalog () 168 Sendungen oder Sendungsbeiträge von, gelegentlich auch nur mit, über oder nach (z. B. zwischen 1974 und 1993 vier ORF-Hörspiele nach UrzidilErzählungen, s. Johann/Schneider 2010: 368f.) Urzidil, wobei Themen und Titel zum Teil mit denen von Sendungen für Voice of America identisch sind. Man kann also vermutlich
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Eine Bibliographie von Urzidils Rundfunkbeiträgen, aus der man auch die Überschneidungen und Mehrfachausstrahlungen ersehen könnte, ist ein Desiderat. Überhaupt muss man sagen, dass dieser Teil von Urzidils Werk bislang kaum Beachtung gefunden hat.93 Seine Bedeutung liegt dabei nicht nur im Inhalt, der neue interessante Facetten dieses Werkes eröffnen dürfte, sondern auch im Sprachkonservatorischen, nämlich des von Urzidil immer wieder gegen alle sprachwissenschaftlichen Anwürfe bezüglich seiner Reinheit verteidigten Prager Deutsch (Helling 1981: 113-117; Herren 1981: 108-117; Thieberger 1986: 43-45; Demetz 2006: 140-142).94 Das machen auch die Audiofeatures deutlich, die in jüngster Zeit, im Zusammenhang mit der vierzigsten Wiederkehr von Urzidils Todestag, gemacht wurden und einen guten ersten Einblick in diesen von der Forschung vernachlässigten Bereich seines Schaffens geben (Augustin 2010;95 Kottkamp 2010;96 Schneider 2010).
2.5. Briefe Der vierte große Werkkomplex Urzidils ist ebenfalls noch kaum publiziert: sein umfangreiches Briefwerk. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass Urzidil, wie er einmal Gerhard Trapp mitteilte,97 täglich drei bis vier Stunden mit seiner Korrespondenz zubrachte und jeden Brief, den er erhielt, auch die Tondokumente zu den Manuskripten in Urzidils Nachlass wenigstens zum Teil auch in der Österreichischen Mediathek finden und anhören. 93 Dies korreliert mit der Tatsache, dass die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die deutschsprachige Nachkriegsliteratur bislang kaum herausgearbeitet wurde (Johann 2007: 121f.). 94 Auf Urzidils Rundfunkarbeiten und ihre Bedeutung machte mich dankenswerterweise schon vor einigen Jahren in einem Brief Franz Wurm (1926-2010) aufmerksam. Der in Prag geborene Dichter und Übersetzer leitete selbst in den sechziger Jahren das Kulturprogramm des Schweizer Radio DRS und begegnete in dieser Funktion Urzidil, vormals in Prag ein Logenbruder seines Vaters, in Zürich wieder (Kanyar-Becker 1999: 73-75). 95 Augustin hat seinem Audiofeature zwei Urzidil-Interviews von Irmgard Bach aus den Jahren 1959 (über sein Exil in den USA) und 1962 (über seine Jugend in Prag) zugrundegelegt, von denen das erstere auch in gedruckter Form erschienen ist (Bach 1980). 96 Ingo Kottkamp (Berlin), der in einigen Rundfunkarchiven nach Urzidilia gefahndet hat, gab am letzten Abend der Urzidil-Konferenz deren Teilnehmern einen akustischen Einblick in die von ihm zutage geförderten Trouvaillen. 97 Gerhard Trapp (München) danke ich für diesen Hinweis.
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persönlich beantwortete. Man kann sich vorstellen, welches Ausmaß Urzidils Briefwerk so erreicht haben dürfte. Die entsprechende Rubrik98 im Guide of the Papers of Johannes and Gertrude Urzidil des Leo Baeck Institute listet allein gut 120 Korrespondenzpartner auf, von denen bzw. an die mehrere Postsendungen in Urzidils Nachlass erhalten sind, dazu kommen noch solche, bei denen nur vereinzelte Postsendungen vorhanden sind, sowie seine umfangreiche Geschäftskorrespondenz mit Verlagen, Zeitschriften- und Rundfunkredaktionen. Die Bandbreite von Urzidils Korrespondenzpartnern ist dabei sehr groß, sie reicht von Verwandten von ihm und seiner Frau wie dem Literaturwissenschaftler Richard Thieberger,99 Freunden und Bekannten aus der Prager Zeit – exilierten wie Max Brod, Hans/Jan Gerke,100 Roman Jakobson, Hans Kohn oder Franz Werfel, daheimgebliebenen Tschechen wie Petr Bezruč, Josef Matouš oder Jan Zrzavý, schon vor 1945 in Deutschland lebenden wie Walter Koch, Oskar Schürer oder Melchior Vischer oder nach 1945 aus Böhmen vertriebenen wie Josef Mühlberger – über andere Exilanten wie Hermann Broch, Martin Buber, Mascha Kaléko, Thomas Mann, Ernst Waldinger oder Carl Zuckmayer, in den deutschsprachigen Ländern Lebende – ältere wie Carl Jacob Burckhardt, Heimito von Doderer, Noa Kiepenheuer oder Heinz Risse und jüngere wie Heinrich Böll oder Christine Busta – sowie über englischsprachige Autorinnen wie Bryher, Hilda Doolittle, Jean Starr Untermayer oder Dorothy Thompson bis hin zu Literaturwissenschaftlern wie Jürgen Born, Wilhelm Emrich, Kurt Krolop, Věra Macháčková-Riegerová, Margarita Pazi, oder Gerhard Trapp, die gleichsam schon auf einer wissenschaftlichen Metaebene des Interesses mit Urzidil korrespondierten. Dabei ist zu bedenken, dass im Nachlass Urzidils, überwiegend im Leo Baeck Institute in New York, aber zum Teil auch im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ‚natürlich‘ vor allem die Postsendungen ‚von‘ seinen Korrespondenzpartnern erhalten sind, die seinen dagegen nur, wenn er Abschriften behalten hat oder sie – warum auch immer – wieder in seinen Besitz gelangt sind. Will man also die Postsendungen lesen, die Urzidil selbst geschrieben hat, so wird man sie auch in den Archiven und Institutionen oder bei Privatpersonen suchen müssen und vielleicht finden können, die die Nachlässe seiner Korrespondenzpartner aufbewahren. Zu berücksichtigen ist auch, dass Urzidils Korrespondenz bis 1939, also bis zur Flucht aus Prag, nur in Ausnahmefällen 98 Die Briefe sind dort unter Series II: Correspondence online einsehbar. 99 Es war den Organisatoren der Urzidil-Konferenz 2010 eine besondere Ehre und Freude, Richard Thiebergers Tochter, die Germanistin Jacqueline Feuillet-Thieberger, und ihren Mann, den Slavisten Jack Feuillet, aus Nantes begrüßen zu dürfen. 100 Zu Urzidils Freundschaft mit Gerke seit gemeinsamen Gymnasialtagen s. Binder (1989).
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wieder in seinen Besitz gelangt sein dürfte; ob sich noch Teile davon z. B. im Nachlass von Josef Matouš erhalten haben, dem Urzidil vor seiner Flucht viele Gegenstände, zumal aus seiner Kunstsammlung, anvertraute,101 müsste noch geklärt werden, ebenso, ob er bei seiner Ausreise aus Großbritannien 1941 die Korrespondenz der vergangenen zwei Exiljahre mitnehmen konnte. Ediert im eigentlichen Sinne, d. h. insbesondere mit Anmerkungen versehen, sind diese Briefwechsel bislang nur zu einem sehr geringen Teil, nämlich erstens vor allem zum Themenkomplex Kunst sowohl auf Tschechisch geführte Korrespondenzen mit dem Künstler und Autor Josef Čapek, dem Kritiker Artuš Černík, dem ehemaligen Dienstmädchen der Urzidils, Marie ‚Mařenka‘ Hrušková, dem Gymnasialprofessor und Übersetzer Josef Matouš,102 dem Künstler und Herausgeber der Kunstzeitschrift Veraikon Emil Pacovský sowie dem Künstler und Trauzeugen Urzidils Jan Zrzavý als auch auf Deutsch geführte mit den Künstlern Paul Klee und Willi Nowak sowie mit Ottilie Utitz, der Witwe des Philosophen Emil Utitz (alle in Urzidil 2003), und zweitens die sich in Urzidils Nachlass befindlichen Exilkorrespondenzen mit Prager Freunden und Bekannten, den Autoren H. G. Adler, Max Brod, Willy Haas, Felix und Robert Weltsch sowie Franz Werfel, und mit der dazu forschenden Germanistin Margarita Pazi (alle in Sardelli 2009).103 Zwar ohne Anmerkungen, aber mit einem einleitenden erhellenden Kommentar versehen sind die Briefe Urzidils an die Prager Germanistin Věra Macháčková-Riegerová (1999) von dieser selbst veröffentlicht worden. Vollständig publiziert wurden außerdem einzelne Briefe Urzidils an Edvard Beneš (Hauner u a. 2000: 131f.), den Dichter und Brenner-Herausgeber Ludwig von Ficker (von Ficker 1988: 417), den Künstler Hans Fronius (Urzidil 1947), den Schriftsteller und Politiker Josef Svatopluk Machar (Simonek 2012: 147-151) sowie an die Glöckelberger Freundin Erna Petschl und den Böhmerwaldforscher Paul Praxl (Musil 1999: 204-206 bzw. 207-209). Daneben sind einzelne Korrespondenzen zum Gegenstand von Aufsätzen geworden, in denen sie zumindest auszugsweise publiziert sind. So haben der Begründer des Linzer Adalbert-Stifter-Instituts Aldemar Schiffkorn [sen.] (1971) und der lange in Freiburg lehrende tschechische Slavist Antonín Měšťan (1999) Passagen aus Briefen Urzidils an sie in eigenen Aufsätzen wiedergegeben. Auch Gerhard Trapp zitiert in seinen zahlreichen Arbeiten zu Urzidil immer 101 S. dazu die Beiträge von Jitka Křesálková sowie von Milada Minaříková und Miloš Minařík. 102 Zu Urzidils Briefwechseln mit Černík, Hrušková und Matouš s. den Beitrag von Jitka Křesálková. 103 Vgl. dazu auch den Beitrag von Valentina Sardelli.
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wieder einmal aus seiner Korrespondenz mit diesem. Trapp ist es auch, der Urzidils Korrespondenzen mit Oskar Schürer (2001/2) und mit Carl Zuckmayer (2000) in Aufsätzen thematisiert hat. Urzidils humorvoll-ironischer Briefwechsel in Versen mit der Lyrikerin Mascha Kaléko wird in Biographien über diese angesprochen und auszugsweise zitiert (Zoch-Westphal 2003: 309-317; Rosenkranz 2007: 104-106).104 Im vorliegenden Band finden sich die schon erwähnten Aufsätze zu Urzidils brieflichem Austausch mit Prager Freunden und Bekannten (sowie zu Bryher und M. Pazi) im Exil einerseits und mit einigen (A. Černík, M. Hrušková, J. und L. Matouš) der in Prag Verbliebenen andererseits sowie über den sehr umfangreichen und intensiven mit der österreichischen Dichterin Christine Busta.105 Eine in der Urzidil-Forschung bis auf Ausnahmen (Macháčková-Riegerová 1999: 154; Musil 1999: 200-203; Seeber 2006) noch unbeachtete Sonderform des Briefes bilden seine ausführlichen persönlichen Widmungen in Büchern. In Briefsammlungen anderer Autoren sind schließlich manchmal einzelne ihrer Briefe an Urzidil abgedruckt, so etwa von Carl Jacob Burckhardt (1986: 446-448), Franz Kafka (1955: 241, 371),106 dem Zürcher Germanisten Karl Schmid (2000a: 523, 633f., 684f., 732f.; 2000b: 966f.) und Kurt Wolff (1968: 442-444), dem ersten Verleger Urzidils. Dieser selbst hatte bereits sieben Briefe des tschechischen Dichters Petr Bezruč an ihn mit Kommentar veröffentlicht (Urzidil 1963). Alles in allem muss man also sagen, dass das Briefwerk Urzidils, sieht man von den genannten Ausnahmen und gelegentlichen Bezugnahmen auf einzelne Briefe in der Sekundärliteratur ab, bislang kaum erschlossen ist. Dabei könnte es wegen Urzidils Schlüssel- und Mittlerstellung in und zwischen den verschiedenen genannten Gruppierungen107 besonders aufschlussreiche
104 Die Briefe Kalékos an Urzidil werden vollständig in der vierbändigen Kaléko-Gesamtausgabe abgedruckt, die, von Jutta Rosenkranz herausgegeben, 2012 im dtv, München, erscheint; aus Urzidils Briefen an Kaléko wird im Stellenkommentar zu deren Briefen zitiert. Für den Hinweis danke ich Jutta Rosenkranz (Berlin). 105 S. zu dem Briefwechsel Urzidil-Busta den Beitrag von Verena Zankl, die an der Universität Innsbruck eine editorische Dissertation dazu erarbeitet; eine Buchpublikation ist geplant. 106 Die Bände der von Hans-Gerd Koch herausgegebenen, im Verlag S. Fischer innerhalb der Kritischen Ausgabe von Kafkas Werken erscheinenden Edition von Kafkas Briefen, die Kafkas zwei Briefe an Urzidil aus den Jahren 1918 und 1922 enthalten, lagen bei Redaktionsschluss des vorliegenden Bandes noch nicht vor. 107 Gruppierung hier nur in dem Sinne, dass ich die Korrespondenzpartner in verschiedene Kategorien eingeteilt habe, nicht in dem Sinne, dass sie sich jeweils als Gruppe gefühlt oder gar konstituiert hätten.
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Einblicke in die deutsch-, tschechisch- und englischsprachigen Kulturszenen sowie ihre Diskurse und Debatten gewähren.
3. Der unverlierbare Urzidil?
Wenn Manfred Papst (2011) unlängst in einer Rezension im Hinblick auf die zahlreichen übers Internet käuflich erwerbbaren antiquarischen Urzidil-Titel meinte, „[v]ergessen“ sei „gar nichts“, so hat er damit natürlich in gewisser Weise recht. Und auch das verstreut publizierte Werk ist zwar nicht „verbüchert“, wie Urzidil (1968: 156) selbst vielleicht sagen würde, aber doch in Bibliotheken verfügbar, auch wenn es manchmal kompliziert sein mag, an einzelne Zeitungen und Zeitschriften zu kommen. Schließlich liegt auch der Nachlass Urzidils wohlverwahrt, bearbeitet und erschlossen zum größeren Teil in New York, zum kleineren in Marbach und ist sogar zum größten Teil im Internet zugänglich.108 Insofern also alles bestens – der unverlierbare Urzidil? Freilich, auch das in seinem Bestand Gesicherte muss am ‚Leben‘ gehalten werden, soll es nicht totes Papier sein, Bücher und Texte wollen gelesen sein, gedeutet werden. Wie sieht es nun damit aus, im Hinblick auf Urzidil und sein Werk? Die Bibliographie der Sekundärliteratur zu Johannes Urzidil (Johann 2005)109 umfasst mittlerweile über 800 Titel, mit Erscheinen des vorliegenden Bandes werden es einige mehr sein. Wer jedoch genauer hinschaut, wird feststellen, dass der weit überwiegende Teil dieser Titel relativ kurze Zeitungs108 Der größte Teil des New Yorker Bestandes kann in der Dépendance des LBI im Jüdischen Museum Berlin auf Mikrofilm eingesehen werden; zudem ist er auch im Internet unter den Digital Collections des Centre for Jewish History ( bzw. ) zugänglich, s. vor allem auch Leo Baeck Institute (2004ff.), wo neuerdings rund 40.000 Seiten Nachlassmaterial bereit gestellt werden. Auf der Website Internet Archive ist darüber hinaus unter Johannes and Gertrude Urzidil Collection OLD RECORD 1753-1996 eine fast 600 Seiten umfassende Datei von Urzidilia aus dem Nachlass einsehbar (). 109 Eine erweiterte und regelmäßig aktualisierte Fassung findet sich auf der schon erwähnten Website von Vera Schneider und mir. Eine geplante thematische Sortierung der Bibliographie wird weiteren Aufschluss über die Sekundärliteratur und ihre Schwerpunkte geben.
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artikel sind; hinzu kommen noch persönliche Erinnerungen und Sekundärliteratur zu anderen Autoren, in denen Urzidil auch, aber eben nur auch eine Rolle spielt. Der im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen Arbeiten zu Urzidil mögen gut hundert sein, darunter vor allem die Monographien von Gerhard Trapp (1967), Stella P. Rosenfeld (1976), Hedwig [jetzt Agnes] Pistorius (1978), Christa Helling (1981), Peter Herren (1981), Isabelle Ruiz (1997), Valentina Sardelli (2009) und Anja Bischof (2012), die Bände mit den Vorträgen der beiden ersten Urzidil-Konferenzen 1984 in Rom (Lachinger/Schiffkorn [sen.]/ Zettl 1986) und 1995 in Prag (Schiffkorn [jun.] 1999), einige Magister- und Diplomarbeiten sowie eine größere Anzahl von Artikeln und Aufsätzen. Der vorliegende Band ist sowenig der Anfangs- wie der Endpunkt der Urzidilforschung, aber er stellt sie doch auf ein breiteres Fundament, vertieft manches bisher Untersuchte oder justiert die Perspektive darauf neu, und er nimmt Themen in den Blick, die bislang nicht oder nur am Rande behandelt wurden. Vor allem aber wirft er neue Fragen auf und weist damit auf neue Aufgaben für die Forschung hin. Nimmt sie diese an, kann sie ihren Beitrag zur ‚Unverlierbarkeit‘ Johannes Urzidils leisten. Aber die letzte Entscheidung darüber, ob Urzidil ‚verloren‘ oder ‚unverlierbar‘ ist, treffen die Leserinnen und Leser – und dazu bedarf es einer allgemein und leicht zugänglichen Werkausgabe.
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Johannes Urzidil im Spannungsfeld von Kultur und Politik
1. Intellektuelle in Prag
Intellektuelle Wirkungen lassen sich prinzipiell in sozialen, kulturellen oder politischen Dimensionen verorten, wobei man im konkreten Fall nicht immer von einer eindeutigen Zuordnung ausgehen darf, vor allem, wenn man Intellektuellen mit Karl Mannheim die Aufgabe, die Welt zu deuten und zu erklären, oder mit Max Weber, das Weltbild zu revolutionieren, zuschreiben möchte. Intellektuelle sollen somit als Personen betrachtet werden, denen man in einem bestimmten historischen Kontext die spezifische Funktion zuschreibt, Wissen, Theorien, Ideen oder Meinungen zu Problemstellungen von allgemeiner Bedeutung schöpferisch hervorzubringen und/oder öffentlichkeitswirksam zu verbreiten, und auf diese Weise die Weltbilder und Ideensysteme der gesamten Gesellschaft oder einzelner politisch-sozialer Bewegungen ihrer Epoche prägen. Ausgehend von einer solch offenen Definition kann man auch Johannes Urzidil als Intellektuellen betrachten, der als Produzent und Vermittler von Ideen und Weltbildern engagiert für bestimmte kulturpolitische und politische Sichtweisen oder Interpretationen eintritt und daraus Handlungen aus einer universalistischen, d. h. nicht strategischen, ethisch begründeten Perspektive ableitet und legitimiert. Eine dabei nicht zu verkennende aporetische Dimension zwischen Anspruch und Biographie, zwischen publizistischem und literarischem Werk scheint dabei ein Charakteristikum zu bilden. Sozialisiert noch im Habsburgischen Bildungssystem entwickelt der bilinguale Urzidil nach 1918 starke Sympathien für den sich erst in Ansätzen entwickelnden politischen Aktivismus1 bzw. den kulturell-literarischen Neobo1 Zum politischen Aktivismus, der ab 1926 zu einer Regierungsbeteiligung deutscher Parteien (Bund der Landwirte, Deutsche Christlichsoziale Volkspartei und später die Deutschen
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hemismus.2 Ja, Urzidil avanciert zu einem gleichwohl nicht unkritischen, öffentlichkeitswirksamen Apologeten der neuen Republik, verdingt sich aber als Pressebeirat im diplomatischen Dienst des Deutschen Reiches, womit er sich zumindest partiell von der Position des unabhängigen Intellektuellen entfernte, dem nach Mannheim erst eine gewisse materielle Unabhängigkeit die Freiheit des Denkens und Urteilens ermöglicht. Urzidil (2004) hat dies in seiner Studie Leben mit Diplomaten reflektiert. Es ist somit zu zeigen, inwieweit Urzidil dennoch die Freiheit des Intellektuellen für sich in Anspruch nahm, wenngleich dem jungen Botschaftsmitarbeiter vonseiten des Dienstherren gewisse Beschränkungen in der publizistischen Tätigkeit auferlegt wurden. In dem im Deutschen Reiche erscheinenden Berliner Börsen-Courier etwa durfte Urzidil, anders als in den Prager Periodika, ab 1921 nur mehr unter Kürzel bzw. nicht namentlich publizieren.
2. Zu den Texten der ‚aktivistischen‘ Periode
Ohne weiter auf biographische Einzelheiten einzugehen soll Johannes Urzidil, der sich als kritischer, aber durchaus auch sympathisierender Beobachter des neuen Staates empfand, als ein einflussreicher Analytiker der deutschtschechischen Beziehungen sowie der tschechoslowakischen politischen und kulturpolitischen Entwicklung vorgestellt werden. Urzidil war nicht nur mit literarischen Texten, sondern mit Reden, Zuschriften und Leitkommentaren in der reichsdeutschen Medienberichterstattung (z. B. im Berliner Börsen-Courier, kurz: BBC, wie auch als Korrespondent von Wolffs Telegraphenbureau) genauso präsent wie in der Prager deutschen (etwa in der Bohemia und im Prager Tagblatt) und z. T. in der tschechischen Presse, so in Ferdinand Peroutkas Sozialdemokraten) führte s. Kracik (1999), Linz (1982) und Sobieraj (2002). Urzidil selbst hielt sich aber von unmittelbar parteipolitischen Aktivitäten fern. 2 Mit Neobohemismus werden unter Bezugnahme auf frühere Konzepte – vor allem Bernard Bolzanos (vgl. Beitrag Strasser im vorliegenden Band) – Ansätze einer übernationalen Verständigung bezeichnet, getragen meist von Prager jüdischen Autoren. Kulturelle Zwischenräume werden dabei als Übersetzungsräume in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten und Vernetzungen verstanden, woraus Versuche einer Übertragung fremder Denkweisen, Weltbilder und differenter Praktiken resultieren (Krolop 2005; Höhne 2011).
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Přítomnost [Gegenwart],3 wobei sich eine ausschließliche Beschäftigung mit der tschechoslowakischen Politik bzw. den deutsch-tschechischen Beziehungen zeigt. Öffentlichkeitsgeschichtlich betrachtet (Hübinger 2006: 239) ist für Urzidil eine Orientierung des zeithistorischen Räsonnements in den außerliterarischen Raum kennzeichnend, wobei eine zentrale Voraussetzung für sein publizistisches Wirken das literarisch-publizistische Feld bildet, auf dem er autonom agierte und das es ihm ermöglichte, in das politische Feld eingreifen zu können und sich als Intellektueller zu konstitutieren und zu positionieren.4 Ausgehend von der Feldtheorie sei hier ein Versuch unternommen, Urzidils publizistische Tätigkeit bis 1939 zu visualisieren.5
3 Trapp (1996: 26) schätzt ca. 175 Aufsätze, die im engeren Sinn politische Themen behandeln, wobei diese überwiegend im Berliner Börsen-Courier (BBC) bzw. nach 1933 im Genfer Journal des Nations, im New Yorker Aufbau sowie in der Exilzeitschrift Čechoslovák v Anglii [Der Tschechoslowake in England] erschienen. In der Bohemia und im Prager Tagblatt publizierte Urzidil eher feuilletonistische Artikel. — Zur Bibliographie der Periodika s. . 4 „Zurückgezogen auf die ihm eigene Ordnung, gestützt auf seine ureigenen Werte der Freiheit, Selbstlosigkeit, Gerechtigkeit, die ausschließen, daß er seine spezifische Autorität und Verantwortlichkeit zugunsten zwangsläufig minderwertiger weltlicher Profite und Machtbefugnisse aufgibt, behauptet sich der Intellektuelle – gegen die eigentümlichen Gesetze der Politik, die der Realpolitik und der Staatsräson – als Verteidiger universeller Prinzipien, die nichts anderes sind als das Ergebnis der Universalisierung spezifischer Prinzipien seines eigenen Universums.“ (Bourdieu 2001: 211) 5 Erfasst wurden Periodika, in denen Urzidil mindestens fünf Artikel veröffentlicht hat. Der Graph ‚Prestige‘ weist auf ausgewählte Periodika, die auf literarisch-kulturelle Vermittlung orientiert sind und somit Zielgruppen aus intellektuell-gebildeten Milieus ansprechen. Diese Periodika verfügen über eine eher begrenzte Auflage bzw. quantitative Reichweite oder richten sich, wie die Freimaurerzeitschrift Die Drei Ringe an eine begrenzte Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite stehen Periodika mit expliziter, auch tagespolitischer Wirkungsabsicht und einer quantitativ größeren Verbreitung.
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Publizistische Tätigkeit Johannes Urzidils 1913-1939 Prestige (symbolisches Kapital)
Witiko (1928-31/5) Die Aktion (1916-18/7)
Bohemia (1923-38/110) PT (1913-39/70)
Prítomnost (1927-37/7) Freie Welt (1928-33/17) Brücken/Most (1935-38/15)
BBC (1922-33/142) Prager Rundschau (1935, 1937/5)
Forum (1935-38/42) Die Drei Ringe (1925-38/284) Verbreitung, Rezeption, Wirkung
Abb. 1: Publizistische Tätigkeit Urzidils 1913-1945 (Dauer Herausgabe/Anzahl Artikel).
Ohne aus Platzgründen auf eine über den ideengeschichtlichen Ansatz hinausgehende diskurstheoretische Analyse eingehen zu können, mit der ein Blick auf explizite und implizite, text- und kontextsemantische Verweisungen bzw. intertextuelle Zusammenhänge ermöglicht wird, aus denen sich über Auseinandersetzungen um Bedeutungen, die immer auch Fragen der Macht tangieren, eine öffentlichkeitskonstitutive Dimension ergibt, sollen zumindest einige der zentralen Argumente bzw. Topoi herausgearbeitet werden, die für Urzidils Publizistik charakteristisch sind. Urzidil stand als Akteur im Zentrum des kulturpolitisch-publizistischen Diskurses um nationale bzw. nationalkulturelle Integration und Abgrenzung, in seinen Texten findet man als ein zentrales Thema immer wieder das Konfliktfeld der deutschböhmischen bzw. sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen. Dies sei zunächst an dem zentralen Essay Deutsche und Tschechen (1922) aus der Neuen Rundschau sowie einigen weiteren Texten, u. a. der späten Studie Die Tschechen und Slowaken (1960) verdeutlicht.6 In Urzidils Tagespublizistik kehren zentrale Themen leitmotivisch wieder. Hierzu gehören die Akzeptanz des tschechoslowakischen Staates, nicht aber 6 Viele der Themen der hier analysierten Texte finden sich auch in der übrigen Publizistik Urzidils, insbesondere im BBC, hier vor allem Die Taktik der Deutschböhmen (BCC 207, 05.05.1921: 1f.), Tschechen und Sudetendeutsche (BBC 300, 02.07.1926: 1f.), Sudetendeutscher Aktivismus (BBC 481, 14.10.1926: 1f.). Zu Urzidils Publizistik siehe auch die Beiträge von Ruiz, Havlin, Křesálková und Vassogne im vorliegenden Band.
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des zentralistisch organisierten Nationalstaates, dem ein Konzept eines föderalistischen Nationalitätenstaates entgegen gestellt wird; ferner die Kritik an der Dominanz der tschechischen Mehrheit und der damit verbundenen (kulturpolitischen) Benachteiligung der Minderheiten; die Unterstützung des deutschen politischen Aktivismus und der Bejahung einer republikanischparlamentarischen Regierungsform; die Kritik an der Desintegration innerhalb der Sudetendeutschen und an dem Kulturgefälle zwischen Prag und der Provinz (BBC, 30.10.1925: Sudetendeutsche Zersplitterung) und schließlich die Kritik an einer antideutschen tschechoslowakischen Außenpolitik, durch die der Staat zu einem Vehikel französischer Interessen gerate, radikalisiert noch durch konstatierte panslavische Tendenzen, gegen die Urzidil auf den mitteleuropäischen Traditionskontext verweist. In der Urzidilschen Publizistik kurz nach dem Ersten Weltkrieg findet man vor allem eine Thematisierung der mit der Staatsgründung verbundenen nationalen Verhältnisse, somit eine kritische Auseinandersetzung mit den tschechischen argumentativen Mustern bzw. Topoi des Staatsgründungsnarrativs wie Befreiung, Neubeginn und Umorientierung politischer Herrschaft von dynastischer auf volkssouveräne Legitimation sowie Wegfall imperialer Rahmung nebst internationaler Anerkennung, die zudem einen Bezug auf das böhmische Staatsrecht verzichtbar machten (Haslinger 2010: 287). Ausgangspunkt von Urzidils Überlegungen in der Studie von 1922 ist die Assertion grundlegender Loyalität zum neuen Staat, auf die aber, so der Versäumnistopos, man tschechischerseits nicht angemessen reagiert habe. Da die Deutschen nicht den Staat, sondern nur das System bekämpfen würden, wäre es leicht gewesen, die Deutschen für die Bejahung des Staates zu gewinnen, eines Staates, zu dem sie wirtschaftlich gravitieren und mit dessen anderssprachigen Bewohnern sie durch jahrhundertelange Wechselwirkungen verknüpft sind. (Urzidil 1922: 163)7
Leider hätten die Tschechen den Deutschen nicht „wie Gleiche den Gleichen die Hand geboten“, sodass „die Wurzel des deutsch-tschechischen Gegensatzes ausgetilgt worden“ wäre (Urzidil 1922: 157), erklärbar nach Urzidil mit 7 „Damals in den ersten Stunden gab es wenig vernünftige Deutsche in Böhmen, die im Grunde die staatliche Selbständigkeit der Tschechen nicht begrüßt hätten.“ (Urzidil 1922: 157) Dass die Assertion einer grundlegenden Staatsbejahung nicht völlig realitätsfern ist, zeigen eine Reihe von Äußerungen politischer Repräsentanten innerhalb der deutschen Bevölkerung. Zu einem antitschechischen Stimmungswechsel scheint es erst im Verlauf der Besetzung der Grenzgebiete durch tschechisches Militär gekommen zu sein, ein Stimmungswechsel, der mit der Eskalation des 04.03.1919 eine auch symbolische Überhöhung fand (Maurer-Horn 1997).
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dem Wechsel von einem positivistischen böhmischen Staatsrecht („der Föderalismus des österreichtreuen Palacký“) zu einem negativistischen anti-habsburgischen, ein Deutungsmuster – so Urzidil – zur Erklärung des deutschtschechischen Gegensatzes: Der neue Staat entstand aus einer doppelten Negation. Aus der inneren Negation des zentralistischen Österreich durch die Tschechen und aus der äußeren Negation Deutschlands durch die Westmächte. (Urzidil 1922: 158f.)
Da aber Staaten, wie Urzidil vermerkt, „nicht auf Negationen, sondern nur auf Positionen begründet werden“, sei es notwendig, „ein neues und wirkliches Staatsbewußtsein dem tschechischen Volke zu schaffen“ (Urzidil 1922: 159), womit Urzidil auf ein zentrales Defizit in der Staatsgründung hinweist. Die strikte Beibehaltung des Nationalstaats gegenüber einem Nationalitätenstaat, die gar auf die Sprache übertragen wird: „Tschechoslowakisch“ fungierte als offizielle Sprache der Republik (Haslinger 2010: 298). Urzidil knüpft an Masaryks Theorem der Sendung an, die für das tschechische Volk in der Humanität liege, eine Vision, die allerdings politisch nur instrumental bzw. optional rezipiert werde: als Gegensatz zum katholischen Rom mit seinem universalistischen Anspruch, als vermittelnde Stellung des Staates zwischen Ost und West, als politisch-militärischer, demokratischer Wall im neuen Europa (Urzidil 1922: 159),8 als eine Art höhere Schweiz (Urzidil 1922: 160),9 als „Erfüllung des rein tschechischen Nationalstaats.“ (Urzidil 1922: 160). Tatsächlich versuchte Masaryk zwar, Staatsraison und Minderheiten miteinander zu versöhnen, ohne dabei aber etablierte Positionen der Staatsgründungsdiskurse aufzugeben. Urzidil akzentuiert hier den in Masaryks Humanitätsideal angelegten Gegensatz zur Realpolitik, wobei er von einer ethisch-idealen Perspektive, die demokratische Kritik an der Republik eines Emanuel Rádl antizipierend (Demetz 1999: 31),10 kritisch das Konzept eines 8 Dieser Topos erfährt eine Aktualisierung auch von deutschböhmischer Seite angesichts der Bedrohung der Republik um 1937/38, s. z. B. Franz Werfels Essays Das Geschenk der Tschechen an Europa (17.09.1938) und Die kulturelle Einheit Böhmens (25./26.09.1938). 9 Das Vorbild Schweiz wurde im tschechischen politischen Diskurs nur bedingt akzeptiert und sogar mit negativen Konnotationen (im Sinn einer Schweizerisierung der Republik) belegt (Haslinger 2010: 295); s. ferner Havlin (2007, 2011). 10 Bei Emanuel Rádl findet man einen Versuch, den tschechischen Sprachnationalismus am Beispiel von Masaryks Staatskonzept und der konkreten Sprachpolitik zu widerlegen und eine Alternative zum nationalpolitischen Programm der Tschechen, aber auch dem volkspolitischen der Sudetendeutschen zu zeigen: „Es ist notwendig, die Trennung des Nationalen vom Staat durchzuführen, wie man die Trennung der Kirche vom Staat fordert. Der Sinn der Forderung nach nationaler Autonomie ist der: der Staat ist die durch Vertrag zwi-
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tschechischen Nationalstaates reflektiert, der „für die Tschechen vor allem als Heimat geschaffen, für die übrigen Nationen aber bloß von der Bedeutung einer Gaststätte“ sei (Urzidil 1922: 160), der nationale Gegensatz gerate so zum „ersten Gift [für] den Staatskörper“ (Urzidil 1922: 161). Dem Masarykschen Idealbild wird das realpolitische einer widersprüchlichen Staatsbildung entgegengestellt, bei dem sich die Antinomien zwischen historischem und ethnographischem Prinzip auch mit Hilfe ökonomischer Sachzwänge nicht begründen ließen. Bei der Gründung des tschechoslowakischen Staates kamen zwei Prinzipien in sehr widerspruchsvoller Weise zur Anwendung: das historische Prinzip in Böhmen, Mähren und Schlesien und das ethnographische Prinzip in der Slowakei. Wirtschaftliche Regulative mußten herhalten, um die Unzulänglichkeiten der beiden Prinzipien auszugleichen. Denn das historische Prinzip konnte nicht auf die Slowakei, das ethnographische nicht auf die deutschen Gebiete der böhmischen Krone ausgeweitet werden, wenn man den tschechischen Staat in seiner heutigen Form anstrebte. (Urzidil 1922: 162)
Urzidil wendet sich gegen die Inkonsequenz tschechischer Politik, die gemäß der staatsrechlichen Tradition von Havlíček bis Kramář immer für Autonomie und gegen Zentralismus eingetreten sei, man nun aber einen zentralistischen Staate errichtete. Der darin angelegte Manichäismus, den Urzidil auch auf Seiten der Sudetendeutschen beobachtet, denen als Optionen die von Stifters Witiko und die von Georg von Schönerers „alldeutschem Radau-Nationalismus“ (Urzidil 1960: 195) offen standen, ist immer Ausdruck historischer Kontextualisierung. Hierzu ein Beispiel aus einem Text von 1925: Ausgehend von dem Artikel Panslavismus (1843) aus der in nur drei Jahrgängen erschienenen Revue österreichischer Zustände, der sehr wahrscheinlich Ferdinand von Schirnding zuzuschreiben ist, interpretiert Urzidil das deutsch-slavische Verhältnis aus dem grundsätzlichen politischen Antagonismus zwischen Österreich und Russland, die zu diesem Zeitpunkt ja enge Verbündete im Rahmen der Heiligen Allianz waren. Für Habsburg wird darin eine westslavische Orientierung skizziert, durch die die Monarchie ein Gegengewicht gegen eine erwartete deutsche und russische Übermacht bilden könne. Man erkennt unschwer die Antizipation eines fünf Jahre später formulierten Briefes von Palacký. Schirndings Antagonismuskonstrukt, das einen Kampf zwischen Deutschen und Slaven um Mitteleuropa prognostiziert, kontrastiert Urzidil zunächst mit innerböhmischen Dialogmodellen von Havlíček über Masaryk (Die Tschechische schen freien und selbstberechtigten Nationen entstandene Organisation […].“ (Rádl 1928: 8). Urzidil (1921) erwähnt explizit eine Rede Rádls, in der die destruktiven Wirkungen des Nationalhasses auf beiden Seiten kritisiert werden. Zu Rádl s. Kot’a (2006), zu Rádls Kritik an Masaryk s. Nittner (1987: 24f.).
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Frage, 1895) bis zu Kramář (Das böhmische Staatsrecht, 1896), in denen föderale Selbstbestimmung für die Nationen der böhmischen Länder gefordert werden, die aber mit der aktuellen Politik des Jahres 1925 längst in Vergessenheit geraten seien. Dadurch, dass die Tschechoslowakei „Erbin des österreichischen Nationalitätenproblems“ (Urzidil 1925a: 12) sei, ergäben sich prinzipiell zwei politische Perspektiven: Eben der Weg des von Schirnding skizzierten Antagonismus oder der Weg des politischen Ausgleichs, wie er von tschechischen Vordenkern des 19. Jahrhunderts formuliert wurde. Teil von Urzidils Argumentation ist ferner die Dekonstruktion teleologischer Deutungsmuster. Nicht nur das geographisch-politisch codierte Tschechoslowakismus-Konzept, ein Konstrukt, das rein semantisch Minderheiten exkludiert,11 sondern auch historische Konstrukte wie Bílá Hora und dessen retrospektive Nationalisierung werden auf einer erinnerungskulturellen Ebene entideologisiert.12 Urzidil verweist zurecht auf den ständischen und konfessionellen Charakter des Konfliktes von 1620: „Aus falschen Identifikationen gehen die politischen Hauptsünden hervor“ (Urzidil 1922: 167), wobei falsche Identifikationen auf beiden Seiten vorlägen, da auch die sudetendeutsche Gleichsetzung von Staat und tschechischem Volk indirekt die tschechische Position bestätige. Die Schuld an dieser unklaren Einstellung der Deutschen zum Staate tragen die Tschechen zum gleichen Teil wie die Deutschen. Man kann wohl sagen, daß unter den vernünftig denkenden deutschen Politikern keiner sein wird, der sich heute noch in einer grundsätz11 Der tschechische Raumdiskurs umfasste nicht nur das deutsch-tschechische Verhältnis, sondern enthielt ein ausgeprägtes West-Ost-Gefälle, wobei die Slowakei und die Karpatoukraine (‚unser Bosnien‘), ausgehend vom Modernisierungsparadigma, folklorisiert und orientalisiert wurden. Dominant blieb die Ausbildung einer zentralistischen Politik mit antiregionalen Reflexen und einer paternalistischen Einstellung gegenüber der Slowakei, die analog Mähren im 19. Jahrhundert in das tschechische Staatsnarrativ zu integrieren sei. Dabei erfolgte eine bipolare Ausgestaltung des Tschechoslowakismus mit einer geopolitischen Perspektive (Sicherung eines freien Mitteleuropa) bzw. auch der Überwindung des Status einer kleinen Nation mit prognostizierten 15 Mio. slavischen Einwohnern. Der Slowakei wurde dabei der Status einer eigenen Nation aberkannt, das Gebiet mit dörflichem Charakter und politischer Unreife attribuiert – bei den Prager intellektuellen Eliten herrschte eher Desinteresse vor. Ein integrativer gesamtnationaler Diskurs in Bezug auf die Slowakei war so zum Scheitern verurteilt, statt dessen dominierten Vorstellungen einer Assimilation oder Verschmelzung; die Slowakei sei, so Ferdinand Peroutka innerhalb der Republik wie „Zucker in einem Glas Wasser“ aufzulösen (zit. n. Haslinger 2010: 332). 12 S. hierzu auch Rádls Kritik an der Instrumentalisierung nationaler Mythen und an unhis torischen Konstruktionen der Geschichtsschreibung (Kot’a 2006), insbesondere die Konstruktion eines historischen Kampfes zwischen Tschechen und Deutschen und dessen Rückprojektion bis in die frühmittelalterliche Geschichte.
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lichen Ablehnung des Staates als solchen ergeht. Der Kampf der Deutschböhmen gilt im wesentlichen nicht dem Staate, sondern dem System. (Urzidil 1922: 163)
Der Korrektheit halber sei aber darauf verwiesen, dass Urzidil – Ausdruck einer argumentativen Inkonsequenz – an anderen Stellen selbst dem Dilemma der Typologisierung erliegt, die „niemals das Einzigartige erfassen“ und die, „weil ihre Generalisierungen statistisch nicht gültig sind“ nicht einmal, so Adorno (1996: 303), „als heuristische Werkzeuge taugen.“ Die Hussiten erscheinen bei Urzidil als eine homogen tschechische Bewegung ungeachtet der Tatsache, dass eine große Zahl tschechischer Städte katholisch blieb und es auch deutschsprachige Hussiten gab. Man kann sich ferner nicht des Eindrucks erwehren, dass Urzidil im reichsdeutschen Berliner Börsen-Courier deutlich kritischer über ‚die‘ Tschechen schreibt als in tschechoslowakischen Periodika. So unterstellt er Politikern wie Karel Kramář Absichten einer „Entnationalisierung der Deutschen […] bzw. eine Tschechisierung der deutschen Grenzgebiete“ (Urzidil 1925b),13 bezweifelt generell den tschechischen Verständigungswillen und erkennt, ungeachtet prinzipieller Zustimmung zur Regierungsbeteiligung deutscher Parteien, doch gravierende Nachteile angesichts der sudetendeutschen Spaltung in Aktivisten und Negativisten: Den Bruch mit der Vergangenheit, die Aufgabe starrer nationaler Terminologien könnte man füglich begrüßen, wenn sie einer realpolitisch gesicherten Zukunft des sudetendeutschen Volkes den Weg öffnen würden. […]. Das will viel heißen in einem Staate, der bisher in allem und jedem gegen die Deutschen ohne Unterschied regierte. Es will noch mehr heißen, wenn man bedenkt, daß die beiden deutschen Parteien ihre Stimmen an der Seite von Tschechen auch gegen deutsche Volksgenossen abgeben mußten. Man kann nur wünschen, daß von seiten der Tschechen dieses deutsche Opfer richtig eingeschätzt wird und daß auch sie lernen, ihre nationalen Aspirationen zugunsten einer gedeihlichen Zusammenarbeit der Völker im Staate hintanzusetzen. (Urzidil 1926a: 1)
In späteren Artikeln akzentuiert Urzidil allerdings die Chancen des politischen Aktivismus, der gewissermaßen zum Erfolg verdammt sei: Die Freunde der Völkerversöhnung werden den bekundeten Willen der sudetendeutschen Aktivisten zur Mitregierung und zur Uebernahme der Verantwortung […] nur begrüßen […]. Wenn man auch darüber im Zweifel sein kann, ob die psychologische Verfassung bei-
13 „Schritt für Schritt, aber unaufhaltsam wird […] die Tschechisierung in das deutsche Gebiet vordringen und das deutsche Volk des Fundaments seines Volkstums, des geschlossenen Sprachgebietes berauben. Bald wird es kein deutsches Land, sondern nur mehr gemischtsprachige Bezirke geben und das deutsche Volk wird allmählich de facto zu dem werden, als was es die Tschechen heute noch zu Unrecht bezeichnen, zu einer ‚Minderheit‘.“ (Urzidil 1925c: 2)
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Stereotypisierungen auf der Basis essentialistischer nationaler Kategorisierungen finden sich auch später,14 wenn z. B. „der Weltkrieg von 1914 bis 1918 die Tschechen auf seiten der Serben und Russen“ findet (Urzidil 1960: 201). Andererseits weist Urzidil (1960: 113-115) auf die Gefährlichkeit hin, überhaupt ‚Nationalcharaktere‘ zu etablieren, er weiß also um das exkludierende Potential eines integralen Nationalismus, dessen Vokabular er zum Teil verwendet. Urzidil konstatiert aber auch eine uneindeutige Stellung der Deutschen. Als Gründe dafür nennt er das Verfassungs-, das Sprachen- und das Kriegsanleihegesetz sowie „zahllose Übergriffe mutwilliger Soldateska, die viele deutsche Menschenleben forderten“ (Urzidil 1922: 164).15 Urzidil weist somit auf gravierende Desiderate angemessener Identitäts- und damit Integrationsangebote: Der Staat müsse mehr sein als das System und die Existenz des Staates mehr als die Erhaltung einer bloßen Gewaltherrschaft, die jegliche Loyalität verhindere: Das Fundament der Politik der Deutschen in der Tschechoslowakei muß in der Beantwortung der Frage liegen: Gehören wir unserer inneren und äußeren Aufgabe gemäß natürlicherweise dem neuen Staatsgebilde an der Moldau an oder nicht? (Urzidil 1922: 170)
Urzidil nennt eine Reihe von Gründen, die für eine Integration in den Staat sprächen wie historische Kontinuität, ökonomische und kulturelle Beziehungen, mentale Distinktion („der geistige Typus des Deutschböhmen“, der sich von den übrigen Deutschen fundamental unterscheide) und eben die politische Sendung. So, wie ein reindeutsches Österreich nach dem Ende Habsburgs im Deutschen Reich aufgehen müsse, so liege die alte Last des multina14 Aus der mittlerweile ausufernden Literatur zur Nationalismusforschung sei hier nur verwiesen auf die für die Böhmischen Länder bzw. die Tschechoslowakei einschlägigen Titel von Miroslav Hroch (2005) und Jiří Kořalka (1991), zur raschen Orientierung ferner Wehler (2001). 15 Urzidil empfiehlt, anknüpfend an den deutschböhmischen Fremdsprachendiskurs vor 1914, von den Tschechen vor 1918 zu lernen, die sich „die verhaßte deutsche Staatssprache“ angeeignet hätten. „Die Tschechen also waren gleichzeitig gegen die Monarchie, beherrschten aber gleichzeitig einen großen Teil ihres Organisationsapparates.“ Zentrales Gebot müsse „die absolute Erlernung der tschechischen Sprache durch die junge deutschböhmische Generation“ sein (Urzidil 1922: 172). – Konzepte bilingualer Ausbildung in der akademischen Ausbildung wurden maßgeblich von Franz Spina propagiert, bei dem Urzidil „mit größter Wahrscheinlichkeit“ Vorlesungen besuchte (Trapp 1996: 27; zu Spina s. Höhne/ Udolph 2011). Darüber hinaus entwickelte sich unter den Deutschböhmen aber auch ein taktisches Interesse, die ‚Sprache des nationalen Gegners‘ zu erlernen (Němec 2009: 97103; 242-247).
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tionalen Habsburg nun auf den Deutschen in der Tschechoslowakei, gewissermaßen ein Sendungstransfer, der in Teilen mit Hugo von Hofmannsthals Österreichischer Idee kongruiert, nur dass Basis und Träger dieses Essays auf die Tschechoslowakei übertragen werden. Allerdings versteht Hofmannsthal die Vermittlerrolle als einseitige Aufgabe Österreichs, die deutsche Kultur nach ‚Osten‘ zu vermitteln, wogegen Urzidil den Deutschböhmen eine beidseitige Vermittlerrolle zuerkennt, also Vermittlung deutscher Kultur an die Tschechen, aber zugleich auch tschechischer Kultur an die Deutschen. Dieser Vermittlungstopos wird in späteren Essays wie Wir standen Spalier oder Rückblick auf die deutsch-tschechische Kultursymbiose modifiziert auf die Prager deutschen Autoren übertragen. Unter weitgehender Ausblendung realer sozialer Konflikte entwickelt Urzidil das Konzept eines deutschböhmischen Vorpostens, aber in Abgrenzung zum gängigen Sprachgebrauch eines Vorpostens der Friedenspolitik: Bei diesem Vorposten gehe es um eine Vermittlerrolle in kultureller Hinsicht mit dem Ziel ökonomisch-politischer Kohäsion. Auf die sich hier andeutende Spaltung der August-Sauer-Schüler in eine Ausgleichsgruppe, zu der Urzidil und Franz Spina zu rechnen sind, und eine Antagonismus-Gruppe (Josef Nadler, Josef Pfitzner) sei hier nicht weiter eingegangen.16 Diese höhere Sendung (Aufgabe) der Sudetendeutschen müsse auch im Interesse der Tschechen liegen (Urzidil 1922: 168): „Ein Nationalitätenstaat ist auf die Dauer nur denkbar, wenn er die Bedingungen des schweizerischen Zusammenlebens von Nationen für sich modifiziert.“ (Urzidil 1922: 169) Gleichwohl problematisiert Urzidil Analogisierungen mit dem Schweizer Prinzip der Territorialautonomie, die er auf Kultur und Sprache bei wirtschaftlichem und politischem Zentralismus mit gerechter verhältnismäßiger Vertretung der Nationen beschränkt sehen möchte. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht aber scheint ein vernünftig gedämpfter Zentralismus mit weitgehenden Befugnissen der Kommunen und untergeordneten Verwaltungskörper sowohl für die Deutschen als auch für den Staat weit nützlicher zu sein als eine Autonomie ‚um jeden Preis‘. (Urzidil 1922: 176)
Urzidils Vision oder Utopie eines „wirklich freien tschechisch-deutsch-slowakisch-magyarischen Staates“ (Urzidil 1922: 170) avanciert zu einem antiirredentistischen Gegenmodell realpolitischer Fremd- und Selbstmarginalisierung der Minderheiten auf die Rolle von Kolonisten oder Gästen. Urzidil weist damit auf die implizit europäischen Potenzen der Tschechoslowakei hin
16 Zu Spina s. Höhne/Udolph (2011), zu Nadler s. Ranzmaier (2008), zu Pfitzner s. Hadler/ Šustek (2001).
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und geht über die rein kulturell-literarischen Kontaktphänomene des Prager Kreises hinaus. Öffentliche Stellungnahmen Urzidils gegen den Nationalsozialismus findet man nicht erst 1936 in Peroutkas Přítomnost (Trapp 1996: 29), sondern schon vor 1933. Bereits im August 1932 veröffentlichte Urzidil (allerdings anonym) in den Die Drei Ringen den Artikel Freimaurerei und Nationalsozialismus, im Oktober 1934 positionierte er sich als humanistischer Freimaurer klar gegen die NSDAP mit dem Text Freimaurerei macht für NSDAP ungeeignet. Dabei akzentuierte Urzidil immer auch die spezifische Vermittlerrolle der Sudetendeutschen. In Texten wie Nouvelles perspectives de la collaboration nationale en Tchécoslovaquie – der Artikel erschien unter dem Pseudonym Jean Dupont im Genfer Journal des Nations (23.06.1936) – nimmt er Bezug auf Arbeiten von Kamil Krofta, der, ausgehend von bohemistischen Topoi wie Toleranz, Vermittlerrolle, spezifischem Näheverhältnis zwischen Tschechen und Deutschen sowie der Herausbildung eines eigenen Gruppencharakters, schon in den 20er Jahren eine derartige Funktionsbestimmung konstatiert: Wer ist denn berufener zum Vermittler zwischen dem Deutschtum und allen seinen östlichen slawischen Nachbarn, als eben die Deutschen in der Tschechoslowakei, die in täglicher Berührung mit der slawischen Nation leben und so eine wertvolle Gelegenheit haben, sich die Kenntnis der slawischen Sprache und Kultur zu erwerben und so das Tor zur ganzen slawischen Welt zu öffnen? Darin könnten unsere Deutschen ihre besondere Lebensaufgabe finden, ihre bedeutungsvolle Mission. […] Dann werden sie nicht ein Keil sein, der zwischen uns und Deutschland steckt, sondern ein Band zwischen uns beiden. (Krofta 1928: 29f.)
Als Gemeinsamkeit in Urzidils publizistischen Texten der 30er Jahre vermerkt Gerhard Trapp (1996) eine weitgehend uneingeschränkte Übernahme der Positionen von Beneš und Krofta verbunden mit Appellen an die Loyalität gegenüber der Republik sowie Warnungen vor einem „italofaschistisch-pangermanischen Zenraleuropa.“ (zit. n. Trapp 1996: 32)
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3. Vom Aktivismus zur Antipolitik –Erinnerungsarbeit und Apologie der Humanität
Die Radikalisierung, die mit der Besetzung der Tschechoslowakei und der Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren verbunden war, zwingt nicht nur führende Repräsentanten des intellektuellen Lebens, unter ihnen auch Urzidil, ins Exil, sondern führt zu einer prinzipiellen Neudeutung des deutsch-tschechischen Verhältnisses. Vor dem Hintergrund genozidaler Pläne für das gesamte tschechische Volk, vom Nationalsozialismus für die Phase nach dem ‚Endsieg‘ vorgesehen, führt ein direkter Weg zu Plänen einer Aussiedlung fast der gesamten deutschen Bevölkerung aus den böhmischen Ländern und der Slowakei. In dieser Entwicklung verliert Urzidil vorübergehend an Einfluss, was die allmähliche, jedoch nur zeitweilige Beschränkung seiner publizistischen Wirkungen belegt, auch wenn er sich zunächst weiter in der tschechisch- wie deutschsprachigen Exilpresse engagiert, z. B., meist unter dem Pseudonym Antibarbaros, im Čechoslovák v Anglii [Der Tschechoslowake in England] in London, einem offiziösen Blatt der tschechoslowakischen Exilregierung (Trapp/Heumos 1999). Nach Beneš’ Oxforder Erklärung vom 23. Mai 1941, in der die Entscheidung über die Aussiedlung der Sudetendeutschen öffentlich wird, geht er auf Distanz,17 hält allerdings – man mag das als Anachronismus bezeichnen – am deutsch-tschechischen Symbiosetopos fest (Havlin 2011). In der New Yorker Exilzeitschrift Aufbau reflektiert Urzidil die mitteleuropäische Nachkriegsordnung. Ausgangspunkt ist die offizielle Anerkennung der ČSR durch Großbritannien (27.05.1940) und die USA und somit die künftige Gestaltung Mitteleuropas auf der Basis des tschechoslowakischen Territoriums vor dem Münchner Abkommen. Urzidil leitet daraus zwei Szenarien ab: Die völlige Revision aller Grenzverschiebungen des Dritten Reiches; somit bleibe auch keine Basis für ein „demokratisches“ Großdeutschland; die untrennbare Einheit der Böhmischen Länder, also der deutsch und tschechisch besiedelten 17 Dabei ist zu berücksichtigen, dass bereits das Münchner Abkommen das Motiv für die Vertreibung darstellt, „während die deutsche Besatzungspolitik die Aussiedlungspläne einschließlich der Terrorwellen im Herbst 1941 und Sommer 1942 mit der Vernichtung der Ortschaft Lidice nur gefestigt und unumkehrbar gemacht hat. Aus der tschechischen Widerstandsbewegung kamen schon vor Kriegsbeginn Forderungen nach einer vollständigen Aussiedlung der Sudetendeutschen.“ (Brandes 2005: 461f.)
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Gebiete, in geographischer, historischer, ökonomischer und soziologischer Hinsicht, wobei Urzidil durchaus die Problematik eines künftigen innenpolitischen Zusammenlebens zwischen Tschechen und Deutschen einkalkuliert – und dies ca. ein Jahr vor der ‚Heydrichiade‘ und Lidice (09.06.1942): Niemand verkennt angesichts der durch den Nationalsozialismus hervorgerufenen psychologischen Lage die eklatante Schwierigkeit des innenpolitischen Zusammenlebens mit Deutschen. Erst nach einer Phase unvermeidlicher Ausgleichungen […] wird die Problematik dieses Zusammenlebens einer Lösung zugeführt werden können. Die Idee einer Umsiedlungspolitik für die sudetendeutschen Gebiete ist als integrale Lösung unpraktikabel. Selbst wenn von den drei und einem Viertel Millionen Sudetendeutscher ein Drittel nach Deutschland ausgesiedelt werden könnte – was an sich schon technisch die größten Schwierigkeiten involvieren würde –, so bleiben noch immer mehr als zwei Millionen Sudetendeutsche übrig, ein Problem, das groß genug ist, um den 9,7 Millionen Tschechen und Slovaken die ernstesten Aufgaben zu stellen. Hingegen dürfen wir trotz aller üblen Erfahrungen nicht in den Fehler verfallen, den Plan einer allmählichen demokratischen Erziehung der Sudetendeutschen nach dem restlosen Sturze des Nazismus für völlig aussichtslos zu halten. (Urzidil 1941)
Ungeachtet der Tatsache, dass Urzidil zu den wenigen unter den bürgerlichen Kräften gehörte, die wie Franz Spina den „sudetendeutschen Bankrott“ der 30er Jahre in seiner ganzen Konsequenz klar erkannten, lässt sich die Tragik der aufrechten Aktivisten nicht leugnen, werden doch auch sie als Konsequenz eines ethnisch-totalisierenden, genozidalen Denkens, welches zwar nicht in der Tschechoslowakei entstand, von dieser aber unter dem Eindruck der Vernichtungsphantasien des Dritten Reiches gegen die Urheber gekehrt wurde, einer kollektiven Schuldzuweisung unterworfen. In der Erkenntnis der sich durchsetzenden destruktiven Potenzen nationalistischer Identifikation erkennt ein resignierender Urzidil Egoismus und Hass als zentrale Motive im Zusammenleben der Völker, an denen schon das auch bei Urzidil mitunter verklärte ‚Kakanien‘ scheiterte: „‚Ich hasse, also bin ich‘ ist eines der leidenschaftlichsten Daseinskriterien der Völker.“ (Urzidil 1972: 54) Für die aufrechten landespatriotischen Republikaner ‚falscher‘ Zunge bleibt offenkundig nur der Weg einer anachronistischen Nostalgie.18 Nach 1945 erkennt Urzidil, der sich von der tagespolitischen Publizistik teilweise zurückzieht (Trapp/
18 „Er war der letzte der aus dem österreichischen Böhmen stammenden Landespatrioten, der fortfuhr, den getrennten und mißtrauischen Nationen die Fruchtbarkeit der Symbiose ins Gedächtnis zurückzurufen.“ (Demetz 1999: 33f.) – Dabei sei allerdings nicht die Doppelbödigkeit der Urzidilschen Erinnerungsarbeit – Sozialkritik und literarische Modernität umfassend – übersehen, s. hierzu den Beitrag von Müller/Kindt im vorliegenden Band.
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Heumos 1999: 428), die isolierte Position, die er19 und andere Prager deutsche, aber auch tschechische Intellektuelle als Kulturmittler einnahmen: „Ich glaube fast, wir deutschen Dichter und Schriftsteller im alten Prag waren die einzigen, die aufrichtig Liebe und Versöhnung zu verbreiten suchten.“ (Urzidil 1972: 56).20 Diese Einstellung kulminiert in Urzidils austriazistisch-supranational determinierter Perspektive einer konvergierenden Integration mit dem Verständnis für den „allseitigen Wert der Symbiose“, durch die Nationalismus hätte überwunden werden können (Urzidil 1968: 153).21 Das für beide nationale Gruppen mit gravierenden Folgen verbundene Ende der deutsch-tschechischen Symbiose äußert sich nach Urzidil im Untergang der spezifischen Prager Kultur und Literatur, eine „selbstmörderische deutsche Kulturkatastrophe“ durch die „Vergewaltigung der Tschechoslowakei“ (Urzidil 1968: 154). Das Münchener Abkommen, ein „Keulenschlag gegen die Tschechen“ und zugleich „ein Dolchstoss gegen den deutschen Geist“ (Urzidil 1968: 155), so Urzidils umgedeutete ‚Dolchstoßlegende‘, ist Ausgangspunkt einer kulturellen Desintegration und damit Endpunkt einer höchst „produktiven Konkurrenz“. Prag war viel, viel mehr […] als bloss eine nationale Hauptstadt […], die alle Voraussetzungen dafür barg, wieder das zu werden, was sie zur Zeit Karls IV. und Rudolfs II. gewesen war: ein ideologischer Brennpunkt Europas. (Urzidil 1968: 157)22
19 Allerdings sei auf die noch nicht annähernd erfasste Radiotätigkeit Urzidils verwiesen, schon in der Tschechoslowakei unter seinem ehemaligen Gymnasiallehrer Oskar Frankl, dann ab den fünfziger Jahren für Voice of America und Radio Free Europe und diverse deutschsprachige Sender. 20 „Wiederholte Versuche eines Ausgleichs in Böhmen scheiterten stets an dem beiderseitigen völligen Mangel an Versöhnungsbereitschaft. Die praktische Politik der Tschechen war noch lange nicht reif für Masaryks Ideen und hatte sich von denen Palackýs oder sogar Havlíčeks unmeßbar weit entfernt. Und die praktische Politik der Sudetendeutschen gebärdete sich, als wäre die Superiorität der Deutschen in Österreich ein gottgewolltes und unanfechtbares Phänomen.“ (Urzidil 1960: 199) 21 Zum Konzept der Symbiose s. auf Englisch The Failure to Achieve. Czech-German Symbiosis (Central Europe Journal XVIII/10, 370-373) sowie später auch in Rückblick auf die tschechisch-deutsche Kultursymbiose (Prager Volkszeitung. Das Wochenblatt der Deutschen in der ČSSR, 08.08.1970), und Rückblick auf die tschechisch-deutsche Kultursymbiose (Sudetenland. Viertelljahresschrift für Kunst, Literatur, Wissenschaft und Volkstum 13/1, 1971: 190-193). 22 An diesem ‚Mythos‘ Prag, symptomatisch in der syntagmatischen Beziehung Prag-Kafka bzw. dem ‚Mythos‘ Böhmen, ist Urzidil mit seinem literarisch-essayistischen Werk in den Jahren nach 1945 entscheidend mit beteiligt (Urzidil 1968: 155).
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Damit lässt sich ein gleichwohl vorläufiges Fazit ziehen. Urzidils alles andere als konsequente Argumentation, sein Existieren in Widersprüchen (Johann 2008), auch wenn er sich pragmatisch darum bemühte, immer auf der Seite der Schwächeren zu stehen, ist von grundlegenden Assertionen determiniert, die als diskursive Grundfiguren seine Texte durchziehen. Zu diesen sind zu rechnen: a) Das Narrativ einer kontinuierlichen tschechischen Geschichte von „Libussas Vision bis zu Masaryks Amtsantritt“ (Urzidil 1960: 205), aus der wiederum eine u. a. von Palacký und Pekař bis zu Masaryk, den er als „Schlüsselerscheinung“ bezeichnet, formulierte Sendung erfolge.23 b) Diese teleologische Entwicklung verläuft unter den Bedingungen eines wechselseitigen Wettbewerbs, in dem sich ausgehend von Palackýs These einer „stetigen Berührung und Begegnung des Slaventums mit dem Römertum und dem Deutschtum“ (stýkání a potýkání [Kontakt und Konflikt]) sowohl konstruktive als auch destruktive Tendenzen herausbilden. c) Ein Charakteristikum bildet ferner die Assertion einer (notwendigen) Einbettung der in den böhmischen Ländern lebenden Völker in den österreichisch-mitteleuropäischen Kontext, der in seiner austriazistischen Orientierung immer auch antagonistisch zu Preußen bzw. zum kleindeutschen Reich konzipiert und der von einer grundsätzlichen Loyalität zu Böhmen geprägt ist. d) Damit verbunden ist eine Analyse politischer Prozesse unter dem Paradigma der Versäumnisse bzw. des Scheiterns, womit Urzidil wie Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil u. a. auch Teil des Habsburgermythos wird, den er zugleich mit konstruiert.24 e) Ungeachtet seines Glaubens an die ausgleichende Kraft der übernationalen Kultur verharrt Urzidils Publizistik zumindest in Teilen in der Logik des nationalen Narrativs, was man an essentialisierenden Darstellungen von Tschechen und Sudetendeutschen erkennen kann. Selbstbeschreibungen politischer Akteure scheinen ein Phänomen von Krisenzeiten zu sein, bei denen insbesondere Intellektuelle die Aufgabe über23 Dieses Sendungskonzept fungiert zugleich als Alternative zu entsprechend axiomatischen Begründungen, zu denen Konzepte vom ewigen Kampf gegen das Deutschtum, einer Barriere gegen den deutschen Drang nach Osten oder das der fortschrittlichen Sendung der Arbeiterklasse gehören (Kostrba-Skalický 1975). 24 Die Monarchie als das „geradezu klassische Schulbeispiel für das beharrliche Versäumen der richtigen Zeitpunkte, in denen stufenweise die Monarchie in ein Bundesreich autonomer Nationalitäten, ein ‚Commonwealth of Peoples‘ sich hätte verwandeln müssen.“ (Urzidil 1960: 200)
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nehmen, Angebote zur symbolischen Integration im Sinne von favorisierten Ordnungskonzepten sowie zur Orientierung zu entwickeln. Intellektuelle, die im Diskurs nicht nur von Regeln begrenzt werden, sondern die auch über individuelle Positionierungsmöglichkeiten verfügen, agieren in einem Kontinuum zwischen dem Engagement eines sich als tugendhaft begreifenden Akteurs (Hegel) und als Akteur innerhalb von Machtkämpfen. Urzidil, der nach 1945 einen zuvor nie gekannten Popularitätsgrad erreicht, zieht sich zwar aus dem tagespolitischen Diskurs zurück, gleichwohl bleiben seine Texte auch in dem Sinne politisch, als sie historische Ereignisse und Gegebenheiten verhandeln, auch wenn diese oftmals nur peripher zeithistorische und tagespolitische Themen aufgreifen. Vor allem aber gelingt es Urzidil erneut und insbesondere nach 1956 mit der Sammlung Die verlorenene Geliebte, symbolisch-kulturelles Kapital zu akkumulieren. Urzidil versteht sich demzufolge als Teil einer Deutungselite (Wissenschaftler, Künstler, Journalist) und damit als Sinnproduzent, der „das Geschäft öffentlicher Kritik betreiben und dabei den Rahmen dessen definieren [möchte], was als legitim bzw. illegitim gilt.“ (Bluhm/Reese-Schäfer 2006: 9) Im Sinne Ralf Dahrendorfs (2006) darf man Urzidil als einen öffentlichen Intellektuellen betrachten, der in seiner Publizistik als Verteidiger von Vernunft und Wahrheit unter Berufung auf abstrakte, universelle Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit in Erscheinung getreten ist.
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Urzidil zwischen Engagement und Distanzierung. Geistige Verwandtschaften zwischen Norbert Elias und Johannes Urzidil Rede dir nur nicht ein, eine kühle, unbeteiligte Betrachtung sei überhaupt auch nur möglich. Selbst das strengste Prüfen ist nicht Neutralität. (Urzidil 1959: 471)
1. Engagement oder Distanzierung als Existenzproblematik
Die Zäsur des Jahres 1945 teilt Urzidils Laufbahn offenbar in zwei Phasen: Davor kämpft der engagierte Journalist: erstens gegen den Nationalismus für die deutsch-tschechische Verständigung, zweitens gegen den deutschen Faschismus für die tschechoslowakische Demokratie. Danach wird der distanzierte Schriftsteller zum „großen Troubadour jenes für immer versunkenen Prag“ (Brod 1979: 196). Urzidil wurde der Übergang von Engagement zur Distanzierung nicht 1939 vom Exil aufgezwungen. Erst 1945 – nach der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei – zieht er sich aus der politischen Publizistik zurück. Nach der deutschen Katastrophe hätte der Prager Deutsche nach Europa zurückkehren und in der Bundesrepublik oder in Österreich leben können, er bleibt jedoch lieber in den USA, ohne dafür zu einem englischsprachigen Autor zu werden. Ganz bewusst entscheidet er sich für einen distanzierten Standort. Ich sitze hier in dieser Vorstadt des riesigen New York, inmitten von Gärten in einer Art elfenbeinernem Turm und von diesem Turm aus sehe ich mit fast gleichmäßigen Distanzen sowohl nach Europa als auch nach Amerika hin. (Urzidil 1980)1 1 Der Begriff Elfenbeinturm erscheint auch in einem unveröffentlichten Brief an seine englische Wohltäterin Winifred Macpherson (Bryher) vom 21.03.1961: „A poet, of course, might live in an ivory tower and I can do it much easier than the real Americans who by ascendance, language and temper are much more involved.“ In seinem Nachruf erinnert sich Hansres Jacobi (1970), dass Urzidil seine Wohnung „scherzhaft“ als „elfenbeinernen Turm am Rande New Yorks“ bezeichnete.
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Es bestehen Unterschiede zwischen Stellungnahmen des engagierten und des distanzierten Urzidil, als stehe die Logik der Tat in Widerspruch zur Logik des Geistes. Im Dienst der antifaschistischen Sache bricht Urzidil den habsburgischen Mythos (Magris 1966: 307f.), den er später in seinen Erzählungen doch weitgehend pflegt. Anfang Juli 1942 verfasst er für den Czechoslovak (das Organ der in London exilierten Beneš-Regierung) einen Aufsatz: Hitler und Habsburg. Dort sieht er im Habsburgischen System und in der Hohenzollernmonarchie „die kotyledonartigen Voraussetzungen des Hitlertums, das in gerader Linie vom reaktionären Monarchismus abstammt.“2 In späteren Erzählungen wie Die Frau mit Handschuhen hingegen bezeichnet Urzidil die Zeit der Habsburger Monarchie als „goldenes Zeitalter“ und nähert sich den reaktionären Träumereien der politischen Romantik. Er behauptet, die Grundherren hätten die Bauern „in diesen Gegenden“ nicht gepresst und unterdrückt und die Bauern hätten „ihre Fron als eine selbstverständliche von Gottes Gerechtigkeit über sie verhängte Lebensleistung“ empfunden (Urzidil 1971a: 281). Der Fürst hätte „schon vor fast zwei Jahrhunderten auf seiner Herrschaft soziale Medizin eingeführt, die man in unserer Zeit als besondere Errungenschaft des Volkes zu preisen gewöhnt ist“. Bei näherer Betrachtung muss man allerdings anerkennen, dass Urzidil sich nicht völlig widerspricht: Im Czechoslovak-Artikel ist nämlich die Rede von der Habsburgermonarchie seit der Bismarck-Ära,3 während Die Frau mit Handschuhen von der Zeit vor 1848 erzählt. Dieses negative Bild des alten Österreichs kontrastiert allerdings auch mit den politischen Aufsätzen der zwanziger Jahre (Urzidil 1922, 1925a, b). In der Not des ideologischen Kriegs kritisiert er die „stupide und ungeheuerliche Nationalitätenpolitik“ der Habsburgermonarchie, die er nun auf einmal als „ein in Auflösung begriffenes und dem Zerfall geweihtes anachronistisches
2 „Sie [Kaiser Franz Joseph und Kaiser Wilhelm] waren nicht, wie behauptet wird, ‚besser‘ als Hitler sondern sie waren die kotyledonartigen Voraussetzungen des Hitlertums, das in gerader Linie vom reaktionären Monarchismus abstammt.“ (LBI, Johannes and Gertrude Urzidil Collection, Sign. AR 7110: Hitler und Habsburg.Typoskript, 1) 3 „Der preußische Junker, dessen expansiver Imperialismus und stupider Militarismus heute ebenso wie unter Wilhelm II. die deutsche Armee beherrscht, [...] hatte seit Bismarck die Habsburgermonarchie nicht bloß politisch sondern auch ideologisch völlig in sein Kielwasser gebracht. [...] Praktisch präsentierten sich die Deutschen des Deutschen Reichs und Österreichs und die Magyaren der Stephanskrone genau so als privilegierte Herrenrasse gegenüber allen anderen Volkern ihrer Staatsgebiete wie dies heute die Nazis tun.“ (LBI, Johannes and Gertrude Urzidil Collection, Sign. AR 7110: Hitler und Habsburg.Typoskript, 1f.)
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Gebilde“4 bezeichnet, während er zwanzig Jahre früher in der Neue Rundschau festgestellt hatte: Von einer Ausschaltung, wie sie die Deutschen der Tschechoslowakei, die in der zentralen Bureaukratie überhaupt nicht vertreten sind, gegenwärtig beklagen, konnten die Tschechen im alten Österreich nicht sprechen… (Urzidil 1922: 172)
1922 berief sich Urzidil als Vermittler zwischen Deutschen und Tschechen auf den „geistigen Typus des Deutschböhmen“, der „sich von dem Typus der übrigen Deutschen beträchtlich unterscheidet“ (Urzidil 1922: 170). Als Propagandist der tschechoslowakischen Exilregierung bezieht er sich immer seltener auf diese Unterscheidung:5 Er hat nämlich das tschechoslowakische Lager gewählt, denn er verzeiht den Deutschböhmen nicht, dass sie sich mehrheitlich Hitler angeschlossen haben. Die Meinungen variieren also mehr nach Gegner und Partner als nach distanzierter oder engagierter Einstellung. Im Grunde entsprechen die in den zwanziger Jahren bezogenen Positionen ungefähr den in den Nachkriegserzählungen vermittelten Bildern von der Habsburger Monarchie. Der Gegensatz von Engagement und Distanzierung ist bei Urzidil mehr als das chronologische Nacheinander von zwei Haltungen. „Man steht immer vor der Frage, ob man sich auf die erstarrte Lava retten oder ob man in der fließenden zerglühen soll,“ schrieb Urzidil6 kurz vor seinem Tod in einer unveröffentlicht gebliebenen autobiographischen Skizze, als wollte er mit diesem Satz seine Existenzproblematik zusammenfassen. Der Gegensatz von Engagement und Distanzierung ist bei ihm eine konstante Spannung. Als er nämlich noch in Prag an Ort und Stelle war, trat Urzidil keiner politischen Partei bei, polemisierte weder ganz gegen die Tschechen noch ganz gegen die Deutschen und nicht direkt gegen den Nationalsozialismus; er betrachtete die Ereignisse lieber mit dem Abstand des liberalen Intellektuellen etwa in der Art von Karl Mannheims (1995: 135) Theorie der „frei schwebenden Intelligenz“. Lange vor Die verlorene Geliebte und Prager Triptychon antwortete Urzidil schon mythologisch auf die politische Realität. Während der Publizist mehr als je in den Konflikten seiner Zeit involviert zu sein schien, rettete sich der Mensch 4 „Die Habsburgeragitation [...] trachtet darüber hinwegzutäuschen, dass die Habsburgermonarchie, ganz abgesehen von ihrer stupiden und ungeheuerlichen Nationalitätenpolitik, rein geschichtlich ein in Auflösung begriffenes und dem Zerfall geweihtes anachronistisches Gebilde war.“ (Urzidil, Hitler und Habsburg: 1) 5 S. Regierung und Deutsche (Čechoslovák 2/32, 09.08.1940) und Die Zukunft der Tschechoslovakei (Aufbau 7/32, 08.08.1941, 2). 6 LBI (Urzidil-Thieberger-Archiv, Box 26, File IV 2: Urzidil, Johannes, Persönliches Kaleidoskop. Einleitung. Handschrift, 1).
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schon „auf die erstarrte Lava“ und erhob seine Heimat zum „innerlichen Gut“, zur „seelischen Landschaft“ (Magris 1987: 626). Von 1935 bis 1937 tragen seine Presseartikel aufschlussreiche Überschriften, die häufig entweder den räumlichen Begriff „Landschaft“ oder die überzeitliche Bezeichnung „Humanität“ enthalten (Urzidil 1935, 1937a-e).
2. Mythisches vs. historisches Denken
Als engagierter Schriftsteller war Urzidil schon distanziert und als distanzierter Autor thematisierte er paradoxerweise oft das „engagierte Denken“. Damit ist nicht nur das politische, sondern überhaupt das emotionale Engagement gemeint. Der Ausdruck stammt aus Norbert Elias’ (1987) Buch Engagement und Distanzierung. Elias setzt Distanzierung mit Rationalität oder Objektivität und Engagement mit Irrationalität und Subjektivität gleich. Er meint, beide Extreme seien infantil, pathologisch7 oder gar asozial.8 Urzidil schuf bekannterweise gerne primitive oder asoziale Figuren und erzählte oft aus der Kinderperspektive (Ruiz 2003). Ottilie zum Beispiel, in Grenzland,9 lebt im Einklang mit der Natur, und in ihr will sich das Sein „nicht für das Wissen austauschen“ (Urzidil 1982: 137). In Wo das Tal endet „wehklagt“ Alois, der Dorftrottel, „bei allen Anlässen, die allgemein als fröhlich oder angenehm gelten, und schüttelt sich bei einem Unglück vor Lachen“ (Urzidil 1982: 144). Die erstere verkörpert das extreme Engagement, das Eins-Sein mit der Umwelt, der zweite die absolute Distanzierung.
7 „Nur Säuglinge und unter Erwachsenen vielleicht nur Geisteskranke sind in ihrem Verhalten und Erleben so völlig engagiert, dass sie rückhaltlos ihren Gefühlen hier und jetzt verfallen; und wiederum nur unter Geisteskranken begegnet man einer absoluten Distanzierung, einem völligen Rückzug der Gefühle von dem, was um sie herum geschieht.“ (Elias 1987: 9) 8 „Das gesellschaftliche Leben der Menschen wie wir es kennen, würde zerbrechen, wenn die Standards des Erwachsenenverhaltens zu weit in die eine oder die andere Richtung gingen.“ (Elias 1987: 10) 9 S. dazu den Beitrag von Ingeborg Fiala-Fürst in diesem Band.
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Urzidil interessiert sich nicht nur für asozial-pathologische Grenzfälle,10 nicht nur für die Individualpsychologie des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen, sondern auch für die „kollektiven Phantasien“ der Dorfbewohner, d.h. für das mythische Denken. Der Ausdruck „kollektive Phantasien“ wird von Norbert Elias in Engagement und Distanzierung verwendet. Damit verweist der Soziologe auf die Bedeutung der Vorstellungen für die Bildung selbst moderner Gesellschaftsgruppen wie etwa Klassen oder Nationen.11 In mehreren Erzählungen beobachtet Urzidil Sitten, Legenden und Aberglauben nicht nur in böhmischen Dörfern (Denkwürdigkeiten von Gibacht, 1955), sondern auch im Baskenland (Das Gold von Caramablu, postum 1971) (Ruiz 1998). Was ihn fasziniert, sind die unsichtbaren Fäden, die Menschen aneinander verbinden. Diese unsichtbaren Fäden sind die Geschichten, die sich Menschen erzählen. Bedenkt doch, dass die mannigfachen Rätsel des Ortes Gibacht alle miteinander zusammen hingen und dass jeder der Leute, die ich erwähnte, ja überhaupt jeder der achthundert Gibachter im Grunde etwas mit dem Vorhandensein dieser Rätsel zu tun hatte. (Urzidil 1971b: 104)
Auch für Elias besteht die menschliche Wirklichkeit nicht nur aus beobachtbaren Tatsachen. Deshalb wirft er den Historikern vor, „seit Ranke in solchem Maß auf explizite Dokumentation trainiert [zu sein], dass sie für Formen der Vergesellschaftung, deren Kohäsion weithin auf der Kenntnis von wenig artikulierten Symbolen beruht, kein rechtes Organ haben.“ (Elias 1992: 113) Die traditionelle Historiographie kenne die hermeneutische Methode nicht; sie sei gegenüber „impliziten Symbolen“, „ungeschriebene[n] Kriterien“ (Elias 1992: 112) nicht aufmerksam. Ein solcher Vorwurf ist mit Urzidils Satire auf Rankes Lehren vergleichbar. Besonders seine 1966 erschienene Erzählung Die Rippe der Großmutter verspottet die preußische Schule der Geschichtsschreibung (Iggers 1971: 11f.). Stützte sich diese fast ausschließlich auf amtliches Aktenmaterial, so erzählt Urzidil vom konkreten Leben der kleinen Leute. Schrieben die preußischen Historiker dem Staat eine zentrale Rolle zu, so zeigt Urzidil hier das österreichische Generalkommando in Prag am Ende des Ersten Weltkriegs im Endzustand der Auflösung. Wurde „nach dem Ende des Krieges von beiden Seiten, Tschechen wie Deutschen, impliziert, dass die tschechischen Soldaten der k.u.k. Armee ihrer Einberufung nur widerwillig Folge geleistet“ 10 Bekundet sich auch in Die Causa Wellner (in Prager Triptychon, 1960) mit der Figur von Helmuth. 11 „Gruppenbilder wie etwa von Klassen oder Nationen, die Rechtfertigungen ihres Eigenwerts, die Gruppen entwickeln, bilden in der Regel ein Amalgam von realistischen Beobachtungen und kollektiven Phantasien (die wie die Mythen einfacherer Völker als Handlungsmotive real genug sind).“ (Elias 1987: 28)
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(Lein 2009) hätten, so muss sich der Einjährige Urzidil „aber sehr bald davon überzeugen, dass der tschechische Stabsfeldwebel Kadeřábek kein heimlicher Rebell [ist], sondern ein ehrlicher Sadist.“ (Urzidil 1971c: 368) Vernachlässigte die ‚klassische‘ historische Forschung die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, so erinnert Urzidil daran, dass Wallenstein einst in Mittelböhmen die Sattlerei eingeführt und eine Edelsteinschleiferei begründet hatte, „wovon man allerdings bei Schiller nichts erfährt, weder in Vers noch in Prosa“ (Urzidil 1971c: 366), setzt Urzidil hinzu, der mit dem Historiker-Dichter abrechnet. In dessen heroischen Dramen werden nämlich lauter Kriegsherren und Ausnahmepersönlichkeiten inszeniert, die über das Schicksal durch ihren freien Willen triumphieren. Urzidil zeigt, dass die Tatsachenkausalität komplexer und oft grotesker ausfällt als die bewussten Absichten der Menschen. So ergibt sich, zum Beispiel, die Ernennung des Einjährigen Urzidil zum Titulargefreiten nicht aus dem Belohnungswillen des Majors Wenzel, sondern aus einer gegen Urzidils Vater verlorenen Wette über den Zwiebelanteil im Gulasch (Urzidil 1971c: 387). Die Kritik an der preußisch-deutschen Historiographie hat bei Elias wissenschaftliche, bei Urzidil eher ethische Gründe. Urzidil wirft den Geschichtslehrbüchern ihre „soziale Syntax“ (Urzidil 1963a: 8), d. h. ihre Nähe zur politischen Macht vor. Zur Zeit der Weimarer Republik, als Elias und Urzidil ihre Auffassungen entwickelten, verharrten die meisten deutschen Geschichtswissenschaftler in „elitärer Isolation“ und in „notorischer Republikfeindschaft“ und waren „durch ihre aktive Propagandatätigkeit während des Weltkrieges“ (Lethen 1970) diskreditiert; sie beriefen sich auf „Rankes Hauptlehren – die Autonomie des Historikers und dessen Pflicht, jede Epoche aus sich selbst heraus zu verstehen“ (Gay 1987: 122) –, die zum Werterelativismus, zur „Trennung der Geschichte von der Ethik“ (Gay 1987: 122) führen. Schon 1933 hatte Urzidil vor einer Unterscheidung zwischen der Moral von Klassen und Nationen und der Moral des Einzelnen gewarnt: Diese [die Masse] aber handelt im Großen nach den gleichen Grundprinzipien wie der einzelne Mensch. Ihr Glück und Unglück, ihre Konflikte und ihre Tragik sind die gleichen wie die des einzelnen Individuums. Wären sie nicht die gleichen, dann müsste die Moral der Masse, die Moral von Klassen, Nationen anders gewertet werden als die Moral des Einzelnen. Die Anerkennung eines derartigen Unterschiedes aber muss wohl oder übel zu Unrecht und Sklaverei führen. (Urzidil 1933: 363f.)
Urzidil schlägt eine distanziertere Art und Weise vor, die Vergangenheit zu betrachten und zu verstehen. Die Distanz führt manchmal sogar zu einer Umkehrung der Rangordnung, der Fokussierung: Der Vordergrund wird zum Hintergrund. Urzidil versetzt sich zurück an die Schauplätze seiner Jugendzeit
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und kehrt die Werte um. Politische Ereignisse, die damals in seinen Presseartikeln im Vordergrund standen, bilden jetzt nur noch den Hintergrund seiner Erzählungen. Für den Erzähler hingegen werden kleine Alltagserlebnisse, individuelle Gewohnheiten, private Freuden und Leiden zur vorrangigen Realität. Urzidils literarisches Werk stellt die Frage: Was ist Realität? Ist es die Geschichte der staatlichen Einrichtungen, oder sind es die intimen Erfahrungen der Person? Ist es die Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik 1918, oder ist es die Freude eines jungen Mannes an der großmütterlichen Rippe, die er „unmittelbar über d[ie] seinen“ legt (Urzidil 1971c: 366), um sich trotz der Unmenschlichkeit des ersten Massenkriegs von der Permanenz menschlicher Form zu vergewissern? Im Unterschied zum Historismus erforscht Urzidil – ähnlich wie Elias – nicht einmalige und unwiederholbare menschliche Handlungen, sondern Konstanten oder langsame Entwicklungen. Elias untersucht – nach seinen eigenen Worten – eher die „langfristigen Schicksale“ (Elias 1992: 27), die „Strukturen des Zusammenlebens von Menschen“ (Elias 1992: 93). Urzidil interessiert sich für das „persönliche Schicksal“, das „unterhalb der geschichtlichen Vorgänge“ weiter wächst, für das dauernd Menschliche und betrachtet die, „die in der Weltgeschichte dröhnend genannt werden, [als] bedeutungslos im Vergleich mit den stillen Erfindern der Schrift oder des Webstuhls.“ (Urzidil 1982: 196) Auf der anderen Seite ist Urzidils und Elias’ Annäherung an die Vergangenheit insofern engagiert, als sie die subjektiven Selbstbilder in Betracht ziehen. Wenn Urzidil von seinem Militärdienst, von Prag, von seiner Kindheit zwischen deutschem Vater und tschechischer Stiefmutter erzählt, untersucht er seine eigene Gesellschaft und begegnet sich selbst (vielleicht noch direkter als in seinen Böhmerwalderzählungen). Das Problem der „Selbstbegegnung“ spielt nach Elias eine komplexe Rolle bei der Erforschung der Gesellschaft – gewissermaßen auch der Natur, „denn der Mensch ist ein Teil von beiden“ (Elias 1987: 67). Dennoch erforschen mehr noch als die Naturwissenschaftler die Sozialwissenschaftler „Objekte“, die zugleich „Subjekte“ sind. Ebenso wie Dichter sind Sozialforscher selbst „einverwoben“ in die „wandelnden Muster, die Menschen miteinander bilden“ (Elias 1987: 24). Elias betrachtet die Subjektivität als unentbehrliches Erkenntnisinstrument der Sozialwissenschaften. Denn während man, um die Struktur eines Moleküls zu verstehen, nicht zu wissen braucht, wie man sich als eines seiner Atome fühlt, ist es für das Verständnis der Funktionsweise menschlicher Gruppen unerlässlich, auch als Insider zu wissen, wie Menschen ihre eigene
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Isabelle Ruiz und andere Gruppen erfahren; und man kann es nicht wissen ohne aktive Beteiligung und Engagement. (Elias 1987: 30)
Für Elias ist die Frage nicht: Wie kann die Wissenschaft objektiv sein? Sondern die Frage ist: „Wie ist es möglich, [die] beiden Funktionen als Beteiligte[r] und als Forscher unzweideutig und konsequent auseinander zu halten?“ (Elias 1987: 30) D. h., wichtiger ist es, bewusst subjektiv (oder religiös, oder politisch) zu sein, als sich objektiv zu wähnen. Die Illusionen bzw. Gefahren der Distanz zum Leben sind auch ein Thema bei Urzidil in Erzählungen wie Entführung (1964), Die Reisen Siegelmanns (1961) und ganz besonders Die Herzogin von Albanera (1965). Dort stiehlt der schüchterne Buchhalter Schaschek (der sich sonst den ganzen Tag mit abstrakten Zahlen beschäftigt) das Bildnis einer schönen Aristokratin aus einem Museum, unterhält sich mit dem Gemälde, das ihm wirklicher ist als die vor Jahrhunderten Verstorbene, während im realen Leben sein Diebstahl eine „tragische Kettenwirkung“ (Urzidil 1966a: 174) verursacht und zwar den Tod der Tochter des Museumswächters Novotný. Gewiss ist diese Erzählung eine moralische und keine wissenschaftliche Reflexion. Elias drückt sich nicht in moralischen Termini aus, er fordert aber von den Wissenschaftlern, dass sie ihre Einbindung in das Bezugsgeflecht ihrer Gesellschaft einsehen. Die fehlende Erkenntnis seiner selbst und der eigenen Stellung in der Welt ist bei Elias Ursache von wissenschaftlichen, bei Urzidil von moralischen Irrtümern.
3. Falsche oder unmögliche Distanzierung?
Neben der Vorliebe zum engagierten gefühlsgeladenen Denken12 ist ein zweiter Schwerpunkt im Werk Urzidils die Kritik an der vermeintlichen Objektivität des modernen wissenschaftlichen Geistes. In Die letzte Tombola (1970) z. B., demonstriert er an der Figur des Mathematiklehrers Lukas, dass Naturwissenschaftler keineswegs frei von Vorurteilen sind. Dieser beteuert, „im Dienste der Wahrheit“ zu stehen; von der Wahrheit hat er jedoch eine ausschließlich
12 Eine Form des Denkens, die Urzidil ebenso wie Claude Lévi-Strauss nicht als weniger vernünftig abwertet, sondern nur als ‚konkreter‘ betrachtet.
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deutschnationale Auffassung.13 Diese Figur illustriert vollkommen den mathematischen Fetischismus14, den auch Elias anprangert: die Verwendung einer Methode, die der in den physikalischen Wissenschaften entwickelten ähnelt [,…] schafft […] eine Fassade von Distanzierung, hinter der sich eine höchst engagierte Einstellung verbirgt. (Elias 1987: 35)
Urzidil findet oft Spaß daran, die Fragwürdigkeit der so genannten „Wahrheit“ zu demonstrieren. „Die Wahrheit, Herr Professor, ist die phantastische Geschichte“ (Urzidil 1971a: 29), antwortet Urzidils Vater dem bornierten Mathematiklehrer in Die letzte Tombola. Elias, seinerseits, verwirft die Annahme, dass „theoretisch-empirische Wissenschaften, ob Physik oder Soziologie, die gleiche Aufgabe haben wie die reine Mathematik oder formale Logik, nämlich das Auffinden von verbalen oder anderen symbolischen Formeln, die eine absolute und endgültige ‚Wahrheit‘ repräsentieren.“ (Elias 1987: 36) In Denkwürdigkeiten von Gibacht (1955) erzählt Urzidil von Leuten, „die sagten, das Haus sei nur da, während man hinsehe, und verschwände sofort, wenn man wegblickte, eine Behauptung, die sich allerdings weder beweisen noch widerlegen ließ.“ (Urzidil 1971b: 89) Wie das Auge, nach Goethes Farbenlehre, zur Zusammensetzung der Farben beiträgt, so nimmt der menschliche Blick nach Urzidil teil an der Wirklichkeit. Auch Norbert Elias (1987: 32) ist dieser Meinung und kritisiert deshalb „die unkritische und oft dogmatische Übertragung“ der Methoden der physikalischen Wissenschaften auf die Menschenwissenschaften. Er verwirft die Reduktion von qualitativen Fragen auf Quantitäten und die mit ihm verbundene Mathematisierung der Probleme (Elias 1987: 32). Dass die Quantifizierung aller Probleme keine Objektivität garantiert und für die Erfassung des Menschlichen untauglich ist, war Gegenstand des antirassistischen Plädoyers, das Urzidil unter dem Titel Eine Übung im Kopfrechnen 1963 veröffentlichte. Darin bezweifelte er, dass „dem Quantitativen etwas Qualitatives abgewonnen wird“ (Urzidil 1963b: 33) und berief sich auf die Gestalttheorie seines Prager akademischen Lehrers Christian von Ehrenfels und des gebürtigen Pragers und dann im New Yorker Exil lebenden Max Wertheimer, nach welcher nicht die einzelnen Stücke eines Zusammenhangs, sondern die Strukturgesetze des Ganzen einen Sinn haben, den wir als 13 Er betont, er stamme aus dem deutschen Ort Eleonorenhain [Lenora] „wo man Rosenquarz findet und die Wahrheit spricht“ und „nicht aus irgendeinem Prtschitz noch auch Napajedl, […] wobei er die Namen dieser beiden […] tschechischen Orte mit pointierter Verachtung ausspr[ach]“. (Urzidil 1971a: 25) 14 Die quantitative Methode der physikalischen Wissenschaften erscheint als „ein magischer Schlüssel, der im Prinzip alle Tore der unbekannten Welt zu öffnen vermag.“ (Elias 1987: 33)
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Einheit wahrnehmen. Die Gestalttheorie griff auf den Aristoteles (vgl. Met. VII, 17, 1041 b 10) entlehnten Grundsatz zurück, nach welchem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, und hatte ihren Ursprung namentlich in der Goetheschen Kritik der Mathematik: Die Mathematik steht ganz falsch im Rufe, untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist weiter nichts als Identität. Zweimal zwei ist nicht vier, sondern es ist eben zweimal zwei und das nennen wir abkürzend vier.15
Elias bestreitet nicht, dass die mathematischen Modelle sich für die Erforschung der anorganischen Materie bewährt haben. Er verwirft jedoch das „atomistische Grunddogma“ (Elias 1987: 40), nach welchem die größere Komplexität der organischen Welt und der menschlichen Gesellschaften bloß auf die wachsende Zahl der aufeinander einwirkenden Teile, Faktoren, Variablen und dergleichen zurückzuführen sei. Die Eigentümlichkeiten verschiedener Beobachtungseinheiten, mit denen sich verschieden wissenschaftliche Disziplinen befassen, beruhen nicht allein auf die Zahl der ineinander wirkenden Teile, Variablen, Faktoren oder Bedingungen, sondern vor allem auch auf der Art und Weise, in der die zusammensetzenden Teile miteinander verknüpft, aufeinander abgestimmt, kurzum: organisiert und integriert sind. (Elias 1987: 41)
4. Abschließende Bemerkungen
Mit seiner Wiederaufwertung der Subjektivität in der Wissenschaft bringt Elias gewissermaßen Wissenschaft und Literatur bzw. Kunst einander näher. Denn die Kunst ist gewiss ein Erkenntnismittel, das die existenzielle Perspektive in Betracht zieht. Ein berühmter französischer Historiker aus der Tradition der Annales-Schule, Alain Corbin,16 der sich öfters auf Norbert Elias beruft, bedient sich beispielsweise der Literatur und der Kunst als wissenschaftlicher Quellen. Urzidil greift immer wieder auf den Goetheschen Begriff der „exakten Phantasie“, den er so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie dem 15 Aus Goethes Brief vom 18.06.1826 an Kanzler Friedrich von Müller (zit. n. Urzidil 1963b). 16 Alain Corbin ist der Historiker, dessen Buch Le Miasme et la Jonquille (1982, dt. Pesthauch und Blütenduft, 1986) Patrick Süskind zu Das Parfum (1985) anregte.
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Prager Schriftsteller Kafka oder dem tschechischen Physiologen Purkyně zuschreibt.17 Die exakte Phantasie ist eine zugleich empirische und idealistische Forschungs- und Schöpfungsmethode, bei welcher Intuition und Beobachtung voneinander befruchtet werden. Meint Norbert Elias etwas anderes, wenn er den Prozess des Wissenserwerbs als eine „ununterbrochene Hin- und Herbewegung zwischen zwei Wissensebenen“ beschreibt: „der Ebene allgemeiner Ideen, Theorien oder Modelle und der Ebene der Beobachtung und Wahrnehmung bestimmter Ereignisse“ (Elias 1987: 37)? Was mir an einem Vergleich zwischen Urzidil und Elias interessant erschien, ist, dass die wissenschaftstheoretische Reflexion des Soziologen und die moralisch-ethischen Gedankengänge des Dichters sich beide mit dem Problem des Verhältnisses von Handeln und Erkennen, Existenz und Wissenschaft auseinandersetzen und beide über verschiedene Wege auf den Gedanken schließen lassen, dass Ethik und Erkenntnis eine Einheit bilden.
Quellen
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Literatur
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Isabelle Ruiz
Urzidil, Johannes (1982 [1956]): Die verlorene Geliebte. Nachwort v. Oskar Holl. Frankfurt/M.: Ullstein.
Kurt F. Strasser
Johannes Urzidil – Bohemismus, Begegnungen mit Bolzano
1. Bohemismus
Die Habsburgermonarchie hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Druck der nachrevolutionären Ereignisse (und mit den entsprechend schwachen Monarchen) zum Gegner der Aufklärung gewandelt. Auslöser war, so seltsam das klingen mag, die Französische Revolution von 1789, also die politische Folge einer durch die Aufklärung erst denkbar gewordenen allgemeinen Befreiungsbewegung. Sie hatte zu einem kriegerischen Flächenbrand in Europa geführt, einem Krieg, der die politische Landschaft Europas grundsätzlich verändern sollte. Die dadurch eingeleitete Epochenwende hatte Österreich mit ganzer Härte und völlig unvorbereitet getroffen: In den Ausläufern einer Hochkultur, die mit der Wiener Klassik gekrönt wurde, in den Ansätzen einer Aufklärung, die gerade begonnen hatte, ihr Licht zu verbreiten. In seiner unglücklichen Lage wurde das Land zur Reaktion gleichsam gezwungen und avancierte zum Gegner der Französischen Revolution schlechthin. Nicht die habsburgische Dynastie oder irgendeine der wechselnden Administrationen waren bedroht. Ein eigenartiges und eigenwilliges politisches und kulturelles System, das nach westeuropäischen Maximen nicht zu begreifen war, wird zum erstenmal radikal in Frage gestellt. (Rumpler 1997: 18)
Im Zuge der Ereignisse wurde dieses eigenwillige System zunehmend auch von den eigenen Lenkern in Staat und Kirche nicht mehr verstanden und stemmte sich gegen jede Art von Bewegung. – Bernard Bolzanos Absetzung ist dafür ein Beispiel: Am 24. Dezember 1819 unterschreibt der Kaiser Bolzanos Absetzungsdekret. In einer gemeinsamen Anstrengung von Staat und Kirche wird er seines Amtes enthoben, darf keine öffentlichen Reden mehr halten, erhält Publikationsverbot. Die römisch-katholische Kirche setzt Bolzanos Erbauungsreden (1813) und die Religionswissenschaften (1834) auf den Index librorum prohibitorum. So ist es den damals Mächtigen in Staat und Kirche
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gelungen, Bolzano „unschädlich“ zu machen, wie das der kaiserliche Berater Graf Saurau so trefflich ausdrückt (Winter 1944: 137), und wie wir heute bei Betrachtung der Rezeptionsgeschichte bemerken müssen, mit großem „Erfolg“. – Das ist eine tragische Geschichte, denn das Geistesleben Österreichs war ein anderes als im übrigen Europa des 18. und 19. Jahrhunderts: Die Aufklärung war, besonders unter Maria Theresia, spät aber doch, und nicht mit dem typischen, unbedingt besserwisserischen Perfektionseifer aufgetreten, der sie anderswo kennzeichnet. Die katholische Religion verteidigte Sinnlichkeit, Magie und Ritus in Prozessionen und Zeremonien. Im böhmischen Reformkatholizismus, durch den auch Bolzano geprägt worden war, verband sie sich wirksam mit aufklärerischem Denken. Die politische Lage eines Staates, der aus vielen Ethnien bestand, war mit jener Englands, Frankreichs oder auch der deutschen Länder ohnehin nicht zu vergleichen. Als Reaktion auf die konkrete Bedrohung von außen durch die napoleonischen Kriege entstand in ganz Europa, auch in den deutschen und in den österreichischen Ländern, ein neuer Volksgedanke, eine verstärkte Hinwendung zu Heimat und Vaterland. Auch in Prag: Seit ihrem Beginn im Herbst 1805 waren Bernard Bolzanos allgemein zugängliche sonntägliche Reden an der Prager Universität, von ihm sebst auch Erbauungsreden genannt,1 Teil einer aufbauenden, patriotischen Bewegung. Die Liebe zum Vaterland war der entscheidende Impetus, der seine jugendlichen Hörer bald in ihren Bann zog. „Sie werden, beydes, Kraft und Willen vereinigen, um dem gesunden Wohlstande unseres Vaterlandes aufzuhelfen!“ Oder: „Niemand muß eine innigere Liebe zu unserm Vaterlande und zu der ganzen Menschheit hegen …“ (1812.3: 49; 1812.4: 53) – Die „Rettung des Vaterlandes“, nichts Geringeres verlangte er von seinen Schülern. Der Geist, den er verbreitete, war jener einer reinen Vaterlandsliebe. Das war vor allem als Aufruf zur Selbstachtung, zum Selbstdenken und zum Selbstbewusstsein jedes einzelnen Böhmen zu verstehen und dazu da, sich der eigenen kulturellen Kräfte zu besinnen und das Nachäffen fremder Sitten zu lassen. Bolzano verlangte nach moralischer Erneuerung. Dabei ging er streng systematisch vor und im Sinne der klassischen Rhetorik als Vir bonus mit gutem Beispiel voran. Den Begriff ‚Vaterland‘ bestimmte er in seiner bekannten Rede Über die Vaterlandsliebe mit der ihm eigenen Genauigkeit in Gefühlssachen in Form eines „besseren Begriffes“: 1 Bolzanos Erbauungsreden werden hier (sofern sie bereits erschienen sind) nach der Bernard-Bolzano-Gesamtausgabe (BGA) und den dort verwendeten Sigeln (Studienjahr + durchnummerierte Rede) zitiert (siehe Abkürzungsverzeichnis BGA IIA 15, 235). Die Seitenangaben beziehen sich auf den jeweiligen Band in der BGA.
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Nach unserer Vorstellung hat sich ein jeder Mensch das Land der Erde als sein Vaterland zu denken, von welchem er bisher ‚die meisten Wohlthaten‘ empfangen hat und dem er gegenseitig auch ‚die meisten Dienste‘ zu leisten sich im Stande fühlt. (1810.18: 203-214, 205; s. a. BBF 4, 1996: 68)
Bolzano vertrat in seinen Reden vor den Prager Studenten den sogenannten Bohemismus. Darunter ist die patriotische Auffassung zu verstehen, Böhmen sei ein Vaterland mit der Eigenheit, aus zwei gleichberechtigten Volksgruppen, einer deutsch- und einer slavischsprechenden, zu bestehen. Gleichberechtigung wurde für Bolzano nicht erst hier, sondern schon auf einer wesentlich früheren, nämlich einfach menschlichen Ebene entschieden. Die „wesentliche Gleichheit aller Menschen“ stellte er als Grundtatsache außer Frage (1810.3334; RW IV: 15-19), erst recht die Gleichberechtigung ganzer Bevölkerungsgruppen. Bohemismus, wie ihn Bolzano verstand, ist ein übernationaler Landespatriotismus. In seiner berühmten Redeserie Über das Verhältniß der beiden Volksstämme in Böhmen (1816.41-43) ging er auf die böhmische Sprachverschiedenheit ein: Das erste ist, dass wir ‚den noch ganz ungebildeten Teil unseres Volkes, die Böhmischen sowohl als die Deutschen, über den Unterschied der Sprache gehörig aufklären‘.
Er führte aus, dass die historisch gewachsenen Sprachen aus Mangel der Verabredung bei den verschiedenen Völkern der Erde nothwendig auch auf verschiedene Bezeichnung der Begriffe haben verfallen müssen
und hielt fest, dass der auf diese Art entsprungene ‚Unterschied der Sprache der allerunwesentlichste sei‘, der unter den Menschen nur immer stattfinden mag. (1816.43, in: BBF 4: 42)
Um es mit Bolzano in einem christlichen Bild auszudrücken: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen …“ (Joh 14,2); Böhmen war eine davon. Steffen Höhne bezeichnet den Bohemismus als einen „utopischen, zusehends anachronistisch werdenden Ansatz“ (Höhne 2003: 626). – Da ist Vorsicht geboten, denn utopisch ist er nicht, – eben nicht in dem (damals aus dem Französischen entlehnten und in deutschen Ländern begeistert aufgenommenen) heute allgemein gebräuchlichen Sinn von „Ideal“, „Undurchführbarem“ (Kluge 1999: 851). Bolzanos Ansatz ist nicht ideal oder undurchführbar, sondern im Gegenteil, wie im Politik (7,8) des Aristoteles schon, als Katalog wünschenswerter und verwirklichbarer Haltungen des Einzelnen aufzufassen und großteils so aufgefasst worden. Utopisch ist der Bohemismus auch insofern nicht, als das Zusammenleben der zwei Volksgruppen jahrhundertelang funktioniert hat. Und anachronistisch wird er zunehmend eben dadurch, dass
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sich der Zeitgeist anders entwickelt. Das war aber vor Bolzanos Absetzung in Böhmen durchaus noch nicht ausgemacht. Die Romantik, die sich in den deutschen Ländern anfangs gegen eine das Geistesleben beengende Aufklärung und gegen die protestantische Verstandesreligion wandte, war in böhmischen Verhältnissen, mit einer ganz anders gearteten Aufklärung und tätigem Reformkatholizismus, fehl am Platz. Sie (und mit ihr die deutsche Philosophie des Idealismus) blieben hierzulande im Grund Fremde. Aber der dieser Bewegung zunehmend eigene emotionale Überschwang griff aus den angrenzenden deutschen Ländern auf Böhmen über, nicht anders als ein methodisch ausufernder Diskurs einer in ihren logischen Grundlinien sehr vagen idealistischen Philosophie. Die hilflose, gewaltsame Gegenwehr eines ‚kakanischen‘ Staatsapparates mit Zensur und Bespitzelung, dessen Lenker gerade das Entscheidende nicht mehr verstanden, richtete nur weiteres Unheil an und beförderte die Verbreitung nationaler Ideen,die Bolzanos Vorstellungen radikal entgegenstanden und unter Umgehung der Zensur nach Böhmen eingeschleust wurden (s. Höhne 2000: 43ff.). Bald verband sich – Bolzanos heroischem Kampf gegen die begrifflichen Ungenauigkeiten, die solches Denken erst ermöglichen, zum Trotz – der Volksgedanke mit dem neuartigen Sprachnationalismus Herderscher Provenienz. Ein „Amalgam von realistischen Beobachtungen und kollektiven Phantasien“ (Elias 2003: 126) wie der Nationalismus oder Sprachnationalismus zur Rechtfertigung des Eigenwerts einer Gruppe wäre bei Bolzano schlicht undenkbar. Im famosen Slavenkapitel aus Johann Gottfried Herders Ideen las man: „Schon unter Karl dem Großen fingen jene Unterdrückungskriege an“ und die führten dazu, „eine fleißige, den Landbau und Handel treibende Nation als Knechte zu behandeln.“ Herder sprach von jahrhundertealter Unterdrückung der Slaven durch germanische Völker – und ihrer Erlösung (Herder 1966: 433435). Tschechische Nationalisten, allen voran Josef Jungmann, warfen dieses Amalgam historischer Erzählungen und utopischer Phantasien wie Sprengsätze zwischen die Volksgruppen, wo es gewaltig zündete. Deutsche und deutschböhmische Schriftsteller taten das ihre, um die schlafenden Dämonen zu wecken, indem sie die böhmische Geschichte und vor allem das Hussitentum, zum Teil in gutem Glauben, instrumentalisierten (Höhne 2000: 43, 51ff.). Dieses emotional aufgeladene Gemisch dumpfer Vorstellungen öffnete einen tosenden Abgrund zwischen den Menschen beider Sprachgruppen. Die Stimme der Vernunft hörte da bald keiner mehr. Jene Bolzanos verstummte nach seiner Absetzung 1820 rasch. Bis zum Tod im Revolutionsjahr widmete er sich hauptsächlich seinem wissenschaftlichen Werk. Sein Versuch, eine ethische Wende herbeizuführen, ist mit seiner Absetzung 1820 als gescheitert
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zu betrachten. Zwar gelang es trotz allem Druck, den man auf ihn ausübte, nicht, irgendeine Art von Widerruf seiner Lehren und Aussagen zu erpressen. Zwar half ein hoher Beamter des Sicherheitsdienstes, Bolzanos verbotene Schriften ins benachbarte Ausland zum Druck zu verbringen (Winter 1969: 67); auch dass Bolzanos Erbauungsreden massenweise abgeschrieben und (als frühe Samisdat-Literatur gleichsam) in Heften und gebundenen Manuskriptbüchern im ganzen Land weitergereicht wurden – nichts half mehr, Bolzano war kaltgestellt. Die Mächtigen in Staat und katholischer Kirche waren es also, die dieses eigenwillige Staatsgebilde nicht mehr verstanden. Sie verhielten sich wie Machtpolitiker sonst auch, obwohl der Kaiser nominell noch eine Apostolische Majestät war. Der Kaiser und seine Berater verstanden nicht, in Bolzanos Philosophie einen geistigen Rückhalt, gerade für ein multiethnisches europäisches Gebilde, wie es das Habsburgerreich war, ein gemeinsames Haus für viele Völker, zu erkennen.2 Es war ein letzter Rest des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das zwar bekanntermaßen nicht nach allen Regeln der Baukunst errichtet war, in dem man aber ein Jahrtausend lang in relativer Sicherheit hatte wohnen können. Es war ein besonderes Land, wie Robert Musil in seinem Abgesang betont: Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie hörte man wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes (Musil 1978: 33).
Die Regierenden sahen nur ihre Machtpositionen gefährdet (das freilich mit Recht), entsetzten Bolzano seines Amtes, statt ihre Machtpositionen vorsichtig abzubauen. Das reiht sich in die Folge der tragischen Missverständnisse, die zum Ende der Monarchie geführt haben. Auf diese Art ist die Habsburgermonarchie am Ende zu einem Staat geworden, „der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte“, wie das „Kakanien“ in Robert Musils (1978: 35) seltsam klarer und einleuchtend widersprüchlicher Beschreibung. Als Bolzano im Revolutionsjahr 1848 in das sogenannte Nationalkomitee gewählt wurde, war er überzeugt, dort nichts Sinnvolles mehr ausrichten zu können und sagte (auch aus gesundheitlichen Gründen) ab (Wißhaupt 1981: 351ff.). Was war geschehen mit dem Mann, der sein ganzes Leben der Vision einer besseren Welt gewidmet hatte? Bolzanos Haltungen haben sich nicht im Geringsten geändert, aber die Welt ist eine ganz andere geworden. 2 Michael Josef Fesl wies im Schreiben an die Kaiserliche Akademie in Wien bei Überreichung von Bolzanos Nachlass 1849 darauf hin (Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe 1849/3: 156-162).
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Johannes Urzidil ist schon in diese andere Welt geboren worden, aber seine Begegnungen mit Bolzano zeigen, dass er in der neuen Welt nicht ganz zuhause ist. So wie das heute noch Peter Demetz (2010) vermag, so gibt auch Johannes Urzidils ,hinternationaler‘ Bohemismus insgesamt ein deutliches Lebenszeichen von diesem merkwürdigen Land mit seinen großen, ausgeschlagenen Möglichkeiten.
2. Begegnungen mit Bolzano
Es ist gar nicht so leicht, Bernard Bolzano wirklich zu begegnen. Er ist unwirklich (im Sinne von unwirksam) geworden. Der Umstand, dass er sich nicht für einen der beiden Volksstämme Böhmens entschieden hat, machte ihn für beide Bevölkerungsgruppen suspekt und ließ ihn aus der böhmischen Landesgeschichte fallen (Lemberg 1932: 10). Der Umstand, dass er das Papsttum offen kritisiert hat, verhinderte seine Aufnahme in die römisch-katholische Kirchengeschichte, in deren Bild er nicht passte (Löffler 2003: 111f.). Der Umstand, dass er sich gegen den Hauptstrom der deutschen idealistischen Philosophie gestellt hatte, drängte ihn aus der Philosophiegeschichte (Künne 2008). Die Rezeption seiner Werke hat sich – von dem engen Bereich der Mathematik und Logik abgesehen – punktuell, diffus, durch Grenzen politischer und geistiger Art rundum behindert, mit einem Wort: katastrophal entwickelt. Für die Nachwelt war Bolzano zunächst nur durch seine 1851 von seinem Schüler und Freund Franz Příhonský herausgegebenen Paradoxien des Unendlichen (Bolzano 1851) am Leben geblieben. Eine Gesamtausgabe seiner Werke, von seinem Schüler Michael Josef Fesl 1849 in der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaft in Wien angeregt, kam damals nicht zustande und es dauerte bis 1969, dass die aktuelle Bolzano-Gesamtausgabe (BGA) zu erscheinen begann; aufgrund privater Initiative, nachdem verschiedenste offizielle und nationale Unternehmungen gescheitert waren. In den letzten Jahren ist es gelungen, den großen Philosophen wieder etwas ins Licht zu rücken und das Rezeptionsdefizit abzuarbeiten. In den geisteswissenschaftlichen Bereichen von Bolzanos universalem Schaffen war bisher am wenigsten geschehen. Bolzanos zu Lebzeiten berühmte Erbauungsreden, die als Grundlagentext der
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Literaturwissenschaften gelten müssen,3 sind zum Teil bis heute noch unveröffentlicht. Am deutlichsten ist Bolzano in der Mathematik präsent, wo der von Karl Weierstraß wiederentdeckte Kurvensatz Bolzanos als „Satz von Bolzano-Weierstraß“ zu den Standardsätzen der Analysis gehört. Auch in der analytischen Philosophie sind seine Spuren deutlich, Bolzano wird als Ahnherr der modernen analytischen Philosophie anerkannt (Dummett 1993: 171). Selbst in der Religion ist Bolzanos Auftreten nicht folgenlos geblieben: Die Forderungen der Unität der tschechischen Geistlichkeit an Rom vom Jahre 1919, die, von Rom abgelehnt, zur Gründung der Tschechoslowakischen Kirche am 8. Jänner 1920 geführt haben, gehen in direkter Linie auf Bolzanos kritische Anschauungen zurück (Lášek 2011). Und selbst in die tschechische Politik ist Bolzano (im Samisdat) zurückgekehrt, als sich Intellektuelle wie Jan Patočka im Widerstand der Charta 77 seiner besannen. Unentwegt haben Forscher wie Pavel Křivský, Marie Pavlíková oder Jaromír Loužil, oft auch unter falschen Vorwänden und großen Opfern, ihren Weg in die Archive des tschechischen Nationalmuseums gefunden, um Bolzano zu begegnen. Für eine Begegnung bedarf es freilich mehr als der Kenntnis „todter Schriften“; es bedarf auch zumindest einer Ahnung von der Persönlichkeit dessen, der sie hervorgebracht hat. Alles sprach bei dem jungen Bolzano für eine glänzende Laufbahn als Mathematiker, allein er entschied sich für eine akademische Berufslaufbahn als Religionslehrer. Das sollte bei einem analytischen Geist wie Bolzano gute Gründe haben. Nach meiner Meinung hatte er diese auch und ich versuche hier anzudeuten, welche es waren. Begegnungen mit Bolzano sind aufgrund der tristen Rezeptionslage in der Literatur oft nur eingebildet (Morscher/Strasser 1995). Auch die hier geschilderten ersten beiden Begegnungen beruhen nicht auf nachweisbaren Abhängigkeiten, sondern auf Beziehungen, die man im Sinne Ludwig Wittgensteins als ‚Familienähnlichkeiten‘ bezeichnen könnte. Ich schildere drei Begegnungen Johannes Urzidils mit Bernard Bolzano.
3 Es handelt sich um ein Textcorpus von 582 Reden. Bolzano hielt sie im Rahmen seiner Tätigkeit als Religionprofessor am Philosophicum der Prager Universität 1805-1820. Sie erscheinen seit 2007 in chronologischer Folge (BGA, Reihe II A, Bd. 15-25). Zur allgemeinen Orientierung und Übersicht Strasser (2004).
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2.1. Erste Begegnung: Wellner, Nepomuk, Bolzano und eine mutige Entscheidung Im Prager Tryptichon (Linke Tafel, Die Causa Wellner) (Urzidil 1997: 29ff.) erzählt Johannes Urzidil die Geschichte von einem alten Überfuhrrecht auf der Moldau, das dadurch zustande gekommen ist, dass ein gewisser Wellner den König Wenzel durch die Überfahrt errettet hat. Wenzel wurde vom Burgwart Perchtold verfolgt. Dieser hatte ihn mit dessen Frau beim Ehebruch überrascht. Die Leiche des Burgwarts wurde einige Tage nach des Königs wunderbarer Errettung unterhalb der Brücke Karls IV. aus der Moldau gezogen. Der Retter, Fährmann Wellner, wurde reich entlohnt. Der Erzähler von Urzidils (1997: 47) Geschichte (der viel mit dem Autor zu tun hat) vermutet: Ob dies nun die Folge eines Unfalls war oder ob hierbei die gleichen dunklen Mächte mitwirkten, die schon etliche Jahre vorher den Johann von Pomuk, Generalvikar des Prager Erzbistums, auf den Befehl des Königs zu Tode gefoltert und von einer Brücke in den Fluß gestürzt hatten, wer weiß das?
Jakob Wellner, der letzte (oder vorletzte, rechnet man Helmuth dazu) Nachfahre der wohlhabenden Prager Bürgerfamilie Wellner, konnte es sich leisten, früh in den Ruhestand zu treten und ein Verfahren gegen den Prager Magistrat vorzubereiten, um sein (de iure noch immer gültiges) Überfahrtsrecht auch geltend zu machen. Der Icherzähler kommt in diese Geschichte, weil Jakob Wellner für seinen Sohn Helmuth einen Hauslehrer suchte. Helmuth war beeinträchtigt und kam schwer zurecht im Leben, seine Bewegungen waren unvermittelt, fahrig und weit ausladend; sein Sprechen vollzog sich wortweise, gelangte selten zu vollkommenen Sätzen und war oft von unerklärlichen Fragestellungen durchschossen. Ein plötzliches, zusammenhanglos ausgestoßenes ‚Wieso denn?‘, das einen verborgenen Gedanken unvermutet fortsetzte, gehörte zu seinen häufigsten Äußerungsformen. (Urzidil 1997 : 32)
Bernard Bolzano (der den Namen Nepomuk als einen seiner Taufnamen führt), sprach am 16. Mai 1811 über den Heiligen Nepomuk, den Schutzpatron Böhmens und Bayerns, des Beichtgeheimnisses und der Brücken, und stellte fest: Allein so viele Fähigkeit er auch gehabt hätte, ganz bey dem Fache der Gelehrsamkeit zu bleiben; sehn wir ihn doch die minder ruhmvolle Bahn der Seelsorge betreten, weil er hier der Menschheit einen noch wichtigeren Nutzen zu leisten können gehoffet. (1811.36: 357)
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Seinen Zeitgenossen, deren so viele schon ihre Berufswahl nach schnödem Eigennutz einzurichten begannen, so Bolzano, stellte er diesen Johannes als „leuchtendes Vorbild der Gesinnungstreue“ vor Augen und berichtet, Nepomuk sei getötet worden, weil er, dem Beichtgeheimnis getreu geblieben war und dem eifersüchtigen König eben nicht das ihm von seiner Frau Anvertraute berichtet habe. Bolzano strich den Mut des Johann von Pomuk als wesentliche Charaktereigenschaft (oder Kardinaltugend) in seiner Rede heraus. Als Helmuth (!) von der Geschichte seiner Ahnen durch den jungen Hauslehrer erfährt, reagiert er unerwartet und mutig: Er erkennt schlaglichtartig die Unrechtmäßigkeit der Lage: Was geschah dem Burgwart? […] Aber das Ganze ist doch ein entsetzliches Unrecht […] Dieser König hätte erst büßen müssen, sühnen müssen. Hat er? Und wenn nicht, dann war die Tat jenes Wellners ein Unrecht und der Lohn, den er nahm, ein noch größeres. (Urzidil 1997: 48)
Helmuth sieht (und spricht) hier plötzlich vollkommen klar und zieht vor allem die Folgerungen aus seiner Erkenntnis: Er verlässt sein schützendes Elternhaus, will Gärtnerbursche werden und geht einem sehr ungewissen Schicksal entgegen. Helmuth trägt den Schein der Einfalt oder Abnormität (eines, der gleichsam in einer anderen Zeit lebt), einen Schein, der so manche wichtige Figur in Johannes Urzidils literarischer Welt umgibt, – aber gerade er besitzt die Grundtugend des Aufklärers, den ‚wahren Mut‘. Bernard Bolzano hat mit seiner unerwarteten Berufswahl eine nicht minder mutige Entscheidung getroffen. Nicht nur, dass er, wie Nepomuk, eine sichere wissenschaftliche Karriere ausgeschlagen hatte und Religionslehrer wurde. Was er in diesem Amt wagte, war ein äußerst riskanter und gefährlicher Versuch (der aufgrund der unmöglichen Rezeptionslage weitgehend untergegangen ist); es war auf alle Fälle der „wichtigste Versuch“, der hier zu wagen war (Musil 1978: Kap. 11): Es war der patriotisch motivierte und zugleich kosmopolitisch-universal angelegte Versuch, ein ganzes System von ‚richtigen Begriffen‘ aufzubauen, indem er die Unschärfe der natürlichen Sprache vor dem klaren Hintergrund der von Konnotationen freien mathematischen Sprache zu verringern trachtete. Die Alltagssprache war der Hebel, den er ansetzte, um seine Vorstellungen von einer besseren Welt zu verwirklichen. Er achtete streng auf die Wirkung seiner Worte. Es musste sich im alltäglichen Leben seiner Schüler ‚zeigen‘, ob seine Schüler Bolzanos Begriffe verstanden hatten, das war seine unablässige Forderung. Die Sprache verstand er als Teil der Lebensformen. In den Begriffsbestimmungen ging er stets vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, präzisierte und nuancierte ihn. Er trennte dabei exakt Bedeutungsträger und Bedeutung, signifiant und signifié (im später von
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Ferdinand de Saussure ausgeführten Sinn), beide in einer prinzipiell arbiträren Verbindung verstanden. Sein Grundvertrauen dahinter drückte er einmal so aus: Gelingt es uns erst, eine ‚edle Sprache‘ einzuführen, so wird im Kurzen auch schon eine ‚edle Denk- und Handlungsweise in unserem Vaterlande herrschen. Denn wie der Mensch spricht, so denkt und handelt er auch. Und wer recht redet‘, spricht das Wort Gottes, ‚den sollen alle schätzen‘. (1811.43: 435; Spr 16,13)
Bolzanos Versuch, im Kampf um die Besetzung der Begriffe, einem Wettstreit, der seit der Französischen Revolution in Europa voll entbrannt war (Riedl 1997: 14), ein Wort mitzureden, war auch ein eminent politischer Vorgang. Es ging darum, das Wertsystem der alten, mitteleuropäischen Welt zu erhalten, nicht entgegen, sondern im Verein mit aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit denen es sich aus seiner Sicht bestens vertrug. Er war umringt von Gegnern: den Mächtigen in Staat und Kirche, den philosophischen Idealisten in der Nachfolge Kants, Romantikern wie Friedrich Schlegel, die den ganz anderen Versuch machten, das alte politische System zu retten. Trotzdem, Bolzano wagte ihn und die Zeit schien reif. Auch nach der theresianischen und josephinischen Schulreform, die religiöse Inhalte weitgehend aus dem Unterrichtskanon verdrängt hatte, kam der philosophischen Fakultät noch immer eine Schlüsselstellung im ganzen Bildungssystem des Kaiserreiches zu. Die Ergebenheit der gebildeten Gesellschaftsschicht gegenüber der katholischen Kirche und deren Doktrin und damit verbunden die Loyalität der künftigen Intelligenz des Landes gegenüber dem katholischen Herrscherhaus lag zu einem guten Teil in den Händen dessen, der dieses Amt ausübte (Pavlíková 1985: 133). Bolzano sah in diesem Amt die Möglichkeit entscheidender Einflussnahme auf die zukünftige geistige Führungsschicht des Landes, denn alle Studierenden des Landes (und das waren bis zu tausend Hörer pro Studienjahr) hatten die drei Jahre des (propädeutischen) Philosophicums zu durchlaufen, dabei seine Religionslehre zu besuchen und an Sonn- und Feiertagen seine Exhorten zu hören. Als gut ausgebildeter Rhetoriker wusste er um diese weitreichende Wirkungsmöglichkeit und verstand sie glänzend zu nutzen. Er sandte als Universitätsredner vor großem Publikum keine Traumideen, sondern ganz klare, konkrete Handlungsaufrufe, die zu einer ethischen Wende führen sollten und für manche seiner Schüler (spätere Schul- und Sozialreformer) tatsächlich in diesem Sinn lebensbestimmend wurden. Er verkündete die ungeheuerlichsten Aufrufe zum Selbstdenken von der Kanzel wie, es sei zu verwundern, daß es den Mächtigen und Großen dieser Erde gelungen ist, die Aufmerksamkeit der gemeinen Menschenmenge von einer so einleuchtenden Wahrheit [dass es nur ein ‚sittliches‘ Kriterium für Wert und Rang eines Menschen geben kann] dergestalt abzu-
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ziehen, daß sie nunmehr ganz gleichgiltig zusieht, in wessen Hände die wichtigsten Aemter und Würden im Lande durch Zufall, Geburt oder Reichtum gelangen. (1813.3: 44)
Bolzanos Religionslehre war alles in allem eine subtile Schule des Widerstandes (und sie hätte, bei genauer Befolgung nicht viel von dem damals noch mehrheitlich geltenden religiösen Begriffen übrig gelassen) – das alles vorgetragen von einem Lehrstuhl, der schon als Werkzeug der Reaktion konzipiert war. Er unternahm nichts Geringeres als den ungeheuerlichen Versuch, den Studierenden seiner Heimatstadt Prag (den zukünftigen Entscheidungsträgern des Landes) die Welt vollkommen neu zu beschreiben: mit neuen, ‚besseren Begriffen‘ und unabsehbaren Konsequenzen. Das war in diesen Zeiten der Reaktion gefährlich und eigentlich zum Scheitern verurteilt. Bolzano wusste das und erwähnte es manchmal auch (1812.28: 347f. etc.), aber das hielt ihn nicht ab von seinem Tun. Mut definierte er so: Nur der, behaupte ich, besitzet echten Muth, der sich mit voller Besonnenheit zu einem Schritte zu entschließen vermag, der ihn bedeutenden Gefahren oder Leiden aussetzt, und wenn diese eingebrochen sind, nicht gleich bereuet, den Schritt gethan zu haben. (1810.22: 254)
Der echte Mut hat nach Bolzano wenig mit Heldentum und Krieg zu tun (er sagt das in Kriegszeiten; Strasser 2008); er setzt vielmehr Freiwilligkeit und damit Freiheit voraus, zudem ein deutliches Bewusstsein der zu erwartenden Risiken, und er verlangt auch nach der mutigen Tat noch, dass die Folgen der freiwillig und bewusst eingegangenen Gefahren im Falle eines Scheiterns nicht bereut und zurückgenommen werden. Es ist auszuschließen, dass Johannes Urzidil im Prager Tryptichon Helmuth Wellner mit Bolzano vergleichen wollte. Aber er verwendet Bolzanos Begriff von Mut. Was Bolzano und Wellner (Urzidil) verbindet, ist diese Art von Mut. Am Ende des Habsburgerreiches eröffnen sich neue, existentielle, ja kosmische Räume für diesen Mut: „Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, / kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben …“ (Rilke 1987: 687, Erste Duineser Elegie). Was tun, wenn man erkennt, dass die Situation, in die man geraten ist, nicht richtig, sondern grundfalsch ist, als ob man auf eine falsche Strecke geraten wäre … „Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: Aussteigen! Abspringen!“ (Musil 1978: 32). Als zwingende Folge solcher Erkenntnis bleibt nur eins: „Du musst dein Leben ändern“ (Rilke 1987: 557, Archaïscher Torso Apollos) – genau das tut Helmuth Wellner. Er erkennt eine Unrechtssituation in aller Tiefe und zeigt in einem hellen Moment den „Mut“, daraus die einzig mögliche Konsequenz zu ziehen: sein Leben zu ändern.
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2.2. Zweite Begegnung: Widersprüche
Vermutlich waren die offenkundigen Widersprüche im Wesen und in den Verhaltensweisen meines Vaters für meine Entwicklung besonders befruchtend…
so beginnt Väterliches aus Prag (Urzidil 1969: 7), in dem Johannes Urzidil seinen Vater in einer launigen Schilderung geradezu karikaturhaft überzeichnet, als Verkörperung widersprüchlicher Verhaltensweisen und Einstellungen, – was dieser freilich nur mehr durch haarsträubend absurde Inkonsequenz in den Griff kriegen zu können glaubt. Bemerkenswert ist daran, dass der Sohn Johannes Urzidil das Widersprüchliche im Wesen seines Vaters, obwohl er offenbar nicht selten darunter zu leiden hat, ja dass er den Widerspruch an sich, philosophisch-mathematisch gesehen, ‚befruchtend‘ findet. Von Bolzanos eigenwilliger, widersprüchlich erscheinender Berufswahl war hier die Rede: Es klingt nach biedermeierlicherm Rückzug, wenn ein begnadeter Grundlagenmathematiker und Physiker sich entscheidet, Religionslehrer zu werden. Der Schein(-widerspruch) trügt: Erstens hatte sich Bolzano nicht zurückgezogen, sondern sein Leben lang alle Wissenschaften (und selbstverständlich auch die Theologie) auf Basis seiner Kenntnis der Grundlagen der Mathematik und als Wissenschaften im modernen Sinn betrieben. Und zudem sah er eben nicht in der Grundlagenmathematik, sondern eben in der Tätigkeit des Religionslehrers die entscheidende Möglichkeit, wesentlichen Einfluss auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu nehmen. Warum aber sah er die Situation so dramatisch, dass er gerade jetzt (Anfang des 19. Jahrhunderts) diese Wirkungsmöglichkeit seinem erwiesenen Talent vorzog? Der Widerspruch war in Bolzanos Denken sozusagen der Vater aller Wahrheiten. Bevor er bewies, dass es unendlich viele Wahrheiten gibt (RW I § 11f.; s. WL § 30-32), hatte er zu beweisen, dass es überhaupt „Wahrheiten an sich“ gebe. Das tut er mithilfe des Satzes vom Widerspruch und dem logischen Schluss, wenn alle Sätze falsch wären, dann wäre zumindest der Satz „alle Sätze sind falsch“ wahr (tertium non datur) und es gäbe also mindestens (diesen) einen wahren Satz. Bolzano erkannte die Wissenschaften seit Newton und Leibniz als eine im Kern mathematische Unternehmung und suchte demgemäß das Wissen logisch-mathematisch zu verankern. Der Wahrheitsbegriff selbst hatte sich nämlich seit Newton und Leibniz grundsätzlich geändert. Ernst Cassirer hat die Frage, die sich hier auftut, auf den Punkt gebracht: Liegt die Wahrheit nun nicht mehr im Wort Gottes (mittelalterliche Sichtweise), sondern in den Naturphänomenen selbst (moderne Sichtweise)? Es ist zu fragen,
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ob das Universum als solches den exakten Begriffen der mathematischen Erkenntnis zugänglich und durch sie adäquat erfassbar sei. (Cassirer 1932: 57)
Bolzanos Antwort war ungewöhnlich: Für ihn war die Frage falsch gestellt und keine Entscheidungsfrage im logischen Sinn. Also entschied er sich auch nicht wirklich. Das Verhältnis von Aufklärung und Religion ist zweifellos von Natur aus ein kritisches und es spitzte sich im Sinne der Frage, die Cassirer extrapoliert hatte, in diesen Zeiten zu. Die Aufklärer arbeiteten an der Befreiung des Denkens aus der Vormundschaft des Glaubens; allen voran Bolzano. Er ging – gegen die sehr wirksam von Immanuel Kant propagierte künstliche Beschränkung des menschlichen Erkenntnisvermögens auf das Zähl- und Messbare; aber auch gegen die von der Kirche auferlegten dogmatischen Schranken – davon aus, dass die Beschäftigung mit Phänomenen wie Freiheit, Unendlichkeit und Gott eine sinnvolle und dass diese Beschäftigung wie keine andere befruchtend sein könne. Und er trat auch gleich den überzeugenden Beweis an: Als katholischer Priester lieferte er erstmals in der Geschichte der Philosophie und der Mathematik den Beweis einer aktual unendlichen Menge und brach damit den jahrhundertelang erkenntnishemmenden kirchlichen Bann, „dass nur Gott tatsächlich unendlich sei und nichts anderes in Seiner Schöpfung es sein könnte“ (Wallace 2010: 128; Morscher 2011; Tapp 2011). In seinen Paradoxien des Unendlichen zeigte er, dass die Teilmenge einer unendlichen Menge (auf der Zahlengerade zwischen 0 und 1) ebenso viele Elemente einschließen kann wie die ganze Menge der Zahlen selbst (Bolzano 1851; Wallace 2010: 158, 331).4 Bolzano sah keinen Widerspruch zwischen ‚wirklicher‘ Aufklärung und ‚wirklicher‘ Religion. Beides aber steckte aus seiner Sicht noch in den Kinderschuhen. Nur so wäre erklärbar, dass uns im alltäglichen Leben Sätze, wie jener in abstrakten Räumen so hilfreiche Satz vom Widerspruch, in die Irre führen und unsinnige Fragen aufwerfen, wie jene, ob die Wahrheit im Wort Gottes oder in der formalen Sprache der Naturwissenschaften zu suchen und finden sei: Tertium datur; die Wahrheit ist viel komplizierter und öffnet sich weder exakter Naturbeschreibung noch religiöser Versenkung eindeutig. Was Bolzano als Naturwissenschaftler ersten Ranges und kritischer Theologe deutlicher als andere erkennt, ist eine gerade jetzt immer deutlicher werdende Asymmetrie: Während die modernen Naturwissenschaften eindeutig auf dem Weg waren, in der höheren Mathematik ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dem man tatsächlich wahre Aussagen über Beschaffenheiten 4 Die Äquivalenz zu einer echten Teilmenge wurde erst später von Cantor und Dedekind als Definition des Unendlichen verwendet (Tapp 2010).
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der Welt zu treffen begann, war der Glaube über weite Strecken noch in seiner mittelalterlichen Dogmatik befangen. Während der Fortschritt, im Sinn einer zunehmenden Distanzierung des Forschers von seinem Gegenstand (Elias 2003: 101) in den Naturwissenschaften gerade in dieser Zeit schon evident war, hinkte jener „in den Begriffen, die sich auf Tugend und Glückseligkeit beziehen“ (Bolzanos Definition religiöser Begriffe) deutlich zurück (1812.33: 403f.). Bolzano kämpfte gegen dieses Missverhältnis, als es sich gerade herauszubilden begann. Angesichts der kritischen Phase, in welche die ganze westlich-abendländische Kultur seiner Zeit getreten war, sah er die ethische Basis dieser Kultur – und damit sie selber – in Frage gestellt und die Theologie in Zugzwang. Sie musste sich seiner Meinung nach den neuen Zeiten stellen und (ihre Begriffe), im Sinne aufklärerischer perfectibilité, weiterentwickeln (Bolzano 1845). Von einem Gleichgewicht der Erkenntnisformen, von einer gemeinsamen Sprache hing aus seiner Sicht das Wohl der Menschheit ab. In einem Aufsatz, der philosophischen Aspekten der Mathematik gewidmet ist, kommt Johannes Urzidil (1963)5 auf den entscheidenden (und wenn man will irrationalen) Sprung, jenen zwischen der klassischen Mathematik der Pythagoräer und den infinitesimalen Größen, zu sprechen; den Unterschied zwischen 0 und 1 auf der Zahlengeraden. An dieser Grenze „vollzieht sich etwas Außermathematisches“, so Urzidil; etwas, das der Mathematiker in seiner Wissenschaft nicht erklären könne. An diesem Punkt, wo tatsächlich Außermathematisches ins Spiel kommt, gerät die herkömmliche Mathematik – und mit ihr der alte Zauber von in Stein gemeißelter Exaktheit – ins Wanken. Isaac Newton war es mithilfe ‚aperiodischer Größen‘ zuerst gelungen, die mathematische Analysis grundzulegen. Nur, wie die ‚aperiodischen Größen‘ in die Mathematik einzuordnen wären, darüber schwindelte er sich etwas hinweg, indem er den Leibnizschen Begriff von Differentialen verwendete. Die Differentialrechnung setzte sich dann, trotz dieser Inkonsistenzen, in allen Bereichen der Mathematik durch, man war also auch mit unklaren Methoden zu nützlichen Anwendungen gekommen (Simons 2003: 332f.; Taschner 2009: 55)! Nun waren es genau diese Unklarheiten, die dem Mathematiker Bolzano keine Ruhe ließen (Bolzano 1804, 1810). Seine Beyträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik von 1810 schaffen eine Verschärfung der Analysis und sind ein bedeutender Schritt für die höhere Mathematik. Bolzanos Beschäftigung mit den Grundlagen der Mathematik wies damit nicht nur ehemals für unanzweifelbar gehaltene Gewissheiten zurück, sondern zugleich auf neue Unsicherheiten in diesem einst so sicher geglaubten Bereich menschlichen 5 Den wichtigen Hinweis verdanke ich Isabelle Ruiz.
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Denkens (die dann von Gödel und Heisenberg weiter vertieft wurden). Er zeigte auf, dass wir Widersprüche anders als nur logisch betrachten müssen, dass wir mit der Unendlichkeit zu rechnen haben, wenn wir uns nicht, befangen in unseren Vorurteilen, im hermetischen Kreis drehen. Er verlangte einen anderen Umgang mit Phänomenen wie Widerspruch, Unendlichkeit und Wahrheit, als ihn (nicht nur) Aufklärer und Gottesmänner seiner Zeit pflegten. Johannes Urzidil bringt gerade an der Stelle, wo er auf Außermathematisches stößt, den Begriff der ‚Freiheit‘ ins Spiel (was besonders im Hinblick auf die sogenannten aleatorischen Größen heute durchaus Sinn ergibt) und er resumiert: wie um das Schicksal der Mathematik, so steht es auch um die Gestaltsqualität ‚Mensch‘, die nicht von der Naturwissenschaft aus, sondern einzig von der Religion aus zu erfassen ist. (Urzidil 1963: 35)
Anders gesagt: Die Grundlagen einer Kultur können nicht in den modernen Naturwissenschaften selbst ausdrückbar sein. Sie können gar nicht in der Beschreibung der Welt, so exakt sie auch sein möge, liegen; ebensowenig wie andereseits in der kontemplativen, ‚reinen‘ Gotteserfahrung. Sie müssen, und das ist die wirklich schwierige Erkenntnis, vor unseren Augen, in den uns Menschen verbindenden – religiösen (religiös in der offenen Bedeutung von „gewissenhafter Berücksichtigung“ von „Sorgfalt“ [Kluge 1999: 593] verstanden) – Lebensanweisungen liegen. Die Grundlage der Kultur, ihre Freiheit und ihr Ende, alles das muss in den alltäglichen Lebensformen der Menschen selbst liegen, und in ihrer gemeinsamen Alltagssprache als Teil davon; nirgends sonst. Bolzanos Berufsentscheidung hatte es mit sich gebracht, dass er es, statt mit eindeutigen Begriffen wie wahr und falsch, nun mit offensichtlich unabgeschlossenen und offeneren Begriffen zur Bezeichnung von Adäquatheit zu tun hatte. Er entzog sich damit bewusst der Faszination einer immanenten Ordnung menschengeschaffener Beziehungssysteme (Elias 2003: 160ff.). Anders gesagt: er wandte sich dem Leben zu. Die dramatischen Entscheidungen, die sich im Bereich der Lebensformen (Industrialisierung, Säkularisierung, Globalisierung der abendländischen Zivilisation, mit allen letzten Endes katastrophalen Auswirkungen auf die Überlebensgrundlagen des Menschen, die Biodiversität etc.) herauszudifferenzieren begannen, bewegten ihn, gleichsam ins Leben hinabzusteigen, wie einst Nepomuk … Allein so viele Fähigkeit er auch gehabt hätte, ganz bey dem Fache der Gelehrsamkeit zu bleiben; sehn wir ihn doch die minder ruhmvolle Bahn der Seelsorge betreten, weil er hier der Menschheit einen noch wichtigeren Nutzen zu leisten können gehoffet. (1811.36: 357)
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Johannes Urzidils Verhältnis zum Widerspruch (Johann 2008) hat sehr viel mit dem Bolzanos und dessen Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Mathematik zu tun. Das ist eine „Familienähnlichkeit“, die sehr tief geht – und selbst Bolzano nur mit wenigen Philosophen, aber gewiss mit Ludwig Wittgenstein (Mühlhölzer 2010: 473), verbindet.
2.3. Dritte Begegnung: Goethe, Bolzano und Urzidil in Böhmen Johannes Urzidil hat im habsburgischen Prag, an der kaiserlich-königlichen Karl-Ferdinands-Universität studiert. August Sauer, der berühmte Germanist an der deutschen Universität und verdienstvolle Herausgeber der Werke Grillparzers und Stifters, war sein Lehrer. Sauer hatte sich auch um die Herausgabe der Werke Bolzanos bemüht, ohne Erfolg, wie so viele andere vor und nach ihm. Die erste Fassung von Urzidils Studie Goethe in Böhmen ging aus Sauers germanistischem Seminar im Jahre 1914 hervor (Urzidil 1932: Vorwort). Er schildert darin die Begegnung der Geistesgrößen Bernard Bolzano und Johann Wolfgang Goethe. Der Dichterfürst hielt sich bekanntlich häufig und gerne als Kurgast in Böhmen auf. Während eines Kuraufenthaltes in Karlsbad (19. Mai bis 6. August 1810) besuchte er auch das Schloss der Grafen Czernin in Schönhof [Krásný Dvůr] (30 km von Karlsbad [Karlovy Vary]). Hier hatte wahrscheinlich das stattgefunden, was erst Johannes Urzidil, gut ein Jahrhundert später, zu einer anschaulichen Begegnung gemacht hat; hier die Fakten: Aus den Tagebüchern der Grafen Czernin und Chotek geht hervor, dass Bolzano vom böhmischen Adel sehr geschätzt wurde (Winter 1969: 62). Bolzanos mathematische Schrift Beyträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik war 1810 bei Caspar Widtmann in Prag erschienen und galt gleich als mathematische Sonderleistung. Wir wissen, dass Goethe diesen Band erhalten hatte. Wir wissen nicht, wo das geschah, aber am wahrscheinlichsten ist, dass ihm der kleine Band bei ebendiesem Aufenthalt in Schönhof übergeben wurde. Von Goethes Begegnung mit den Beyträgen haben wir nur indirekte Kenntnis, nämlich aus einem Brief von Goethes ‚Urfreund‘ Knebel an dessen Schwester vom 3. Oktober 1810, in dem es heißt: Ich schrieb kaum gestern diese letzte Zeile, als Goethe mit lautem Geräusch meine Treppe herauf kam und zu mir herein trat. Er kommt mit frischem Geist und Muth und hat mancherlei Neues gesehen. […] [Goethe erzählte], daß man in Böhmen und vorzüglich in Prag sich sehr zu kultivieren anfange, und dies vorwiegend durch Anstiften einiger Privatperso-
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nen von Vermögen. Diese hätten unter andern eine große Zeichenschule in Prag gestiftet, die ausgebreiteten Nutzen verschaffe; aber auch alle Wissenschaften und feineren Künste fingen an daselbst empor zu kommen; und sie hätten einige ganz vorzügliche Menschen hiezu, worunter er unter andern einen jungen Mann Bolzano nannte, dessen Bekanntschaft er in Karlsbad gemacht, und der eben jetzt ein kleines Werkchen von sehr vorzüglichem Werte und Geist herausgegeben habe. Das macht Freude! (Goethe 1998: 576f.)
Das ist alles von Goethes Seite, denn weder bei Woldemar von Biedermann, der zwischen 1889 und 1896 in zehn Bänden alle damals bekannten Berichte über mündliche Äußerungen Goethes gesammelt hat, noch in der fünfbändigen Ausgabe seines Sohnes Flodoard (1909-1911) taucht der Name Bolzano auf, in der gesamten Goethe-Literatur (Briefliteratur eingeschlossen) ist kein Hinweis auf Bernard Bolzano zu finden. Von der Seite Bolzanos gibt es ein Zeugnis: Einen Brief an den Privatdozenten Werneburg vom 17. Jänner 1812. Darin geht es um Werneburgs Werk Grundzüge von originellen alten und neuen Süstemen und Theilen der Mathematik von 1805, das ihm dieser, mit der Widmung „Herrn Professor u Dr Bernard Bolzano zu Prag hochachtungsvoll vom Verfasser dn 28 Julij 1811“ auf dem Einband innen, zugesandt hatte (Berg/Morscher 2002: 402). Bolzanos Brief besteht aus mathematischen Auseinandersetzungen mit Werneburgs Theorien. Er fand daran allerhand klarzustellen, unter anderem auch an Werneburgs Umgang mit der Differentialrechnung. Am Ende bat er höflich um Nachsicht: Ich schließe diese Bemerkungen mit der Bitte, mir die Freymüthigkeit, mit der ich rügte, was mir gefehlt zu seyn scheint, zum Guten zu halten. (Bolzano 2006: 169)
Der Brief schließt mit dem Satz: Sollten Sie gelegenheitlich mit Goethe zusammenkommen, bitte dem 1. Dichter Deutschlands meine Verehrung zu vermelden, und meinen Dank, daß er mich Ihnen bekannt gemacht. (Bolzano 2006: 169)
Wir schließen daraus, dass Goethe, nachdem er die Schrift Bolzanos erhalten hatte, sie Werneburg, seinem Spezialisten für mathematische Angelegenheiten, weitergereicht hat – was diesen zu seinem Brief an Bolzano veranlasst hätte. An dem Antwortbrief Bolzanos an Werneburg, der in Form einer eigenhändigen Kopie von Bolzanos Konzept erhalten ist, fällt dem Herausgeber Jan Berg allerdings auf, dass er die für Bolzano typischen Kürzel enthält, die dieser in den Reinschriften üblicherweise auflöst, da sie den Text weitgehend unlesbar machen würden, und er vermutet, dass Bolzano den Brief abschicken wollte, sich aber dann eines anderen besann (Bolzano 2006: 9). Die Quellenlage (und der fehlende Antwortbrief) sprechen für diese Vermutung. In
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einem Aufsatz von Robert Zimmermann, dem Sohn von Bolzanos Freund und Mitstreiter Johann August Zimmermann, erfahren wir noch, dass Goethe Bolzanos Beyträge an Werneburg „empfohlen“ (im Sinne von weitergegeben) habe (Zimmermann 1849: 2). Johannes Urzidils Sicht auf die Dinge: In Goethe in Böhmen von 1932 zitiert er die Stelle aus dem Brief Knebels, worin dieser aufgeregt von seinem böhmischen Aufenthalt 1810 in ,epischer‘ Version berichtet: Unter den Bekanntschaften dieses Sommers sei der junge Bernhard Bolzano erwähnt, der damals soeben das erste Heft seiner ,Beiträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik‘ herausgegeben hatte, das Goethe als ein Werkchen von vorzüglichem Werthe und Geiste dem Weimarer Mathematiker Professor Werneburg empfahl. (Urzidil 1932: 86)
Johannes Urzidil beruft sich im Anhang auf einen Brief Goethes. Es konnte aber nur eine mündliche Mitteilung gewesen sein, eben jene, die dem Brief Knebels an seine Schwester zugrunde gelegen haben dürfte. Schon August Sauer hat die Stelle aus Knebels Brief 1904 in sein Kompendium Goethe und Österreich übernommen. Er bezieht seine biographischen Informationen zu Bolzano aus dem Biographischen Lexikon des Kaisertums Österreich von Constantin von Wurzbach und dürfte auch Zimmermanns Aufsatz in der Zeitschrift Bohemia gekannt haben. Die Formulierung, Goethe habe Bolzanos Schrift an Werneburg „empfohlen“, stammt von Zimmermann. Sauer (1904: LXV) übernimmt sie und sein Schüler Urzidil folgt ihm. Wir befinden uns hier wahrscheinlich bei den von Urzidil 1932 erwähnten Ursprüngen von Goethe in Böhmen in Sauers Seminar. Knebel hat in seinem Brief missverständlich von „Bekanntschaft“ gesprochen. Sauer wurde deutlicher: Goethe „rühmte den jungen Bolzano, den er 1810 in Karlsbad kennen gelernt hatte“, Urzidil malt dieses Kennenlernen aus. Allerdings: Bernard Bolzano war nie in Karlsbad und die beiden Großen haben einander nie gesehen. 1962, im amerikanischen Exil, hat Urzidil das mittlerweile erfolgreiche Goethe in Böhmen stark überarbeitet und erweitert, 1965 ein zweites Mal. Er greift darin die Bolzano-Episode auf, und zwar auch in überarbeiteter und erweiterter Form: so trat Goethe in Bolzano ein junger Mann von ungewöhnlichen Geistesgaben entgegen, ein theologisch geschulter Humanist und philosophischer Kopf. Es war im Karlsbader Sommer von 1810, und Bolzano hatte damals eben das erste Heft seiner ‚Beiträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik‘ in Prag herausgegeben. Goethe berichtet über ihn an Knebel (2. Oktober) und erzählt bezeichnenderweise von der ‚jetzt in Böhmen aufblühenden Kultur‘. […] Er verweist auf die neugegründete Kunstschule, aber auch auf den Aufschwung der Wissenschaften und die vorzüglichen Menschen, die es dort gebe. Der junge Bolzano sei einer von ihnen. Seine mathematische Schrift sei ‚ein kleines Werkchen
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von sehr vorzüglichem Wert und Geist. Das macht doch Freude‘. Goethe empfiehlt Bolzanos Arbeit sogleich dem Mathematiker Werneburg. (Urzidil 1965: 294)
Urzidil notiert allerdings bei der Gelegenheit, Bolzano sei „zeitlebens ein leidenschaftlicher Goethe-Verehrer“ gewesen, was er 1932 noch in Abrede gestellt hatte (Urzidil 1965: 297; 1932: 86, 300) – und das zurecht, immerhin hat Bolzano in einem Brief an seinen Schüler und Freund Franz Příhonský vom 26. Mai 1829 (Bolzano 2006a: 87ff.) Goethes Wilhelm Meister als ziemlich unverschämtes Werk bezeichnet und mit einem Zweifel an (s)einem Zeitalter geschlossen, in dem ein Mann wie Göthe zu solcher Glorie emporsteigen konnte. Ein Zeitalter, das einen Göthe ehrt, könnte einen Newton, wenn er neben ihm lebte, nicht würdigen! (Bolzano BGA III,3/1, 89)
Bolzanos Gruß in seinem Brief an Werneburg, wo er vom „1. Dichter Deutschlands“ spricht, war also sehr ironisch gemeint und keine Verbeugung vor dem Dichterfürsten. Und vor allem war die Perspektive des illustren Kurgastes auf Prag eine ganz andere als jene des Prager Professors, der klagte, dass besonders in dieser Hauptstadt das Verderbniß der Sitten zu einem überaus hohen Grade gestiegen sey. Verachtung der Religion und ihrer heiligen Gebote, verkehrter Stolz auf Reichtum und Verschwendung … (1812.7: 91 [Dezember 1811])
Bolzano taucht dann noch weitere Male in Urzidils Studie auf: Einmal, wo dieser eine Tagebuchaufzeichnung Anton Franz Dittrichs bearbeitet und einfließen lässt, dass Dittrich „ein Anhänger und Freund Bolzanos war und dessen Goethe-Bewunderung teilte“ (Urzdil 1965: 300; Künne 2011). Er teilte sie nicht. Da geht Urzidil zu weit. Er erwähnt auch Karl Postl, der das vormärzliche Österreich (genauer das Kreuzherrnkloster in Prag am rechten Kopf der Karlsbrücke) fluchtartig verlassen und sich in der Neuen Welt unter dem Pseudonym Charles Sealsfield eine Schriftstellerexitenz aufgebaut hatte. Postl war Schüler Bolzanos, wenn auch kein besonders aufmerksamer (Strasser 2007); sein Reisebericht Austria as it is (1828) wirft ein scharfes Licht auf das schauerliche „Österreich Metternichs“ (und hebt Bolzano als lobenswerte Ausnahme heraus). Im Sommer des Jahres 1810 kommt Bolzano in Urzidils Studie noch einmal zur Sprache: Im Sommer 1810 bestellte Goethe bei der Prager Firma Ballabene & Co. Wein (für Madame Honburg). Aus dem Tagebuch erhellen Unterhaltungen über Prag mit dem Grafen Auersperg. Sicher führte er solche mit Bolzano in Karlsbad und den Czernins auf Schloß Schönhof. (Urzidil 1965: 338)
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Dann schildert er noch einmal die anregende ‚buntbewegte Adelswelt‘ Böhmens: Amalie von Levetzow, diesen ‚glänzenden Stern seines Horizonts‘; anziehend, abstoßend und immer wieder anziehend Marianne von Eybenberg; ‚hübscher und liebenswürdiger als sonst‘ Bettine Brentano; Rahel Levin, ‚voll Empfindungen und Verstand, – wo findt man das?‘; Bolzano, Zelter, den gräflichen Haushalt der Czernins in Schönhof, der fürstlichen Clarys in Teplitz (Urzidil 1965: 384).
Vergleichen wir nun die Fakten über die Begegnung Goethe-Bolzano mit Urzidils Darstellung, so ist hier das Faktische der Mythenbildung gewichen (vielleicht ein Akt der Verzweiflung über das mittlerweile endgültig verlorene Heimatland). Für einen Germanisten sind die Vorgangsweisen, durch die Urzidil die beiden Geistesgrößen zusammenbringt, nicht erlaubt. Aber Goethe in Böhmen geht weit über das Werk eines Literaturwissenschaftlers hinaus und ist das eines Dichters. Als solches sagt es weit mehr über sein Heimatland und sein bewegtes Verhältnis zu ihm aus, als ein auch noch so fleißiges Studium der Fakten zutage bringen könnte. Die steigende Verzweiflung über den endgültigen Verlust der Heimat Böhmen zeigt sich im Unterschied der beiden Varianten des Textes und ihrer zunehmenden Entfernung von den Fakten; ein verzweifeltes, mehr oder weniger literarisches Eingreifenwollen in die Fakten, wie es auch in Hofmannsthals späteren Werken festzustellen ist. Doch, wer hätte sich nicht ein Treffen von Goethe und Bolzano, dieser so unterschiedlichen Kariatyden abendländischen Geistes, gewünscht? Johannes Urzidil hat uns zumindest einen Augenblick davon träumen lassen … Eigentlich schade, dass Goethe Bolzanos „kleines Werkchen von sehr vorzüglichem Wert und Geist“ Werneburg weitergereicht hat, ohne es zu studieren. Und interessant ist es schon, dass das Schicksal Goethe ausgerechnet Bolzanos Beyträge in die Hand spielt. Goethe, der Naturforscher alter Schule, hätte wohl mit der darin abgehandelten Mathematik auf den ersten Blick wenig anfangen können. Die formale Mathematik war nicht seine Sache, und wenn er mit Werneburg, seinem Haus- und Hofmathematiker, sprach, dann bedang er sich aus, dass möglichst nicht von Zahlen die Rede sein solle. Seinem Freund, dem Kanzler Müller, vertraute er einmal an, die Mathematik steht ganz falsch im Rufe, untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist weiter nichts als Identität. 2 mal 2 ist nicht vier, sondern ist eben 2 mal 2 und das ‚nennen‘ wir abkürzend ‚vier‘. Und so geht es immer fort bei ihren Folgerungen, nur daß man in den höheren Formeln die Identität aus den Augen verliert. (Goethe 1993: 391)
Gerade das ist es aber, was Bolzanos Aufsatz weit hinter sich lässt: diese eingebildete Sicherheit. Goethes Unmut ist verständlich, ihm ist die tautologische Sicherheit mit gutem Recht unsympathisch. Die ‚alte‘ Mathematik ist ja im
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Grunde ohne Leben. In der höheren Mathematik haben die Formeln der Identität, die wesentlich auf dem (seit Heraklit schon fragwürdigen) Identitätssatz A = A beruhen, längst ausgespielt. Bolzano ist mit seinen Beyträgen schon auf der Suche nach ganz anderen Sicherheiten; auf dem Feld, wo die tote Wissenschaft endlich lebendig zu werden beginnt (Taschner 2009: 53ff.). Goethe hätte mit dem „Werkchen“ also durchaus seine Freude haben können. – Aber wer weiß, was er ahnte, als er Bolzanos „kleines Werkchen von sehr vorzüglichem Werte und Geist“ vor sich sah. Vielleicht hat sein Sinn für das offensichtlich Verborgene ihn zu dem bedeutsamen Ausruf veranlasst: „Das macht (doch) Freude!“ Die drei Begegnungen Johannes Urzidils mit Bernard Bolzano sprechen die Sprache ihrer gemeinsamen böhmischen Heimat: (1) Mit seiner literarischen Figur des Helmuth Wellner im Prager Triptychon gibt er ein Beispiel für „Mut“ ganz im Sinne Bolzanos. Helmuth Wellner, der aus einer anderen Welt zu kommen scheint, wächst dabei über die große, vernünftig scheinende Figur seines Vaters hinaus zu einer ganz anderen Art von Vernunft. (2) Urzidils wissenschaftliches Weltbild hat Wesentliches mit jenem Bolzanos gemein. Der Widerspruch spielt darin eine andere Rolle als ihm in unserer modernen Welt eingeräumt wird. Er „spielt“ hier, statt zu regieren. (3) Dort wo es „Familienähnlichkeiten“ sind, die Urzidil mit Bolzano verbinden, liegt er ziemlich richtig. Dort, wo er Bolzano (wissenschaftlich nachvollziehbar aber falsch) „zitiert“, deutlich weniger. Das erscheint widersprüchlich; denn seinen Zugang zeichnet zunehmende Distanzierung aus.6 Indem er die Begegnung zwischen Goethe und Bolzano zwischen den beiden Auflagen (also nach 1945) einen noch entschiedeneren Wahrheitscharakter zu geben sucht, versucht er sich, wissenschaftlich von seinem Gegenstand, der geliebten böhmischen Heimat, zu distanzieren. Dass ihm dies aber nur mithilfe eines Zitierfehlers gelingt, zeigt wiederum, dass ihm eine kühle, unbeteiligte Betrachtung dieses Gegenstandes doch nicht möglich war.
6 S. hierzu den Beitrag von Isabelle Ruiz in diesem Band.
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Literatur
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Tom Kindt, Hans-Harald Müller
Urzidil und die Moderne. Zur Rekonstruktion eines Konzepts der Moderne im literarischen und essayistischen Werk Johannes Urzidils
Johannes Urzidil gilt – Ausnahmen bestätigen die Regel – als konservativer Autor.1 Dieses Urteil mag einen gewissen Anhaltspunkt an der Oberflächenstruktur des Sprachstils seines Spätwerks finden; im Hinblick auf die Erzählkonzeption und die erzählten Welten auch des Spätwerks – vom expressionistischen Frühwerk und den publizistischen Arbeiten der Zwischenkriegszeit einmal ganz abgesehen – ist es inakzeptabel. Die verbreitete Einordnung Urzidils hat unseres Erachtens im Wesentlichen zwei Ursachen: Die eine liegt in der mangelnden Differenzierung des Begriffs der Moderne in der germanistischen Literaturwissenschaft (Müller 2010: 14-17), die andere darin, dass die geistigen Koordinaten und die großen Entwicklungszüge seines Œuvres – trotz zahlreicher wichtiger Vorarbeiten, auf die wir uns selbstverständlich beziehen – nicht hinreichend bekannt sind. Wir werden im ersten Teil unseres Beitrags den Typus der Moderne charakterisieren, dem Urzidils Werk angehört; im zweiten Teil werden wir einige wichtige Voraussetzungen und Evolutionslinien seines Frühwerks nachzeichnen, die für sein gesamtes Œuvre kennzeichnend blieben. Der Begriff der literarischen Moderne ist innerhalb der Germanistik – wie zuletzt die vielbeachtete Auseinandersetzung im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur in Erinnerung gerufen hat (Lohmeier 2007; Anz 2008; Schönert 2009) – noch immer Gegenstand von Kontroversen. Anders als bei den Fachdiskussionen zum Modernebegriff in den 1970er und 1980er Jahren handelt es sich bei den jüngeren Begriffsdebatten allerdings überwiegend um Detailstreitigkeiten, die auf der Grundlage eines breiten Konsenses ausgetragen werden. Fast einhellig wird in den Auseinandersetzungen mittlerweile nicht allein davon ausgegangen, dass die deutschsprachige literarische Moderne zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der 1 Als eine Ausnahme ist etwa Demetz (2006) zu nennen.
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Mitte des 20. Jahrhunderts anzusiedeln ist; nahezu unstrittig ist neben dem Zeit- inzwischen auch der Merkmalsaspekt (Danneberg 1991) des Epochenbegriffs: Als grundlegendes Charakteristikum der literarischen Moderne wird weithin die kritische Reflexion auf soziale und technische Modernisierungsprozesse angesehen (Schönert 1989). Gegen diesen Konsens innerhalb der Moderneforschung lässt sich grundsätzlich wenig einwenden; wohl aber gegen die zumeist monolithische Art und Weise, in der vor seinem Hintergrund Signatur und Profil der Epoche im Einzelnen charakterisiert werden. In der Mehrzahl der Studien – seien sie nun strukturalistisch, ideen-, form- oder diskursgeschichtlich ausgerichtet – geht die Tendenz zur retrospektiven Vereinheitlichung so weit, dass nicht einmal fundamentale Unterscheidungen von Modernetypen vorgenommen werden. Trotz mehrfacher Anmahnung (Kindt/Müller 1995; Kiesel 2004; Becker/ Kiesel 2008) hat deshalb auch eine grundlegende Binnendifferenzierung der Epoche bislang kaum Beachtung gefunden, die nicht zuletzt aufgrund der Tatsache erforderlich wurde, dass es einige ihrer Texte nicht allein auf eine literarische Kritik an der Modernisierung, sondern zugleich auf eine Kritik an der literarischen Modernisierungskritik anlegten. Mit dieser Binnendifferenzierung ist in der Moderneforschung eine Richtung der Epoche weitgehend unbeachtet geblieben, die für die Habsburger Moderne von ungleich größerer Bedeutung ist als für die reichsdeutsche und Weimarer Avantgarde und der nicht zuletzt das Werk Johannes Urzidils zugehört. Diese Strömung, die wir hier in Anknüpfung an Christine Maillard und Michael Titzmann als ‚MetaModerne‘ (oder ‚modernekritische Moderne‘) bezeichnen wollen (Maillard/ Titzmann 2002: 10), soll nun in Abgrenzung von der ‚Mainstream-Moderne‘ (oder ‚modernisierungskritischen Moderne‘) kurz vorgestellt werden, um so die Voraussetzung für einen gehaltvollen Blick auf das Urzidilsche Frühwerk zu schaffen. Grundlage der zwei wichtigsten unterschiedlichen Spielarten der literarischen Moderne waren divergierende anthropologische Positionen, deren Neben- und Gegeneinander insbesondere in der Literatur und Essayistik der Zwischenkriegszeit deutliche Spuren hinterlassen hat. Der Mainstream-Moderne lag die Idee der ‚Bestimmtheit‘ des Menschen zugrunde – sei es in der vitalistischen Ausprägung, in der sie in der Nachfolge Nietzsches in den Frühwerken so unterschiedlicher Autoren wie Bertolt Brecht, Gottfried Benn oder Ernst Jünger Gestalt gewann; sei es in der idealistischen Spielart, die in den expressionistischen Texten von Schriftstellern wie Ernst Toller oder Johannes R. Becher bestimmend wurde und in Leonhard Franks schnell zum messianischen Leitwort aufgestiegenen Buchtitel Der Mensch ist gut ihre formelhafte
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Zusammenfassung fand. Ausdruck der Vorstellung von der Bestimmtheit des Menschen waren die zahlreichen Vorhaben zu seiner grundlegenden ‚Wandlung‘, die in den Zwischenkriegsjahren entworfen und erprobt wurden, die Visionen der Erschaffung eines ‚Neuen Menschen‘, der für die Verwirklichung der religiösen, politischen, rassistischen oder technischen Utopien erforderlich war. Der Vorstellung von der Bestimmtheit des Menschen stellten die Vertreter der Meta-Moderne die Idee der ‚Unbestimmtheit‘ oder – um einen Begriff Robert Musils aufzugreifen – der „Gestaltlosigkeit“2 des Menschen entgegen. In pointierter Form kommt diese Haltung in zwei Variationen auf den Titel der Frankschen Novellensammlung zum Ausdruck: In seinem Tagebuch von 1920 notiert Musil: „Ist der Mensch gut? Er ist das und vieles andere“ (Musil 1976: 544), und in einem Aufsatz aus dem Folgejahr formuliert Ernst Weiß knapp: „Der Mensch ist gut – zu allem.“ (Weiß 1982a: 22) Die Vertreter der modernekritischen Moderne verband eine grundlegende Skepsis gegenüber den Wandlungsideen, die von den Wortführern der modernisierungskritischen Moderne propagiert wurden; eine Erneuerung des Menschen, so befürchteten sie, könnte dessen Ende bedeuten. In diesem Sinne suchte die Meta-Moderne der Zwischenkriegszeit unablässig, die prekäre Sonderstellung des Menschen in der Welt, seine Stellung zwischen Gott und Tier, zu bestimmen, zu verdeutlichen und zu verteidigen. In exemplarischer Weise geschah dies etwa in den zahlreichen Essays, die Urzidils Freund Ernst Weiß in den 1920er Jahren publizierte: Sie setzten einerseits dem Vorhaben einer Entfesselung der menschlichen Tiernatur den beharrlichen Hinweis entgegen, dass der Mensch trotz seiner Begrenztheit und Vergänglichkeit das Bewusstsein seiner „Gottähnlichkeit“ (Weiß 1982b: 173f.) nicht verlieren dürfe – aus diesem Bewusstsein galt es, so Weiß, „praktische Schlüsse zu ziehen“, nicht aber „aus dem prähistorischen Menschen und seiner fragwürdigen Entwicklung“ (Weiß 1982d: 85). Andererseits zeigten sich die Essays von Weiß immun gegenüber den Ideen zu einer technischen Überwindung des ‚alten‘ und der Erschaffung eines ‚neuen‘ Menschen, die in den ausgehenden 1920er Jahren zunehmend Konjunktur hatten. Für Weiß und viele andere Vertreter der Meta-Moderne stand früh fest, dass in der Technikskepsis der ersten Hälfte der zwanziger Jahre und dem Technikkult der zweiten Hälfte eine verwandte Grundhaltung zum Ausdruck kam, dass also die literarischen Maschinenutopien ab 1925 eine Fortsetzung vitalistischer 2 S. dazu Musils (1978) Entwürfe zu der Studie Der deutsche Mensch als Symptom von 1923 sowie Vatan (2000).
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Regressionsideen mit anderen Mitteln darstellten. Weiß verdeutlichte diese Überzeugung in seinem Essay Das Unverlierbare, nicht ohne freilich zugleich Widerspruch gegen die Modernisierungseuphorie der Zeit anzumelden: Sollen wir wie die Tiere leben, stets auf der Suche nur nach Nahrung, Begattung, Schlaf ? [...] Was soll uns [...] Technik und Zivilisation? Technisch vollendet ist das ‚niederste‘ Tier viel mehr, als der höchste Mensch es je sein wird, aber nicht das Notwendige des Tieres tut uns not. (Weiß 1982c: 75)
Ausgehend von einem fundamental anderen Menschenbild begegnete die Meta-Moderne den Utopien der Mainstream-Moderne mit einem Plädoyer für Besonnenheit und ideologische Nüchternheit, die sie dezidiert nicht als Ausdruck eines Def ätismus, sondern als – wie es Richard A. Bermann mit Blick auf Victor Adler, Freud und Schnitzler umschrieb – „Idealismus ohne Gläubigkeit“ (Bermann 1998: 45) verstanden wissen wollte. Die kontrastierenden Anthropologien in der Literatur der Zwischenkriegsjahre schlugen sich nicht zuletzt in deutlich divergierenden Positionen zu der Frage nieder, wie ein Zusammenleben von Menschen möglich sein und geregelt werden könne. Die Vertreter der Mainstream-Moderne verzichteten in diesem Zusammenhang auf ethische Reflexionen zugunsten geschichtsphilosophischer Spekulationen und begründeten diesen Verzicht mit dem Hinweis auf den durch das Leben selbst gestifteten organischen Seinszusammenhang, in dem alles gegenwärtige und künftige Geschehen schicksalsmäßig aufgehoben sei. Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen erübrigte sich der Streit über verschiedene moralische Maßstäbe für die Beurteilung individueller Handlungen und sozialer Zustände, denn über den Wert einer Tat, eines Menschen oder einer Gesellschaft ließ sich dieser Auffassung zufolge einzig und allein aufgrund ihrer jeweiligen Beziehung zum Leben befinden. Der Gegensatz zwischen ‚lebendig‘ und ‚leblos‘ ersetzte innerhalb der Mainstream-Moderne die Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚verwerflich‘. Im Geiste dieser Haltung hielt etwa der junge Brecht (1994: 152) in seinem Tagebuch des Jahres 1920 fest: „Alles mit ganzer Seele und ganzem Leibe tun! Was, das ist gleichgültig!“ Und Ernst Jünger wurde während der gesamten Zwischenkriegszeit nicht müde, auf die Irrelevanz konkreter normativer Positionen hinzuweisen – in seinen Reflexionen des Abenteuerlichen Herzens von 1929 hieß es entsprechend: „Es kommt darauf an, wollen und glauben zu können, ganz abgesehen von den Inhalten, die sich dieses Wollen und Glauben gibt.“ (Jünger 1987: 110) Anders als zumeist angenommen wird (Lethen 1994: 131f.; Lindner 1994: 143f.), stieß eine solche Sichtweise nicht erst im Verlauf der 1930er Jahre, sondern bereits seit Beginn der 1920er Jahre auf Widerstand. Schon der MetaModerne der unmittelbaren Nachkriegszeit war bewusst, was Hermann Broch
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in dem Großessay Hofmannsthal und seine Zeit im Rückblick über die Lebens ideologie der Mainstream-Moderne bemerkte: Nur wo politisches Denken durch eine gottlose, dafür aber mystisch ästhetisierende Eschatologie ersetzt war, konnte eine derartige Verkehrung der ethischen Begriffe platzgreifen. (Broch 1975: 263)
Die modernekritische Moderne wollte den Fragen der Ethik nicht ausweichen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben war eine Sicht des Menschen, die nicht zuletzt durch die Grundhaltung der modernisierungskritischen Moderne eine Bestätigung zu erfahren schien – die Auffassung, dass der Mensch aufgrund seiner Stellung zwischen Gott und Tier zum Exzess neige. Ausgehend von dieser Annahme entwickelte die kritische Avantgarde eine Konzeption der Ethik als existenzielle Äquilibristik; sie trat für mittlere Tugenden, die Idee des Maßes und die Vorstellung der Mitte ein, die es dem Menschen möglich machen sollten, seine Neigungen zum Extrem bewusst und unter Kontrolle zu halten und so gewissermaßen eine Position der Balance zwischen Gott und Tier einzunehmen. Die Geschichte dieser bis in den Weltkrieg zurückreichenden Vorschläge muss erst geschrieben werden; die elaborierteste Konzeption einer solchen Ethik ist Felix Weltschs Abhandlung Wagnis der Mitte von 1936. Im Geiste der Prager Kreise um Franz Kafka, Max Brod und Franz Werfel legte Weltsch mit seinem Buch gegen den Extremismus der Zeit eine Apologie der Mitte vor, der die Überzeugung zugrunde lag, „daß die menschlichen Fähigkeiten nur dann fehlerlos funktionieren, wenn sie sich in einer Mittelzone bewegen, die zwischen dem Allzugroßen und dem Allzukleinen gelegen ist.“ (Weltsch 1965: 16) Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte Ernst Weiß in den 1935 erschienenen Reflexionen Aus dem Pariser Tagebuch: Im Maß liegt alles. Das Tier, die Pflanze mögen zwar von sich aus bis zur äußersten Grenze ihrer inneren und äußeren Möglichkeiten gehen, der Mensch darf es nicht. [...] Das Maß ist die Menschlichkeit. Der Mensch darf nicht dauernd bis zum letzten gehen. Dazu ist er zu stark, aber auch zu widerspruchsvoll. Zu klein, um faustisch mit Gott zu konkurrieren, zu groß, um buddhistisch gegen Gott zu verschwinden. Im Maß liegt seine Wachstumsmöglichkeit. [...] Im Ausgleich liegt sein Glück und seine Hoffnung auf Frieden. (Weiß 1935: 42)
Werfen wir vor diesem Hintergrund einen Blick auf Urzidils Frühwerk. Seine expressionistische Lyrik bedarf einer genaueren Untersuchung; ältere Arbeiten zu ihr beschränken sich weitgehend auf stilistische Analysen der Gedichte und berücksichtigen deren Kontext zu wenig; vor diesem Hintergrund ist das ausgesprochen negative Urteil zum Beispiel von Fiala-Fürst (1996: 167, 171) überraschend. Zur Charakterisierung von Urzidils Gedichten im Kontext der
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expressionistischen Lyrik sind nicht allein deren poetische Merkmale von Bedeutung, sondern auch das, was seiner Lyrik fehlt: die Beschwörung des ‚neuen Menschen‘ als Retter aus der Kulturkrise der Gegenwart, die – häufig mit Anti-Intellektualismus verbundene – Sehnsucht nach Regression auf einen vorreflexiven Naturzustand und schließlich die Idee der politischen Sendung des Dichters – „O ihr Menschen! Das Gehirn in Politik zu tauchen frommt nicht“, heißt es in Urzidils (1919: 38, 3. Strophe, Z. 1) Verkündigung an die Könige der Tat. Seine Lyrik ist, das hat Gerhard Trapp (1967: 17) bereits 1967 gesehen, charakterisiert durch das Leiden an der weltlichen Existenz und die Suche nach einem Ich und Welt verbindenden Glauben. Urzidils frühe Lyrik gehört, um eine Unterscheidung von Vietta/Kemper (1975: 14 u. ö.) aufzunehmen, zum kritischen und nicht zum messianischen Expressionismus. Die erkenntniskritische Grundorientierung hängt eng zusammen mit dem spezifischen Selbstverständnis der „neuen Generation“ expressionistischer Dichter, zu der Urzidil sich bekannte.3 Als verbindendes Element dieses Selbstverständnisses hat Kurt Krolop (1966: 4) die Überzeugung vom restlosen Zusammenbruch der Ideale der liberalen Ära charakterisiert. Fortschrittsoptimismus, rationalistische Weltanschauung und der unbedingte Glaube an die Allmacht der Wissenschaft hatten sich für die Generation des jüngsten Prag seit der Jahrhundertwende immer deutlicher desavouiert und eine tiefe Weltanschauungskrise offenbar gemacht. „Das, was in der Kunst heute im Gange ist“, schrieb Urzidil (1921b), „ist nichts anderes als die Revolution des unterdrückten Naiven gegen einen Rationalismus, der alles besser wissen will“ und dessen Herrschaft schon mit der Französischen Revolution begonnen hatte: Die Übertreibung und Überschätzung der menschlichen Fähigkeiten, orchestriert von rationalistischen Weltsystemen, nahm ihren Anfang. So entstand der moderne, sich selbst keine Grenzen zubilligende Mensch, so entstand die gefährliche Reinkultur der materiellen Kräfte, so entstand die mechanistische Auffassung von Welt, Mensch, ja Menschentum. (Urzidil 1921a)
„Sein wollen wie Gott, nicht annehmen, was kommt“ (Urzidil 1960: 155), mit diesem Satz kennzeichnete Urzidil das Credo der Anthropologie, die in die Krise geführt hatte. Bei der Überwindung dieser Krise sollten die Dichter an Stelle der desavouierten arbeitsteiligen Wissenschaften eine führende Stellung einnehmen. Der Dichter galt als „ein kosmischer Versöhner“: 3 S. dazu etwa Urzidils (1921e) Rezension von Werfels Spiegelmensch : „Es ist über und gegen Werfel in der letzten Zeit vieles geschrieben und gesagt worden. Aber was immer man auch gegen Werfel sagen mag, er bleibt und ist doch das, was wir, die neue Generation, an ihm in seinem ersten Gedichtbuch erkannt und geliebt haben: Ein bahnbrechender, ja, das Wort sei gewagt, ein großer Dichter.“
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Er nimmt alle Schwere auf sich und wirft die Dimensionen durcheinander und läßt das Feindliche in chaotischer Umarmung erbrausen. (Urzidil 1919: 16, Beseelung)
Der Dichter war berufen, mit der neuen Weltanschauung zugleich eine neue Sprache und einen neuen Stil zu erschaffen, denn: Es gibt keinen wahrhaft neuen, also auch nicht neu erlebten Gedanken, der sich nicht eines neuen Stils bedienen würde, ja müßte. Alles, was grundsätzlich und neu ist, ist gleichzeitig der Ausgangspunkt einer neuen Form. (Urzidil 1921d)
Bahnbrecher auf der Suche nach dem neuen Stil war für Urzidil Franz Werfel, „der vergötterte Mittelpunkt des Arcokreises“: Er entriß das Gedicht dem damals noch bestimmenden Einfluß Hofmannsthals, Rilkes und Stephan [sic] Georges, gab ihm die Achse des lebendigen Verhältnisses zur Welt und zu den allgegenwärtigen menschlichen Problemen und schob das Bloß-Formale mit leichter Hand beiseite. (Urzidil 1925)
Die ‚allgegenwärtigen menschlichen Probleme‘ sah die Generation des jüngsten Prag nun auf eine im Kontext des deutschen Expressionismus sehr spezifische Weise. Sie ließen sich nach ihrer festen Überzeugung nicht mittels regressiver Phantasien oder sozialer Utopien einer neuen menschlichen Gemeinschaft lösen, sondern der Einzelne musste mit der Lösung bei sich selbst beginnen und zuallererst sein Verhältnis zu Gott klären: „Nur wer die Wahrheit der eigenen Erlösung erkannt hat, wird aller Wahrheiten Lösung sein“, schrieb Urzidil (1919: 38, Verkündigung an die Könige der Tat, 2. Strophe, Z. 4) im Sturz der Verdammten. Die Idee, dass das Verhältnis des Ich zur Welt nur durch die Lösung des Glaubensproblems geklärt und geordnet werden kann, verbindet die Generation des jüngsten Prag und trennt sie bekanntlich vom Aktivismus, dem sie Materialismus und Eudämonismus vorwirft. Gegen den Aktivismus ist schon Urzidils (1919: 38, 3. Strophe, Z. 1) Gedicht Verkündigung an die Könige der Tat gerichtet, und an die Adresse des Protagonisten der Bewegung formuliert Urzidil 1922: „Aktivismus im Hillerschen Sinne heißt schließlich: von außen her für oder gegen Dinge kämpfen, die ihren letzten Urgrund im Innern haben“, und er fügt, nicht ohne Ironie, hinzu: „Felix Weltsch würde unter dem Aspekt seines Buches ‚Gnade und Freiheit‘ etwa sagen: ‚Hiller ist ein Fanatiker der Beseitigung des unedlen Unglücks‘.“ (Urzidil 1922) Das ‚edle Unglück‘ aber war die Glaubensproblematik,4 mit der Urzidil wie Brod, Kafka, Felix Weltsch, Ernst Weiß und andere Repräsentanten des jüngsten Prag jahrelang sehr ernsthaft rangen. Um Urzidils Position in den 4 Dass dieses Problem im Zentrum des Sturz der Verdammten steht, hat Fiala-Fürst (1996: 169) gesehen, aber nicht recht ernst genommen.
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Glaubensdebatten genauer zu bestimmen, bedürfte es weitläufigerer Anstrengungen als sie bislang unternommen wurden und wir sie hier unternehmen können. Es scheint jedoch sicher, dass Urzidil (1921c) Brods Konzeption einer spezifisch jüdischen Gläubigkeit ablehnte und auch der Idee seines Freundes Felix Weltsch, dass der Glaube auf einer freien Willensentscheidung beruhe (Urzidil 1921d), nicht zustimmen konnte. Wie Brod und Weltsch war Urzidil stark von Kierkegaard beeinflusst; er war „kraft des Absurden“ durchdrungen von einem Glauben, der „gewissermaßen seine eigenen Voraussetzungen“ schafft: „Glauben heißt sich ganz in die Macht Gottes zu begeben.“ (Urzidil 1921d) Urzidils Anthropologie resultierte aus seinen Überlegungen, dass er die Aufgaben des Menschen aus seiner Zwischenstellung zwischen Gott und Tier ableitete: das Streben nach Gottähnlichkeit galt ihm für ebenso verwerflich wie die Regression auf einen Zustand jenseits der von Gott verliehenen Vernunft. Die „Gnade der Mitte“, für die er sich später auf Pico della Mirandolas oratio de hominis dignitate berief (Urzidil 1965: 20), spielt in Urzidils Werk eine zentrale Rolle, und es ist kein Zufall, dass er Prag als die „Geistesmitte“ des böhmischen ‚Kontinents‘ in der Mitte zwischen dem Deutschen und dem Habsburger Reich betrachtete.5 Aus dieser Mittelstellung des Menschen resultierte auch Urzidils ethische Konzeption, bei der er zwischen einer „Normalethik“, die für das Zusammenleben der Menschen und Völker verbindlich ist, und einer individuellen Ethik unterschied. Diese „Normalethik“ verbietet beispielsweise die Kriegführung – Urzidil zeigte sich noch nach dem Zweiten Weltkrieg stolz darauf, dass die Prager Autoren 1914 nicht in das militaristische Kriegsgeschrei eingestimmt hatten –,6 hält aber Revolutionen in gewissen Grenzen für vertretbar: 5 „Prag war die Geistesmitte des Landes, das Goethe als ,Kontinent im Kontinent‘ bezeichnet hatte; die Stadt der Tschechen, der Deutschen und des österreichischen Adels, wo zwischen Romanik und Gotik der Türme, dem Barock der Fassaden und Kuppeln und über dem Schwung der Moldaubrücken noch die Klänge Mozarts wahrnehmbar waren, der ,seine Prager‘ liebte, und die holdselig-herben Musiken der Smetana und Dvořák; die Synagogenstadt, wo noch immer der Golem herumgeisterte und wo man den Gestalten aus den Meisternovellen von Jan Neruda persönlich begegnen konnte. Und es war dieses Prag vor allem die Mitte der uralten Heimat zweier Nationen, die – ungeachtet aller Fehden – Form und Schicksal des Landes gemeinsam gestaltet und geprägt und die Mühe und Liebe vieler Geschlechter daran gewendet hatten.“ (Urzidil 1957: 92f.) 6 „Keiner der Prager deutschen Autoren unseres Kreises hat es jemals nötig gehabt, seine politischen Auffassungen zu revidieren, wie dies bei so manchen führenden deutschen Autoren sonst der Fall war, deren Gewissen sich erst erhob, als der Krieg für seine Anstifter, Wortemacher und enthusiastischen Anhänger verloren war“ (Urzidil 1966: 79).
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Gegen das Recht der Revolution auf Zerstörung der Gegenwart kann schlechterdings nichts eingewendet werden, aber sie soll nur den Untergang des naturgemäß im Verfall Begriffenen beschleunigen und nicht aus der Zerstörung überhaupt das Fundament der Revolution machen wollen. Der konsequente Revolutionär freilich ist – und dies ist die dritte, die politische Seite der Sache – genötigt, nicht nur das seiner Ansicht nach Verwerfliche, sondern auch alles zu vernichten, was zu diesem Verwerflichen in direkten oder indirekten Relationen steht. Daraus entwickelt sich dann allerdings mit Notwendigkeit jener gigantische Radius der Zerstörung, dessen sich die soziale Revolution in Russland bediente und der ohne Zweifel über das Maß der Normalethik hinausgeht. (Urzidil 1923)
Die Normalethik gilt freilich nicht für das Handeln des Einzelnen, denn wie Urzidil (1966: 30) anlässlich einer Betrachtung von Kafkas Parabel Vor dem Gesetz schreibt: „Da jeder besonders ist, kann er sich im Grunde an kein Beispiel halten.“ Die Verantwortung für sein Handeln muss jeder Mensch für sich selbst übernehmen, und daran hat er, wie Urzidil schreibt, Übermenschliches zu tragen: Das Problem liegt nun aber so – und das ist aller Hauptkonflikt des Menschen für Kafka wie schon für Kierkegaard –, daß der Mensch durch die Wälle der bewußten Verantwortung gar nicht bis zum Entschluß oder gar zur Tat vordringt, die ihm aber andrerseits auferlegt erscheint, ja vom Leben um des Lebens willen gefordert wird. Entscheidest Du Dich nicht, so versäumst Du das Leben. Das ist Sünde, denn Leben ist religiöse Pflicht. Willst Du Dich aber entscheiden, dann ist die Avenue der Verantwortungen, die sich vor Dir auftut, so endlos lang, daß du die Entscheidung nicht erreichst. Auch dadurch wirst Du sündig. Handelst Du aber ohne Entscheidung und Verantwortungsbewußtsein, das heißt jenseits des Gewissens, dann bist Du ebenfalls sündig (woran nichts ändert, daß gewisse dialektisch wohlunterkellerte Ideologien das Handeln jenseits des Gewissens auch als jenseits der Sünde erachten). Der Mensch ist nur dadurch Mensch, daß er sich der Problematik des Menschen stellt, die sich aus der Aktivierung des Verantwortungsbewußtseins ergibt. (Urzidil 1966: 24)
Es wäre reizvoll darzustellen, dass Urzidil im Kontext seiner poetischen Überlegungen auch ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber Dingen und Gegenständen kennt, aber dazu reicht hier der Raum nicht. Es dürfte jedoch hinlänglich deutlich geworden sein, dass von Urzidils und seiner Prager Freunde Ethik des Maßes kein Weg zum Aktivismus führt. Der Prager Expressionismus teilt mit ihm die Voraussetzungen der weltanschaulichen Krise der Moderne, gelangt aber zu anderen Ergebnissen als die Moderne des Aktivismus. Am Beispiel Urzidils lässt sich zeigen, dass diese Voraussetzungen einer gemäßigteren Moderne für sein Œuvre verbindlich blieben, wenngleich er dem expressionistischen Stil recht bald entsagte.
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Generation im Aufbruch. Johannes Urzidil und der Prager Kreis für Joachim W. Storck (1922-2011)
„Johannes Urzidils Werk ist ganz und gar Prag, wie Franz Kafkas Werk auf sehr andere Weise ganz und gar Prag ist“, betont Josef Mühlberger (1981: 323) in seiner böhmischen Literaturgeschichte. In den einschlägigen Anthologien der Prager Blütezeit ist Urzidil jedoch – im Unterschied zu Kafka – nicht vertreten. Weder in den Herder-Blättern (1911/12), noch im Jahrbuch Arkadia (1913), weder im zionistischen Essayband Vom Judentum (1913) noch im verspätet erscheinenden Sammelband Das jüdische Prag (1917) findet man seine Erwähnung.1 Sogar in Josef Körners ausführlicher Besprechung Dichter und Dichtung aus dem deutschen Prag (1917) und anderen Überblicksdarstellungen fehlt der Name Urzidils. Erst 1919 erscheint dann die Anthologie Deutsche Dichter aus Prag, herausgegeben von Oskar Wiener (1919: 323f.), mit Gedichten des 23jährigen. Aber zu diesem Zeitpunkt haben sich die wesentlichen Entwicklungen des Prager Kreises – allen voran Werfels und Kafkas Durchbrüche zur Autorschaft – schon vollzogen und liegen weit zurück. Urzidil – ein spät geborener Autor des Epilogs?
1 Erste Gedichte unter dem Pseudonym Hans Elmar erscheinen am 12.01.1913 und 17.08.1913 im Prager Tagblatt, 1916 folgen einige Gedichte in der Aktion, 1918 beginnt Urzidil in der von ihm selbst redigierten Brünner Zeitschrift Der Mensch und im Prager Tagblatt Übersetzungen, Erzählungen sowie Die Straße. Eine symphonische Dichtung zu veröffentlichen.
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1. Generation2 als Periodisierungseinheit
Als der 22jährige Johannes Urzidil seinen ersten eigenen Gedichtband in Kurt Wolffs Reihe Der Jüngste Tag herausbringt, ist von der einstigen Atmosphäre der literarischen Séancen, der nervösen Aufbruchsstimmung der Vorkriegsjahre und ihren denkwürdigen Manifestationen kaum noch etwas übrig geblieben. Es ist überhaupt erstaunlich (um nicht zu sagen: verdächtig), wie nachhaltig die wenigen Jahre, eigentlich Monate literarischer Hochkonjunktur zwischen 1910 und 1913 (insbes. 1911/12) das Bild der Prager deutschen Literatur geprägt haben: Von den Aufregungen und Diskussionen der jungen Weltverbesserer im Café Arco, im Herder-Verein, in den Redehallen, in den philosophischen Salons, in den einschlägigen Lokalen und spiritistischen Separées, im zionistisch-literarischen Hochschülerverein Bar Kochba – um nur die wichtigsten Adressen zu nennen – von all dem zehren bis heute die großen Narrative literaturhistorischer Betrachtung. Treffend resümiert Kurt Krolop (2005a: 29): Mit dem Herbst 1912, dem Erscheinen des letzten Heftes der ‚Herder-Blätter‘ (und der gleichzeitigen Umgestaltung der ‚Deutschen Arbeit‘ im Dienste der ‚Idee des Nationalismus‘), mit der Übersiedlung Franz Werfels nach Leipzig; mit dem Prager Autorenabend der ‚Herder-Vereinigung‘, an dem Franz Kafka zum ersten Mal öffentlich ‚Das Urteil‘ vorlas, Franz Werfel aber bereits nicht mehr teilnahm: Mit diesen Daten etwa ist das Ende dieser Periode bezeichnet und der Beginn eines Differenzierungs- und Abwanderungsprozesses, in dessen Verlauf Paul Wiegler, Egon Erwin Kisch, Willy Haas, Willy Handl, Paul Kornfeld, 2 Generation dient dazu, historischen Wandel in einer lebensgeschichtlich überschaubaren Zeitspanne kollektiv wahrzunehmen und ihn mit der generativen Erneuerung von Gesellschaften in Zusammenhang zu bringen (Jureit 2006: 8). Auf die Aktualität des Begriffs der Generation (insbesondere hinsichtlich des Themas „Generationsidentitäten in der Erinnerungsliteratur“) ist in den letzten Jahren wiederholt hingewiesen worden. Bereits seit Karl Mannheims (1928) Aufsatz Das Problem der Generationen von 1928 existiert eine wissenschaftliche Basis zur Diskussion dieses Begriffs. Inzwischen hat sich daraus eine breit aufgestellte, interdisziplinär arbeitende Generationsforschung entwickelt, deren Ergebnisse nicht zuletzt von der Literaturwissenschaft aufgegriffen werden (Assmann 2007; Schulz/ Grebner 2003; Weigel 2002). Einige Forschungsansätze wären auch für die in der Prager Literatur verhandelten Generationsentwürfe fruchtbar zu machen: Steht doch gerade hier der Begriff der Generation – als Selbstthematisierungsformel oder als analytische Kategorie (oder beides gleichzeitig) – im Zentrum eines vielschichtigen, aber auch vielstimmigen Identitätsdiskurses. Der vorliegende Beitrag versucht, anknüpfend an Fragestellungen der Generationsforschung die Spezifik der Prager deutschen Literatur am Beispiel Johannes Urzidils herauszuarbeiten und möchte zu weiterführenden Untersuchungen anregen.
Generation im Aufbruch
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Ernst Deutsch Prag verließen und der Kriegsausbruch, als die meisten der übrigen ‚einrückend gemacht‘ wurden, einen ersten Abschluss fand.
Vor diesem Hintergrund bleibt festzuhalten: Als Johannes Urzidil mit seinem ersten Buch, der Gedichtsammlung Sturz der Verdammten, an die Öffentlichkeit trat, waren die meisten hochfliegenden Träume der Prager deutsch-jüdischen Literatur bereits ausgeträumt. Bezeichnend dafür ist das Jahr der Veröffentlichung 1919 (wenngleich vereinzelte Gedichte bereits etwas früher in Zeitschriften erschienen sind). Dessen ungeachtet hat Urzidil in der Rückschau Max Brods auf die Jahre des Prager Kreises einen weitaus bedeutenderen Platz eingenommen: Er bildet den letzten „Konvergenzpunkt“ in einer Reihe miteinander verbundener Autorengenerationen, als deren Repräsentanten Brod (1979: 237)3 – mit der ihm eigenen Bescheidenheit – folgende Namen nennt: „Salus, Leppin, Rilke, Meyrink, Kafka, Brod, Werfel, Urzidil.“ Zur Erinnerung: Brod beschreibt in seinem Buch Der Prager Kreis den engeren und weiteren Zusammenhalt wichtiger Prager Autoren als einen Prozess der Gruppenbildung. Dabei zieht er eine Entwicklungslinie von drei aufeinanderfolgenden literarischen Phasen: Erstens die Literatur des deutschnationalen Vereins Concordia, die „Klassizisten“: Alfred Klaar, Heinrich Teweles, Richard Batka, Fritz Mauthner, Hugo Salus, Friedrich Adler. Zweitens die Literatur des neo-romantischen „Jung-Prag“ um die Zeitschrift Wir : Rainer M. Rilke, Paul Leppin, Victor Hadwiger, Gustav Meyrink, Camill Hoffmann, Ottokar Winicky, Leo Heller, Hugo Steiner, Oskar Wiener. Drittens die Literatur der Neo-Realisten, des Prager Kreises: Franz Kafka, Max Brod, Oskar Baum, Franz Werfel, Willy Haas, Paul Kornfeld, Otto Pick, Egon Erwin Kisch, Paul Wiegler, Rudolf Fuchs, Karl Brand, Johannes Urzidil, Hermann Grab u. v. m. Hatte sich die erste Generation, die ‚Concordioten‘, in provinzieller Enge mit dem Anspruch deutschnationaler Hegemonie und kultureller Überlegenheit eingerichtet und damit bereits zahlreiche Autoren der zweiten Generation des ‚Jung-Prag‘ zur Flucht bewegt, so fand die dritte Generation einen Weg, die binationale Lebenswelt Prags mit einem geistigen Weltbürgertum zu kompensieren. Das von Brod perpetuierte Drei-Generationenmodell weckt zunächst die Vorstellung einer traditionellen familialen bzw. genealogischen Konstellation: drei aufeinanderfolgende Generationen, die bei aller Verschiedenheit miteinander in literarischer Verwandtschaft stehen, und eine Entwicklung in 3 Zunächst heißt es: „Eigentlich waren es Halbgenerationen oder gar nur Viertelgenerationen, denn Salus ist 1866, Leppin 1878, Kafka 1883 geboren“ (Brod 1979: 80, s. a. 41).
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verschiedenen Abschnitten repräsentieren. In diesem Sinne bleiben die ‚Klassizisten‘ Klaar, Willomitzer, Salus, Teweles stets die Generation der ‚Ältesten‘, während Rilke, Leppin und Meyrink die neoromantische ‚Eltern-‘, und Kafka, Brod und Werfel die neo-realistische ‚Enkel‘-Generation darstellen: die literarische Familie aus Altvorderen und Nachgeborenen – eine gängige Vorstellung, die freilich einer gewissen Statik nicht entbehrt –, sprechen wir heute doch immer noch gern von der jungen Generation der Weltfreunde und Kulturzionisten, obgleich deren Vertreter durchaus auch Entwicklungs- bzw. Alterungsprozesse durchlaufen haben.4 Auch Urzidil liefert in seinen Rückblicken anschauliche Illustrationen dieses Modells, so etwa, wenn er im Prager Triptychon, in der Erzählung Vermächtnis eines Jünglings, eine ‚Begegnung der Generationen‘ beschreibt: Bei einem Spaziergang, den der junge Urzidil und sein Freund Karl Brand über die „barocke Heiligenallee“ der alten Karlsbrücke unternehmen, treffen die beiden unverhofft auf zwei bekannte Vertreter der älteren Generation der Prager deutschen Literatur. Das Ganze ist mit sichtlicher Ironie geschildert, und vermittelt dem Leser ein geradezu plastisches Bild vom Generationswechsel: Auf dem gegenüberliegenden Brückentrottoir kamen uns eben zwei Herren entgegen, die beiden Dichter Friedrich Adler und Hugo Salus. Beide gehörten noch der einstigen ‚libera len Ära‘ der Prager deutschen Literatur an. Brand und ich lüfteten unsere Hüte mit respektvoller Verneigung, obwohl wir die beiden Doktoren als Lyriker schon für einigermaßen verflossen erachteten. Salus, die langen Dichterlocken bis über den Nacken gewellt, den Stehkragen mit wehendem Dichterschlips schwarz bewimpelt, winkte herablassend zu uns herüber. ‚Salus rei publicae suprema lex esto‘, sagte ich zu Brand, der allerdings kein Latein verstand. ‚Das ist eine These von Cicero, und wissen Sie, welche Übersetzung ich mir zurechtgelegt habe? Gegen den Salus sollten die äußersten Gesetze des Staates in Anwendung gebracht werden.‘ ‚Seine Gedichte wirken freilich schon etwas veraltet. Aber vielleicht wird man sie einmal wieder schätzen. Ja, wie die Möbel der Urgroßeltern. Die Literatur läuft ja auf seltsamen Pfaden. ‘ ‚Ein dichterisches Verdienst kann man ihm nicht absprechen‘, sagte ich. ‚Und das wäre?‘ ‚Salus ist, wie Sie wissen, von Beruf Geburtshelfer. Und als solcher hat er auch bei meiner Geburt assistiert.‘ (Urzidil 1997: 177f.)
Urzidils zweideutig ironische Bemerkung am Schluss lässt offen, ob er sich hier auf seine Geburt als Mensch oder als Dichter bezieht. Im letzteren Falle bestünde allerdings erheblicher Erklärungsbedarf.5 Unabhängig davon macht 4 Die Biografie Max Brod selbst ist das beste Beispiel dafür. 5 Gerhard Trapp (1967: 9) betont den respektlosen Umgang insbes. der ‚Arconauten‘, die sich nicht zuletzt auf Karl Kraus’ Spottvers stützten: „Hugo Salus ist ein Gebu- / Rts-Helfer
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die geschilderte Episode vom Aufeinandertreffen der Generationen, noch da zu an einem Ort, an dem sich steinerne Säulenheilige reihen, deutlich, dass es sich um einen Generationswechsel handelt, der durch historische Kontinuität, vor allem aber durch einen unüberwindbaren Bruch gekennzeichnet ist. In den Augen der Jüngeren verkörpern Salus und Adler unhaltbare konservative Ideale und stehen für ein längst vergangenes Zeitalter. Der genealogische Ab stand zwischen den Generationen lässt sich dabei am Vergleich mit den Möbeln der Urgroßeltern bemessen: Hatte Brod im Wesentlichen drei miteinander verbundene (Halb-)Generationen in den Blick gerückt,6 so hebt sich in der Perspektive Urzidils schon eine vierte Generation radikal von der ersten ab. H. G. Adler hat an Brods Modell anknüpfend eine weitere Differenzierung in acht maßgebliche Autoren-Generationen vorgeschlagen. Demnach bildeten Franz Werfel, Willy Haas, Hans Natonek u. a. bereits eine vierte Generation, Johannes Urzidil, Karl Brand und Dietzenschmidt eine fünfte, Hermann Grab und Gustav Janouch eine sechste, Franz Baermann Steiner eine siebte und Peter Kien, Georg Kafka, Hans Kolben, Franz Wurm, Hanna Demetz die achte Generation (Adler 2010: 11f.). Die Notwendigkeit Brods Sichtweise zu präzisieren und weitere ‚Alterskohorten‘ zu differenzieren, deutet darauf hin, dass von den jüngeren Autoren ein zunehmender Entfremdungsprozess zwischen den Generationen, aber auch innerhalb einer Generation wahrgenommen wurde. Dieser Prozess wird vordergründig an der Auseinandersetzung mit den ‚Concordioten‘ und ‚JungPragern‘ offenkundig. Ging es doch hier vor allem darum, ein eigenes Weltbild durch entschiedene Abgrenzung von allem ‚Gestrigen‘ zu definieren. In Franz Werfels Novelle Das Trauerhaus wird diese Auseinandersetzung noch einmal in Erinnerung gebracht und an der Gestalt des Dichters Eduard von Peppler (der die Züge Paul Leppins trägt) exemplarisch vor Augen geführt: Herrn von Pepplers Blut geriet durch die Anwesenheit eines jüngeren Schriftstellers am Tisch der Jugend in Siedehitze. Der strebsame Knabe nämlich hatte schon einige Erfolge zu verzeichnen. Peppler schrie, seine Generation hätte das Leben machtvoll gesucht und die Syphilis gefunden, diese neue feige Jugend suche das Leben nicht machtvoll, finde aber Verleger. Er parierte blutrot das ironische Gelächter der jungen Generation: „Ihr seid Bürger! Ihr seid Gemüselyriker! Ihr seid Schiffbrüchige am häuslichen Herd! Pfui, Hausmannskost!“ (Werfel 1927: 256f.)
und Poet dazu.“ 6 Brod (1969: 149) hat die „drei Stufen- oder Generationsfolgen“ bereits nachdrücklich in seiner Biografie von 1960 betont, zum selben Zeitpunkt also, als Urzidils Triptychon erscheint. Im Übrigen würde es sich lohnen, die Überarbeitungen in der 1969 erschienenen Neuauflage von Brods Streitbares Leben einer kritischen Analyse zu unterziehen.
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Mit ähnlich beißendem Spott wird in Urzidils Prager Triptychon von einem Vortragsabend im „Klub deutscher Schriftstellerinnen“ (dem Namen nach also einem fortschrittlichen Verein) berichtet, auf dem auch Friedrich Adler erscheint und wie folgt das Wort führt: ‚Ja, diese jungen Dichter und Dichterinnen! Diese junge Brut würde einen heutzutage nicht mehr um Rat fragen. Zu meiner Zeit, ich meine früher einmal, da gab es in Prag einen Literaturpapst, der hieß Klaar. Den musste jeder von uns vorher fragen, ob ein Gedicht druckreif sei oder nicht. Aber heutzutage? Die jetzige Generation? Glauben Sie, dieser Werfel würde mich jemals fragen, ob ich eines seiner Gedichte gut oder schlecht finde? Sie sind ja auch danach.‘ Brand und ich lachten auf. (Urzidil 1997: 178f.)
Die Art und Weise der Schilderung lässt keinen Zweifel aufkommen, dass hier unüberwindbare Verständigungsschwierigkeiten vorliegen. Dieser kommunikative Bruch, wie Urzidil ihn hier im Namen seiner Generation geltend macht, wurde jedoch von Brod keineswegs mitvollzogen. Mochte es auch Differenzen zwischen Älteren und Jüngeren geben, so blieb für ihn der transgenerationelle Dialog grundsätzlich bestehen – was sich daran ablesen lässt, dass Brod, Oskar Wiener und Paul Leppin gemeinsam mit den so verachteten älteren Dichtern sich aktiv an Veranstaltungen der Concordia beteiligten und sogar Ämter im Ausschuss bekleideten.7 Damit wird allerdings die Frage aufgeworfen, ob unter diesen Umständen tatsächlich noch von einer Generation Urzidils, Werfels und Brods gesprochen werden kann – bestimmt sich doch das Selbstverständnis einer Generation nicht zuletzt auch aus ihrem Verhältnis zu anderen Generationen. Viele der hierzu aussagekräftigen Darstellungen Brods sind postume Erinnerungen mit hohem Projektionsgehalt. So lässt gerade der Rückblick auf die Literatur des Prager Kreises das retrospektive Konstrukt einer literarischen Gruppenbildung erkennen, die von den Protagonisten keineswegs einheitlich erlebt, verarbeitet oder reflektiert wurde (Schmitz/Udolph 2001: 204). Wenn es dennoch so etwas wie die Herausbildung eines generationellen Bewusstseins unter Prager Autoren gegeben hat, so resultierte dies aus dem Zusammentreffen mehrerer komplexer Faktoren: Zu erinnern wäre hier noch einmal an die literaturkundlich bezeugten Ereignisse um 1911/12 (s. o.), aber auch die besondere Stellung, die die beteiligten Autoren zur Nationalitätenfrage einnahmen, die Affinität zu zeitgenössischen neuen Strömungen wie Expressionismus und Zionismus, die Auseinandersetzung mit der Moderne 7 Vgl. Deutsche Zeitung Bohemia (81/81, 1908: 5; 82/89, 1909: 7; 83/86, 1910: 13; 84/78, 1911: 9) – Hinweis aus Northey (2006: 179). S. a. Brod (1969: 142ff.).
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und die Absorption wichtiger exterritorialer Einflüsse, die Vernetzung singulärer Kreise, das Aufblühen einer räumlich und zeitlich relativ dicht konzentrierten literarischen Praxis und letztlich auch deren Zerstörung infolge des 1. Weltkrieges. „Wie waren wir eins, wie stimmten wir da zusammen!“, schreibt Otto Pick (1916: 605) rückblickend in seinen Erinnerungen an den Winter 1911/12. Gestützt werden diese Worte durch Aussagen namhafter Kronzeugen – einschließlich Brods, Haas’ und Werfels. Doch im Grunde genommen setzte bereits 1912, spätestens aber 1914, ein Differenzierungs- bzw. Auflösungsprozess ein, der das gemeinsame Streben, das Eins-Sein, kurz die generationelle Identität der Prager Dichtung nur mehr als Imagination am Leben erhalten konnte. Max Brods (1913; 1916/17: 461) Vorwort zur Anthologie Arkadia und seine späteren gemeinschaftsextatischen Entwürfe charakterisieren bereits individuelle Orientierungen, die nicht mehr von allen Autoren mitgetragen wurden. Selbst Franz Werfels energische Willensbekundung im Namen der geistigen Jugend Prags als „einer neuen und ehrlicheren Generation“ und sein Appell an die revolutionären Instinkte seiner Generation, endlich teilzunehmen am wirklichen Leben der Stadt, im Sinne einer deutsch-tschechischen Verständigung (Werfel 1914: 6; s. a. Krolop 2005b), erweist sich bei näherem Besehen als Phrase. Zum Zeitpunkt des Aufrufs hatte Werfel Prag längst verlassen: 1912, in meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr habe ich Prag endgültig verlassen. Es war damals ein halb noch unbewußter Rettungsversuch. Mein Lebensinstinkt wehrte sich gegen Prag. Für den Nichttschechen, so scheint mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm ein Tagtraum [...] ein lähmendes Ghetto [...] eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt. Prag kann man nur als einen Drogenrausch, als eine Fata Morgana des Lebens ertragen, und das ist der Grund, warum so viele Künstler nicht geflohen sind. (Werfel 1922: 6)
2. Erfahrungsgemeinschaft Prager Kreis
In diesem Zusammenhang drängt sich die eingangs gestellte Frage noch einmal auf: Welchen Anteil hat Urzidil überhaupt an den originären literarischen Inszenierungen des Prager Kreises? Anders formuliert: Aus welchen Ressourcen
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generationeller Identität schöpft er seine Auskünfte und Erinnerungen?8 Zweifellos hat der Gymnasiast mit 14/15 Jahren den literarischen Sternstunden des Prager Kulturlebens als Zuhörer beigewohnt, und gewiss haben Werfels ‚Wirsind‘-Deklamationen auch bei ihm ihre Wirkung nicht verfehlt. Gleichwohl bleibt aber doch festzuhalten, dass viel Trennendes zwischen den Akteuren der Jahre 1911/12, namentlich Max Brod, und dem um 13 Jahre jüngeren Johannes Urzidil steht – zuviel jedenfalls, um von gleichen Voraussetzungen, Erlebnis- und Erfahrungshorizonten, Perspektiven oder Prägungen zu sprechen. Schon aufgrund seiner Herkunft – der Vater deutschnational, die Mutter jüdisch, die „Stief“[-mutter] Tschechin – verlief Urzidils Sozialisation anders als in den Biografien von Prager Autoren aus assimilierten jüdischen Familien. Zur Zeit der Badeni-Stürme war Urzidil ein Jahr alt, Brod dagegen 14. Die Wahrnehmung nationaler Konflikte hatte für den jungen Urzidil – unter den sich wandelnden Verhältnissen – selbstverständlich einen anderen Hintergrund als für seine älteren Zeitgenossen. Die Beherrschung der tschechischen Sprache, Freundschafts- und verwandtschaftliche Beziehungen mit Tschechen sorgten zudem für bessere Voraussetzungen im Kulturaustausch. Die Renaissance eines neuen jüdischen Bewusstseins aus der Begegnung mit dem Ostjudentum9 und auch die Auseinandersetzung mit dem (West-)Judentum der Väter (eine der zentralen Fragen des engeren Prager Kreises) fand bei Urzidil, dem Katholiken, eine ungleich andere Gewichtung. Nicht zuletzt aber gab es auch in künstlerischen Ambitionen deutliche Unterschiede zwischen den literarisch vor 1914 in deutschen Verlagen etablierten und jenen jüngeren Autoren wie Urzidil und Brand, die noch keinen Anschluss an tragfähige europäische Eliten gefunden hatten und sich erst allmählich durch kleinere Zeitschriftenveröffentlichungen einen Namen machen konnten. Selbst der 1891 geborene Willy Haas, der immerhin bei der Gründung des Herder-Vereins und der Herder-Blätter eine entscheidende Rolle spielte, erinnert sich an den Respekt, den ihm der Name des älteren Autors Max Brod 1910 einflößte. Von ähnlichem Respekt getragen ist auch jene Sentenz, die Urzidil im Prager Triptychon dem jungen Walter Fürth für das Jahr 1914 in den Mund legt: „Max Brod kann für die älteren Generationen sprechen. Schließlich steht er schon am Anfang der Dreißig […].“ (Urzidil 1997: 172) 8 In dem Erzählband Die verlorene Geliebte erinnern folgende Geschichten an die Prager Zeit: Spiele und Tränen, Stief und Halb, Neujahrsrummel, Dienstmann Kubat, Repetent Bäumel, Eine Schreckensnacht. 9 Brod (1969: 47) behauptet, dass ihm 1910 ähnlich wie Kafka zum ersten Mal in der Begegnung mit ostjüdischen Schauspielern ein „wahrer Begriff von jüdischem Volkstum […] aufgeleuchtet war.“
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Es deutet also vieles daraufhin, dass der junge Dichter Johannes Urzidil zunächst nicht auf gleicher Augenhöhe mit Max Brod, Oskar Baum, Felix Weltsch und Franz Kafka kommuniziert hat, auch wenn er in deren Gesellschaft verkehrte und später offensichtlich deren Anerkennung bzw. Freundschaft gewinnen konnte. Robert Weltsch (1970: 6) sprach in seinem Nachruf von 1970 sogar von einem spürbaren Unterschied zwischen Urzidil und den anderen Mitgliedern des Prager Kreises und betont dessen sozial bedingtes Außenseitertum.10 Der eigentliche Generationswechsel vollzog sich durch den Krieg, wie an der Arco-Runde und anderen Kreisen sichtbar wurde. Urzidil widmet dieser Entwicklung einen lesenswerten Rückblick im Prager Tagblatt (Urzidil 1925: 3f.). Während viele Prager Autoren, darunter Werfel, Haas, Pick, Egon E. Kisch, Franz Janowitz (aber auch Zionisten wie Hans Kohn, Robert Weltsch, Hugo Bergmann) an entfernten Kriegsfronten eingesetzt wurden, rückten die in der Mitte der neunziger Jahre Geborenen in die Stellungen der literarischen Avantgarde ein: Karl Brand, Hans Demetz, Hans Gerke, Walter Fürth, Otto Rosenfeld, und Johannes Urzidil (Binder 1991: 99). Allerdings blieben sie als Gruppe unbeachtet, da ihnen gemeinsame Aktionen und ein öffentliches Auftreten als Gruppe kaum mehr möglich waren. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind auch die Ge dichte in Urzidils Debütband Sturz der Verdammten (1919) zu lesen. Mag hier unter der Flut oftmals schrill zusammengefügter Befindlichkeitsmetaphern auch manches bemerkenswerte Bild verschüttet liegen, so kann der Dichter den Nachweis einer eigenen lyrischen Stimme nur andeutungsweise erbringen (Fiala-Fürst 1999; Trapp 1967: 16ff.). In diesem Sinne ist Urzidils frühe Lyrik genauso avantgardistisch wie epigonal. Sie steht in ihrer sprachlichen Qualität sicher nicht hinter den Leistungen zeitgenössischer expressionistischer O-Mensch-Dichtung zurück (was bereits der Vorabdruck einzelner Gedichte in der Aktion unterstreicht), aber sie weist auch kaum darüber hinaus. Hier werden keine Breschen geschlagen für neue ungewohnte Töne, ebenso wenig werden richtungsweisende Alternativen zu eingeübten expressiven Paradigmen gesucht. Einzig die für Prager Autoren typische neoromantische Färbung und eine gewisse – an Rilke und Werfel, aber wohl auch an Nietzsche oder Buber geschulte (Trapp 1967: 18) – prophetische Diktion verleihen den Gedichten in ihrer stilistischen Melange eine unverwechselbare Note. Doch 10 Gleichwohl resümiert Weltsch (1970: 6), dass Urzidil bald schon durch die ‚jüdische‘ Atmosphäre des Freundeskreises assimiliert wurde. Ich danke Klaus Johann für diesen und den folgenden Hinweis.
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wie so manches Produkt der Zeit scheint auch diese Dichtung von einem Pathos beseelt, das an den Scheitelpunkten seiner äußersten verbalen Möglichkeiten in überladener Wortakrobatik erstarrt oder in ungewollte Komik umzuschlagen droht.11 Die Gedichtsammlung ist natürlich mehr als nur das beredte Zeugnis eines jungen Dichters, der noch nach seiner Balance von innerem Erleben und äußerem Ausdruck sucht und dabei – zeitgemäß – den „Sturz“ thematisiert.12 Bemerkenswert ist bereits die expressionistische Anlehnung an barocke Traditionen, wie sie hier vom Autor durchaus intendiert scheint.13 Überdies lässt die Zusammenstellung der Gedichte eine konzeptionelle Handschrift erkennen, die es erlaubt, die Verse nicht nur als zeitenthobene Menschheitsdichtung, sondern auch als diskursive Tableaus von unmittelbarer Aktualität zu lesen. Immerhin enthalten Urzidils Gedichte inhaltlich einige aufschlussreiche Hinweise auf die intellektuellen Debatten der zurückliegenden Jahre: So z. B. zu Werfels Konzept der Individualerlösung, Felix Weltschs ethischer Umschaffung der Natur, Ehrenfels’ Gestaltsqualität, Brods Kategorien des edlen und unedlen Unglücks, wie allgemein zum Aktivismus oder zum Ethos der Tat: Gegen das „Orgelgetöse der Städte“ und ihre „Vielfältigkeitsmacher und Hüteschwenker“ wird hier eine neue Ethik der Demut gefordert (Urzidil 1919: 36)14 – was sich natürlich auch als Kritik auf einen nur „schreienden Expressionismus“ beziehen lässt. Bereits der Titel Sturz der Verdammten ist programmatisch zu verstehen: Verdammt sind all jene, die an der Zerrissenheit ihres Daseins und den Ambivalenzen ihrer Zeit scheitern oder zugrunde gehen. Urzidil stellt die innere Verfassung seiner Generation in exemplarischen (fast möchte man sagen allegorischen) Figuren dar, um an ihnen schließlich die Stärke ihres Leidens als eine sinnstiftende Funktion zu demonstrieren.15 Wie so viele Expressionisten sieht auch Urzidil in der Generation der Verdammten eine Art Vorhut der neuen Menschheit. Doch er gibt ihr eine sehr spezielle Bestimmung: Erst durch ihre Leiden und Opfer können diese Verdammten 11 Einen Eindruck davon vermittelt das Gedicht Abgesang, wo es heißt: „Ich bin, o Herr, verworfen wie purpurne Flamme im Abgrund / ich bin, o Herr, versunken wie reisiger Ritter im Strome, / zu nichtiger Asche bin ich zerfallen an der Weißglut Deiner Hände […].“ (Urzidil 1919: 29) Zu Sprache und Stil s. Trapp (1967: 20f.). 12 Über die Verbreitung der Sturz-Metaphorik in spätexpressionistischen Lyriksammlungen bedarf es keiner weiteren Erklärungen. Hinzuweisen ist hier jedoch noch auf Ernst Angels Sturz nach oben. Gedichte, 1920 im Strache-Verlag, in dem auch das von Urzidil herausgegebene Gedenkbuch Karl Brand. Das Vermächtnis eines Jünglings 1920 [recte 1921] erschien. 13 Siehe hierzu Klaus Schenks Ausführungen in diesem Band. 14 Die Nomenklatur der Demut findet sich fast in jedem der 26 Gedichte. 15 Charakteristisch dafür ist vor allem das Gedicht An die Könige der Tat (Urzidil 1919: 38).
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zu sich selbst finden, sich selbst erlösen, und der Dichter knüpft daran das Plädoyer, sich wieder inneren Werten zuzuwenden. Damit bezieht Urzidil auch eine Position, die sich als Antwort auf den um 1917 öffentlich ausgetragenen (und nie beigelegten) Streit zwischen Brod und Werfel verstehen lässt. In der Auseinandersetzung ging es zunächst um Franz Werfels ‚christliche Sendung‘ (Werfel 1917; Brod 1917) die von Brod aus dem Blickwinkel eines zionistischen Gemeinschaftsentwurfs verurteilt wurde: Als Repräsentant einer Generation ethisch spiritueller Werte habe Werfel den Weg eines diffusen Ästhetizismus eingeschlagen, der das Leid des Einzelnen egozentrisch feiern würde und darüber seine Verantwortung für die jüdische Gemeinschaft vergäße (Brod 1917: 720f.). Doch abgesehen von den Implikationen der polemischen Standpunkte (Gemeinschaftserlösung vs. Individualerlösung) machte der Streit deutlich, dass mit den jeweiligen Orientierungen Brods und Werfels längst Entwicklungen eingetreten waren,16 die die ursprüngliche Geschlossenheit der Aufbruchsgeneration gespalten hatten. Ein spätes Echo auf diese Erkenntnis vernimmt man noch in einem Brief Kafkas von 1922, in dem er dem Autor Werfel, als „Führer einer Generation“ vorwirft, seine Generation verraten und deren Leiden in der Darstellung eines belanglosen Einzelfalles entwürdigt zu haben (Kafka 1992: 529). Kafka nimmt hierbei auch explizit Bezug auf einen anderen Einzelfall: Karl Brand, dessen Nachlass unter dem Titel Vermächtnis eines Jünglings von Johannes Urzidil 1921 herausgegeben wurde. In der Gestalt Brands, der 21jährig an Tuberkulose verstorben war, spiegelte sich das Schicksal vieler, die im Krieg statt eines Heldentodes, die Realität eines qualvollen Sterbens erfuhren, und dabei nicht mehr als ein fragmentarisches Werk hinterlassen hatten. Franz Werfel (1921: VII) schreibt in der Vorrede: Die Kraft der Generation, die unter dem Unstern dieser Läufte ins Leben trat, war das Bekenntnis zum Schiffbruch, war der besessene, unbedingte Sprung ins Meer. Diese Menschen haben nichts ‚Bleibendes‘, keine Vollendungen geschaffen. Aber der um sein Leben kämpfende Schwimmer ist froh, wenn er einen Balken erhascht und denkt nicht daran, ein Haus zu bauen.
Ähnlich, aber etwas positiver urteilte Urzidil, der in Karl Brand nicht nur den „dichterischen Typus“ einer Generation sah, sondern in seinen „schöpferischen Unbeholfenheiten auch individuelle Schätze“ zu erkennen glaubte – 16 In seiner Autobiographie Streitbares Leben bekennt Brod, „in welchen Schmerz mich Werfels Entwicklung versetzte, der in den Jahren zwischen dem Erscheinen des ‚Weltfreunds‘ und dem Kriegsausbruch 1914 immer klarer den Standpunkt einnahm, daß die Welt verderbt und hoffnungslos verloren sei“ (Brod 1969: 56).
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eine Einschätzung, die um 1920 wohl ebenso auf das eigene Œuvre zutreffen dürfte. Darüber hinaus stehe Brand „symbolisch für eine sich nach neuer Form, nach reinem Ethos verzehrende Jugendlichkeit.“ (Urzidil 1965: 76) Aber Brand verkörpert für Urzidil sicher noch mehr, zeigte sich doch gerade an dessen literarischem Hervortreten, dass die empathische Teilhabe an der Gemeinschaft des Prager Kreises für jüngere Autoren nur eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten bot. Brands Bewunderung für Vorbilder wie Kafka führte den Dichter in sichtbare Nähe zur Epigonalität (Die Rückverwandlung des Gregor Samsa erschien 1916), und wie Urzidil in seinem Porträt zwischen den Zeilen andeutet: zu einer literarischen Überidentifizierung.17 Literarische Authentizität erlangte Brand hingegen erst durch die eigene Krankheit – als Antrieb existenziellen Schreibens (Memento Mori! sowie Der Elende, das Sterbeprotokoll eines Hungernden entstehen um 1916) (Sprengel 2004: 321). Eine dritte Option, um zu literarischer Eigenständigkeit zu gelangen, zeichnete sich in der Prager Literatur bereits vor Einbruch des 1. Weltkrieges ab und war mit Namen wie Franz Werfel, Franz Janowitz und insbesondere Paul Kornfeld verbunden:18 die Flucht aus Prag.
3. Generation – Identitätsentwurf und biografische Verarbeitungsstufen
Wie aus den bisherigen Betrachtungen hervorgeht, nehmen die generationellen Selbstauskünfte Urzidils Bezug auf einen Gemeinschaftsentwurf, der sich nur teilweise mit den Darstellungen anderer Autoren deckt. Der fast inflati17 Brands Einschätzung des eigenen Schicksals wird im Triptychon bezeichnenderweise so wiedergegeben: „Alle arbeiten meinetwegen, denn ich bin ja der Parasit, der das Geld aufzehrt […]. Ich liege da oder krieche herum, wanzen- und mistkäferartig und zu nichts gut“ (Urzidil 1997: 182). 18 Kornfeld spricht rückblickend auf das Jahr 1914 von einer „Atmosphäre […], die notwendig abgebraucht sein muß, wie die Luft im geschlossenen Raum nach langer Zeit, und in der die Menschen einander alles gesagt […] haben.“ Es herrschte „die Stimmung einer überhitzten und vorwiegend destruktiven Intelligenz […]. Die Kunst war Fachangelegenheit Aller, herausgerissen aus dem Zusammenhang, aus der Vielfalt des übrigen Lebens.“ (Kornfeld 1922: 6)
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onäre Gebrauch des Generationsbegriffs im expressionistischen Jahrzehnt, insbesondere in Prag, ist an sich interpretationswürdig und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier sehr verschiedene Begriffsebenen, Gebrauchsweisen und Intentionen gibt. Um diese Differenzen kenntlich zu machen, wäre zu untersuchen, welcher Autor sich zu welchem Zeitpunkt mit welchen Interessen als generationelle Gemeinschaft artikuliert und welches Verständnis von Generation in der jeweiligen historischen Situation für die Selbstbeschreibung in Anspruch genommen wird (Jureit 2006: 127). Denn es ist durchaus ein Unterschied, ob sich eine Generation als Wertekollektiv oder als Erfahrungsgemeinschaft, als Alterskohorte oder als diffuse Einheit von Außenseitern, als jüdische Renaissance oder als eine Jugendbewegung, die sich der „Stärke ihrer revolutionären Instinkte“ bewusst ist, als Schicksalsgemeinschaft oder als politische Kraft erklärt. Nicht selten verschmelzen sogar mehrere dieser Charakteristika in ein und demselben Entwurf. Was für die Entwürfe kollektiver Selbstbilder gilt, gilt vice versa auch für die selbstthematisierenden Generationsaussagen einzelner Autoren, die daraus ihre individuellen Identitäten ableiten: So werden in Max Brods frühen Auskünften (bis 1914) betont antipolitische Aspekte für die Generationsbildung geltend gemacht, während Franz Werfel – gleichzeitig – dieselbe Generation als kosmopolitische Gefühlsgemeinschaft erklärt und bald schon ein öffentlich wirkendes „Wir“ proklamiert,19 dessen lebendige Teilnahme an Prag sich gerade an der Überschreitung nationaler Demarkationslinien zeige (Werfel 1914: 6). Die Bedeutung politischer und sozialer Faktoren für die Suche nach tragfähigen Gemeinschaften, und letztlich für die Definition eigener Identität bedarf hinsichtlich der Prager Verhältnisse keiner Kommentare. Gerade Brods und Werfels frühe Wir-Entwürfe lassen diese Problemlage deutlich hervortreten. Die von ihnen imaginierten Gemeinschaften zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie sich innerhalb der nationalen Bezugssysteme erklären, gleichzeitig aber entschieden von diesen abgrenzen. Sowohl Brods Arkadia, das eine „innere Gemeinschaft, eine unsichtbare Kirche der beteiligten Autoren“ unter Ausschaltung der Politik stiften will, als auch Werfels Weltfreund, der nach grenzüberschreitender Verbrüderung strebt (zit. n. Brod 1913; Werfel 1911: 110f.), fassen dies ins Bild, veranschaulichen aber auch, wie verschwommen die utopischen Konturen dieser poetischen Gemeinschaftsentwürfe sind. 19 Ohne Zweifel werden auch Urzidils literarische Erinnerungen von diesen kollektiven Selbstbildern mitgetragen, wenn er in seinen späten Auskünften häufig von „uns Pragern“ schreibt (s. Helling 1981: 9-12; Tunner 1996).
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So kann es eigentlich nicht verwundern, wenn Prager deutsch-jüdische Autoren sich immer wieder nachdrücklich ihres generationellen Zusammenhalts versicherten. Mit dem vielschichtigen Begriff der Generation ließ sich eine Zugehörigkeit erklären, die Identität herstellte, ohne politische Kontroversen auszulösen oder nationale Empfindlichkeiten zu wecken. Generation bedeutete so vor allem auch einen elastischen Begriff, der es ermöglichte, die eigene Geschichte neu zu bestimmen bzw. zu erzählen: Das Bewusstsein einer solchen Subjektwerdung „hinter den Nationen“20 – mag es auch subversiv oder naiv erscheinen –, ist letztlich charakteristisch für die Aufbruchsstimmung jener Jahre. Unter den bereits beschriebenen Auswirkungen des 1. Weltkrieges verwan delt sich die Rede von der Generation zunehmend in eine Gedächtniskatego rie. Das Generations-Erlebnis der frühen Aufbrüche wird nun, überschattet vom Totalereignis Krieg, in eine Erfahrungskategorie transformiert – um nachträglich in individuellen Formen der Erinnerung und der Erzählung weiterverarbeitet zu werden. In den Erinnerungen Max Brods, der knapp 50 Jahre später Bilanz über sein Leben im Kontext der Prager Literatur zieht, dominiert schließlich das Bild einer „Generation des Trotzdem“, die ihre entscheidenden Impulse aus den Leiden des Ersten Weltkriegs empfangen hat (Brod 1969: 218, 240). Offensichtlich steht diese Generationscharakteristik im Rahmen eines konsistent erzählten Lebensrückblicks, der als biographische Sinnkonstruktion zu lesen ist – wie der Titel Streitbares Leben nahelegt. Anders als Brod avanciert Urzidil erst nach Auflösung des Prager Kreises zum anerkannten Schriftsteller – was ihn jedoch gleichermaßen zum Hüter des kollektiven Gedächtnisses seiner Generation macht. In den Alterswerken Die verlorene Geliebte und Prager Triptychon wird dieses Gedächtnis noch einmal eindrucksvoll rekonstruiert und findet im Nebeneinander singulärer Geschichten und Bilder seine spezifische Erinnerungsform. Doch schon in den 20er Jahren begann Urzidil das Amt des ‚erzählenden Chronisten‘ zu übernehmen. Unter den ungezählten Artikeln zu Kunst und Politik, die er für Zeitungen wie Prager Tagblatt, Deutsche Zeitung Bohemia, Tribuna, Berliner Börsen-Courier verfasste, bilden Betrachtungen zur Prager deutschen Literatur einen Schwerpunkt.21 Erstaunt über den generativen Wandel der eigenen Entwicklung stellt Urzidil 1925 fest, 20 Die Anspielung auf Urzidils vielzitiertes Credo „Ich bin hinternational“ sei in diesem Zusammenhang gestattet, auch wenn es im Triptychon eigentlich nur um die Charakterisierung des Knaben geht, der sich die Freiheit nimmt, „hinternational“ zu agieren (Urzidil 1997: 12). 21 Einen hervorragenden Überblick über diese Publizistik gibt die Bibliographie auf der Seite .
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„daß man aus einem Beteiligten unvermerkt zum Geschichtsschreiber einer kaum noch verflossenen Jugend geworden ist.“ (Urzidil 1925: 4)
Literatur
Adler, H. G. (2010 [1976]): Die Dichtung der Prager Schule. Mit einem Vorwort von Jeremy Adler. Wuppertal: Arco [zuerst in: Manfred Wagner (Hg.), Im Brennpunkt: ein Österreich. Wien: Europaverl., 1976, 67-98]. Assmann, Aleida (2007): Geschichte und Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: Beck. Binder, Hartmut (Hg.) (1991): Prager Profile. Vergessene Autoren im Schatten Kafkas. Berlin: Mann. Brod, Max (Hg.) (1913): Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst. Leipzig: K. Wolff. Brod, Max (1916/17): Unsere Literaten und die Gemeinschaft. – In: Der Jude 1/7, 457-464. Brod, Max (1917): Franz Werfels ‚Christliche Sendung‘. – In: Der Jude 1/11, 717-724 Brod, Max (1969 [1960]): Streitbares Leben. Autobiographie 1884-1968. München, Berlin: Herbig. Brod, Max (1979 [1966]): Der Prager Kreis. Nachw. v. Peter Demetz. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Fiala-Fürst, Ingeborg (1999): Die misslungenen literarischen Anfänge eines großen Humanisten. Johannes Urzidils expressionistische Lyrik. – In: Schiffkorn, Aldemar (Hg.), Böhmen ist überall. Internationales Johannes-Urzidil-Symposion Prag. Linz: Ed. Grenzgänger, 79-91. Helling, Christa (1981): Johannes Urzidil und Prag. Versuch einer Interpretation. Triest: Del
Bianco. Jureit, Ulrike (2006): Generationen-Forschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kafka, Franz (1992): Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Frankfurt/M.: Fischer. Kornfeld, Paul (1922): Prag als Literaturstadt. – In: Prager Tagblatt (02.06.), 6. Krolop, Kurt (2005a): Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des ‚Expressionistischen Jahrzehnts‘. – In: Ehlers, Klaas-Hinrich/Höhne, Steffen/Nekula, Marek (Hgg.), Kurt Krolop. Studien zur Prager deutschen Literatur. Wien: Praesens, 19-52 [zuerst 1967 in: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Hrsg. v. Eduard Goldstücker. Prag: Academia, 47-96].
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Ekkehard W. Haring
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Klaus Schenk
Manieristische ‚Gebilde‘: Sturz der Verdammten. Die frühe expressionistische Lyrik von Johannes Urzidil
Die frühe expressionistische Lyrik von Johannes Urzidil fand in der Forschung kaum Beachtung. Nur wenige Arbeiten sind zu sichten, die sich mit dem ersten Gedichtband des Autors überhaupt beschäftigen (z. B. Trapp 1967: 10-30; Fiala-Fürst 1996: 163-176; 1999). Doch auch wenn diese frühe Schaffensphase des Autors erwähnt wird, landet die Auseinandersetzung damit meist bei einem Verriss. Letztlich provozieren Urzidils frühe Gedichte eine Ablehnung, die vergessen lässt, wie sehr sie Teil des expressionistischen Diskurses und seiner lyrischen Diktion waren. Daher soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, Diskursbarrieren ausfindig zu machen, die zu diesem Vergessen beigetragen haben mögen. Betrachtet wird zunächst die zeitgenössische Rezeptionsproblematik im Wechselspiel von Zeitschriftenmedien, Buchpublikationen und Anthologien. Es lässt sich beobachten, wie die frühe Lyrik Urzidils in gängigen Publikationsorganen zwar vertreten war, ohne dass sie jedoch die Hürde zur Aufnahme in den expressionistischen Kanon überwinden konnte. Weiter sei angeknüpft an die These eines barocken Expressionismus bei Urzidil, allerdings mit anderen Bewertungskriterien. Wenn man davon ausgeht, dass die barocke Literatur in der frühen Moderne und ebenso im Expressionismus eine Wiederentdeckung feierte, muss auch die Stilproblematik des Manierismus anders bewertet werden. Manieristisch im mehrfachen Sinn sind die frühen Gedichte von Urzidil sicherlich, doch weniger in einem abwertenden Sinn, sondern vielmehr als Ausdruck einer Schreibweise, die mehrere Prager deutsche Autoren pflegten. Abschließend soll am ‚Titelgedicht‘ des Bandes Sturz der Verdammten (Urzidil 1919) gezeigt werden, wie der Autor in der intermedialen Relation von Schrifttext und ikonographischer Bildtradition seine manieristische Schreibweise reflektiert.
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1. Zur Rezeptionsgeschichte der frühen Gedichte
Die frühen Gedichte von Johannes Urzidil waren einer Rezeptionsproblematik ausgesetzt, die auch für viele andere zeitgenössische Autoren zur Hürde wurde, die darüber entschied, ob ihre Gedichte in den expressionistischen Kanon eingingen oder nicht. In namhaften Anthologien, wie der von Kurt Pinthus (1982) im Jahre 1919 herausgegebenen Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, konnte freilich noch kein Gedicht von Urzidil aufgenommen werden, da erst wenige Texte des Autors verstreut vorlagen. Dabei teilt der erste Band Sturz der Verdammten von Urzidil mit der Anthologie von Pinthus die Untergangsmetaphorik nicht nur im Titel, sondern zahlreiche Texte der dort versammelten Autoren können auch als Kontexte, wenn nicht sogar als Intertexte verstanden werden. Wenn Pinthus (1982: 24) z. B. in der Einleitung zu seiner Sammlung erklärt: „Seit zehn Jahren las ich fast alle gedruckten lyrischen Bücher und sehr viele ungedruckte. Es schien nicht leicht, aus dieser Unzahl die Dichter zu bezeichnen, welche jene eigentliche Generation unserer Epoche ausmachen“, so wird eine grundsätzliche Problematik deutlich. Bei dem Versuch der Bestandsaufnahme der Epoche deutet Pinthus mit dem Hinweis auf die „Unzahl“ der Dichter ein Diskursphänomen der expressionistischen Strömung an, deren Textmenge kaum in der Buchform einer Anthologie zu fassen war, sondern vielmehr in Zeitschriften ventiliert wurde. Im Unterschied zur Erforschung von früheren literarischen Epochen sieht sich die Beschäftigung mit Strömungen der literarischen Moderne mit einer enormen Expansion an Textmaterial konfrontiert. So versichert Kurt Pinthus (1982: 12) noch in seinem 1945 verfassten Rückblick auf die Veröffentlichung seiner Menschheitsdämmerung, es handle sich beim Expressionismus „nicht wie in früheren literarischen Gruppenbildungen: Sturm und Drang, Romantik, Junges Deutschland“ um „einige Dutzend Autoren, sondern tatsächlich um Hunderte, die sich kannten, erkannten, anerkannten“ und, wie sich mit Vietta/Kemper (1983: 15) hinzufügen lässt, denen „eine relativ große Anzahl von Zeitschriften, Anthologien und Buchreihen zur Verfügung“ stand. Dass Urzidil im expressionistischen Diskurs dennoch gut etabliert war, zeigt schon ein Blick auf seine Präsenz im Marbacher Expressionismus-Katalog, wo es zunächst zum Stichwort ‚Prag‘ heißt: „Nach Berlin ein Mittelpunkt der expressionistischen Dichtung“ (Raabe/Greve 1986: 72). Erfasst wird das Werk Sturz der Verdammten dann in der Zusammenstellung aller in der Reihe Der jüngste Tag erschienenen Werke aus dem Kurt-Wolff-Verlag, die von 1913-1921 geführt
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wurde. Auch in der von Wolf Przygode besorgten Gesamtedition der einzelnen Hefte von Die Dichtung, ist Urzidil mit seinen Texten unter namhaften Zeitgenossen vertreten (Raabe/Greve 1986: 270). Zu nennen wären weitere Sammlungen wie Der Anbruch (1920), Die Botschaft (1920), Verkündigung (1921) u. a. (Raabe/Greve 1986: 322ff.). Neben dieser diachronen Bestandsaufnahme sei auch ein synchroner Schnitt vorgenommen, wie es vor allem die Gedichtseiten der Zeitschrift Die Aktion erlauben, wo Urzidil bereits in den Jahren vor der ersten Buchveröffentlichung Gedichte aus seinem Band Sturz der Verdammten publizierte. Zunächst wurden Urzidils Gedichte mit einer Reihe anderer junger, z. T. Prager deutscher Autoren präsentiert. So finden sich im Jahrgang 1916 bereits fünf Gedichte des Autors.1 Zwei Gedichtteile aus dem Band Sturz der Verdammten konnten im Juni-Heft des Jahrgangs 1918 dagegen schon auf einer Seite der Zeitschrift Die Aktion präsentiert werden – man könnte von einer ‚UrzidilSeite‘ sprechen, die den Autor durch die beigefügte Graphik von seinen Mitstreitern abhebt.2 Ebenso wurde wenige Hefte später auch das Gedicht Klage des Erdgerechten aus dem Band auf einer Seite veröffentlicht (Die Aktion 8/3738, 1918: Sp. 477f.; Die Aktion 1967b). Betrachtet man die Präsentationsweise der beiden Gedichtteile aus Sturz der Verdammten im Juni-Heft näher, so fällt auf, dass sich durch die Nummerierung bereits ein Zusammenhang der beiden Texte als Werkkontext zu erkennen gibt. Der in Majuskeln gesetzte und vor der Bezifferung mit ‚I‘ genannte Titel Sturz der Verdammten übernimmt dabei eine übergeordnete Stellung, während Chor der Pferde nach der Zahl ‚II‘ als Untertitel erscheint, was sich bestätigt, wenn man berücksichtigt, dass in der Buchfassung dieser Titel in Klammern gesetzt wird (Urzidil 1919: 6). Die beigefügte Graphik mit dem Titel Brücke von Karl Luis Heinrich-Salze (Pseud. v. Katharina Heise) ermöglicht zudem lockere Assoziationen an die Thematik des Sturzes und die Raumsemantik der Gedichtteile.3
1 Dies sind im 6. Jahrgang 1916 der Zeitschrift Die Aktion die Gedichte: Vision (Die Aktion 6/26, 1916: Sp. 351); Den Entschwindenden (Die Aktion 6/27-28, 1916: Sp. 389); Der Städter (Die Aktion 6/33-34, 1916: Sp. 466); Die Häßliche (Die Aktion 6/45-46, 1916: Sp. 622); Erneuerung (Die Aktion 6/51-52, 1916: Sp. 707) (Die Aktion 1967a). 2 Im 8. Jahrgang 1918 der Zeitschrift Die Aktion: Sturz der Verdammten und Chor der Pferde (Die Aktion 8/23-24, 1918: Sp. 289f.) (Die Aktion 1967b). 3 Tatsächlich wird im vierten Teil des Titelgedichts Sturz der Verdammten eine Brücke genannt: „Auf den Boulevards deiner Seele wirst Du, o Mensch, einstmals Dir selbst begegnen,/ auf den Boulevards und den Brücken, vergeblich beschritten von viel unkundigen Füßen.“ (Urzidil 1919: 9)
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Abb. 1: Sturz der Verdammten, Chor der Pferde (Die Aktion 8/23-24, 1918, Sp. 289f. [Die Aktion 1967b]).
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Die Präsentation der Texte in der Zeitschrift zeigt eine von der späteren Druckfassung im Buch abweichende typographische Gestaltung, die an die Zeitschriftenspalte angepasst ist und an Mittelachsen-Gedichte erinnert. Zudem werden in der Zeitschriftenfassung einzelne Wörter in Majuskeln wiedergegeben, wie z.B. die ‚barockisierende‘ Schreibung „GOTT“ oder die Richtungshinweise „AB und AUF, RECHTS und LINKS“. Auf den ersten Text der beiden im Juni-Heft 1918 veröffentlichten Teile aus dem Band Sturz der Verdammten wird später genauer eingegangen werden, zunächst aber gilt es festzuhalten, dass Urzidils Gedichte zu diesem Zeitpunkt bereits nennenswert in der Zeitschrift Die Aktion gegenwärtig waren, wenngleich noch keine Buchausgabe vorlag. Zu bemerken ist auch, dass viele Autoren, deren Gedichte sich in den Heften der Aktion tummelten, keine Bandausgaben ihrer Gedichte vorlegen konnten und kaum Gegenstand der Expressionismusforschung wurden. Gegenüber dieser übergroßen Fülle und unübersichtlichen Disparatheit der Veröffentlichungsprodukte des literarischen Expressionismus hat Kurt Pinthus (1982: 24) wohl zu Recht ein literaturkritisches Argument angeführt, wenn auch in einer intuitiven Variante: Die Entscheidung darüber, welche Dichter zur vielfältigen Gemeinsamkeit der jungen Generation unserer Zeit zu zählen sind, kann nicht eine Angelegenheit der Altersfeststellung einzelner Dichter noch eine Sache objektiv kritischer Analyse sein, sondern muß letzten Endes durch intuitives Gefühl und persönliches Urteil getroffen werden.
Dieses frühe literaturkritische Werturteil setzt sich in der Expressionismusforschung fort über die Anthologien hinweg bis in jüngere Publikationen. Die mangelnde Resonanz der frühen Gedichte Urzidils jedenfalls kann nicht auf einer fehlenden Publizität beruhen, war doch sein Band Sturz der Verdammenten im Jahre 1919 durchaus prominent und verheißungsvoll im renommierten Kurt-Wolff-Verlag erschienen. Auch die kulturelle Herkunft seiner Gedichte spricht vielmehr für eine aufmerksame Rezeption, die Zeitgenossen waren durchaus offen für die literarische Szene Prags. So hat etwa Oskar Loerke (1967: 140) in der Neuen Rundschau im Jahre 1919 die frühen Gedichte Urzidils äußerst wohlwollend rezensiert: Johannes Urzidil (Sturz der Verdammten) in irgendeiner Nebenlinie mit Hölderlin verwandt, breitet das Material eines bedeutenden Dichters vor uns aus. Auch hier ist vieles nur erst Anspruch, doch auf eine wundervolle Weise.
Auch in einer weiteren Rezension hat Loerke im Jahre 1921 die frühen Gedichte Urzidils wohlwollend besprochen: Urzidils Gedichte können der allgemeinen Absage an die Kunstbestrebungen der jüngstvergangenen Jahre nicht zum Opfer fallen, obwohl ihre Entstehungsdaten in diesen Jahren
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liegen, und obwohl sie genug Indizien dafür aufzeigen. Das ist umso bemerkenswerter, als ihre Form nicht so hermetisch geschlossen ist, daß den Verwitterungskräften der Zugang verwehrt bliebe; im Gegenteil, sie lassen wunderbar leuchtende Bündel von Vergleichen, Assoziationen, entzündende Gedankenbilder radikal ausschwärmen, um der Not und Lust der Erkenntnis in der Mitte des Herzens einen Weg in die Welt zu brechen. (Loerke 1965: 48)
Wenn Loerke in seiner Rezension die frühe Lyrik Urzidils gerade von „der allgemeinen Absage“ an die zeitgenössischen „Kunstbestrebungen“ abheben möchte, so läßt er dennoch ihre Stilnähe zur expressionistischen Lyrik erkennen, ohne ihre gewagten Sprachbildungen zu entwerten. Dieser frühen Resonanz folgt eine lange Phase des Vergessens, von der auch die literaturwissenschaftliche Forschung betroffen ist. So kann etwa Magarita Pazi in einem Brief an die schwedische Germanistin Gisela Sandqvist gegen das Vergessen der frühen Gedichte Urzidils bemerken: Wenn ich Ihnen einen Hinweis geben kann, ist es der, sich doch der Lyrik Urzidils aus den 20er Jahren zuzuwenden; erstens ist sie gut, zweitens ist der Prager Ton – die ambivalente Gotteseinstellung, die ethische Forderung an den Menschen, der Aufruf zur Tat – und, das scheint mir das interessanteste, der Werfel-Einfluß unverkennbar. (zit. n. Sandqvist 1975: 7)
Wenn Fiala-Fürst (1996: 164f.) in ihrer Arbeit über den Prager Beitrag zum literarischen Expressionismus dem voran zitierten Lob von Pazi widerspricht, so reiht sich dies ebenso ein in eine Reihe von Versuchen der literaturkritischen Abwertung der frühen Lyrik Urzidils: Nun, Pazi mag in vielem recht haben, so traf sie intuitiv zwei große Motive der Urzidilschen Lyrik, die Gottsuche und die ethische Dimension, den ‚Prager Ton‘ müßte man freilich erst definieren und den Einfluß Werfels beweisen. In einem Punkt hat Margarita Pazi aber entschieden nicht recht: die Gedichte Urzidils aus den 10er und 20er Jahren sind nicht gut, sondern könnten bei einer Neuausgabe unter dem Titel zusammengefaßt werden: ‚Die mißlungenen literarischen Anfänge eines großen Humanisten‘. (Fiala-Fürst 1996: 164f.)
Dieser deutliche Verriss muss überraschen, zumal auf die Gedichte interpretativ überhaupt nicht eingegangen wird. Vorsichtiger ist hier schon Peter Demetz (2006: 133), wenn er etwa in einer anekdotischen Anmerkung aus seiner Essaysammlung Böhmen böhmisch die erfolglosen Liebeserklärungen des jungen Urzidil an die zukünftige Mutter von Demetz wie folgt begründet: Er hatte auch da kein Glück, denn ihr Bedarf an expressionistischer Lyrik war schon gedeckt, und das durch meinen zukünftigen Vater, der nach jedem Sonntagsausflug nach Zbraslav das entsprechende Gedicht spätestens Dienstag im Prager Tagblatt publizierte. (Demetz 2006: 133)
Aber immerhin bekennt Demetz:
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Ich las die expressionistischen Gedichte des jungen Urzidil mit sechzehn Jahren, als ich mit brennenden Ohren im Bücherschrank meines Vaters zu kramen begann, aber dabei sollte es nicht bleiben. (Demetz 2006: 133)
Festhalten lässt sich: Während die Wiederentdeckung der Werke von Urzidil auf die Erzählungen, Essays und Abhandlungen beschränkt blieb, war den Zeitgenossen seine Lyrik über die Aufmerksamkeitsschwelle expressionistischer Massenpublikationen hinaus bekannt. Ein Argument, jenseits jeder literarischen Wertung, für eine Neuedition gerade auch der Gedichtbände.
2. Barocker Expressionismus
Ein Grund, die Schreibweise der frühen Lyrik von Urzidil neu zu überdenken, ist auch in der Wandlung dessen zu sehen, was man gemeinhin als manieriert oder als Manierismus bezeichnet. Die Forschungsliteratur zu Urzidil verbleibt zumeist in einem so längst nicht mehr stichhaltigen Manierismusvorwurf verfangen. So bemerkt Fiala-Fürst in ihrer bereits zitierten ExpressionismusArbeit zur Lyrik Urzidils: [...] was die poetischen Merkmale der dichterischen Sprache Urzidils sind: Pathos, Schwulstigkeit, Symbol- und Metaphernüberladenheit, eine gewisse lyrische Geschwätzigkeit – dies alles getragen von einer langen hymnischen, vielleicht gar von Walt Whitman beeinflußten Zeile. (Fiala-Fürst 1996: 171)
Auch die allerseits geschätzte Arbeit von Gerhard Trapp (1967: 20) vermerkt zum Gebrauch der Metaphern: „Hier offenbart sich besonders deutlich das Exaltierte jener Sprache, deren Gewaltsamkeit heute mitunter komisch oder lächerlich wirkt.“ Schon Oskar Loerke aber hatte, wie erwähnt, in seiner Rezension diese Stiltendenz von Urzidils Gedichten erkannt, freilich ohne ihre Schreibweise abzuwerten: „[...] sie lassen wunderbar leuchtende Bündel von Vergleichen, Assoziationen, entzündende Gedankenbilder radikal ausschwärmen“. Zwar konnte von Fiala-Fürst (1996: 173) festgestellt werden, dass „diese Mischung von Expressionistischem und Barockem eben in erster Linie für Urzidils Anfänge typisch ist“. Doch hat der Begriff des Manierismus, der hinter dieser Verknüpfung von Barock und Expressionismus steht, in der Forschung längst seine abwertende Bedeutung verloren. Treffend hat die Merkmale des
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literarischen Manierismus bereits Hugo Friedrich (1972: 37) charakterisiert, wenn er bemerkt: Man erkennt den literarischen Manierismus daran, daß in seinen Texten der normale Abstand zwischen Stil und Sache (ohne den es keine Kunstsprache gäbe) ein übermäßiger geworden ist. Eine Autarkie und Hypertrophie des Stiles – der elocutio – breitet sich aus. Das umfassendste Gesetz lautet hier: nicht einer Sache zu dienen, sondern die Selbstbewegung und Parade der Kunstsprache zu fördern. Die Ausdrucks- und Darstellungsfunktion der Kunstsprache weicht der Diktatur der Sprachkünste. Manierismus ist nicht als Unnatur zu fassen (denn was ist Natur?), sondern als Übermaß an Kunst.
Überdenkt man Konzepte des Manierismus z. B. als Epochenbegriff seit 1520 oder als „Komplementär-Erscheinung zur Klassik aller Epochen“ der europäischen Literatur, wie es etwa Ernst Robert Curtius (1993: 277) vorschlägt, bis hin zu den Arbeiten von Gustav René Hocke (1957: 11ff.), der neben verschiedenen anderen Phasen auch die literarische Moderne von 1880 bis 1950 als manieristisch kennzeichnet, so ergibt sich ein sehr offenes Bild eines Stilbegriffs, der auch als Schreibweise verstanden werden kann, wie neuere Arbeiten dies tun.4 Manieristische Schreibweisen lassen sich so nicht mehr allein auf ihre stilistischen Aspekte festlegen, sondern eröffnen vielmehr eine dyadische Gegenläufigkeit in der poetischen Funktion ihrer Sprachgebung. Gerade die Literatur der 10er und 20er Jahre fällt in eine Phase der manieristischen Verknüpfung von Barockem und Expressionismus. Im Kontext der Prager deutschen Literatur gilt es aber noch einen weiteren Aspekt bei der Bewertung manieristischer Schreibweisen zu bedenken. In der Diskussion um den Prager Ton als Spezifik der Prager deutschen Literatur wurde immer wieder das Argument einer Überspanntheit bzw. Überkompensierung angeführt – eine Diskussion, an der sich Urzidil als Verfechter der Gegenthese von einer Reinheit des Prager Deutsch beteiligte: Im Exil war Urzidil mehr denn je überzeugt, daß zwischen Prager alltäglicher Umgangssprache und deutscher Schriftkultur kein Unterschied bestand (obwohl er die phonetischen oder slawischen Eigenheiten der Prager Rede nicht unterschätze); und er glaubte fest daran, daß man in Prag ein Deutsch verwendete, in welchem das Alltagsidiom und die Hochsprache der Dichtung eines waren. (Demetz 2006: 141; s. a. Thieberger 1986)
In ihren Thesen zu einer Kleinen Literatur haben aber auch Deleuze und Guattari die manieristische Schreibweise als eine der möglichen Ausprägungen des spezifischen Prager Tons gekennzeichnet. Für Deleuze und Guattari stellt die Prager deutsche Literatur aufgrund ihrer Sprach- und Kultursituation eine 4 Zum Manierismus als Schreibweise s. Zymner (1995: 59ff.); Braungart (2000) und Greber/ Menke (2003).
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deterritorialisierte Literatur dar. Für die Prager deutschen Autoren ergeben sich nach Deleuze und Guattari (1976: 28) nur zwei Wege „diese Deterritorialisierungsbewegung im Ausdruck weiter voran“ zu bringen: „Entweder wir bereichern dieses papierene Deutsch artifiziell, blähen es auf, indem wir sämtliche Ressourcen eines Symbolismus, einer Hellseherei, einer esoterischen Sinngebung, eines verborgenen Signifikanten ausbeuten“; in dieser Hinsicht werden Autoren wie Gustav Meyrink, Max Brod und viele andere charakterisiert. Der zweite Weg bleibt der Kafkas, der die Deterritorialisierung in seiner verknappenden Schreibweise vorantreibt. Wenn Deleuze und Guattari hier den Sprachmanierismus deutlich abwerten, darf nicht vergessen werden, dass dies ebenso als Bewegung einer Deterritorialisierung, einer Ent-Ortung verstanden werden kann, als Wucherung der Sprache, die nicht notwendig nur in „ein verzweifeltes Bemühen um symbolische Territorialisierung“ umschlagen muss, sondern sich bei Urzidil als Verfahren der Abstraktion verstehen lässt. Die frühe expressionistische Lyrik Urzidils stellt somit eine abstraktintensive Lyrik im mehrfachen Sinn dar, gegenläufig zur Sprachauffassung, die der Autor im Nachhinein vertreten wird. Wenn Urzidil (1997: 161) in seiner Erzählung Schrein. Weißenstein Karl aus dem Band Prager Triptychon den Titelhelden Stellung beziehen lässt, kann dies als Auseinandersetzung mit der expressionistischen Phase verstanden werden: wenn sie meine Worte ins Reine schreiben, machen Sie daraus nur nichts Expressionistisches, nichts Poetisches, keinen Magischen Realismus, oder wie alle diese feigen Fluchtversuche aus der Wahrheit in die Form genannt werden. Machen Sie keinen Stil aus aufgebrochenen Sätzen, fortgelassenen Prädikaten und freien Rhythmen. Schreiben Sie alles in gewöhnlicher Prosa.5
Hintersinnig reflektiert die Erzählung die manieristische Schreibweise Urzidils im Kontext des Expressionismus. Es könnte dabei auch diskutiert werden, ob Urzidils frühe Lyrik mehr dem kultur- und zivilisationskritischen Expressionismus mit seinen dissoziativen Momenten oder mehr dem messianischen Expressionismus (Vietta/Kemper 1983: 14 u. 186ff.)6 zuzurechnen ist. Allerdings platzieren sich seine Gedichte aus dem Band Sturz der Verdammten in einem Dazwischen, das von beiden expressionistischen Tendenzen profitiert.
5 Wie Trapp (1967: 69, Anm.) vermerkt, soll es sich nach einer Mitteilung des Autors bei der Formulierung „Poetisches“ um einen Druckfehler handeln, beabsichtigt war „Poetistisches“. 6 Während der Johannes Urzidil-Konferenz (05.-09.05.2010, Ústí nad Labem) wurde diese Frage von Hans-Harald Müller aufgeworfen, mit einem vielleicht zu einseitigen Votum für die dissoziative Linie des Expressionismus in Urzidils Lyrik.
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3. Der Höllensturz als intermediale Relation
Dass Urzidils Texte hochgradig intertextuell aufgeladen sind, hatte schon Peter Demetz festgestellt, wenn er auf das Erzählwerk bezogen bemerkt: Er zählt zu jenen Modernen, die aus und mit der Literatur schreiben, und die wesentliche Frage ist, wie er in seinen Texten mit anderen Texten umgeht, wie er mit ihnen spielt und wie er sie in seiner Phantasie kombiniert. (Demetz 2006: 138f.)
Neben den Werfel-Einflüssen lassen sich aber auch Anklänge an andere zeitgenössische Lyriker wie Ludwig Rubiner, Else Lasker-Schüler und ebenso an Georg Trakl erkennen. Walt Whitman soll für die Langzeile der frühen Gedichte von Urzidil Pate gestanden haben, ebenso aber wäre auch an Rubiners Verszeilen zu denken. Die Bilderwelt Johannes Urzidils aus dem Band Sturz der Verdammten reicht jedoch wesentlich weiter in die europäische Kultur- und Bildgeschichte zurück, als es zeitgenössische Querverweise aufzeigen können. Zudem war Urzidil von seinen kunsthistorischen Kenntnissen her sicherlich mit entsprechenden Bildtraditionen vertraut. Schon der Titel des Bandes eröffnet eine intermediale Konzeption, indem er sich auf eine ikonographische Bildtradition bezieht.7 Wenig beachtet wurde in der Forschung bisher die intermediale bzw. ikonographische Relation, man kann sogar sagen die Ekphrasis, die das ‚Titelgedicht‘8 aus Sturz der Verdammten mit der Bildtradition des Höllensturzes eingeht. Eine Variante des Bildmotivs findet sich z. B. auch auf einem Holzschnitt Dürers zur Apokalypse (1498).
7 Grundsätzlich zum Verhältnis Urzidils zur bildenden Kunst: Eichler (1999: 93-113); s. a. Schremmer (1984: 113-120). 8 Es wäre zu diskutieren, ob der im Unterschied zur Zeitschriftenfassung nun an die zweite Stelle gerückte Text noch als eigenständiges Gedicht oder nur noch als Strophe bzw. sogar als Gesang im Gesamtarrangement der mit Sturz der Verdammten überschriebenen vierteiligen Textabfolge zu bezeichnen ist. Auf jeden Fall aber spielt dieser Text eine Schlüsselrolle in der thematischen Gesamtkonzeption des Bandes, schon allein deshalb, weil der Titel im Text genannt wird, darüber hinaus aber auch, weil hier die ikonographische Bezugnahme am deutlichsten hervortritt.
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Abb. 2: Michaels Kampf mit dem Drachen (Krüger 1996: Abb. im Anhang, B. 72).
Wie sich zeigen lässt, entwirft Dürers Apokalypse eine narrative Struktur, in der der Holzschnitt Michaels Kampf mit dem Drachen wie folgt kommentiert werden kann: Hier werden Satan und seine Gesellen endgültig aus den himmlischen Regionen vertrieben. Der Erzengel hat bereits zum entscheidenden Stoß angesetzt; inhaltlich kann seine Aktion als Vorbereitung des endgültigen Vernichtungsangriffs der himmlischen Heerscharen [...] aufgefaßt werden, auch als Prolepsis der Verbannung Satans im Schlußbild. Das Bildfeld weist eine klare Trennung auf zwischen einer zwar bewohnten, jedoch menschenleeren irdischen und einer himmlischen Zone, in der sich die dramatische Handlung abspielt. (Krüger 1996: 60)
Während sich bei Dürer der Sturz noch über einer Landschaft abspielt, die im Hintergrund von einer Alpen-Szenerie begrenzt wird, überführen weitere Bildwerke aus dieser Tradition die Bodenlosigkeit des Falls in einen offenen Bildraum. Auch werden in weiteren Werken der Bildtradition über den Sturz der abtrünnigen Engel hinaus ebenso die zum Fall in die Hölle verdammten Menschen dargestellt. In einer weitgefächerten ikonographischen Reihe themenverwandter Bilder von Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel d. Ä., Jacopo Tintoretto, Peter Paul Rubens u. a. zeichnet sich eine Geste ab, die im Text von Urzidil auf der bildlichen und auf der argumentativ-theologischen Ebene
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zugleich umgesetzt wird. Nach der Kenntnis von Gerhard Trapp9 soll sich das Titelgedicht des Bandes Sturz der Verdammten vor allem auf das gleichnamige Bild von Hieronymus Bosch beziehen.
Abb. 3: Hieronymus Bosch, Sturz der Verdammten (Marijnissen 1988: 301).
Die Bildtafel Sturz der Verdammten (um 1490) entstammt ebenfalls einem größeren Arrangement, über das sich bemerken lässt: die im Dogenpalast zu Venedig aufbewahrten ‚Jenseitstafeln‘, vier gleich große Fragmente in Grisaille, sind schlecht erhalten, mehrmals übermalt und oben und unten verkürzt. Wahrscheinlich waren ursprünglich je zwei übereinander montiert, als Innenflügel eines ungewöhnlich hochformatigen Altars, links ‚Himmelfahrt‘ und ‚Paradies‘, rechts ‚Sturz der Verdammten‘ und ‚Hölle‘; die Mitteltafel stellte dann wohl das Jüngste Gericht dar (Goertz 1977: 55; zur Diskussion s. auch Marijnissen 1988: 300ff.).
Allerdings kann bei Urzidil auch eine Kenntnis ähnlicher Bilder aus der Alten Pinakothek in München vorausgesetzt werden, vor allem das Rubens-Gemälde Höllensturz der Verdammten (um 1621), das auch durch seine Verbreitung in 9 Während der Urzidil-Konferenz bezog sich Gerhard Trapp auf einen Brief, den er vom Autor erhalten habe.
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Kupferstichen bekannt geworden war.10 Wichtiger als eine faktenorientierte Festlegung auf eine Bildvorlage scheint es mir allerdings zu sein, dass im Gedicht von Urzidil eine Bildtradition zum Tragen kommt, die ebenso bildtheologische wie zeichentheoretische Aspekte impliziert (Hartmann 2005). Seit dem Denken der Kirchenväter und besonders bei Augustinus ist mit dem Fall bzw. Sturz in die Gottesferne auch eine bildtheologische Konzeption verbunden, die bis in die Philosophie der Renaissance hineinreicht (Graevenitz 1987: 15ff.). Die Schöpfung trägt in ihrer absteigenden Folge eine Ähnlichkeitsrelation zu Gott in sich, wobei der bzw. die gefallene(n) Engel den fernen Punkt der Gottunähnlichkeit markieren. In diese Relation von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ist eine doppelte Bewegung eingeschrieben, einerseits der kontinuierlich verlaufende ‚descensus‘ Gottes in der Reihe seiner Geschöpfe und andererseits der ‚ascensus‘ aus der Blickrichtung der Geschöpfe, der an der ihnen gesteckten Grenze Halt machen muss und zur Trennung von Urbild und Abbild führt: Der göttliche descensus ist Grund und Maßstab für die Ähnlichkeit alles Seins mit Gott. Die Begrenztheit der Geschöpfe macht alles Seiende dem Absoluten wieder ‚unähnlich‘. (Graevenitz 1987: 16)
‚Unähnliche Ähnlichkeit‘ ist die paradoxale Formel für den Bereich, in dem auch die Gottebenbildlichkeit der Menschen zu verorten ist; und im Sturz der Verdammten durchlaufen sie die Bahn einer zunehmenden Unähnlichkeit. Die Grenze, an der sich die Ähnlichkeit bricht, wird übertreten im Sturz. Diese bildtheologische Konzeption steht in einer engen Verbindung zur Zeichenlehre Augustins, die ohne den Aspekt der Grenze nicht mehr zu denken ist. Vor allem der zweite Teil der von Urzidil unter dem Titel Sturz der Verdammten veröffentlichten vier Texte bezieht sich auf diese bildtheologische Komponente und soll daher im Folgenden näher untersucht werden.
10 S. etwa die Kupferstiche aus dem Jahre 1642, die von Peter Soutmann bzw. von Jonas Suyderhoef ausgeführt wurden (Rathgeber 1844: 122).
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Abb. 4: Sturz der Verdammten (Urzidil 1919: 6).
Der Text beginnt in Form eines Lamento („Weh uns“), einer Wehklage über den Fall, der mit „weh dem Sturze“ benannt wird, wobei sich die Haltlosigkeit des Falls („ohne Boden“) auch auf den ikonographischen Bildraum bezieht, der zumeist, wie z. B. bei Bosch, nach unten hin offen gestaltet wird. Die Bewegungen in der Raumlosigkeit („ohne Raum“), die der Text beschreibt,
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lehnen sich eng an die ikonographische Tradition an, die auf Orientierungshilfen zumeist verzichtet und vor allem die Fallbewegung wie z. B. bei Rubens inszeniert. Besonders die vormals in der Zeitschrift Die Aktion in Majuskeln gedruckten Angaben „ab und auf, rechts und links“ markieren eine Gegenläufigkeit, die ebenso als Auf- und Abstieg wie als räumliche Desorientierung verstanden werden kann. Besonders aber die bildtheologisch präzise Benennung „unendlich entfielen wir Deiner Verneinung, Herr“ in der zweiten Verszeile macht deutlich, dass Urzidil sich auf eine Negationsbewegung bezieht, die sich auch semiotisch und zeichentheoretisch verstehen lässt. Mit der Zeile „Grenze setztest Du, Tod und Verwandlung“ benennt Urzidil einerseits die Differentialität, aus der sich nach dem Fall bzw. Sturz die Bilder und Zeichen in ihrer unähnlichen Ähnlichkeit zu Gott nur noch speisen können. Wenn die Abbilder im Fall zunehmend gottunähnlich werden, ist auch keinem Zeichen mehr die Fülle seiner Bedeutung eingeschrieben. Mit dem Konzept der Verwandlung bezieht sich das Gedicht andererseits auf eine Bildtradition, in der die Menschen im Sturz von teuflischen Ungeheuern umgeben werden und sich z. T. auch selbst verwandeln. Angespielt wird mit der Formulierung „durch tausend Verwandlungen“, aber ebenso auf die Kette der Geschöpfe, in die sich auch das Schicksal des Menschen einträgt. Darüber hinaus war das Thema der Verwandlung seit Haeckels Monismus auch ein Motiv des Impressionismus und der Jugendstilliteratur um 1900. Mit der Verszeile „unser Maßloses hast du zerrissen in Vielfalt, verklebt in schmerzlichem Widerspiel“ wird die visuelle Ebene allerdings wieder verlassen und in abstrakte Reflexionen überführt, die sich dem dissoziativen Expressionismus mehr zuordnen lassen als dem messianischen. Vor allem mit der Zeile „unser einiger Strahl brach sich an Deinen Flächen und sonderte sich in schwirrende Weltensysteme“ wird eine Dissoziation vorgeführt, die sich theologisch als ‚descensus‘, aber auch als profane Entzweiung verstehen lässt. In seiner Mischung zwischen anschaulichen Bildbezügen – die abwärtsgerichtete Topographie der Bildtradition – und einer abstrakten Reflexionsebene mit Vokabeln wie „Verneinung“, „Grenze“ und „Verwandlung“ wird eine sprachliche Mischung vollzogen, wie sie sonst dem Genre des Essays zu eigen ist. In der komprimiert angereicherten Syntax, den erlesenen Vokabeln11 entfaltet sich zudem ein manieristischer Überschuss, wie er Urzidils frühen Gedichten aus diesem Band immer wieder vorgeworfen wurde. Andererseits entsteht so aber auch eine Spannung, die der Text selbst thematisiert. Aufschlussreich ist hier besonders die Verszeile „Zerspalten bin ich in Du und Ich, in Sinn und Gebilde“. Auf den ersten Blick lässt 11 S. z. B. die Adjektive „totwärts“, „bresthaft“, „smaragden“ u. a.
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sich die Zeile als Formel verstehen, wie sie im dissoziativen Expressionismus immer wieder erscheint, als Entzweiung des Ichs und der Welt mit sich selbst. Der Zusatz aber „in Sinn und Gebilde“ macht deutlich, dass hier darüber hinaus zeichentheoretische und ästhetische Überlegungen eingeblendet werden. In moderne zeichentheoretische Termini überführt, sind es aber nicht allein Signifikant und Signifikat, die sich durch die Differentialität der Signifikanten entzweit haben, sondern vielmehr wird mit dem Begriff ‚Gebilde‘ ein ästhetischer Terminus eingespielt, wie er später z. B. bei Theodor W. Adorno (1981b: 56) als Kennzeichnung für die Machart von moderner Lyrik überhaupt verwendet wird, wenn er formuliert: „Die höchsten lyrischen Gebilde sind darum die, in denen das Subjekt ohne Rest von bloßem Stoff, in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird.“ Daher beschreitet moderne Lyrik den Weg eines Gebildes, zu denken ist etwa an Gedichte von Stefan George oder an die Randposition der Sprache in den Texten von Paul Celan. Was Adorno an dieser Stelle über die Stofflosigkeit moderner Lyrik prognostiziert, trifft auf Urzidil nur bedingt zu. Doch wird bei Adorno ebenso ein Doppelgesicht der Sprache zwischen subjektiver Sprachlichkeit und gesellschaftlicher Begriffswelt entworfen,12 wie es sich vor allem im Genre des Essays zeigt (Adorno 1981a: 9-33). Eine essayistische Dimension beschreiten auch Urzidils Manierismen auf dem Weg wuchernder Sprachbilder und bei aller hypertrophen Bildlichkeit dennoch auch auf dem Weg der Abstraktion. In diesem Kontext wird deutlich, dass sich der Text von Urzidil auf sich selbst zurückbeugt und seinen Status als Gebilde reflektiert. Auch die Dissoziation der Personalpronomina („Ich“, „Du“) kann auf den Text selbst bezogen werden, der von sich spricht. Im Terminus ‚Gebilde‘ klingt allerdings neben seiner Bedeutung als sprachliches Konstrukt auch eine Relation zum Bild an. Hat der Text bisher die intermediale Relation zur Bildtradition des Höllensturzes und vermutlich sogar zu der konkreten Vorlage von Bosch immer wieder anklingen lassen, so wird sie an der doppelten Grenze von Sinn und ‚Ge-/Bilde‘ weiter reflektiert: Zunächst an der Grenze zwischen Sprachgebung des Textes und seiner Sinngebung, aber ebenso an der Grenze zwischen Text und Bild, an der intermedialen Grenze zwischen der ikonographischen Bildtradition des Höllensturzes und einem Text, der dieser Bewegung des Falles folgt. So reflektiert der Text auf eine mehrfache Entzweiung, einerseits auf der zeichentheoretischen Ebene zwischen „Sinn und Gebilde“, andererseits aber auch in der intermedialen 12 „Denn die Sprache ist selber ein Doppeltes. Sie bildet durch ihre Konfigurationen den subjektiven Regungen gänzlich sich ein; ja wenig fehlt, und man könnte denken, sie zeitigte sie überhaupt erst. Aber sie bleibt doch wiederum das Medium der Begriffe, das, was die unabdingbare Beziehung auf Allgemeines und die Gesellschaft herstellt.“ (Adorno 1981b: 56)
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Relation zwischen Text und Bild auf die ‚unähnliche Ähnlichkeit‘ der Bilder. Der Text, so könnte man sagen, thematisiert sich selbst als Gebilde an seiner Grenze zum Bild. Der ‚Sturz der Verdammten‘, wie er in den weiteren Zeilen ebenso als Verlust einer Position an der Grenze zwischen Wissen und „Unwissenheit“ ausgeführt wird, ist auch ein Sturz der Sprache, ihrer Gebilde und ihrer Grenze zum ähnlich/unähnlichen Bild, die der Text in seiner Schreibweise bedenkt. Verfolgt man die Thematik der Grenze weiter, die im Text angelegt ist, so findet sie sich in seiner Sprachgebung auf sehr unterschiedlichen Ebenen wieder. So wird im Text auf der Ebene seiner Tropen z. B. eine Metaphorik der Grenze offensichtlich wie z. B. in räumlichen Grenzziehungen in „Mit Dir, Gott, Palisade“, oder temporal im mehrdeutigen „Unmaß der Mitternacht“, was sich als nicht mehr messbarer Hiatus zwischen Tag und Nacht sowie als mehrdeutiger Hybris-Vorwurf verstehen lässt, oder in der Semantik von Grenz-Jahreszeiten wie „Frühling“ und „Herbstzeit“. Aber auch auf der stilistisch-syntaktischen Ebene findet sich diese Grenzstruktur wie z. B. als antithetische Formulierung in: „Wissend zu sein, ward uns nicht, Unwissenheit ward uns nicht“. Noch auf der morphologischen Ebene zeugen die mit dem Präfix ‚Un-‘ gebildeten Substantive von einer ins Wort hineingenommenen Grenzziehung. Wenn der Text daher in einer Wiederholung des Titels („Dieses ist unser Sturz, den niemand von uns nimmt, der Sturz der Verdammten“) noch einmal auf seinen Anfang zurückkehrt, kann er an seinem Schluss die Grenzziehungen nur noch in einen bodenlosen Fall überführen: „geschleudert ins Dunkel versinkt unsere Seele“. Der Text entgleitet hinter die Grenze „ins Dunkel“, die seine Sprachgebung umspielte. Es könnte weiter gezeigt werden, wie sich die Grenz-Thematik auch in den anderen Textteilen von Sturz der Verdammten umsetzt.13 Schon hier aber wird eine Tendenz in der manieristischen Schreibweise von Urzidil ersichtlich. Über seine theologische Dimension hinaus lässt sich das ‚Titelgedicht‘ aus Sturz der Verdammten von Urzidil offensichtlich auch als poetologische Verortung seiner expressionistischen Anfänge lesen, wenn in einer manieristischen Verspannung Gebilde hervorgebracht werden, die sich in ihren Inkongruenzen an sich selbst reiben und dadurch ihren Status als ‚entzweiten‘ Text thematisieren. Festgehalten werden muss darüber hinaus, dass auch die Bildtradition des Höllensturzes zumeist der Bildgeschichte des Manierismus zuzurechnen ist. In Urzidils Manierismen reflektiert sich, sowohl in Bezug auf die Bildvorlage 13 So finden sich z. B. in Chor der Pferde folgende Verszeilen „Verwandlung, reinlich abgeteilt vom Grenzenlosen, angeufert an das Nichts/ in sich gesondert weh in Ja und Nein, Versagung pflanzend in das Herz der Welt.“ (Urzidil 1919: 7)
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als auch im Hinblick auf die sprachliche Verfasstheit des Textes, der prekäre Standort moderner Lyrik, wie er die Epoche seit den expressionistischen Anfängen beschäftigt. Es ist das Verdienst der frühen Gedichte Urzidils, diese Spannung auszureizen, bis zu einer Wortfracht, die in ihren Manierismen ihre poetische Machart hervorkehrt, denn schon immer war manieristische Kunst hochgradig selbstreflexive Kunst.
4. Schlussbemerkung
Entgegen der gängigen Meinung in der Urzidil-Forschung, die den ersten Gedichtband Sturz der Verdammten des Autors wenig und wenn, dann nur abwertend würdigt, wurde im vorliegenden Beitrag der Versuch gemacht, die eigenständige Konzeption der Schreibweise von Urzidils früher Lyrik zu untersuchen. Zunächst wurden Rezeptionswege der frühen Gedichte vorgestellt, dann grundsätzliche Forschungspositionen zum barocken Expressionismus des Autors aufgezeigt, um schließlich in einem weiteren Schritt am Beispiel des ‚Titelgedichts‘ aus Sturz der Verdammten vorzuführen, wie Urzidils frühe Gedichte ihre Manierismen konzeptionell nutzen. Es ist die Grenze zwischen Sinn und Gebilde, aber auch die intermediale Relation zwischen Bild und Text, die zum Widerspiel und zur Reflexionszone einer Schreibweise dient, die so ihren Standort im Spektrum moderner Lyrik sehr präzise verortet.
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Johannes Urzidil als Übersetzer Otokar Březinas
[M]ůj přítel, mladý básník německý p. Johannes Urzidil překládal Vaše Stavitelé chrámu po mém soudu tak zdařile s procítěním a porozuměním, se zachováním vnitřní hudby i obrazů, že dovoluji si prositi Vás, byste mu dovolil vydati překlad Stavitelů chrámu knižně a otisknouti ukázky v novém listě Der Mensch, který spolu s jinými autory pořádá […]. (Březina 2004b: 1176). [Mein Freund, der junge deutsche Dichter Herr Johannes Urzidil hat Ihre Stavitelé chrámu [Die Dombaumeister] meinem Urteil nach so gelungen mit Einfühlung und Verständnis, unter Beibehaltung der inneren Musik und der Bilder übersetzt, dass ich mir erlaube, Sie zu bitten, ihm zu gestatten, die Übersetzung der Stavitelé chrámu in Buchform herauszugeben und Proben in dem neuen Blatt Der Mensch abzudrucken, das er zusammen mit anderen Autoren organisiert.]
Mit diesen Worten wendet sich der Dichter, Redakteur und Übersetzer Antonín Macek am 14. Dezember 1917 an Otokar Březina (d. i. Václav Ignác Jebavý; 1868-1929). Johannes Urzidil (1896-1970) hat ihnen zufolge die vorletzte, 1899 erschienene Gedichtsammlung Březinas komplett ins Deutsche übertragen, die Emanuel Chalupný als „nejpřístupnější a nejlahodnější“ [zugänglichstes und köstlichstes] Buch Březinas bezeichnet (Chalupný 1912: 84). Weil Březina jedoch gegen 1913/14 sämtliche Rechte an den deutschsprachigen Buchausgaben dem Kurt-Wolff-Verlag mit Emil Saudek und Otto Pick als Übersetzern abgetreten hat, kann er keine Autorisierung der Übersetzung Urzidils vornehmen.1 Die Bitte Maceks wird also abschlägig beschieden, das Buch erscheint 1920 unter dem Titel Baumeister am Tempel in der „einzig berechtigten Übertragung von Otto Pick“, das Manuskript Urzidils befindet sich weder in seinem noch in den Nachlässen von Macek oder Březina. Proben der Březina-Texte in Zeitschriften benötigen jedoch keine Autorisierung (Březina 2004b: 1176), so dass wir zumindest anhand der Übersetzung von drei Gedichten aus dieser neunzehn Texte umfassenden Sammlung, die
1 Es konnte kein Hinweis darauf gefunden werden, dass er tatsächlich wegen der gelungenen Übertragungen Werfels (die so nicht ohne Saudek entstanden wären) auf weitere eigene Übertragungen verzichtete, wie Fiala-Fürst (1999: 87) schreibt.
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Urzidil 1918 in der Zeitschrift Der Mensch veröffentlicht,2 überprüfen können, ob das Urteil Maceks über die Übersetzungskunst seines jungen deutschen Freundes zutreffend ist. Bei diesen eindeutig Urzidil zuzuordnenden Gedichten handelt es sich um die dreiteiligen Vigilie [Vigilien], um Jsem jako strom v květu … [Allegorie der Erde; wörtlich: Ich bin wie ein Baum in Blüte …] sowie um Nad všemi ohni a vodami … [Über den Feuern und Wassern all …; wörtlich: Über allen Feuern und Wassern …] (Březina 1918b; a; c). Den Urzidil-Bibliographien (Macháčková-Riegerová 1972: 218; Trapp 1999: 198; Trapp/Musil 2006) zufolge ist außerdem zwei Jahre später der Essay Zrcadlení v hloubce [Spiegelung in der Tiefe] in der Übersetzung Urzidils publiziert worden (Březina 1920b), der in ihnen allerdings als Gedicht apostrophiert wird.3
1. Weshalb Březina?
Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, weshalb Urzidil ausgerechnet Březina übersetzt, der ab 1914 der „geradezu leidenschaftlichen Übersetzerarbeit“ der Prager Deutschen (Urzidil 1968: 156) ‚zum Opfer fällt‘, die „die eigentlichen und lebhaftesten Vermittler ihrer [der Tschechen] Kulturleistungen nach der westlichen Welt“ sind (Urzidil 1968: 154), wozu sie prädestiniert sind, weil sie „in beiden geistigen Räumen gleichmäßig beheimatet“ sind (Urzidil 1946: 22). Noch zehn Jahre bevor das große Interesse der Prager Deutschen an Březina einsetzt, reagiert dieser (1904) auf Karel Dostál-Lutinovs Übertragung der Stavitelé chrámu: 2 S. Urzidil (1962: 204) über die Brünner Zeitschrift Der Mensch, die er zusammen mit deren Herausgeber Leo Reiss konzipiert hatte: „Ich redigierte dazumal eine literarische Zeitschrift, geradewegs Der Mensch benannt und als gemeinsame Plattform deutscher und tschechischer Dichter beabsichtigt. Sie hielt sich ein knappes Jahr, denn ‚was ist vom Menschen und könnte dauern‘?“ 3 Měšťan (1999: 50; 2000: 95) schreibt von „vier eigene[n] Übersetzungen der Gedichte von Otokar Březina“, die Urzidil „[i]n den Jahren 1918 bis 1920 veröffentlichte“. Er nennt keine konkreten Titel, so dass man annehmen kann, dass er den Essay Zrcadlení v hloubce zu den Gedichten zählt, denn nach 1918 sind m. W. keine Gedichtübertragungen Urzidils mehr publiziert worden. Fiala-Fürst (1999: 90, 87) schreibt – etwas verwirrend – einerseits von „překlad [...] čtyř básní“ [der Übertragung von vier Gedichten], andererseits jedoch von „drei Stücken aus Březinas Oeuvre“ und „eine[r] Übertragung eines prosaischen Textes“.
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Ale, milý příteli, naleznete německého nakladatele, jenž by překlad Váš vytiskl? Abychom sami vydávali německé překlady svých prací, dojímá bolestně. Naše duchovní poslání toho nežádá. Je-li ticho kolem našeho díla, není to bez nejvyšší vůle; nerušme ho (Březina 2004a: 648). [Aber, lieber Freund, finden Sie einen deutschen Verleger, der Ihre Übersetzung drucken würde? Dass wir selbst die deutschen Übersetzungen unserer Arbeiten herausgeben sollen, berührt schmerzlich. Unsere geistige Berufung fordert das nicht. Ist Stille um unser Werk, ist das nicht ohne höchsten Willen; stören wir sie nicht.]
Wie man seiner Korrespondenz entnehmen kann, sind seine Texte später ‚heiß umkämpft‘, so dass Macek und mit ihm Urzidil längst nicht die einzigen sind, deren Bitte nicht stattgegeben wird. Zu den Abgewiesenen zählt auch Paul Eisner, der 1916 in einem Brief an Březina zum Ausdruck bringt, was die anderen sicherlich ähnlich fühlen: Bylo pro mne […] bolestným zklamáním, když jsem se dověděl, že autorizace celého Vašeho díla je již zadána. Chtěl jsem aspoň zčásti býti účasten úkolu seznámiti cizinu s Vaším dílem (Březina 2004b: 1123). [Es war für mich […] eine schmerzliche Enttäuschung, als ich erfuhr, dass die Autorisierung Ihres gesamten Werkes bereits vergeben ist. Ich wollte zumindest teilweise an der Aufgabe beteiligt sein, das Ausland mit Ihrem Werk vertraut zu machen.]
Die Rezeption Březinas im deutschsprachigen Raum, die relativ gut untersucht ist4 – auch wenn eine vollständige Bibliographie der Übertragungen nach wie vor fehlt und der uns hier interessierende Urzidil höchstens am Rande erwähnt wird –, setzt 1908 mit Saudeks Übertragung der Ruce [Hände] ein, die mit dessen intensiver Propaganda für Březina einhergeht. Weitere BřezinaÜbersetzer, zu denen Urzidil zählt, belassen es ebenfalls nicht bei der Übersetzung, sondern weisen auf den Autor zusätzlich in publizistischen Beiträgen hin. So erweist sich Urzidils Artikel Europäischer Literatur-Beitrag der Tschechen, den er 1921 im Berliner Börsen-Courier veröffentlicht, als Hochlied auf Březina, der neben Hus und Comenius der einzige tschechische Autor von größerer als nur lokaler Bedeutung sei (Urzidil 1921). Später wird Urzidil etwas toleranter und zählt ebenso Žižka, Masaryk, Smetana, Dvořák, Janáček und Bezruč zu den moralischen Persönlichkeiten, die das Tschechentum dauerhaft und solide vor der Welt repräsentieren.5 Eines der Gedichthefte Březinas wiege ebenso schwer wie die ganze übrige zeitgenössische Literatur seines Volkes. Innerhalb 4 S. Hoffmann (1909); Mágr (1921); Hauffen (1929); Pick (1929); Katholnigg (1930); Chalupný (1941); Jähnichen (1972); Nezdařil (1985); Holman (2006). 5 Urzidil an Matouš, 03.06.1951 (PNP LA, fond Josef Matouš: korespondence přijatá). Urzidil über Bezruč (Urzidil 1937; 1963).
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der modernen Dichtergeneration Europas sei er einer der ersten gewesen, der wieder Geist und Welt, Persönlichkeit und Kosmos in einer ungelösten Einheit erlebte, und der die religiöse Ekstase als das eigentliche Element der Kunst wiedererkannt und deshalb verstanden habe, „die verirrten Ströme der Literatur zu ihren mystischen Quellen“ zurückzuleiten (Urzidil 1921). Insofern muss es nicht verwundern, dass er besonders expressionistische Autoren anspricht, deren Konzentration in Prag bekanntlich hoch ist. Dies führt letztlich dazu, dass Březina in Deutschland schon hochgehalten wird, noch ehe seine Heimat seine Bedeutung ahnt (Zweig 1909: 445; Urzidil 1921; -pl 1929). Um auf ihn jedoch aufmerksam machen zu können, muss er übersetzt werden (Peroutka/Urzidil 2008: 17). Urzidil (1922: 168) sieht die besondere Aufgabe der Deutschböhmen darin, eine ausgesprochene Vermittlerrolle zwischen Deutschtum und Slawentum zu spielen. Sie hätten nicht bloß, wie dies bisher geschah, deutsche Kulturgüter den Slawen, sondern auch, wie dies bisher nicht geschah, slawische Kulturgüter den Deutschen zu übermitteln.
Wenn sich Urzidil an dieser „Aufgabe des Friedens“, wie er schreibt (Urzidil 1922: 168), beteiligen möchte, liegt es nahe, dass er sich auf Březina konzen triert, dessen Texten er, wie bereits gesagt, vor allem menschliche und moralische Qualitäten zuschreibt. Er fühlt sich der inhaltlichen Seite der Dichtungen Březinas verbunden, wovon u. a. zeugt, dass sein eigenes Gedicht Der Unerlöste singt zur Nacht (Urzidil 1918) direkt nach seiner Übertragung von Březinas Jsem jako strom v květu … abgedruckt wird, dass bei beiden Autoren die ‚Hände‘ eine auffallend hohe Frequenz haben oder dass man Titel wie zum Beispiel Klagelied durch die Sphären; Klage des Erdgerechten; Unterweltlicher Psalm; Totenklage oder Vision, die Urzidil in seinem Band Sturz der Verdammten, der kurz nach den Übertragungen erscheint (1919), für seine Gedichte wählt, guten Gewissens Březina zuschreiben könnte. Mit der anregenden Wirkung Březinas auf Urzidil ist wohl auch zu begründen, weshalb von ihm keine Übersetzungen Petr Bezručs bekannt sind, obwohl er mit diesem, der wie Březina eine Generation älter ist als er, zwischen 1926 und 1937 korrespondiert (Urzidil 1963: 7). In poetischer Hinsicht bleibt ihm ganz offensichtlich Březina immer näher als Bezruč. Hinzu kommt, dass Urzidil sich für die dichterischen Möglichkeiten der tschechischen Sprache, die er seit seiner Kindheit als stete Freundin seiner Muttersprache im Ohr und auch im Herzen habe (Urzidil 1961), begeistert. Man könne in ihr im Gegensatz zum Deutschen „in süsser Verbindung de[s] quantitierenden und akzentuierenden Rhyt[h]mus dichten“ (Urzidil 1961). An Josef Matouš schreibt er als Reaktion auf die Zusendung von dessen Übertragung Juliusz Słowackis:
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A ta nesmirně krásná čeština, onen bohatý rytmus prosy, ta téměř biblická nádhera! Obdivoval jsem opět jednou nesmírné hudebné možnosti češtiny, která může operovati současně akcentem a kvantitou, přednost, kterou n. př. německá prosa bohužel se nevyznačuje.6 [Und dieses ungeheuer schöne Tschechisch, dieser reiche Rhythmus der Prosa, diese fast biblische Herrlichkeit! Ich habe wieder einmal die ungeheuren musikalischen Möglichkeiten des Tschechischen bewundert, das gleichzeitig mit dem Akzent und der Quantität operieren kann, ein Vorzug, durch den sich zum Beispiel die deutsche Prosa leider nicht auszeichnet.]
Urzidil scheint also ein feines Gespür für das Tschechische zu haben, auch wenn er die Sprache nicht perfekt aktiv beherrscht, wovon seine – sprachlich dennoch weitgehend überzeugenden – tschechischen Briefe Zeugnis ablegen, in denen er sich dann auch so konstant bei den Adressaten für seine eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten bzw. Fehler entschuldigt, dass es schon fast wie Koketterie wirkt.7 Kehren wir jedoch zu der Ausgangsfrage zurück, ob es Urzidil tatsächlich gelingt, Březina „mit Einfühlung und Verständnis, unter Beibehaltung der inneren Musik und der Bilder“ zu übersetzen. Sind seine Übersetzungen „gelungen“, wie Měšťan (1999: 50) schreibt, ohne jedoch ins Detail zu gehen? Da Březina sehr auf die Komposition seiner Bände achtet, in denen er jedem Text zusätzlich zu seinem autonomen Wert eine Funktion für die Gesamtarchitektur zuweist (Šalda 1954: 294), wird im Folgenden die Reihenfolge der Texte eingehalten, wie sie in den Stavitelé chrámu aufeinander folgen. Urzidil wählt eine andere Abfolge.
6 Urzidil an Matouš, 16.10.1947 (PNP LA, fond Josef Matouš: korespondence přijatá). Es wurde die Originalschreibweise übernommen. S. a.: „Wer ist dem Ausdrucksreichtum gewachsen, den z. B. die tschechische Lyrik vermöge gemeinsamer Anwendung akzentuierender und quantitierender Effekte aufweist? Im Deutschen ist jede lange Silbe von Natur betont, im Tschechischen gibt es lange und dabei unbetonte Silben von besonderer rhythmischer Wertigkeit, die keine Übertragung wiederzugeben vermag“ (Urzidil 1946: 23). 7 S. Urzidils Korrespondenz mit Macek und Matouš (PNP LA, fond Antonín Macek bzw. Josef Matouš, korespondence přijatá). Zu Urzidils Tschechisch äußern sich auch Měšťan (1986: 47), der ihm eine „vollendet[e]“ Beherrschung der Sprache attestiert, und Věra Machačková-Riegerová (1999: 140), die ihm bei „einigen kleinen grammatischen Fehlern einen überaus reichen Wortschatz und eine glatte tschechische Syntax“ bescheinigt.
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2. Vigilie – Vigilien
Die Vigilie sind dreiteilig. Alle drei Teile gleichen sich in formaler Hinsicht darin, dass sie als einzige Texte Březinas in kurzen vers libre geschrieben sind (Červenka 1991: 62), sich formal also von Urzidils Langversen unterscheiden. Die erste Vigilie umfasst 41, die zweite 38 und die dritte 28 Verse. Dieser abnehmenden Verszahl entspricht eine abnehmende Strophenzahl. Die erste ist in fünf Strophen untergliedert, wobei zwei kurze Strophen (mit 4 bzw. 3 Versen) drei längere (mit 12, 10, 12 Versen) umfassen. Die zweite ist in drei Strophen untergliedert. In diesem Falle umfassen zwei längere Strophen (mit 18 bzw. 15 Versen) eine kürzere (mit 5 Versen). Die dritte Vigilie ist nicht in Strophen unterteilt. Die Differenz der Silbenzahl zwischen den Versen nimmt von Vigilie zu Vigilie zu. Die Zahl schwankt in Vigilie I zwischen 4 und 13, in Vigilie II zwischen 2 und 14 und in Vigilie III zwischen 3 und 16. In Urzidils Übersetzung entspricht die Verszahl bis auf die der letzten Vigilie, die um einen Vers kürzer ist, der des Originals. Urzidil nimmt eine kleingliedrigere Strophenteilung vor, wodurch die nahezu symmetrische Gliederung bei Březina aufgelöst wird. Ihm gelingt jedoch, die Schwankungen der Silbenzahl zwischen den Versen beinahe beizubehalten und sich im Deutschen insgesamt recht kurz zu fassen, so dass die Vigilien bei ihm nur ganz geringfügig länger sind (um 3, 2 bzw. 6 %), was von einem knappen Ausdruck zeugt, in dem ihm lediglich Otto Pick überlegen ist, bei dem die Gedichte nicht einmal um 1 %, d. h. 2 bzw. 3 Silben länger sind (Březina 1920a: 10-15).8 Březinas Diktion ist sehr dicht, so dass ihr die wortreiche Wiedergabe durch Eisner (Březina 1917: 77-81) oder Schamschula (Březina 2002: 118-127) nicht gerecht wird.9 Dies bringt bei Urzidil jedoch mit sich, dass er bis zu acht Silben umfassende Komposita bildet, die sich nur schwer lesen lassen. So überträgt er zum Beispiel „z výšin světla sestouplých“ [aus den Höhen des Lichtes herabgestiegene] (I: 36)10 mit „lichteshöhenentstiegner“; „otevřená věkům“ [den Zeiten geöffnete] 8 Pick nahm zwar Veränderungen gegenüber der zuvor bereits erfolgten Zeitschriftenveröffentlichung der zweiten Vigilie vor, diese wirken sich jedoch kaum auf die Silbenzahl aus, sodass die spätere Variante lediglich um eine Silbe kürzer ist (Březina 1918d). 9 Die Übertragung von Karel Dostál-Lutinov (Březina 1905) bleibt bei diesen statistischen Betrachtungen unberücksichtigt, weil es sich nur um einen der drei Teile der Vigilie handelt. Seine Version der ersten Vigilie ist ähnlich lang wie Eisners und Schamschulas. 10 Hier und im Folgenden bezeichnet die römische Ziffer die Nummer der Vigilie, die arabische Ziffer den Vers.
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(II: 19) mit „äonenerschlossene“ oder „vysvobozující“ [befreiend; erlösend] (III: 2) mit „erlösungslichtübergießend“. Der Ausdruck ist bei Urzidil insgesamt oft komplizierter bzw. ungewöhnlicher als bei Březina, [d]enn so unerhört reich auch die Sprachgewalt Březinas ist, so arbeitet sie doch mit dem Werkzeug einer ursprünglichen Sprache, deren Wortschatz verhältnismäßig weniger verbraucht, deren Bildlichkeit konkreter, weniger verblaßt ist als die des Deutschen heute. Březina verwendet auch im stärksten Pathos neben sublimen Gleichnissen und letzten Begriffen der Wissenschaft ganz absichtslos ‚die armen Worte, die im Alltag darben‘ (Mágr 1921).11
Lediglich an einer Stelle unterläuft Urzidil ein regelrechter Fehler, wenn er „na orloji věků“ (I: 20) als „am Uhrblatt der Blüten“ überträgt – er also statt „věků“ ‚květů‘ liest, wodurch aus dem ‚Zeitalter‘ oder den ‚Jahrhunderten‘ die „Blüten“ werden. Vergleicht man nur den Beginn verschiedener Übertragungen der ersten Vigilie (I: 1-4), wird schnell deutlich, dass Urzidil zu den weitaus eigenständigsten Lösungen findet. Jak stráže tvé bdíme Lutinov Eisner Urzidil Pick Schamschula
Wie deine Posten wachen wir Wir harren wie deine Wachen Wir weilen Dir Wächter Wir, deine Wachen, sind wach Wie deine Wächter wachen wir
na místech nebezpečenství; Lutinov Eisner Urzidil Pick Schamschula
Auf den Orten der Gefahr an Orten der Gefahr an Orten der Fährlichkeiten, an den Stätten der Gefahr an den Orten der Gefahr;
před námi hranice svaté tvé noci, Lutinov Eisner Urzidil Pick Schamschula
Vor uns die Grenzfeuer deiner heiligen Nacht, vor uns die Leuchtfeuer deiner heiligen Nacht, vor uns Deines heiligen Dunkels Begrenzung, vor uns die Grenzen deiner heiligen Nacht, vor uns die heiligen Grenzen deiner Nacht,
11 S. „Sein Wortschatz ist einfach und besteht aus den alltäglichen Wörtern, die aber gereinigt und symbolisch vertieft vor uns treten“ (Chalupný 1907: 767).
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za námi království spících Lutinov Eisner Urzidil Pick Schamschula
Hinter uns der Schlafenden Reich. hinter uns das Königreich der Schlafenden. das Reich der Verschlafnen im Rücken. hinter uns das Königreich der Schläfer. hinter uns die Reiche der Schlafenden.
Auch wenn das Wort „weilen“ im ersten Vers semantisch etwas schwach erscheint, weil es keinen Bezug zu Wachsamkeit herstellt, so kann Urzidil durch seine Verwendung einerseits im Gegensatz zu Pick und Schamschula die figura etymologica umgehen, die im Original nicht auftritt, und er kann andererseits im Gegensatz zu allen vier weiteren Übersetzern die rhythmische Struktur, den Amphibrachys dieses Verses, nachbilden: „Jak stráže tvé bdíme“ – „Wir weilen Dir Wächter“, wobei auch bei ihm die beiden betonten Silben lang sind. Es erweist sich jedoch als problematisch, dass er die im Original auftretenden Wiederholungen, die davon zeugen, dass Březina mit festen Begriffen arbeitet, die leitmotivartig seine Texte durchziehen (Katholnigg 1930: 81), durch Synonyme wiedergibt. In den Vigilie wird „bdíme“ [wachen] zweimal verwendet (I: 1, 32) und einmal die Substantivform „bdění“ (II: 4). Bei Urzidil werden sie wiedergegeben als „weilen“ (I: 1), „verweilen“ (I: 32) und „Wachen“ (II: 4). Die Tragik und der Schmerz des Wachens (Králík 1948: 214f.) wirken so weniger eindringlich. Die Verwendung des buchsprachlichen „nebezpečenství“ [Gefahr] am Ende des zweiten Verses entspricht der in Březinas später Dichtung vorherrschenden Tendenz, mehrsilbige Worte an den Versausgang zu setzen, um ihn langsam ausklingen zu lassen (Červenka 1966: 62). In diesem Falle ist die Betonung auf der fünftletzten Silbe. Wiederum im Gegensatz zu allen anderen Übersetzern wählt Urzidil ebenfalls ein langes und einer hohen Stilebene zuzurechnendes Wort für den Versauslaut – „Fährlichkeiten“ –, das mit vier Silben zumindest die doppelte Silbenzahl der ‚Gefahr‘ aufweist. Weniger gelungen scheint die Übertragung der beiden folgenden Verse dadurch, dass Urzidil den Parallelismus auflöst. Die „hranice“ [Grenze] (I: 3) ist in den Vigilie die „(Zeit-)Grenze zwischen Vorahnung und Erfüllung“ (Vojvodík 1998: 249), so dass „Grenzfeuer“ bzw. „Leuchtfeuer“, für die sich Lutinov bzw. Eisner entscheiden, nicht adäquat erscheinen, zumal Feuer eine Form von Licht darstellt. Die „Begrenzung“ bei Urzidil kann man akzeptieren, die Ersetzung der „noc“ [Nacht] durch das „Dunkel“ fällt in den bereits angesprochenen Bereich der festen Begriffe bei Březina, zu denen neben ‚světlo‘ [Licht] ‚noc‘ [Nacht] und ‚tma‘ [Dunkel] zählen. Sie sollten also nicht miteinander vertauscht werden.
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Březina konstituiert den Gegensatz zwischen den Wachenden und den Schlafenden als den grundsätzlichen Dualismus des Daseins, das zwischen den Polen des wirklichen Lebens und des aufgehellten geistigen Lebens oszilliert (Králík 1948: 235). „Verschlafne“ (I: 4), wie Urzidil die Schlafenden nennt, schlafen aber nicht, sondern befinden sich am Übergang zwischen Schlaf und Wachsein. Das Erwachen einiger Brüder erfolgt jedoch erst siebzehn Verse später, worauf sie als tatsächlich verschlafen beschrieben werden: „ubledlí ještě tajemstvím spánku“ [blass noch vom Geheimnis des Schlafs] (I: 23). An dieser Stelle überträgt Urzidil jedoch „noch in der Blässe geheimen Verschlummerns“, so als würden sie gerade wieder einschlafen. Vom Klang her besonders auffällig ist im Original der Vers: ŽÁr nAšich zrAků spÁlil nÁm řAsy (I: 27). Lutinov Eisner Urzidil Pick Schamschula
Die Glut unserer Blicke verbrannte unsere Wimpern die Glut unserer Blicke versengte unsere Wimpern Brand unsres Blickes sengt uns die Wimper Unsere Wimpern verbrannten im Glutblick Die Flamme unsrer Blicke hat die Wimpern uns versengt
Urzidils Lösung ist wieder die einzige, die den – hier daktylotrochäischen – Versrhythmus aufnimmt: „Brand unsres Blickes sengt uns die Wimper“. Die vielen abwechselnd langen und kurzen ‚a‘ im Deutschen wiederzugeben, kann auch ihm nicht gelingen, als Alternative stellt er jedoch zumindest durch die Alliteration eine Klangbeziehung her. Die erste Vigilie endet mit den beiden Versen „Ve tmách symboly věcí, / mlčenlivé.“ [Im Dunkel Symbole der Dinge, / schweigsame] (I: 40f.). Urzidil überträgt: „Verschwiegne Symbole der Dinge / in Dunkelheit.“ Das abschließende „schweigsame“ des Originals bildet jedoch einen Kontrast zu dem Beginn der zweiten Vigilie, den die Aufforderung „Slyšte!“ [Hört!] (II: 1) bildet. Durch die Umstellung, die Urzidil in den letzten beiden Versen vornimmt, geht dieser Kontrast verloren. Der Anfang der dritten Vigilie ist wiederholt als Beispiel dafür angeführt worden, dass Paul Eisners Übertragung in Abhängigkeit von Otto Picks Version entstanden sei (Hauffen 1929: 98; Katholnigg 1930: 74; Nezdařil 1985: 265). Eisner reagiert in der Prager Presse auf diesen Vorwurf mit den Worten: Diese Stellen kann aber und darf niemand anders sagen, niemand, der unserer Zeit angehört. Daneben gibt es aber in der Dolmetschung der […] Verse solche Unterschiede zwischen E. und O. Pick, daß das Ganze zu einer Riesenblamage wird; der vergleichende Textkritiker beweist für jeden, der Augen und Ohren hat, das Gegenteil des Gewollten: eine maximale Diskrepanz innerhalb der Grenzen des translatorischen Gewissens (Eisner 1929).
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Dieser Aussage zufolge hätte also Urzidil die „Grenzen des translatorischen Gewissens“ überschritten, denn abermals weicht seine Version mehr von Eisner und Pick ab als diese untereinander, wie man an folgender Gegenüberstellung (III: 1-7) gut sehen kann: Ó moci Věčného Slova! Eisner Urzidil Pick Schamschula
O Macht des ewigen Wortes! O Macht des ewigen Wortes, O Macht des Ewigen Wortes! O Kraft des Worts des Ewigen!
Vysvobozující! Eisner Urzidil Pick Schamschula
Erlösende! erlösungslichtübergießend Erlösungsreiche! Allbefreiende!
Soumraky v sladkost rozpouštějící Eisner Urzidil Pick Schamschula
Dämmerungen in Süße auflösende Dämmer in Süßigkeiten zerschmelzend Dämmerung in Süße zerlassend Du lösest Dämmerungen in Süße auf
druhým světlem! Eisner Urzidil Pick Schamschula
mit anderem Lichte! vor anderm Licht! durch das andere Licht! mit dem anderen Licht.
Modlitbě nové nás nauč Eisner Urzidil Pick Schamschula
Lehr’ uns ein neues Gebet Neuen Gebetes belehr’ uns Lehr’ uns ein neues Gebet Lehr uns, neu zu beten
v bolestech našich Eisner Urzidil Pick Schamschula
in unseren Schmerzen in unseren Schmerzen in unsern Schmerzen in unseren Schmerzen
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nad sněním bratří! Eisner Urzidil Pick Schamschula
über dem Träumen der Brüder! ob Schlaf der Brüder. über dem Träumen der Brüder! über dem Träumen der Brüder!
Allerdings kann auch für diese Stelle nur wiederholt werden, dass Urzidil dem Rhythmus des Originals am nächsten kommt, was hier jedoch durch etwas merkwürdige Satzkonstruktionen erkauft wird. Betrachtet man die Zeichensetzung, so sieht man, dass Urzidil die Sätze nicht als ekstatische Ausrufe gestaltet. – Gleiches gilt bereits für die zweite Vigilie, in der er von den ursprünglich acht Ausrufezeichen nur zwei übernimmt. Die drei Punkte, die Vers 23 und den Schlussvers beschließen, oder eben nicht beschließen, sondern sie erregt abbrechen, ersetzt Urzidil durch abschließende Punkte. – In der dritten Vigilie findet man noch ein Ausrufezeichen von ursprünglich sechs. Die emotionale Erregung wird insgesamt gemildert.
3. Jsem jako strom v květu … – Allegorie der Erde
Das Gedicht Jsem jako strom v květu …, dessen Titel identisch ist mit dem Incipit, regt sowohl Eisner als auch Urzidil an, einen eigenen Titel zu finden. Eisner wählt Erde spricht: (Březina 1917: 81f.), Urzidil Allegorie der Erde. Im Gegensatz zu Schamschula, der die Vigilie als Nachtwachen übersetzt, also ganz offensichtlich dem – seiner Meinung nach wohl ungebildeten – Rezipienten einfach kein Fremdwort zutrauen möchte, nehmen Eisner und Urzidil mit der Wahl der Titel Deutungen vor. Eisner führt in die Gesamtsituation ein, indem er die personifizierte Erde als Sprecher identifiziert. Urzidil weist ebenfalls auf die Erde hin, die in dem Gedicht selbst nicht genannt wird. Ob es sich bei diesem Text tatsächlich um eine Allegorie handelt, sollte kritisch hinterfragt werden, denn die Freundin, die Frau, mit der hier ein verdeckter Monolog geführt wird, ist Teil der Erde, des irdischen Seins. Beide verbindet als gemeinsames Kennzeichen ihre ambivalente, verführerische, sinnliche Schönheit (Červenka 1990: 303), sodass man nur schwer behaupten kann, dass die Beziehung zwischen Bild und Bedeutung willkürlich gewählt sei.
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Dieses Gedicht, das wieder kein festes Metrum besitzt, weist – wie die Hälfte der Gedichte der Stavitelé chrámu – Reime auf, die in der zweiten und dritten Strophe durch Waisen unterbrochen werden. Die Reime sind auffallend häufig männlich, was heißt, dass einsilbige bedeutungstragende Worte die Versenden bilden. Aus Březinas Äußerungen gegenüber Emil Saudek wird deutlich, dass ihm sehr daran gelegen ist, dass in den Übertragungen nicht nur die Bilder, sondern auch der Rhythmus und der Reim erhalten bleiben.12 Um den Reim bemühen sich alle Übersetzer dieses Gedichts – mit unterschiedlichem Erfolg. Als Beispiel möge die dritte Strophe (9-16) dienen. Pro ty je dráždivá krutost mé lásky, Pick Eisner Urzidil
Für sie ist die Grausamkeit meiner Liebe, Für die ist die lechzende Grausamkeit meiner Liebe, Für die meiner Liebe aufreizende Herbheit
umdlení hrobový mír, Pick Eisner Urzidil
Ermattens Grabesnacht, der Müdigkeit lautlos Geström, Und Ohnmacht grabesstumm,
hloubka mých zraků, z nichž sálá Pick Eisner Urzidil
meiner Blicke Tiefe, so seltsam der Abgrund meiner Blicke, denen entlodert Abgrund der Blicke, drinn schwingen
osudných souhvězdí vír, Pick Eisner Urzidil
wie Sternenbilder entfacht, wirbelndes Sonnensystem, Schicksalsgestirne um.
vteřin mých číše, kde věčnosti světlo Pick Eisner Urzidil
Kelch meiner Sekunden, wo der Ewigkeit Licht meiner Sekunden Pokal, wo der Ewigkeit Leuchten Kelch der Sekunden, wo Ewigkeitsleuchten
12 U. a. Březina (2004b: 1204) an Saudek, 24.07.1918; s. Binder (1997: 88, 92). Březina empfahl seinen Übersetzern zu diesem Zwecke gar, alle zugänglichen Übertragungen des zu übersetzenden Textes zu konsultieren, um die Unzulänglichkeit der lyrischen Übertragung auf ein Minimum zu reduzieren, um Missverständnisse zu beseitigen und manch scheinbar unklare Wendung des Originals definitiv zu erhellen (Pick 1929: 25).
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do krve zlomené plá, Pick Eisner Urzidil
wie Blut sich ergießt, blutige Brechungen ließ, Gebrochen im Blute verloht
a polibků závrať, Pick Eisner Urzidil
und der Küsse Taumel und der Umarmungen Taumel Und taumelnder Küsse
sladká a zlá. Pick Eisner Urzidil
böse und süß. böse und süß. Süße und Not.
Hier wird deutlich, dass die Waisen semantisch bedeutungsvoll sind. Sie sind alle positiv konnotiert. Keinen Reimpartner haben „lásky“ [Liebe] (9), „světlo“ [Licht] (13) und „závrať“ [Taumel] (15). Das Licht bildet noch einmal im vorletzten Vers (33) den Versausgang, auch in diesem Falle ohne dass ihm Březina einen Reimpartner zuordnen würde, das heißt, dem Licht kommt eine solitäre Stellung im gesamten Gedankengebäude Březinas zu, die er hier auch auf formaler Ebene zum Ausdruck bringt. Er reimt die Gegensätze „mír“ [Ruhe; Grabesruhe] mit „vír“ [Wirbel; Sog] (10/12), also Statik mit Dynamik. Den zweiten Reim dieser Strophe bilden die ebenfalls eher negativ konnotierten Worte „sálá“ [glüht], „plá“ [lodert] und „zlá“ [böse] (11/14/16). Die glücklichste Hand bei den Reimen hat meiner Meinung nach eindeutig Pick (Březina 1913: 14f.; 1920a: 16f.), der mit einer Ausnahme ein- bis zweisilbige Worte findet, wobei „Liebe“ (9), „Licht“ (13), „Taumel“ (15) (und zusätzlich „seltsam“ [11]) wie bei Březina Waisen sind. Dieser Zusammenhang findet sich bei Urzidil nicht mehr, bei dem „Herbheit“ (9), „schwingen“ (11), „Ewigkeitsleuchten“ (13) und „Küsse“ (15) die Waisen bilden. Der Reim „grabesstumm“ / „um“ (10/12) ist semantisch sinnlos. Reime, besonders ihre Semantik, scheinen nicht Urzidils Stärke zu sein, was nicht verwundern muss, wenn man in Betracht zieht, dass er zu dieser Zeit seine eigenen Gedichte reimlos gestaltet. Die Verse der hier betrachteten Strophe enden bei Urzidil mit ein- bis fünfsilbigen Worten, die Versausgänge wirken also nicht mehr so knapp und präzise wie die des Originals. Andererseits lässt sich abermals feststellen, dass zum Beispiel „Ewigkeitsleuchten“ dieselbe Betonungsstruktur aufweist wie „věčnosti světlo“ (13). Der ausweglose schwere Klang des Verses „osuDných souhvězDí vír“ [Sog der schicksalshaften Gestirne] (12) findet in den leichten hellen „Schicksalsgestirnen“ keine Entsprechung. Es sei nur
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kurz angemerkt, dass die ersten vier Verse der Übersetzung von Urzidil nicht verständlich sind, weil dem ersten Halbsatz ein Prädikat fehlt und die Bezüge zwischen den Worten nicht stimmen.
4. Nad všemi ohni a vodami … – Über den Feuern und Wassern all …
Das letzte Gedicht, das in der Übertragung Urzidils veröffentlicht worden ist, ist Nad všemi ohni a vodami …, dessen Titel Urzidil – im Gegensatz zu seinen Kollegen Pick (Březina 1920a: 20f.) und Mágr (Březina 1921), die ihn mit Über allen Feuern und Wassern übersetzen – unter Beibehaltung des Rhythmus des Originals – mit Über den Feuern und Wassern all … wiedergibt. Wenn ich keine Zeitschriftenveröffentlichung von Pick übersehen habe, ist Urzidil der erste, der eine Übertragung dieses Textes vorlegt. Er spielt im Gesamtwerk Březinas nicht so eine herausragende Rolle wie vor allem die Vigilie, mit denen ihn verbindet, dass er im vers libre geschrieben ist. Es sei auf den Beginn der letzten Strophe dieses Gedichtes hingewiesen, der sich dennoch durch eine stark rhythmisierte Struktur auszeichnet. Auf den Rhythmus wird in dem ersten Vers dieses Ausschnitts (35-44) explizit hingewiesen. Sladkost věčného rythmu, jímž dýchají stejně slunce i růže, srdce i moře, systémy světů, příliv i odliv světla: etherné vlny, tepající o bok tajemné lodi,
Die aus dem vorherigen Gedicht bereits bekannte solitäre Stellung des Lichts, die Urzidil als einziger Übersetzer nicht übernimmt, wird hier bestätigt, denn das Licht bildet nicht nur einen eigenen Vers, sondern stellt zugleich eine Pause in dem gleichmäßigen Rhythmus dar, der mit Vers 37 einsetzt und im Vers 42 seine Fortsetzung findet, bevor im darauffolgenden Vers ein erster Hinweis
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auf seine Auflösung gegeben wird. Wider Erwarten erscheint zwar Vers 44 noch einmal in alter rhythmischer Gestalt, danach löst sich die rhythmische Struktur jedoch endgültig auf. Urzidil
Pick
Süße ewigen Rhythmus, Süße des ewigen Rhythmus, gleicherweise geatmet den gleicherweis atmen von Sonne und Rosen, [?] Sonne und Rose, Herzen und Meeren, Herzen und Meere, Weltensystemen, Weltensysteme, Ebben und Fluten des Ebbe und Flut des Lichts: Lichtes: Wellen des Äthers ätherische Wogen [?] anschlagend an Hüften schlagend die Flanke mystischen Schiffes, des heimlichen Schiffes, [?]
Mágr Die Süße des ewigen Rhythmus, mit dem gleichermaßen atmen Sonnen und Rosen, Herzen und Meere, Systeme von Welten, [?] Flut und Ebbe [?] des Lichtes: die ätherischen Wellen[?] an die Flanken schlagend [?] des geheimnisvollen Schiffes, [?]
Wie man an den eingefügten Fragezeichen sehen kann, meistert Pick den Teil bis „světla“ (41), den folgenden Teil Urzidil rhythmisch am besten. Bei Mágr kann man den ursprünglichen Rhythmus kaum noch ahnen. Dies möge als geraffter Blick auf die Gedichtübertragungen genügen.
5. Zrcadlení v hloubce – Spiegelung in der Tiefe
Noch geraffter fällt nun der Blick auf die Übersetzung des Essays Zrcadlení v hloubce aus. Die Redaktion der Prager Presse schreibt die Autorschaft für diese Übersetzung Otto Pick zu (redaktionelle Anmerkung zu Mágr 1921), und Pick hat nach eigener Aussage diesen Text auch übersetzt, denn er drückt 1929 die Hoffnung aus, dass bald weitere Březina-Übersetzungen veröffentlicht werden können, so auch der von ihm bereits übersetzte (es fragt sich, ob auch schon publizierte) Essay Zrcadlení v hloubce (Pick 1929: 26). In dem Anbruch, in dem die Übersetzung 1920 erscheint, wird kein Übersetzer genannt. Der Originaltext ist 1906 in den Volné směry [Freien Richtungen] erschienen, das heißt
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drei Jahre nach dem Erscheinen des einzigen zu Lebzeiten Březinas herausgegebenen Essaybandes Hudba pramenů [Musik der Quellen], deshalb fand er erst Eingang in den postumen Essayband Skryté dějiny [Verborgene Geschichte] (1931).13 Březinas Essays reichen weit in das Gebiet der Dichtung hinein. Sie sollten nicht als Kommentare zu seinen Gedichten gelesen, sondern als eigenständige künstlerische Gebilde betrachtet werden, denn Březina schafft mit ihnen einen vollkommen neuen Typus von Essayistik (Holman 2003: 94). Der Autor bezeichnet seinen Text selbst als Meditation (Březina 2004b: 1119). In dieser geht es um die Liebe als Inspiration der Kunst, um das Erkennen der in den Erscheinungen und Dingen verborgenen Schönheit. Die Übertragung des Essays erweist sich als sehr korrekt – nicht nur im philologischen, sondern auch im ästhetischen Sinne. Es ist ein Text entstanden, der dem Original in Nichts an Schönheit nachsteht. In diesem Falle werden gleiche Worte gleich wiedergegeben, so dass sie den Text dem Original entsprechend als Signalworte durchziehen. Man stolpert über keine merkwürdigen Konstruktionen oder unverständlichen Wendungen. Die syntaktischen Strukturen werden weitgehend übernommen, so dass sich der zum Teil atemlose Rhythmus, der durch Aufzählungen und Nebensätze entsteht, weil die Totalität des Seins und verschiedener Formen von Genialität eingefangen werden soll, auch in dem deutschen Text wiederfindet. Wenn die Bibliographen, die im Kontakt mit Urzidil standen (MacháčkováRiegerová 1972: 216; 1999: 139; Trapp 1999: 189), dennoch keine konkreteren Hinweise auf die Urheberschaft Urzidils haben sollten, als dass sein Name in dem Anbruch fällt, weil er in ihm Gedichte publiziert, würde ich aufgrund der stilistischen Analyse gern der Redaktion der Prager Presse zustimmen, dass Otto Pick der Übersetzer dieses Textes ist.14
13 Zu dem Entstehungshintergrund dieses Textes s. Králík (1948: 406-415) und Holman (2003: 37). Hier verwendet wurde die Ausgabe Březina (1970: 13-19). 14 Ein Vergleich mit weiteren Übertragungen Urzidils aus dem Tschechischen, bei denen es sich ausschließlich um Sachtexte handelt (z. B. Trapp 1999: Nr. 428, 475, 573), dürfte zu keinem anderen Ergebnis führen, denn der Essay zeichnet sich – wie die Gedichte und im Gegensatz zu den nichtliterarischen Texten – durch hohe Poetizität aus. In sprachlich-stilistischer Hinsicht ähneln sich also die Texte Březinas trotz ihrer unterschiedlichen äußeren Form. Dies trifft jedoch nicht auf die hier untersuchten Übertragungen zu.
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6. Fazit
Im Hinblick auf die Gedichtübertragungen Urzidils – er beginnt und beendet seine Tätigkeit als Übersetzer tschechischer Lyrik mit den BřezinaÜbertragungen – lässt sich zusammenfassend sagen, dass er 1. der Übersetzer ist, der die meisten Veränderungen an der Vers- und Strophengliederung vornimmt; dass er 2. Březinas Ausdruck ‚verbessert‘, indem er mehr variiert, was jedoch dazu führt, dass einzelne Worte nicht mehr als feste Begriffe erkennbar sind; dass er 3. zum Teil merkwürdige Worte und Wendungen bildet, die das Verständnis erheblich erschweren, das heißt, dass er nicht wie andere Übersetzer Dunkles aufhellt (Binder 1997: 96 [über Saudek]), sondern verdunkelt; dass er 4. parallele syntaktische Strukturen auflöst, wodurch innertextliche Bezüge – ähnlich wie bei den nicht repetierten Begriffen – verschleiert werden; dass er 5. die emotionale Erregung und Ekstase etwas dämpft; – 6. zeichnen sich seine Übertragungen durch einen sich dem Original nähernden dichten Ausdruck aus und 7. gelingt es ihm hervorragend, den Rhythmus der Verse Březinas nachzubilden. Es ist offensichtlich, dass er diesem letzten Aspekt seiner übersetzerischen Tätigkeit alle anderen Aspekte unterordnet, die in nicht wenigen Fällen darunter leiden müssen. Antonín Macek kann also zu 50 % zugestimmt werden: Die innere Musik behält Urzidil bei, die Bilder nicht immer. Besonders bedauernswert ist, dass uns nur ein gereimter Text in der Übertragung Urzidils bekannt ist, auf dessen Grundlage sich die Aussage über Urzidils Reimnot natürlich nicht verallgemeinern lässt. Es scheint mir nicht nur aus diesem Grunde lohnenswert, weiter nach dem Verbleib des Übersetzungsmanuskripts der Stavitelé chrámu zu forschen.
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Quellen
PNP LA: Literární archiv Památníku národního písemnictví [Literaturarchiv des Museums des nationalen Schrifttums], Prag.
Literatur
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Michael Havlin
Johannes Urzidil – politischer Kommentator der deutsch-tschechischen Frage in der Tschechoslowakei (1918-1939)
Der 1896 in Prag geborene und 1970 in Rom verstorbene Schriftsteller Johannes Urzidil gilt als der „am besten tschechischsprechende deutschsprachige Autor aus Prag – und gleichzeitig war er der beste Kenner der tschechischen Kultur unter ihnen.“ (Měšťan 1999: 56) Zweisprachig aufgewachsen im tschechisch geprägten Prager Stadtteil Žižkov1 hat Urzidil ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen und zusätzlich – nach letzter Zählung2 – über 1.300 Studien und Beiträge zu Fragen der Kunst, Literatur und Politik. Urzidil schrieb vor allem auf Deutsch, jedoch sind auch Veröffentlichungen auf Tschechisch sowie Übersetzungen in alle Weltsprachen erhalten. Es ist vor allem das Verdienst von Gerhard Trapp, dass Urzidil zunehmend nicht nur als literarischer Autor, sondern auch als Publizist gewürdigt wird (Trapp 1990; 1996; 1999; 2003). Noch 1990 galt Urzidils publizistisches Werk als „unbeachtet“ (Trapp 1990: 42). Allerdings steht angesichts des erst in den letzten Jahren bekannt und zugänglich gemachten Umfangs an Textbeiträgen Urzidils eine intensive Auseinandersetzung mit seinem publizistischen Schaffen aus. Im breiteren Verständnis des Verbs ‚publizieren‘ – im Sinne von öffentlich machen – kann der folgende Aufsatz nur einen Aspekt der thematisch und funktional vielschichtigen Veröffentlichungstätigkeit Urzidils, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte, fokussieren: Urzidil als politischer Kommentator der deutsch-tschechischen Frage in der Tschechoslowakischen
1 Zur Biographie Urzidils s. Johann/Schneider (2010: 13-68). 2 Der große Aktionsradius und der Exil-Lebensweg Urzidils lassen die Anzahl der bekannten publizistischen Beiträge durch neue Funde ständig steigen: Im Jahre 1990 waren etwa 850 Veröffentlichungen (Trapp 1990: 42) registriert, im Jahre 2003 1.300 (Trapp 2003: 174). Eine aktuelle Bibliographie der bekannten Veröffentlichungen Urzidils wird von der Johannes-Urzidil-Gesellschaft Horní Planá [Oberplan] bereit gehalten: .
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Republik bis zu seinem 1939 erzwungenen Gang ins Exil nach Großbritannien und in New York.
1. Urzidil als politischer Kommentator in der Tschechoslowakei
Johannes Urzidil meldet sich erstmalig mit seinem Artikel Die Deutschen in der Tschechoslowakei, der am 1. März 1921 im Berliner Börsen-Courier (BBC) unter dem Kürzel ‚URZ‘ erschien, politisch zu Wort (BBC 100, 01.03.1921: 1f.). Fast schon programmatisch wendet er die sprachlichen und textrhetorischen Grundprinzipien seiner Beiträge der nächsten 18 Jahre an: Redegewandt schlägt Urzidil einen weiten historisch-mentalitätsgeschichtlichen Bogen von der böhmischmittelalterlichen Reformationsbewegung über Palackýs Geschichtswerk und Masaryks Humanitätsideal hin zu aktuellen politischen Ereignissen – im vorliegenden Fall die Vorbereitungen zur tschechoslowakischen Volkszählung, die Urzidil als sinn- und nutzlos erachtet und die ihn an das erste Kapitel des Evangelisten Lukas erinnert: „Und es war die erste aller Zählungen überhaupt … und jedermann ging, daß er sich zählen lasse, ein jeglicher in seine Stadt.“ (BBC 100, 01.03.1921: 1f., Die Deutschen in der Tschechoslowakei ) Es ist wohl diesem Spannungsgefüge aus landeskundlich-kulturellem Hintergrundwissen, sachlicher Information, persönlicher Wertung und fast schon literarischer Sprachästhetik zu verdanken, dass Urzidils Beiträge bei den Lesern des Berliner Börsen-Couriers auf so große Resonanz stießen, dass sie regelmäßig einen zwei- bis dreispaltigen Umfang annahmen und prominent auf der Titel- beziehungsweise der zweiten Seite platziert wurden. Bis zur Auflösung des linksliberalen Berliner Börsen-Couriers im Jahre 1933 veröffentlichte Urzidil dort nach aktuellem Kenntnisstand 144 Beiträge, davon etwa zwei Drittel Stellungnahmen zu tagespolitischen Ereignissen in der Tschechoslowakei, die den Status Urzidils als politischer Kommentator begründeten (Trapp 2003: 180). Regelmäßig publizierte Urzidil auch unter dem Pseudonym ‚Jean Dupont‘ in der kleinen Genfer Tageszeitung Journal des Nations (JdN) – in den Jahren 1936 bis 1938 erschienen dort 38 antinationalsozialistisch geprägte Artikel (Trapp 1996: 23). Interessant ist, dass sich unter den weiteren 80 Beiträgen Urzidils für das Prager Tagblatt in den Jahren 1913-39 und 115 Beiträgen für die Prager Zeitung Bohemia in den Jahren 1923-38 jedoch nicht ein einziger
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dezidiert politischer Artikel findet (Trapp 2003: 180). Damit erschienen nahezu alle tagesaktuellen Kommentare Urzidils unter Pseudonym oder ohne Autorennennung („von unserem Prager Mitarbeiter“, „von unserem Prager Berichterstatter“, „von unserem Korrespondenten“) fast ausschließlich im Ausland und nicht in der Tschechoslowakei selbst. Ein Grund ist sicherlich Urzidils Anstellung als Pressereferent und später Pressebeirat beim Deutschen Generalkonsulat bzw. bei der Deutschen Gesandtschaft in Prag: Das Auswärtige Amt gab eine Anweisung heraus, Urzidils Artikel in der deutschen Presse entweder mit einem Pseudonym oder überhaupt nicht zu zeichnen (Trapp 1990: 47). Ein zweiter Grund mag die nicht unbegründete Befürchtung Urzidils gewesen sein, mit seinen direkten und nicht selten spitzen Kommentaren, die sich gleichermaßen gegen Vertreter aller Sprachgruppen der Republik richteten, in seiner Heimat den Verlust von Zutrauen zu riskieren. Das politisch-publizistische Werk Urzidils lässt sich nach mehreren Gesichtspunkten ordnen und klassifizieren. Bei Anlegung einer chronologischen Beurteilung kommt Trapp zu dem Schluss, dass Urzidils Tendenz in den Jahren 1913-20 pro-tschechisch, 1921-33 prodeutsch, 1934-38 ambivalent, 193943 protschechisch und nach 1945 ohne deutliche Stellungnahme war (Trapp 1990: 50). Systematischer erscheint es jedoch, sich über eine Binnendifferenzierung den nationalen Adressaten Urzidils über den hier besprochenen Zeitraum 1918-39 zuzuwenden.
2. Urzidil und die sudetendeutsche Politik
Urzidil nahm als Autor und als Pressereferent lebhaften Anteil an den kleinen und großen Entwicklungen der sudetendeutschen Politik in der Tschechoslowakei. Dabei äußerte er sich von seinem persönlichen Standpunkt aus mal lobend, mal tadelnd zur Politik der „Deutschen in der Tschechoslowakei“, „tschechoslowakischen Deutschen“, „Sudetendeutschen“ und „Deutschböhmen“, wie er seine deutschsprachigen Mitbürger zu nennen pflegte.3 Inhaltlich formulierte Urzidil bereits 1921 seine auch später in verschiedenen Variationen immer wiederkehrende Hoffnung auf eine politische Aufwertung der 3 Einzelbelege im folgenden Haupttext.
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Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei: So müssten die „tschechoslowakischen Deutschen“ den „tschechoslowakischen Staat von innen erobern“, sie müssten „imstande sein, aus eigener Kraft den entscheidenden Faktor im Staatsleben“ zu stellen, um zum „Zünglein an der tschechoslowakischen Staatswaage“ zu werden (BBC 100, 01.03.1921: 2, Die Deutschen in der Tschechoslowakei ). Denn – so meinte Urzidil in einem weiteren Aufsatz 1922 erkannt zu haben – der Kampf der „Deutschböhmen“ gilt „im wesentlichen nicht dem Staate, sondern dem System. Mit dem Staate würden sie sich abfinden, ja man kann die Behauptung aufstellen, daß sie zu seinen nützlichsten Bürgern gehören würden.“ (Urzidil 1922: 163) Mit solchen Bekenntnissen zu einem nationalen Ausgleich und zu politischer Teilnahme nahm Urzidil früh die Ära des sogenannten ‚Aktivismus‘ vorweg, dem 1926 realisierten Eintritt mehrerer sudetendeutscher Parteien in die tschechoslowakische Regierung (Kracik 1999). Diese sich im Juli 1926 abzeichnende Zusammenarbeit von tschechischen und deutschen Parteien wurde von Urzidil ausdrücklich gelobt: Überwunden scheine im Parlament die „bisher hartnäckig beibehaltene, von nationalen Gesichtspunkten bestimmte Gruppierung“, die vermutlich „einer sozialen und wirtschaftlichen Gliederung Platz machen“ werde, „bei welcher die nationalen Momente in den Hintergrund“ treten werden (BBC 301, 02.07.1926: 1, Tschechen und Sudetendeutsche). Der anschließend im Oktober 1926 neu ernannten Prager Regierung mit erstmalig deutschen, tschechischen und slowakischen Ministern unter dem Premierminister Antonín Švehla wurde von Urzidil gar eine „historische Bedeutung“ zugemessen: Die Freunde der Völkerversöhnung werden den bekundeten Willen der sudetendeutschen Aktivisten zur Mitregierung und zur Uebernahme der Verantwortung für die Teilnahme an der Regierungsmehrheit nur begrüßen und mit den besten Wünschen begleiten können. Wenn man auch darüber im Zweifel sein kann, ob die psychologische Verfassung beider Nationen schon reif genug ist, um sich zugunsten einer gedeihlichen Zusammenarbeit notwendige Opfer der Selbstbeschränkung aufzuerlegen. […] so liegt doch der Vorteil des bedeutsamen deutschen Schrittes in der Schaffung eines Präjudiziums, das hoffentlich die Grundlage für eine brauchbare Tradition der Zusammenarbeit bilden wird. (BBC 480, 14.10.1926: 2, Sudetendeutscher Aktivismus)
Mit solchen – bei aller Skepsis – fast überschwänglichen Lobesworten auf die Aktivisten und die beiden neu ins Amt eingeführten deutschen Minister Franz Spina und Robert Mayr-Harting,4 die sich von nun an allen Fragen zu widmen haben, die dazu dienen, „im Sinne wahrer Demokratie, im Sinne individueller und genereller Gleichberechtigung zu wirken“, begleitete Urzidil im Oktober 4 Zu den Biographien Spinas und Mayr-Hartings s. Bachmann (1976) und Höhne/Udolph (2011), bzw. Šebek (1999).
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1926 die von ihm erwartete „Verwirklichung eines gerechten Ausgleichs“ und die politische Aufwertung des Sudetendeutschtums (BBC 480, 14.10.1926: 2, Sudetendeutscher Aktivismus). Damit ging eine Phase zu Ende, in der sich Urzidil durchaus auch kritisch zur „Taktik der Deutschböhmen“ geäußert hatte: So fehle es deren politischen Vertretern sowohl an „Zähigkeit, auf den einmal eingenommenen Positionen zu verharren“, als auch an dem „genügenden Interesse für eine politische Kleinarbeit.“ (BBC 207, 05.05.1921: 1f., Die Taktik der Deutschböhmen) Besonders störten Urzidil die deutsche „Kriegspsychose“, die Art der „Pultdeklamationen und der sich inkurabel gebärende Teutonismus, der politisch alles verdirbt, was ihm unter die Hände kommt.“ (BBC 207, 05.05.1921: 1f., Die Taktik der Deutschböhmen) Auch haben es die Deutschen bislang versäumt, zum Staat ein „völlig eindeutiges“ Verhältnis einzunehmen, was aber nicht daran liegen würde, dass sie ihn etwa „als ein Provisorium ansehen (dazu sind weder sie unklug genug, noch würden es die Tschechen verdienen)“ (Urzidil 1922:164). Tatsächlich sah jedoch im Jahre 1922 ein sicherlich nicht unbeträchtlicher Teil der Sudetendeutschen die Tschechoslowakei als eine historisch vorübergehende Erscheinung an, so dass Urzidils diesbezügliche Einschätzung eher von seinem Wunschdenken geleitet worden zu sein scheint. Ein neues kritisches Kapitel der Beziehung Urzidils zur Politik der Sudetendeutschen wurde in den Jahren nach 1933 eröffnet. Hatte er noch vor über einem Jahrzehnt davor gewarnt, dass allzu viele Landsleute „auf einen deus ex machina“ hoffen, der „unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht erscheinen kann“ (BBC 207, 05.05.1921: 1, Die Taktik der Deutschböhmen), wandelte sich die geopolitische und damit auch Urzidils persönliche Lage grundlegend mit der Machtergreifung Adolf Hitlers im benachbarten Deutschen Reich. Urzidil wurde wegen seines jüdischen Familienhintergrundes – seine Mutter war eine zum Katholizismus konvertierte Jüdin gewesen – und seiner politischen Stellungnahmen bereits im Januar 1934 aus dem reichsdeutschen Staatsdienst an der deutschen Gesandtschaft in Prag entlassen und begann alsbald gegen den Faschismus sowohl im In- als auch im Ausland publizistisch anzuschreiben. Die deutlichsten Worte fand er unter dem Pseudonym ‚Jean Dupont‘ im Genfer Journal des Nations : In zahlreichen Artikeln hob er unermüdlich die aktivistisch-demokratischen Kräfte im Sudetendeutschtum hervor, die an einer Vereinigung mit der nationalsozialistischen Diktatur im Deutschen Reich kein Interesse haben konnten: So habe die faschistische Sudetendeutsche Partei unter ihrem Führer Konrad Henlein einiges dazu beigetragen, die „Vertrauenskrise zwischen den beiden Nationen zu vergrößern“, die sudetendeutsche Politik dürfe jedoch weiterhin „nicht in London oder Berlin gemacht werden,
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sondern in Prag.“ (JdN 1514, 27.08.1936: 1, Le président Bénès chez les Allemands des Sudètes [Präsident Beneš bei den Sudetendeutschen]).5 Selbst nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 überschrieb Urzidil einen seiner letzten politischen Kommentare pflichtoptimistisch mit dem Titel: Die Tschechoslowakei verliert ihre Ruhe nicht und zeigte sich sicher, dass die Tschechoslowakische Republik ähnlich wie Serbien im Ersten Weltkrieg siegreich aus den ihr bevorstehenden Kämpfen hervorgehen werde (JdN 1994, 05.04.1938: 1, La Tchécoslovaquie ne perd pas son calme [Die Tschechoslowakei verliert nicht die Ruhe]). Aber auch in der Tschechoslowakei veröffentlichte Urzidil einige wenige Artikel gegen die nationalsozialistisch-völkische Ideologie. Im Gegensatz zu seinen politisch engagierten Artikeln im Journal des Nations mied er rhetorische Spitzen und gab seinen Kommentaren eine feine kulturell-historische Argumentation. So führte er beispielsweise in seinem Artikel Sprache und Völkerschicksal in der Zeitung Prager Tagblatt (PT) aus, dass es im französischsprachigen Teil Belgiens aufgrund einer identitätsstiftenden Literaturtradition keine Anschlussbewegung an Frankreich gebe (PT 43, 20.02.1935:1). Bewusst sparte Urzidil die sudetendeutsch-reichsdeutsche Identitätsfrage aus, positionierte sich aber mit dem belgischen Gegenbeispiel. Und in ähnlicher Weise kann auch der Artikel Das Prager Deutschtum als Antwort Urzidils auf Henleins sogenannte ‚Kulturrede‘ vom 23. Februar 1936 verstanden werden. Während Henlein politisch auf die „Verwirklichung der Volksgemeinschaft“ mit dem Deutschen Reich setzte und kulturell die „Züchtung“ einer „sudetendeutschen Sonderkultur“ vehement ablehnte,6 umriss Urzidil in seinem drei Wochen später erschienen Artikel ebenfalls die selbstverständliche Zugehörigkeit des Sudetendeutschtums zur deutschen „Kultureinheit“, hob jedoch explizit die Gemeinschaft der über drei Millionen Deutschen in einem selbständigen tschechoslowakischen Staat hervor und betonte damit die entwicklungsgeschichtliche „Sonderstellung innerhalb des Deutschtums“ (PT 64, 15.03.1936: 1, Das Prager Deutschtum). Wie bereits Trapp (1996: 34) festgestellt hat, entsprach anscheinend eine direktere „ungeschützte, offene Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus“ einfach nicht Urzidils Mentalität.
5 Alle Übersetzungen aus dem Französischen von Michael Havlin. 6 Vortrag Henleins im Deutschen Haus, Prag, 23.02.1936 (Henlein 1937: 133).
Johannes Urzidil – politischer Kommentator
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3. Urzidil und die tschechoslowakische Politik
In noch viel höherem Maße als gegenüber der sudetendeutschen Politik übte Urzidil harsche Kritik bezüglich der tschechoslowakischen Politik bzw. des tschechoslowakischen Staates, wobei er das Adjektiv ‚tschechoslowakisch‘ in der ersten Hälfte der 1920er Jahre selbst nur selten verwendete. In verschiedenen Variationen wiederholte er seine Hauptaussage, dass der „tschechische Staat“ (BBC 100, 01.03.1921: 2, Die Deutschen in der Tschechoslowakei ), die „tschechische Regierung“ (BBC 383, 18.08.1921: 2, Deutsche und Tschechen), die „tschechische Mehrheitsmaschine“ (BBC 383, 18.08.1921: 2, Deutsche und Tschechen), die „tschechische Öffentlichkeit“ (BBC 207, 05.05.1921: 1, Die Taktik der Deutschböhmen) und natürlich die „Tschechen“ Schuld an der Entrechtung der sudetendeutschen Bevölkerung tragen. Die Slowakei und deren Bewohner waren für Urzidil nur Leidensgenossen auf dem „Prokrustesbett des Prager Zentralismus“, gegängelt von einem Heer abkommandierter zweitklassiger tschechischer Bürokraten (Urzidil 1922: 162). Obwohl er für die „tschechische Selbständigkeit“, die er als in der Geschichte „lange vorbereitet und gut argumentiert“ (BBC 100, 01.03.1921: 2, Die Deutschen in der Tschechoslowakei ) ansah, grundsätzlich Sympathien hegte, stieß die in den Jahren 1918 bis 1920 formulierte und ausgestaltete Staatlichkeit der Tschechoslowakei bei Urzidil auf größten Widerstand. Sein Hauptangriffspunkt wurde die „These vom tschechischen Nationalstaat“, für die „Tschechen vor allem als Heimat geschaffen, für die übrigen Nationalen aber bloß von der Bedeutung einer Gaststätte“ (Urzidil 1922: 160). Die daraus abgeleitete Tagespolitik mache die Sudetendeutschen zu Opfern eines „in der Tschechoslowakei herrschenden antideutschen Regimes“ (BBC 383, 18.08.1921: 1, Deutsche und Tschechen). Dieses sei gekennzeichnet durch „innerpolitische Hetzterminologien“ sowie eine „systematische Tschechisierungspraxis in Bürokratie, Wirtschaft und Schule“ (Urzidil 1922: 160f.) beziehungsweise eine offizielle und inoffizielle „Entnationalisierungspraxis den Deutschen ihres Staates gegenüber“, so dass Urzidil immer wieder voller Empörung dem „tschechischen Volke und seiner Regierung“ zurief: „Sunt certi denique fines!“ [Schließlich gibt es bestimmte Grenzen!] (BBC 383, 18.8.1921: 1f., Deutsche und Tschechen). Auch für die politischen Vertreter des Tschechentums fand Urzidil in der ersten Hälfte der 1920er Jahre kaum ein gutes Wort: Die verschiedenen sich abwechselnden Regierungen kritisierte er als „unfähig“, einzig den mehrmaligen Premierminister Antonín Švehla schätze er als
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„taktisch raffiniert“ (BBC 383, 18.08.1921: 2, Deutsche und Tschechen). Und auch dem Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk warf er vor, sich ungenügend für die deutschen Interessen einzusetzen: Denn zwischen den humanistischen Ueberzeugungen des wohlmeinenden Staatsoberhauptes und der Praxis der politischen und administrativen Exekutive gähnt der Abgrund des chauvinistischen Nationalismus. (BBC 352, 30.07.1925: 1, Masaryk und die Sudetendeutschen)
Erst unter dem ständig wachsenden Druck des Dritten Reiches nach 1933 bezog Urzidil eine versöhnlichere Position und wandelte sich dabei fast schon zum Apologeten der Tschechoslowakei, ihrer Repräsentanten und Institutionen: So sprach Urzidil nicht nur ganz selbstverständlich von „unserem Staat“ (PT 64, 15.03.1936: 1, Das Prager Deutschtum), sondern auch vom Präsidenten Edvard Beneš als „Président de tous“ [Dem Präsident aller] (JdN 1460, 23.06.1936: 1, Nouvelles perspectives de la collaboration nationale en Tchécoslovaquie [Neue Perspektiven der nationalen Zusammenarbeit in der Tschechoslowakei]). Die „demokratische Verfassung“ garantiere den Sudetendeutschen nicht nur ein „Mindestmaß an Rechten“, sondern halte alles bereit, was man zu einer „fruchtbaren Zusammenarbeit der verschiedenen Völker“ im Staat benötige (JdN 1651, 12.02.1937: 3, Vers une solution du problème allemand? [Auf dem Weg zu einer Lösung des deutschen Problems?]). Leider würden die allen Bürgern zustehenden Freiheiten der Presse, der Versammlung und der Meinung von Henlein und seinen Komplizen missbraucht und hätten eine Atmosphäre der „Angst“ geschaffen. Jedoch müssten die Nationalitäten zusammenstehen, um den Staat gemeinsam gegen die außen- und innenpolitische Gefährdung zu verteidigen: Die Rettung der Demokratie besteht immer in der Rettung der Demokraten und nicht in Zugeständnissen an ihre Feinde. (JdN 2029, 18.05.1938: 5, A propos de la question sudétoallemande [Zur sudetendeutschen Frage])
4. Urzidil und die Schweizerisierung der Tschechoslowakei
Urzidil verstand sich jedoch nicht nur als Kommentator der Nationalitäten frage, sondern suchte auch aktiv das deutsch-tschechische Verhältnis mit seiner Publizistik zu gestalten. In dieser Absicht beteiligte er sich mit zahlreichen
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Beiträgen am tschechoslowakischen Schweizdiskurs, der Frage der Vorbildfunktion der helvetischen Eidgenossenschaft für die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit (Havlin 2011). Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Anerkennung der Existenz der Tschechoslowakei in ihrer territorialen und sprachlichen Zusammensetzung als unabänderliches Ergebnis der gemeinsamen historischen Entwicklung Böhmens. Für die Sudetendeutschen hieße dies, dass sie endlich aufhören sollten, über die „Reichsgrenze [zu] schielen und den Anschluß an das Reich als Rettung aus ihrer Lage [zu] erhoffen“. Besser sie würden spät als nie ihre „ausgesprochene Vermittlerrolle zwischen Deutschtum und Slawentum“ (Urzidil 1922: 168) einnehmen und sich ihrer „großen historischen Mission“ zuwenden, die sich durch ihre „Position zwischen der slawischen und der deutschen Welt“ ergibt (JdN 1387, 27.03.1936: 2, Les Allemands en Tchécoslovaquie [Die Deutschen in der Tschechoslowakei]). Dazu müssten jedoch ähnlich wie in der Schweiz alle Bewohner des Landes – „Tschechen, Deutsche, Slowaken, Ungarn, Karpathorussen“ – zunächst „die Idee einer kulturellen Schicksalsgemeinschaft entwickeln.“7 Denn schließlich werde laut Urzidil die „Zugehörigkeit zu einem völkischen Gemeinschaftsschicksal […] nicht bloß durch die Sprache, sondern auch durch die Geschichte bestimmt.“ (PT 43, 20.02.1935: 1, Sprache und Völkerschicksal ) Unter dem drohenden Eindruck des Faschismus sollten sich die Sudetendeutschen politisch ein Beispiel an der „Schweizer Demokratie“ nehmen, welche die „Aufrechterhaltung der persönlichen Freiheit und durch sie der Humanität“ garantiert (Urzidil 1936: 56). Für die Tschechen hieße die Anerkennung jener „kulturellen Schicksalsgemeinschaft“ zunächst den Verzicht auf das „Phantom eines Nationalstaates“ der Tschechoslowakei sowie die Einnahme der Rolle eines „primus inter pares“ unter den Nationalitäten des Staates (Urzidil 1925: 524). Die Abkehr vom Nationalen und die Zuwendung zum Übernationalen in Form einer „Schweizerisierung der Republik“ müsse alle Lebens- und Politikbereiche umfassen und dürfe selbst vor einer neuen Staatsbezeichnung nicht haltmachen. Urzidils Vorschlag lautete: „freier tschechisch-deutsch-slowakisch-magyrischer Staat“ oder einfach kurz „Moldaurepublik“ (Urzidil 1922: 170f.). Alle „Nationen des Staates“ sollten an der Zentralverwaltung gleichmäßig beteiligt, eine außenpolitische Neutralitätspolitik analog zur Schweiz eingeführt und „vernünftige Autonomien“ für die nationalen Gruppen gewährt werden (Urzidil 1925: 524f.). Weiterhin würde eine neue Schul- und Sprachpolitik mit Anreizen zum 7 Der Bund. Eidgenössisches Zentralblat und Berner Zeitung (1935/71, 12.02.: 1f., Im Geiste Pestalozzis).
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Erlernen des jeweils anderen Idioms den Weg zur wahren Sendung der Tschechoslowakei weisen: Doch darf die Behauptung gewagt werden, daß die Tschechoslowakei […] alle Voraussetzungen dafür bietet, in ihrem Kontinentalabschnitt für Deutsche, Slaven und Ungarn einen ähnlichen sittlichen und kulturellen Auftrag zu erfüllen, wie die Schweiz ihn für Deutsche, Franzosen und Italiener erfüllt. […] Den einzelnen volklichen Individualitäten kommt in einem national gemischten Staat die erhabene Vermittlerrolle zu, das Kulturgut ihres Volkes den anderen Völkern zu überliefern und zugänglich zu machen. Sie sollen zugleich die Möglichkeit haben, bei voller Wahrung ihrer Eigenart sich an den Leistungen und Ergebnissen der geistigen und materiellen Kultur ihrer Mitvölker auf dem Wege eines würdigen Wettstreits gegenseitig zu steigern. Dazu gehört vor allem die gegenseitige Kenntnis, insbesondere die des wichtigen Vertrauensmediums: der Sprache. (Urzidil 1935: 5f.)
5. Zusammenfassung
Johannes Urzidil trat in der Zwischenkriegszeit publizistisch als arbeitsamer Kommentator in Erscheinung, der abseits von nationalitäten- und parteipolitischen Doktrinen individuelle Akzente in der Beurteilung der deutsch-tschechischen Frage setzte. Spitz und nicht selten polemisch kritisierte er sowohl die Politik der Sudetendeutschen als auch der Tschechen, wobei er letztere besonders hart für die aus seiner Sicht verfehlte Minderheitenpolitik angriff. Unter diesem Eindruck muss die Meinung relativiert werden, dass Urzidil mit seiner Publizistik tatsächlich immer versuchte, „zwischen den einzelnen Völkern in der Republik eher zu nivellieren.“ (Pečený 2006: 180) Dagegen war Urzidils innerer Maßstab in der Beurteilung der Höhen und Tiefen der tschechoslowakischen und sudetendeutschen Nationalitätenpolitik seine Vision einer nie umgesetzten „Schweizerisierung“ der Republik, welche die gleiche Teilhabe und -nahme aller Bürger am Staatsgeschehen sowie an einer interkulturellen Sendung der Tschechoslowakei hätte ermöglichen sollen.
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Gaëlle Vassogne
Hinternationalismus und Nationalhumanismus. Johannes Urzidil und Max Brod über die Nationalitätenfrage
Bei den deutschsprachigen Autoren Prags kann man ein Gefühl des Zusammengehörens feststellen, das durch den häufigen Gebrauch des Pronomens ‚wir‘ deutlich wird. Man kann z. B. an Johannes Urzidils Ausdruck „Wir in Prag“ (Helling 1981: 9-12; Tunner 1996) oder an die von Paul Leppin gegründete Zeitschrift Wir denken. Dieses Gefühl ist stark mit der Natur der Stadt verbunden. In seinem Vortrag Der lebendige Anteil des jüdischen Prag an der neueren deutschen Literatur schreibt Urzidil: Soweit sie [die deutsch-jüdischen Autoren] selbst nicht aus Prag, sondern sonstwoher aus den böhmischen Ländern stammten, atmeten sie doch im Rhythmus dieser Stadt. (Urzidil 1967: 280f.)1
Um die Jahrhundertwende ist dieser Rhythmus durch das Scheitern des Liberalismus und das Anschwellen des nationalen Streits charakterisiert. Sowohl Urzidil als auch Max Brod fühlen diese Stimmung und leiden oft unter ihr. In den einleitenden Seiten seines Prager Triptychon schreibt Urzidil rückblickend: Die Kaiserstadt Wien galt als gemütlich, aber die Königs- und Kaiserstadt Prag war dies gewiß nicht, weder äußerlich noch innerlich, sondern sie war zackig, schroff, kämpferisch und unheimlich. Es mochte wunderbar spannend und wundersam sein, dort zu leben, aber gemütlich war es nicht. […] Tschechen und Deutsche hatten einander gegenseitig malträtiert, beide malträtierten die Juden […]. In der gereizten Atmosphäre konnten sich in jedem Augenblick die gleichgültigsten Gegenstände, Angelegenheiten, ja bloße Wörter in heiligste Güter verwandeln, um derentwillen Tschechen und Deutsche einander die Köpfe einschlugen oder irgendeinem unseligen Juden übel mitgespielt wurde. (Urzidil 1960: 7f.)
1 Es handelt sich um die Originalfassung des Vortrages, den Urzidil als 11. Leo Baeck Memorial Lecture des Leo Baeck Institute, New York, am 1. November 1967 hielt. Eine englische Übersetzung von Michael Lebeck wurde 1968 unter dem Titel The Living Contribution of Jewish Prague to Modern German Literature als separates Büchlein des New Yorker Leo Baeck Institute veröffentlicht.
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Und in dem im selben Jahr erschienenen Buch Streitbares Leben gibt Brod die bekannte Beschreibung: Das alte österreichische Prag war eine Stadt, in der […] drei Nationen im Kampf gegeneinander [standen]: die Tschechen als Majorität, die Deutschen als Minorität und die Juden als Minorität innerhalb dieser Minorität. (Brod 1960: 7)
In diesem Zusammenhang distanzieren sich die Mitglieder des Prager Kreises von der Generation ihrer Väter. Werfel erklärt bspw. in seiner Glosse zu einer Wedekind-Feier, vom 18. April 1914 im Prager Tagblatt: Es gibt in Prag einen neuen Willen und eine geistige Jugend. Der laue Nationalliberalismus und der senile Freisinn […] haben stärkeren und ehrlicheren Entscheidungen Platz machen müssen […]. Und alle jene jungen Leute rechne ich zu einer neuen und ehrlicheren Generation, die das fiktive Leben des Prager Durchschnitts-Deutschen satt hat und den Willen zu einem wirklichen Leben in sich trägt. (zit. n. Krolop 1964: 333f.)
Wie sich dieses Leben entwickeln wird, kommt darauf an, wie die Mitglieder dieser Generation sich gegenüber dem nationalen Konflikt positionieren und wie sie die entscheidende Frage der Identität beantworten, denn, wie Urzidil (1919: 332) behauptet: „Die Weisheit ist nur eine: Erkenntnis der Identität.“
1. Definition der individuellen Identität
Brods und Urzidils Ausgangspunkt in der Suche nach einer stabilen Identität inmitten des chaotischen Prager Kontexts scheint auf den ersten Blick ziemlich ähnlich: Beide gehören der deutschen Bourgeoisie an (wobei Brods Familie einen deutlich höheren sozialen Status besitzt),2 besuchen ein deutsches Gymnasium und die deutsche Universität Prags. Aber der Rahmen, in dem 2 In seinem Nachruf auf Urzidil macht Robert Weltsch den Unterschied zwischen Urzidils Familienhintergrund und dem der anderen Mitglieder des Prager Kreises deutlich: „There was, however, one disparity between Urzidil and the other members of the literary circle of Prague. The others, though individually of great diversity, belonged, sociologically speaking, to the same group. They were offspring of Jewish middle-class families, some wealthy, some less wealthy, but somehow of the same social background. Their fathers were merchants, lawyers, bank clerks, etc., they formed the membership of the Deutsche Kasino, of the B’nai B’rith and of other representative Jewish associations. From this point of view the Catholic Urzidil was an outsider.“(Weltsch 1970: 6)
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Urzidil aufgewachsen ist, ist viel facettenreicher als Brods, dessen großbürgerliche Herkunft ihn von der tschechischen Bevölkerung ferngehalten hat und dessen Judentum in einem „Nichts an Überlieferung“ (Brod 1960: 346) verankert ist. Brod, dessen soziale und nationale Zugehörigkeit viel enger ist als Urzidils, befindet sich in einer heikleren Situation, als es offensichtlich wird, dass diese Zugehörigkeit in Frage gestellt wird. Da seine Identität als deutscher, assimilierter Jude den neuen Bedingungen nicht angemessen ist, muss er sie ganz neu definieren.3 Durch seine Entdeckung des jiddischen Theaters, die drei Prager Vorlesungen Martin Bubers und die Gespräche mit seinem Freund dem Philosophen Hugo Bergmann, der ihn auf Herzl und den Zionismus aufmerksam macht, wird ihm klar: „Von den drei Völkern, die in Prag wohnten – Deutsche, Tschechen, Juden – war es das drittgenannte, zu dem ich gehörte“ (Brod 1960: 70). Dabei bezeichnet er sich als Freund des Deutschtums, indem er behauptet: „Sprache, Erziehung, Lektüre, Kultur haben mich zum dankbaren Freunde des deutschen Volkes gemacht, nicht zum Deutschen“ (Brod 1918b: 1584). Er beschreibt sich ebenfalls als Freund des Tschechentums, obgleich er ihm „kulturfremd“ (Brod 1918b: 1589) ist, denn es kann […] ja nicht gleichgültig lassen, daß ich in der Mitte dieses Volkes aufgewachsen bin und lebe, ja daß es im Grunde das einzige Volk ist, dessen Volkstum ich erlebt habe. (Brod 1918b: 1589)
Im Gegensatz zu Brod steht Urzidil eine wahre Fundgrube an Identitäts- und Identifikationsmöglichkeiten zur Verfügung: eine tschechische Mutter jüdischer Herkunft, die vor der Heirat mit Urzidils katholischem Vater konvertiert war, eine tschechische Stiefmutter, eine Kindheit unter tschechischen Arbeiterkindern aber auch unter Kindern reicher deutscher Familien. Das Zentrum dieser Welt ist der Vater, ein „farbenfrohes, sich immerzu veränderndes Kaleidoskop“ (Urzidil 1969a: 16), ein widerspruchsvolles Wesen,4 ein „Antisemit“, dem seine jüdische Schwiegertochter sehr gefiel, ein „Deutschnationaler“, der seinem Sohn befahl, Tschechisch zu lernen, und der selbst eine „Nationaltschechin“ heiratete, ein „guter Katholik“, der aber „nie zur Sonntagsmesse“ ging und seinen Sohn „in Synagogen, protestantische und russisch-orthodoxe Kirchen [führte] und behauptete, alle Religionen seien gleichwertig“ (Urzidil 1969a: 8). Es darf daher nicht erstaunen, dass Urzidil es nicht als notwendig empfindet, seine bisherige Identität neu zu definieren,
3 Über Max Brods Suche nach einer stabilen Identität und deren Konsequenzen s. Vassogne (2009). 4 Über Urzidils Vater und seine Widersprüchlichkeiten s. Johann (2008).
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denn dieses vom Vater geerbte „Kaleidoskop“ ermöglicht ihm, sich keiner der in Prag existierenden sozialen und nationalen Gruppen fremd zu fühlen. Es scheint, als hätten die beiden Autoren verschiedene Auffassungen von ihrer nationalen Zugehörigkeit und deren Grundlage, um so mehr als für Brod das „wichtigste Moment natürlichen Zusammenhangs […] die Rasse“ (Brod 1921, Bd. 2: 316) und die jüdische Identität etwas Gegebenes ist: Tscheche oder Deutscher werden viele durch die Erziehung, Jude wird man durch Geburt. Aus diesem Grunde der ausgeprägten Rassenhaftigkeit spielen die anderen Kriterien (Sprache und Land) für uns nicht dieselbe wesentliche Rolle wie bei andern Völkern (Brod 1920a: 76).
Dies führt ihn natürlich dazu, die Assimiliation abzulehnen. Wenn man aber von dieser „Rassenhaftigkeit“ absieht (die für Urzidil, den Sohn einer geborenen Jüdin, der sich bis zu seinem Lebensende aber als „römisch-katholischer Christ“ [Urzidil 1925c: 235] betrachtet, offensichtlich keine Rolle spielt), ist die Auffassung der Nation bei den beiden Autoren ziemlich ähnlich. Brod behauptet: Volk [das bei ihm synonym mit Nation ist] ist die mir unmittelbar zugängliche Menschheit […], weil durch naturgegebene Tatsachen mit mir verbunden. – Bindungstatsachen sind: gemeinsame Sprache (denn Geistesnuancen sind unübersetzbar), gemeinsame Kultur, Erziehung, gemeinsames Land usf. (Brod 1921, Bd. 2: 316)
Für Urzidil bedeutet die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation die „Zugehörigkeit zu einem völkischen Gemeinschaftsschicksal“, das vor allem „durch die Geschichte bestimmt“ (Urzidil 1935a: 1) wird. Wie Brod, der als deutschsprachiger jüdischer Dichter die Bedeutung der Sprache eingrenzen möchte, stellt Urzidil fest: Gewiß sind die Bindungen der gemeinsamen Sprache […] nicht zu unterschätzen. Aber für den Lebenstypus sind sie nicht so entscheidend wie gewöhnlich angenommen wird, auch nicht für das Geistesschicksal, viel weniger für die politische Formgebung. (Urzidil 1935a: 1)
Aber sowohl Brod als Urzidil erkennen die Bedeutung der Sprache für ihre individuelle Identität als Schriftsteller. Stark von der Erfahrung des Exils geprägt, behauptet Urzidil Ende der sechziger Jahre, dass „ein Autor jener Nation an[gehört], in deren Sprache er wirkt“ (Urzidil 1969b: 7).5 Brod, der 5 Es handelt sich um die zweite Veröffentlichung dieses Aufsatzes, der zum ersten Mal 1968 auf Tschechisch und Deutsch publiziert wurde (Urzidil 1968). Der Aufsatz wurde 1970 auch in englischer Übersetzung veröffentlicht (Central European Journal 18/9, 1970: 370-375, The failure to achieve Czech-German symbiosis) und schließlich 1971 postum noch einmal auf
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als zionistischer Schriftsteller mit der Unmöglichkeit konfrontiert war, auf Hebräisch zu schreiben, hatte 1918 schon erkannt: Nicht etwa bloße Bequemlichkeit veranlaßt mich zu diesem Festhalten an der deutschen Sprache, sondern absolute Notwendigkeit; denn mein Denken, mein Sprachgefühl und alles Verwandte ist unübersetzbar deutsch. (Brod 1918b: 1580f.)
Diese Erkenntnis wurde zweifellos von Urzidil geteilt, der 1946 schrieb: „Die Sprache [stellt] das Verständigungsmittel des Menschen mit sich selbst dar.“ (Urzidil 1946: 20) Beide Autoren bekennen sich, mindestens teilweise, zu einer gewissen nationalen kulturellen Identität, die deutlich deutsch ist. Darüber hinaus gibt es bei ihnen keine Ablehnung der nationalen Idee überhaupt, obwohl sie für das Leben in Prag um die Jahrhundertwende so schädlich gewesen ist. Es geht ihnen viel mehr darum, eine neue Auffassung der Nation und des Nationalismus zu entwickeln.
2. Ein neuer Nationalismus
Was Urzidil „Hinternationalismus“6 und Brod „Nationalhumanismus“ nennt, ist das Ergebnis eines Versuchs, dem Begriff „Nationalismus“ einen neuen Inhalt zu geben.7 Beide sind dabei stark von der Geschichte und der speziellen, ‚supranationalen‘8 Identität Böhmens9 beeinflusst, die laut Urzidil „auf über-
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Deutsch (Sudetenland 13, 1971: 190-193). Diese bibliographischen Hinweise verdanke ich Klaus Johann. Wie bekannt, kreierte Urzidil das Adjektiv ‚hinternational‘: „‘Ich bin hinternational‘, pflegte er zu sagen; Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben […]“ (Urzidil 1960: 13). ‚Nationalismus‘ wird hier im Sinne Ernest Gellners verwandt, dem zufolge „Nationalismus vor allem ein politisches Prinzip [ist], das besagt, politische und nationale Einheiten sollten deckungsgleich sein“ (Gellner 1995: 8). Wie man sehen wird, streben Urzidil und Brod danach, diese nationalen Einheiten neu zu definieren und die Art und Weise, wie mit diesem Prinzip verfahren wird, sowie dessen Konsequenzen zu ändern. Johannes Urzidil (1940b: 41) charakterisiert zum Beispiel den Grafen Sternberg als „typischen supranationalen Böhmen.“ Über die spezifische Identität Böhmens siehe den Beitrag von Kurt Strasser zu Bolzano und dessen Bohemismus im vorliegenden Band.
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nationaler Grundlage und nicht bloß in nationalem eingeschränktem Sinne“ (Urzidil 1940b: 41) wirkt. Brod erkennt ebenfalls diese spezifische Identität, wenn er schreibt: Es gibt in Böhmen seit alters her Tschechen und Deutsche. In der tschechischen Sprache aber hieß Böhmen ‚Tschechy‘, der Böhme und der Tscheche waren hier daher identisch, und für den Satz ‚die Bewohner von Böhmen heißen Böhmen, aber nicht alle Böhmen sind Tschechen‘ […] gab es in der tschechischen Sprache keine adäquat richtige Übersetzung. (Brod 1968: 13)
Er scheint zu bedauern, dass der Gebrauch der Wörter ‚Böhmen‘ oder ‚Tschechy‘ eine politische Färbung gewonnen hat und eine gewisse Sehnsucht nach der Zeit eines die beiden Nationen umspannenden Böhmentums zu empfinden, die stark von Humanität geprägt war. Beide Autoren teilen, was Urzidil (1981: 472) einen „supranationalen, von Humanitätsideen durchdrungenen, wesentlich freiheitlichen und gegen Gewalt gerichteten Geist“ nennt. Urzidil wünscht sich eine Rückkehr zu den Stifterschen Idealen, dem „Primat des Sittlichen“ und einer „sittlichen Menschheit“ (Urzidil 1937: 285). Für Brod geht es darum, „dem Worte ‚Nation‘ einen neuen Sinn zu geben“ (Brod 1920b: 38), denn „Nationen kann man nicht abschaffen […]. Aber das Giftige an ihrer gegenseitigen Haltung ist abschaffbar.“ (Brod 1918a: 282) Der Nationalismus muss so geändert werden, dass „die Idee des Verzichts auf alles, was dem Volke als geistigem Wesen nicht lebensnotwendig ist, in das allgemeine Bewußtsein tritt“ (Brod 1920b: 35). Dies ist die Aufgabe des Zionismus, den Brod als „die Intensivierung und Aktivierung der jüdischen Nationaleigenschaft eines universalen Menschheitsgefühls und damit eine wesentliche Hoffnung der Friedensidee“ (Brod 1920b: 39) bezeichnet. Die Rolle, die der Zionismus für Brod spielen soll, gleicht der, die Urzidil der Freimaurerei zuschreibt,10 obwohl diese natürlich aus keiner unmittelbar religiösen Komponente heraus entstanden ist. Freimaurerei ist für Urzidil eine „günstige sittliche Basis, von der aus schrittweise Achtung vor der Menschenwürde verbreitet werden kann.“ (Urzidil 1972: 192) Zionismus und Freimaurerei erkennen zwar das Vorhandensein von Nationen an, aber weigern sich, sie als das Wichtigste zu betrachten. Für Brods Auffassung des Zionismus gilt, was Urzidil über die Freimaurerei geschrieben hat: Über den Religionen, über den Rassen, Klassen und Nationen, ja über den Staaten stehend erkennt [sie] zugleich die Begriffe und Wirklichkeitswerte aller dieser Tatbestände an und indem [sie] sie in ihren natürlichen Grundrechten und Überlieferungen bestätigt, versucht 10 Über Urzidil und die Freimaurerei siehe den Beitrag von Jitka Křesalková im vorliegenden Band.
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[sie] lediglich das an ihnen zu ändern, was mit dem Geiste der Humanität, des allen gemeinsamen Menschentums, des Friedens, des gegenseitigen Verständnisses und der fortschreitenden Zusammenarbeit nicht in Einklang zu bringen ist. (Urzidil 1934b: 211)
Es gibt bei keinem der beiden Autoren das Gefühl der Überlegenheit der eigenen Nation: Wo Urzidil (1933: 364) den „Wahn der Auserwähltheit“ kategorisch ablehnt, schreibt Brod, dass jedes Volk auserwählt ist. Und jedes Volk versündigt sich gegen diese Auserwähltheit, sobald es seinen Geist den anderen aufzwingen will, statt sich auf stilles, auf sich selbst wirksames Beispielgeben zu beschränken. (Brod 1918a: 282)
In diesem Sinne kann die Mission eines bestimmten Volkes nur in einer gewissen Versöhnungs- und Vermittlungsarbeit bestehen. Dies ist, so Urzidil, „die große historische Mission der Deutschen der Tschechoslowakei“, die „durch ihre Mittelposition zwischen der slavischen und der deutschen Welt bestimmt“ ist.11 Eine solche Mission der Vermittlung und der Versöhnung wird von Brod dem jüdischen Volk zugesprochen, das Martin Buber als das „Mittlervolk“ (Buber 1916: 47) betrachtete. Sie kann aber nur dadurch erfüllt werden, dass man sich seiner nationalen Identität besinnt, denn nicht aus einem Auslöschen des Nationalen vermag ja der echte Kosmopolitismus zu erstehen, den wir anstreben, sondern aus einem inneren Verarbeiten und Durchleben des Nationalen, indem nämlich jedes Individuum in seinem nationalen Urgrund das Allgemeinmenschliche, das Verbindende […] aufsucht. (Urzidil 1938: 66)
Obwohl er kein Befürworter des Kosmopolitismus ist, scheint Brod auch in dieser Haltung die Überwindung des blinden Nationalismus zu sehen, denn es geht für ihn darum, durch Vertiefung des eigenen jüdischen Nationalgefühls […] auch fremde nationale Begeisterung anderer Völker plötzlich zu verstehen. […] Die Freude am eigenen Volkstum ist der Freude am fremden Volkstum verwandter als die versuchte Erschleichung fremden Volkstums. (Brod 1913: 261f.)
Und sowohl für Brod als auch für Urzidil soll diese Vermittlung gleichzeitig kulturell und politisch sein. Für die Juden gilt, laut Brod, was Urzidil über die Deutschen der Tschechoslowakei geschrieben hat: Kulturell hätten die Deutschböhmen eine ausgesprochene Vermittlungsrolle zwischen Deutschtum und Slawentum zu spielen. Sie hätten nicht bloß, wie dies bisher geschah, deutsche Kulturgüter den Slawen, sondern auch, wie dies bisher nicht geschah, slawische
11 Im Original: „La grande mission historique des Allemands de Tchécoslovaquie est déterminée par leur position intermédiaire entre le monde slave et le monde allemand.“ (Urzidil 1936a: 2)
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Kulturgüter den Deutschen zu übermitteln. Politisch und wirtschaftlich haben sie eine Gewähr dafür zu bilden, daß ein Gegensatz zwischen den Tschechen und Reichsdeutschland unmöglich werde. (Urzidil 1922: 168)
3. Nationalismus im Kontext der ersten Tschechoslowakischen Republik
Es kann nicht überraschen, dass die beiden Autoren Tomáš Garrigue Masaryk bewundern, einen „große[n] Einzelne[n], Gerechte[n], wahre[n] Menschenfreund“ (Brod 1931: 360), der „nicht nur ein Philosoph“ sei, sondern auch ein Mann, der „die Würde der Vernunft rettete, indem er sie in Praxis umsetzte.“12 Sie unterstützen die Gründung der Tschechoslowakischen Republik, denn Masaryk habe sie „auf die Grundlagen der Demokratie und der Humanität gestellt“ (Urzidil 1935b: 154). 1895 hatte Masaryk in seiner Studie Česká otázka [Die tschechische Frage] seine Auffassung der tschechisch-deutschen Beziehungen in Böhmen beschrieben: Die kulturellen und politischen Gegensätze und Kämpfe zwischen Tschechen und Deutschen […] lassen sich durch die größtmögliche Autonomie im Sinne des ‚Selfgovernments‘ durchführen, so, daß jede Nation in der inneren Politik selbst über sich entscheiden kann.13
Während des Kriegs hatte Masaryk mehrmals seinen Willen wiederholt, einen Nationalitätenstaat zu gründen, wie zum Beispiel in einer (identisch betitelten) Rede Česká otázka [Die tschechische Frage] vor dem amerikanischen Zionistenkongress im September 1918: Our future state we conceive as extending on the whole within the given historical boundaries; that implies that there will be some national minorities. The intermixture of natio12 Im Original: “Masaryk was not only a philosopher, […] he saved the dignity of reason by putting it into practice.” (Urzidil 1940a: 22) 13 Zit. n. Johannes Urzidil (1925b: 9). Urzidil hatte (vermutlich Mitte der dreißiger Jahre) diese Studie (nicht identisch mit der gleichnamigen Rede, s. u.), übersetzt, verzichtete aber auf Bitten Masaryks darauf, sie zu veröffentlichen, weil dieser befürchtete, es könne „zu einer missverständlichen Beurteilung seiner politischen Linie führen“ (Brief Urzidils an Gerhard Trapp, 27.05.1964; zit. n. Trapp 1967: 16).
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nalities living in Bohemia and Slovakia is so close, that a radical territorial demarcation is impossible, for we cannot afford to lose thousands and thousands of our people and we do not wish to suppress the minorities of other nationalities. There remains therefore only one arrangement – to guarantee the minorities equal rights in public life and schools – and that had been always our national program and offer to the Germans.14
Deshalb waren Brod und Urzidil von dem Vertrag enttäuscht, der am 10. September 1919 zwischen den Alliierten und der Tschechoslowakei in SaintGermain unterzeichnet wurde: Brod, als Vize-Präsident des Jüdischen Nationalrates, weil der Text keine Anerkennung der jüdischen Nation enthielt, und Urzidil, weil die Deutschen in der Tschechoslowakei als eine Minorität gekennzeichnet waren, während sie vielmehr eine mit allen Voraussetzungen für nationale Freiheit, zumindest aber für Gleichberechtigung begabte Nation [sind], welche unter die Herrschaft eines anderen, ihr weder kulturell noch wirtschaftlich überlegenen Volkes ohne Befragung gestellt wurde, und von der man als eine Selbstverständlichkeit verlangt, daß sie außer der Erfüllung aller staatsbürgerlichen Pflichten auch noch ihre Ansprüche auf natürliche Freiheitsrechte zugunsten eines ziellosen Maximalismus der ‚Hauptnation‘, zugunsten eines die übrigen Nationen außer Acht lassenden ‚tschechoslowakischen Nationalstaates‘ aufgebe. (Urzidil 1925a: 522)
Die Verfassung von 1920 garantiert zwar die Rechte aller Minoritäten (inklusive der jüdischen, die im 6. Absatz der Entscheidungsgründe als eine nationale Minorität anerkannt wird) aber, laut Brod und Urzidil, ihre Durchführung lässt viel zu wünschen übrig. Urzidil bedauert unter anderem die „Kolonisierung der deutschen Siedlungsgebiete mit tschechischen Elementen“ (Urzidil 1925a: 522) und den „inneren Kolonialismus“, während Brod nach den Parlamentswahlen von 1920, in denen die nationaljüdischen Parteien 80.000 Stimmen aber kein Mandat erhalten, aus dem politischen Leben ausscheidet. Beide Autoren sind vom neuen Staat enttäuscht: Masaryk hatte zwar nach seinem Amtsantritt, eine „vernünftige Symbiose der Völker des neuen Staates“ nach schweizerischem Modell gewünscht, aber [seine] Erwägungen waren nicht die der eigentlich regierenden Mehrparteien, die den bizarren Standpunkt vertraten, dem Selbstbestimmungsrecht der deutschen und Magyaren sei durch das Vorhandensein Deutschlands, Österreichs und Ungarns Genüge getan. Deshalb gebührte den Angehörigen dieser Nationen in der Tschechoslowakei nur ein minderheitlicher Status (Urzidil 2005: 114).
Die Enttäuschung der beiden Autoren lässt sich natürlich auch durch die Sorge für den Status der eigenen Nation erklären, aber ihr Hauptgrund ist wahr14 Der Text dieser Rede befindet sich in den Masaryk-Archiven in Prag (AV ČR, Archiv T.G. Masaryka ve správě Masarykova ústavu: Církve 2).
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scheinlich das, was sie als einen Verrat am „Primat des Sittlichen“ empfinden, das in Masaryks Idealen verkörpert war. Denn für beide ist der „Geist der Gerechtigkeit“ (Brod 1923: 5) am wichtigsten, dem Brods Aktivität als Kritiker ständig untergeordnet war15 und der Urzidil schreiben lässt: Ich war zeitlebens immer auf seiten des Rechtes und der Mißhandelten, gleichgültig welcher Nation oder Religion sie auch angehören mögen. Sie interessieren mich nicht als Deutsche, Tschechen, Christen oder Juden, sondern einzig und allein als Menschen (Urzidil 1972: 189).
4. Die ‚Verteidigung der Mitte‘
Die eigene nationale Zugehörigkeit ist daher unwichtiger als die Versöhnungsbereitschaft: Dafür, dass die Versöhnung letztendlich nicht zustande kam, machte Urzidil nicht die Tschechen, sondern die Sudetendeutsche Partei um Konrad Henlein verantwortlich, die sich weigerte, mit den Tschechen zusammenzuarbeiten und eine versöhnende Mission der Deutschböhmen zugunsten nationalen Hasses ablehnte.16 Während der drei Jahre, in denen er unter dem Namen Jean Dupont als Korrespondent der Genfer Zeitung Le Journal des Nations arbeitete, bemühte er sich, die nationalsozialistischen Lügen zu entlarven und die internationale Meinung zugunsten der Tschechoslowakei zu beeinflussen. In Mai 1936 schrieb er: La situation des minorités ethniques en Tchécoslovaquie est régie par le principe qu’on leur accorde non seulement le minimum qui leur est garanti par les traités internationaux, mais le maximum de droits compatible avec ceux de la population tchécoslovaque de cet Etat. Pour y arriver – ce qui ne peut se faire que peu à peu – une collaboration permanente et positive à l’intérieur de la part des Allemands des Sudètes est absolument nécessaire, de même que 15 Brod schrieb (1923: 5): „Erst wenn man mir die erste Zeile zeigt, in der ich Kulturgüter des deutschen und čechischen Volkes unobjektiv, mit ungleichem Maßen bewertet hätte, dann würde mein ‚ruhiger Sinn‘ ins Wanken kommen.“ 16 Wie man sieht, verzichtet Urzidil nach 1933 auf seine Kritik gegenüber der Tschechoslowakei, um angesichts der nationalsozialistischen Gefahr den tschechoslowakischen Staat und später die Exilregierung zu unterstützen. Zu Urzidils politischer Publizistik der Zwischenkriegszeit siehe die Beiträge von Steffen Höhne, Michael Havlin und Jitka Křesálková im vorliegenden Band.
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leur loyauté. […] En aucun cas le parti des Allemands des Sudètes de Konrad Henlein n’est autorisé à se présenter comme le porte-parole des Allemands de Tchécoslovaquie car il ne représente ni l’ensemble des Allemands de cet Etat, ni cette partie de la population qui remplit loyalement ses devoirs et sa mission envers l’Etat. Il représente uniquement les Allemands qui, au fond du cœur, sympathisent avec les idées de l’Allemagne hitlériste. (Urzidil 1936b: 1f.) [Die Stellung der ethnischen Minoritäten in der Tschechoslowakei ist durch das Prinzip bestimmt, dass man ihnen nicht nur das ihnen durch die internationalen Verträge garantierte Minimum gewährt, sondern auch das mit der tschechoslowakischen Bevölkerung dieses Staates kompatible Maximum an Rechten. Um das zu erreichen, was nur allmählich geschehen kann, ist eine ständige und positive Zusammenarbeit der Sudentendeutschen absolut notwendig, ebenso wie ihre Loyalität. […] Die Sudetendeutsche Partei von Konrad Henlein ist keineswegs dazu berechtigt, sich als der Sprecherin der Deutschen in der Tschechoslowakei vorzustellen, da sie weder die Gesamtheit der Deutschen dieses Staates noch denjenigen Teil der Bevölkerung vertritt, der seine Pflichten und seine Mission gegenüber diesem Staate loyal erfüllt. Sie vertritt nur die Deutschen, die vom ganzen Herzen mit den Ideen des Hitlerdeutschlands sympathisieren. (übers. v. G. V.)]
Urzidil wünscht sich eine Rückkehr zu einem idealisierten Böhmentum und die Herstellung eines echten Zusammenlebens und -wirkens zwischen den Deutschen und Tschechen Böhmens, so wie sie während des Kriegs in den tschechoslowakischen demokratischen Kräften existieren: Es kann […] nicht übersehen werden, dass sich sowohl unter den Kämpfern der tschechoslowakischen Auslandsarmee als auch unter den politischen und ideologischen Kämpfern für die demokratischen Freiheiten eine beträchtliche Anzahl von Deutschen aus den böhmischen Ländern befindet, die nicht weniger auf sich genommen und gelitten haben als alle anderen […]. (Urzidil 1940c: 11)
Urzidil sah in Edvard Beneš, dem Präsidenten der tschechoslowakischen Exilregierung, die Verkörperung dieser Hoffnung auf eine multinationale, demokratische Tschechoslowakei: In der Erkenntnis, dass die demokratische Politik nicht anders als evolutionär und in Etappen sich entwickeln kann, steht nunmehr bei der Person des Präsidenten der Republik das Vertrauen auch aller jener Deutschen, die sich eine Zukunft im Geiste der übernationalen Zusammenarbeit und Gemeinschaft, mit einem Worte im Geiste Masaryks fest erhoffen. (Urzidil 1940c: 11)
Erst im Jahre 1943, als deutlich wurde, dass Beneš die Aussiedlung der Deutschen nach dem Krieg plante, was die Wiederherstellung dieser vielleicht utopischen, böhmischen Identität unmöglich machte, äußerte sich Urzidil gegenüber der tschechoslowakischen Exilregierung kritisch. Brod wurde seinerseits durch das Aufkommen des Nationalsozialismus dazu gezwungen, seine Stellung als „jüdischer Dichter deutscher Zunge“ (Brod 1913: 261) neu
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zu definieren und den Begriff der „Distanzliebe“ zu entwickeln. Von dieser Stellung aus versuchte er, sich mit den nationalsozialistischen Rassentheoretikern auseinander zu setzen, indem er in dem 1934 veröffentlichten Essay Rassentheorie und Judentum das Konzept einer Hierarchie zwischen den Nationen ablehnte, die das Ideal der Humanität vernichten würde. Wie man sieht, widmeten sich Brod und Urzidil in den dreißiger Jahren der Verteidigung der Mitte (Brod 1834a: 1; 1834b: 1) die, so Urzidil, die einzige Stellung sei, von der man die Extremisten bekämpfen könne: Es erweist sich mehr und mehr, daß die günstigsten Regierungsnormen der Völker nicht an den äußersten Kanten des rechts oder links Möglichen liegen, sondern in jener Mitte, von der aus die natürliche Schichtung eines sozialen Ganzen nach allen Seiten hin berücksichtigt werden kann. Es ist das geschichtliche Schicksal aller Diktaturen von rechts ebenso wie von links, daß sie sich nach der Mitte hin zurückrevidieren müssen. In der Mitte liegt […] als Bleibendes der echte […] Demokratismus: Gesetz durch Freiheit, Freiheit durch Gesetz, Wahrheit durch Stärke, Stärke durch Wahrheit, Toleranz durch Selbstachtung, Selbstachtung durch Toleranz. (Urzidil 1934a: 155)
Dies darf man zweifellos als das Credo von Brod und Urzidil bezeichnen, deren Vermittlungsarbeit und -ideale einer verlorenen Zeit entsprachen und sich gegenüber dem integralen Nationalismus der dreißiger Jahre als machtlos erwiesen.
Quellen
AV ČR: Akademie věd České republiky [Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik]. Archiv T.G. Masaryka ve správě Masarykova ústavu, Prag.
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Jitka Křesálková
Zur Charakteristik Johannes Urzidils als Schriftsteller und Journalist unter Zugrundelegung seiner Tätigkeit für die Freimaurerzeitschrift Die Drei Ringe und seiner Korrespondenz mit Josef Matouš
In diesem Beitrag wurde sowohl Material aus der zum größten Teil noch unveröffentlichten Korrespondenz1 von Johannes Urzidil mit dem Oberschullehrer, Kritiker und Übersetzer aus dem Polnischen Josef Matouš (18811971),2 zum Teil auch mit dessen Sohn, dem Altorientalisten Lubor Matouš (1908-1984), mit dem Theater- und Filmkritiker Artuš Černík (1900-1953), sowie als auch aus der Freimaurerzeitschrift Die Drei Ringe verwendet, für die der junge Urzidil schrieb und die er dann von 1934 bis 1938 erfolgreich herausgab, wobei er ihr ein viel höheres Niveau und gegenüber früheren Jahrgängen ein vielseitigeres Erscheinungsbild verlieh.3 1 Die Verfasserin fand bereits 1997 im Nachlass von Josef Matouš im Literarischen Archiv des Památník Národního Písemnictví [Museum des nationalen Schrifttums] in Prag diesen Briefwechsel, transkribierte ihn und wollte ihn mit Genehmigung des Archivs auch publizieren, wofür sich aber damals kein Verlag fand. Unabhängig davon stießen auch Miloš Minařík und Milada Minaříková auf diese Korrespondenz und veröffentlichten einige Briefe daraus – nämlich acht Briefe von Johannes und Gertrude Urzidil an Josef Matouš, seine Frau Jarmila Matoušová und/oder deren beider Sohn Lubor Matouš, aber auch zwei Briefe von Josef Matouš und seinem Sohn an die Urzidils sowie zwei von Johannes Urzidil an Artuš Černík und einen an das ehemalige Dienstmädchen Marie ,Mařenka‘ Hrušková – in der tschechischen Originalfassung in Urzidil (2003/IX/1-10: 118f., 127-134, 137-139, 148-151, 156f. bzw. XI/1-2: 130f., 134-137 bzw. X: 125-127); soweit es die im Folgenden zitierten Briefe betrifft, wird dies vermerkt. 2 Mit Josef Matouš, der zusammen mit seiner Familie über den Urzidils in einem Haus an der Ecke Písecká/Vinohradská třída in Prag-Königl. Weinberge [Praha-Vinohrady] wohnte, freundete sich Urzidil während des Krieges bei Zivilschutzübungen an, als sich beide um die Bewachung des Hauses zu kümmern hatten. Die Familie Matouš bewahrte dann für die Urzidils Bücher, Kunstgegenstände und einige Wertsachen auf und schickte, wie aus Briefen hervorgeht, vieles davon nach dem Krieg nach Amerika. S. dazu auch den Beitrag von Milada Minaříková und Miloš Minařík im vorliegenden Band. 3 Zu Urzidils Tätigkeit für Die Drei Ringe s. Bibliographie Křesálková (2000). Eine umfangreiche Anthologie erschien in der Zeitschrift Germanoslavica (Urzidil 2001a, b).
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Urzidils Ansichten treten allerdings in der Korrespondenz mit Matouš und Černík, die auch das persönliche Schicksal des Autors und seine Tätigkeit im Ausland nachzeichnet und seine kompetente Beurteilung der politischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg belegt, deutlicher zutage. Wenngleich beide Nachlässe wahrscheinlich unvollständig sind, ist anzunehmen, dass sie als Zeugnisse wertvoll sind und dass die Veröffentlichung selbst von kurzen Auszügen aus diesem Material für einen künftigen Biographen nicht nur zum besseren Verständnis der Persönlichkeit Johannes Urzidils, sondern auch für das der Epoche eine große Hilfe sein kann.
1. Die Drei Ringe
Urzidils Texte für Die Drei Ringe lassen sich in drei Gruppen untergliedern: Literatur und Kunst (Artikel über Literaten und Künstler, zahlreiche Rezensionen und Urzidils Gedichte), Philosophie und Politik (Betrachtungen und Notizen zu aktuellen Themen, auch zu den deutsch-tschechischen Beziehungen) sowie Apologie der Freimaurertätigkeit. Hinzu kommen Berichte aus der redaktionellen Tätigkeit Urzidils, oft in Form amüsanter Kommentare zum Geschehen bspw. in Deutschland. Natürlich lassen sich einige Beiträge nur schwer einordnen, alle jedoch zeugen von der demokratischen Einstellung des Verfassers, von seinen vielseitigen kulturellen Interessen, seiner Bildung und seinem moralisch-ethisch fundierten Engagement. Doch beginnen wir mit der Literatur: In einem langen Artikel anlässlich der Schiller-Feierlichkeiten in Deutschland analysiert Urzidil im Jahre 1936 dessen Verhältnis zu den Freimaurern und widerlegt Goebbels’ Behauptung, würde Schiller leben, stände er sicher auf der Seite des Dritten Reiches: Der Dichter, der sich gegen Knechtung und Willkür auflehnte, der die Devise ‚In tyrannos‘ über sein dramatisches Schaffen gesetzt hatte, würde heute, wenn er lebte, wohl keineswegs Vorsitzender der Reichsschrifttumskammer, sondern wahrscheinlich, wenn nicht ein unfreiwilliger, so doch ein freiwilliger Emigrant sein (Urzidil 1936e).
Von den prägnanten Charakteristiken der einzelnen Werke des Dramatikers werden angeführt:
Zur Charakteristik Johannes Urzidils als Schriftsteller und Journalist
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Was waren die Räuber? Aufbäumung gegen die Niedertretung der Menschenwürde. [...] Was war Kabale und Liebe? Aufruf gegen Willkür, Knechtschaft und Verfall der natürlichen Weltordnung. [...] Was war Fiesco? Der Kampf der sittlichen gegen die triebhaftbarbarische Natur. [...] Was war Don Carlos? Die kategorische Forderung nach der Freiheit des Gedankens. [...] Was ist Wilhelm Tell ? Der Aufbruch eines ganzen Volkes gegen seinen Tyrannen, ein Appell, der immer verstanden werden wird, solange Tyrannen Völker ihrer Freiheit berauben. [...] Schiller freilich hat die Idee des Vaterlandes immer verherrlicht (‚Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an...!‘), aber nie in Gegensatz zu Humanitätsidealen gebracht. Grotesk muß es wirken, wenn man heute in Deutschland etwa Wilhelm Tell als nationales Drama im deutschen Sinne empfindet. (Urzidil 1936e)
Eine andere Reaktion betrifft Lessings Stellung im Dritten Reich. In der Notiz Wohin mit Lessing? schreibt Urzidil: Gotthold Ephraim Lessing war seit langem nichtarischer Abstammung verdächtig. Nun erfährt man, eine gewissenhafte Erforschung von Lessings Stammbaum habe ergeben, daß er rassisch völlig einwandfrei sei. Die Ahnen Lessings waren nachweisbar seit 1518 Geistliche, Bürgermeister, Gemeindebeamte, Weber usw. Trotzdem hat er Nathan den Weisen geschrieben und die Fabel von den drei Ringen erfunden. Auch war er bekanntlich ein Freund Moses Mendelssohns, des Vorkämpfers der Aufklärung und der Emanzipation der Juden. Wir Freimaurer ehren in ihm einen unserer Größten. Nach nationalsozialistischer Auffassung unterlag der arische Lessing also einer schweren nationalen und rassischen Verirrung, als er sich mit Juden und Freimaurern abgab. Dr. Goebbels würde ihn schwerlich in die Reichskulturkammer aufnehmen, ohne ihn vorher in ein Schulungslager zu stecken. Wenn er nicht am Ende gar von Julius Streicher,[4] dem neuesten Mitglied der Akademie für deutsches Recht, mit einem Täfelchen um den Hals und der Aufschrift ‚Judenknecht‘ durch die Städte geführt würde. (Urzidil 1935a)
Für die Zeitschrift Die Drei Ringe schrieb Urzidil ferner viele Rezensionen, denn „die Kunst hat heute – namentlich in der deutschen Geistessphäre – wenig ernste Heim- und Pflegestätten“, und Urzidil (1936c) mahnt: „daß nicht vom Brote allein lebt der Mensch [...] und das Schicksal der Menschheit ist nicht nur unter dem Gesichtswinkel der bloßen Materialität zu sehen.“ In der Besprechung von Gustav Slekows Humanität in Gefahr (Urzidil 1936a) betont er, die guten und mutigen Menschen in allen Staaten müssen sich sammeln, damit sie sich übernational, überkonfessionell und überparteilich verständigen und sich zu einer unpolitischen Arbeitsgemeinschaft verdichten.
Die Aufgabe der humanistischen Organisationen und Vereine müsse in der „Charakterausbildung“ liegen, wenngleich er sich über deren utopischen Charakter keinen Illusionen hingibt. Als Beispiel dieser humanistischen Einstel4 Julius Streicher (1885-1946, hingerichtet), NS-Politiker, Mitglied des Reichstags, Herausgeber des Hetzblattes Der Stürmer.
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lung können die sog. Kettensprüche, eigentlich Gelegenheitsgedichte, etwa der von 1928, dienen: Hoch über allen Gegnerschaften der Welt lebt eine Macht, die alles im Auge behält. Über den Kämpfen der feindlichen Menschengeschlechter schwebt ein geheimer Sinn, ein ewig gerechter. Jeder von uns will das Gute auf seine Art, jeder von uns will das Glück der Gegenwart: aber es reift die Absicht der ew’gen Gewalt nicht bloß in einer Zeit und in einer Gestalt. Wer seine eigene Sache siegreich verficht, trete ins Zeichen der höchsten gemeinsamen Pflicht, und sein Wirken gelte von nun an allen: Alle mit allen verbunden können nicht fallen. Rufst du ‚Slave‘, antworte dir der Mensch! Rufst du ‚Deutscher‘, antworte dir der Mensch! Denn in des Menschentums erhabner Vollendung ruht des einzelnen Kraft und heiligste Sendung. (Urzidil 1928)
Zahlreicher sind allerdings Texte, in denen Urzidil politische und philosophische Themen aufgreift.5 Ich möchte jedoch mit einer Kuriosität beginnen: In den letzten Jahrzehnten ist es Mode geworden, sich mit östlichen Lehren und Religionen zu beschäftigen. Angeführt sei an dieser Stelle, dass Johannes Urzidil bereits in den Jahren 1925 und 1926 im ersten und zweiten Jahrgang der Die Drei Ringe einen Aufsatz (Tao-teking und Freimaurerei ) verfasste, in dem er die ostasiatische Philosophie und ihr Verhältnis zur Freimaurerei analysiert (Urzidil 1925/26). Der sozialkritische Unterton, von dem fast alle Werke Urzidils durchdrungen sind und der von dem echten, tiefen Christentum des Autors zeugt, wird am besten in einer Aufforderung an die Leser mit dem Titel Zehn Gebote des Gebens (Urzidil 1936f.) deutlich: Mache es Dir zum Prinzip, in der Wohltätigkeit keine Prinzipien zu haben: denn Prinzipien sind die Schutzmauern, die die Besitzenden um ihre Herzen errichten. Gib in erster Linie den Unsympathischen, denn diese sind die Bedauernswertesten: denen gibt niemand etwas – weil sie unsympathisch sind. Bevor Du einen Bittsteller anhörst, bitte ihn um eine Minute Geduld. In dieser Minute danke Gott, daß die Situation nicht umgekehrt ist. Vergiß nie, daß Wohltun Zinsen trägt [...] 5 Was die Politik betrifft, hat Gerhard Trapp (1999) vor Jahren Urzidil als politischen Publizisten ausgezeichnet präsentiert; hier werden dazu nur einige Beispiele aus unserem Material beigefügt.
Zur Charakteristik Johannes Urzidils als Schriftsteller und Journalist
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Vermeide im Umgang mit den Armen das Wort ‚Nein‘. Besonders dann, wenn sie Dich fragen, ob Du ihnen helfen willst. Sei überzeugt, daß alles Schicksal und Vorbestimmung ist und also nicht eigener Wille oder Mutwille der Armen, wenn sie den Weg zu Dir gefunden haben. Bedenk dies alles und sag willig: ‚Der Rat ist gut - der Rat ist billig!‘
Urzidils Beiträge analysieren natürlich nicht irgendwelche philosophische Systeme, sondern illustrieren seine Lebensphilosophie mit Losungen wie gegenseitige Hilfe, Verständnis und Zusammenarbeit zwischen den Menschen und einzelnen Völkern wie im Artikel Gemeinsame Kulturarbeit (Urzidil 1938b): Die schlimmste Erscheinung für das Schicksal des einzelnen und für das Leben von Menschengruppen (Nationen, Klassen, Rassen, Konfessionen) ist die Isolation. [...] Wer stark und selbstbewußt ist, der hat auch den Mut, fremden Wert anzuerkennen und den fremden Fortschritt der eigenen Entwicklung einzuverleiben; und er hat auch den Wunsch, an seiner eigenen Leistung die übrige Welt zu beteiligen. [...] Der Gemeinschaftsgedanke beruht auf der Idee der gegenseitigen Hilfe und des gegenseitigen Dienstes.
Das tausendjährige Zusammenleben von Tschechen und Deutschen auf dem Boden eines Staates trotz Meinungsverschiedenheiten sowie Reibereien und Kämpfen ist für Urzidil ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass die Kultur beider Völker nebeneinander existieren, einander beeinflussen und wohltuend wirken kann. Er erinnert nicht nur an die Literatur, sondern auch an die Kunst (den Barock) und fügt hinzu: Man hat hier nicht bloß immer gegeneinander gekämpft, sondern man hat auch miteinander gekämpft. Jede der beiden Nationen hat nicht bloß isoliert für sich allein geschaffen, sie haben auch miteinander und füreinander geschaffen. Die Theorie, daß einem Hochstand der tschechischen Kultur in Böhmen immer ein Tiefstand der deutschen Kultur entspreche und umgekehrt, ist geschichtlich unzutreffend. Das Niveau ging – freilich unter verschiedenen Voraussetzungen und Ausdrucksformen – im großen Ganzen immer parallel. [...] die Kultur des Barock hat einen ungeheueren Reichtum deutscher Formen und Ideen nach Böhmen getragen, die zugleich mit tschechischen Kräften am Werke waren, um Ruhm und Ansehen Böhmens und seiner Hauptstadt zu erhöhen. Zugleich mit den Dienzenhofern, Matthias Braun, Ignatz Platzer und anderen Deutschen schufen die Tschechen Škréta, Brandl, Hollar und andere ihre unvergänglichen Schöpfungen. Das von Tschechen wie von Deutschen gleich geliebte Antlitz Prags, das in so vielen Werken bedeutender deutscher Autoren innig nachgezogen wird, ist ein jahrhundertelanges Entwicklungsergebnis einer dauernden kulturellen Gemeinschaftsarbeit. (Urzidil 1938b)
Er mahnt, „die Apostel der Verständigung und Zusammenarbeit dürfen nie ermüden“ und erinnert aus der jüngsten Vergangenheit an: Ein schönes Beispiel kultureller Zusammenarbeit war die Künstlergruppe ‚Osma‘, die schon vor drei Jahrzehnten gemeinsame Ausstellungen tschechischer und deutscher Künstler veranstaltete, um auf diese Weise einem gemeinsamen Kunstprogramm zum Durchbruch zu verhelfen. Damals vereinigten sich die tschechischen Maler Kubišta, Filla, Procházka, Lon-
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gen und Kubín mit den deutschen Malern Willi Nowak, Feigl und Horb zu einer gemeinsamen Gruppe. Das war eine mutige und schöne Tat und in gewissem Sinne von historischer Bedeutung. [...] Das Problem besteht darin, die Idee dieser Zusammenarbeit zu popularisieren, sie nicht bloß auf die sogenannten intellektuellen Schichten zu beschränken, sondern sie zum Gemeingut und zum Programm der gesamten Bewohnerschaft unseres Staates zu machen. (Urzidil 1938b)
Und er warnt: „Kulturlose Nationen oder solche, die sich wider die Kultur stellten, gehören zu den dunklen Flecken der Menschheitsgeschichte, mögen sie auch noch so viel Macht, Einfluß und materiellen Reichtum aufzuhäufen suchen“, wir alle müssten es daher „als unsere Aufgabe betrachten, den Völkern Europas auf dem Boden unseres Staates ein Bild und Beispiel einer mehr als utilitaristischen Gemeinschaft zu bieten, indem wir das große europäische Problem für uns im Kleinen zu lösen suchen.“ (Urzidil 1938b) Am Ende erinnert er an Jan Evangelista Purkyněs Austria polyglotta,6 das sich mit der Verständigung aller Völker Österreichs befasst: „Nur der Geist ist es, der alle Gegensätze versöhnt.“ In demselben Jahrgang findet man einen weiteren einschlägigen Artikel mit dem Titel Humanität und Nationalität : „Es ist kein ‚einfacher‘ Begriff und keine Richtung. Es ist eine Grundhaltung, welche die gesamte Vielfalt des Lebens nach allen Richtungen hin sich unterordnet.“ (Urzidil 1938c) Wahrer Kosmopolitismus entstehe nur aus einem inneren Verarbeiten und Durchleben des Nationalen, indem nämlich jedes Individuum in seinem nationalen Urgrund das Allgemeinmenschliche, das Verbindende und nicht das Trennende aufsucht. [...] Nur die Humanität vermag das Nationale zu formen, daß es in der Gemeinschaft aller anderen nationalen Wirklichkeiten lebensfähig bleibe. Die Humanität allein ist die echte und notwendige Gestaltungskraft alles Nationalen. Sie ist sozusagen das Übernationale. [...] Aufgabe der Humanität ist es, die Beseitigung der Gleichgewichtsstörungen im sittlichen Weltraum anzustreben, das heißt, nicht zuzulassen, daß die Relativität der Moral zum Grundsatz erhoben werde. (Urzidil 1938c)
Urzidil endet mit einer Aufforderung: „Wer die Humanität verwirklichen will, arbeite für die Freiheit des Menschengeschlechtes, die sich ausdrückt in dem Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft.“ Anlässlich des 28. Oktobers 1935 erinnert Urzidil daran, wie oft Präsident Masaryk auf die Bedeutung der deutschen Philosophie in der tschechischen Wiedergeburt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hingewiesen habe und zitiert ihn wie folgt: Unsere Erwecker fanden ihre philosophische Grundlage in der deutschen Philosophie. Deutsche Philosophie mußte die Basis für ihr nationales Streben bieten. Nur diese Basis 6 S. den Beitrag zu Urzidil und Purkyně von Mirek Němec im vorliegenden Band.
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konnten sie benutzen, denn auch französische Ideen sowie die englischen gelangten zu uns durch deutsche Vermittlung... Lange Zeit hindurch wurde für die wissenschaftliche Arbeit die deutsche Sprache verwendet. (Urzidil 1935b)
Erinnert wird an die Werke von Joseph Dobrovský, Jan Kollár, Pavel Josef Šafařík, František Palacký und erneut an Masaryk: Unsere größten Männer also schrieben deutsch... Trotz allem Enthusiasmus für die Russen und alle Slaven, trotz allem Widerstreite gegen die Deutschen bleiben die Deutschen doch unsere tatsächlichen Lehrer (Urzidil 1935b).
Allerdings macht Urzidil auch auf folgendes aufmerksam: Das Deutschtum, das Masaryk hier im Auge hat, ist jenes weltbürgerliche Deutschtum, das durch Männer, wie Lessing, Herder, Goethe und Kant, seine Prägung erhielt und zu geistiger Weltgeltung gelangte. Daß dieses Deutschtum gerade im tschechischen Volke und seinen führenden Köpfen die nachhaltigsten Wirkungen hinterließ, hat seine besonderen Gründe. (Urzidil 1935b)
Diese Ausführungen zu den deutsch-tschechischen Beziehungen sind Ausdruck des politischen Anspruchs in den Drei Ringen, wobei das Politische bei Urzidil immer an das Humane gebunden und somit ethisch fundiert wird. Was Politiker betrifft, so hegt Urzidil bereits 1926 Zweifel, ob diese immer ihre Pflicht angemessen erfüllen: Der wahrhafte, also humane Politiker wird die Politik immer als ein Problem der Hilfe betrachten. Echte Politik nämlich kann gar nichts anderes sein, als eine möglichste Verallgemeinerung der Humanität. (Urzidil 1926)
Später verweist der scharfe Beobachter Urzidil in einem langen Artikel (Urzidil 1936d) auf einen Typ von Politikern – wortgewandte, demagogische Redner, die am Anfang oft überhaupt nicht wissen, was sie sagen werden: Jedem denkenden Menschen muß die Behendigkeit und Schlagfertigkeit eines rednerischen Improvisators verdächtig erscheinen. Denn alles Denken vollzieht sich stufen- und zonenweise und die Allmählichkeit ist ihm von Natur eigentümlich. Sofortige Antworten bereit zu halten, mag effektvoll erscheinen, beweist aber nur das Vorhandensein eines umfänglichen Materialvorrats und dessen aufgewecktes Präsenthalten. Das Geheimnis der witzigen und geistreichen Leute liegt meist mehr in ihrem blitzenden Tempo, als in der Durchgestaltung ihres inneren Fundus.
Und Urzidil fügt hinzu, dass nur der das Recht haben sollte zu sprechen, der den Zuhörern wirklich etwas zu sagen habe. Am Vorabend des 28. Oktober 1936 hielt Urzidil in der Freimaurerloge eine Rede zum Thema Bürger und Staat: Aus der sittlichen Haltung des Einzelnen ergibt sich die sittliche Gesamtverfassung eines jeden Staatswesens. Wer den sittlichen Staat will, muß bei sich selbst beginnen. [...] Verlan-
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gen wir vom Staate nicht mehr und nicht weniger als von jedem lebenden, in Entwicklung begriffenen Organismus: daß er das Unvollendete von heute zum Vollendeten von Morgen mache. Revolutionen können einen Staat begründen. Nur die Allmählichkeit, nur die mühsame Arbeit, der Aufbau und die Entsagungen von Generationen, nur der Geist der Ordnung, des Rechtes, der gegenseitigen Achtung und des Ausgleiches der Kräfte vermögen ihn zu erhalten. (Urzidil 1936b)
Urzidil bekräftigt, dass der Staat die Freiheit von Handeln und Denken offeriere und es an den Bürgern liege, diese moralische Freiheit zur gegenseitigen Hilfe, zur Verständigung und somit zum Wohle des gesamten Staates zu nutzen. Politik und Moral – dies sind häufige Themen in Urzidils Beiträgen, so z. B. in einer Rede, die Urzidil anlässlich des Johannisfestes der Prager Bauhütten hielt: Privatleben und Gemeinschaftsleben können nicht mit verschiedenen sittlichen Maßen gemessen werden. Was im Privatleben der Moral zuwiderläuft, ist auch im Gemeinschaftsleben unsittlich. Man sagt so obenhin: in der Politik gibt es keine Moral. Es gilt gewissermaßen als weltgeschichtlich erwiesen, daß es nie oder nur ausnahmsweise in der Politik eine Moral gegeben habe, daß moralische Politiker zumeist schlechte Geschäfte gemacht hätten, also schlechte Politiker gewesen seien, und daß der Erfolg in der Politik so ziemlich alles rechtfertigt, was man - ob nun moralisch oder unmoralisch - unternimmt, um zum Ziele zu gelangen. Ein moralischer Politiker scheint etwas wie eine contradictio in adjecto, eine lächerliche Figur sozusagen, ein Mensch ohne richtige Realitätsanpassung, dem man sein Schicksal besser nicht erst anvertraut. (Urzidil 1938a)
Ab Hitlers Machtantritt weist Urzidil häufig auf die Gefahren hin, die Diktaturen in sich bergen, für Begriffe wie Toleranz und Humanität, die für diese nicht akzeptabel sind, und betont, dass die Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei grundsätzlich unterschiedlich ist: Indessen die Nachbarn und andere europäische Staaten von demokratischen oder konstitutionellen Verfassungsformen zu fragwürdigen oder eindeutigen Systemen der Diktatur hinüberwechselten, hat die Tschechoslowak. Republik der Demokratie die Treue gehalten. [...] Sicher [...] ist eines: Der Deutsche in der Tschechoslowakei genießt heute mehr Freiheit, als der Deutsche in Deutschland selbst. Die persönlichen und Koalitionsrechte der Deutschen sind in der Tschechoslowakei besser gewahrt, ihr Eigentum wirksamer geschützt, die Freiheit ihrer Meinungsäußerung trotz aller Zensur weit größer als rundum. Nach Prag wenden sich fluchtartig von links und rechts, von Norden und Süden die vertriebenen Deutschen, die Arbeitsplatz, Vermögen, moralisches Ansehen, ja vielfach die Gesundheit ihres Körpers einbüßen mußten. Wer von ihnen die Grenzpfähle der Tschechoslowakischen Republik passiert hat, atmet auf: ‚Ich darf wieder denken und mich äußern, ich darf wieder lesen und schaffen. Ich darf mich in geistigen Zirkeln nach meinem Belieben bewegen. Ich bin nicht abhängig von Willkür und von politischer Fehme, von Rassenwahn und mittelalterlicher Prangeratmosphäre. Ich muß nicht auf Kommando leben, kein Konzentrationslager ohne Verfahren und Urteil bedroht mich, ich bin nicht genötigt, mir täglich die geistlosen Hetzreden politischer Propagandisten aller Grade anzuhören und ich
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erspare mir den unsäglich traurigen Anblick eines Volkes, das auf seine eigene Denkkraft verzichtend, sich von den geistigen Grundlagen seines wahren Wesens abkehrt und sich in eine Autarkie der Inzucht einkerkern läßt. Indessen dieses Volk in merkwürdiger Selbstmißkennung wähnt, seine Heimat neu zu gestalten, gibt es sie in Wirklichkeit auf. Mitten in der Heimat ist es heimatlos geworden und übertäubt sein unendliches Fremdheitsgefühl durch Massenaufzüge, Fahnenschwenken, Chorgesang und gleichen Schritt und Tritt. (Urzidil 1934b)
Urzidil betont, wer sich als Freimaurer fühle, müsse jegliche Form von Diktatur ablehnen und sich im Leben so verhalten, dass er den Prinzipien des Demokratischen und Humanistischen entspreche. Urzidil äußert aber auch Befürchtungen hinsichtlich der politischen und kulturellen Lage: Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als wäre wirklich die Abendröte der europäischen Humanität angebrochen, als befände man sich wirklich in der Agonie jenes Abendlandes, das auf griechischer Kultur, auf christlichem Lebensgefühl (einschließend alles alt- und neutestamentarische Daseinsgut), auf römischem Zivilisationsgeist gegründet, den Europäer schlechthin hervorzubringen vermochte. Fast wagt man es nicht mehr, sich selbst ‚liberal‘ oder ‚demokratisch‘ zu nennen. Von rechts und von links her höhnt verächtliches Gelächter derartige Bezeichnung als Ausdruck kraftloser Schwäche, verlogener Unzulänglichkeit. Als enthielte nicht das Wort ‚liberal‘ in sich den Begriff der Freiheit, den wir alle verwirklichen möchten und der allen in seiner besten Verwirklichung zugute kommt, den Gegensatz zu allem Sklavischen, Niedrigen, Gehemmten, Unduldsamen, Imperialistischen im persönlichen, politischen und sozialen Sinn. Als enthielte nicht das Wort ‚demokratisch‘ die Idee des seiner selbst mächtigen, sich selbst regierenden Volkstums, die höchste erreichbare soziale Stufe menschlicher Gemeinschaft [...] Wir erleben soeben das Schauspiel, daß der größere Teil einer großen Nation sich von deren geistigen Grundlagen, von den Genien ihrer Kultur abkehrt und fragwürdige Mythen künstlich erzeugt, um durch sie ein neues nationales Leben zu schaffen und zu nähren. Gerade uns Deutsche in der Tschechoslowakischen Republik muß diese Erscheinung mit Sorge um die unmittelbar Beteiligten erfüllen. Aber zugleich entsteht doch wieder Hoffnung für die Sache des Geistes. (Urzidil 1934a)
Urzidil hofft, dass deutsche Volk werde sich irgendwann wieder einmal auf seine wahren inneren Führer, auf Klopstock, den edelsten Christen, auf Herder, den idealen Weltbürger, auf Goethe, den deutschen Europäer, auf Kant, den Verkünder des ewigen Friedens, auf Bach, den Geist der erhabenen Gesetzlichkeit, auf Beethoven, das Genie der Freiheit, und auf alle jene beziehen müssen, ohne die das Wort ‚deutsch‘ nur leerer Schall [...] bleiben müßte. Denn auf die Dauer vermag weder der Einzelne, noch eine Nation ihrem eigenen Grundgesetz und seinen Gesetzgebern entgegen zu handeln und zu leben, ohne Schaden zu leiden. Und auf die Dauer vermag keine Nation Schaden zu leiden, ohne sich schließlich wieder der geistigen Mächte bewußt zu werden, von denen sie selbst Heilung, Rettung und neue Lebenskraft zu beziehen vermag. [...] Auf die Dauer sind die zentralen Geister doch stärker als die zentrifugalen Kräfte. (Urzidil 1934a)
Urzidil gibt somit der Hoffnung Ausdruck, dass Humanität und liberale Demokratie sich durchsetzen werden:
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Es ist das geschichtliche Schicksal aller Diktaturen von rechts ebenso wie von links, daß sie sich nach der Mitte hin zurückrevidieren müssen. In der Mitte aber liegt wie immer man es formen möge, als Bleibendes der echte, sozial bestimmte liberale Demokratismus: Gesetz durch Freiheit, Freiheit durch Gesetz, Wahrheit durch Stärke, Stärke durch Wahrheit. Toleranz durch Selbstachtung, Selbstachtung durch Toleranz. Aber keines von alledem ohne das andere. (Urzidil 1934a)
Es sei nur notwendig zu glauben und Geduld zu haben. „Die Stunde des Geistes muß und wird kommen.“ (Urzidil 1934a) In vielen Artikeln werden somit Probleme des Wertezerfalls, Fragen des Friedens und der drohenden Kriegsgefahr behandelt. 1938, kurz vor dem Ende der demokratischen Tschechoslowakei, verabschiedet sich der Redakteur Urzidil mit zwei wichtigen Artikeln, der Rede vom Staate und Unsere Pflicht (Urzidil 1938d, e), in denen er seine Zugehörigkeit zur tschechischen Kultur ausdrückt und eine Botschaft für die Zukunft formuliert. Angeführt seien zumindest ein paar Auszüge aus erstgenanntem Text, die von der Vorahnung der künftigen Entwicklungen zeugen: Die Erschütterung und Ergriffenheit, die heute alle Bewohner guten Willens in diesem Staate im Banne hält, ist auch unser Teil. So erschüttert und ergriffen wir aber auch sind, so sehr uns die schwere Sorge um die Zukunft unserer Idee, unseres Bundes und jedes Einzelnen, der zu uns gehört, bedrängen mag, so ferne liegt es uns, an Stelle der Ruhe und Besonnenheit Nervosität und Panik treten zu lassen. Gerade in diesem Augenblick ja sollen es in erster Linie die Gefühle der Menschlichkeit und der echten Überzeugung von der Richtigkeit und dem inneren Adel unserer Ideen sein, die unser Handeln bestimmen und die sich bewähren sollen. [...] Wir richten an alle, die diese Zeilen lesen, den Ruf, mit allen ihren Kräften zu helfen, treu zu bleiben, die Ruhe zu bewahren und kein Gefühl der Ratlosigkeit und Verzweiflung in sich aufkommen zu lassen. Die Treue ist das einzige wirklich wertvolle Gut des menschlichen Daseins und die Geschichte des Einzelnen wie der menschlichen Gemeinschaften, aus der allein wir Erfahrung und Urteil schöpfen können, beweist uns, daß Untreue und Egoismus am Ende mit ihren Folgen stets auf jene zurückgefallen sind, die sie übten. Darum: Bewahrt die Treue! [...] So wie der Schreiber dieser Zeilen an seinem inneren und äußeren Platze verharrte und zur Feder griff, um der übernommenen Pflicht, das Bundesorgan erscheinen zu lassen, unbedenklich und klar nachzukommen, so möge auch jeder andere seinen Aufgaben und Verpflichtungen Rechnung tragen. Dies allein bietet Trost, dies allein schützt vor den Gefahren der Depression, dies allein ist auch die Quelle der Hoffnung und Zuversicht für die Zukunft. Diese Hoffnung darf uns trotz allem, was geschehen ist, geschieht und vielleicht geschehen wird, nie und nimmer verlassen. Wir müssen leben, wir wollen leben und wir werden leben. [...] Wir wissen uns einig mit unseren Brüdern tschechischer Observanz, wir stehen zu ihnen in dieser schweren Stunde, wir teilen ihre Sorgen und ihre Not. Und wir stehen zu uns selbst und unseren Ideen in unverbrüchlicher Treue und im besten Glauben, daß der Allmächtige auch wieder eine Zeit des Friedens und des Glückes heraufführen wird über unser Heimatland, das wir lieben und über alles Volk, das es trägt. Keiner von uns vergesse
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in dieser Stunde auch all das Gute, das das Leben birgt und auch ihm gebracht hat, keiner von uns entschlage sich der Dankbarkeit für manche Gunst, die das Dasein auch dem Geringsten beschert, keiner von uns gebe sich selbst und die andern, gebe den Glauben an den Wert des Menschentums auf. (Urzidil 1938d)
2. Briefwechsel
In den tschechischen Briefen an Josef Matouš (zum Teil auch an seinen Sohn Lubor, der während des Krieges in den tschechoslowakischen Einheiten im Ausland kämpfte) und an Artuš Černík finden sich sowohl Berichte zu Urzidils Leben aus den Jahren 1939-1944, als auch Ansichten zu Amerika, zur Literatur und zum politischen Geschehen in der Tschechoslowakei. Aufgrund der Zensur enthalten die Briefe versteckte Anspielungen, Personen werden nur mit Decknamen genannt. Der erste Bericht mit dem Datum 4. Juli 1939 liegt in Form einer Ansichtskarte aus Triest vor. Die Urzidils berichten, dass es ihnen bei ihren Verwandten gut gehe, und entschuldigen sich für die überstürzte Abreise aus Prag: „Alles kam sehr plötzlich, und so konnten wir uns leider nicht persönlich verabschieden.“ Ferner erbitten sie Hilfe für ihr ehemaliges Dienstmädchen Mařenka (Marie Hrušková). Unterzeichnet wird die Karte mit ‚J. a G. U.‘. Die folgende Karte aus Santa Margherita Ligure vom 25. Juli informiert über ihr weiteres Schicksal: Teure Freunde, alles ist noch schön. Wir haben 18 Tage in Triest verbracht und dann norditalienische Städte besucht (Padova, Vicenza, Brescia, Milano) [...] Nun sind wir in Genua. Wir müssen den Seeweg wählen, und so stehen wir vor der grotesken Tatsache, dass wir am 28. in Afrika (Algier) sein werden. Von dort fahren wir nach Albion. Danach, so befürchte ich, wird alles schlimmer, und es beginnt wohl der schwierige Aufbau einer Zukunft.
Diesmal unterzeichnen sie nur mit Jan und Gertruda. In einem Brief vom 7. August aus London, wo sie nach einem „komplizierten Umweg“ über das Meer am 1. August angekommen waren, berichten sie ausführlicher über die norditalienischen Städte und die Sehenswürdigkeiten, die sie besucht haben.
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Sie erwähnen „großzügige Freunde[7] im Ausland, die diese recht bedeutenden Ausgaben beglichen.“ Dann fuhren wir mit dem holländischen Schiff ‚Huygens‘ um die Balearen herum nach Algier, wo wir vor Anker gingen und in der Stadt das Leben der dort ansässigen Araber beobachteten. Das Schiff brachte uns entlang der afrikanischen Küste und in der Nähe von Gibraltar auf den Ozean hinaus und dann entlang der portugiesischen Küste in den Golf von Biscaya und schließlich nach Southampton. Die Reise mit dem Schiff dauerte 6 Tage. Sie war schön, denn das Schiff war erstklassig mit einem Schwimmbad, einem großen Kino, einem Sportdeck usw. ausgestattet. [...] vorerst haben wir eine hübsche Wohnung, bescheiden, aber sauber, mit Bad, Garten, Radio und sogar – was eine Londoner Besonderheit ist – einem Zigarettenautomaten. Wir müssen natürlich sehr sparen, doch die Kosten für Leben und Wohnen lassen sich preiswert bestreiten. Die Rohstoffe (zumindest einige) sind sogar billiger als in Prag, vor allem Zucker, Kaffee, Tee, Fisch und andere Dinge. In unserer Straße herrscht absolute Ruhe. Im Haus wohnen nur wir und der Hausbesitzer [...] Die Leute sind freundlich und nett, jeder versucht, uns so gut es geht entgegenzukommen. Wir können uns nicht beschweren. Die Bevölkerung ist in guter Stimmung und optimistisch.
Zwischen den Zeilen teilt Urzidil mit, dass er mit der tschechoslowakischen Exilgruppe in Verbindung getreten sei: „Ich habe auch unsere tschechischen Verwandten besucht. Sie haben viel Arbeit und Sorgen. Allerdings hoffen sie auf eine baldige bessere Zukunft.“ Im folgenden Brief vom 15. August (tsch. in Urzidil 2003: 118f.), einer Antwort auf ein Schreiben der Familie Matouš, erinnert sich Urzidil gerührt an Böhmen und wird sich bewusst, dass wir uns wohl lange nicht sehen werden, und wenn wir zurückkommen, wird alles anders sein. Nur – so meine ich – wir und Sie werden nicht anders sein, und das ist für mich tröstlich und beruhigt mich. Sie haben nur allzu gut gespürt, was uns hier am allermeisten fehlt: Beschreibungen der böhmischen Landschaft und der tschechischen Stimmungen.
Dann bittet er, so dies möglich sei, um Zusendung einiger Bücher, und er entschuldigt seine mangelnde Sprachkompetenz: Seien Sie nicht böse wegen meines fehlerhaften Tschechisch und der Korrekturen in meinen Briefen; ich sehe hier in England wieder einmal, was für ein geringes ‚Sprachentalent‘ ich habe. Schriftsteller, die gewohnt sind, vollständig in ihrer ursprünglichen Muttersprache zu denken, können sich nur schwer in einem anderen Idiom bewegen; es ist bei ihnen so wie mit den Albatrossen, von denen Baudelaire in seinem Gedicht spricht.
7 Gemeint ist die britische Schriftstellerin Annie Winifred Ellerman (1894-1983), Tochter des Industriellen und Bankiers Sir John Reeves, die unter dem Pseudonym Bryher publizierte und die Urzidils unterstützte; sie sorgte für Unterkunft in London und bezahlte ihnen auch die Reise in die USA am 11.02.1941. Johannes Urzidil widmete ihr aus Dankbarkeit u. a. das Buch Die verlorene Geliebte. S. dazu auch den Beitrag von Gerhard Trapp im vorliegenden Band.
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Die Unterschrift lautet: „Ihre Urzidils“. Aus dem Brief vom 13. August 1940 aus Church View, Viney Hill nr. Lydney, Gloucestershire an Lubor Matouš nach Frankreich erfahren wir, dass die Urzidils Südfrankreich von früheren Reisen gut kannten: Wir haben uns in Carcassone, Narbonne, Montpellier, Nîmes, Avignon, vor allem dann aber in Arles und Orange aufgehalten. Somit kennen wir jene Van-Gogh’sche Landschaft sehr gut und auch die römischen Reste dieser Provinzen.
Wichtig für das Leben Urzidils in England und seine Aktivitäten ist ferner eine Mitteilung am Ende des Briefes: In der Anlage finden Sie das ‚Čechoslovák‘-Jahrbuch 1940, Masaryks Nummer dieser Zeitschrift, und 3 kleine Artikel, die ich hier geschrieben habe. (Ich habe sehr viel geschrieben, und wenn Sie kommen, stelle ich Ihnen die Separatdrucke zur Verfügung). In der neuesten Nummer des ‚Čechoslovák‘ finden Sie einen Artikel von mir (‚Regierung und Deutsche‘[8]). Er wurde auf Wunsch der Redaktion verfasst, und als Kenner der Verhältnisse werden Sie sicher die Tendenz begrüßen. Ich habe die Aufgabe, den Boden zu bereiten, der trotz aller Zweifel und unangenehmer Gefühle rechtzeitig bereitet sein muss. Darüber werden wir noch detailliert sprechen. In unserer Waldeinöde ist der Krieg nur ab und zu in der Nacht zu vernehmen, wenn irgendein deutsches Flugzeug zu hören ist und dann irgendwo in der Umgebung ein paar Bomben explodieren. An diese Art von Intermezzi haben wir uns gewöhnt, und es stört uns nicht. Die Engländer pflegen in solchen Fällen zu sagen ‚Never mind‘ (Machen Sie sich nichts draus) oder ‚Do not take any notice of it‘ (Beachten Sie es nicht) und bleiben ruhig wie Stein. Es gibt hier einfach keinen Nervenkrieg. Das sind kindliche Phantasien irgendwelcher Deutschen, die keine Ahnung von der englischen Mentalität haben. Dasselbe gilt auch für das Abwerfen von Flugblättern. Alles, was ‚foreign‘ ist, ist für Engländer auch in normalen Zeiten schlichtweg unmöglich und lächerlich. Foreign Flugblätter im Krieg sind sogar ein absolut unpsychologischer Scherz.
Urzidil führt weitere Beispiele für englisches Verhalten an und erinnert daran, „dass England sämtliche Schlachten verliert bis auf die letzte“, und er verspricht, Lubor den letzten Brief seiner Eltern und die schönen Briefe seiner Freunde Jan Zrzavý und Franz Werfel zu zeigen und auch den „netten Brief des Herrn Präsidenten.“ In einem Brief an denselben Adressaten vom 5. September 1941, nun bereits aus New York, erfahren wir außer Angelegenheiten zu Familie und Freunden der Matouš’ auch etwas über die Situation der Urzidils:
8 Bei den drei Čechoslovák-Artikeln könnte es sich um die folgenden handeln: Die großen Männer, T.G. Masaryk’s Gegenwart und Wissen ist Macht (Urzidil 1940b, d, f). Urzidil veröffentlichte in diesem Jahr außerdem noch die Artikel Böhmentum und T.G.Masaryk – A Symposium. A German exile speaks (Urzidil 1940a, e). Regierung und Deutsche (Urzidil 1940c) erschien ebenfalls in diesem Jahr im Čechoslovák.
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Uns geht es nicht ganz befriedigend. Es gibt unglaublich viele Probleme, und vor allem unsere eigenen Leute haben offensichtlich Spaß daran, einem das Leben zu vergällen. Ab und an tauchen auch manchmal gute Charaktere auf, doch die meisten haben – leider – nicht viel gelernt, wie ich beobachte. Das ist jedoch ein allgemeines und sehr verbreitetes Übel. Ich arbeite und tue so viel wie möglich, ich betrachte dies als mein eigenes moralisches Problem und meine Aufgabe, die ich mir selbst auferlegt habe. Ich versichere Ihnen, dass sie – was die Anerkennung der Welt draußen betrifft – nicht gerade dankbar ist. Ich habe auch ein paar literarische Arbeiten verfasst. Etwas wird übersetzt. Auch habe ich ein kultursoziologisches Buch über Amerika fertiggestellt[9] und versuche, es herauszugeben. Es ist sehr schwer für einen Ausländer, hier Fuß zu fassen. Dieses Land wurde jedoch nicht für uns gegründet, und wer auch immer hierher kommt, der darf nicht älter als 20 Jahre sein, wenn er sich anpassen will. Im Großen und Ganzen weiß ich nicht, wie es mit uns ausgeht, geistig und materiell. Ich bin jedoch ruhig, manchmal aber auch sehr betrübt.
Die Korrespondenz aus Amerika geht an die Adresse von Frau Matoušová, verständlicherweise mit dem Namen Gertrude Bolands, Urzidils Vermieterin, unterschrieben. Aus einem Brief vom 13. November 1941 erfahren wir: Wir haben viel Arbeit – zumeist ohne materielles Ergebnis – doch wir halten uns irgendwie über Wasser und können uns insgesamt persönlich nicht beschweren. Sie würde hier das musikalische Leben interessieren, das besonders entwickelt ist, schöne Konzerte und Opern und Kammermusik. Besonders prunkvoll waren die Dvořák-Feierlichkeiten, der sich hier außerordentlicher Beliebtheit erfreut.
Im ersten erhaltenen Nachkriegsbrief vom 29. August 1945 informiert Urzidil die Matouš’ neben familiären Angelegenheiten über seine Entscheidung, nicht in die Tschechoslowakei zurückzukehren. Sicher verstehen Sie unsere Entscheidung, hier in den Vereinigten Staaten zu bleiben, wenngleich meine Zusammenarbeit mit der tschechoslowakischen Widerstandsbewegung selbst von Präsident Beneš, mit dem ich in London und auch in New York persönliche Gespräche führte, stets dankbar anerkannt wurde.
Urzidil bittet ferner, seinen Freunden František Halas, Jan Zrzavý, Václav Špála, Vlastislav Hofman, Frau Tilschová, Karel Dostál, Jaroslav Papoušek u. a. Grüße auszurichten. In einem beigefügten Brief (tschech. in Urzidil 2003: 125-127) an das ehemalige Dienstmädchen Marie (genannt Mařenka) Hrušková erklärt er, dass er im tschechoslowakischen Widerstand tätig gewesen sei und die Deutschen davon Kenntnis gehabt hätten, deshalb hätten sie ihr unter dem Namen ihrer New Yorker Hausbesitzerin geschrieben:
9 Es könnte sich um Amerika und die Antike handeln, zuerst 1960 als Aufsatz in Schweizer Monatshefte (10/8: 793-805) veröffentlicht, 1964 in ergänzter Ausgabe (118 S.) bei Artemis in Zürich erschienen.
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Bereits in England habe ich regelmäßig für unsere Londoner Blätter geschrieben (‚Čechoslovák‘ und ‚The Central European Observer‘) und von 1941 bis heute bin ich amerikanischer Korrespondent dieser Zeitungen. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass die Deutschen offiziell erklärt haben, dass ich infolge meiner gegen die Nazis gerichteten Tätigkeit die ‚Staatsbürgerschaft des Protektorats Böhmen und Mähren‘, auf die ich jedoch schon längst gepfiffen hatte, verloren habe. Ich habe in London und dann auch in New York mit Präsident Beneš gesprochen, der mir unter anderem wiederholt mündlich und schriftlich seine Anerkennung für meine Tätigkeit ausgesprochen hat. [...] unsere materiellen Verhältnisse waren immer sehr bescheiden und sind es auch heute noch. Um unser Auskommen zu haben, musste und muss meine Frau es [= das Auskommen] auch weiterhin mit der Erziehung kleiner amerikanischer Kinder aufbessern. [...] Wir hoffen, dass Sie die Schwierigkeiten der deutschen Okkupation überwunden haben und sind überzeugt davon, dass es in der Tschechoslowakei nach einiger Zeit wieder gut laufen wird. Wir jedoch beabsichtigen nicht, in unsere alte Heimat zurückzukehren. Vielleicht irgendwann später einmal, wenn alles wieder ruhig ist, zu Besuch. Es gibt dafür viele Gründe, und teilweise können Sie sie vielleicht nachvollziehen. Ich glaube, ich kann mich mit meiner Arbeit hier besser im Ausland einbringen, da der Aufbau einer neuen Tschechoslowakei ausschließlich eine Aufgabe für die dortigen Tschechen und Slowaken sein wird. Bald, wohl Anfang nächsten Jahres, werden wir Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, eines Landes mit wahrer persönlicher Freiheit und einer entgegenkommenden, gutherzigen Bevölkerung. Und obwohl ich mich sehr nach meiner Heimat sehne, nach Prag und nach dem Böhmerwald, haben die Verhältnisse bzw. das Schicksal mit uns andere Pläne gehabt. (Brief vom 29.08.1945)
Urzidil bittet Mařenka, ihre, der Urzidils, Adresse an verschiedene Freunde weiterzugeben und teilt ihr mit, wer von den Prager Bekannten in Amerika weilt. In einem Brief vom 23. Oktober 1945 (tsch. in Urzidil 2003: 128-130) an J. Matouš berichtet er unter anderem, er habe sich erfolgreich darum bemüht, dass Jan Zrzavý auf zwei tschechoslowakischen Ausstellungen vertreten war, und er habe in den vergangenen Jahren zweimal über ihn geschrieben. Ferner reflektiert Urzidil die vergangene Zeit des Krieges und begründet seinen Verbleib in Amerika: Sie haben gut daran getan, ‚Die Drei Ringe‘ zu vernichten. Trotzdem hatten wir oft Angst, dass Sie wegen uns Probleme bekommen könnten. Wir sind glücklich, dass es nicht dazu gekommen ist. Sie hatten alle auch so schon eine schlimme Zeit, wir können uns gut vorstellen, wie Ihnen zumute war, die Unsicherheit, Angst und Beklemmung, und manchmal sah es wirklich so aus, dass diese Teufel auf ewig herrschen würden. Wir wissen, wie wir uns gefühlt haben, als Frankreich fiel und wir in England jeden Tag die deutsche Invasion erwarteten, ich persönlich äußerst bedroht durch meine Aktivitäten im Rahmen des tschechoslowakischen Widerstandes. Es hat uns sehr befriedigt, dass Sie unsere Entscheidung zu unserem ständigen Wohnsitz in den Vereinigten Staaten so gut verstehen. Ich habe meine Aufgabe erfüllt, ich habe getan, was ich konnte, ich habe mit meiner Wenigkeit aktiv an diesem Kampf gegen den Faschismus mitgewirkt. Diese Aufgabe ist erfüllt. Meine Arbeit in der Zukunft wird nicht mehr politisch sein, sondern wissenschaftlicher und literarischer Natur. Ich bin entschlossen, mich voll und ganz auf Themen beständigen Charakters zu konzentrieren, auf wesentliche und rein ideologische Dinge. Ich will nicht weiter Zeit mit
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dem Schreiben von ephemeren Artikeln über alltägliche Dinge und Ereignisse verschwenden. Und schließlich bin ich nicht mehr jung genug für eine erneute Emigration. Sie kennen übrigens meinen besonderen Fall und werden diesen auch richtig beurteilen können. Ich würde nicht mehr Wurzeln schlagen, nicht den rechten Boden unter den Füßen finden, die meisten meiner Freunde leben nicht mehr. Ich habe zwar sogar in der tschechoslowakischen Regierung Duz-Freunde, doch Regierungen kommen und gehen, die Verhältnisse ändern sich, und ich brauche für meine Arbeit Ruhe, Konzentration und Beständigkeit.
Am 25. Februar 1946 (tsch. in Urzidil 2003: 131f.) teilt er der Familie Matouš unter anderem mit: Da ich durch die Befreiung der Republik und die Konstituierung des neuen Staates und einer neuen Ordnung meine politische Arbeit als abgeschlossen betrachte, habe ich mich im Dezember endgültig von meiner journalistischen Tätigkeit als hiesiger Korrespondent des Londoner ‚Čechoslovák‘ und des ‚The Central European Observer‘ verabschiedet. Ich will mich ausschließlich der literarischen und der rein ideologischen nichtpolitischen Tätigkeit widmen. Außerdem fertige ich für meinen Lebensunterhalt und mit Vergnügen Gegenstände aus Leder, die fast als Luxus zu bezeichnen sind, die ich selbst produziere und für die ich sogar selbst die Skizzen zeichne. Ich habe schon sehr viele verkauft, dieses Handwerk ist zusammen mit dem Schreiben nun die Basis meines Lebens.
Er berichtet auch, dass er aus London von ‚unseren Leuten‘ einen schönen Abschiedsbrief erhalten habe: Ab 1941 waren Sie einer unserer fleißigsten Korrespondenten zuerst in England und später in den Vereinigten Staaten. Es waren vor allem Ihre Artikel über das amerikanische Leben, die das Interesse unserer Leser fesselten. Ihr Buch über Hollar gehört zu den besten Publikationen, die der Verlag ‚Čechoslovák‘ je herausgegeben hat. Es erfuhr eine verdiente Anerkennung sowohl bei der Kritik als auch bei der englischen Leserschaft. Es besteht kein Zweifel daran, dass Sie in ihrem Fach deutlich zum Kampf gegen Hitler beigetragen haben.
Diese Anerkennung hat Urzidil sehr erfreut, wenngleich auch er zu denen gehörte, die infolge der Beneš-Dekrete die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit verloren. Am 17. April 1946 (tsch. in Urzidil 2003: 133f.) teilt er den Matouš’ mit: Mit dem gestrigen Tag sind meine Frau und ich Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika geworden. Wir freuen uns darüber, denn damit endet die Zeit der Unsicherheit und Unklarheit, unter denen wir so lange gelitten haben. Wenngleich die Liebe zu meinem Heimatland tief in meinem Herzen verankert bleibt und ich nie all das Gute, die Freundschaften und die natürlichen Gaben der Heimat vergessen werde, [...] so bin ich trotz allem stolz, nun Bürger dieses freien Landes zu sein, dem ich binnen einer so kurzen Zeit so unglaublich viel verdanke: ein ruhiges und ungestörtes Leben, die Möglichkeit zu arbeiten, die Anerkennung meiner Individualität. Vorgestern, als formal – faktisch allerdings auch – mein Europäertum endete, erinnerte ich mich an die schöne Zeit meiner Jugend
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in Böhmen, an die Sommer mit meinem Vater in den Wäldern, das Pilzesammeln und das Forellenangeln, an die schönen Mühlen an den Bächen...
Schließlich berichtet er über ihr Leben (was in Zukunft zur Regel wird): für den Sommer wurden sie von Dorothy Thompson auf ihr Gut in Vermont eingeladen, worauf sie sich schon beide freuen. Im Postskriptum macht Urzidil noch auf die unterschiedliche Schreibweise der Ziffer 1 in Amerika aufmerksam, I (bloßer Strich). „Unsere europäische Eins 1 bedeutet hier 7 (sieben), was wichtig ist beim Adressenschreiben, sonst kommen die Briefe nicht an.“ In einem Brief vom 21. Mai 1946 (tsch. in Urzidil 2003: 137f.) an die Familie Matouš berichtet er vom Leben in Amerika, von der individuellen Freiheit, aber auch von sozialen Konflikten: Ich bin sehr zufrieden, die Politik verlassen zu haben, wenngleich das Publizieren und das Handwerk zusammen kaum ausreichen würden, um unseren bescheidenen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Meine Frau muss auch weiterhin hinzuverdienen. Doch wir freuen uns über unser völlig freies Leben. Seit wir in diesem Land angekommen sind, habe ich keinen Beamten getroffen, nie hat mich jemand nach etwas gefragt, obwohl Krieg war, und das ist ein überwältigendes Gefühl, dass wir – wenn wir dies wollen – heute Abend abreisen und uns in diesem riesigen Land dort niederlassen können, wo wir wollen, auch irgendwo 3.000 Meilen entfernt, und wir müssen uns nirgendwo ab- und wieder anmelden. Ich würde mir wünschen, dass das für jeden weltweit so wäre. Doch mich betrübt die Gesamtsituation, die nichts Gutes verheißt. Es scheint, die Welt muss erst große Erschütterungen durchlaufen, die durch die Entwicklung der mechanischen Zivilisation und das noch nicht gelöste Problem der sozialen Verteilung von Gütern und Arbeit bedingt sind. Glauben Sie jedoch nicht, dass man hier in Amerika irgendwelche schweren sozialen Kämpfe zu erwarten hat. Trotz allem Kapitalismus gibt es hier eine natürliche Entwicklung einer unwillkürlichen Sozialisierung von Gütern, und viele Streiks, von denen Sie sicher hören, sind hier nur die Triebkraft des sozialen Fortschritts, ohne wirklich gefährlich zu sein.
Zur politischen Entwicklung erhält man auch im folgenden Brief vom 23. Oktober 1946 Informationen: Diese Woche wird hier die erste Tagung der United Nations eröffnet, zufällig in unmittelbarer Nähe zu unserer Wohnung. Ich bin neugierig, was dabei wirklich geklärt wird. Insgesamt bin ich leider nicht von einem besonderen Optimismus erfüllt. Ich bin hier übrigens einem tschechischen Delegierten bei einem Treffen der amerik. Slawen begegnet, Pater Fiala von St. Jacobi in Prag. Das ist zwar ein netter Mann, vor allem hat er hübsche Anekdoten erzählt, trotz allem aber spürte ich, wie tief die Unterschiede und Widersprüche zwischen der mitteleuropäischen und der östlichen Welt einerseits und der westlichen Welt andererseits sind. Ich meine dabei nicht nur die politischen Gegensätze, sondern eher die psychologischen. Bei allem aber ist im Hintergrund die gefährliche Ungeklärtheit der Gegensätze verschiedener sozialer Ideologien zu spüren, die eigentlich das Hauptproblem bleiben und gegen die die gesamte Affäre Hitler heute eigentlich nur noch ein winziges Detail der gesamten historischen Entwicklung bedeutet. Ich glaube, unsere Generation wird kaum noch ein wirklich beständiges Leben führen können, und der Umbruch in der
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Welt, der nun in vollem Gange ist, wird unsere humanistische Generation ins platonische Abseits drängen. In diesem Sinne repräsentiert Amerika ungeachtet aller Moderne und aller technischen Errungenschaften heute fast die alte, eher konservative Welt. Dies alles ist ein seltsames Schauspiel.
In einem Brief vom 30. Dezember 1946 ist eine Beschreibung der Weihnachtsfeiertage in Amerika zu finden. Urzidil merkt an: „Ich muss sagen, dass wir eigentlich nirgendwo auf der Welt eine so aufrichtige Einhaltung der alten Tradition kennengelernt haben.“ Aus einem Brief vom 11. Februar 1947 (tsch. in Urzidil 2003: 149-151) erfährt man, dass Urzidil krank war und zwei Wochen das Bett hüten musste; glücklicherweise „hält sich zumindest meine Frau gut und ist noch gesund, wenngleich sie nun gezwungen ist, ihren Beruf aufzugeben und sich um mich zu kümmern“. Aus dem beigefügten Brief von Gertrude Urzidil erfährt man Details: Bei einem Besuch wurde ihm plötzlich unwohl, wir mussten den Arzt rufen, danach musste er liegen, glücklicherweise ist es nichts Gefährliches, nur kann er nicht arbeiten und zwingt somit mich, meine ‚Jobs‘ zu vernachlässigen, was alles deutliche Einbußen und dabei noch höhere Ausgaben bedeutet. Das hiesige Klima tut dem Herz nicht gut, die ständigen plötzlichen Temperaturveränderungen, am Morgen ein Frühlingstag im Januar, am Nachmittag Frost, gegen Abend wieder Frühling, in der Nacht -10 Grad Celsius usw., das alles macht der Gesundheit zu schaffen. New York hat ein besonders schlechtes Klima. Die Leute loben Kalifornien. Doch es ist nicht so einfach, zumindest nicht für uns, wenn man hier verankert ist, auf einmal 3.000 Meilen nach Westen zu gehen.
Über ihre Arbeit berichtet sie mit Verweis auf die Besonderheiten des USamerikanischen Erziehungssystems: In den sechs Jahren in Amerika habe ich mich um Dutzende unterschiedliche Kinder gekümmert. Ich weiß, wie man sich darüber freuen kann, aber auch, wie ermüdend das ist, sich 8-10 Stunden ununterbrochen mit ihnen zu beschäftigen. Die psychologischen Erkenntnisse aber können sehr interessant und tiefgehend sein. Amerikanische Kinder sind bereits seit frühester Jugend unglaublich unabhängig, sie machen, was sie wollen, und es ist absolut ausgeschlossen, dass ihnen irgendjemand Befehle erteilt. Trotz allem bildet sich bei ihnen nach dem 12., 13. Lebensjahr ein recht starker Sinn für Disziplin und vor allem ein Sinn für die Achtung der Freiheit eines anderen Individuums aus. Sie haben gelernt, wenn sie tun wollen, was ihnen gefällt, dann müssen sie das auch bei den anderen zulassen. Damit tritt dann eine gewisse gegenseitige Balance und Selbstdisziplin bei größtmöglicher individueller Freiheit ein. Es gibt jedoch auch viele Fälle von ‚Juvenil DelinQuency‘ [sic], und es gibt auch einige Schattenseiten dieser übermäßigen Freiheit. Insgesamt aber denke ich, dass die amerikanische und die angelsächsische Erziehung bessere soziale Ergebnisse und mehr persönliche Zufriedenheit ermöglichen als die mitteleuropäische. Sicher ist, dass die junge Generation zu normalen Zeiten in Europa mehr Bildung angesammelt hat. Doch was hilft uns dies?! Das Schulsystem war in Deutschland äußerst stark entwickelt, es gab dort die meisten Oberschulen und Universitäten, die berühmtesten Wissenschaftler, Deutschland hatte die meisten Nobelpreise usw., Klassiker standen schön gebunden fast in
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jeder privaten Bibliothek. Und wozu war das alles gut? Was für eine Generation wurde so herangebildet? Ich rede nicht gegen die Wissenschaft, gegen Wissen und Lehre. Doch für ein Kind und einen jungen Menschen ist es doch das Wichtigste, einen guten Charakter an guten Vorbildern zu entwickeln.
1947 arbeitet Urzidil intensiv an der Bearbeitung von Goethe in Böhmen, das im folgenden Jahr in englischer und deutscher Sprache erscheinen sollte. Eine Herausgabe erfolgte ungeachtet aller Bemühungen erst nach vielen Jahren (1962). Von dieser Arbeit ist in vielen Briefen sowohl an die Familie Matouš als auch an Černík die Rede, Beleg dafür, wie sehr diese Sache Urzidil beschäftigte. Nach einer malerischen Beschreibung der Landschaft um Vermont, wo er sich auf dem Gut von Dorothy Thompson erholte, bemerkt er: Interessant ist, dass der Staat Vermont, der eine vollständig republikanische Bevölkerung hat (also eine gegen Roosevelt gerichtete), der erste Staat in der amerikanischen Union war, dessen Parlament beschloss, Hitler den Krieg zu erklären (bereits im Jahre 1940!). Dieser seltsame Fall zeigt Ihnen, welch komplizierte Verhältnisse in Amerika herrschen und wie schwer sich die hiesigen Verhältnisse für einen Nichtamerikaner beurteilen lassen.
Im August 1947 waren die Urzidils wieder zurück in New York, wo der Schriftsteller während der starken Hitze erneut erkrankte. Urzidil erlitt eine Gallenentzündung und lag zwei Wochen im Bett. Erst in einem Brief vom Oktober teilt er mit, dass er wieder arbeitet, und dankt für ein Geschenk – Anhelli von Juliusz Słowacki, das Josef Matouš aus dem Polnischen übersetzt hatte: Ich habe die prächtige Ausführung und den erstklassigen Druck, vor allem aber den Inhalt bewundert, der unglaublich aktuell ist. Und das unheimlich schöne Tschechisch, jenen reichen Prosarhythmus, diese fast biblische Schönheit! Ich habe erneut die ungeheuren musikalischen Möglichkeiten des Tschechischen bewundert, das gleichzeitig mit Akzent und Quantität operieren kann, ein Vorteil, über den beispielsweise die deutsche Prosa leider nicht verfügt.
Am 16. Dezember 1947 teilt Urzidil mit: Goethe wurde Anfang November beendet und ist schon beim Verleger. Nun arbeite ich an einem zweiten Buch (für die engl. und amerikanischen Leser), zwölf umfangreichere Studien über Goethe, die ich gleich englisch schreibe. Die Arbeit muss im Frühjahr fertig sein, damit sie noch vor dem Goethe-Jahr erscheinen kann.
In einem Brief vom 8. April 1948 erfahren wir: Ich freue mich auf Mickiewicz und auf Eisners Kafka. Sie wissen vielleicht, dass ich mit Kafka befreundet war, besonders aber meine Frau, sie standen sich einst sehr nahe. Sie fragen wegen der Anmerkung zu meiner Herkunft ‚aus einer tschechischen Exulantenfamilie‘. Unsere Familientradition reicht in vorhussitische Zeit zurück. Meine Vorfahren emigrierten nach Deutschland, somit ist die alte tschechische Rechtschreibung unseres Namens erhalten geblieben. Später sind sie zurückgekehrt und haben sich in Westböhmen
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niedergelassen. Dokumente aus dieser Zeit stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, ich habe sie hier bei mir. Die Familie war jedoch zwischenzeitlich schon ganz deutsch. Der Name ist in der Tschechoslowakei selten. Er tauchte nur noch einmal in Prag auf, einmal in Brünn und einmal in Rakovník. In Wien lebte vor 30 Jahren der bekannte Fußballer URIDIL, der weltbekannt war. Wann immer ich irgendwo in einem österreichischen Hotel Quartier bezog, gleich fragte mich der Portier, ob ich vielleicht der berühmte centre-half vom Wiener Klub ‚Rapid‘ sei. Und wenn ich verneinte, spürte ich immer, wie ich sofort sämtliche Bedeutung verlor. In Wien sang man damals das Lied ‚Heut’ spielt der Uridil‘, und es war ein beliebter Scherz, mich mit diesem Gesang zu empfangen.
Im April 1948 erhielt Urzidil von Matouš Ausschnitte seiner älteren Publikationen, für die er dankt und kritisch anmerkt: Wenn man nach so langer Zeit mehrere ältere Versuche vor sich hat, macht man sich erst in dem Moment klar, wieviel Überflüssiges man geschrieben hat und wie unzureichend und mittelmäßig die früheren Bemühungen waren. Trotz allem ist es lehrreich, sich erneut in diesem historischen Spiegel zu sehen [...]. Eisners Artikel über Kafka habe ich gelesen. Es ist eine scharfsinnige Beurteilung, wenngleich ich mit ihm in jeder Hinsicht nicht einig bin. Ich kannte Kafka sehr gut und weiß also sehr detailliert, wie seine Veranlagungen aussahen und was am meisten auf ihn gewirkt hat. Die Betrachtungen zum Charakter des früheren Prager oder jüdischen Deutschtums scheinen auch nicht unbedingt den Kern zu treffen. Das Deutsch dieser Prager war ausgezeichnet (ich meine das der Schriftsteller), und nicht nur Kafka, sondern auch Werfel, Brod, Rilke und andere wurden zu führenden Autoren in der deutschen Sprache, die übrigens, wie bekannt per Erlass von Karl IV. selbst zur Schriftsprache erhoben wurde [...]. Eisner kennt übrigens nicht die umfangreiche englische und amerikanische Literatur zu Kafka und konnte übrigens auch meine eigenen Studien nicht kennen: Personal Notes on F.K. (Life and Letters, London); Kafka, novelist and mystic (The Menorah Journal, New York); F.K. or the soul in itself (Hémisphères, New York); meine Beiträge zu dem großen Band The Kafka-Problem. Des weiteren kennt er Neiders KafkaBuch The frozen sea nicht, das in New York erschienen ist. Die Wichtigkeit und der Einfluss des tschechischen Umfelds im Falle Kafkas habe ich selbst bereits mehrmals betont wie allerdings auch den Einfluss des Prager Milieus für die Entwicklung und die Besonderheit des Kafka’schen Stils.
Nach einem längeren Schweigen Matouš’ aufgrund des Todes seiner Frau teilt Urzidil im Brief vom 8. Juni 1949 mit: Das Goethe-Jahr hat mich in der letzten Zeit etwas beschäftigt. Im Mai hatte ich vier Vorträge, zwei englische und zwei deutsche. Die Columbia University bereitet den Druck meiner Studie Goethe and Art vor. Desweiteren erscheinen die Studie Kinder zu Goethe; englisch die kleine Arbeit Goethe as geologist und deutsch Goethe als Politiker. Allerdings sind dies Gelegenheitspublikationen in Zeitschriften für einen begrenzten Leserkreis. Übrigens habe ich nicht nur schon früher in England, sondern auch in Amerika beobachtet, dass der Westen kein wirkliches Verständnis für den Goethe’schen Geist hat. Bislang erschienen hier zwar viele Artikel über Goethe und einige Bücher mehr oder weniger anthologischen und populären Charakters, man bereitet sogar die Herausgabe gesammelter Schriften in einer neuen englischen Übersetzung vor. Doch das Interesse des Publikums geht nicht in
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die Tiefe. Das Buch Permanent Goethe mit einem Nachwort von Thomas Mann hatte beispielsweise gar keinen Erfolg. Am Ende dieses Monats wird das Goethe-Festival in Aspen (Colorado) eröffnet. Albert Schweitzer und andere herausragende Persönlichkeiten werden Vorträge halten, es werden Konzerte veranstaltet und alle möglichen Feierlichkeiten. Ich bin gespannt, wie viele Besucher kommen. Die Herausgabe meiner Bücher (zweite Auflage Goethe und Böhmen und die neue Arbeit Goethe der Wegweiser) verzögert sich. Die Verleger in Österreich, Deutschland und der Schweiz haben unter einer Absatzkrise zu leiden. Dabei herrscht auch dort eine gewisse Goethe-Inflation. Über Goethe schreibt fast jeder, und die Verleger können sich vor Manuskripten kaum retten. Jetzt konzentriere ich mich auf die Zusammenstellung eines Buches mit meinen kleineren Prosaarbeiten, das wohl im Juli fertig wird. Ich weiß jedoch noch nicht, ob und wo ich es herausbringen kann.
Von den Nachkriegsbriefen an Artuš Černík erscheint eine Notiz aus einem Brief vom 25. Oktober 1945 (tsch. in Urzidil 2003: 130f.) zu Urzidils Abreise aus Prag von Interesse: Mein Schicksal war im Großen und Ganzen recht dramatisch, zuerst in Italien, dann um ganz Europa herum mit dem Schiff nach England, deutsche Bomben, meine Tätigkeit im tschechoslowakischen Widerstand, dann nach Amerika, auf der Reise ein U-Boot-Angriff usw. usw. Nun, jeder von uns hat etwas durchgemacht.
In einem Brief vom 10. April 1946 äußert sich Urzidil zum Film: Ich beobachte den amerikanischen Film schon fünf Jahre und sehe bisher noch keine bemerkenswerte Entwicklung. Die meisten Filme sind gefilmtes Theater, also ohne kreative Kraft, selten werden Sie auf eine wirkliche Filmidee stoßen. Es ist bezeichnend, dass heute das beste Filmwerk alte Chaplin-Filme und die Marx Brothers sind. Sie sind bis heute einfach unübertroffen, nicht nur als Künstler, sondern weil sie am meisten den rein filmischen Anforderungen entsprechen. Insgesamt denke ich, dass der Tonfilm der Filmentwicklung sehr geschadet hat und dass er etwas Reaktionäres mit sich brachte, indem er sich auf die Verfilmung von Schauspielen und Lustspielen konzentrierte. Chaplin ist auch heute noch viel filmischer.
Auf Černíks Frage, was er während des Krieges publiziert habe und ob er irgendeine Arbeit habe, die sich zur Übersetzung ins Tschechische eigne, antwortet er mit einer Aufzählung, die schon aus Briefen an die Matouš´ bekannt ist und fügt hinzu: Voriges Jahr erschien in New York im Verlag F. Kraus eine Geschichte, Der Trauermantel, die von dem jungen Adalbert Stifter handelt und sich im Böhmerwald abspielt. Das Buch hatte in Amerika (Nord- und Südamerika) großen Erfolg, auch in der Schweiz, und ich muss nicht betonen, dass es von der Humanitätsidee durchsetzt ist. Der Böhmerwald und Böhmen werden mit tiefer Liebe geschildert, doch ich ahne, dass sich diese in deutscher Sprache verfasste Novelle, die einen deutschen – allerdings humanistischen – Dichter aus Böhmen hervorhebt, unter den gegebenen Umständen sicher nicht für eine Übersetzung ins Tschechische eignet – wenngleich sie in einem gewissen Sinne tief ‚tschechisch‘ ist.
Urzidil bemerkt weiter:
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Wir müssen auf ruhigere Zeiten warten, auf eine Generation, die nicht mehr so stark mit aktuellen Problemen, Aufregung und Wut, seien diese berechtigt oder vielleicht auch etwas übertrieben oder zugespitzt gegenüber Erscheinungen, die dies am wenigsten verdienen, beschäftigt ist. Doch würde ich zwei Bücher zur tschechischen Veröffentlichung empfehlen, die im besten Sinne des Wortes modern sind und die sicher großes Interesse bei Ihnen finden würden. Es handelt sich um Herbert Read, Art and Society, London, Faber and Faber, und Henry Moore, Shelter Sketch book, Editions Poetry, London (Moore enthält allerdings nur Reproduktionen und keinen Text, doch es ist das ‚bedeutendste‘ künstlerische Dokument des Krieges und seines Verlaufs in England.).
Černíks Verwunderung darüber, dass er Amerikaner geworden war, veranlasst Urzidil zu einer Reflexion über das Ende der mitteleuropäischen Symbiose, wobei er insbesondere die Art und Weise der Vertreibung der Deutschen aus den Böhmischen Ländern kritisiert: Ich war immer ein treuer Bürger meines Heimatlandes, und sicher werde ich auch in Zukunft nicht aufhören, es zu lieben. Ihnen und allen, die mich kennen, muss ich meine Ergebenheit meiner Heimat gegenüber nicht beweisen, und ich habe dies sehr deutlich während des Krieges getan, was sogar amtlich anerkannt wurde. Doch sicher wissen Sie, wie die Dinge liegen, dass ich als Schriftsteller und nach der Muttersprache ‚Deutscher‘ bin und somit unter die große Säuberung falle, die gerade bei Ihnen im Gange ist und die ich außerordentlich skeptisch betrachte. Nicht aus persönlichen Gründen. Für mich ist diese Frage von keinem sonderlichen persönlichen Interesse. Und natürlich verstehe ich alles, was ein natürlicher Ausdruck des aktiven Kampfes gegen Faschismus und Nazismus ist. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ja, wenngleich ich große und schmerzvolle Zweifel hege, ob die Art dieser Säuberung, ihre wahren Gründe und ihr Verlauf, der nicht zwischen einem Schuldigen und einem Unschuldigen unterscheidet, letztlich moralisch und praktisch zum Wohle des tschechischen Volkes sein wird, zum Wohle des Friedens und eines freien, ruhigen Zusammenlebens in Europa. Ich hoffe, dass Sie mich verstehen, denn meine Grundsympathien für das tschechische Volk sind recht tief belegt, so dass ich mir meine eigene Meinung erlauben kann (die übrigens nicht nur die meine ist), auch wenn sie der allgemeinen Ansicht oder der Auffassung der Regierung zu dieser Frage in Böhmen und in der Tschechoslowakei widerspricht. Somit sage ich es offen: Was geschieht, ist ein Fehler, die Säuberung hätte auf Masaryk’sche Art durchgeführt werden sollen, und man hätte nicht Methoden übernehmen sollen, die eine Erfindung des NS-Regimes sind, gegen das wir so inbrünstig gekämpft haben. Das, was nun in der Tschechoslowakei geschieht, nicht nur in dieser Hinsicht, widerspricht sichtlich der wahren tschechischen Tradition, die durch Hus, Comenius, Chelčický, Masaryk und sogar durch Beneš selbst definiert wird. Hoffen wir, dass dies nur eine Episode bleibt. Doch es ist sicher, dass in dieser Hinsicht jeder, der gerecht und unvoreingenommen denkt, jeder, der den wahren Inhalt des Tschechentums und der böhmischen Geschichte liebt, jeder, der es wirklich gut mit der Zukunft der böhmischen Länder und des böhmischen Volkes meint, den derzeitigen Ereignissen nicht zustimmen kann. Wenn es sich um einen klaren Kampf gegen Faschismus und Nazismus handelt, dann stimme ich allem zu. Wenn es sich um die Nutzung einer vorübergehenden Konjunktur zugunsten nationalistischer Leidenschaften und um eine Befriedigung der niedersten Instinkte handelt, die in Wirklichkeit von der Negierung des Nazismus entfernt sind
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und einzig und allein mehr oder minder materiellen und wirtschaftlichen Zwecken dienen, dann kann man nicht mit meiner moralischen Zustimmung rechnen. Für mich persönlich bedeutet das, dass ich mich aus jeglicher politischer Aktivität zurückziehe, die Mitteleuropa betrifft, doch ich werde weiter Freundschaft mit jedem pflegen, auf den keine Verantwortung entfällt und von dem ich weiß, dass er mir tief in seinem Herzen zustimmt.
In einem Brief vom 11. Oktober 1946 schreibt er an Černík: Das kulturelle Leben in New York ist wieder voll in seinem herbstlichen Fluss. Ich würde Ihnen wünschen, dass Sie einmal herkommen. Das würde Sie sehr interessieren. Konzerte, Theater, Ausstellungen, Vorträge usw. in ungeheurer Anzahl und zu einem Großteil erstklassig. – Als ich herkam, dachte ich, Amerika dürste nach Kultur. In wenigen Wochen erkannte ich, dass man sogar in kultureller Hinsicht viel von Amerika lernen muss. Beispielsweise ging ich bei einem der unzähligen Graphikhändler vorbei. Ich fragte, ob er etwas von Hollar habe. ‚Of course,‘ antwortete er, und zog 4 Mappen hervor, die etwa 200 der schönsten Radierungen Hollars enthielten. Die New York Public Library besitzt etwa 1.500 Stück davon. – Vor kurzem bei einer Party bei einem amerikanischen Schriftsteller hörte ich, wie der Gastgeber zufällig zu einem Gast sagte: ‚I translated Neruda.‘ Ganz überrascht fragte ich ihn: ‚You translated Neruda?‘ Und er darauf: ‚Not the Czech writer Jan Neruda. I translated the Spanish writer Neruda.‘ Obwohl dieser Amerikaner auf Kuba geboren wurde, wusste er doch genau alles Wichtige über Jan Neruda.
Bei einer Beschreibung der kanadischen Landschaft, wo die Urzidils den Urlaub bei Bekannten verbracht haben, kommt in einem Brief vom 1. Mai 1947 wiederum die Sprache auf die Literatur: und wir bewunderten die dortige Landschaft, die viel Imposantes aufweist, auf der einen Seite den Ontario-See, auf der anderen den Erie-See, in der Nähe die Niagara-Fälle, wunderschöne einsame Flüsse mit indianischer Atmosphäre, die Sie an Cooper und Ferry und last not least Karl May erinnern. Ich habe immer über Karl May geschimpft, weil bekannt war, dass Hitler seine Romane in der Bibliothek hatte. Doch als ich dem nachging, stellte ich fest, dass Karl May ein recht anständiger Mensch war, der zwar deutsch fühlte, jedoch jeglichen Antisemitismus ablehnte, auch die Unterdrückung von Minderheiten und der Indianer. Dass sich ihn Hitler in seine Bibliothek stellte, dafür ist er nicht verantwortlich. Schlimmer wäre es gewesen, wenn sich May Hitler in seine Bibliothek gestellt hätte.
Im Mai 1947 zeigt sich Urzidil erfreut über Černíks Einschätzung zum Gesamtzustand und zur Entwicklung in Böhmen. Ich weiß ganz sicher, dass wir uns auf derselben Seite der Geisteswelt befinden, dass uns dieselbe humanistische Kultur gebildet hat und dass bei Ihnen und überall in der Welt eine innere ideelle Verbundenheit besteht (und immer bestehen wird). Schon Aristoteles sagte ‚Lampádia échontes diadosousin allélois.‘ Deutsch bedeutet dies: ‚Die, die Fackeln tragen, reichen sie einander zu‘, und tschechisch in etwa: ‚Ti, kteří drží pochodně, podávají je sobě navzájem.‘ Ich weiß nicht, ob ich das richtig übersetzt habe und verzeihen Sie mir auf jeden Fall mein Tschechisch.
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Im Januar 1948 setzt er wie ein Prophet in einem Dank hinter den Weihnachtswunsch: Ich bin mir nicht ganz sicher, dass wir das nächste Weihnachtsfest und Silvester in einer ähnlichen Stimmung feiern werden. Die internationale Lage sieht gewiss nicht danach aus.
Übersetzt von Silke Klein
Literatur
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Urzidil, Johannes (1936b): Der Staatsfeiertag. – In: Die Drei Ringe 12/12, 179 [Auch in: Urzidil (2001b: 152)]. Urzidil, Johannes (1936c): Dichtungen von Max Roden, Wien. – In: Die Drei Ringe 12/3, 48 [Auch in: Urzidil (2001b: 139)]. Urzidil, Johannes (1936d): Improvisierte und vorgeformte Rede. – In: Die Drei Ringe 12/9, 133-135 [Auch in: Urzidil (2001b: 146-149)]. Urzidil, Johannes (1936e): Schiller, die Freimaurer und das „Dritte Reich“. – In: Die Drei Ringe 12/1, 5-8 [Auch in: Urzidil (2001b: 131-135)]. Urzidil, Johannes (1936f): Zehn Gebote des Gebens. – In: Die Drei Ringe 12/7-8, 132 [Auch in: Urzidil (2001b: 146)]. Urzidil, Johannes (1938a): Die Forderung des Tages. – In: Die Drei Ringe 14/8, 98-102 [Auch in: Urzidil (2001b: 196-201)]. Urzidil, Johannes (1938b): Gemeinsame Kulturarbeit. – In: Die Drei Ringe 14/2, 17-19 [Auch in: Urzidil (2001b: 178-181)]. Urzidil, Johannes (1938c): Humanität und Nationalität. – In: Die Drei Ringe 14/5, 6567 [Auch in: Urzidil (2001b: 183-185)]. Urzidil, Johannes (1938d): Rede vom Staate. – In: Die Drei Ringe 14/9-10, 114-117 [Auch in: Urzidil (2001b: 204-207)]. Urzidil, Johannes (1938e): Unsere Pflicht. – In: Die Drei Ringe 14/9-10, 113f. [Auch in: Urzidil (2001b: 203f.)]. Urzidil, Johannes (1940a): Böhmentum. – In: Beneš, Bohuš (Hg.), Svobodné Československo ve svobodné Evropě [Eine freie Tschechoslowakei in einem freien Europa]. London: Čechoslovák v Anglii, 41-43. [Urzidil, Johannes] Antibarbaros (1940b): Die großen Männer. – In: Čechoslovák v Anglii 2/13, 5. Urzidil, Johannes (1940c): Regierung und Deutsche. – In: Čechoslovák v Anglii 2/32, 11. Urzidil, Johannes (1940d): T. G. Masaryk’s Gegenwart. – In: Čechoslovák v Anglii 2/9, 4. Urzidil, Johannes (1940e): T. G. Masaryk – A Symposium. A German exile speaks. – In: The Central European Observer 17/3 (01.03.), 22 f. [Urzidil, Johannes] Antibarbaros (1940f): Wissen ist Macht. – In: Čechoslovák v Anglii 2/17, 5. Urzidil, Johannes (2001a): Publizistische Tätigkeit in Die drei Ringe. (I.) Eine Anthologie. Hrsg. v. Jitka Křesálková. – In: Germanoslavica 8 (13)/1, 1-82. Urzidil, Johannes (2001b): Publizistische Tätigkeit in Die drei Ringe. (II.) Eine Anthologie. Hrsg. v. Jitka Křesálková. – In: Germanoslavica 8 (13)/2, 131-207.
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Urzidil, Johannes (2003): Život s českými malíři. Vzájemná korespondence s Janem Zrzavým. Vzpomínky, texty, dokumenty [Leben mit tschechischen Malern. Korrespondenz mit Jan Zrzavý. Erinnerungen, Texte, Dokumente]. Hrsg. u. übers. v. Vladimír Musil [= Miloš Minařík] u. Milada Urbanová [jetzt Minaříková]. Horní Planá: fraktál.
Gabriela Brudzyńska-Němec
Schöpferische Kunstbetrachtung nach Johannes Urzidil. Theoretische Erörterung und literarische Bilder zu Die Herzogin von Albanera und Der Schauspieler
1. Vorbemerkung
Sein Konzept der schöpferischen Kunstbetrachtung entwickelt Johannes Urzidil hauptsächlich in der schriftstellerischen Praxis. Deshalb ist sein ästhetisches Denken vor allem als künstlerisches Programm interessant, das von der formalen Inspiration aus der bildenden Darstellung bis zur literarischen Künstlerbiografie reicht.1 Zwei Erzählungen, die späte Erzählung Die Herzogin von Albanera (1966) und einer von Urzidils ersten literarischen Versuchen, Der Schauspieler (1919), stellen die Bildbetrachtung direkt in den thematischen Mittelpunkt. In ihnen wird die Macht des Bildes reflektiert und literarisch in Szene gesetzt. Leben und Tod eines Kunstwerks, wie man den Inhalt jeweils paraphrasieren könnte, spielt sich in beiden Fällen sehr dramatisch ab, mit der Wucht scharfer Oppositionen – eben zwischen Leben und Tod, Leidenschaft und Wahnsinn, reiner Meisterschaft der Ausführung und dilettantischer Verzerrung der Betrachtung. Die Intensität der literarischen Bilder geht dabei nicht nur auf eine besonders intensive emotionale Kunstempfindung zurück. Sie sind durch den von Urzidil beanspruchten sehr hohen Stellenwert der Kunst bedingt, durch 1 Urzidils Interesse für die zeitgenössische Kunst dokumentiert am ausführlichsten der von Miloš Minařík (unter dem Pseudonym Vladimír Musil) gemeinsam mit Milada Urbanová (heute Minaříková) herausgegebene und zum Teil übersetzte Quellenband Život z českými malíři. Vzpomínky – texty – dokumenty (Urzidil 2003), darin die biographische Studie von Musil (2003); s. auch den Beitrag der beiden Genannten im vorliegenden Band zu Urzidils Kunstsammlung. Zu Urzidils Beschäftigung mit dem barocken Kupferstecher Václav Hollar s. die Beiträge von Ralph Melville und Jindra Broukalová im vorliegenden Band, zu Urzidils Verhältnis zur bildenden Kunst auch Schremmer (1986), Eichler (1999), Trapp (2009), Rauchenbacher (2011) sowie den Beitrag von Michaela Nicole Raß im vorliegenden Band.
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„den absoluten Ausdruck“, „den eindeutigen Vortrag der erlebten Wirklichkeit“, „dort hat sie das Menschliche schlechthin erfasst“ (Urzidil 1936: 12) – zu solchen emphatischen Registern erhebt sich Urzidils Kunstvokabular nicht nur vereinzelt. Dem Nimbus der Kunst soll auch die Kunstrezeption, die Kunstbetrachtung, standhalten. Wenn auch mit einer gewissen Überschwänglichkeit reiht sich Urzidil hier in das klassische Denken ein: ‚Das beste Kunstwerk spricht auch zur Empfindung‘, schrieb Goethe in der Einleitung in die Propyläen (1798), „aber eine höhere Sprache, die man freilich verstehen muß: es fesselt die Gefühle und die Einbildungskraft, es nimmt uns unsere Willkür: wir können mit dem Vollkommenen nicht schalten und walten, wie wir wollen, wir sind genötigt, uns ihm hinzugeben, um uns selbst von ihm, erhöht und verbessert, wieder zu erhalten. (Goethe 2000a: 48)
Den Verbindungspunkt zum Klassiker findet Urzidil vor allem im „symbolhaft-abstrakten Grundwesen der Kunst“ (Urzidil 1981: 219), das er aus Goethes Kunstdenken ableitet und worin er die Indizien für seine Modernität und auch seine Transzendenz zu finden glaubt: „Alles, was geschieht, ist Symbol und indem es sich selbst vollkommen darstellt, weist es zugleich auf ein Höheres hin“ (zit. n. Urzidil 1936: 37). Inwiefern er Goethe mit seiner Auslegung Recht tut, muss im Augenblick dahingestellt bleiben. Goethe meinte es nicht ganz so transzendent. Urzidils Goethezitat „weist es zugleich auf ein Höheres hin“ heißt im Original „deutet es auf das Uebrige“.2 Bemerkenswert ist jedoch, dass Urzidils orthodoxer Glaube an die „ewige Idealität der Kunst“, an „ihr religiöses Geheimnis und das religiöse Geheimnis derer, die an sie glauben“ (Urzidil 1936: 37) mit modernen formalistischen und semiotischen Zügen kombiniert wird. „Diese Religiosität liegt nicht in den Inhalten, sondern in der Art der Entstehung des Kunstwerks und in der Art seiner Entgegennahme durch den Betrachter“ (Urzidil 1936: 37). Urzidil betont immer wieder die Bedeutung des Rezeptionsaktes für die ästhetische Evidenz des Kunstwerkes. Mehr noch, die Rezeption, die individuelle Vergegenwärtigung des Kunstwerks als ästhetisches Objekt sei das Eigentliche der Kunst. Das,
2 „Denn ob wir eine einzelne Thätigkeit, die sich mit der Welt mißt, unter der Form eines Ulyß, eines Robinson Crusoe auffassen, oder etwas ähnliches an unsern Zeitgenossen, im Laufe sittlicher, bürgerlicher, ästhetischer, literarischer Ereignisse wahrnehmen ist ganz gleich. Alles was geschieht ist Symbol, und, indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das Uebrige. In dieser Betrachtung scheint mir die höchste Anmaßung und die höchste Bescheidenheit zu liegen.“ (Goethe 1904: 122)
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was von Urzidil als ein Glaubensakt beschrieben wird, ähnelt oft einem extremen, fast meditativen Formalismus.3 Was die Menschheit an der Kunst benötigt, ist nicht das Wissen um ihren Entstehungsvorgang, um ihre Ableitbarkeit aus Trieb und Gedanken, aus Stoff und Kraft, aus Anlass und Umwelt sondern der Glaube an ihre Transzendenz. In all jenem Wissen ist vom Kunstwerk selbst ja nicht das Geringste enthalten. Sondern das Kunstwerk liegt im Unerklärlichen, Undeutbaren, Geheimbleibenden. (Urzidil 1936: 36)
Die Konsequenz der Worte aus dem Kapitel Emil Filla oder das Kunstwerk als Glaubensakt liegt für Urzidil nicht im Herbeisehnen eines hermetischen Kunstwerks, sondern in der Überzeugung von der Offenbarungs- und Wandlungskraft der Kunst, die sich in der Tat der Betrachtung verwirklicht, im „Fallenlassen des Gewussten in den magischen Schöpfungsmomenten des Glaubens“. (Urzidil 1936: 37)4 Der Glaubensakt ist zugleich ein Willensakt.
2. Schöpferische Kunstbetrachtung
Die Umwandlung des elementaren Kunsterlebnisses in eine reflektierte Kunstbetrachtung wird zum Thema des Aufsatzes Schöpferische Kunstbetrachtung aus dem Jahre 1926, den Urzidil in der in Darmstadt im Verlag von Alexander Koch erscheinenden Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration veröffentlicht. An den Text über die Rezeption der modernen bildenden Kunst schließen sich thematisch weitere theoretische Aufsätze aus den 1920er Jahren in derselben 3 Die strukturalistischen Begriffe benutzt Urzidil nicht. Seinem ästhetischen Denken wären sie – wenn er sie gekannt hätte – jedoch nicht ganz fremd. 4 „Schöpferisch und intentional ist freilich nur die Naivität, die durch den Hebel der Gläubigkeit dynamisiert wird. Glaube, d.h. Religiosität, ist das Identitätsgefühl des Zeitlich-Endlichen mit dem Ewig-Unendlichen.“ (Urzidil 1936: 36) Goethe sah dagegen die Analogie zwischen Religion und Kunst vor allem in der Ernsthaftigkeit. S.: „Die Kunst ruht auf einer Art religiösen Sinn, auf einem tiefen unerschütterlichen Ernst; deswegen sie sich auch so gern mit der Religion vereinigt. Die Religion bedarf keines Kunstsinns, sie ruht auf ihrem eigenen Ernst; sie verleiht aber auch keinen, so wenig sie Geschmack gibt.“ (Goethe 2000b: 468) Eine Verknüpfung von Goethes ästhetischem Denken mit der modernen Kunstpraxis und Kunsttheorie kommt in Urzidils Aufsätzen immer wieder zum Vorschein und wäre sicherlich einer breiteren Analyse wert.
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Zeitschrift an: Die Magie des Unvollendeten (1926) sowie Grundsätzliches über die Kunst und den Künstler (1928). In allen diesen Arbeiten wird auf die Notwendigkeit und das „Bedürfnis des heutigen Kunstbetrachters nach einer aktiven Beteiligung am Kunstwerk“ (Urzidil 1926a: 214) aus verschiedenen Perspektiven hingewiesen – des Betrachters, des Künstlers und des Kunstwerkes. Urzidils ästhetisches Denken zeigt darin seine moderne Seite, indem es die Mittel der Darstellung und die Prozesse der Kommunikation im Umgang mit der Kunst in den Vordergrund stellt. Das Verstehen der höheren Sprache der Kunst beruht zugleich auf der sinnlichen Empfindlichkeit ‚und‘ gedanklichen Aktivität des Betrachters. Erst daraus gewinnt das Kunstwerk seine ästhetische Gestalt. Was Urzidil an der Kunstbetrachtung interessiert, sind nicht die Möglichkeiten ihrer theoretischen Festlegung. Er konzentriert sich auf die Beschreibung der Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk, zwischen der sinnlichen Form und ihrer transzendenten Zugehörigkeit. Die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und seinem Betrachter charakterisiert Urzidil als eine leidenschaftliche, extreme und exklusive Begegnung. Es wundert daher nicht, dass er oft das Bild einer innigen, erotischen Liebesbeziehung als metaphorische Basis verwendet: Was die meisten Menschen nur in seltenen Augenblicken ihres Lebens vermögen, nämlich einen [sic] zweiten Menschen einen Auftrieb zu erteilen, der gleichsam von Ewigkeit herkommt, das, was den meisten nur in Augenblicken der Liebe, bei einmaliger Zusammenfassung ihrer ganzen Intensität und Persönlichkeit möglich ist, wirkt beim Künstler als ununterbrochene Kraft, und von einem echten Kunstwerk fühlen wir uns geküßt und zu Tränen erschüttert wie in den Augenblicken der Liebe. (Urzidil 1928: 82)
Ein intimes und durchdringendes Erlebnis wird zum „Substrat“ der Erkenntnis, die sich vor allem im kreativen Prozess des „bewusste[n] individuelle[n] Weiterschaffen[s] am Kunstwerk“ bewerkstelligt, „seine[r] Fortsetzung, die in die Kunst mit hineingehört“ (Urzidil 1926b: 313). Denn Kunst betrachten heißt, ein bereits vorhandenes Kunsterlebnis in den Lichtkegel des Bewusstseins rücken, um so mit diesem Kunsterlebnis eine Gestaltwandlung vorzunehmen. (Urzidil 1926: 306)
Das passive Kunsterlebnis, dem der Betrachter ausgeliefert wird, soll sich in eine aktive, bewusste Kunstbetrachtung umwandeln, die wiederum zu „einem neuen bereicherten Kunsterlebnis“ (Urzidil 1926b: 306) wird, das zu einer höheren Betrachtung reift. Das Gefühl wandelt sich in einen Gedankengang, der erneut eine feinere Empfindung herbeiführt, ja ein Feingefühl erst bedingt. Die sinnliche Wahrnehmung und die Reflexion befruchten und potenzieren
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sich gegenseitig – und dies in „anwachsender Intensität und Fülle“ bis zur „völligen Sättigung des Beschauers“. (Urzidil 1926b: 311) Diese genussvolle Erfahrung des ursprünglich sinnlichen Kunsterlebnisses liest sich nahezu als der Vollzug der von Susan Sontag (1980) rund vierzig Jahre später in Against Interpretation (1964) geforderten ‚Erotik der Kunst‘. Urzidil sieht in einer solchen Erfahrung jedoch keinen Widerspruch zur Sinnerkenntnis, zumindest nicht im Falle der bildenden Kunst. „In der Form materialisiert sich, was hinter den Dingen denkt.“ (Urzidil 1928: 82) „Denn die Form ist ja das eigentliche Kunstwerk, die Umwandlung der Realität in den Geist und die Rückverwandlung des Geistes in die Realität.“ (Urzidil 1926b: 313) Es ist beachtenswert, dass Urzidil von der Kunstbetrachtung nicht das unmittelbare Verstehen der Form fordert, sondern von einem Prozess spricht, der unser „Hörigkeitsverhältnis zum Kunstwerk in ein Souveränitätsverhältnis umbildet“ und einen „Willensakt“ voraussetzt (Urzidil 1926: 306). Urzidils schöpferische Kunstbetrachtung resultiert aus der Kommunikation zwischen dem Werk und dem Betrachter, aus der Assoziationskraft des Kunstwerkes und der Assoziationsfähigkeit des Betrachters. Dabei sei wiederum die Form, als „Verhältnis zwischen Material und Thema“ verstanden, „die subtilste Assoziationsquelle“ (Urzidil 1926b: 312). Die Dynamik der Kunstbetrachtung, der wohlgemerkt „schöpferischen Kunstbetrachtung“, wird so zu einem Spiegelbild der Schöpfungsprozesse des Künstlers: Kunsterlebnis und Kunstbetrachtung des Beschauers entsprechen den beiden ineinandergreifenden Schöpfungsprozessen des Künstlers, dem synthetischen der Empfängnis, dem analytischen der Ausführung. Beide stehen während des Schaffensprozesses zu einander in dem gleichen rückbezüglichen und befruchtenden, bis zur gegenseitigen Erschöpfung dauernden Verhältnis, wie Kunsterlebnis und Kunstbetrachtung im Beschauer. (Urzidil 1926b: 313)
Auf diese Weise sind wir zum ersten Satz aus Grundsätzliches über die Kunst und den Künstler gelangt: „Den eigentlichen Erlebnisinhalt, die Substanz eines Kunstwerks, bildet immer das Naturell des Künstlers, geformt unter den Einwirkungen des anregenden Ferments.“ (Urzidil 1928: 78)
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2.1. Die Herzogin von Albanera
Abb. 1: Agnolo Bronzino, Eleonora di Toledo, 1543 (Nationalgalerie Prag). Der Effekt des sich verlebendigenden und sprechenden Bildes ist bei Urzidil nicht im Sinne moderner Rezeptionsästhetik begründet, sondern Konsequenz seiner Überzeugung von der ‚Kunst als Taten der Seele‘,
bemerkt Gerhard Trapp (2009: 117) über Urzidils Erzählung Die Herzogin von Albanera (1966) in seiner Analyse der Bildfunktionen im Werk Johannes Urzidils.5 Während man dem zweiten Teil dieser Aussage mit Sicherheit zustimmen kann, wäre der erste mit einem Blick auf Urzidils theoretische Aufsätze dennoch zu überprüfen. Indem Die Herzogin von Albanera eine, wie der Untertitel des Buches Die erbeuteten Frauen, in dem sie erschienen ist, ankündigt, ‚dramatische Geschichte‘ der leidenschaftlichen und zugleich fehlgeschlagenen Kunstbetrachtung erzählt, diskutiert sie und gestaltet zugleich eine literarische Kunstbeschreibung – mit vielen Anhaltspunkten zu den oben zitierten theoretischen Texten. Das vollendete Kunstwerk der italienische Renaissance, das Porträt der Eleonora von Toledo des Florentiner Malers Agnolo Bronzino (1503-1572), des Hofmalers der Medici, platziert Urzidil in eine beschauliche Szenerie des kleinbürgerlichen Prag der k.-u.-k.-Monarchie und verwickelt es in einen 5 Gerhard Trapp rekonstruiert die realen historischen Umstände der Prager Geschichte, dabei berichtet er genau über das historische Schicksal des Gemäldes. Er analysiert das literarische Motiv des „sprechenden Bildes“ in seiner Funktion für das Thema der „Inkommensurabilität von Liebe“ (Trapp 2009: 119).
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kuriosen Kriminalfall. Das Gemälde wird aus der Prager Landesgalerie von einem unauffälligen Bankbeamten namens Schaschek gestohlen, der einem „plötzlichen, mit der Natur einträchtigen Impuls“ (Urzidil 1966a: 147), einer „Liebe auf den ersten Blick“ (Urzidil 1966a: 144) folgt und das Porträt, von niemandem bemerkt, einfach nach Hause mitnimmt. Die Begegnung mit dem Kunstwerk und ihre Folgen verändern für immer die sichere Struktur von Schascheks Leben, das bis dahin nach berechenbaren Gesetzen verlief. Bemerkbar macht es sich allerdings erst einmal in der Verwechslung des Schinken- und Salamitages beim kleinbürgerlichen Ritual des täglichen Einkaufs in Herrn Maders Delikatessenladen. Die kriminelle Tat löst ferner eine Kette unglücklicher Zufälle mit mehren Toten aus. In den bloßen Konturen entfaltet Urzidil ein Bild der Unangemessenheit und Überspannung. Der Narr6 und die Herzogin sind darin die Hauptfiguren. „Wie dem auch war: Schaschek hatte die Herzogin bei sich, auf Gedeih und Verderb wie eine Geliebte oder vielmehr fast wie eine Ehefrau.“ (Urzidil 1966a: 147) Schaschek, der Kunstbetrachter führt mit dem gestohlenen Bild in seiner Wohnung imaginäre Zwiegespräche. „Eure Hoheit blicken mich heute unzufrieden an“ (Urzidil 1966a: 141), das Schauen und Angeschaut-Werden übersetzt Urzidil in die Sprache des Dialogs. „Ja, Sie atmen wieder, ich kann es sehen, und Sie sind wirklicher als jene Herzogin, deren Bildnis Sie sind“ (Urzidil 1966a: 142), beginnt das Erkennungsspiel zwischen Bild und Betrachter. Die Macht des Blickes, die Betrachtung selbst wird ergründet und vorgespielt, wenn der Herzogin, ihrem Bild, in den Mund gelegt wird: Empfängt man nicht mit den Augen am meisten und teilt man nicht mit ihnen am meisten aus? Alle anderen Sinne nehmen nur entgegen. Das Auge nimmt, schenkt, erzeugt sogar. Mit ihm ereignet sich am meisten. (Urzidil 1966a: 167)
Doch der Wahrheits- und Authentizitätsgehalt des Augenspiels genauso wie des Gesprächs erweist sich als sehr unsicher. Als Schaschek an der Echtheit der Augenfarbe des Bildnisses der Herzogin zweifeln muss, antwortet die gemalte Frau: Was für eine Frage! Übrigens glaube ich, wechselten meine Augen. Offenbar hängen die Augen, die jemand hat, von den Augen derer ab, die hineinblicken, besonders bei Frauen. (Urzidil 1966a: 167)
„Sie kennen mich doch gar nicht“ (Urzidil 1966a: 151) erwidert im Auftakt des zweiten Gesprächs die Herzogin Schascheks Worten, in denen er das Bild in seiner Schönheit, Liebenswürdigkeit und Liebesbedürftigkeit nachzeichnet 6 Schaschek: Das tschechische Wort ‚Šašek‘ bedeutet ‚Narr‘.
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– und enthüllt ihre Vergangenheit als lasterhafte Ehebrecherin und zweifache Mörderin. Das vermeintliche Eindringen in die Wirklichkeit des Bildes inszeniert Urzidil beinahe als eine Farce. Die erotisch derben Darstellungen von Schascheks Herzogin stehen in starkem Widerspruch zu den historischen Berichten über die dargestellte Eleonora von Toledo (1522-1562), die treue Ehefrau von Cosimo I. de’ Medici (1519-1574), die elf Kinder gebar und als Kunstmäzenin berühmt wurde. Der hingerissene Betrachter Schaschek hat jedoch keine Ahnung davon, er bekennt sich: „Ich habe nicht in Historienbüchern nachgesehen. Ich bin nicht taktlos.“ (Urzidil 1966a: 151) Das unreflektierte Kunsterlebnis, das auf der bloßen Hingabe dem Bildlichen gegenüber beruht, auf der „Liebe auf den ersten Blick“ schlägt um in sein Gegenstück – nämlich in die das Kunstwerk bedrohende Begierde, Lust beherrscht die Erfüllung. „Du sagst, es mache dir nichts aus, an mir zugrunde zu gehen. Aber ob ich an dir zugrunde gehen könnte, daran denkst du nicht“ (Urzidil 1966a: 169), beklagt sich die Porträtierte im letzten Gespräch und schließt die Augen: „Ihre sonst nur sekundenweise sichtbaren Liderkuppeln senkten sich langsam über ihren Blick.“ (Urzidil 1966a: 168) Und die Frage nach dem Wesen des Bildes bleibt offen. „‚Ist das Bild auch nur das Bild eines Bildes?‘ fragte er.“ (Urzidil 1966a: 168) Nicht Schaschek versucht diesmal, zu der Herzogin aufzublicken. Das Bild spricht auf einmal die Sprache des Bankbeamten – „die Zahl, die Magie der Errechenbarkeiten“ (Urzidil 1966a: 146) tritt an die Stelle der unberechenbaren Blicke. Auch Urzidils Humor ist dabei unverkennbar. ‚Als Allori mich malte‘, seufzte die Herzogin aus ihrem Schlummer, ‚da gestand er mir einmal, es habe die Farben mit seinen Tränen angerieben, und jede der Perlen in meinem Haar und auf meinem Kleide stünde für eine Nacht seines Kummers. Es sind 100 und 61, und er hat nicht gelogen, denn ich saß ihm 23 Wochen. Beachte also, was das Bildnis eines Weibes bedeuten kann. Wer bist du, der sich dieser Tränen anmaßt?‘ (Urzidil 1966a: 168)
Der Schöpfungsprozess, den in vollendeter formaler Ausführung Urzidil als „Röntgenbild des Geistigen“ (Urzidil 1928: 78) bezeichnet hat, soll nach ihm in der schöpferischen Kunstbetrachtung wieder zum Leben erweckt werden. Die Tränen der unerfüllten Liebe des Meisters Bronzino, die in sein Werk wörtlich und bildlich hineingeflossen sind, finden ihr groteskes Ebenbild in Tränen einer „frisch eingelegte[n] Faßgurke mittlerer Größe“, die der Bankbeamte auf dem Markt für sein Abendessen erstanden hat. Eine Schlagzeile auf dem Zeitungspapier, in das die tropfende Gurke von der Gurkenfrau eingewickelt wurde, kündigt das Drama an: ‚Noch immer keine Spur von der Herzogin von Albanera.‘
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‚Gut so‘, sagte Schaschek zufrieden. Der Gurke jedoch, die er zwischen drei Fingern vertikal vor sich hertrug, entfielen perlende milchopalene Tränen. ‚Weine nicht so blödsinnig‘, sagte Schaschek, ‚die Herzogin von Albanera befindet sich durchaus wohl.‘ (Urzidil 1966a: 134)
Die tragikomische Inadäquatheit der gemalten Perlen des Allori und der „perlenden milchopalenen Tränen“ der Gurke des kleinen Beamten ist fast possenartig, eben eines Schascheks – eines Narren – würdig. Urzidil bietet seinem Leser mit dem grenzwertigen Fall der Kunstbetrachtung, den er viel interessanter schildert, als er ihn letztendlich in einem ziemlich zusammenhanglosen Schluss moralisierend deutet, ein beinahe satirisches Bild. So gewinnt Urzidils Theorie der schöpferischen Kunstbetrachtung, erprobt im kleinbürgerlichen Umfeld, eine soziale Komponente und ist zugleich nicht ohne eine Dosis Selbstironie. Nicht nur der musische Narr, auch seine ganze, so behagliche wie beschränkte Umgebung ist am Scheitern seines Versuches, sich dem Kunstwerk dauerhaft innerlich zu nähern, beteiligt. Die leidenschaftliche wie exzessive Episode des Kunstraubes endet in der Erzählung wiederum mit einer banalen Zeitungsnotiz: Das von Bronzino gemalte Bildnis der Herzogin von Albanera, dessen Verschwinden vor kurzem gemeldet worden war, ist heute in unversehrtem Zustand der Landesgalerie wieder zurückgestellt worden. (Urzidil 1966a: 170)
Das begierige Liebesspiel zwischen Schaschek und Herzogin hat dennoch seine zarten und anmutigen Facetten, – die Bildbetrachtung ihre Augenblicke der Erfüllung: Schaschek griff zu seiner Geige. Der spielt, als malte er meine ganze Biographie, dachte sie. Wenn er mit einer Figur einsetze, hatte sie das Gefühl des Geborenwerdens, wenn er endete, das eines beseligenden Vergehens. [...] Als hielte ein Knabe zum erstenmal mich als seine Erste in den Armen. (Urzidil 1966a: 159)
2.2. Der Schauspieler In der frühen Erzählung Der Schauspieler (1918) ist Urzidil im Hinblick auf die Kunstbetrachtung viel radikaler verfahren. „Junge Leute vom Geist“ (Urzidil 1918: 501), spießiges großstädtisches Publikum treibt den Schauspieler, die Hauptfigur eines japanischen Holzschnitts, der „da entschieden nicht in rechte Hände geraten“ (Urzidil 1918: 501) ist, zum ästhetischen Selbstmord. Unverstanden, zornig, gelangweilt und verächtlich blickend versinkt der Schauspie-
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ler im Wasser und verschwindet von der Bildfläche, im wahrsten Sinne des Wortes. Vom jungen Autor Urzidil werden nicht die subtilen Tränen, sondern es wird das Blut des Künstlers zum Stein des Anstoßes stilisiert, die Rolle des Narren übernimmt der Ästhet: Inzwischen hatte ihn der Ästhet verständnisvoll aus Nähe und Entfernung betrachtet. ‚Er ist hinreißend, mein gnädiges Fräulein. Sie haben da wirklich ein schönes Geschenk bekommen. Betrachten Sie doch, wie fein sich der rostrote Fleck auf der Tunika ausnimmt. Welch ein Farbenkontrast. Ich habe immer betont, dass nur die Japaner ...‘ Der Schauspieler schleuderte seine Blicke verächtlich seitwärts. Was denn vermeinten diese lächerlichen Kinder von ihm zu verstehen? Der Meister Harunobu hatte sich beim Schneiden der Matrize die Hand verletzt. Das Blut war dick über die Erhabenheiten der Holzplatte getroffen. Davon hatte sich eine rotbraune Stelle gebildet. An der Verletzung war der Meister siech geworden, seine Hand verfaulte. Er fiel in sich und verschied. (Urzidil 1918: 502)
Inspiriert wurde Urzidil zu seinem Schauspieler von einem Holzschnitt des Künstlers Utagawa Toyokuni (1769-1825), den er bereits besaß.7 Im Text wird jedoch ein anderer Künstler als Schöpfer des Bildes ausgegeben: Meister Harunobu. Suzuki Harunobu (1724/25-1770) gilt als Vater des japanischen Farbholzschnittes und einer der ersten Schöpfer des Mehrfarbendrucks. Die Erfindung einer neuen künstlerischen Technik setzt Urzidil literarisch ins Bild, pathetisch wie bizarr als eine Lebenshingabe ans Werk. Die expressionistisch überspitzten Bilder in Der Schauspieler werden in Die Herzogin von Albanera subtiler aufgetragen. Die Motive bleiben erstaunlich ähnlich. Urzidil glaubt an die Inkarnation der seelischen Welt des Künstlers im Werk, in dem vom Gedanken zur Form gestalteten Material, was er mit dem Bild der mit Tränen oder Blut gemischten Farbe sehr suggestiv zeigt, – und zugleich an die Angewiesenheit des Kunstwerks an seine Materialität und seine volle Abhängigkeit „von den Augen derer [...], die hineinblicken.“ (Urzidil 1966: 167)8
7 Toyokuni war bekannt für seine Schauspielerporträts. In dem Kafka-Essay Vita brevis, ars longa erinnert sich Urzidil (1966b: 93): „1914 erwarb ich meinen ersten Toyokuni (der noch heute in meiner New Yorker Wohnung hängt) bei dem Prager Buchhändler Pyšvejc in der Heinrichsgasse [...].“ S. a. Trapp (2009: 111). 8 Ähnliche Gedanken in Bezug auf die Literaturrezeption formuliert Urzidil in dem poetologischen Gedicht Wer diese Zeilen liest aus dem Gedichtband Die Memnonssäule. Die Anfangsverse heißen: „Wer diese Zeilen liest / der ist ihr wahrer Dichter [...] Aus deiner Seel allein / hebst du, was ich dir reiche, […].“ ( Urzidil 1957: 10f.)
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Literatur
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Michaela Nicole Raß
Der Mythos vom „Mythus der Hände“ – Johannes Urzidils Lektüre von Leonardo da Vincis Stimme für die Augen
„Pathognomische Zeichen, eine Stimme für die Augen“, urteilt Lichtenberg (2011: 536 [F 826]) in seinen Aphorismen und benennt damit die künstlerische Leistung, die Johannes Urzidil in seiner detaillierten Analyse des Freskos Das letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci im Dominikanerkloster S. Maria delle Grazie in Mailand erbringt, indem er sein Augenmerk auf die dargestellte Gestik richtet und seine Eindrücke verbalisiert. Urzidil gelingt die Verwandlung visueller Sinnesreize in verlebendigende Formulierungen, die der Lebhaftigkeit der dargestellten Figuren angemessen sind, die bereits Johann Wolfgang von Goethe in seiner Ekphrasis des Freskos hervorhebt.
1. Urzidils Rezeption von Goethes Ekphrasis des Abendmahls
Der Goetheforscher Urzidil, Autor der Studie Goethe in Böhmen (1932, erw. 1962), bezieht sich in seinem Text Das Nachtmahl der Heiligen und der Mythus der Hände (Urzidil 1928) auf die Kritik Goethes an der 1810 in Mailand erschienenen kunstgeschichtlichen Untersuchung des Freskos von Giuseppe Bossi. Goethe verbindet die literaturkritische und kunsthistorische Analyse mit einer Beschreibung der von Bossi in den Jahren 1807 und 1809 angefertigten und 1817 von Großherzog Carl August von Weimar erworbenen Skizzen beziehungsweise Pausen von Kopien (s. Goethe 1995: 403-437). Johannes Urzidil schreibt sich in eine von Bossi begründete literarische Genealogie ein, indem er Deutungstraditionen variiert. Die signifikanteste These Goethes ist – neben dem Hinweis auf die Korrespondenz des Sujets mit dem Ort der Präsentation, dem Refektorium eines
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Klosters – die Akzentuierung der Lebendigkeit der dargestellten Figuren, insbesondere ihrer temperamentvollen Körpersprache. Mit dem Verweis auf die dargestellte Vitalität der Figuren rekurriert Goethe auf die Überlegungen Bossis und ermöglicht ebenso wie der italienische Künstler und Wissenschaftler eine psychologische und sozioanalytische Interpretation. Bossi hat sich mehrere Jahre lang intensiv mit dem zwischen 1494 und 1498 entstandenen Fresko von Leonardo da Vinci und diversen Kopien davon auseinandergesetzt. Er hat dem Mosaizisten Giacomo Raffaelli zugearbeitet, der 1807 vom italienischen Vize-König Eugène de Beauharnais den Auftrag erhalten hat, eine Kopie von da Vincis Fresco anzufertigen.1 Grundlage für die Arbeit des Steinkünstlers von 1810 bis 1817 bilden die zahlreichen Skizzen Bossis, der 1807 einen großen Karton und 1809 eine farbige Reproduktion angefertigt hat. Seine durch dieses bildkünstlerische Schaffen gewonnenen Erkenntnisse, seine Kritik an Reproduktionen und seine kunstgeschichtlichen Reflexionen fasst Bossi in der 1810 in Mailand erschienenen Publikation Del cenacolo di Leonardo da Vinci zusammen. Diese Analyse wird Großherzog Carl August von Weimar bei einem Besuch in Mailand als das Kernstück des Nachlasses des 1815 verstorbenen Künstlers und Wissenschaftlers Bossi vorgelegt. Carl August erwirbt daraufhin im Jahre 1817 Bossis Zeichnungen, die Goethe in Weimar einsieht und in den Wintermonaten 1817/1818 in Joseph Bossi. Über Leonard da Vinci Abendmahl zu Mayland (Goethe 1995) bespricht. Der dem Titel nachgeordnete Hinweis „Großfolio. 264 Seiten 1810“ ist ein Indiz dafür, dass Goethe neben den Skizzen auch Bossis Text eingesehen hat (Goethe 1995: 403). Diese Skizzen beeinflussen die Identifikation der dargestellten Szene. Bereits in den der detaillierten Analyse vorangestellten allgemeinen Bemerkungen erwähnt Goethe dezidiert, Bossi habe „von drei Wiederholungen die Köpfe, wohl auch Hände durch[gezeichnet]“ (Goethe 1995: 403). Im Zentrum der Ausführungen steht dementsprechend ein ausführlicher Vergleich dieser Brustbilder, verbunden mit einer Charakterisierung der dargestellten Figuren. Diesen Beschreibungen der Arbeiten von Kopisten ist 1928 eine Ekphrasis des Freskos von Leonardo da Vinci vorangestellt. Die Kopfporträts und Handstudien lassen keinen Hinweis auf die Einsetzung des eucharistischen Sakraments zu, da Bossi die Objekte, auf die gestisch hingewiesen wird, nicht wiedergibt. Zu diesen Referenzobjekten gehören auch die von Leonardo da Vinci gemalten Brotstücke und Weingläser. Deshalb bestimmt Goethe den dargestellten Zeitpunkt als den unmittelbar nach der Ver1 Dieses Mosaik befindet sich heute in der Minoritenkirche in Wien.
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ratsankündigung, die der Einsetzung des Sakraments vorausgeht,2 wenngleich ihm alle Bildgegenstände auf Grund einer Besichtigung des Mailänder Klosters bekannt waren, so auch das gebrochene Brot, dessen Darstellung als Indiz dafür zu deuten ist, dass auf dem Fresko der Moment nach der Einsetzung des Sakraments dargestellt ist. Urzidil, dem im Gegensatz zu Goethe nur Reproduktionen des Freskos zugänglich waren,3 folgt dieser Deutung Goethes. Auf beide Schriftsteller üben Kopien des Originals einen starken Einfluss aus. Die Beredtheit der von Bossi kopierten Gestik der Figuren von Leonardo da Vinci beeindruckt Goethe derart, dass die Anschauung der dem Schriftsteller vorliegenden Kopien die Erinnerung an Bilddetails des Originals verdrängt und Goethe diese deshalb ignoriert. Die Kopien beeinflussen jedoch nur die Bestimmung des Dargestellten, nicht die Analyse der Darstellung und des Verhältnisses des Freskos zum ihm umgebenden Raum. Goethe (1890: 375) hat im Rahmen seiner Italienreise am 23. Mai 1788 das Fresko besichtigt und es in einem Brief an Großherzog Carl August, den er am selben Tag verfasst hat, als „ein[en] rechte[n] Schlußstein in das Gewölbe der Kunstbegriffe“ lobgepriesen. Er kann deshalb – im Gegensatz zu Urzidil – die Bedeutung des Orts der Präsentation des Kunstwerks für seine persönliche Wahrnehmung und Deutung hervorheben. Er betont zudem vor allem die Dramatik der Szene, die „kräftige Er schütterung, leidenschaftliche Bewegung“ (Goethe 1995: 407). Die „Bewegung der Hände“ identifiziert er als das signifikante Ausdrucksmittel (Goethe 1995: 407). Goethe bestimmt die lebhafte Gestik als kulturspezifisches Merkmal, den mimischen Ausdruck der Gesichter führt er hingegen indirekt auf bekannte physiognomische Schemata zurück, denn die Ekphrasen der Detailzeichnungen Bossis ähneln den Beschreibungen von Gesichtern, wie sie Johann Kaspar Lavater oder sein Kritiker Lichtenberg formulieren. Goethe bezieht sich also nicht nur auf den Text und die Zeichnungen von Giuseppe Bossi, sondern auch auf Studien zur Physiognomie, die neben Lehren zur
2 Der von Bossi und Goethe bestimmte Zeitpunkt sollte auch für renommierte Wissenschaftler des frühen 20. Jahrhundert verbindlich sein, beispielsweise zitiert Heinrich Wölfflin (1908: 26) diese Interpretation. 3 Gerhard Trapp ist der Überzeugung, dass Urzidil das Fresko erst auf einer seiner Italienreisen, die der Schriftsteller ab 1929 unternahm, besichtigte, also nach der Erstellung der ersten Ideen und Fassungen des Textes über das Fresko Leonardo da Vincis um 1925 (Trapp 2006). Urzidil rezipierte demzufolge wahrscheinlich Reproduktionen des Freskos.
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Körperhaltung und zum Benehmen bei Hofe im 18. und im 19. Jahrhundert sehr verbreitet sind.4
2. Der Mythus der Hände – Urzidils Körper-Lektüren
Eine Renaissance derartiger Überlegungen zur Beredtheit des menschlichen Körpers lässt sich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts feststellen. Dementsprechend erscheint in „den 20er und frühen 30er Jahren […] eine erstaunlich hohe Zahl an Bildbänden und Illustriertenbeiträgen, deren Titel zunächst einmal die Bedeutung der Kategorie des Physiognomischen hervorheben“ (Öhlschläger 2008: 243). Johannes Urzidil entspricht diesem neu erwachten Interesse an der Lesbarkeit der menschlichen Erscheinung, indem er 1928 eine Ekphrasis des Freskos von Leonardo da Vinci unter dem Titel Das Nachtmahl der Heiligen und der Mythus der Hände in der Zeitschrift Die Horen publiziert (Urzidil 1928). Die Voraussetzung für seine Deutung des Kunstwerks ist eine Personifikation der Figuren, welche die Vorstellung innerer Vorgänge und der Entsprechung von Körpersprache und charakterlicher oder emotionaler Disposition ermöglicht. Urzidil wendet sich gegen Lichtenbergs zwei Bescheide auf Unlesbarkeit […]: den der Unerfassbarkeit menschlicher Gesittung und Innerlichkeit am Äußeren, am Leibe, zumal am Gesicht, und den der prinzipiellen Unverträglichkeit einer Offenbarung […] im Hinblick auf gerade das, was der Offenba rung bedürftig wäre, weil wir es mit Eigenmitteln nicht erkennen könnten. (Blumenberg 1999: 199) 4 Goethes Kenntnisse der Anstandslehre und des höfischen Zeremonialwesens seiner Zeit lassen sich einerseits an seinen Regeln für Schauspieler ablesen, andererseits an seinen dramatischen Texten. In Torquato Tasso beispielsweise werden über die Verfehlungen gegenüber dem höfischen Zeremoniell sowie über die Befolgung der in der Tugendlehre vorgestellten Regeln Personen charakterisiert und Konfliktebenen verdeutlicht. Goethe erarbeitet die Regeln für Schauspieler in Zusammenarbeit mit Johann Peter Eckermann und den Schauspielern Pius Alexander Wolff und Carl Franz Grüner. Eckermann stellt 1824 nach den Anweisungen aus Goethes Äußerungen und den Unterrichtsaufzeichnungen der Schauspieler einen systematischen Regelkatalog zusammen, der 1832 im Nachlass gedruckt wird. Die Empfehlungen zur Mimik und Gestik lassen auf die Kenntnis von höfischen Konzepten der Anstands- und Klugheitslehre schließen.
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Er fokussiert die Möglichkeit des Körpers, sich zeichenhaft zu verhalten und Semantik zu vermitteln, und stellt damit einen direkten Zusammenhang zwischen Gestik und intentionaler Sinngebung fest. Die Gesten interpretiert Urzidil also als Chiffren, die entweder als kodifiziertes Symbol eine Stimmung ausdrücken oder als Symptom eine verbale Äußerung begleiten (Flusser 1991: 14). Die Deutung der Geste als bloße Arabeske lehnt er hingegen ab. Urzidil definiert die Gesten als körperliche Artikulationsformen und damit als Zeichen, die dazu verwendet werden, die Gedanken, Gefühle und Intuitionen eines Sprechers auszudrücken und den Sinn des gesprochenen Wortes zu akzentuieren, wodurch die soziale Ordnung eines Gesprächs aktiv hergestellt wird (Müller 1998: 13ff.). Er begreift die Geste also als „Teil einer gesellschaftlichen Handlung, der als Reiz auf andere, in die gleiche gesellschaftliche Handlung eingeschaltete Wesen wirkt“ (Mead 1968: 81). Diese Eigenschaft ist vor allem der Körpersprache von Jesus Christus, Judas und Petrus eigen, deren Gesten die dargestellte Gruppendynamik am stärksten lenken und auf die Urzidil deshalb den Blick richtet. Die Gestik von Jesus Christus interpretiert Urzidil zudem als Verdeutlichung der religiösen Offenbarung.
3. Die Lektüre der Gestik
Bereits mit seinen ersten Worten bestimmt Urzidil das Gefühl der Einsamkeit als das Element, welches die Darstellung und das Dargestellte gleichermaßen bestimmt. Er beschreibt das der Komposition zu Grunde liegende Ordnungsprinzip und die Emotion, die elementar für die Psyche der Figuren ist. Auf Jesus Christus und Judas rekurrierend, identifiziert Urzidil „die beiden Einsamkeiten als Protagonisten des großen Trauerspiels“ und die „Gebärden der elf Apostel [als] in chorischer Bewegtheit von beiden Seiten herankreisend“ (Urzidil 1928: 593). Urzidil personifiziert damit einerseits eine abstrakte Vorstellung, eine Emotion, welche zwei dargestellte Figuren symbolisch repräsentieren, andererseits spricht Urzidil einem Werk der Bildenden Kunst dieselbe Zeichen- und Repräsentationsstruktur wie einer literarischen Arbeit zu, indem er das auf dem Fresko Dargestellte mit dem Inhalt eines antiken Dramas vergleicht.
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Dem religiösen Prosatext stellt er die Gattung der Tragödie gegenüber und deutet dadurch die Geschehnisse um den Opfertod von Jesu Christi als Unglück, als Katastrophe, die jedoch gemäß der Lehre der christlichen Religion eine Katharsis ermöglicht. Das von ihm benannte Gefühl der Einsamkeit verkörpern Jesus und Judas, den Urzidil Jesus als Spiegelfigur zuordnet. Er bezeichnet Judas ebenfalls als ‚Prota‘gonist und nicht als ‚Anta‘gonist, da durch ihn „Gott seine Macht offenbar werden“ lässt (Urzidil 1928: 597). Auf Grund ihrer Gestik repräsentieren die Hände als pars pro toto die Gestalt der Apostel. Die dargestellten Gesten erfüllen wegen ihrer Beredtheit die Aufgabe des Chors in einer antiken Tragödie. Durch diese Analogiebildung klassifiziert Urzidil Bilddetails, nämlich die Hände aller Apostel außer Judas und Petrus, ordnet diese einer Gruppe zu und bestimmt ihre Funktion für die Semantik des Kunstwerks. Da die angedeuteten Bewegungen der Hände rhetorischen Mustern entsprechen, dienen sie der Kommentierung der Haltung, die die Hauptfiguren einnehmen. Gemäß der von Urzidil zitierten Deutungstradition illustrieren sie zudem die Reaktionen der Apostel auf ein nicht dargestelltes Geschehen, die Prophezeiung des Verrats.
4. Die universale Gestensprache des Messias
Im Zentrum von Urzidils Text wie auch der Darstellung steht also die Auseinandersetzung mit der Verlassenheit des Gottessohnes, der Jesus nicht nur verbal auf dem Ölberg Ausdruck verleiht, sondern von der auch sein Körper spricht. Diese „herausgeschriene Verlassenheit des Sohnes ist […] die eigentliche Offenbarung des Vaters“ (Vitiello 2001: 202). Der Körper Jesu Christi, das fleischgewordene Wort, versinnbildlicht die religiöse Offenbarung, wodurch Urzidil das Unverträgliche, die Unfassbarkeit der Ausdrucksdimension des menschlichen Körpers und die des religiösen Geheimnisses, in einem Zeichen, der Geste, vereint. Urzidil rekurriert indirekt auf die Tradition der Herstellung eines Zusammenhangs der göttlichen und der menschlichen Körpersprache. John Bulwer entwickelt bereits 1654 die Vorstellung von einer „universale[n] Gestensprache“ (Hübler 2001: 347). Diese sei durch die Gestik Jesu Christi in eine ,heilige Sprache‘ verwandelt worden, da die natürliche Körpersprache des Menschen
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durch die Fleischwerdung dazu dienen würde, Wunder wie „Segnungen und Heilungen“ zu bewirken (Urzidil 1928: 593). Die universale Geste ist als Chiffre des Ausdrucks der Offenbarung des göttlichen Willens angemessen. Die Referenz auf entsprechende Bibelstellen verdeutlicht zudem, dass Urzidil die „Geste […] als einen der Sprache ebenbürtigen Entäußerungsmodus […], der sogar eine Leitfunktion übernehmen kann“, betrachtet (Hübler 2001: 350). Beim Abendmahl wird die Mission des Gottessohnes verdeutlicht, deshalb erkennt Urzidil die „Wahrheit der Verlassenheit“ bei der Interpretation des Freskos (Vitiello 2001: 202). Er nimmt es als strukturbildendes, die Figuren auf der Fläche ordnendes und die „zeitgenössisch[e]“ Renaissancedarstellung bestimmendes Element wahr, das zudem die stilbildenden Eigenschaften der Darstellung diktiert (Urzidil 1928: 593). Die Rekonstruktion der Einsamkeit aus der Pathognomik der zentralen Figuren ist die Grundlage für die gesamte Deutung des Freskos. Die Präsumtion für Urzidils Überlegungen ist die „Einwilligung, das Unlesbare doch lesbar gemacht zu sehen“ (Blumenberg 1999: 201). Er macht nicht nur das Gesicht, sondern auch die Hände zur „Quelle der Erkenntnis dessen […], was dahinter liegt“ (Blumenberg 1999: 201). Schon deshalb fragt Urzidil nach der psychischen Disposition der dargestellten Figuren, die durch den Bibeltext verifiziert wird. Urzidil ist nicht bestrebt, die „Absicht“ des Malers zu erraten, vielmehr vermag er durch Bibelzitate die innere Haltung und Gesinnung der Apostel und Jesu zu erhellen (Lichtenberg 2001: 545 [F 890]). Seine Interpretation beruht also auf der Konstruktion einer Analogiebeziehung von Kunstwerk und religiösem Text. Die Zitate ersetzen die Imagination des Disputs, den die auf dem Fresko dargestellten Gesten begleiten. Die Bibelzitate versetzen Urzidil in die Lage, die Umstände der dargestellten Szene zu bestimmen, weshalb eine enge Korrespondenz von Exegese und Interpretation des Kunstwerks die Überlegungen Urzidils prägt. Die religiösen Worte und die „Sprache“ des bildenden Künstlers, die Pathognomik, klingen zusammen (Lichtenberg 2001: 546 [F 890]). Durch die Lektüre des Bibeltextes und sein Wissen um künstlerische Darstellungskonventionen, die er sich im Verlauf seines Studiums der Kunstgeschichte angeeignet hat, vermag Urzidil das Mienenspiel und die Varianten der Sinnvermittlung der dargestellten Körper angemessen zu bewerten.
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5. Urzidils Rezeption der Ekphrasen Jacob Burckhardts
In seinem Text fragt Urzidil nach der Möglichkeit der Lesbarkeit verschiedener Informationsträger, da er die Deutung eines Kunstwerks mit der Schilderung der Ausdrucksdimension des menschlichen Körpers und Verweisen auf verschiedene Texte unterschiedlicher Provenienz verbindet. Urzidil bezieht sich auf mehrere kunsthistorische Untersuchungen, er rekurriert auf die Texte von Bossi und Goethe sowie auf die von Jacob Burckhardt, dem bekannten Kunstwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Jacob Burckhardt erprobt beispielsweise in seinem Cicerone (1855), einer Kunstgeschichte Italiens von der Antike bis zum Barock, die zugleich als Reiseführer dienen kann, durch die Konzentration auf einige wenige repräsentative Kunstwerke der Gattungen Architektur, Plastik und Malerei eine neuartige Instrumentalisierung der Kunstbeschreibung. Charakteristika des Cicerone finden sich jedoch bereits in einer frühen Schrift, in der er sich auch intensiv mit Leonardos Darstellung des Abendmahls auseinandersetzt und sie als „vielleicht das größte Meisterstück, das die Malerei je hervorgebracht“ hat, bezeichnet (s. Burckhardt 1930: 12). Er verknüpft die Formulierung eines ästhetischen Urteils mit der sprachlichen ,Nachbildung‘ der Wahrnehmung der Kunstwerke als sichtbare und damit evidente Resultate historischer Entwicklungen (s. auch Burckhardt 2009: 63ff.). Die Einordnung des singulären künstlerischen Ausdrucks in kulturgeschichtliche Zusammenhänge verdeutlicht den repräsentativen Charakter der ausgewählten Werke. Burckhardt verzichtet zumeist auf eine Stilanalyse zugunsten einer Beschreibung, in der er versucht, die Erscheinung der Kunstwerke durch die Verwendung zahlreicher Adjektive anschaulich sprachlich abzubilden. Signifikante Eigenschaften und damit der Charakter der Darstellung und des Dargestellten werden mit wenigen Worten erfasst, deren Semantik visuelle Eindrücke assoziieren lässt. Die solcherart skizzierten Arbeiten sind gemäß einer stilgeschichtlichen Konzeption in eine chronologische Anordnung eingebunden, die Urzidil ignoriert, da er nur eine die Figuren typisierende Evokation zitiert. Urzidil unterläuft die Objektivierungsversuche Burckhardts durch das Zitieren des emphatischen Sprachduktus und wiederholt sprachliche Muster verlebendigender und vergegenwärtigender Ekphrasen, in denen Kunstbeschreibungen und Interpretationsverfahren vereint werden. Während in den Texten Burckhardts Methoden der wissenschaftlichen Erklärung von Phänomenen und Muster der verlebendigenden Beschreibung von Sinneseindrücken kor-
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relieren, konzentriert sich Urzidil derart auf eine Auseinandersetzung mit der Psyche der dargestellten Figuren, dass er einen wissenschaftlichen Sprachduktus nicht nachahmt. Die Konzentration auf das Dargestellte wird nicht von Versuchen unterbrochen, die Darstellung in ein nach stilgeschichtlichen Aspekten geordnetes System einzugliedern. Primär stellt Urzidil einen kulturgeschichtlichen Rahmen nicht durch Hinweise auf Kunstwerke her, sondern indem er auf religiöse und semiwissenschaftliche Texte aus unterschiedlichen Epochen dezidiert rekurriert. Die Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Kategorisierungsversuchen erlaubt eine Konzentration auf Details, wie auf die Körpersprache der auf dem Fresko dargestellten Figuren. Diese Fokussierung verdeutlicht bereits ein dem Text vorangestelltes Zitat von Jacob Burckhardt, in dem dieser die Hände als das signifikanteste Merkmal des Freskos bezeichnet, aus dem seine Bedeutung resultiere (Urzidil 1928: 593). Das Urteil des renommierten Kunstwissenschaftlers rechtfertigt die von Urzidil gewählte Methode, aus der Deutung der Pathognomik einen Sinn zu folgern. Als zweiten Gewährsmann nennt Urzidil Leonardo da Vinci selbst (Urzidil 1928: 597). Der Renaissancekünstler kommentiert und charakterisiert die Körpersprache in seinen Notizen zum Abendmahl und seinen Aufzeichnungen mehrmals (Suh 2005: 107ff.). Die Anzahl der dargestellten Hände deutet Urzidil als Bestätigung für seine Annahme, dass Leonardo da Vinci „die Handgeste als stärkstes Ausdrucksmittel und als notwendige Ergänzung des Gesichtsausdrucks empfand“ (Urzidil 1928: 597). Der Künstler bürgt durch diese Annahme Urzidils für die Wahl der Methode, die der Interpretation des Kunstwerks zugrunde gelegt wird. In seinen Notizen dringt Leonardo da Vinci auf eine derartige Darstellung von Figuren, mit dem Ziel, „dass die Betrachter an ihren Haltungen ihre Veranlagung leicht erkennen können“ (Suh 2005: 44). Die Darstellung soll also auf physiognomischen und pathognomischen Schemata basieren. Urzidil legt seinem Text eine entsprechende Rezeption des Kunstwerks zugrunde.
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6. Der „Mythus“ als Überdetermination
Urzidil rekurriert bei der Deutung der auf dem Fresko dargestellten Gestik auf die Aufzeichnungen des Künstlers, auf die kunsthistorischen und literarischen Texte von Bossi, Goethe und Burckhardt sowie auf Bibeltexte. In allen zitierten kunstgeschichtlichen Untersuchungen wird der Gestik besondere Bedeutung zugemessen, die diesem Bilddetail zugesprochene Ausdrucksdimension dominiert die Wahrnehmung der Darstellung und des Dargestellten gleichermaßen. Durch die Wiederholung der Fokussierung auf die Gestik etablieren sich Deutungstraditionen, die eine Verengung des semantischen Feldes zur Folge haben, wie die Vernachlässigung von Bilddetails, die auf eine Einsetzung des Sakraments schließen lassen, verdeutlicht. Die Konzentration auf einige wenige Details hat eine Überdetermination zur Folge, die Urzidil durch Verweise auf verschiedene Bibelzitate, welche das Motiv der Hände betreffen, verstärkt (Urzidil 1928: 596). Die Überlieferungstradition auf dem Feld der Kunstgeschichte und der Literatur gewährleistet also die Überdetermination eines Bilddetails, das dadurch legendären Charakter bekommt. Aufgrund dieser Entwicklung spricht Urzidil (1928: 593) von einem „Mythus der Hände“. Er nimmt sich durch Text- und Bildzitate dieses Mythos’ an und befasst sich intensiv mit der Ausdrucksdimension der Hände als Zeichen. Durch die Konzentration auf die Entzifferung des mimischen und gestischen Ausdrucks setzt Urzidil jedes thematisierte stilbildende Element der Darstellung und alles Dargestellte in Bezug zur semiotischen Rekonstruktion von Wesenszügen und Gemütszuständen aus der Körpersprache der Figuren.
7. Die Sprache von der „Einsamkeit Christi und Einsamkeit des Judas“
In Urzidils Fokus rücken die „Einsamkeit Christi und Einsamkeit des Judas“, die er aus der Gestik folgert (Urzidil 1928: 597). Vor allem die Hände Jesu Christi „sprechen davon, […] welch ein unheimliches Entsetzen in ihm lau-
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ert vor dem donnernden Gebot, das die Ewigkeit an ihn richtet“ (Urzidil 1928: 593). Die Fleischwerdung ist die Voraussetzung für eine derartige Beredsamkeit. Urzidil erfasst sie auch in ihrer Relevanz für die Bildende Kunst, denn die Fleischwerdung des Wortes war der Zugang des Göttlichen zur Sichtbarkeit eines Körpers, war also die ‚Öffnung‘ der klassischen Nachahmung ‚auf‘ die Welt, die Möglichkeit, die Körper in den Bildern der religiösen Kunst mitspielen zu lassen (Didi-Huberman 2000: 192).
Die Darstellbarkeit des Körpers bietet die Möglichkeit für eine pathognomische Deutung und eine Deduktion des nicht Darstellbaren, der psychischen Verfassung und der nonverbalen Artikulation der Offenbarung sowie der Verdeutlichung der Menschlichkeit des Jesus von Nazareth. Auch Bossi vermeint eine Betonung des menschlichen Schicksals des Gottessohnes und eine damit einhergehende Abstraktion des Sakralen wahrzunehmen. Goethe wiederholt die Thesen Bossis und interpretiert dementsprechend die Gestik von Jesus als Affekt-Geste, die seinem menschlichen Leiden Ausdruck verleiht. Urzidil (1928: 594) schließt sich dieser Deutungstradition an und hebt die Reaktion des „Menschliche[n] auf die menschliche Seite seines Schicksals“ hervor. Nur die Gestik vermag zugleich, auf das zu erfüllende Schicksal des Gottessohnes und seine emotionale Reaktion, das ,Entsetzen‘, bereits beim Abendmahl explizit hinzuweisen, denn „das ‚Göttliche‘ [ist] nicht in Sprache übersetzbar“ (Vitiello 2001: 196). Die Hände formulieren, was Jesus nur durch indirekte Sprechakte andeuten kann, die den meisten seiner Apostel unverständlich bleiben, weshalb sie die Äußerungen „übergehen“ (Urzidil 1928: 596). Der Körper artikuliert das Unsagbare, denn die „Offenbarung, oder Mission, ist Verlassenheit […]: Dies ist der ‚unerhörte‘ Sinn der göttlichen ‚kenōsis‘, des Skandals des Kreuzes“ (Vitiello 2001: 202). Diesen ,Skandal‘ reflektiert Urzidil, indem er die ,Einsamkeit‘ der Figuren als den Eindruck benennt, der die Wahrnehmung des Betrachters dominiert. Er zieht jedoch auch Kunstzitate heran, um die Bedeutung der Kreuzigung nuanciert zu analysieren.
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8. Kunstzitate
Die Zitate von Kunstwerken haben einerseits die Funktion, das Fresko Leonardo da Vincis im Feld der Kunstgeschichte und im Gesamtwerk des Künstlers zu verorten oder kunsthistorische Darstellungstraditionen aufzuzeigen. Urzidil stellt einen Bezug her zwischen dem von ihm beschriebenen Fresko und einer weiteren Arbeit von Leonardo da Vincis. Der Verweis auf ein Gemälde, das die Heilige Anna Selbdritt zum Gegenstand hat, dient dazu, Darstellungskonventionen des Künstlers aufzuzeigen. Die Physiognomie des Johannes und des Philippus entsprechen demselben, von Leonardo da Vinci bevorzugt als Schema herangezogenen Schönheitsideal. Die zwei Figuren verkörpern durch ihre androgyn wirkenden Züge und feingliedrigen Körper laut Urzidils (1928: 598) kunsthistorischem Urteil den „weiblich gearteten Lieblingstypus“ Leonardo da Vincis. In seinem Text, in dem er die literarische Ekphrasis mit einer kunstgeschichtlichen Analyse vereint, zeigt Urzidil auf, dass Leonardo da Vinci in seiner Darstellung des Abendmahls nicht nur Konventionen folgt, sondern auch eine bestimmte Vorstellung von idealen Körpermaßen entwickelt und variiert. Andererseits konzentriert sich Urzidil auf signifikante Bilddetails wie die Hände Jesu Christi und der Apostel. Er rekurriert auf den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, um die von Bossi und Goethe als signifikantes Merkmal der Darstellung hervorgehobene Lebhaftigkeit und Lebendigkeit der deiktischen Gesten der Apostel der „Abstraktheit jener Hand gegenüberzustellen, mit welcher auf der Isenheimer Kreuzigung […] Johannes der Täufer auf den Menschensohn hinweist“ (Urzidil 1928: 598). Die durch das Kunstzitat hergestellte Interpikturalität hat außerdem die Funktion, die Modifikation der Form der Hände Jesu zu veranschaulichen. Die Veränderung der äußeren Erscheinung der Hand durch die Wundmahle ist ein sichtbares Zeichen für die Erfüllung der beim Abendmahl durch die Wandlung versprochenen Gabe, den Opfertod. Das Kunstzitat verdeutlicht die Bedeutung des Aussehens und der Bewegung der Hände für die christliche Religion, offenbaren die Hände Jesu Christi doch das Geheimnis des christlichen Glaubens, bestimmen den religiösen Ritus und gewährleisten die Identifizierung des Auferstandenen (Urzidil 1928: 594). Urzidil reflektiert mit dem Hinweis auf die Kreuzigung Grünewalds die „Opferungsökonomie [der Fleischwerdung] und insofern eine ‚Öffnung in‘ der Welt der Nachahmung,
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die Bloßlegung des Fleisches unter seiner Hülle oder in der Masse eines Körpers“ (Didi-Huberman 2000: 192). Durch das Bildzitat verstärkt Urzidil (1928: 593) die These, dass die Schrecken dieser ,Enthüllung‘ des fleischgewordenen Wortes bereits im ,ahnungsvollen‘ Blick des Jakobus vorweggenommen werden. Dieser Blick geht unter die Haut. Das vorbestimmte Geschehen entzieht sich dem Einfluss aller Beobachter und ,Chronisten‘, die Urzidil (1928: 593) ebenso wie die Künstler als „Augenzeuge[n]“ kennzeichnet. Die Augen richten sich, verstärkt durch das Bildzitat, auf die Gestik der Figur, die gemäß den kunstgeschichtlichen Traditionen als Jesus Christus bestimmt wird.5 Urzidil nimmt die Gestik nicht als Instrument zur Einsetzung des Sakraments, also als rituelle, stabilisierende Handlung wahr. Er führt die von Bossi entworfene und von Goethe bestätigte Deutungstradition fort, indem er sich einer konventionellen Auslegung verweigert. Da die Gesten keinen rhetorischen Mustern entsprechen und daher nicht sprachbegleitend, sondern sprachersetzend sind, ermöglichen sie divergente Deutungen.
9. Die Pathognomik des Messias
Urzidil (1928: 594) verbindet die Pathognomik mit einer religiösen Auslegung, denn die Gestik Jesu Christi „deutet die ganze Lehre: [b]armherzige und beispielgebende Vereinbarung menschlichen Schicksals mit dem Gesetz“. Die Rechte offenbart durch eine „Abwehrbewegung“ menschliche Ängste und Fluchtgedanken, also eine unwillkürliche emotionale Reaktion auf die Mission (Urzidil 1928: 594). Die Geste der rechten Hand lässt Urzidil also auf die 5 Leonardo da Vinci hat auf seinen Skizzen zum Abendmahl verschiedenen Figuren Namen von Aposteln zugeordnet. Ein eindeutiger Bezug zur Darstellung des Freskos lässt sich jedoch aufgrund der vielfältigen Veränderungen nur bedingt herstellen, weshalb meist auf eine Kopie rekurriert wird, die ein unbekannter Zeitgenosse Leonardo da Vincis angefertigt hat. Auf der Kopie sind unter den dargestellten Figuren jeweils die entsprechenden Apostelnamen vermerkt. Aufgrund des Entstehungszeitraums gilt diese Kopie, die im Museum in Leonardos Geburtshaus zu besichtigen ist, als verbindliches Dokument. Da sie eine der ersten Kopien des Freskos ist, wurde sie bereits von Zeitgenossen des Künstlers intensiv rezipiert.
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Psyche der Figur schließen, er interpretiert sie als Affekt-Geste, als kodifiziertes Symbol, das eine Stimmung ausdrückt (s. Flusser 1991: 14). Dahingegen deutet er die Geste der Linken als reflektierten Ausdruck des göttlichen Wesens der Figur, die voll „Herzensverständnis“ die Bereitschaft, die göttliche Sendung zu erfüllen und das von Gott zugedachte Schicksal anzunehmen, signalisiert (Urzidil 1928: 593). Die Gestik der Linken wird dadurch als unkonventionelle Ausdrucksform gekennzeichnet, die wahrhaftig ist, da der Sender ihre Form und räumliche Ausrichtung unmittelbar beeinflusst; sie ist eine ,majestätische Geste‘, die Jesus als Vertreter einer „höhere[n] Gesetzlichkeit“ zeigt (Urzidil 1928: 594). Mit einer ,erhabenen Gebärde‘, die keinem rhetorischen Muster folgt, nimmt er seine Bestimmung als fleischgewordenes Wort an und offenbart gleichzeitig das Geheimnis des christlichen Glaubens. Die Gestik versinnbildlicht die „ganze Lehre“ der christlichen Religion (Urzidil 1928: 594). Urzidil vertieft die Differenz der Ausdrucksdimension der Gestik der Rechten und der dargestellten Bewegung der Linken und ordnet sie dadurch nicht eindeutig der Darstellungstradition zu, die für eine derartige Kombination von Gesten geeignete Deutungsmuster vorlegt. Leonardo da Vinci hat auf seinem Fresko mehrere Darstellungskonventionen verbunden. Durch die geöffneten Arme bilden die Umrisslinien des Oberkörpers Jesu ein Dreieck, wodurch die Figur symbolisch die göttliche Trinität verkörpert. Jesus Christus setzt das Sakrament ein, indem er auf Brot und Wein weist, gleichzeitig kennzeichnen ihn die gesenkte Rechte und die geöffnete Linke als letzten Richter. Auf vielen Bildwerken – beispielsweise auf einem Fresko von Giotto di Bondone in der Arenakapelle in Padua –, die das Jüngste Gericht veranschaulichen, verurteilt Jesus durch ein Senken der Hand und ein Drehen der Handfläche nach unten zur ewigen Verdammnis, während die nach oben geöffnete Linke die Aufnahme ins Paradies bekräftigt. Durch diese Tradition wird deutlich, dass die Rechte, die auf Judas weist, ihn verurteilt und damit seine Identität als Verräter bekräftigt. Judas spiegelt die Geste mit seiner linken Hand antagonistisch und bestätigt dadurch das Urteil, während seine Rechte, die einen Geldsack umfasst, Zeugnis vom Verrat ablegt. Leonardo da Vinci verschränkt eine konventionelle Geste der Gerichtsbarkeit mit einer sozialen Handlung im religiösen Bereich. Urzidil übernimmt die traditionelle Aufgabenzuordnung der Hände und abstrahiert diese, denn er spricht der Rechten die Vermittlung von menschlichem Irrtum und Abgründen zu, während die Linke den göttlichen Willen bestätigt und dadurch auf die göttliche Sphäre verweist. Er verschiebt jedoch wie Goethe den Akzent auf die Identifikation des Verräters und rekurriert
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auf die Konventionalität der Gesten der sakralen Gerichtsbarkeit lediglich metaphorisch durch einen Hinweis auf das „harte Gesetz“ und die „Sendung der Dunkelheit“, die Judas zu erfüllen hätte (Urzidil 1928: 594). Abermals stellt er einen Bezug her zur Komposition, zur Lichtregie und zur Farbgebung, welche auf die Identität der dargestellten Figur und ihre Rolle schließen lassen würden. Er bestimmt Judas, der in einem „mystischen Schatten“ sitzt, als die Figur, ohne die der Bildaufbau von „vollendeter Symmetrie“ wäre (Urzidil 1928: 597ff.). Wie Goethe dient Urzidil die Analyse stilprägender Elemente und des Einsatzes der künstlerischen Mittel sowie des Bildaufbaus der Bestätigung einer angemessenen Bestimmung der dargestellten Figuren und der pathognomischen beziehungsweise der religiösen Deutung.
10. Die Gestik des Judas
Der Korrespondenz der Gestik der Rechten Jesu und der Linken des Ju das entspricht Urzidil (1928: 594) zunächst durch den Hinweis, dass Judas „der andere große Einsame neben Christus ist“. Die Wiederholung der Geste Jesu durch Judas begreift er einerseits als Affekt-Geste und als Ausdruck von „unwillkürlichem Entsetzen“, Überraschung und Furcht, andererseits als Zeichen von Verunsicherung ob der ihm bestimmten Rolle (Urzidil 1928: 597). Die rechte Hand umfasst den Beutel und ist deshalb zu keiner Gestik fähig, weshalb sie Urzidil (1928: 597) weitgehend ignoriert. Urzidil (1928: 597) zieht zur Deutung dieser Figur alle vier neutestamentlichen Evangelien heran und bestimmt die Beschreibung des Abendmahls durch Matthäus, einen „Augenzeuge[n]“, als für die Darstellung verbindlich. Er rekurriert ebenfalls auf die talmudische Metapher des „Wagen Gottes“, um die Darstellung des Judas zu interpretieren und bestimmt Judas damit als ein Werkzeug, das dazu dient, den göttlichen Willen umzusetzen und zu realisieren (Urzidil 1928: 594; s. Psalm 68). Die Anzahl der vielfältigen Verweise verdeutlicht, dass Urzidil (1928: 593) die Gestik des Judas ebenso wie die von Jesus Christus als Offenbarung der Identität und der Rolle im „Trauerspiel“ und damit als Zeichen einer ‚Verdichtung‘ begreift.
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11. Die Gestik Petri
Wie Jesus und Judas zeichnet sich auch Petrus durch eine sprachersetzende Gestik aus, die keinem rhetorischen Muster folgt. Da die Rechte ein Messer umfasst, kann eine Geste lediglich angedeutet werden, weshalb Urzidil (1928: 598) seine Deutung dieses Bilddetails auf verschiedene Bibelstellen stützt, die auch Ereignisse betreffen, die dem Abendmahl folgen. Er fasst das Messer als typisches Attribut des Apostels Petrus und als Substitut für das bei der Gefangennahme Jesu gezogene Schwert auf und legitimiert dies durch den Verweis auf ein Bibelzitat (s. Urzidil 1928: 598). Wie die Aufzeichnungen von Leonardo da Vinci verdeutlichen, weist die Darstellung eines Messers nicht zwingend die Identität des Dargestellten aus. Leonardo da Vinci beschreibt eine von ihm skizzierte Szene als Darstellung von alltäglichen Handlungen, die ein Mahl begleiten können. Er schildert eine Figur, die dem Nachbarn etwas ins Ohr [sagt], und der, welcher ihm zuhört, beugt sich zu ihm hinüber und leiht ihm das Ohr, wobei er ein Messer in der einen Hand hält und in der anderen das Brot, von jenem Messer durchgeschnitten (Suh 2005: 107).
Ferner ist von einer weiteren Figur die Rede, welche „ein Messer in der Hand hält“ und beim Umdrehen „mit dieser Hand einen Becher auf dem Tisch um[stößt]“ (Suh 2005: 107). Laut den Aufzeichnungen Leonardo da Vincis dienen Messer nicht als Attribute, sondern als nützliche Utensilien, die für die Einnahme eines Mahls typisch sind. Mit der Deutung des Messers als Attribut folgt Urzidil gleichwohl kunstgeschichtlichen Interpretationsmustern. Im Attribut sieht Urzidil den Lebensweg des Apostels vorweggenommen, und interpretiert es wie die Gestik des Judas und die von Jesus Christus als Moment der Komprimierung. Das Sein des Apostels scheint sich zu dieser Bewegung der Hand zu verdichten. Die Kumulation von Identitätsmerkmalen stellt Urzidil jedoch nur bei der Betrachtung der Rechten fest, die Linke bezieht er ausschließlich auf die dargestellte Situation, sie vermittelt die psychische Verfassung und „enthält alles menschlich Zweifelnde seiner Lage“ (Urzidil 1928: 598). Urzidil definiert die Geste der Linken als deiktische Bewegung, die rhetorischen Mustern der Zeigegeste folgt. Deshalb hebt er explizit ihre „deutende […] Realität“ hervor (Urzidil 1928: 598). Der sprachersetzende Charakter der Gesten Jesu, des Judas und des Petrus ermöglicht Urzidil nicht nur die Bestimmung des dargestellten Zeitpunkts als
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den des Verstummens Jesu nach der Verratsankündigung und vor dem Einsetzen des Sakraments. Da die Gesten nicht sprachbegleitend sind, vermag Urzidil sie auch als verbale Äußerungen ersetzenden Kommentar des dargestellten Geschehens zu deuten. Gleichzeitig drücken sich in den Gesten das Sein der dargestellten Figur und ihr Lebens- beziehungsweise Leidensweg aus, zudem offenbart sich in der Gestik Jesu die „ganze Lehre“ der christlichen Religion (Urzidil 1928: 594).
12. Die Gestik der Jünger
Im Gegensatz zu den unkonventionellen majestätischen Gesten von Jesus Christus, Judas und Petrus beschreibt Urzidil die konventionellen Gesten der Jünger nicht detailliert, da sie keine „Leitfunktion übernehmen“ (Hübler 2001: 350). Er wendet sich formalen, ästhetischen Problemen zu und weist nur auf den Variantenreichtum des Ausdrucks von innerer Erregung durch die Körpersprache hin (Flusser 1991: 15f.). Hierbei spricht er von einer „Climax“, wobei die Gestik von Jacobus maior den Höhepunkt markiere (Urzidil 1928: 599). Die Jünger mit ihren rhetorischen Gesten bilden, so Urzidil (1928: 599), zwei ,rhythmische Einheiten‘ und damit eine „Symmetrie des Augenblicks“, die durch majestätische Gesten unterbrochen wird. Urzidil spricht dem Kunstwerk eine Zeichenstruktur zu, deren Gefüge er mit der Gliederung der vom Sprachrhythmus geprägten Rede vergleicht. Zudem definiert er die Symmetrie als das Zeichen, welches das Schöne und damit die Schönheit der Darstellung signalisiert. Die Symmetrie repräsentiert nicht nur anschaulich das Schöne, indem sie die räumliche Darstellung harmonisch gliedert, sondern sie zeigt das Schöne auch auf der Metaebene durch die Übereinstimmung von der dargestellten räumlichen Struktur mit dem zeitlichen Ablauf, in den das Dargestellte eingeordnet werden kann. Urzidil stellt eine Entsprechung der Darstellung der Figuren im Raum mit dem dargestellten Zeitkontinuum her. Er setzt die Anordnung der Figuren auf der Fläche beziehungsweise im imaginären Raum in Bezug zur Dimension der Zeit, denn in „der Geste finden sich Raum und Körper in der Dimension der Zeit […] [, und in] ihr sind Raum, Zeit und Körper verschmolzen“ (Montigel 1987: 64).
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Auf dem Fresko können die sinnstiftenden Bewegungen der Hände durch die Erstarrung des Zeitflusses im Bild nur in ihrer momentanen Erscheinung angedeutet werden. Ihre Positionierung im imaginären Raum lässt jedoch darauf schließen, dass die zehn „wichtigsten Bewegungen der Hand [dargestellt sind], nämlich nach innen, nach außen, rechts und links, kreisend, nach unten und nach oben, Schließen und Öffnen, Spreizen und Aneinanderlegen der Finger“ (Suh 2005: 56). Die Gesten dienen als Illustratoren und Adaptoren, wobei sie entweder „in enger Beziehung zum Gesprochenen stehen, indem sie dies untermalen, verdeutlichen oder illustrieren“, oder sie dienen „dazu, bei äußeren Ablenkungen von der Sprachproduktion die Aufmerksamkeit und Erregung zurück auf die eigentliche Aufgabe, i.e. das Sprechen, zu lenken und zu kanalisieren“ (Wallbott 1982: 5/13). Die dargestellten Varianten redebegleitender Gesten werden bereits von Cicero in der Abhandlung De oratore und von Quintilian in seinen Überlegungen zur Rhetorik, Institutionis oratoriae, beschrieben (s. Müller 1998: 36ff.). Die performative Gestik von Andreas und Jacobus maior hat appellative Funktion, während die selbstreferentielle Gebärden von Philippus und Thaddäus primär Ausdrucksfunktionen erfüllen, da sie Selbstbeschreibungen der Redner und Definitionen ihrer Person im sozialen Gefüge begleiten. Die angedeuteten Handbewegungen von Matthäus und Simon akzentuieren die verbalen Aussagen und strukturieren den Sprachrhythmus der Rede. Die Haltung von Bartholomäus signalisiert Erregung und Anteilnahme. Johannes hingegen verharrt in einer konventionellen sakralen Gestik, da er die Finger zum Gebet verschränkt hat. Jacobus minor, Petrus, Thomas und Matthäus kommunizieren mittels deutlicher Zeigegesten, die ebenfalls von Quintilian beschrieben werden (Müller 1998: 37). Das Zitieren von rhetorischen Mustern hebt den engen Bezug der Gesten zur verbalen Kommunikation hervor. Durch ihre Konventionalität vermag Urzidil die Verweisstruktur von Geste und Wort zu vermuten, beispielsweise sieht er „Philippus in leidenschaftlichen Beteuerungen“ (Urzidil 1928: 599). Die Formalisierung der künstlichen, normierten Gesten gemäß rhetorischen Schemata ermöglicht Urzidil jedoch nicht nur den Rückschluss auf verbal vermittelte Sinnkontinua, sondern auch auf die Rekonstruktion der Bedeutung einer „artifizielle[n] Stimmung“ (Flusser 1991: 17). Er schildert zum Beispiel „die empörte und entsetzte Gestalt des älteren Jakobus“ (Urzidil 1928: 599). Die Identifikation der Regeln, denen die kulturelle Symbolisierung folgt, erlaubt Urzidil eine Reduktion der Schilderung der Darstellung der Apostelfiguren, die keine Einschränkung des Bedeutungsspektrums zur Folge hat (s. Flusser 1991: 13). Diese Kürzungen ermöglichen eine Steigerung der Konzentration auf die majestätische Gestik Jesu.
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13. Die Lektüre pathognomischer Zeichen
Urzidil nimmt die majestätischen Gesten von Jesus Christus, Judas und Petrus als pathognomische Zeichen wahr. Er verleiht den perzipierten, auf dem Fresko dargestellten Figuren eine Stimme, indem er auf religiöse und kunstgeschichtliche Texte rekurriert und die Gesten als Verweis auf eine verbale Äußerung, die Prophezeiung des Verrats durch Judas an Jesus Christus, deutet. Durch Bild- und Textzitate nuanciert er das semantische Feld der beschriebenen Bilddetails, verdeutlicht die mythischen Dimensionen und formuliert die Koloraturen der „Stimme für die Augen“ (Lichtenberg 2001: 536 [F 826]).
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Johannes Urzidil als Hollar-Biograph1 Im Januar und Februar 1944 präsentierte die New York Public Library eine umfassende Ausstellung der Werke des 1607 in Prag geborenen und 1677 in London verstorbenen großen tschechischen Kupferstechers und Zeichners Wenceslaus Hollar, bei der annähernd 500 Radierungen, davon 200 Buch illustrationen, und sechs Handzeichnungen gezeigt wurden. Zur Eröffnung ergriff Jan Masaryk, der Außenminister der tschechoslowakischen Exilregierung in London, das Wort und verlieh dem Ereignis damit allgemeinpolitische Bedeutung. Den Eröffnungsvortrag Hollar, the Man and the Artist hielt der Hollar-Kenner Johannes Urzidil, der im Exil eine aktualisierte Fassung seiner Hollar-Biographie in englischer Sprache vorgelegt (Urzidil 1942c) und an der Vorbereitung dieser New Yorker Ausstellung mitgewirkt hatte (Urzidil 1971; Vlnas 2007: 38, 41). Der tschechoslowakische Presse-Informationsdienst in New York meldete zu dieser eindrucksvollen Präsentation tschechischer Kultur in den USA dem Exil-Außenministerium nach London: „Die Auswahl des Materials, der Vortrag und das Presseecho betonten die Bedeutung Hollars und seine tschechische Herkunft, zu der er sich stets bekannt habe.“2 Johannes Urzidils Entwicklung zum Autor einer Biographie des tschechischen Kupferstechers und Zeichners des 17. Jahrhunderts Václav – Wenzel – Wenceslaus (auch Wenzeslaus) Hollar und Popularisator von dessen Werk spielte sich im Prag der frühen und mittleren dreißiger Jahre in gänzlich anderen Koordinaten als denen des Exils ab. Wir wissen nicht, wann sich sein schon lange bestehendes Interesse an Hollar zu dem Plan verdichtete, eine Biographie zu verfassen. Fest steht, dass er damit seit den frühen dreißiger Jahren befasst war, denn im Jahre 1935 kamen in Prag bzw. Brünn seine ersten beiden Aufsätze über den Weltwanderer Hollar und Václav Hollar se vrací do Prahy [Václav Hollar kehrt nach Prag zurück] heraus, im Jahr darauf ein weiterer Hollar-Aufsatz in Bratislava (Urzidil 1935a, b; 1936a). Nach diesen Vorboten erschien im gleichen Jahr 1936 im Verlag Dr. Rolf Passer in Wien und 1 Für wichtige Hinweise sei Klaus Johann, Münster, sowie – zu dem Prager Hollar-Sammler und -Forscher Franz Sprinzels – Olga Fejtová, Prag, und Robert Luft, München, herzlich gedankt. 2 Übers. nach Vlnas (2007: 38).
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Leipzig das Hauptwerk, Urzidils (1936b) Hollar-Biographie, unter dem Titel Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock. Bei Passers Vorgängerverlag Dr. Hans Epstein war 1932 auch bereits Urzidils Goethe in Böhmen3 erschienen.4 Mit dem Verzicht auf Einzelbelege und der Beschränkung auf ein Literaturverzeichnis, auf der anderen Seite einem reichen, für die damalige Zeit technisch ansprechenden Abbildungsteil (Lichtdrucktafeln) bot sich der Hollar als populäre Darstellung einem breiteren Publikum an. Die Biographie gliedert sich in die einzelnen Lebensstationen Hollars, in welche sein künstlerisches Wirken, vorwiegend als Kupferstecher, weniger als Zeichner, eingeflochten ist. Entsprechend ist das Werk in fünf biographische Kapitel chronologisch gegliedert: Kindheit und Jugend in Prag und der Weggang aus Böhmen (16071627), die Wanderjahre in Deutschland und Holland mit der anschließenden Reise im Gefolge des Earl of Arundel (1627-1636), die erste Lebensperiode in London (In englischen Diensten, 1637-1644), das Exil während des Bürgerkriegs (Meisterjahre in Antwerpen, 1644-1651) und die letzte Lebensphase in England (London, 1652-1677). Dem schließt sich ein sechstes Kapitel über Wenceslaus Hollars Kunstwerk an, mit dem Urzidils Text endet. Das siebte Kapitel über Hollar-Sammler und -Sammlungen trug der Prager Hollar-Kenner und -Sammler Franz Sprinzels bei. Es handelte sich bei diesem Werk um die erste Biographie des tschechischen Künstlers in deutscher Sprache – und sie blieb bis heute die einzige.5 Das Werk erschien alsbald, im Jahre 1937, auch in tschechischer Sprache unter dem Titel Václav Hollar. Umělec, vlastenec, světoobčan [Václav Hollar. Künstler, Patriot, Kosmopolit]6 in der Übersetzung von Zdeněk Helfert (18791945)7 im Verlag Orbis in Prag (Urzidil 1937). Urzidil hatte für die tschechische Version ein teilweise neues Vorwort verfasst, doch abgesehen davon und vom Titel, entspricht die tschechische Übersetzung, einschließlich des Beitrags von 3 S. zur Erstausgabe dieses Buches die Beiträge von Mirek Němec und Václav Petrbok im vorliegenden Band, zur Neuausgabe (1962/1965) auch die Beiträge von Jonathan Schüz, Kurt F. Strasser und Klaus Weissenberger. 4 Zu Dr. Rolf Passer (* 27.10.1897 in Tauschim [Lázně Toušeň]) und dem von ihm im Herbst 1932 übernommenen Verlag Dr. Hans Epstein s. Hall (1985). 5 Die deutsche Hollar-Forschung präsentiert sich in jüngerer Zeit vorwiegend in Ausstellungskatalogen; siehe vor allem: Mielke (1984), Landesmuseum (1986: Beiträge Norbert Suhr, Ralph Melville), Dresch (1990), Stadtmuseum (1992). 6 Auf dem Umschlag findet sich ein anderer Titel: Hollar. Život umělce a Evropana [Hollar. Das Leben eines Künstlers und Europäers]. 7 Ein Bruder des bedeutenden tschechischen Musikologen Vladimír Helfert und Enkel des konservativen Politikers und österreichischen Ministers Josef Alexander Freiherr von Helfert.
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Sprinzels, der deutschen Vorlage. Urzidil nahm also die spezifischen Perspektiven seines Deutsch lesenden bzw. eines tschechischen Publikums lediglich im Vorwort auf, verließ sich aber im übrigen auf die Allgemeingültigkeit seiner Darstellung. Es handelte sich nicht um die erste moderne Hollar-Biographie in tschechischer Sprache. Diese hatte der Kunsthistoriker und Max-DvořákSchüler Eugen Dostál, Professor an der Philosophischen Fakultät der Brünner Universität, im Jahre 1924 vorgelegt, doch richtete sich dessen Werk im Unterschied zu Urzidils populärer Darstellung an einen engeren Kreis von Fachkundigen (Dostál 1924). Eine breitere öffentliche Rezeption war der Hollar-Biographie Johannes Urzidils nicht vergönnt. Dem standen die Zeitumstände diametral entgegen. So hetzte der NS-Schriftsteller Will Vesper Anfang 1937 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Neue Literatur gegen „den Verlag Dr. Rolf Passer (früher Epstein), der die schlimmsten Deutschenhasser, wie Urzidil […] verlegt“ (Vesper 1937: 104). Noch erschien in Prag aus Urzidils (1938) Feder eine Rezension des im April 1938 ebenfalls bei Passer verlegten bedeutenden Standardwerkes über Hollars Handzeichnungen von Urzidils Partner Franz Sprinzels (1938a). Zu diesem Zeitpunkt, während und nach dem „Anschluß“, arbeitete der Verlag in Wien bereits unter äußerst prekären Bedingungen. Passer musste als Jude den alsbaldigen Zugriff der NS-Behörden erwarten, doch da er tschechoslowakischer Staatsbürger war, verzögerte sich dieser wohl um einige Wochen. Im Juli 1938 verließ er Wien endgültig und begab sich ins Exil nach England, der Verlag wurde unter kommissarische Verwaltung gestellt (Hall 1985; Musil 2003: 381f.). Auch Franz Sprinzels ging ins englische Exil, schließlich auch Johannes Urzidil, der das Protektorat am 30. Juni 1939 im letzten Augenblick verließ. (Trapp/Heumos 1999: 417f.) *** Das Thema Hollar nahm Urzidil nach England mit, wohin er seinem Protagonisten gleichsam nachfolgte, der 1627 Prag verlassen hatte und 1637 nach London gegangen war. Und hier in Enland kam neben den Aufsätzen über Hollars Tod in London (Urzidil 1941a) und über die Begegnung Hollars mit Jan Amos Comenius in London 1647 (Urzidil 1941b) sowie im Jahr darauf Hollar in England (Urzidil 1942a, tschechisch 1942b) vor allem 1942 die englische Version der Hollar-Biographie Urzidils heraus, die den Titel Hollar. A Czech Emigré in England trug. Das Werk erschien beim Verlag Czechoslovak in London, dem Verlag der tschechischen Exilzeitung Čechoslovák v Anglii [Der
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Tschechoslowak in England].8 Übersetzung und Publikation wurden mit Unterstützung des tschechoslowakischen Exil-Außenministerium finanziert.9 Die englische Übersetzung dürfte auf Grundlage der entsprechend überarbeiteten tschechischen Version entstanden sein. Sie stammt von dem als erfahrenen Übersetzer aus dem Tschechischen ausgewiesenen Paul Selver (1888-1970). In den Zwanziger- und Dreißigerjahren hatte Selver u. a. die Werke von Jaroslav Hašek und Karel Čapek und die Kriegserinnerungen Edvard Beneš’10 ins Englische übersetzt. Im Krieg eng mit der tschechoslowakischen Exilregierung verbunden, war er zuletzt mit einer Masaryk-Biographie (1940) hervorgetreten – die von Urzidil rezensiert wurde. (Urzidil 1940a; 1940b; Trapp/Heumos 1999: 429) Die allgemeine und speziell über das Thema Hollar bestehende Nähe Urzidils zum tschechoslowakischen Exil und zur Exilregierung in London11 fand ihre Entsprechung in dem in diesen Kreisen herrschenden aktuellen, nicht zuletzt politisch motivierten Interesse an dem Exulanten Hollar (Vlnas 2007: 38). Diese Zusammenhänge abkürzend, erklärte Urzidil (1971) später zur englischen Version seiner Hollar-Biographie, er habe hier eine „besondere, für englische Leser bestimmte Textfassung“ geschaffen. In der Tat weicht die englische Fassung von der deutschen und der tschechischen Version erheblich ab – vom geänderten Vorwort über die Streichungen des Schlusskapitels über „Wenceslaus Hollars Kunstwerk“ und des Beitrags von Sprinzels bis zu wesentlichen Interpretationsfragen, über die noch zu sprechen sein wird. *** An Anregungen für die Beschäftigung mit Hollar und seinem Werk war im Prag der Zwanziger und Dreißigerjahre kein Mangel. Es gab eine lebendige tschechische Hollar-Forschung, deren Wurzeln bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichten, es bestand eine große öffentliche Sammlung der Werke Hol-
8 Siehe das Verzeichnis der Veröffentlichungen Urzidils im Čechoslovák v Anglii 1940-1945 bei Trapp/Heumos (1999: 428-435). 9 S. Bauer (1995: 188), der sich dabei auf einen Brief Urzidils an Ernst Sommer vom 17.12.1942 bezieht, sowie Taylor (2002: 145). 10 Von Hašeks Švejk und Karel Čapek (R.U.R., Bílá nemoc [Die weiße Krankheit]) bis zu den Kriegserinnerungen Edvard Beneš’ (Světová válka a naše revoluce – My war memoirs, 1928). 11 Über Urzidils Beziehungen zur Londoner Exilregierung allgemein s. Trapp/Heumos (1999).
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lars, das Hollareum, und es lebten hier private Hollar-Sammler und -Kenner.12 Einer der letzteren war der schon genannte Dr. Franz Sprinzels. Die Begegnung mit Sprinzels war es, die Urzidils näheres Interesse an Hollar ausgelöst und maßgeblich befördert hatte. Daraus entwickelte sich eine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Dankbar bekennt Urzidil (1936b: 6) im Vorwort seiner Hollar-Biographie: Dieses Werk [hat] seine erste Anregung der Liebe eines Sammlers, Dr. Franz Sprinzels in Prag, zu verdanken […], der dem Verfasser mit seinem reichen Fachwissen zur Seite stand, ihm Einblick in seine Schätze gewährte und den Aufbau der Arbeit namentlich durch seine umfängliche Kenntnis der englischen Quellen erleichterte.
Ähnlich bekannte Urzidil (1971) noch in seinen letzten Äußerungen über sein Interesse an Hollar, dass ihm zu seiner Hollar-Biographie „der Prager Sammler Franz Sprinzels die wesentlichen Anregungen gab“. Franz Karl Sprinzels13 wurde am 19. Juli 1898 in Prag geboren. Die jüdische Familie Sprinzeles-Sprinzels stammte aus dem westböhmischen Städtchen Drosau [Strážov] südlich von Klattau [Klatovy], nahe der böhmisch-bayerischen Grenze, eine Ortschaft, in der die tschechische Sprache vorherrschte (Křížek 1934). Der Großvater Jacob Sprinzeles (1834-04.11.1900) war aus Drosau in jungen Jahren weggegangen und hatte sich in Prag niedergelassen, wo er einen Großhandel mit Kolonialwaren gründete. Im Jahre 1886 waren ihm die Heimatberechtigung und das Bürgerrecht der Stadt Prag erteilt worden. Aus seiner Ehe mit Theresie, geborene Schüller, ging der am 21. Oktober 1867 in Prag geborene Sohn Alfred hervor. Nach dem Tod des Firmengründers übernahm Alfred Sprinzels den väterlichen Großhandel in Prag, der Anfang der Dreißigerjahre noch bestand. Alfred Sprinzels ging am 2. Mai 1897 in Brünn die Ehe mit Anna, geb. Kellner (* 30.05.1873 in Rosice [Rossitz] bei Brno), ein. Sie waren die Eltern des Hollar-Sammlers und -Forschers Franz Sprinzels.14 Franz Sprinzels studierte an der seit 1920 bestehenden naturwissenschaftlichen Fakultät der Prager Deutschen Universität, an der er im Studienjahr 1921/22 bei den Professoren PhDr. Hans Meyer und PhDr. Alfred Kirpal mit einer Dissertation „Über Derivate der Mesitylensulfosäure“ promoviert wur-
12 Zu den Werken Hollars innerhalb Urzidils eigener Kunstsammlung vgl. den Beitrag von Milada Minaříková und Miloš Minařík im vorliegenden Band. 13 Zum bisherigen Kenntnisstand s. Biographisches Lexikon (2008). 14 Evidenz der Bevölkerung Prags mit Heimatberechtigung (Archiv Magistrát hl. Města Prahy I.: referát popisní, soupis pražských domovských příslušníků 1830-1911, 1911-1949).
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de (Dissertationen 1965: 142, nr. 117).15 Bis zu seiner Emigration nach England war Sprinzels als Chemiker in einer Prager Parfumfabrik tätig, zu deren Teilhaber („společník firmy“) er alsbald aufgestiegen war. In England, wo er den Namen Francis C. Springell annahm, war er in der Lebensmittelindustrie tätig und gründete eine Konservenfabrik, die als Heereslieferant arbeitenden Lakeland Food Industries. Sprinzels-Springell starb 1974. Dieser promovierte Industriechemiker und zweifach erfolgreiche Fabrikant war zugleich ein namhafter Kunstsammler und herausragender Kenner Wenzel Hollars. Als Sammler begann er schon früh mit Pragensia, befasste sich dann vor allem mit Hollars graphischem Werk und schließlich mit europäischer Graphik der Renaissance und des Barock aller Schulen (Verkaufskatalog 1986). Der Aufsatz über Hollar-Sammlungen und -Sammler zu Urzidils Biographie 1936 stellte bereits seine vierte Veröffentlichung zu Hollar dar, der dessen tschechische Übersetzung (Sprinzels 1937a; Urzidil 1937) und Ende 1937 ein kleinerer Beitrag über den Landschaftszeichner Hollar und im Jahr darauf eine tschechische Publikation in der Zeitschrift „Hollar“ folgten. (Sprinzels 1937b, 1938b) Sprinzels’ langjährige Beschäftigung mit Hollar fand ihren Höhepunkt in dem kommentierten Werkverzeichnis der Handzeichnungen Hollars (Sprinzels 1938a). Es erschien, wie erwähnt, noch 1938 im Verlag Dr. Rolf Passer. Franz Sprinzels’ Verzeichnis der Hollarschen Handzeichnungen ist das bis heute maßgebliche, für jeden Hollar-Forscher und -sammler unentbehrliche Standardwerk zu diesem in Hollars Schaffen zentralen Thema. In England verfasste Sprinzels bzw. Springell (1963; s. noch 1964) noch ein zweites für die Hollar-Forschung bedeutsames Werk, eine materialreiche Monographie über die Gesandtschaft des Earl of Arundel zum kaiserlichen Hof im Jahre 1636. An dieser Reise durch Deutschland, den Rhein und Main aufwärts und die Donau abwärts bis Wien, hatte Hollar als Reisezeichner teilgenommen, der so in Arundels Gefolge noch einmal seine Heimatstadt Prag sah. Diese für den Zeichner Hollar außerordentlich fruchtbare Reise, die ihn auf dem frühen Gipfel seiner Landschaftskunst zeigt, wurde auch für sein weiteres Leben entscheidend, denn er ging in Arundels Diensten 1637 mit nach London. 15 Sprinzels muß schon im Studium den nur ein Jahr älteren Rolf Passer gekannt und im gleichen Labor mit ihm geforscht haben. Auch Passer hatte an der Prager Deutschen Universität Chemie studiert und wurde im Studienjahr 1920/21, also ein Jahr vor Sprinzels und wie dieser bei den Professoren Meyer und Kirpal, mit einer Dissertation aus dem gleichen Themenfeld „Sulfosäuren“ promoviert – damals, vor Gründung der Naturwissenschaftlichen Fakultät, noch zum PhDr. (Dissertationen 1965: 51, nr. 231).
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Johannes Urzidils erste Begegnung mit dem nur zwei Jahre jüngeren Franz Sprinzels – wohl Anfang der dreißiger Jahre, ein genauerer Zeitpunkt ist nicht bekannt – fällt in die Zeit der Entstehung des Werkverzeichnisses und führte bald dazu, dass beide parallel über Hollar arbeiteten. Urzidil konnte sich bei Sprinzels einen umfassenden Einblick in Hollars Œuvre verschaffen. In Sprinzels’ Sammlung bekam er einen Großteil von Hollars Handzeichnungen in Photographien zu Gesicht, die Sprinzels (1938a: 6) von 27 öffentlichen und privaten Sammlungen in Prag, Deutschland, Großbritannien und andernorts über Jahre zusammengetragen hatte und die er dann im Werkverzeichnis veröffentlichte. Sprinzels’ annotiertes Verzeichnis der Handzeichnungen Hollars enthält 393 Nummern und dazu 315 kleinformatige Abbildungen. Urzidil entschied sich jedoch dagegen, die Handzeichungen für seine Hollar-Biographie besonders zu berücksichtigen und beschränkte sich weitgehend auf den – daher im Untertitel herausgestellten – „Kupferstecher“ Hollar. Dies geschah offenbar, weil die Zeichungen damals für ein breiteres Publikum technisch nur unzulänglich zu vermitteln waren. So nahm Urzidil auch nur neun Handzeichnungen in den Abbildungsteil seines Werkes auf. Doch gerade auch für die Kupferstiche war die Sammlung Sprinzels’ Grundlage seiner Arbeit: Von den 118 Abbildungen in der Hollar-Biographie waren 96 „reproduziert nach Original-Kupferstichen aus der Sammlung Dr. Franz Sprinzels, Prag“ (Urzidil 1936b: 158). Bei Sprinzels studierte Urzidil, wie er selbst hervorhebt, besonders auch die „englischen Quellen“ zu Hollar – womit auch die breite englische Forschung gemeint war –, deren „umfängliche Kenntnis“ (Urzidil 1936b: 6) er Sprinzels anerkennend bescheinigte. Es lässt sich leicht ausmalen, dass Johannes Urzidil damals in Sachen Hollar bei Franz Sprinzels, der mit Frau und Sohn in der Prager Neustadt, Žitná 49, wohnte,16 zum Betrachten der Sammlung des Hausherrn ein häufiger Gast war. Als Zeugnis des kollegialen Zusammenwirkens der beiden Hollar-Verehrer lässt sich die Einladung Urzidils an Sprinzels ansehen, zu seiner Biographie mit einem eigenen Aufsatz beizutragen. Sprinzels bereits erwähnter Beitrag weiht den Leser in die Welt des Sammlers ein und stellt ihm die Entstehung der großen Hollar-Sammlungen besonders in England und auf dem Kontinent vor, die frühen englischen Hollar-Biographen, die Bewertung der Kupferstiche nach Plattenzustand und Beschriftung, Papiersorten und Wasserzeichen, die Auktionen und Preise, privaten Sammler, Ausstellungen und Kataloge. Auf das Titelblatt seiner Hollar-Biographie ließ Urzidil den Vermerk setzen: „Unter Mitarbeit von Franz Sprinzels“. In der tschechischen Übersetzung 16 Laut Evidenz der Bevölkerung Prags mit Heimatberechtigung.
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der Biographie finden sich dieser Vermerk, der Dank an Franz Sprinzels im Vorwort und dessen Aufsatz unverändert wieder. Man wird sagen können, dass sich beide Männer, der Sammler und Spezialist wie der popularisierende Schriftsteller, in ihrem Interesse am Leben und Werk Wenceslaus Hollars im Prag der dreißiger Jahre glücklich ergänzten, wobei Urzidil im Fach- und Spezialwissen eindeutig der Nehmende war. Ihm ging es dafür mehr um die Deutung und um die literarische Bewältigung des gemeinsamen Themas. Die Zusammenarbeit beider spiegelt sich ein letztes Mal in der in Prag noch 1938 erschienenen, bereits erwähnten Rezension Urzidils von Sprinzels’ Handzeichnungen Hollars. Über eine Fortsetzung der Beziehung in der Emigration ist nichts bekannt. Sprinzels’ Aufsatz über Hollar-Sammlungen und -Sammler wurde in die englische Ausgabe der Hollar-Biographie Urzidils nicht aufgenommen, was sich aus der inhaltlichen Beschränkung auf die Persönlichkeit Hollars erklären mag. Gegen Ende seines Lebens gedenkt Urzidil Sprinzels’, wie erwähnt, in dankbaren Worten und preist mit Hinweis auf das 1963 erschienene Werk über die Reise des Earl of Arundel von 1636 nochmals Sprinzels’ Verdienste als „zuverlässiger Hollar-Forscher“ (Urzidil 1971). *** Fragt man, wo und bei wem Urzidil neben Sprinzels für sein Vorhaben Anregungen und Belehrung suchte, so muss hier sein Verhältnis zum Prager Hollareum interessieren,17 der neben den beiden Sammlungen auf Schloß Windsor und im Britischen Museum größten existierenden Hollar-Sammlung. Wir können es, mangels anderer Aussagen, lediglich am Verzeichnis der Bildtafeln der Hollar-Biographie ablesen, aus dem hervorgeht, dass zwanzig Abbildungen „nach Original-Kupferstichen, resp. Original-Zeichnungen aus dem Prager ‚Hollareum‘“ (Urzidil 1936b: 158) reproduziert worden waren – gegenüber 96 aus der Sammlung Sprinzels’. Der reizvollen Aufgabe, das Hollareum seinen deutschen Lesern vorzustellen, dessen späte Entstehung im Jahr 1863 aus dem Ankauf einer Bonner Privatsammlung sowie dessen Bedeutung für die tschechische Kultur und Gesellschaft im letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts darzulegen, stellte sich Urzidil nicht.18 Auch eine nähere Bekanntschaft Urzidils mit dem damaligen Leiter des Hollareums, dem Denk17 Zu der von Urzidil 1932 mitkuratierten Goethe-Ausstellung im Hollareum s. den Beitrag von Václav Petrbok im vorliegenden Band. 18 Aus der Literatur über das Hollareum führt Urzidil im Literaturverzeichnis der HollarBiographie auf: Borovský (1907). Zu den Anfängen des Hollareums siehe zuletzt Vlnas
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malpfleger und Mittelalterarchäologen Karel Guth (1883-1943), bestand offenbar nicht. Als häufigen Gast im Nationalmuseum am oberen Wenzelsplatz, in dem das Hollareum in der Zeit der ersten tschechoslowakischen Republik residierte, dürfen wir uns Urzidil daher wohl nicht vorstellen.19 Auch sonst ist nicht erkennbar, dass Urzidil in der ersten Hälfte der Dreißigerjahre in engere Verbindung zu tschechischen Hollar-Forschern getreten wäre. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass Urzidil die tschechische HollarLiteratur nicht gekannt und benutzt hätte. Auf ihn traf natürlich nicht zu, was für die große Mehrzahl der deutschen und englischen Hollar-Forscher galt und gilt: Bohemica non leguntur. Fragen wir also danach, welche Werke der tschechischen Hollar-Forschung Johannes Urzidils Hollar-Interpretation beeinflußt haben. In das Literaturverzeichnis seiner Biographie nahm Urzidil (1936b: 156f.) insgesamt dreizehn Titel von acht tschechischen Autoren auf, zehn in tschechischer, drei in deutscher Sprache. Die Liste der tschechischen Hollar-Literatur Urzidils setzt mit dem Jahr 1855 ein, mit einer Schrift des Wiener Rechtshistorikers und Hochbürokraten Antonín František Rybička (18121899). Neben ihm steht der mit der Entstehung des Prager Hollareums eng verbundene Kustode und spätere Direktor der Wiener Universitätsbibliothek Jan/Johann Wussin/Vusín (1810-ca. 1900). Zeitlich schließen die beiden führenden Hollar-Kenner der nächsten Generation an, der langjährige Kurator des Prager Kunstgewerbemuseums und namentlich des Hollareums František Adolf Borovský (1852-1933) und der Prager Kunsthistoriker Karel Boromejský Mádl (1859-1932), der an einer Hollar-Monographie arbeitete, die er aber nicht mehr abschließen konnte, sowie ein regionaler Kenner, der Lehrer und Stadtmuseumsgründer Štěpán Karel Vydra (†1911) aus Horažd’owitz [Horažd’ovice], der sich als Erforscher der konfessionellen Zugehörigkeit und Herkunft der Familie Hollar aus dieser südwestböhmischen Stadt hervortat. Urzidils Liste endet mit dem Bibliothekswissenschafler Ladislav Jan Živný (1872-1949), dem Buchwissenschaftler und Kunsthistoriker Antonín Dolens(2007: 32-34 – Geneze Hollarea [Genese von Hollareum], Hollar v parlamentu [Hollar im Parlament]). 19 S. dagegen Sprinzels (1936b: 144f.) zum Hollareum. Daneben gab es damals in Prag mehrere, auch bedeutende Privatsammlungen mit Hollar-Graphiken. Eine von ihnen, die des Prager Sammlers B. Lenz, wird von Urzidil (1936b: 144, 158) im Abbildungsverzeichnis der HollarBiographie erwähnt. Mit einer weiteren, der Kollektion des Prager Sammlers Leopold Sachs (Sprinzels 1936b) mit 1220 Hollar-Graphiken und wertvollen frühen Hollar-Publikationen, kam Urzidil in Berührung, jedoch erst 1950 in New York, als er einen Katalog für sie anlegte (Urzidil 1971).
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ký (1884-1956) und schließlich mit dem schon erwähnten Autor der 1924 erschienenen Hollar-Biographie, dem Brünner Kunsthistoriker Eugen Dostál (1889-1943). Anhand dieses Verzeichnisses versuchen wir nun, Urzidils Verhältnis zur tschechischen Hollar-Forschung aus sieben Jahrzehnten näher zu kommen. Wir gehen dabei exemplarisch vor und prüfen Urzidils Darstellung und Interpretation an einem zentralen Thema der Biographie Wenzel Hollars. Dem Thema, das wir dafür wählen, kommt in Hollars Leben und gewiß in der Hollar-Forschung besondere Bedeutung zu: Es geht um Hollars Weggang aus Prag und Böhmen im Jahre 1627 und die damit eng verbundene Kontroverse um seine Konfessionszugehörigkeit. Über die Frage, ob Hollar als wandernder junger Künstler oder als Exulant und Glaubensflüchtling in die Welt aufbrach, ob er Protestant oder Katholik war, besteht in der tschechischen Forschung eine langjährige Kontroverse.20 Sie konnte sich entwickeln, weil direkte Quellen über Hollars Konfession fehlen und die raren autobiographischen Texte dazu ebenfalls keine klaren Aussagen enthalten.21 Diese Auseinandersetzung war auch zu Urzidils Zeiten nicht abschließend geklärt, sodass er sich veranlasst fühlte, auf sie in seiner Hollar-Biographie ausführlich einzugehen (Urzidil 1936b: 16-19). *** Bereits der erste von Urzidil angeführte Titel, Rybičkas Beitrag von 1855, führt mitten in das von uns gewählte Thema. Urzidil äußerte zu ihm noch 1971: Die tschechische Hollar-Forschung begann […] mit der von Antonín Rybička verfassten ‚Rodina Hollarova‘ (Hollars Familie) im ‚Časopis musea Království českého‘ (Zeitschrift des Museums des Königreichs Böhmen). In der Nachfolge dieser ersten Studie erschien dann eine Reihe sich immer mehr und mehr vertiefender Arbeiten. (Urzidil 1971)
Bei dieser vermeintlich „ersten Studie“ der tschechischen Hollar-Forschung handelte es sich in Wirklichkeit nicht um einen selbständigen Aufsatz, sondern, wie der Untertitel sagt, um einen Nachtrag, also eine unselbständige, 20 Diese Kontroverse ist Hauptinhalt des Aufsatzes von Vlnas (2007). – Wie Vlnas stellen wir es uns nicht zur Aufgabe, hier das Problem der Konfession Hollars zu lösen. 21 Die oft zitierte, offenbar von Hollar selbst verfasste autobiographische Legende zu seinem nach Jan Meyssens selbst gestochenen Porträt (Parthey 1419) schweigt zur Frage der Konfession.
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noch dazu sehr kurze Schrift. Sie schloß an einen 27seitigen Aufsatz an, der im vorhergehenden Jahrgang 1854 des Časopis českého musea [Zeitschrift des böhmischen Museums] unter dem Titel Václav Hollar, rytec. Pokus životopisný [Wenzel Hollar, der Kupferstecher. Ein biographischer Versuch] erschienen war. Es war daher nicht Rybičkas vier Seiten zählender, inhaltlich allerdings gewichtiger „Nachtrag“, sondern – so der Name des Autors – Jan Bohuslav Müllers „biographischer Versuch“, der tatsächlich als „die erste kritische Abhandlung über Hollar in tschechischer Sprache“ (Vlnas 2007: 31) anzusehen ist. Müllers Aufsatz aber ist in Urzidils Verzeichnis der tschechischen HollarForschung nicht angeführt. Jan Bohuslav Müller (1823-1885) war ein Kunsthistoriker, der nach dem Studium in Brünn, Prag und Wien an der Hofbibliothek in Wien und dann als Erzieher bei den Grafen Schönborn-Buchheim tätig war. Für ihn war Hollar ein Protestant, der seine Heimat Böhmen 1627 als Opfer der Rekatholisierungspolitik Ferdinands II. verlassen mußte, weil er an seinem Glauben festhielt. Müller stützte sich dabei auf die Hollar-Tradition, neben böhmischen besonders auf die englischen Autoren, nicht auf neue Quellen. Seine materialreiche Abhandlung läßt sich als sachkundige Zusammenschau der HollarÜberlieferung bezeichnen. Rybičkas Nachtrag dagegen stützte sich auf eine bis dahin unbekannte Urkunde, welche die Hollar-Forschung bis heute bewegt, einen in Regensburg am 16. Oktober 1636 ausgestellten Majestätsbrief Kaiser Ferdinands II., mit dem Wenceslaus Hollar und seinen Brüdern die vereinigten Adelsprädikate ihres Vaters Jan Hollar von Pracheň [z Práchně] und ihrer Mutter Margarete Löw von Löwengrün und Bareyt verliehen wurden. Hollar, damals im Gefolge des Earl of Arundel, der sich in Regensburg am kaiserlichen Hof aufhielt, hatte um die Erhebung beim Kaiser nachgesucht. Antonín František Rybička, als Rechtshistoriker und (gemeinsam mit Karel Jaromír Erben) Koautor des tschechischen rechtspolitischen Wörterbuchs ausgewiesen, ein Richter und seit 1846 hoher Beamter bei der Vereinigten Hofkanzlei in Wien, war auf der Suche nach „Daten zu Hollars Leben“ auf diese bemerkenswerte Quelle gestoßen (Rybička 1855: 300).22 Ganz falsch lag Urzidil mit seiner Hochschätzung Rybičkas und seiner Veröffentlichung also nicht. Es vergingen mehr als zwei Jahrzehnte, bis dieser wichtige Quellenfund erneut herangezogen wurde. Während Rybička als im Adelsrecht Bewanderter allein die Verleihung des Adelsprädikats diskutiert hatte, ging es nun um mehr, 22 Der Majestätsbrief wird von Rybička nur teilweise im Wortlaut zitiert, eine Archivangabe fehlt. Eine kritische Edition dieser Quelle steht bis heute aus.
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nämlich darum, anhand des Majestätsbriefes Hollars katholischen Glauben nachzuweisen. Es war kein geringerer als der Literaturhistoriker und frühere österreichische Kultus- und Bildungsminister Josef Jireček (1825-1888), der Rybičkas Fund aufgriff und nun entsprechend auslegte (J. J. 1877).23 Für Jireček bewies die Adelsverleihung von 1636 durch Ferdinand II., dass Hollar kein Exulant gewesen sein konnte. Anders als die weitgehend unbeachtet gebliebene Veröffentlichung durch Rybička aus der Zeit des Neoabsolutismus wirkte die Botschaft Jirečeks ‚fast als Provokation‘ – die tschechische Öffentlichkeit wollte es sich im Jubiläumsjahr 1877 in ihrer Mehrheit nicht nehmen lassen, Hollars als Glaubensflüchtling zu gedenken (Vlnas 2007: 36). Urzidil fiel dieser anonym erschienene Artikel nicht auf, im Literaturverzeichnis sucht man ihn vergebens. Weitere zwei Jahrzehnte darauf war es František A. Borovský, der sich im Hollar-Jahr 1907 zu Hollars Biographie autoritativ äußerte. Borovský war der seit 1893 vielfältig tätige Kustos des Hollareums, dessen Geschichte er erforscht, dessen Bestände er zielstrebig erweitert und umfassend geordnet hatte, ein ausgewiesener Kenner auch der britischen Hollar-Sammlungen, die er 1897 auf einer öffentlich finanzierten Forschungsreise studiert hatte.24 Beim Jubiläumsakt 1907 war er es, dem die Aufgabe zufiel, den offiziellen Festvortrag zu halten. Mit Borovský sieht Vít Vlnas den Einzug der kritischen Geschichtswissenschaft in die tschechische Hollar-Forschung verbunden: die Wende von der Hollar-Legende zur kritischen Quelleninterpretation, die Abkehr von manchen Mythen, mit denen Hollar bisher im tschechischen Milieu umgeben war (Vlnas 2007: 37). In der Streitfrage der Konfession Hollars setzte Borovský die von Rybičkas Quellenfund, der Adelserhebung Hollars im Majestätsbrief Kaiser Ferdinands II. von 1636, ausgehende und von Josef Jireček erstmals formulierte Interpretationslinie fort. Für Borovský (1907: 104f.) stand fest: „Eine solche Gnade hätte Ferdinand Protestanten und einer Familie, die antikaiserlich gesinnt war, nicht verliehen.“ Daraus und aus weiteren Indizien zog Borovský (1924: 376) den Schluß, es seien sicher nicht religiöse Gründe gewesen, weswegen Hollar Prag 1627 verlassen habe. Mit seiner hohen Autorität als angesehener Hollar-Forscher verlieh Borovský dieser Interpretation damit gleichsam die wissenschaftliche Legitimation. Nicht zuletzt Borovskýs Hollar-Artikel (1924)
23 Die Autorschaft Jirečeks erkannte erst Vlnas (2007: 36). 24 Über diese Forschungsreise legte er dem böhmischen Landtag einen Bericht vor: Borovský (1898a, b).
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im Thieme-Becker bekräftigte diese Wirkung und ließ sie in die internationale Forschung ausstrahlen. So kann es nicht überraschen, dass sich Johannes Urzidil in dieser kontroversen Frage ganz offensichtlich der Interpretation František Borovskýs anschloß, den er als den führenden tschechischen Hollar-Kenner seiner Zeit angesehen haben dürfte. Von daher auch Urzidils bereits geschilderte Wertschätzung Rybičkas, dessen Quellenfund, der Majestätsbrief von 1636, ihm – wie Jireček und Borovský – zum Beleg dient, dass Hollar kein Protestant gewesen sein könne: „Ferdinand II., der Hauptfeind der Protestanten, hätte eine so auffällige Vergünstigung schwerlich einem Anhänger einer ketzerischen Lehre erwiesen, noch hätte ein solcher es gewagt, darum überhaupt vorstellig zu werden.“ (Urzidil 1936b: 18) Auch der Biograph Urzidil stellte sich also in den Dreißigerjahren auf den Standpunkt, dass Hollar im Jahre 1627 seine Vaterstadt Prag nicht als Glaubensflüchtling verließ. Dies war eine Entscheidung, die sich in der Biographie keineswegs nur in dem einschlägigen ersten Kapitel, sondern über das ganze Werk hin auswirkte. Immerhin hielt es Urzidil (1936b: 18) für denkbar, dass Hollar einem bloßen „Matrikelkatholizismus“ fröhnte und mit seiner Familie innerlich für die protestantische Seite in Böhmen Sympathien empfunden hätte. Doch war dies hier nur eine vorsichtige Einschränkung, ein bloßer Nebengedanke, und blieb für die Gesamtinterpretation ohne Bedeutung. Diese Entscheidung Urzidils für die Interpretationslinie Rybička – (Jireček) – Borovský bedeutete natürlich zugleich, dass er die Gegenthese, die in Hollar einen Glaubensflüchtling sah, ablehnte. Diese hatte sich aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls weiterentwickelt. So hatte Štěpán Karel Vydra 1907 neue Quellen vorgelegt, welche die These stützten sollten, Hollar habe 1627 Prag als Glaubensflüchtling verlassen. Er konnte belegen, dass Hollars Onkel Jakub Hollar von Pracheň in Horažd’owitz zu den Böhmischen Brüdern gehörte (Vydra 1907). Urzidil führte diesen Aufsatz immerhin in seinem Literaturverzeichnis an, dem Argument folgte er nicht. Für einen Protestanten hielt Wenzel Hollar auch der Bibliothekswissenschaftler und Mitarbeiter bei der Tschechischen Nationalbiographie Ladislav Jan Živný, der 1911 – wenige Jahre nach Borovský – eine Studienreise nach England zur nochmaligen gründlichen Sichtung der englischen Quellen und Forschung unternahm. Sie schlug sich in einem materialreichen Aufsatz in der von T. G. Masaryk mitbegründeten Revue Naše doba [Unsere Zeit] nieder (Živný 1911). Für die These von Hollars Protestantismus und die Motive seines Weggangs aus Prag prüfte Živný erneut die englische Hollar-Tradition. Sie spielte auch für Urzidil eine wichtige Rolle, aber eben für Hollars Londoner
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Zeit. In der Frage der Konfession stand Urzidil den Aussagen der englischen Quellen damals ablehnend gegenüber. *** Die englische Version der Hollar-Biographie entstand in England unter den Bedingungen des Krieges gegen Hitler-Deutschland, unter auch für ihren Autor gänzlich veränderten existentiellen Voraussetzungen. Der Emigrant Johannes Urzidil war von der Absicht durchdrungen, sich Hollar auf neue Weise anzunähern. Er arbeitete seine Hollar-Biographie für die englische Fassung erheblich um und vollzog dabei eine interpretatorische Kehrtwende. An die Spitze stellte er nun den Leitgedanken, Hollar als Emigranten und politischen Exulanten zu sehen, der seine Heimat um der Freiheit willen verlassen hatte. Dieses Schicksal verglich Urzidil mit dem anderer Emigranten in ganz Europa von der Antike bis zur Gegenwart und erinnerte dabei an den großen Tschechen und Zeitgenossen Hollars Jan Amos Komenský, an T. G. Masaryk und Edvard Beneš im Ersten Weltkrieg und die Tausenden von tschechischen und polnischen Emigranten, die in der Gegenwart des Zweiten Weltkriegs vor dem Hitlerregime in den Ländern Zuflucht gesucht hatten, wo Demokratie und Freiheit überdauert hatten (Urzidil 1942c: 11-13 [preface]). Entsprechend diesen neuen Koordinaten, in welche Urzidil damit die Biographie Hollars einbeschrieb, bewertete er nun auch die Frage der Konfessionszugehörigkeit Hollars neu. Den Majestätsbrief Kaiser Ferdinands II. für Hollar von 1636 sah er nicht mehr als schlagenden Beweis an, daß Hollar Katholik gewesen sei. Dieses Patent berufe sich ausdrücklich auf die Verdienste von Hollars Vater (und nicht Hollars selbst). Vor allem aber, so Urzidil jetzt, dürfte Ferdinand die Adelserhebung ausgesprochen haben, weil Hollar sich damals in Diensten des Earl of Arundel, des britischen Sondergesandten am kaiserlichen Hof, befand, dem der Kaiser damit eine Gefälligkeit erweisen konnte (Urzidil 1942c: 20).25 Diese Uminterpretation der wichtigsten Quelle hatten weitere Umbewertungen zur Folge, welche die gesamte Darstellung durchziehen. So stimmte Urzidil nun bis ins Einzelne den Aussagen der früher zurückgewiesenen englischen Hollar-Tradition zu, nach der Hollar als Protestant gegolten hatte. 25 S. zu diesem gewichtigen Argument Denkstein (1979: 9f., 82f.). – Denkstein ist einer der wenigen Kunsthistoriker, die die Konfessionsfrage mit Hollars Kunstauffassung in Verbindung zu setzen versucht haben.
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So war auch die Bekanntschaft Hollars mit Komenský, der das Jahr 1641 in London verbrachte, nun eine Begegnung zweier Männer, die beide 1627 ihre Heimat wegen ihres Glaubens verlassen hatten und ins Exil gegangen waren. Ursprünglich hatte Urzidil (1936: 68f.; 1942c: 38)26 zu der Annahme Komenskýs, Hollar habe als Exulant in England gelebt, bemerkt, dies beruhte natürlich auf falschen Informationen. Eine Auseinandersetzung Urzidils mit den in den dreißiger Jahren entwickelten eigenen Anschauungen fand damals und auch später nicht statt. Insgesamt entsteht der Eindruck, daß es Urzidil mit der englischen Version seiner Hollar-Biographie nicht in erster Linie um eine begründete Neuinterpretation ging, sondern daß er als politischer Publizist mit einer aktuellen Botschaft auftrat. *** Die im Exil in England und den USA verfochtene neue Hollar-Interpretation Urzidils, die er wohl zuletzt im Januar 1944 in New York in Gegenwart Jan Masaryks artikulierte, hatte sich gegen Ende des Krieges offenbar überlebt, als Urzidil erkennen mußte, daß seine in die tschechoslowakische Exilregierung gesetzten Hoffnungen sich nicht erfüllten.27 Urzidils „Kriegseinsatz“ mit Hollar hatte sein Ziel verfehlt. Mit den Peripetien seiner Hollar-Interpretation in England war das Kapitel ‚Johannes Urzidil als Hollar-Biograph‘ an sein Ende gekommen. Nach dem Krieg griff Urzidil das Thema Hollar nur noch gelegentlich auf. Eine aktualisierte und erweiterte Neuauflage seiner Biographie, wie im Falle seines Goethe in Böhmen, kam nicht zustande, obwohl dafür durchaus Leser interesse vorausgesetzt werden kann. So fand seine 1962 erschienene, um die Gestalt Hollars rankende Erzählung Das Elefantenblatt zweifellos eine breitere Leserschaft.28 Ihre Handlung setzt mit Hollars Aufenthalt bei Matthäus Merian in Frankfurt ein, also unmittelbar nachdem er von Prag Abschied genommen hatte. Die Gründe, warum Hollar seine Heimat verlassen hatte, und die Konfession, der er angehörte, bleiben in diesem immer noch lesenswerten literarischen Text undiskutiert.
26 S. auch Urzidil (1970; 1972). 27 Urzidil hatte lange darauf gesetzt, daß Beneš und die Exilregierung an einem Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in der Nachkriegs-Tschechoslowakei festhalten würden (Trapp/Heumos 1999). 28 S. dazu in diesem Band den Beitrag von Jindra Broukalová.
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Literatur
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Anhang 1: Hollar-Publikationen Johannes Urzidils (chronologisch) (nach: Musil, Vladimír [= Miloš Minařík]/Trapp, Gerhard [o. J.]: Bibliografie uveřejněných děl Johannese Urzidila [Bibliographie der veröffentlichten Werke Johannes Urzidils]; ; und Trapp, Gerhard/Heumos, Peter [1999]: Antibarbaros: Johannes Urzidils publizistische Tätigkeit in Medien der tschechoslowakischen Exilregierung 1940-1945. – In: Bohemia 40, 417-435.)
Urzidil, Johannes (1935a): Weltwanderer Hollar. – In: Deutsche Zeitung Bohemia 108/295 (19.12.). Urzidil, Johannes (1935b): Václav Hollar se vrací do Prahy [Václav Hollar kehrt nach Prag zurück]. – In: Lidové noviny 641 (23.12.). Urzidil, Johannes (1936a): Wenzeslaus Hollars Kunstwerk. – In: Forum 6/2, 42. Urzidil, Johannes (1936b): Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock. Unter Mitarbeit von Franz Sprinzels. Wien, Leipzig: Dr. Rolf Passer.
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Urzidil, Johannes (1937): Václav Hollar. Umělec, vlastenec, světoobčan. Za spolupráce Franze Sprinzelse. (Přeložil Dr. Zdeněk Helfert) [Václav Hollar. Künstler, Patriot, Weltbürger. Unter Mitarbeit von Franz Sprinzels. Übersetzt von Dr. Zdeněk Helfert]. [Titelvariante auf dem Schutzumschlag: Urzidil, Jan, Václav Hollar. Život umělce a Evropana – Václav Hollar. Das Leben eines Künstlers und Europäers]. Praha: Orbis. Urzidil, Johannes (1938): Hollar-Handzeichnungen. (Rolf Passer, Wien). – In: Die Drei Ringe 14/1, 9 [Rez. zu Sprinzels (1938a)]. Urzidil, Johannes (1941a): Hollarova smrt v Londýně [Hollars Tod in London]. – In: Obzor 3/30, 3. Urzidil, Johannes (1941b): Setkání českých Evropanů [Eine Begegnung tschechischer Europäer] [Das Treffen Hollars mit Jan Amos Comenius in London 1647]. – In: Čechoslovák v Anglii 43 (24.10.). Urzidil, Johannes (1942a): Hollar in England. – In: The Central European Observer 19/8 (17.04.), 121. Urzidil, Johannes (1942b): Hollar v Anglii. – In: Obzor 2/3, 4f. Urzidil, Johannes (1942c): Hollar. A Czech Emigré in England. Übers. v. Paul Selver. London: Czechoslovak. Urzidil, Johannes (1962): Das Elefantenblatt. – In: Ders., Das Elefantenblatt. Erzählungen. München: Langen, Müller, 101-140. Urzidil, Johannes (1970): Setkání Komenského s Hollarem v Londýně [Comenius‘ Begegnung mit Hollar in London]. – In: Proměny 7/4, 24-27 [engl.: Urzidil 1972]. Urzidil, Johannes (1971): Wenzeslaus Hollar. – In: Neue Züricher Zeitung (05.12.), Fernausgabe, 53. Urzidil, Johannes (1972): Comenius meeting with Hollar in London. – In: Bušek, Vratislav (Hg.), Comenius [A symposium held at the 5th Congress of the Czechoslovak Society of Arts and Sciences in America, New York November 13-15, 1970 to commemorate the 300th anniversary of the death of Jan Amos Comenius.]. Übers. v. Káča Poláčková. New York: Czechoslovak Society of Arts and Sciences in America, 135-139.
Johannes Urzidil als Hollar-Biograph
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Anhang 2: Franz Sprinzels (Francis C. Springell), Hollar-Publikationen (chronologisch)
Sprinzels, Franz (1935-36a): Hollar-Sammler in England und Frankreich. – In: Die internationale Kunstwelt 3, 15-19. Sprinzels, Franz (1935-36b): Neuentdeckte Alterswerke Hollars. – In: Die internationale Kunstwelt 3, 33f. Sprinzels, Franz (1936a): Něco o vzácných kresbách Hollarových [Über seltene Zeichnungen Hollars]. – In: Veraikon 22, 23-25. Sprinzels, Franz (1936b): Hollar-Sammler und -Sammlungen. – In: Urzidil, Johannes, Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock. Unter Mitarbeit von Franz Sprinzels. Wien, Leipzig: Dr. Rolf Passer, 125-148 [Tschech. 1937: Sběratelé a sbírky Hollarova díla [Hollar-Sammler und -Sammlungen]. – In: Urzidil, Johannes, Václav Hollar. Umělec, vlastenec, světoobčan. Za spolupráce Franze Sprinzelse. (Přeložil Dr. Zdeněk Helfert) [Václav Hollar. Künstler, Patriot, Weltbürger. Unter Mitarbeit von Franz Sprinzels. Übersetzt von Dr. Zdeněk Helfert]. [Titelvariante auf dem Schutzumschlag: Urzidil, Jan: Václav Hollar. Život umělce a Evropana – Václav Hollar. Das Leben eines Künstlers und Europäers]. Praha: Orbis, 103-122]. Sprinzels, Franz (1937a): Sběratelé a sbírky Hollarova díla [Hollar-Sammler und -Sammlungen]. – In: Urzidil, Johannes, Václav Hollar. Umělec, vlastenec, světoobčan. Za spolupráce Franze Sprinzelse. (Přeložil Dr. Zdeněk Helfert) [Václav Hollar. Künstler, Patriot, Weltbürger. Unter Mitarbeit von Franz Sprinzels. Übersetzt von Dr. Zdeněk Helfert]. [Titelvariante auf dem Schutzumschlag: Urzidil, Jan, Václav Hollar. Život umělce a Evropana – Václav Hollar. Das Leben eines Künstlers und Europäers]. Praha: Orbis, 103-122. Sprinzels, Franz (1937b): Hollar als Landschaftszeichner. – In: Internationale Kunstrevue 1937. Sprinzels, Franz (1938a): Hollar. Handzeichnungen. Wien, Leipzig, Prag: Dr. Rolf Passer. Sprinzels, Franz (1938b): Nově nalezené práce Václava Hollara [Neu aufgefundene Arbeiten Wenzel Hollars]. –In: Hollar 14, 101-116. Springell, Francis C. [= Franz Sprinzels] (1963): Connoisseur & Diplomat. The Earl of Arundel’s Embassy to Germany in 1636 as recounted in William Crowne’s diary, the Earl’s letters and other contemporary sources with a catalogue of the topographic drawings made on the journey by Wenceslaus Hollar. O. O. [London]: Maggs Bros. Ltd. Springell, Francis C. (1964): Unpublished Drawings of Tanger by Wenceslaus Hollar. – In: The Burlington Magazine. 56/731, 69-74.
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Ralph Melville
Anhang 3: Die tschechische Hollar-Literatur (bis in die 1920er Jahre) * = aufgeführt bei Urzidil (1936b: 156f., Literaturverzeichnis)
Borovský, František Adolf (1898a): Václav Hollar. Doplňky ku G. Partheyovu popisnému seznamu jeho rytin, Praha: Nákladem Zemského výboru království Českého. Tschechische Fassung von Borovský (1898b). * Borovský, František Adolf (1898b): Wenzel Hollar, Nachträge zu G. Partheys beschreibendem Verzeichnis seiner Kupferstiche. Sonderabdruck des Landtagsprotokolls, Prag. Deutsche Fassung von Borovský (1898a). * Borovský, František Adolf (1907): Václav Hollar a české Hollareum [Václav Hollar und das tschechische Hollareum]. – In: Dílo 5, 97-146 [1907 selbständig: Praha: Jednota umělců výtvarných]. * Borovský, František Adolf (1924): Art. „Hollar, Wenzel“. – In: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme u. Felix Becker. Bd. 17: Heubel – Hubard. Hrsg. v. Vollmer, Hans. Leipzig: Seemann, 376-379. * Dolenský, Antonín (1912): Dodatky k seznamům Hollarových leptů [Nachträge zu den Verzeichnissen der Radierungen Hollars]. – In: Veraikon 1, 73-79. Dolenský, Antonín (1912): Pražské Hollareum [Das Prager Hollareum]. – In: Lidová revue, 40f. * Dolenský, Antonín (1919): Václav Hollar. Český rytec [Václav Hollar. Der tschechische Kupferstecher]. Praha: Veraikon. * Dostál, Eugen (1924): Václav Hollar, Praha: Jan Štenc [frz. Kurzfassung: Dostál, Eugène, Venceslas Hollar, 25 S.]. J. J. [= Jireček, Josef] (1877), K rodopisu Václava Hollara [Zur Genealogie Václav Hollars]. – In: Světozor 11, 153. Jiránek, Miloš (1899-1900): Z historie pražského Hollarea (Wussinův odkaz) [Aus der Geschichte des Prager Hollareums. Wussins Vermächtnis]. – In: Česká revue 3, 769-779. Klř. [= Kolář, Martin] (1897) Art. „Holar z Práchně“. – In: Ottův Slovník naučný. Bd. 11: Hédypathie-hýždě. Praha: Jan Otto, 483. * Mádl, Karel B[oromejský]. (1893): K seznamu rytin V. Hollara [Zum Verzeichnis der Kupferstiche V. Hollars]. – In: Památky archaeologické 16, Sp. 482f. Mádl, Karel B. (1907): [Hollar]. – In: Die graphischen Künste 30, Mitteilungen, 61-63.
Johannes Urzidil als Hollar-Biograph
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* Mádl, Karel B. (1923): Hollarovy krajiny [Hollars Landschaftsbilder]. – In: Hollar 1, 34-50, 82-86, 133-142, 196-200. Müller, Jan Bohuslav (1854): Václav Hollar, rytec. Pokus životopisný [Václav Hollar, der Kupferstecher. Biographischer Versuch]. – In: Časopis Českého musea 28, 552579. * Rybička, Antonín (1855): O rodině Holarů z Práchně. Dodavek k životopisu „Václava Holara z Práchně“ [Die Familie Holar von Pracheň. Nachtrag zur Biographie „Václav Holar von Pracheň“] – In: Časopis musea Království českého 29, 300-303. * Vydra, Štěpán Karel (1906/08): Hollarové z Práchně [Die Hollars von Pracheň]. – In: Památky archaeologické a místopisné 22, 483-496. * Wussin, Jan (1864): Das Hollarsche Haus in Prag. – In: Naumann’s Archiv für die zeichnenden Künste 10, 369. * Živný, Ladislav Jan (1911): Václav Hollar. Nové příspěvky k jeho životopisu [Václav Hollar. Neue Beiträge zu seiner Biographie]. – In: Naše doba. 18, 165-173, 259-265, 352-357, 426-430. * Živný, Ladislav Jan (1913): Nové lepty Hollarovy [Neue Radierungen Hollars]. – In: Naše doba 20, 569-578.
Milada Minaříková, Miloš Minařík
Johannes Urzidils private Kunstsammlung und ihr Schicksal
Sammeln heißt suchen, sammeln heißt vergleichen, sammeln heißt lieben, sammeln heißt glauben. Der Sammler selbst ist die geistige Mitte seiner Sammlung. […] Eine wirkliche Sammlung ist lebendig, ist kein kaltes Museum. Sie wächst, verändert, formt sich, bildet eine organische Gesamtheit mit ausgeprägtem Schicksal. Sie ist ein bewegter Sternenhimmel, kreist um einen bestimmten und bestimmenden Pol, hat ihre Sonnen und Planeten von verschiedener Größe und Leuchtkraft, ihre wechselnden Satelliten und auch ihre Kometen, die unvermittelt auftauchen, hell strahlen und wieder versinken. – Eine Sammlung ist nicht etwa ein bloßes Vernunftswesen, sondern auch eine Temperamentserscheinung, daher auch mit gewissen Schwankungen des Temperaments. Das Temperament trifft die erste, die Erkenntnis die letzte Entscheidung in der Kunst wie im Leben überhaupt, und zwischen diesen beiden Urteilen vollzieht sich die Wirklichkeit des Schicksals. Eine Sammlung lebt, wie wir alle, in Zeit und Raum und erlebt daher, wie wir alle, Gestalt und Bedeutungswandlungen. (Urzidil 1936: 5f.)
Diese Worte benutzte Johannes Urzidil im Vorwort zu seiner Monografie über Václav Hollar aus dem Jahre 1936 und leitet damit prägnant das Thema des Beitrags ein. Gleich am Anfang muss man sagen, dass Johannes Urzidil kein Kunstsammler im eigentlichen Sinn dieses Wortes war, er war aber ein Mensch, der der bildenden Kunst zu seinem Leben wesentlich bedurfte. „Sammeln heißt suchen, sammeln heißt vergleichen, sammeln heißt lieben, sammeln heißt glauben.“ Urzidil glaubte: „Was sich in irgendeiner Art zum Kunstwerk bildet, davon ist der Mensch befreit.“ (Urzidil 1936: 7) Und er glaubte auch, dass „durch die Kunstwerke, durch die Wahrheit, die sie aussprechen, durch das Opfer, das sie darstellen, das Bewusstsein der Kontinuität des menschlichen Herzens durch die Zeiten bewahrt wird.“ (Urzidil 1936: 8) Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir auch die Werke ansehen, von denen er umgeben war: Es sind Artefakte, die, wie er sagte, „unsere unübersichtliche Daseinswirrnis“ ‚normen und gliedern‘ (Urzidil 1936: 7). In das Schicksal seiner Kunstsammlung projiziert sich das ganze Lebensschicksal Urzidils: Er war unter schwierigen Umständen gezwungen, ihren wesentlichen Teil kurz vor seiner Emigration zu verkaufen, einen Teil verschenkte er, und einen Teil deponierte er bei seinen Freunden in der Hoffnung, dass
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Milada Minaříková, Miloš Minařík
er zu ihr nach einiger Zeit wieder zurückkommen könnte. In den Jahren, die folgten und die die unsichere Hoffnung auf Rückkehr in eine Sicherheit der neuen Heimat verwandelten, konnten nur wenige von den geretteten Kunstwerken ihrem Besitzer über den Ozean folgen. Hierzu kam es nur dank der Freundschaft Josef Matouš’ (1881-1971), des Direktors des Verlages Orbis Vladislav Pajdla (1907-1999), des Redakteurs Dr. Artuš Černík (1900-1953), 1 der ehemaligen Vermieterin Gertrude Spirk (1885-1967)2 und einiger anderer. Urzidils Sammlung war nicht umfangreich, aber alle ihre Bestandteile weisen eine tiefe innere Verbundenheit mit ihrem Besitzer auf. Schon als Student der Kunstgeschichte an der Prager Universität fand Urzidil den Weg in die Ateliers der bildenden Künstler. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es sich um Ateliers von jungen tschechischen Malern handelte: Vlastislav Hofman (1884-1964), Václav Špála (1885-1945), Rudolf Kremlička (1886-1932), Jan Zrzavý (1890-1977) und Josef Čapek (1887-1945), die bald darauf die Gruppe Tvrdošíjní [Die Hartnäckigen] bildeten. An die Umstände dieser ersten unmittelbaren Kontakte erinnerte sich Urzidil später, z. B. in den Texten Přátelé [Freunde] (Urzidil 1941) und Život s českými malíři [Leben mit tschechischen Malern] (Urzidil 1966). Und so könnten wir auch fragen: Was verraten eigentlich die engen langjährigen Beziehungen mit bildenden Künstlern über die schöpferische Wesensart Urzidils? Als entscheidend für Urzidil erwies sich vor allem die Bekanntschaft mit Jan Zrzavý im Frühling 1918. Der vertraute Kontakt mit Zrzavý half ihm, immer tiefer zu den allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten des Kunstschaffens durchzudringen, was schließlich auch eine tiefe Bedeutung für sein eigenes Schaffen hatte. Ende September oder Anfang Oktober 1919 fertigte Jan Zrzavý für Urzidil eine Porträtzeichnung von dessen Verlobter Gertrude Thieberger an.3 Die Zeichnung hatte dann bis zum Tode Urzidils in seinem Arbeitszimmer einen festen Platz an der Wand. In den Jahren 1939 bis 1946 blieb die Zeichnung mit anderen Kunstgegenständen und Büchern bei Freunden in Prag deponiert, bis sie in einer Postsendung nach New York gelangte. Leider ist das Portrait, welches sich nicht im Nachlass von Johannes und Gertrude Urzidil im Leo Baeck Institute in New York befindet und von dem es auch keine Kopie gibt, ver1 S. Urzidils Briefwechsel mit Matouš und Černík (Urzidil 2003: 118 f., 127-134, 137-139, 148-151, 156 f. [IX/1-10] bzw. 130 f., 1334-137 [XI/1-2]). S. hierzu den Beitrag von Jitka Křesálková im vorliegenden Band. 2 Gertrud(e) Spirk pflegte im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester Urzidils Freunde Karl Brand und Franz Werfel, dessen Verlobte sie auch zeitweilig war (Werfel 1986). Sie taucht als Figur in Urzidils Erzählung Vermächtnis eines Jünglings im Prager Triptychon (1960) auf. 3 Brief von Jan Zrzavý an Johannes Urzidil. Prag, 05.09.1919 (Urzidil 2003: 29f.).
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schollen. Bei der Zeichnung handelt es sich, Beschreibungen zufolge, um ein realistisches Porträt im damaligen ‚leonardischen‘ Stil Zrzavýs. Eine ungefähre Vorstellung, wie die Zeichnung aussehen könnte, kann man anhand des Porträt von Lela Saenger 4 erhalten, das nur wenig später entstand. Es handelt sich um ein Porträt der Tochter des damaligen deutschen Gesandten in Prag, Samuel Saenger (1864-1944); diesen Auftrag für Zrzavý vermittelte übrigens Urzidil. Zu den frühesten Werken von Jan Zrzavý aus Urzidils Besitztum gehörte auch eine große Zeichnung zum gleichnamigen Bild Jesus hominum salvator aus dem Jahre 1913,5 die er dann im Jahre 1939 verkaufte. Im Notizbuch des Malers aus der Zeit um 1920 blieb folgende Notiz erhalten: Joh. Urzidil, Žižkov, Havlíčkova 33 / Podob[izna]. Gertrudy Thiebergerové / kresba 1919 / Salvátor, kr[esba]. 1914 / Skizy k Nal[ezení]. Mojž[íše].[,] Přítelkyním / a t. d. 6 [Porträt von Gertrude Thieberger / Zeichnung 1919 / Salvator, Zeichnung 1914 / Skizzen zu Das Finden Mose, Die Freundinnen / usw.].
Sechs Lithographien von Jan Zrzavý zu Francis Jammes’ Buch Clara ď Ellébeuse aus dem Jahre 1921 folgten Urzidil nach New York. Die Illustrationen waren ursprünglich für die deutsche Ausgabe des Buches im Verlag Gustav Kiepenheuer in Potsdam bestimmt, wobei der Vermittler von diesem Auftrag für Jan Zrzavý wieder Urzidil war. Infolge der Wirtschaftskrise wurde die Buchausgabe in Deutschland nicht realisiert, die Lithographien behielt Jan Zrzavý; ein paar Jahre später wurde das Buch in einer schönen, aber wesentlich einfacheren Ausgabe mit verkleinerten Reproduktionen dieser Illustrationen in Prag auf Tschechisch herausgegeben (Jammes 1925). Am Dienstag, dem 4. April 1922, heiratete Johannes Urzidil im Altstädter Rathaus Gertrude Thieberger, ihre Trauzeugen waren der Maler Jan Zrzavý und der Legationssekretär der deutschen Botschaft Dr. Heinrich Stephany (1889-?). Als Hochzeitsgeschenk übergab Zrzavý den Neuvermählten eine grandiose Purpurmaske seines Gemäldes Der Gram,7 ein Bild, das Urzidil sehr bewunderte und das ihn an alte gotische Meister erinnerte. [Abb. 1] Es gilt 4 Zrzavý, Jan: Podobizna Lely Saengerové [Porträt von Lela Saenger], 1921 (Bleistiftzeichnung, Papier, ca. 540 × 400 mm. Gegenwärtige Aufbewahrung unbekannt. Eine Skizze zu diesem Porträt befindet sich in Sammlungen der Galerie der modernen Kunst [Galerie moderního umění v Hradci Králové] in Königgrätz [Hradec Králové]). 5 Zrzavý, Jan: Jesus hominum salvator, 1913 (Kohlezeichnung, Papier, 500 × 270 mm. Johannes Urzidils Sammlung, Prag [1919-1939]. Private Kunstsammlung). 6 Zrzavý, Jan: Zápisník [Das Notitzbuch] (JZ P III. N. Sv. 88, Museum der tschechischen Literatur, Literatur-Archiv, Fond Jan Zrzavý). 7 Zrzavý, Jan: Hoře [Der Gram], 1915 (Öl auf Leinwand, 39 × 24 cm. Johannes Urzidils Sammlung, Prag [1922-1939]. Private Kunstsammlung).
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als ein bedeutendes Werk aus dieser Schaffensperiode Zrzavýs, das Urzidil im Jahr 1939 einem seiner nächsten Freunde verkaufte. In seinen Erinnerungen Leben mit tschechischen Malern erinnert sich Urzidil: Als Hochzeitsgeschenk hatte mir Zrzavý eines seiner herrlichsten Werke geschenkt, die krapplackrote Fassung seines Gemäldes Der Gram, ein etwas ungewöhnliches Geschenk für den Haushalt eines neuvermählten Ehepaars. Aber meine tschechischen Malerfreunde hatten einen ausgeprägten Sinn für das Groteske. Denn auch Josef Čapek verehrte mir anlässlich meiner Hochzeit ein Gemälde, das aus völlig kubistischen Dreiecken komponiert war und Die Witwe hiesse. Und so hatten wir schon in unserer beginnenden Ehe die Bilder des Grams und der Witwenschaft als warnende Symbole des Leides und der Vergänglichkeit täglich vor uns, was vielleicht einen tieferen Sinn hatte, als wir damals vermuteten. (Urzidil 2003: 211)
Das Bild8 von Josef Čapek hing noch in der letzten Prager Wohnung der Urzidils in der Fochova ulice (heute Vinohradská). Es handelte sich um eine von drei Versionen des Bildes, in denen der Maler die existentielle Erfahrung des Weltkrieges auszudrücken versuchte. Den ikonografischen Typ dieser allegorischen Frauengestalt über dem Grab in der Mitte des Friedhofs benutzte Čapek bemerkenswerterweise auch in einem seiner graphischen Zyklen, in den Linolschnitten zu der Erzählung von Thomas de Quincey Levana a Matky žalu [Levana und die Mütter des Leides] (Quincey 1927). Neben einer Reihe von kleineren Zeichnungen besaß Urzidil noch eine Leinwand Zrzavýs – Das Stillleben mit einer Birne,9 ein Bild, das er vom Autor im Jahr 1922 auf Raten kaufte. [Abb. 2] Auf dieses Bild bezieht sich ein pikantes Ereignis: Nach einem seiner Besuche im Atelier Jan Zrzavýs schrieb ihm der Maler den folgenden Brief: Milý Jene, po Vašem odchodu jsem zjistil, že jsi mi v ložnici položil zimník na nedokončené zátiší a kus látky zůstalo přilepeno na neuschlé dosud hrušce. Nejde to odstranit, a znamená to, že musím celou hrušku oškrábat (ač-li to půjde!) abych ji mohl znova namalovat. Bojím se, že se to nepodaří – v každém případě to však znamená, že práce na kterou kolik dní čekám až uschne abych mohl pokračovat, je zmařena a mohu čekat opět kolik dní! Nemohu se zdržet, abych Ti něco neřekl: abys byl pozornější. Není to jen toto, jsi tak bezohledně
8 Čapek, Josef: Vdova II [Die Witwe II], 1920 (Öl auf Leinwand, 40 × 30 cm. Johannes Urzidils Sammlung, Prag [1922-1939]. Private Kunstsammlung). Ähnliche Werke: Vdova I [Die Witwe I], 1920 (Öl auf Leinwand, 42,5 × 32 cm, Nationalgalerie Prag [O-2202]); Hřbitov [Der Friedhof], 1920 (Öl auf Leinwand, 40 × 30 cm, Benedikt Rejts Galerie Louny [O-350]); Truchlící [Die Leidtragende], [um 1920] (Öl auf Leinwand, 49 × 33,5 cm, Private Kunstsammlung). 9 Zrzavý, Jan: Zátiší s hruškou [Stillleben mit einer Birne], 1921 (Öl auf Leinwand, 38,3 × 38,4 cm, Johannes Urzidils Sammlung, Prag [1922-1939]. Private Kunstsammlung).
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nepozorný i v jiných případech (třeba to, že se neostýcháš sednout si na dámský plášť) jenže vždy to nedopadne tak tragicky a přejde to bez povšimnutí. Jsem vždycky celý nervosní když u mne Jste, trnu strachem, když jdeš okolo prádelníku abys něco neshodil nebo když jsi u okna u police s knihami a fotografiemi. Nesmíš myslet, že bych Ti nedovolil volně prohlížet a používat moje věci, tolik Tě mám rád, že před Tebou nic neukrývám nebo Ti nepřeji, ale že znám tuto Tvoji nepříjemnou nepozornost jsem z toho tak nervosní, že i Ty to někdy cítíš. […] Hleď, nauč se kupř. sedět pořádně a neshrnout na divanu celý plaid, nezmačkat polštáře tak, že se vyšívání láme, nauč se nemačkat knihy, nezlomit fotografie, nepouštět kousky chleba s máslem nebo drobky na divan, podlahu (kde se mastnota ještě rozšlape a dlouho nejde umýt) nebo na pokrývku stolu, a podobně. […] Nezlob se milý Jene na mne pro mou přímost. Víš, že Tě mám rád a že nemohu chtít Tě urazit. Nemyslím, že Ti ubližuji, Ty ani nevíš, jak ošklivě to vypadá, jak se tím můžeš lidem zprotivit. Mně sice ne, protože Ti to vše vždy odpustím, ale jiní to třeba jednou neodpustí. A protože doufám, že toto s Tím obrázkem Tě hodně silně upozorní a bude napříště varovat před takovou bezmyšlenkovitou nepozorností, zvlášť v bytech, kde se nevyznáš, a nedáš-li pozor, a nepodíváš-li se napřed dobře, můžeš něco vyvésti. Myslím to s Tebou dobře. A zlobíš-li se přece a máš na mne vztek, tak je taky dobře, já mám vztek ještě větší, přál bych Ti zažít ten pocit podobný ráně, když spatříš krásnou věc, kterou jsi s takovou láskou maloval a s takovou něžností opatroval, zkaženou nešetrností nevychovaného člověka. Zlob se a získej ze své zlosti něco dobrého. Srdečně Tě pozdravuje a těší se na shledanou Tvůj Jan Zrzavý.10 [Lieber Jan, nach Eurem Weggang habe ich festgestellt, dass Du Deinen Wintermantel im Schlafzimmer auf das halbfertige Stillleben gelegt hast und ein Stück Stoff an der noch nicht getrockneten Birne kleben geblieben ist. Es lässt sich nicht entfernen, und das heißt, dass ich die ganze Birne wegkratzen muss (wenn das geht!), um sie wieder malen zu können. Ich fürchte, dass es nicht gelingt – jedenfalls heißt es, dass das Werk, auf das ich so viele Tage warte, bis es trocknet, um es fortsetzen zu können, zunichte gemacht ist, und ich kann wieder manchen Tag warten! Ich kann es nicht unterlassen, Dir etwas zu sagen: dass Du aufmerksamer sein sollst. Dies ist nicht das einzige, Du bist auch in anderen Fällen so rücksichtslos (zum Beispiel, dass Du Dich nicht schämst, Dich auf einen Damenmantel zu setzen), aber nicht immer endet es so tragisch, und es ist ohne Beachtung vorbei. […] Ich bin immer sehr nervös, wenn Ihr bei mir seid, ich fürchte, wenn Du an der Kommode vorbei gehst, dass Du etwas von da herunter wirfst, oder wenn Du am Fenster am Regal mit Büchern und Fotografien bist. Du darfst nicht denken, dass ich Dir nicht erlauben würde, meine Sachen frei anzusehen und zu benutzen, ich mag Dich so sehr, dass ich vor Dir nichts verberge, oder dass ich Dir etwas nicht gönne, aber da ich diese Deine unangenehme Unaufmerksamkeit kenne, ich bin so nervös deswegen, dass auch Du es manchmal spürst. […] Schau mal, lerne zum Beispiel ordentlich zu sitzen, um das ganze Plaid auf dem Diwan nicht herunter zu schlagen, die Kissen nicht so zu zerknittern, dass die Stickerei bricht, lerne die Bücher nicht zu zerknüllen, die Fotografien nicht zu brechen, nicht Butterbrotstücke oder Krümchen auf den Diwan, auf den Fußboden (wo das Fett noch zertreten wird und lange nicht afzuwischen ist) oder auf die Tischdecke fallen zu lassen, und ähnliches. […] 10 Brief von Jan Zrzavý an Johannes Urzidil, o. D. [Prag, Frühling 1921] (Urzidil 2003: 5456).
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Sei mir nicht böse, lieber Jan, wegen meiner Offenheit. Du weißt, dass ich dich mag und dass ich Dich nicht beleidigen will. Ich glaube nicht, dass ich dich kränke, Du weißt nicht einmal, wie hässlich es aussieht, wie Du damit den Menschen zuwider werden kannst. Mir zwar nicht, da ich Dir das alles immer wieder verzeihe, aber andere verzeihen Dir wohl einmal nicht mehr. Und da ich hoffe, dass Dich das da mit dem Bild sehr stark aufmerksam macht und künftighin vor solcher gedankenlosen Unaufmerksamkeit warnt, insbesondere in den Wohnungen, wo Du Dich nicht auskennst, und, wenn Du nicht aufpasst und zuerst nicht genau hinschaust, etwas anstellen kannst. Ich meine es gut mit Dir. Und wenn Du Dich doch ärgerst und Wut auf mich hast, dann ist es auch gut, ich habe eine noch größere Wut, ich wünschte Dir, das einem Schlag ähnliche Gefühl zu erleben, wenn Du ein schönes Ding siehst, das Du mit so viel Liebe gemalt und mit solcher Zärtlichkeit behütet hast, verdorben durch die Rücksichtslosigkeit eines ungezogenen Menschen. Ärgere dich und gewinne von deinem Ärger etwas Gutes. Herzlich grüßt Dich und auf ein Wiedersehen freut sich Dein Jan Zrzavý.] [Übers. M. M.]
Diese Zeilen sind ein vollkommenes Beispiel der absoluten Offenheit und Aufrichtigkeit, die zwei wesentliche und dauerhafte Charakteristika der Freundschaft der beiden Künstler waren. Für Urzidil ist es typisch, dass er nicht widerstehen konnte und das Bild, dessen Entstehung von ihm selbst so „eigenhändig“ gebrandmarkt wurde, später kaufte. Im Jahr 1928 schuf der Bildhauer Karel Vogel (1897-1961) das Porträt der damals dreißigjährigen Gertrude Urzidil.11 [Abb. 3] Dieser Porträtkopf, der heute in der Kunstsammlung des Leo Baeck Institute in New York aufbewahrt wird, kam wegen seiner Größe und seines Gewichts auf einem etwas komplizierteren Wege in die New Yorker Wohnung der Urzidils, nichtsdestoweniger konnte er im Juni 1964 dem ‚Jüngling‘, der die Zusendung vermittelte, in einem Dankbrief schreiben: Mein lieber Trapp, die Bronze-Maske ist vorgestern vom Postboten hier abgegeben worden. Nicht der kleinste Ritzer, nicht die winzigste Beschädigung beeinträchtigt die herrliche Patina, die sich im Verlauf von 36 Jahren als zarte Epidermis über das Metall gelegt hatte. Wir beide waren außerordentlich beglückt über dieses Wiedersehen nach einem Vierteljahrhundert. Wir müssen Ihnen herzlich danken, nicht nur für Ihre Mühe – denn das Stück hat ja ein erhebliches Gewicht – und Ihre Geschicklichkeit, die Maske durchgebracht zu haben, sondern dazu für den echten Liebesdienst, den sie uns erwiesen. […] Der Portraitkopf ist nach modernen Begriffen vielleicht allzu realistisch und „naturgetreu“ bzw. – wenn man es so will – konservativ. Es ist aber wundersam dass er vermöge des persönlichen Verhältnisses, dass ich zu ihm habe, sich künstlerisch steigert und vergrundsätzlicht. Der Bildhauer Karl Vogel aus Budweis in Südböhmen, der ihn 1928 11 Vogel, Karel: Porträt von Gertrude Urzidil, 1928 (Bronze, 32,7 × 19,3 × 13 cm. Johannes Urzidils Sammlung, Prag/New York [1928-1970]. Leo Baeck Institute, New York, LBI Art Collection, Call Number 77.242).
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schuf – meine Frau war damals gerade 30 Jahre alt – war ein bedeutender Portraitkünstler, schuf aber auch sehr anspruchsvolle Ganz-Figuren. Seine Kunst kommt von Despiaux und Maillol. Er floh 1938 nach England, wo er 1961 starb. Er wurde 64 Jahre alt. Einige seiner Werke sind in verschiedenen Museen und eine große Figur auf einem öffentlichen Square in London. Jeder, der zum Londoner Flugplatz fährt (oder von dort in die Stadt)[12] sieht ein paar Sekunden lang immer dieses schöne Monument,[13] und wenn ich in London bin, grüßt mich bei Ankunft und Abfahrt stets das Werk meines alten Freundes. Ich habe die Maske bereits auf einem Gestell meiner hiesigen Bücherei montiert und sie wirkt hier sehr eindrucksvoll.14
Die erste Hälfte der dreißiger Jahre bedeutete für Urzidil eine völlig neue Lebenslage: er verlor seine Festanstellung bei der deutschen Botschaft und musste fortan freiberuflich existieren. Unter Berücksichtigung der sich schnell ändernden politischen Situation widmete Urzidil in seinem bildkünstlerischkritischen Werk bereits seit mehreren Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit den deutschsprachigen Künstlern in der Tschechoslowakei. In dieser Zeit gelangten in seine Sammlung die Zeichnungen von Friedrich Feigl (18841965),15 Kurt Hallegger (1901-1963)16 oder Hugo Steiner-Prag (1880-1945),17 aber darüber hinaus kam z. B. auch ein bisher nicht identifiziertes Bild von Emil Filla (1882-1953) hinzu. Zu zwei Aquarell-Landschaften des Malers Václav Špála aus den zwanziger Jahren erwarb Urzidil im Dezember 1936 ein kleineres Ölgemälde Eine grüne Birne und zwei Äpfel auf einer Karpatendecke, hinten Wolken.18 Obwohl es bisher nicht gelang festzustellen, wo sich dieses Bild 12 Diese Fassung entspricht der Abschrift von Gerhard Trapp. 13 Es handelt sich um die Statue: Vogel, Karel: The Leaning Woman [Die sich beugende Frau], 1959 (Beton. Great West Road [bei St. Peter’s Church], Hammersmith, London). 14 Brief von Johannes Urzidil an Gerhard Trapp, New York, 17.06.1964 (Private Sammlung). 15 Feigl, Friedrich [Bedřich]: Landschaft (Kohlezeichnung, Papier. Gegenwärtige Aufbewahrung unbekannt). Die Angaben über das Werk stammen aus dem tschechisch geschriebenen Brief von Urzidil an J. Matouš, New York, 21.09.1946 (Urzidil 2003: 137). 16 Hallegger, Kurt: Die griechischen Frauen (Gouache, Papier. Gegenwärtige Aufbewahrung unbekannt). Die Angaben über das Werk stammen aus dem tschechisch geschriebenen Brief von Urzidil an J. Matouš, New York, 21.09.1946 (Urzidil 2003: 137). 17 Steiner-Prag, Hugo: Josefsthal am Böhmerwald, um 1935 (Zeichnung, Papier. Gegenwärtige Aufbewahrung unbekannt). Die Angaben über das Werk stammen aus dem tschechisch geschriebenen Brief von Urzidil an Matouš, New York, 17.04.1946 (Urzidil 2003: 133). Diese Zeichnung bekam Gertrude Urzidil von Steiner-Prag in Josefsthal als Geschenk zu ihrem 37. Geburtstag; bei dieser Gelegenheit verfasste Steiner-Prag zur Erinnerung auch ein Langgedicht Gesang an Josefstal, dessen fünfseitiges Typoskript sich im Nachlass Urzidils im Leo Baeck Institute erhalten hat. 18 Špála, Václav: Zelená hruška a 2 jablka na karp[atské]. dece, vzadu mraky [Eine grüne Birne und zwei Äpfel auf einer Karpatendecke, hinten Wolken], 1936 (Öl auf Leinwand,
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heute befindet, bietet das sorgfältige Werkverzeichnis des Malers ausführliche Informationen (Burget/Musil 2002: 92 [Nr. 977]). Zu Beginn des Jahres 1936 gab der Verlag des aus Böhmen stammenden Dr. Rolf Passer in Wien und Leipzig Urzidils Monografie Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock heraus; das Buch war das Ergebnis eines umfangreichen und sorgfältigen Studiums von Hollars Leben und Werk, und es bot Urzidil u. a. auch die Gelegenheit zu den damals erschreckend aktuellen Überlegungen über die Problematik des Exils.19 Von Hollars Werken besaß Urzidil ein Selbstporträt und vier Trachtenstudien aus der Serie Theatrum mulierum.20 [Abb. 5-8] Kommentierte Urzidil 1936, dass Hollar diese Blätter mit böhmischen Trachten an den Anfang dieses Zyklus stellte, so dass sie „ein Treuegruß an die Heimat“ sind (Urzidil 1936: 73), so wirkt es rührend, wenn man sich gerade diese Blätter an der Wand seiner New Yorker Wohnung vorstellt. Gesellschaft leisteten ihnen hier mehrere alte Radierungen mit Prager Motiven und die Ansicht des Pulverturms von Vincenc Morstadt (1802-1875). In New York Tag für Tag die Peripetien des neuen Lebens zu überwinden, half Urzidil der glückliche Umstand, dass er sie mit einer Reihe von alten Prager Freunden, die der Krieg in denselben Weltwinkel verschlagen hatte, teilen konnte; es waren von den bildenden Künstlern z. B. der Grafiker Hugo Steiner-Prag und der Maler Maxim Kopf (1892-1958), der die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson (1893-1961) geheiratet hatte. Urzidil schrieb den Katalogtext zur postumen ersten Einzelausstellung Steiner-Prags im Jahre 1947 (Urzidil 1947b) und den Einleitungstext für eine Kopf-Monografie (Urzidil 1960). Der Österreicher Hans Fronius (1903-1988) schickte ihm sein Album Kafka-Mappe (Fronius 1946).21 In Urzidils Sammlung gelangten ferner
14,5 × 21 cm. Johannes Urzidils Sammlung, Prag [1936-1939]. Gegenwärtige Aufbewahrung unbekannt). 19 S. dazu den Beitrag von Ralph Melville im vorliegenden Band. 20 Hollar, Wenceslaus: Frauentrachten aus Böhmen, 1642-1649 (Aus der Serie Theatrum mulierum: Eine Böhmische Edelfrau, 1649 [Radierung, Papier, 91 × 58 mm]; Eine vornehme Bürgers- oder Kaufmannsfrau zu Prag, 1642 [Radierung, Papier, 92 × 60 mm]; Eine Pragerin, 1643 [Radierung, Papier, 92 × 56 mm]; Eine Böhmische Bäuerin, 1643 [Radierung, Papier, 89 × 62 mm. Johannes Urzidils Sammlung, Prag/New York (ca. 1936-1970). Leo Baeck Institute, New York, LBI Art Collection, Call Number 78.414]). 21 Titelblatt mit einer Widmung: „Johannes Urzidil herzlichst zugeeignet Hans Fronius 1947.“ (Johannes Urzidils Sammlung, New York [1947-1970]. Leo Baeck Institute, New York, LBI Art Collection, Call Number: r [f] PT 2621 A262 F85). Urzidil (1947a) bedankte sich am 7. Juni desselben Jahres mit einem Brief; s. auch Fronius (1978).
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Neuzugänge wie Alfred Kubins (1877-1959) Lithografie Adalbert Stifter,22 die Friderike Maria Zweig (1882-1971), geschiedene Frau Stefan Zweigs (18811942), Urzidil schenkte. Im Herbst 1962, während seines zweiten Nachkriegsbesuches in Linz, überreichte Urzidil dieses Blatt dem dortigen Adalbert-Stifter-Institut (Schiffkorn 1983: 74). Direkt in der näheren Nachbarschaft Urzidils ließ sich dann der Bildhauer Bernard Reder (1897-1963; Minařík 2007) nieder, den Urzidil bereits aus Prag kannte, wo er auch schon über Reder geschrieben hatte (Urzidil 1935: 292). Die in dessen New Yorker Atelier verbrachte Zeit stand übrigens auch am Anfang von Urzidils Lederhandwerk (Urzidil 1954: 18f.; 1969b: 38-42, 48). Bernard Reder schuf in dieser Zeit u. a. mehrere Holzschnittserien: einen Zyklus von Illustrationen zu Rabelais’ Roman Gargantua und Pantagruel (1939),23 Apokalypse (1940), Noach-Legende (1948) oder Sieben Todsünden (1954), von denen er eine Reihe Urzidil schenkte; ihr späteres Schicksal – ebenso wie das der Zeichnung des lieben Josefsthals im Böhmerwald von Steiner-Prag und Kopfs Bild, das Urzidil an seinen ersten Aufenthalt auf der Flucht aus Europa erinnerte24 – ist leider nicht bekannt. Im Jahr 1969 widmete Urzidil „dem Andenken“ Reders seine autobiografische Skizze Handwerkliches aus New York (Urzidil 1969b: 32). Wenn wir zum Abschluss dieses Exkurses in die imaginäre Kunstkammer Urzidils überlegen, welche Gefühle diese Werke in ihm geweckt haben mögen, bekommen wir eine mögliche Antwort in seinem autobiographischen Text mit dem Titel Bei Mary Duras aus dem Jahre 1969:25 Für einen Kunsttheoretiker, der ich ja mitsamt manch anderen Aktivitäten auch schon lebenslang bin, ist es eine tiefe Beglückung, von jemanden, den man in den Anfängen zu schätzen begann, in der sich neigenden Sonne noch sagen zu dürfen: Die Entwicklung hat der Zeit standgehalten. Es ist dies eine der annehmbarsten Formen von Rechthaberei. (Urzidil 1969a: 4)
22 Kubin, Alfred: Adalbert Stifter, 1935 (Federlithographie, Papier, 416 × 294 mm. Mit einer Widmung: „Dem lieben Stefan Zweig mit treuem Gruß / Alfred Kubin / 19. I. 1936“. Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ., Linz). 23 Es war gerade Reders Rabelais-Ausgabe, die Urzidils erstem Versuch im Lederhandwerk zu reüssieren, zum Opfer fiel (Urzidil 1969b: 40f., 48). 24 Kopf, Maxim: Casbah in Algier, 30.-40. Jahre 20. Jahrhundert (Pastell, Papier. Mit einer Widmung: „An meinen ältesten Freund, welcher der erste war, der über meine Arbeit schrieb.“ Gegenwärtige Aufbewahrung unbekannt) (Urzidil 1923: 5). 25 Mary Duras (1898-1982); Urzidil kannte die Bildhauerin und erste Frau Maxim Kopfs sehr gut seit ihrem Wirken in Prag, hier erinnerte er sich an seinen Besuch in ihrem Pariser Atelier in der Mitte der 20er Jahre.
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Und zum Schluss eine Paraphrase: Was immer auch Johannes Urzidil in seinem Leben begegnete, widerfuhr oder abhanden kam: Die Kunst, das heißt das Glück, ist mit ihm geblieben und er mit der Kunst.
Literatur
Burget, Eduard/Musil, Roman (2002): Václav Špála – soupis díla (1885-1946) [Václav Špála – Werkverzeichnis (1885-1946)]. Praha: Nadace Karla Svolinského a Vlasty Kubátové. Fronius, Hans (1946): Kafka-Mappe. Zeichnungen zu den Werken Franz Kafkas. Mit einer Parabel von Franz Kafka und einem Vorwort von Otto Mauer. Wien: Amandus-Ed. Fronius, Hans (1978): Johannes Urzidil. – In: Ders., Bilderbuch eines Lebens. Hrsg. v. Kurt Kahl. Wien, München, Zürich: Molden Edition Graphische Kunst, 69. Jammes, Francis (1925): Klára d’Ellébeuse čili Historie dívky ze zašlých dob [Clara d’Ellébeuse ou l’histoire d’une ancienne jeune fille] [Übers. v. Hanuš Jelinek]. Praha: Aventinum [dt. Ausgabe 1921: Klara oder Der Roman eines jungen Mädchens aus der alten Zeit. Übers. v. Jakob Hegner. Hellerau: Hegner]. Minařík, Miloš (Hrsg.) (2007): Bernard Reder: Sochy, kresby, dřevoryty [Skulpturen, Zeichnungen, Holzschnitte]. Photos v. Tibor Honty. Text v. Jaromír Pečírka. Übers. v. Vladimír Musil [=Miloš Minařík] u. Milada Urbanová. Horní Planá: Fraktál. Musil, Vladimír [=Miloš Minařík] (2003): Umění jako činy duše. Studie k životopisu spisovatele [Die Kunst als Taten der Seele. Studie zur Biografie des Schriftstellers]. – In: Urzidil, Johannes, Život s českými malíři. Vzájemná korespondence s Janem Zrzavým. Vzpomínky, texty, dokumenty [Leben mit tschechischen Malern. Korrespondenz mit Jan Zrzavý. Erinnerungen, Texte, Dokumente]. Hrsg. u. übers. v. dems. u. Milada Urbanová [jetzt Minaříková]. Horní Planá: Fraktál, 268-485. Quincey, Thomas de (1927): Levana a Matky žalu [Levana und die Mütter des Leides/ Levana and Our Ladies of Sorrow]. Stará Říše: Marta Floriánová. Schiffkorn, Aldemar [sen.] (1983): Johannes Urzidil „Deo volente“. – In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 32/1-2, 63-76. Teige, Karel (1923): Jan Zrzavý. Musaion IV. Praha: Aventinum. Urzidil, Johannes (1923): Prager Kunstbrief. – In: Berliner Börsen-Courier 307 (05.07.), 5. Urzidil, Johannes (1935): Prager Ausstellungen. Maxim Kopf. Gotische Kunst. Bernhard Reder. – In: Forum 5/10, 291f.
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Urzidil, Johannes (1936): Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock. Wien, Leipzig: Dr. Rolf Passer. Urzidil, Johannes (1941): Přátelé [Freunde]. – In: Obzor 1/3, 12 [a. in: Urzidil (2003: 121-124)]. Urzidil, Johannes (1947a): Brief an Hans Fronius. – In: Der Turm. Monatsschrift für österreichische Kultur 2/9-10, 356 [1978 gekürzt a. in: Fronius, Hans, Bilderbuch eines Lebens. Hrsg. v. Kurt Kahl. Wien, München, Zürich: Molden Ed. Graphische Kunst, 74]. Urzidil, Johannes (1947b): Hugo Steiner-Prag. – In: Hugo Steiner-Prag 1880-1945. Exhibition. Paintings, Drawings, Prints. 15.03.-05.05.1947. Ausstellungskatalog Galerie St. Etienne, New York. Woodstock, Vermont: The Elm Tree Press, 3-7 [tschech.: Hugo Steiner-Prag. Übers. v. Milada Urbanová (Urzidil 2003: 141-147); dt.: Hugo Steiner-Prag. Teilübers. v. Christina Kotte – In: Johann, Klaus/Schneider, Vera (Hgg.), HinterNational – Johannes Urzidil. Ein Lesebuch. Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa 2010, 234-236]. Urzidil, Johannes (1954): Über das Handwerk. Krefeld: Agis. Urzidil, Johannes (1960): Maxim Kopf ’s Prague years. – In: Maxim Kopf. New York: Praeger, 7-11 [tschech.: Pražská léta Maxima Kopfa. Übers. v. Milada Urbanová (Urzidil 2003: 159-165)]. Urzidil, Johannes (1966): Život s českými malíři [Leben mit tschechischen Malern]. Übers. v. Ladislav Radimský [alias Petr Den]. – In: Proměny 3/2, 15-20 [a. in: Výtvarná práce 16/5 (27.03.1968), 1 u. 7. S. auch Urzidil (2003: 13-21). Dt. Originalfassung: Leben mit tschechischen Malern (Urzidil 2003: 209-213). Leicht gekürzt a. in: Johann, Klaus/Schneider, Vera (Hg.): HinterNational – Johannes Urzidil. Ein Lesebuch. Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa 2010, 226-233]. Urzidil, Johannes (1969a): Bei Mary Duras. – In: Prager Nachrichten 20/7, 2-4 [tschech.: Pařížská vzpomínka na Mary Durasovou. Übers. v. Milada Urbanová (Urzidil 2003: 183-186)]. Urzidil, Johannes (1969b): Handwerkliches aus New York. – In: Ders., Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York. Zürich: Artemis, 31-78. Urzidil, Johannes (2003): Život s českými malíři. Vzájemná korespondence s Janem Zrzavým. Vzpomínky, texty, dokumenty [Leben mit tschechischen Malern. Korrespondenz mit Jan Zrzavý. Erinnerungen, Texte, Dokumente]. Hrsg. u. übers. v. Vladimír Musil [= Miloš Minařík] u. Milada Urbanová [jetzt Minaříková]. Horní Planá: Fraktál. Werfel, Franz (1986): Briefe an Gertrud Spirk. – In: Jungk, Peter Stephan (Hg.), Das Franz Werfel Buch. Frankfurt/M.: Fischer, 385-402.
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Anhang
Abb. 1: Jan Zrzavý, Der Gram, 1915 (Öl auf Leinwand, 39 × 24 cm, Johannes Urzidils Sammlung, Prag [1922-1939], Private Kunstsammlung, © JohannesUrzidil-Gesellschaft-Archiv, České Budějovice).
Abb. 2: Jan Zrzavý, Stilleben mit einer Birne, 1921 (Öl auf Leinwand, 38,3 × 38,4 cm, Johannes Urzidils Sammlung, Prag [19221939], Private Kunstsammlung, © Johannes-Urzidil-Gesellschaft-Archiv, České Budějovice).
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Abb. 3: Karel Vogel, Porträt von Gertrude Urzidil, 1928 (Bronze, 32,7 × 19,3 × 13 cm, Johannes Urzidils Sammlung, Prag/New York [1928–1970], © Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York, LBI Art Collection, Call Number 77.242 [Detail])
Abb. 4: Václav Špála, Zátiší s ovocem [Stillleben mit Früchten], 1936, fast identische Variante des Bildes, das sich im damaligen Besitztum Urzidils befand (Öl auf Leinwand, 13,5 × 20 cm [mit Rahmen: 32,2 × 38 cm], © Städtisches Museum und Galerie, Nový Bydžov, Inv. Nr. 10353).
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Abb. 5 (o. l.) bis 8 (u. r.): Wenceslaus Hollar, Frauentrachten aus Böhmen, 1642-1649. Aus der Serie Theatrum mulierum: Eine Böhmische Edelfrau, 1649 (Radierung, Papier, 91 × 58 mm), Eine vornehme Bürgers- oder Kaufmannsfrau zu Prag, 1462 (Radierung, Papier, 92 × 60 mm), Eine Pragerin, 1643 (Radierung, Papier, 92 × 56 mm), Eine Böhmische Bäuerin, 1643 (Radierung, Papier, 89 × 62 mm), (Johannes Urzidils Sammlung, Prag/New York [ca. 1936-1970], Leo Baeck Institute, New York, LBI Art Collection, Call Number 78.414, © Aleš’s Südböhmische Galerie, Hluboká nad Vltavou, G 8538/12, G 8535/10, G 8535/9, G 8535/13).
Alwin Binder
Johannes Urzidils Weltbild im Spiegel seiner Essays zu Goethes Faust
Johannes Urzidil hat in zwei Essays, von denen der kleinere zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde über Goethes Faust geschrieben: Faust und das Deutschtum sowie ‚Faust‘ und die Gegenwart. Beide Male interpretiert er nicht Goethes Faust, sondern bezieht dessen Aussagen auf seine eigene Welt. Deutungsmöglichkeiten der Tragödie werden dabei nicht diskutiert; Urzidil äußert sich so, als ob er sicher wisse, was Goethe seinen Zeitgenossen und einer künftigen Welt zu sagen hatte. Das ist identisch mit dem, was Urzidil seinen eigenen Zeitgenossen verdeutlichen will. Goethe ist für ihn die Autorität, die seine Ansichten bekräftigt. Dabei kommt sein eigenes Weltbild vielleicht nicht deutlicher, aber doch anders zum Vorschein, als es sich in seinen Dichtungen zeigt. Diesem Aspekt wende ich mich zu unter der Frage, wie sich in Urzidils Faust-Essays dessen Weltbild an Goethes Faust spiegelt. Der kleine Text Faust und das Deutschtum (FD) wurde im Herbst 1928 in der Zeitschrift Freie Welt veröffentlicht. Dem Titel gemäß entfaltet Urzidil hier sein Bild vom Wesen des deutschen Menschen, und das ist für ihn eng mit dem verbunden, was er als das Faustische bezeichnet. Dieser Begriff ist damals beeinflusst von Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918, 1922), wird aber von Urzidil, soweit ich sehe, mit eigenem Inhalt gefüllt, indem er das Faustische mehr als Spengler auf Goethes Faust bezieht. Der erste Satz heißt: „Fausthistorie, Faustsage und Fausterlebnis tragen alle ein bodenständig deutsches Wesen, und der Deutsche war und bleibt immer im gewissen Sinne eine faustische Natur.“ (FD: 304) Diese „faustische Natur“ beschreibt Urzidil als den Zwiespalt zwischen gotischem Empfinden, zwischen „transzendental gestalteter Sinnlichkeit“ (FD: 304) und dem der Renaissance verpflichteten Denken, das als „Ratio und Skepsis“ (FD: 305) den mittelalterlichen Glauben lockere, ihm seine Sicherheit nehme und sich als die bekannten zwei Seelen äußere, die in der faustischen Brust wohnen. Urzidil sagt, „Gotisch ist ohne Zweifel die dem Deutschen adäquateste Empfindungsweise“ (FD: 304), aber er habe sich gewissermaßen vom Intellekt verführen lassen. So sei der „zur erkennenden Tat strebende[,] auf die Umfassung alles Wissens gerichtete“,
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im „ewigen Zwiespalt zwischen Handlung und Betrachtung“ sich bemühende Faust „das wahre Abbild der deutschen Seele und deutschen Tragik“ (FD: 306). Die „Koordinaten“ dieser „deutschen Natur“ bringt Urzidil auf die Begriffe „faustisch forschender, vielfach qualvoll skeptischer Geist“ auf der einen und auf der anderen Seite „unermüdlicher Fleiß und praktische Organisation dieses Fleißes“ (FD: 307). Aus diesem Zwiespalt entspringe die Sehnsucht nach der „schöpferischen Tat“, für die Faust „seiner Seele Seligkeit aufs Spiel“ (FD: 307) setze. Diese deutsche, aber letztlich unerfüllte Sehnsucht zeige sich in der Geschichte. Nur die „Sonderpersönlichkeit“ Bismarck bilde hier eine Ausnahme, „dem Grundcharakter deutschen Wesens durchaus nicht kongruent“ (FD: 307). Da diese schöpferische Tat die Ausnahme sei, erzeuge sich der übermächtige deutsche Intellektualismus als natürliche Gegenkraft die „Sehnsucht [...] nach einer glückseligen Welt des Gefühls“ (FD: 307). Dies sei die „Quelle des lyrisierenden deutschen Sentiments, des Weltschmerzes und der tiefen, träumerischen Musikalität des Deutschtums“ (FD: 307). So gesehen sind die deutsche Dichtung und Musik das Ventil für den faustischen Trieb nach schöpferischer Tat. Da dieser kleine Aufsatz Faust und das Deutschtum nicht leicht zugänglich ist, zitiere ich den Schluss: Wenn die kulturelle deutsche Gegenwart das sichtliche Bestreben aufweist, Lyrisches zu verneinen, amerikanische Tatkraft hervorzureizen, das Gefühl womöglich aus der Sphäre der Künste zu beseitigen, so ist dies wieder nur eines jener Gegengifte, welches auf Umwegen der faustische Urtrieb des Deutschtums für sich selbst hervorbringt, um seine gegenwärtige Lebenskraft wirksam zu erhalten. Denn gerade heute, nach den Katastrophen des Weltkrieges fühlt er am stärksten die Notwendigkeit, diese primitive Lebenskraft unter allen Umständen zu erhalten und sie nicht in einer Gedanken- und Gefühlswelt verdampfen zu lassen, die von den scharfen Windstößen einer unerbittlichen Wirklichkeit fortgefegt werden könnte. (FD: 307f.)
Sie sehen, welche Bedeutung „der faustische Urtrieb des Deutschtums“ in Urzidils Weltbild einnimmt. Auf ihn führt er alle Erscheinungen deutscher Kultur und deutscher Politik zurück. Dieser Urtrieb ist wie ein Organismus, der Gegengifte erzeugen kann und notfalls auf Umwegen seine Lebenskraft erhält, indem er „amerikanische Tatkraft“ hervorreizt. Diese „amerikanische Tatkraft“ platzte und verdampfte schließlich am Schwarzen Freitag 1929. Aus heutiger Sicht sehen wir, dass Urzidil hier vorausgreifend Gründe dafür nennt, warum Hitler ein paar Jahre später der Mann werden konnte, der die von Faust ersehnte schöpferische Tat vollbringt. Ich weiß nicht, ob Urzidil dies später so sah, aber in dieses Weltbild ließe sich Hitler integrieren als personifizierte Tatkraft, die die Deutschen von ihren Komplexen befreite,
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nämlich in der Weltgeschichte nur die Wissensdurstigen, die Künstler, die sich nach Taten Sehnenden, die „Hamlets“, nur die „Betrachtenden“, nicht die „Handelnden“ (FD: 307) zu sein. Vielleicht war Urzidil später selber überrascht, als er sah, welche unerwarteten inhumanen Möglichkeiten in seinem geliebten Deutschtum schlummerten. Auch den Essay ‚Faust‘ und die Gegenwart (FG) betrachte ich unter der Frage, wie sich Urzidils Weltbild an Faust spiegelt, ohne freilich alle Aspekte dieses interessanten Textes berücksichtigen zu können. Der Essay lässt sich nicht genau datieren und wurde erst 1972 postum aus Urzidils Nachlass veröffentlicht; da aber die Atombombe erwähnt ist, muss er – zumindest teilweise – nach 1945 geschrieben worden sein. Außerdem wird die künstliche Befruchtung als Möglichkeit gegenwärtiger Welt berührt. Urzidils Weltsicht ist nun nicht mehr auf das Deutschtum beschränkt, sondern hat den „abendländischen Menschen“ im Blick, der „mehr und mehr zum Menschen eines schlechten Gewissens und hemmender Schuldgefühle“ (FG: 104f.) geworden sei. Dieses „faustische Schuldgefühl“ sei die „beängstigende Vorstellung von der unzulänglichen oder verfehlten Anwendung der eigenen Kräfte“, das heißt des „Wissens“ (FG: 105) und der „Vernunft“ (FG: 106).1 Urzidil bleibt nicht bei dieser abstrakten Bestimmung stehen, sondern erklärt, der faustische Mensch missbrauche „die Vernunft zur Befriedigung von Trieben, was ihre verwerflichste Anwendung“ darstelle (FG: 106). Das lässt er sich bestätigen durch Fausts Wunsch nach Verjüngung in der „Hexenküche“ und durch die Zeugung des Homunculus im „Laboratorium“; er sieht darin den Versuch, „selbst das Elementarste zu mechanisieren“ (FG: 106). In Urzidils Weltbild, wie es sich hier zeigt, ist es undenkbar, dass Faust und Mephistopheles zusammengehören, dass Mephisto nur das ausführt, was Faust ihm aufgetragen und zu verantworten hat (Binder 2005). In seinem Kosmos, den er in Goethes Tragödie zu sehen glaubt, ist oben das Gute, vertreten durch Gott, und unten das Böse, vertreten durch den Satan, dessen Repräsentant im Faust sein böses Wesen treibt. So sagt er: „Die Hauptfunktion Mephistos im Verlauf der dramatischen Ereignisse ist die Entbindung der Triebe.“ (FG: 109) Die Art, wie Urzidil das damit Gemeinte ausführt, zeigt, wie sehr ihn diese Thematik betrifft und erregt. Unmittelbar überträgt er dieses Problem auf die Gegenwart, sieht darin „eines der erschreckendsten Phänomene“ (FG: 109) seiner Zeit. Dabei hat er vor allem die Psychologie und Psychotherapie im Visier, die unter dem „Deckmantel der Wissenschaft [...] den Trieben Götzenaltäre“ (FG: 1 Diese Begriffe waren im früheren Essay der Renaissance zugeordnet, im Gegensatz zum gotischen Streben nach Transzendenz.
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110) errichte, indem sie, statt auf „Arbeit und maßvolles Leben“ (FG: 110) zu verweisen, denjenigen Menschen behilflich sei, die „zu altern nicht ertragen“ und sich stattdessen in „psychomagische Hexenküchen“ begeben, „um ihren Sexus neu beleben zu lassen oder ihre ‚Komplexe zu sublimieren‘“ (FG: 110).2 Urzidil wehrt sich dagegen, dass durch „gewisse psychologische Doktrinen“ der „Triebwelt des Individuums“ eine „zentrale und dominierende Rolle“ zugewiesen werde (FG: 110). Das ist für ihn verantwortlich für den „Rückfall der Menschheit hinter die Schwelle“ der Höhlenmenschen, nachdem sie sich „in mühsamem Kraftaufwand“ in „lichtere Räume der Gesittung vorwärtsgeschwungen“ hätte (FG: 110). Dem folgt ein Satz, der Urzidils Befürchtungen verdeutlichen soll, es aber leider nicht tut: Mit blutigen Köpfen mußte sich unser Geschlecht dagegen wehren [...], daß der jahrtausendelange Einsatz um die Erlangung dessen, was man menschliche Kultur und Zivilisation nennt, von einer materialistischen Scheingelehrsamkeit und Politik als nichtig, unsinnig und überflüssig verworfen werde. (FG: 110)
Man könnte meinen, dass für Urzidil die menschliche Kultur und Zivilisation auf der Unterdrückung des Sexualtriebs beruhe und mit der Emanzipation der Sexualität alle Kultur zusammenbreche. Urzidil wendet sich gegen die, die im „sexuellen Element“ den „uneingeschränkten Alleinherrscher über alle Dinge des Daseins, den ausschließlichen Beweggrund alles menschlichen Handelns und Verhaltens“ sehen, „das fortan nurmehr als sexuelle Symbolik verstanden“ werde (FG: 111). Vermutlich denkt er an Sigmund Freud oder an Ableger der Freudschen Psychologie in den USA. Für ihn ist „das Bewußtsein der Gesundheit und Normalverfassung [...] nicht bloß ein physisches, sondern auch ein moralisches Fundament des Daseins“, dessen „systematische Zersetzung“ in „das Gebiet krimineller Handlungen“ gehöre (FG: 111). Dies alles steht in einem Essay über Faust und die Gegenwart. Ich hoffe, dass ich niemandem zu nahe trete, wenn ich sage, vieles davon hätte in die Ideologie der Nationalsozialisten gepasst. Dazu gehört auch das Heilmittel, das Urzidil unter Berufung auf Goethe formuliert: „Goethe betrachtete derartige Triebphänomene als jene Seite der Menschennatur, die im Interesse der 2 Klaus Johann gab mir den interessanten Hinweis, es sei nicht ohne Ironie, dass Urzidil sein Leben im Grunde der in Prag geborenen Psychoanalytikerin Christine Olden (geb. Fournier) verdanke, die die britische Schriftstellerin Bryher auf seine Not aufmerksam machte, so dass diese die Urzidils finanziell unterstützte. Auch Bryher selbst stand der psychoanalytischen Bewegung nahe, noch mehr ihre Lebensgefährtin Hilda Doolittle, deren Buch By Avon River Urzidil übersetzte und die eine Psychotherapie bei Freud machte, über die sie auch ein Buch (Tribute to Freud ) schrieb. S. zu Olden, Bryher und Doolittle den Beitrag von Gerhard Trapp im vorliegenden Band.
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Koexistenz der Heiligung des Verzichtens unterworfen werden sollte.“ (FG: 112) „Liebe“ sei „Opfer und Hingabe“ und habe mit der „Seele, der Ewigkeit, der Unsterblichkeit, der Gottverbundenheit des Menschen zu tun“ (FG: 112). Der „Gretchentragödie“ entnimmt er, der unbedingte Trieb müsse durch Liebe geheiligt, mit den „unvergänglichen Begriffen“ „Gott, Religion und Ehe“ verbunden werden; es gebe „Enttäuschungen und Leiden“, die man „nicht sublimieren darf, sondern an denen eine redliche Seele eben zugrunde zu gehen hat.“ (FG: 113) „Gott, Religion und Ehe“ sind in Urzidils Denken „unvergängliche“ und damit immer gültige Begriffe, die er ideologisch nicht weiter hinterfragt; sie sind um der Humanität willen zu schützen und zu pflegen. Das kann in seinem Weltbild niemand besser als die „Mutter“. Wohl deshalb, weil eine Mutter am ehesten geeignet ist, ihren Kindern „Opfer und Hingabe“, die „Heiligung des Verzichtens“ vorzuleben und zu dessen Nachahmung anzuregen. Urzidil preist Goethes Hermann und Dorothea als Verherrlichung des „Muttertums“, wo „die Mutter als das lenkende, ordnende und besänftigende Element“ erscheine (FG: 113). Faust dagegen sei „mutterlos, ja es scheint, als hätte eine Mutter auf sein Leben niemals wohltuend eingewirkt“ (FG: 113). Das könnten die „Mütter“, zu denen Faust im zweiten Teil hinuntersteigt, nicht ersetzen. Denn sie seien nicht das „Ewig-Weibliche, das den Urgrund allen Daseins ernst verwaltet und dem zugleich Macht gegeben ist, geprüfte Seelen triumphierend in die Himmel hinan zu ziehen“, die „faustischen Muttererscheinungen“ hätten „keinen anheimelnden Zug mehr“, das „Ewig-Weibliche“ wohne in „düsteren unterirdischen Gottesräumen“ (FG: 115). Wer erwartet, dass nach dieser Interpretation des Dramas, die ja zugleich als Analyse der Gegenwart fungiert, Urzidil konkreter wird, sieht sich dadurch überrascht, dass er unvermittelt das Zeitlose betont, das Goethes Faust mit Homers Epen gemeinsam habe, und sich ohne Übergang dem allgemein Menschlichen zuwendet. Urzidil fragt: „Was ist der flüchtige Mensch vor solchen Erscheinungen?“ (FG: 117) Dabei denkt er an „das unverrückbar ewig Waltende und Verharrende, das unwandelbare Sein“, das zusammen mit „dem ebenso ewig spielerisch Kreisenden“ „das Dasein“ symbolisiere (FG: 116f.). Unter solch zeitlosem Aspekt ist dann auch das Heil für eine Menschheit zu finden, die wie Faust „sich der Höllenmacht verband, um alle Tiefen von Lust und Grausen zu durchschweifen“ (FG: 117). Denn am „Ende aller Irrfahrten, nach [...] Liebesreiz und Kaiserglanz und Kriegsgetümmel, nach allen Hexenkünsten und Walpurgisnächten und allen verwirrenden Maskenzügen des Daseins“ bleibe „nur das, was am Anfang war: das unbemerkt gebliebene Nächstliegende, die nützliche Tat für die Gemeinschaft“ (FG: 117).
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Nach „Kaiserglanz und Kriegsgetümmel“, das heißt auf Deutschland bezogen, nach Bismarck, nach Erstem Weltkrieg, nach Hitler und Zweitem Weltkrieg mit Holocaust und 50 Millionen Toten dient der Verbrecher Faust immer noch als Modell, wie „der Mensch und die Menschheit [...] der Gewalt als etwas Bösem und Naturwidrigem“ (FG: 118) entrinnen kann. Über allem steht Urzidils Ratschlag sozusagen als Credo „einer vom Herzen kommenden Humanität“ (FG: 128): „Der Menschheit diene der Mensch!“ (FG: 117) Dass Goethe diese für Urzidil letztlich einzig wahre Maxime durch die von Faust befohlene Kolonisierung bezeugen soll, ist freilich mehr als absurd. Denn diese Aktion beruht auf Egoismus und barbarischer Gewalt, die Urzidil auch ungeschönt beschreibt und verurteilt: Hier hat der Dichter den brutalen Mechanismus politischer Methoden unserer Zeit divinatorisch vorgeahnt, die das Privatschicksal den sogenannten höheren und allgemeinen Zwecken bedenkenlos aufopfern. Die erworbenen und verbürgten Rechte schuldloser, frommer, hilfsbereiter und gesetzestreuer Menschen müssen den expansionistischen Ansprüchen einer neuen Epoche weichen, die in ihrem fortschrittlichen Reich auch nicht den kleinsten Splitter einer gottseligen Welt der Vergangenheit erträgt und duldet. Unter dem Titel der ‚Kolonisierung‘, der gewinnbringenden Umsiedlung wird eine mephistophelische Untat zugelassen. [...] Das Individuum wird zu totalitären Zwecken niedergetreten. (FG 134f.)
Das kann man kaum schonungsloser beschreiben. „Des Dichters und der Gottheit Mißbilligung solchen Vorgehens [...] ist unmißverständlich.“ (FG: 135) Wenn das so ist, warum heißt dann die Konsequenz nicht, an Faust und der faustischen Ideologie sei nichts, aber auch gar nichts zu entschuldigen? Urzidil jedoch, der schreibt, als wisse er, wie die „Gottheit“ urteilt, verwandelt Fausts Tat in eine „mephistophelische Untat“. Denn: „Ebenso wie bei der Gretchentragödie ist freilich auch in diesem Falle das Unrecht von Faust nicht direkt beabsichtigt. Er verstrickt sich in Schuld, fällt ihr anheim, und dadurch bleibt er, wenngleich der Strafe der Erblindung ausgesetzt, doch noch erlösungsfähig.“ (FG: 135) Die „Moral“ der Geschichte des „Übermenschen“ Faust liege darin, dass „er mit seinen übermenschlichen Anwandlungen ja doch zum Scheitern verurteilt ist und daß die Rettung seines Menschentums nur der Gnade und dem Erbarmen zu danken ist, das den guten Funken eines strebenden Bemühns nicht erlöschen ließ“ (FG: 135f.). Urzidil unterstellt Faust, dass er im Grunde gut, aber der von einer Höllenmacht Verführte ist. An seinem Beispiel zeige uns das Drama: „So ist die Welt, der Mensch, das Leben.“ (FG: 118) Der Einzelne könne nur sehr wenig tun. „Aber um dieses Wenige ist auch die Welt vorwärts gebracht, ist der Anlauf aller Nachfolgenden vorwärts verschoben. Um dieses Wenigen willen gewinnt der Mensch
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Anteil an der Ewigkeit und wird in die Verklärung emporgehoben.“ (FG: 117f.) Faust gebe „kein Beispiel zum Nachleben“, die „ganze Lehre“ bestehe „nur in der Anregung, mit allen seinen Kräften in dem Gegebenen liebend zu wirken“ (FG: 118). Und so übernimmt Urzidil aus Goethes Faust für sich die Lehre: „Wer Gutes will, der sei erst gut.“ (FG: 136) Dass Urzidil von dieser Güte beseelt war, bestätigt ihm sein Freund Oskar Schürer 1947: „Ihr habt Euch die Güte erhalten und, lieber Freund, gibt es Herrlicheres im Leben zu erhalten oder zu erwerben, als eben die Güte!“ (Trapp 2001/02: 268) Dieser zweite Essay, der sich auch noch mit dem Staat und der Bedeutung der Zivilcourage für den Erhalt einer Gemeinschaft beschäftigt, gibt – zumindest mir – viele Rätsel auf. Jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich das in Faust und das Deutschtum beschriebene faustische deutsche Wesen ‚endlich ermannt‘ und alle Welt an Unmenschlichkeit übertroffen hatte, wo es nahe gelegen hätte zu fragen, ob denn der faustische Mensch, wo immer er losgelassen wird, anders als zerstörerisch handeln kann, begegnet ihm Urzidil mit der entschuldigenden Einstellung, er sei von „Teufeleien des Satans“ (FG: 109) verführt und in Schuld verstrickt worden. Aber das ändere nichts daran, dass er, ohne es zu wissen, im „Tiefenkern seines Glaubens“ gut, „alles in allem [...] doch Gottes Knecht“ geblieben sei (FG: 108). Dieses „Drama“, das ja nach Urzidils Vorgaben besonders ein deutsches Drama ist, sei „a priori auf die Verherrlichung Gottes abgestellt“, „der am Ende“ triumphiere (FG: 108), gemäß einer „talmudischen Weisheit, ‚daß der gute Mensch seinen bösen Trieb zum Wagen Gottes macht‘.“ (FG: 109) Welches Gottvertrauen und welches Potential an Verzeihung, ich freilich würde sagen, welches Maß an unbewusster Zynik, muss in einem Menschen sein, wenn er dem inhumanen Geschehen seiner Zeit so viel höheren, letztlich guten Sinn abgewinnen kann! Das alles wird noch seltsamer und widersprüchlicher dadurch, dass der oben erwähnte und in Deutschland im und nach dem Dritten Reich als Professor lehrende Freund Oskar Schürer in einer im Herbst 1945 gehaltenen Rede an die Studenten, die er Urzidil geschickt hatte, über das Dritte Reich sagt: „Das war ja das Satanische dieser Bewegung, daß sie, ihr Teuflisches listig zu verbergen, auch an Ideenwurzeln ansetzte, die dem gesunden Volk teuer waren [...]. So lockte er [der Demagoge] die einen aus ihren guten, die anderen aus ihren bösen Instinkten hinunter in den Abgrund der Schuld, die nun dem Volk als Ganzem aufgebürdet wird.“ (zit. n. Trapp 2001/02: 270) Nach dem, was wir von Urzidil über die ‚Erlösungsfähigkeit‘ Fausts gehört haben, müsste er Oskar Schürer zustimmen und einer Meinung mit ihm sein, wenn dieser die Barbareien im Dritten Reich dem „Satanischen“ und „Teuflischen“ zuschiebt. Das tut Urzidil aber nicht, sondern konfrontiert seinen Freund gnadenlos mit
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den Massenmorden und macht dafür uneingeschränkt die Deutschen verantwortlich. Und dann schließt sich auf fast tragische Weise der Kreis zu Urzidils Essay Faust und das Deutschtum, wenn er an Schürer schreibt: „[...] ich bin davon durchdrungen, [...] dass Hitler der echten deutschen Seele im Grunde höchst angenehm war.“ (zit. n. Trapp 2001/02: 272) Denn 1928 war in Urzidils Weltbild noch Faust, den er damals wohl kaum mit Hitler gleichgesetzt hätte, „das wahre Abbild der deutschen Seele und deutschen Tragik“ (FD: 306).
Literatur FD = Faust und die Deutschen (Urzidil 1928). FG = Faust und die Gegenwart (Urzidil 1972). Binder, Alwin (42005): Faustische Welt. Interpretation von Goethes ‚Faust‘ in dialogischer Form. Urfaust – Faust-Fragment – Faust I. Münster u. a.: Lit. Trapp, Gerhard (2001/2002): Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil, 1924-1949. – In: brücken NF 9-10, 257-280. Urzidil, Johannes (1928): Faust und das Deutschtum. – In: Freie Welt 8/189, 304308. Urzidil, Johannes (1972): ‚Faust‘ und die Gegenwart. – In: Ders., Bekenntnisse eines Pedanten. Erzählungen und Essays aus dem autobiographischen Nachlass. Mit einem Vorwort von Hansres Jacobi und einer Bibliographie von Věra Macháčková-Riegerová. Zürich, München: Artemis, 100-136.
Václav Petrbok
Johannes Urzidils Goethe in Böhmen im Kontext der tschechoslowakischen Goethefeiern 19321
Der Verfasser des schön ausgestatteten Buches, welches den Reigen der säkularen Goetheschriften in der Tschechoslowakischen Republik eröffnet, verwahrt sich im Eingang seiner Vorrede gegen die Zumutung, daß er den Versuch gemacht hätte, einen Beitrag zur wissenschaftlichen Goetheliteratur zu liefern. […] Die Arbeit Urzidils ist eine gewissenhafte Sammlung der vorhandenen Stoffes zum Thema Goethe und Böhmen. Durch sein Verdienst genießen die Deutschen Böhmens den Vorteil, daß ihre Jubiläumsgabe zum Unterschied von der tschechischen ein zusammenfassendes, populäres und fesselndes Werk ist, dem gewiß eine zahlreiche Lesergemeinde bald zu der versprochenen zweiten (dokumentarisch belegten) Auflage verhelfen wird,
beurteilte der Literaturhistoriker Arnošt Vilém Kraus (1931/32) in der renommierten Germanoslavica die Arbeit Goethe in Böhmen. Das Buch erschien wie bekannt im Goethejahr 1932. Auf das Goethejahr 19322 folgte das Hitlerjahr 1933, wie es Karl Kraus in seiner zugespitzten satirischen Art genannt hat (Krolop 2001). Es ist wirklich nicht angemessen, die Goethefeier des Jahres 1932 ohne Blick auf die Ereignisse nach dem 30. Januar 1933, der Dritten Walpurgisnacht, so Karl Kraus (1952), zu analysieren und zu bewerten. Einer Nacht, die nicht nur ihr ironischer Namensgeber, sondern auch die zwei größ1 Dieser Text konnte dank der Förderung durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung entstehen. 2 Über den Verlauf des Goethejahrs 1932 bei den Tschechen und Deutschböhmen – jedoch ohne nähere Kontextualisierung und Interpretation der damaligen immer mehr zugespitzten politischen Situation in Deutschland und der ČSR – schrieb Kindermann (1966: 488494), für eine zeitgenössische bibliographische Übersicht s. Bergmann (1932: 51ff., 84, 97). Für die zeitgenössische Beurteilung der (populär-)wissenschaftlichen Leistungen in der ČSR siehe Anonym (1931/32; 1932f.), Janko (1931/32; 1932), Magr (1932), Novák (1931/32), Polák (1932/33b), speziell zu den ‚sudetendeutschen‘ Beiträgen zum Goethejahr etwa Urzidil (1932/33a, 1932d), Die Zeitschrift Germanoslavica (1932/33) brachte auch „Sammelreferate“ über Goethefeiern und -publikationen in den verschiedenen slavischen Ländern, so Sammelreferate über solche bei den Ukrainern (D. Dorošenko), Polen (Z. Ciechanowska), in Jugoslavien (M. Trivunac), Bulgarien (J. Páta) und Sowjetrussland (V. Tukalevskij). An den offiziellen Weimarer Goethefeiern im März 1932 nahm auch die spezielle tschechoslowakische Regierungsdelegation teil (Urzidil 1932c).
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ten tschechischen Goetheaner des zwanzigsten Jahrhunderts, der erwähnte Arnošt Vilém/Ernst Wilhelm Kraus und der führende Übersetzer und Organisator der Goethefeier, Otokar Fischer, nicht überlebt haben. Schon im März 1932 schrieb Otokar Fischer, der jüngere von ihnen, ebenfalls ein empathischer Beobachter des Zeitgeschehens und später auch aktiver Mitarbeiter des Hilfsausschusses für die deutschen Flüchtlinge, in Lidové noviny über die in Weimar abgehaltene Goethefeier: Krátce před světovou a říšskou oslavou města Výmaru vyšly v tamním tisku útoky proti cizákům, kteří přijedou obrátit staroněmecký ráz města […]. V staré hospůdce u bílé labuti, kam si prý tu a tam zaskočil z vedlejšího svého domu také Goethe, seděli sice tři rasově zcela spolehliví zuřivci a koulejíce očima svolávali blesky na hlavu toho ‚žida‘ Gerharta Hauptmanna a toho ‚židáka‘ Thomase Manna – ale potom, když přišel hlavní slavnostní den pod záštitou říše, nebylo vidět v celém městě oposičního odznaku ani praporu. […]. Kdo se na věci dnešního Německa dívá nejen jako na vítanou příležitost k úsměškům, musí si s jistou hrůzou ze skutečnosti říci: oni se Goetha nedovolávají proto, že by jim nijak nepomohl; proto – že ho nepotřebují. […]. O Goethově smrti pateticky se mluví jako o rozmezí věků a kdo by si něco chtěl namlouvat, přikládal by smířlivosti, jež zdánlivě panovala za letošních oslav, rovněž památný jakýs význam […]. Rok 1832 byl tak asi uprostřed mezi červencovou revolucí a persekucí Mladého Německa a letošní 22. březen – řekněme si to s brutální otevřeností – byl episodou mezi dvěma presidentskými volbami, po nichž přijdou volby ještě ožehavější. (Fischer 1932e)3 [Kurz vor der Welt- und Reichsfeier der Stadt Weimar erschienen in der dortigen Presse heftige Angriffe gegen Fremde, welche kommen, um den altdeutschen Charakter der Stadt zu ändern. […] Im alten Gasthaus Zum weißen Schwan, wohin auch Goethe ab und zu aus seinem angrenzenden Haus auf einen Sprung vorbeikam, saßen drei wohl rassisch gänzlich einwandfreie Rohlinge und schworen mit rollenden Augen Blitze auf das Haupt dieses ‚Juden‘ Gerhart Hauptmann und dieses ‚Judenschweins‘ Thomas Mann –, aber dann, als der Hauptfeiertag unter der Schirmherrschaft des Reiches kam, waren in der ganzen Stadt weder oppositionelle Abzeichen noch Fahnen zu sehen. […] Wer in den Angelegenheiten des heutigen Deutschland nicht nur eine willkommene Gelegenheit zum Gespött sieht, der muss sich mit gewissem Schaudern vor den Tatsachen sagen: Sie berufen sich nicht auf Goethe, weil er ihnen keineswegs helfen würde, sondern weil sie ihn nicht brauchen. […] Über Goethes Tod spricht man so pathetisch wie über die Epoche, und wer sich etwas einreden wollte, mäße der Aussöhnung, die scheinbar auf der diesjährigen Feier herrschte, eine denkwürdige Bedeutung bei. […] Das Jahr 1832 lag ungefähr in der Mitte zwischen der Julirevolution und der Verfolgung des Jungen Deutschland und der diesjährige 22. März – sagen wir es brutal offen – war eine Episode zwischen zwei Präsidentschaftswahlen, nach denen nur noch eine heiklere Wahl kommen kann.] [Übers. Sibylle Höhne]
3 S. auch die Artikel von Fischer (1933) bzw. Eisner (1933), die sich mit der Schrift der Münchner Akademie der Wissenschaften Den Freunden Goethes im Ausland und deren Behauptung, Goethe sei Symbol der „völkischen Kraft und Größe“, kritisch auseinandersetzten.
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Nicht ohne Grund wird die Beobachtung einer ideologisch geprägten und widersprüchlichen Wahrnehmung von Goethes Vermächtnis durch seinen wichtigsten tschechischen Übersetzer und Kenner zur hundertsten Wiederkehr seines Todes erwähnt. Auch in dem damaligen kulturellen und gesellschaftlichen Milieu der Ersten Tschechoslowakischen Republik, zu dem das Buch von Urzidil als ein integraler Teil gehörte, wurde jede Bemerkung über Goethe und die Erinnerung an Goethe als Politikum aufgenommen.4 Auch Urzidil war sich der Bedeutung seiner Arbeit bewusst. „Ich bin der Meinung,“ schrieb Urzidil (1932a: 9f.) im Vorwort, daß dieses Buch über Goethe vorzüglich den Deutschen Böhmens wichtig sein sollte, in deren Siedlungsgebieten der Dichter sich so gut wie daheim fühlte, die er durchforschte, durchreiste und durchwanderte, deren landschaftliche Schönheiten sich in manchem seiner Werke spiegeln und in deren Atmosphäre eine ganze Anzahl seiner bedeutenden Schöpfungen geformt, begonnen oder fortgesetzt wurde. Ich denke aber zugleich auch an die gesamte deutsche Lesenswelt, die eines Zeugnisses bedarf dafür, welche grundsätzliche Bedeutung der Lebensraum und das Wesen des in Böhmen wohnenden deutschen Volksteils für das Schaffen und die Entwicklung des grössten deutschen Genies hatte. Und indem dieser innere kulturpolitische Auftrag erfüllt wird, reiche ich es gern zugleich auch den Lesern im tschechischen Volke, für dessen Renaissance, erstarkende Kultur und Eigenart, für dessen führende Persönlichkeiten und Sprache Goethe ein dauerndes und lebhaftes Interesse kundgab.
Mit der Aufnahme des Buches im zeitgenössischem Klima des sich immer konfliktärer entwicklenden deutsch-tschechischen Verhältnisses hat sich Gerhard Trapp (1997; 2000; 2005: 258f.) beschäftigt. Er zeigt, wie die deutsche und tschechische Öffentlichkeit das Werk aufnahmen und welche Bedeutung das Thema Goethe für Urzidil hatte. Ausgehend von meinem Nachwort (Petrbok 2009) zur tschechischen Ausgabe wird in diesem Beitrag versucht, einige weitere Ausführungen zur fachlichen sowie kulturpolitischen Position von Werk und Autor im Goethejahr 1932 in der Tschechoslowakei zu geben. Goethe in Böhmen war der erste Teil eines von Urzidil geplanten größeren Unternehmens. Er beabsichtigte, sich umfassend mit den Goethe-Themen in der böhmischen Kultur zu beschäftigen, die er als originären Bestandteil der Goethe-Philologie verstand. Neben der wissenschaftlichen Auseinanderset zung besaß die Beschäftigung mit Goethe in den böhmischen Ländern in den beiden sich allmählich polarisierenden nationalen Gesellschaften eine 4 Zu weiteren Texten von Urzidil über Goethe und Böhmen siehe die Bibliographie vom Gerhard Trapp und Vladimír Musil auf (10.10.2011); s. a. den Beitrag von Alwin Binder im vorliegenden Band. Über weitere Möglichkeiten der Interpretation von Kunst und Kultur als „Vehikel und Opponent“ im politischen Umfeld der ČSR siehe den inspirierenden Aufsatz von Marek (2009).
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wichtige Rolle. Themen wie „Goethe und Böhmen“ bedeuteten für die Tschechen und ihre literarischen, gesellschaftlichen und später auch politischen Ambitionen in der Zeit der nationalen Wiedergeburt eine nachträgliche Legitimation. Aus dem Interesse der bedeutendsten Persönlichkeit der deutschen klassischen Literatur an ihrer kulturellen und historischen Tradition ließ sich eine Aufwertung auch des neutschechischen literarischen Schaffens ableiten. Eine ähnliche Bedeutung Goethes ist auch in der deutschböhmischen Gesellschaft zu konstatieren. Gleich ob Goethes Aufmerksamkeit der westböhmischen, besonders egerländischen Literatur und Volkskunde galt, der katholischen Tradition im Geiste des gemäßigten Josephinismus oder technisch-naturwissenschaftlichen Phänomenen, durch Goethe erhielt das periphere kulturelle Geschehen der deutschsprachigen Einwohner des Königreichs Böhmen einen Anschluss an die größere deutsche Kulturnation, ohne ihre lokale Eigenart zu verlieren. Auf tschechischer Seite reagierte Arnošt Vilém Kraus bereits 1893 mit der Arbeit Goethe a Čechy [Goethe in Böhmen].5 In ihr geht es u. a. stopovati vliv Goethův v literatuře české na zmínkách, překladech a samostatných tvorbách básnických, které nápadněji ukazují na ovzduší Goethových básní. (Kraus 1893: 2) [um den Nachweis des Einflusses Goethes in der tschechischen Literatur, und zwar in Erwähnungen, Übersetzungen und in eigenständigen dichterischen Schöpfungen, die auffallend auf die Atmosphäre der Dichtungen Goethes hindeuten.]
Seitdem blieb das Thema bei Kraus präsent, auch in der für die deutschtschechischen Beziehungen angespannten Periode um die Jahrhundertwende (Kraus 1899/1900; 1900/01; 1904). Neben dem Literaturhistoriker und -kritiker der sozialdemokratischen Zeitung Právo lidu František Václav Krejčí (1898/99, 1899), gilt Kraus als der wichtigste tschechische Goetheforscher dieser Jahre.6 Dreißig Jahre später kehrte Kraus unter veränderten Bedingungen mit der Abhandlung Goethe a Čechové [Goethe und die Tschechen] (Kraus 5 Natürlich gab es schon früher Versuche, die Nachwirkung von Goethe auf Literatur und Wissenschaft in Böhmen sowie den Einfluss der böhmischen Kultur auf sein literarisches und naturwissenschaftliches Schaffen zu analysieren. S. etwa Adámek (1862/63; 1863), der Goethes Rezension der böhmischen Museumszeitschrift in populärer Form paraphrasierte und ihn dabei als „vzor spravedlivého Němce“ [Musterbild des gerechten Deutschen] bezeichnet, oder Bratranek (1866), der u. a. erstmals die Briefe zwischen Goethe und Sternberg herausgab und kommentierte, ferner Korn (1882). 6 Zu erwähnen ist auch die wichtige Studie über Goethes Faust – Übermensch von Tomáš Garrigue Masaryk (1897/98), in der anhand der Faustfigur die Verkörperung vom „chladného rozumu a vypjatého egoismu“ [kühlen Intellekt und gespannten Egoismus] kritisiert wird. Zum ambivalenten Verhältnis Masaryks zu Goethe s. Siebenschein (1948).
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1922) zum ‚tschechischen‘ Thema bei Goethe zurück, vier Jahre danach gab er Goethes berühmte Rezension der Prager Museumszeitschrift neu heraus und kommentierte ihre Entstehungsgeschichte (Kraus 1926). Auf Kraus wirkte insbesondere die Aufforderung von Tomáš Garrigue Masaryk, den traditionell einseitig nationalen Blick der tschechischen Gesellschaft auf den deutschtschechischen Kulturaustausch neu zu richten. Er scheint aber auch an das fachliche Bemühen seines deutschen Lehrers Michael Bernays, einer der Begründer der Goethe-Philologie in Deutschland (Über die Kritik und Geschichte der Goetheschen Texte, 1866), anknüpfen zu wollen.7 Auf der deutschböhmischen Seite war es gerade Urzidils Lehrer, August Sauer, Literaturhistoriker, Herausgeber der Zeitschrift mit dem an Goethe erinnernden Namen Euphorion, der das Thema8 in den literaturwissenschaftlichen Kontext der Habsburgermonarchie eingeführt hatte, in klarer Abgrenzung zur traditionell abwertenden Einstellung der reichsdeutschen Literaturwissenschaft gegenüber der deutschösterreichischen Literaturtradition. In der umfangreichen zweibändigen Sammlung Goethe und Österreich. Briefe und Erläuterungen (Sauer 1903f.) wurden auch die Briefe von Goethes tschechischen Verehrern und Übersetzern František Ladislav Čelakovský und Simeon Karel Macháček herausgegeben und kommentiert. Sauer veröffentlichte ferner den Briefwechsel zwischen Kaspar von Sternberg und Goethe (Sternberg 1902), mit seinem Schüler Josef Nadler gab er Goethes Korrespondenz mit Joseph Sebastian Grüner und Joseph Stanislaus Zauper (Goethe 1917) heraus. Mit seiner Edition der Erinnerungen Ulrike von Levetzows an Goethe (Sauer 1919) wurden die wichtigsten Text böhmischer Provenienz zu und von Goethe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Danach erschienen mehrere regionale Arbeiten zum Thema Goethe, natürlich auch im Jubiläumsjahr 1932. Nicht immer vermittelten sie jedoch zuverlässige Informationen und nicht immer bewerteten sie die Rolle der Landschaft in Goethes Schaffen angemessen. In diesem Zusammenhang seien z. B. die Studien von Alfred Dietrich (1932), Ernst Frank (1932), Alois John (1932), Wilhelm Pleyer und Johanna Tetzner (1932) und Max Preitz (1932) erwähnt. Diese eher konven7 Wilhelm Scherer kann als Wegbereiter der Goethe-Philologie betrachtet werden. Ausgehend von seinem Postulat, die Aufgabe der Philologie sei „ein System der nationalen Ethik aufzustellen, welches alle Ideale der Gegenwart in sich beschlösse“ (zit. n. Höppner 2007: 38), proklamierte er 1877 in diesem Sinne ihre Ziele in dem programmatischen Artikel Goethe-Philologie in der populären Zeitschrift Im neuen Reich (Höppner 2007: 88). 8 Auf deutschböhmischer Seite haben sich um die Erforschung der Beziehung Goethes zu Böhmen vor den Arbeiten August Sauers besonders Hlawáček (1877), Laube (1879/80) und Lambel (1881) verdient gemacht.
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tionellen Arbeiten perpetuieren das Bild des reifen und späten Goethe, der gerade in der Umgebung der west- und nordböhmischen Kurorte und auf dem Lande Ruhe und Inspiration für sein Schaffen fand. Deutlich wird in diesen Arbeiten das Bestreben, den jeweils von Goethe besuchten Regionen eine kulturelle Selbständigkeit zu verleihen, um einen von einem Genius geweihten Bereich. Natürlich beabsichtigten diese Schriften auch eine kulturelle Statusaufwertung der entsprechenden Region oder Stadt bzw. mit dem Werbeträger ‚Goethe‘ Touristen und Badegäste anzusprechen. Die Orte der Aufenthalte Goethes in Böhmen wurden somit – wie Tobias Weger (2006: 72) gezeigt hat – Teil der deutschböhmischen Erinnerungslandschaft, die an die konservative-traditionelle Linie der Verehrung des Weimarer Klassikers in Deutschland anknüpfte (Borchmeyer 2003). Auch verschiedene deutsche volksaufklärerische oder -bildnerische Einrichtungen von politischen wie Standesinstitutionen publizierten zum Thema Goethe und seine böhmischen Aufenthalte sowie zum Goethe-Erbe in der Kultur ‚der Sudetendeutschen‘ mehrere Sammelbände, Flugblätter und Schriften (Behelf 1932; Gedenkbüchlein 1932; Goethe-Festschrift 1932; Goethe und die Landschaft 1932; Urania 1932). Die Fachwissenschaft, die sich mit der Wirkung Goethes in Böhmen befasste, so z. B. die Beiträge zum Thema ‚Goethe und das Stift Tepl‘ (Brandl 1932) oder die detaillierte Studie des Prager Volkskundlers Gustav Jungbauer (1932) über Goethes ethnographische Interessen, behandelten das Thema kritischer und bemühten sich um Objektivität. Es mangelte aber an einer Arbeit, in der – gerade gemäß Goethes Ideal der „vollständigen Komplexität“ – nicht nur die Wirkung Böhmens auf Goethe, sondern auch die Wirkung Goethes auf die Einwohner Böhmens untersucht wurde. Einem weiteren Teilaspekt – und zwar der Einwirkung des großen Weimarers auf die tschechische Kultur – widmete die tschechische Fachöffentlichkeit gerade im Jubiläumsjahr beträchtliche Aufmerksamkeit. Im Goethejahr erschienen zwei umfangreichere tschechische Editionen prominenter tschechischer Germanisten. Dies war zunächst der Goethův sborník [Goethe-Sammelband] mit einer Einleitung des Präsidenten T. G. Masaryk Můj poměr ke Goethovi [Mein Verhältnis zu Goethe]9 und die im selben Jahr abgeschlosse9 Nach der Einführung, unterzeichnet von den Herausgebern Otokar Fischer, Josef Janko, Vojtěch Jirát, Arnošt Kraus, Jan Krejčí, Arne Novák, Hugo Siebenschein (s. Siebenscheins 1963), folgen 41 Beiträge zu verschiedenen Themen von 36 Autoren, die in die Abteilungen Goethe a my [Goethe und wir], Goethe a svět [Goethe und die Welt], Vzpomínky, konfese, knihopis [Erinnerungen, Konfessionen, Bücherkunde] und Faust unterteilt sind. S. auch die Rezensionen von Polák (1932) oder Sahánek (1932). Die Vorrede Masaryks wurde auch in der Goethe-Beilage zum hundertsten Todestag Goethes im liberalen Berliner Tageblatt sowie
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ne fünfzehnbändige Sammlung der Übersetzungen von Goethes Werken ins Tschechische unter Betreuung von Otokar Fischer, Eduard Bass10 und Jan Václav Sedlák (Fischer 1932c). Beide Unternehmen beeindrucken bis heute durch ihr fachliches Niveau. Die umfangreiche Publikationstätigkeit war im Jubiläumsjahr 1932 bei beiden Nationen in der Tat allgegenwärtig und griff nicht nur ohne Ausnahme auf die intellektuellen Kreise über, sondern bemühte sich auch um die Popularisierung von Goethes Erbe in den Schulen (Anonym 1932e; Němec 2009: 211-216), in den Vereinen,11 im tschechisch-12 und deutschsprachigen13 Rundfunk (Spina 1932), und auch mithilfe von zahlreichen Inszenierungen der Dramen Goethes auf tschechischen, deutschen, slowakischen und anderen Bühnen des ganzen Landes.14 Damit soll keinesfalls gesagt werden, dass in der Prager Rundschau (1932, 1-3) und in der Prager Presse (70.02.) abgedruckt. In der Sontagsbeilage der Prager Presse (27.03.) wurden auch einige Auszüge aus den in Goethův sborník [Goethe-Sammelband] (1932) enthaltenen Studien veröffentlicht. 10 Bass’ Klapzubova jedenáctka [Klapperzahns Wunderelf] erschien 1935 erstmals auf Deutsch mit Illustrationen von Josef Čapek sowie der Umschlagzeichnung von Walter Trier im Verlag Dr. Rolf Passer in Wien (dem Nachfolgeverlag des Goethe in Böhmen-Verlages Dr. Hans Epstein), in dem 1936 auch Urzidils Hollar-Monographie erschien. 11 Paul/Pavel Eisner (1932a; 1932b) hielt über Goethe zwei pazifistische Vorträge in den christlichen Vereinen YMCA und YWCA, im Prager Divadlo Na Královských Vinohradech [Theater am Königlichen Weinberge] fand am 06.03. eine Goethe-Matinée unter der Regie Otokar Fischers statt (Novotný 1932), Johannes Urzidil eröffnete zusammen mit dem Direktor der Bibliothek des Nationalmuseums Josef Volf (seinem freimauerischen Bundesbruder) am 26.10.1932 im Hollareum die Ausstellung Pocta 100 světových tiskáren Goethovi [Ehrungen von 100 Weltdruckereien an Goethe] (Anonym 1932j). Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag organisierte eine Austellung von Goethes Büchern. 12 In der tschechischsprachigen Sendung sprach Otokar Fischer am 22.03. über das Thema Goethe und Böhmen, der andere Vortragende war Hugo Siebenschein. Goethes Egmont (in Fischers Übersetzung) las der bekannte Schauspieler Rudolf Deyl mit musikalischer Begleitung von Anna J. Patzaková. Gespielt wurde Bedřich Smetanas Orchestralwerk Der Fischer (nach dem gleichnamigen Gedicht von Goethe; 1869) (Ryba 1932). 13 Spinas Rede wurde in der deutschsprachigen Sendung des Tschechoslowakischen Rundfunks am Jubiläumstag (22.03.) ausgestrahlt, drei Tage vorher sprach Ivan Dérer zu den deutschen Kindern in der Tschechoslowakei über das Thema Goethe und Kinder mit der Parole „jen z obapolné lásky a úcty československých a německých dětí může vyvésti šťastnější budoucnost naší společné vlasti“ [nur aus gegenseitiger Liebe und Ehre der tschechoslowakischen und deutschen Kinder kann sich eine fröhlichere Zukunft unserer gemeinsamen Heimat verwirklichen] (Dérer 1932). Über ein etwas leichteres Thema sprachen Johannes Urzidil (Goethe und der böhmische Hopfen; Urzidil 1932b) und Anton Gamnitzer (Goethe und das Stift Tepl ). 14 Z. B. wurde im Brünner Theater Na hradbách Faust (Svrček 1932), im Prager Theater Akropolis Die Geschwister [Márinka] und Die Mitschuldigen [Spoluviníci] (Anonym 1932b), im
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die Feierlichkeiten ohne Kontroversen verliefen: Zum Beispiel musste Otokar Fischer, der Initiator und Hauptorganisator der Universitätsfeier, in der Zeitschrift Nová svoboda erklären, warum die tschechische Ausgabe der gesammelten Schriften Goethes auf Initiative von ihm und seinem Mitherausgeber František Borový sowie unter Vermittlung Urzidils (in seiner Eigenschaft als Pressebeirat an der deutschen Botschaft in Prag) an den Reichspräsidenten Hindenburg geschickt worden war.15 Dem Anglisten Otakar Vočadlo, der sich schon in den 20er Jahren in V zajetí babylonském [In babylonischer GePrager Theater Legie mladých der Torquato Tasso (Fischer 1932f) und im Prager WeinbergeTheater ebenfalls Faust (Vodák 1932b; Schulz 1932; Fuchs 1932) gespielt. Faust wurde im Moravsko-slezské divadlo [Mährisch-schlesisches Theater] in Moravská Ostrava/Mährisch Ostrau (Třenecký 1932), im Slovenské národné divadlo [Slowakisches Nationaltheater] Bratislava (Haluzický 1932b), Egmont auf der deutschen Bühne in Bratislava (Haluzický 1932a) inszeniert. Zu den zahlreichen Goethe-Aufführungen auf den deutschsprachigen Bühnen Prags siehe Ludvová (2012). 15 Ein Anonymus (i 1932: 191) ironisierte das Geschenk: „To si starý maršál počte! Bude mít aspoň trochu změny po četbě vojenských služebních předpisů a nouzových nařízení. Co však má starý maršál-president společného s velkým básníkem a jak je možno oslavovat a poctít Goetheho tím, že se jeho spisy věnují někomu, kdo neměl k poesii a kultuře nikdy žádného veřejného vztahu, to ať vysvětlí reklamní horlivost nakladatelského ředitele. ‚Maršála‘ ovšem zas těžko poctít spisy pouhého tajného rady.“ [Der alte Marschall wird ja eine Lektüre haben! Er hat wenigstens eine Abwechslung nach dem Lesen der militärischen Dienstvorschriften und Notverordnungen. Was hat aber der alte Marschall-Präsident mit dem großen Dichter gemeinsam, und wie ist es möglich Goethe zu feiern und zu veehren, indem man seine Schriften demjenigen schenkt, der niemals zur Poesie und Kultur ein öffentliches Verhältnis hatte, das möge der Werbeeifer des Verlagsdirektors erklären. Den ‚Marschall‘ ist es natürlich schwer mit den Schriften des bloßen Geheimrates zu beehren]. – Fischer (1932g), der gerade von den ofiziellen Goethe-Feiern aus Deutschland zurückkehrte, reagierte betroffen: „Český Goethe byl odevzdán se žádostí, aby byl poslán Hindenburgovi, nikoliv arci maršálu, jak se posmívala Nová svoboda, nýbrž presidentu Německé říše, za nějž, jak je v dobré paměti, právě za Goethova jubilea se stavěla i celá německé sociální demokracie: je tedy nemístné podezřívat z „reklamní horlivosti“ ředitele nakladatelské firmy, která se do svého velkorysého podniku pustila na svůj vrub, bez nejmenší podpory oficiálních činitelů a mohla by být aspoň ušetřena pokořujících výčitek.“ [Der tschechische Goethe wurde mit dem Wunsch an Hindenburg übergeben, und zwar nicht dem Marschall, wie die Nová svoboda spottete, sondern dem Präsidenten des Deutschen Reiches, hinter dem, wie es in guter Erinnerung ist, auch die ganze deutsche Sozialdemokratie gerade während des Goethe-Jubiläums stand: es geschah also keineswegs aus „Werbeeifer“ des Verlagsdirektors, der das großzügige Unternehmens auf eigene Kosten verwirklicht hat, ohne die kleinste Unterstützung der offiziellen Repräsentanten, und er könnte wenigstens auf die demütigenden Vorwürfe verzichten]. In der Presse wurde über die Danksagung Hindenburgs berichtet (Anonym 1932i). Die tschechischen Übersetzungen der Goethe-Schriften wurden ebenso auch dem Präsidenten T. G. Masaryk überreicht.
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fangenschaft] (Vočadlo 1924: 50) kritisch zu den „stinné stránky německého vlivu“ [Schattenseiten der deutschen Einflusses] auf die tschechische Kultur geäußert hatte, missfiel die Intensität der Feier und ihre Unterstützung durch höchste Stellen. Er unterzog16 dabei auch Urzidil einer harschen Kritik: U nás [se] rozvinulo hrdinské úsilí najíti co nejvíce nitek, spojujících Čechy s druhým největším německým básníkem [...] Působilo to vskutku poněkud násilně, leccos se tuze pracně shánělo [...], aby dosvědčilo vliv Goethův na naše literáty. V umění nevhodně zdůrazňovat a přepínat závislost českých autorů na německých, vynikl ovšem opět neúnavný Herr Johannes Urzidil. (so im Original, Anm. VP) (Vočadlo 1932) [Bei uns hat sich das heroische Bestreben, möglichst viele Fäden zu finden, die Böhmen mit dem grössten deutschen Dichter verbinden, entwickelt. [...] Es hat tatsächlich gewissermaßen gezwungen gewirkt, etliches war allzu mühselig nachgefragt [...], um den Einfluss von Goethe auf unsere Literaten zu bezeugen. In der Kunst, unpassend die Abhängigkeit der tschechischen Autoren von den deutschen zu übertreiben, zeichnete sich eben wieder der unermüdliche Herr Johannes Urzidil aus].
Unter dem Titel Všeho moc škodí [Blinder Eifer schadet nur] nahmen die tschechischen Nationalisten in der Samostatnost Anstoß, und zwar mit der Begründung, dass je divné, když naše ministerstvo vydává sborník Goetheho a nevšímá si toho, že spisy např. Jana Nerudy nemohou býti pro nedostatek prostředků vydány v celku, když v jubileu Tyršově marně čekáme zprávu, že alespoň Universita Karlova se postará o vědecké zhodnocení jeho díla. (Anonym 1932k) [es seltsam ist, wenn unser Ministerium die Goethe-Festschrift herausgibt und dabei ignoriert, dass z. B. Schriften von Jan Neruda aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht im Ganzen verlegt werden können, wenn wir im Jubiläumsjahr von Tyrš vergeblich erwarten, dass mindestens die Karlsuniversität sich um die wissenschaftliche Würdigung seines Werkes kümmert.]
Auch der angeblich „provokativní návrh hakenkrajclerů“ [provokative Vor schlag der Hakenkreuzler], Briefmarken mit Goethes Porträt herauszugeben, wurde im Parlament abgelehnt (Anonym 1932d).17 In zahlreichen Studien in Sondernummern von fachlichen und belletristischen Zeitschriften sowie auch 16 Schon in seinem Buch hat Vočadlo (1924: 20) apodiktisch die Vermittlungskonzepte von Johannes Urzidil, Franz Spina oder Paul Diels verurteilt. Er behauptete, „podobně soudí různí ti ... Urzidilové, Spinové, Dielsové, ať mluví o našem umění, literatuře, vědě neb o kultuře vůbec. Jejich logika je asi takto: byli jste vždycky v našem područí, zůstaňte v naší kulturní sféře i nadále“ [ähnlich urteilen die verschiedenen ... Urzidils, Spinas, Diels, sei es über unsere Kunst, Literatur, Wissenschaft oder über die Kultur überhaupt. Ihre Logik ist etwa folgende: Ihr seid immer unter unserem Joch, bleibt immer noch in unserer Kultursphäre]. 17 Die Briefmarken von Tyrš wurden im Gegensatz dazu herausgegeben (Anonym 1932a).
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in der Tagespresse wurden jedoch verschiedene Facetten von Goethes Nachwirken und Einflüssen von namhaften Experten in tschechischer, deutscher und slowakischer Sprache sowie auf Esperanto vorgestellt. Unter dem Titel Goethe und Böhmen bzw. Goethe und die Tschechen veröffentlichten meines Wissens wenigstens fünf prominente tschechische Autoren Überblicksbeiträge: Ervín Adler (1932), Otokar Fischer (1931/32), Vojtěch Jirát (1931/32b), Arne Novák (1932b) und Karel Polák (1931/32b). Albert Pražák (1932) verfasste eine Abhandlung über das Nachwirken Goethes in der slowakischen Kultur und Literatur, Karel Polák (1931/32a, 1932/33a) eine umfangreiche Studie über das polemische Verhältnis der tschechischen Liberalen (am Beispiel Jan Nerudas) zu Goethe, Vojtěch Jirát(1931/32a, 1932/33) wichtige Anmerkungen über über den zweiten Faust-Übersetzer Jaroslav Vrchlický und Goethe und Josef Kajetán Tyl und Goethes Faust. Auch einige deutsche Gelehrte trugen zum Goethe-Jubiläum in der Germanoslavica bei, z. B. Johannes Urzidil oder der Kunsthistoriker Otto Kletzl. Diese literaturwissenschaftlichen Leistungen waren allem Anschein nach koordiniert; sie sind bis jetzt in manchen Fällen für die tschechische Literaturwissenschaft unersetzbar. An ihrer Wirkung in der breiteren Öffentlichkeit – der tschechischen wie der deutschen – kann man jedoch zweifeln. Die Goethefeier hatte auch eine weitergehende kulturpolitische Bedeutung. Am Beispiel Goethes äußerten sich verschiedene Persönlichkeiten des politischen und gesellschaftlichen Lebens zur aktuellen Problematik des deutsch-tschechischen Verhältnisses, dem in dem immer angespannteren mitteleuropäischen Milieu eine bedeutende Rolle zukam, nicht nur in den Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei und in geringerem Ausmaß auch denen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei, sondern auch innerhalb der Tschechoslowakei, zwischen den Deutschen Böhmens und Mährens und den Tschechen. Viele Überlegungen Goethes wurden neu kontextualisiert und zeitgemäß interpretiert, wie der Begriff „das böhmische Ganze“.18 In dem Begriff des „böhmischen Ganzen“ erkannte man Vorstellungen einer Koexistenz zweier verschiedener Sprachgemeinschaften im Lande, die wechselseitig ihre schöpferischen Kräfte steigerten. Die Ambition Goethes, das kulturell Schaffende insgesamt aufzunehmen, wirkte gerade im vormärzlichen Böhmen als Vorbild. In Böhmen wurde – zumindest nach Goethes Verständnis – das Bemühen um 18 Diesen oft zitierten Begriff benutzte Goethe im Brief an Sternberg über die geologischen Sammlungen des Bezirkes Eger: „Eine Uebersicht des großen böhmischen Ganzen, an dessen Einzelheiten mich [sic!] so viele Jahre schon abmüde [sic!], würde mir großen geistichen [sic!] Genuß geben.“ (Sauer 1903: 20)
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Erhaltung der gänzlichen Einheit in ihrer widersprüchlichen Mannigfaltigkeit sichtbar. Und gerade dieses Vermächtnis Goethes als Erzieher inspirierte viele aktivistische Interpreten. Zu ihnen gehörten auch zahlreiche böhmische Deutsche und vor allem Johannes Urzidil. Beispielsweise wandte sich der Romantikforscher Josef Körner mit einer kurzen Ansprache, die in Goethe und Ihr veröffentlicht wurde, an die studierende Jugend. Die Broschüre wurde in der Staatlichen Verlagsanstalt veröffentlicht und an die Mittelschulen der ganzen Tschechoslowakei verteilt (Körner 1932).19 Der Direktor der Urania Oskar Frankl20 veröffentlichte in einer Sondernummer der Zeitschrift des Deutschen Vereins für Volksbildung in der Tschechoslowakei Urania unter dem Titel Im Zeichen Goethes neben den Beiträgen von Friedrich Adler (Auf Goethes Spuren), Herbert Cysarz und Hedda Sauer auch die Rede von Otokar Fischer über Goethe bei den Tschechen und die des sozialdemokratischen Schulministers Ivan Dérer über Goethe und die Tschechoslowakei. Im großen Saale der Prager Stadtbibliothek wurde am 2. März die von der Dělnická akademie und der Sozialdemokratischen Bildungsstelle organisierte Feier vor einem deutsch-tschechischen Publikum veranstaltet; die tschechische Gedenkrede hielt der schon erwähnte Senator und Literaturkritiker František Václav Krejčí, für die deutschen Sozialdemokraten sprach Emil Franzel über Goethes Bedeutung als sozialer Zukunftskünder. Franzels Rede Der Kampf der Arbeiterschaft um Goethes Welt wurde in der tschechischen Übersetzung von der Dělnická osvěta (Franzel 1932) abgedruckt, das etwas längere deutsche Original in der Zeitschrift Tribüne.21 Einen Beitrag 19 Die Ansprache Körners aktualisierte unverhohlen das Vermächtnis Goethes: „Aber nicht soll flacher Lokalpatriotismus sich vordrängen und die tiefere Besinnung zur Seite drücken, ob und wie Goethe noch lebendig ist in dieser Epoche der Rebarbarisierung Europas, der Atempause zwischen einem die europäische Gesittung untergrabenden Weltkrieg und einem schon herandonnernden künftigen, der sie, ja die physische Existenz der Kulturmenschheit überhaupt zu vernichten droht [...]. Euch Jungen muß diese Feier mehr sein – oder nichts. Ihr prüft nicht mit der kaltsinnigen Neugier des historischen Betrachters: ‚Wer ‚war‘ dieser Goethe?‘ Ihr fragt in der heißen Erregung der Täter: ‚Was ‚ist‘ er uns: Wie hilft er uns ‚leben‘?‘“ (Körner 1932: [6]). Ein ähnlich aktivistischer Ton für den erwachsenen Leser ist bei Schroubek (1932) oder Kleinberg (1932) zu finden. Ein tschechisches Pendant zu Körners Schrift verfasste Fischer (1932a). 20 Oskar Frankl (1881-1955) war Urzidils Lehrer am Graben-Gymnasium, in dessen Jahresbericht für das Schuljahr 1910/11 veröffentlichte er als erste Publikation Urzidils Verse aus dessen Hymne an Weimar, in der ČSR war er für den deutschsprachigen Rundfunk verantwortlich, nach 1938 Flucht über Frankreich und England nach New York. 21 Diese Goethefeier (Anonym 1932g) bildete neben der Goethefeier der Antroposofická společnost RČS [Antroposophischen Gesellschaft in der ČSR] und der Schweitzer Gesellschaft Goethaneum die einzige gemeinsame deutsch-tschechische Feier in der Tschechoslo-
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zur ‚aktivistischen‘ Aktualisierung Goethes bildete auch die Anwesenheit Johannes Urzidils, des Pressebeirats der Deutschen Botschaft, Franz Spinas, des damaligen Gesundheitsministers und Vorsitzenden des Bundes der Landwirte und ländlichen Gewerbes, des deutschen (Walter Koch) und des österreichischen (Ferdinand Marek) Botschafters und beider Rektoren der Prager deutschen Hochschulen bei der tschechischen Universitäts- und Akademiefeier in Prag, wo neben dem damaligen Rektor, dem Historiker Josef Pekař, auch Otokar Fischer (Goethe und Böhmen) und der Biologe und spätere Präsidentschaftskandidat Karel Domin (Goethe und die Naturwissenschaften) Ansprachen hielten. Vorher wurden noch zwei Festreden an der Brünner Masaryk-Universität gehalten: am 2. März von dem Germanisten Ivo Liškutín, am 8. März von dem Germanisten Jan Krejčí (1932a) und dem Antropologen und Forschungsreisenden Vojtěch Suk.22 Deutlich geringeren Anklang fand die Universitätsfeier beider deutscher Hochschulen und der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaft und Künste in der Tschechoslowakischen Republik in derselben Halle des altehrwürdigen Karolinum mit der Ansprache Goethe und das historische Weltbild, die Herbert Cysarz, Sauers Nachfolger und Antipode Urzidils, hielt. Cysarz entwickelte die schon von Josef Nadler (1931) stammende Idee der „böhmischen“ Determinanten Goethes bei der Herausbildung des Weltliteraturkonzeptes bzw. auch im Hinblick auf die ‚west-östliche Frage‘ weiter; ein Thema, dass in der Folgezeit weder die tschechische23 noch die deutsche Seite (einschliesslich Cysarz’, der nach 1933 seine nationalsozialistisch ausgerichtete Position kaum verhehlte) weiter präzisiert hat: Der alte Schüler Herders [d. h. Goethe; VP] erblickt in der tschechischen Welt ein Stück der Kindheit des Menschengeschlechtes [...]. Ebendieser Blick ist der dem Kern des neuen Gegenstands gemäßeste: gerade das östliche Steigen erst konkreszierender Seelenschwaden, diese Gärung von gutenteils noch anonymen Substanzen der Dichtung ist es, was Goethes Weltliteratur historisches Relief, organische Struktur verleiht. (Cysarz 1932: 56, 58) wakei zu Goethes Jubiläumsjahr, die festzustellen war (Anonym 1932l). Einen übernationalen Rang hatte auch der Vortrag von F. V. Krejčí in der Paneuropäischen Union über Goethes Europäertum (Anonym 1932h). Auf der Frankfurter Tagung des Völkerbundausschusses für Literatur und Kunst wurde Karel Čapeks (1932c) Botschaft an den Führer (d. h. an J. W. Goethe) verkündet, den Führer „auf dem Wege von der Nation zur Menschheit“ 22 Zur Prager tschechischen Universitätsfeier s. Čapek (1932a), Fischers Rede wurde in Čin [Tat] veröffentlicht (Fischer 1931/32), zur Brünner Universitätsfeier Novák (1932a). 23 Mit einer bedeutenden Ausnahme: In seiner Sammlerezension der Schriften von Nadler, Cysarz und Urzidil entwickelte Otokar Fischer (1932b, 1932d) diese These weiter und deutete weitere Forschungsperspektiven an. Überraschenderweise hat Urzidil auch in der späteren Version von Goethe in Böhmen diese nicht berücksichtigt, was auch für die neueste Studie über das Konzept der Weltliteratur bei Goethe (Lamping 2010) gilt.
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Wie ersichtlich, versuchten die Universitätskreise in der Tschechoslowakei besonders das vieldeutige Potenzial von Goethes Erbe im Sinne der weiteren Entwicklung der deutsch-tschechischen Kooperation zu aktualisieren. Zur feierlichen Ausgestaltung der tschechoslowakischen Feier des Goethejahres trugen auch szenische und Autorenlesungen bei. Außer Karl Kraus und seiner szenischen Lesung von Goethes Pandora in der Prager Stadtbibliothek am 11. November 1932 auf Einladung des Klub moderních filologů [Verein der modernen Philologen] (Krolop 1988; Topor 2011) hielt Thomas Mann schon am 14. März 1932 im Neuen deutschen Theater den Vortrag Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (Rádl 1932). Symbolische Bedeutung hatte auch der Besuch Gerhart Hauptmanns in der Tschechoslowakei zu seinem 70. Geburtstag auf Einladung der Urania (Fischer 1932h) und seine Rede im P.E.N. Club (Čapek 1932b) sowie im Neuen deutschen Theater am 27. Oktober, dem Vorabend des tschechoslowakischen Nationalfeiertags. Gerhart Hauptmann wurde im übrigen auf seiner Reise – z. B. in Karlsbad – von Johannes Urzidil begleitet.24 Zurück zu Urzidils Goethe in Böhmen: Das Buch spielte im zeitgenössischen Kontext eine bedeutende Rolle. Verortet man es im damaligen Kontext, so wird ersichtlich, dass Urzidil das vielseitige Thema in komplexer, Goethe angemessener Weise verstanden hat. Diese Ambition erkannten gerade tschechische Rezensenten und Kritiker wie Arnošt Bareš (1932), Otokar Fischer (1932h), Jan Krejčí (1932b), Arnošt Kraus (1932), ein unbekannter Autor unter dem Kürzel ‚rn‘ (1932), Bedřich Slavík (1931/32), aber auch der skeptischere Jindřich Vodák (1932a).25 Die schon angekündigte zweite Auflage mit dem 24 Der Verlag versah die Erstausgabe von Goethe in Böhmen mit einer Banderole, auf der er das Buch mit zwei Zitaten bewarb, einem von Gerhart Hauptmann („Ein ausgezeichnetes verdienstvolles Buch“), das andere von dem Berliner Germanisten Julius Petersen („...ein Denkmal....“), damals Präsident der Goethe-Gesellschaft und Träger der Goethe-Medaille dieses Jahres (1932) – der sich dann nach 1933 den Nazis andiente. 25 Vodák war in seiner Kritik nicht ganz unparteiisch. Er meinte, „Urzidilovi co nejvíce záleží na tom, aby dovolil, že Goethe poctíval svými návštěvami vždycky toliko výhradně německou část Čech [...], a plodné podněty a užitky, jež si ze svých pobytů přinesl, vyplynuly právě jen z jeho styků s německým obyvatelstvem země“ [Urzidil liegt besonders daran zu beweisen, dass Goethe immer nur den deutschen Teil Böhmens mit seinen Besuchen beehrte [...], und fruchtbare Anlässe und Vorteile, die er aus seinen Aufenthalten brachte, gingen nur aus seinen Kontakten mit der deutschen Bevölkerung des Landes hervor], am Ende jedoch räumt er ein, dass Urzidils Buch beweist, dass „Češi se svým [... ] kulturním životem byli pro Goetha nejbližší ukázkou toho nového [...] světa, jenž se prodíral z útrob starého.“ [die Tschechen mit ihrem [...] Kulturleben für Goethe die nächste Probe der neuen [...] Welt waren, die aus den Inneren der alten hervorgedrungen ist].
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Titel Goethe und die böhmische Welt, die für die fachliche Öffentlichkeit bestimmt war und bei der Otokar Fischer, Hedda Sauer, Oskar Federer, Karel Čapek und Emil Utitz helfen sollten, und mit der er sich angeblich zu habilitieren beabsichtigte, wurde jedoch nicht mehr realisiert.26 Urzidils Überlegungen zu diesem Thema flossen dann in die neue, überarbeitete Auflage seines Goethe in Böhmen (1962) ein. Einen Tag vor Urzidils Vortrag Goethe und die böhmische Geschichte, den er bei der Deutschen Gesellschaft für Altertumskunde in Prag hielt, wurde Adolf Hitler Reichskanzler und schließlich ‚Führer des deutschen Reiches und Volkes‘. Die Worte des Pressebeirats der deutschen Botschaft in Prag fanden sicher nicht die Zustimmung der neuen deutschen Staatsführung. Was in seinen [d. i. Goethes, VP] Gesichtskreis trat – und so ist es auch mit der böhmischen Geschichte – erfasste er mit der ganzen vitalen Gegenwartsintensität seiner Natur und verarbeitete es, gliederte es seinem Weltbild ein, das – eben weil er nicht systematisch, weil es im Geiste der inneren Freiheit erwachsen ist – den weitesten Raum auch für die Umfassung von Widersprüchen bietet. Denn der innere Widerspruch ist eine Kategorie des Daseins überhaupt und den Widerspruch wegdisputieren oder fortdenken zu wollen, ist nur eine Frage der gedanklichen Angst, nur ein Produkt der Lebensfeigheit und der Versuch, sich aus der Vielfalt, Unvereinbarkeit, Wunderbarkeit, aus dem schöpferischen Überraschungsreichtum der Welt, oder wenn man will, aus dem Konflikt zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, in ein beruhigendes, einschläferndes, konventionelles, starres Koordinatensystem zu retten, das Überlogische natürlichen Wachstums in ausgeklügelte Buchformen zu zwängen. (Urzidil 1932/33b: 384f.)
Der Epilog des Goethe-Jahres 1932 grenzt nämlich – wie auch aus dem weiteren Lebenslauf von Urzidil (Trapp 1992)27 bekannt ist – unmittelbar an das Hitlerjahr 1933. Infolge des letzteren, das zwölf lange Jahre dauerte, musste 26 Gerhard Trapp (2000: 75) erwähnt, dass Urzidils Arbeiten zum Thema Böhmen „in ein ledergebundenes Typoskript mit dem Namen ‚Goethe und die böhmische Welt‘“ münden. Vor seiner Flucht aus Prag hat Urzidil es bei seinem Freund, dem Mittelschullehrer und Übersetzer aus dem Polnischen Josef Matouš (1891-1971), hinterlegt. Nach seinem Tode wurde es dem Prager Archiv des Museums für Tschechische Literatur [Literární archiv Památníku národního písemnictví] übergeben, wo sich das Typoskript bis heute im Nachlass von Josef Matouš befindet. 27 Bei den Goethefeiern hat Urzidil auch die deutschböhmische ‚Provinz‘ nicht vergessen; z. B. enthüllte er in Marienbad [Mariánské Lázně] (Anonym 1932c) und Teplitz-Schönau [Teplice-Šanov] (Anonym 1932m) unter zahlreicher Beteiligung der Bevölkerung ein Goethedenkmal. Nach der Notiz in der Bohemia (1932) sprach er am 19.02.1932 „in Brünn an einem vom Deutschen Journalisten-Verein für Mähren-Schlesien veranstalteten Abend über Goethe und die Sudetendeutschen, ferner am 28. ds. im Wiener Radio (Auslandsdeutsche Stunde) über Berühmte Deutsche als Gäste der Sudetenländer, am 18. März vor den Pilsner Deutschen über Goethe in Böhmen, im April im Berliner Rundfunk, in Teplitz und in Prag über Goethe und seine Beziehungen zum deutschen und zum slawischen Osten.“
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man in Urzidils Heimat mehr als vierzig Jahre auf Urzidil warten. Die endgültige Rückkehr Urzidils auch nach Böhmen ist seit mehr als zwanzig Jahren endlich Realität geworden.
Literatur
Adámek, Karel (1862/63): Göthe [sic!] o literatuře české [Goethe über die tschechische Literatur]. – In: Osvěta 1, 71–72. Adámek, Karel (1863): Goethe a Čechy [Goethe und Böhmen]. – In: Lumír 13, 302304, 326-329, 348-351. Adler, Ervín (1932): Goethe a Češi [Goethe und die Tschechen]. – In: Literární noviny 6/5, 1f. Anonym (1931/32): Vorboten des Goethejahres. – In: Germanoslavica 1, 497-504. Anonym (1932a): Ve znamení sletu [Im Zeichen von Sokol-Treffen]. – In: České slovo 24/3 (03.01.), 5. Anonym (1932b): Oslava Goetha v divadle Akropolis [Die Goethe-Feier im Theater Akropolis]. – In: České slovo 24/83 (07.04.), 7. Anonym (1932c): Slavnost odhalení Goetheova pomníku v Mariánských Lázních [Die Feier der Enthüllung des Goethe-Denkmales in Marienbad] – In: České slovo 24/117 (18.05.), 7. Anonym (1932d): Goethovy známky nebudou [Es wird keine Goethe-Briefmarken geben]. – In: České slovo 24/148 (23.06.), 4. Anonym (1932e): Goethovy oslavy na školách [Goethefeier an den Schulen]. – In: Lidové noviny 40/84 (16.02.), 7. Anonym (1932f): Die Goethefeier in der tschechoslowakischen Presse. – In: Prager Rundschau 2, 282-286. Anonym (1932g): Oslava Goethova pražským dělnictvem [Die Prager Arbeiter feiern Goethejubiläum] – In: Právo lidu 41/21 (24.01.), 5. Anonym (1932h): Přednáška sen. soudr. F. V. Krejčího o Goethově evropanství [Der Vortrag des Genossen Senator F. V. Krejčí über Goethes Europäertum]. – In: Právo lidu 41/72 (24.03.), 4.
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Mirek Němec
Purkyně in Böhmen. Zur Entstehung des ‚Hinternationalismus‘ von Johannes Urzidil
1. Einleitung
Als Johannes Urzidil sein Interesse am Thema Goethe in Böhmen im Vorwort zu den gegenüber der ersten Ausgabe von 1932 wesentlich überarbeiteten und erweiterten Nachkriegsausgaben von 1962 und 1965 erklärt, argumentiert er auch damit, dass sein Werk einen Beitrag zum Kennenlernen der wenig bekannten slavischen Welt leisten soll. „Slavica sunt, non leguntur“ bemerkt er hier kritisch an die Adresse der deutschsprachigen Leser (Urzidil 1981: 7f.). Er wiederholt diese Mahnung unmittelbar vor dem Epilog, also im letzten Kapitel der erwähnten Ausgaben, das dem tschechischen Naturwissenschaftler und in seiner Zeit wohl bedeutendsten tschechischen Geistesverwandten Goethes, Johannes Evangelista Purkyně, gewidmet ist (Urzidil 1981: 449; Krause 1936). Es scheint, dass die tschechischsprachige Welt in Urzidils Werk über Goethe eine außerordentlich wichtige Rolle spielt. Und dies sicher mehr, als sich der ‚spiritus rector‘ der deutschböhmischen Goetheforschung, der Prager Germanist August Sauer, wohl vorstellen konnte, als er das Interesse seines jungen Studenten Urzidil für das Thema „Goethe in Böhmen“ während des Ersten Weltkriegs bzw. unmittelbar danach angeregt hatte (Urzidil 1932: 7; Klausnitzer 2011). Wie wird die slavische Nachbarwelt dargestellt und welche Funktion hat sie im Werk Urzidils? Die Empathie und das Interesse Urzidils für die slavische, besonders die tschechische Kultur, von der Forschung längst entdeckt, wird allgemein anerkannt und geschätzt (Měšťan 1999: 56). Der aus Prag stammende Autor
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bezeichnete sich selbst als ‚hinternational‘1 und meinte damit die Fähigkeit zum friedlichen Ausbalancieren von nationalen Gegensätzen auf der Basis von Humanität und Toleranz (Johann 2008: 18). Da Urzidil an Goethe in Böhmen praktisch sein ganzes Leben lang arbeitete (Trapp 1999), versucht dieser Beitrag zu beleuchten, wie sich das ‚hinternationale‘ Credo Urzidils in Goethe in Böhmen von der Zwischen- zur Nachkriegszeit hin entwickelte.
2. Goethe in der Zwischenkriegszeit
Goethe in der Zwischenkriegszeit ‚zurück‘ nach Böhmen zu holen, bedeutete aus der Forschungsperspektive der damaligen Zeit sicher ein Novum.2 Doch das Thema muss zugleich im nationalpolitischen Diskurs jener Jahrzehnte betrachtet werden. Wie schon im Kaiserreich, so wurden auch in der Zwischenkriegszeit Goethes Biographie und Werk von nationalkonservativen Kräften im politischen Kampf instrumentalisiert (Johann 2003: 134f.). Erhard Bahr urteilt sogar, dass die Verehrung des deutschen Klassikers schlechthin – neben dem Kult um Kleist, Schiller und Hölderlin – ein Teil der „semantischen Brücke“ wurde, auf der das deutsche Bürgertum ins Dritte Reich gelangte (Bahr 2005: 137ff.; Bollenbeck 1994). Dem reichsdeutschen Vorbild folgend konnte Goethe auch in der 1918 gegründeten Tschechoslowakei von der damaligen deutschen Bevölkerung für nationalpolitische Zwecke propagandistisch vereinnahmt werden.3 Wie die Karte der Reiserouten Goethes noch vor dem eigentlichen Text der Nach1 „Ich bin ‚hinternational‘, pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben“ (Urzidil 1997: 12). 2 S. dazu den Beitrag von Václav Petrbok im vorliegenden Band. 3 Dies reflektiert die bisher kaum erforschte populäre Erinnerungskultur. An vielen Orten der böhmischen Grenzgebiete wurden Gedenktafeln an die Aufenthalte Goethes enthüllt und Goethedenkmäler errichtet, ein Pendant zur tschechischnationalen Kulturpolitik. Anschaulich zeigt dies z. B. die Burg Rosenburg oberhalb von Graupen [Krupka]: 1926 enthüllte die dortige tschechische Minderheit einen Gedenkstein in Erinnerung an die Hussitenkämpfe um Aussig [Ústí nad Labem] im Jahre 1426, die die Bergstadt Graupen und die Burg in Mitleidenschaft zog. Der deutsche Museumsverein Graupen stellte auf den Hof der Burg einen Goethegedenkstein, auf dem mit goldenen Lettern an die drei Aufenthalte Goethes in der Stadt am 17. August 1810 sowie am 29. April und 14. Mai 1813 erinnert
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kriegsausgabe von Goethe in Böhmen einleuchtend darstellt und wie Urzidil selbst in der Vorrede zur ersten Ausgabe seines 1932 herausgegebenes Werkes akzentuierte, besuchte Goethe ausschließlich die böhmischen Grenzgebiete. Urzidil hebt den „kulturpolitischen Auftrag“ 1932 hervor, daß dieses Buch über Goethe vorzüglich den Deutschen Böhmens wichtig sein sollte, in deren Siedlungsgebieten der Dichter sich so gut wie daheim fühlte, die er durchforschte, durchreiste und durchwanderte, deren landschaftliche Schönheiten sich in manchem seiner Werke spiegeln und in deren Atmosphäre eine ganze Anzahl seiner bedeutenden Schöpfungen geformt, begonnen oder fortgesetzt wurde. (Urzidil 1932: 9f.)
In der Zeit als Urzidil seinen Forschungen nachging und sie zum ersten Mal im Goethejahr 1932 publizierte, waren die in den westlichen Grenzgebieten der damaligen Tschechoslowakei lebenden Deutschen im Begriff, sich politisch und kulturell neu zu orientieren. Die Konstruktion der neuen ‚sudetendeutschen‘ Identität entfernte die Deutschen in den böhmischen Ländern politisch noch weiter von ihren tschechischen Nachbarn. Bei diesem Prozess der Selbst(-er-)findung war die Erinnerung an Goethe nicht unwichtig (Němec 2009: 211-216). Auch Urzidil wies in seiner Vorrede darauf hin, dass der deutsche Klassiker die Deutschen über die politischen Grenzen hinweg auf der Basis einer gemeinsamen Kultur und quasi auf doppelte Weise zu verbinden vermochte: Ich denke aber zugleich auch an die gesamte deutsche Lesewelt, die eines Zeugnisses bedarf dafür, welche grundsätzliche Bedeutung der Lebensraum und das Wesen des in Böhmen wohnenden deutschen Volksteils für das Schaffen und die Entwicklung des größten deutschen Genies hatte. (Urzidil 1932: 10)
Nicht nur der ‚gesamtdeutsche‘ Stolz auf ihn, sondern vor allem der eigene Beitrag, den die böhmischen Grenzgebiete in Biographie und Werk des Klassikers spielten, wurde nach außen getragen. Goethe konnte als Symbol für die Verbindung zur ‚großdeutschen‘ Kultur, durchaus in einer Opposition zur tschechischen, vereinnahmt werden. Urzidil widmet 1932 sein Werk allerdings nicht nur den Deutschen, sei es in oder außerhalb der Tschechoslowakei, sondern auch den Lesern im tschechischen Volke, für dessen Renaissance, erstarkende Kultur und Eigenart, für dessen führende Persönlichkeiten und Sprache Goethe ein dauerndes und lebhaftes Interesse kundgab. (Urzidil 1932: 10)
wurde. Urzidil selbst sprach 1932 bei der Enthüllung des Goethe-Denkmals in Marienbad [Mariánské Lázně] (Trapp 1999: 40f.).
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Damit distanziert sich der Autor von der damaligen nationalistischen Instrumentalisierung der Erinnerung an Goethe unter den Deutschen in der Tschechoslowakei.4 Indirekt tut er dies auch damit, dass er konsequent die damals schon gebräuchliche und politisch konnotierte Sammelbezeichnung ‚Sudetendeutsche‘ meidet und über ‚Deutsche in Böhmen‘ bzw. ‚Deutschböhmen‘ schreibt. In diesem Kontext muss noch angemerkt werden, dass Urzidil sich bereits in der Nachbemerkung zur ersten Ausgabe bei mehreren deutschen und tschechischen Wissenschaftlern gleichermaßen bedankt, die ihm Hilfe und Förderung gewährleisteten (Urzidil 1932: 257). Letztendlich erschien das Buch im Verlag von Dr. Hans Epstein, Wien und Leipzig, wohl mit Absicht nicht in einem völkischen oder nationalsozialistischen Verlagshaus (Hall 1985: 119-123).5 Dies alles deutet darauf hin, dass der Autor sich von einer politisch aufgeladenen und freilich selektiven Rezeption und Instrumentalisierung Goethes für den ‚sudetendeutschen Volkstumskampf‘ habe frei machen wollen.6 Es bleibt aber die Frage, ob schon Urzidils erste Ausgabe von Goethe in Böhmen das Interesse an den Tschechen bei den Deutschen hätte anregen und damit die Kluft zwischen den Tschechen und Deutschen im Sinne des bereits erwähnten Vorworts zur Nachkriegsausgaben hätte überwinden helfen können.
4 So wird anlässlich des Goethe-Jahres am 12.06.1932 (!) in Bilin-Bad Sauerbrunn [Bílina – Lázně-Kyselka] eine Gedenktafel enthüllt mit der Aufschrift: „Goethe. Dem Schützer unserer Heimat“. Heute befindet sie sich am Gebäude des Inhalatoriums im Kurortviertel. 5 Der Sitz des Verlags in Wien und Leipzig konnte zudem einen im Vergleich zu einem in der Tschechoslowakei ansässigen Verlagshaus unproblematischen Absatz in Deutschland und Österreich garantieren. Urzidil blieb diesem Verlag auch nach dem Tod des ersten Besitzers treu und veröffentlichte in diesem, nun zum Verlag Dr. Rolf Passer umbenannten, auch seine 1936 erschienene Studie Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock. S. a. den Beitrag von Ralph Melville in diesem Band. 6 Es wäre sicher einer eigenen Studie wert, die Frage zu verfolgen, ob und wie es ihm völlig gelungen ist. Immerhin nutzt Urzidil Lexeme wie ‚Lebensraum‘ und ‚Deutschtum‘. Kaspar von Sternberg wird mit nationalen Zuschreibungen im Sinne einer Verteidigung des Deutschtums eingeführt.
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3. Goethe in Böhmen und die Slaven
In der Ausgabe von 1932 erscheinen die Bemerkungen über Tschechen und Slowaken eher verstreut.7 Nur sehr kurz erwähnt Urzidil die Beziehungen Goethes zu einigen wenigen tschechischen bzw. slowakischen Persönlichkeiten, ohne die Tiefe und die detaillierte Ausführlichkeit zu erreichen, welche den Erzählstil des Autors sonst charakterisiert. Trotz der von Urzidil dargestellten Sympathie Goethes und dessen offensichtlichem Interesse für die Tschechen, fehlt es Urzidil an Entschlossenheit, um die wechselseitigen Beziehungen der slavischen Welt zu Goethe darzustellen und damit das Interesse der deutschen Leser für diese Nachbarn zu wecken. Dies spiegelt sich auch bei der Darstellung des tschechischen Naturwissenschaftlers der Goethezeit Johannes Evangelista Purkyně wider. Urzidil widmet dieser wohl wichtigsten Beziehung Goethes zu einem tschechischen Gelehrten nicht einmal eine ganze Seite des immerhin 257 Textseiten zählenden Werkes (Urzidil 1932: 187f.). Er macht darauf aufmerksam, dass Goethe trotz anfänglicher Zurückhaltung später keinen Hehl aus seinen Sympathien für den jungen tschechischen Forscher gemacht und ihm zu einer Universitätsstelle in Breslau verholfen habe. Die gemeinsamen Interessen Goethes und Purkyněs für die Naturwissenschaften, besonders die Farbenlehre und die Übersetzungsleistungen Purkyněs werden von Urzidil erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt. Die Passage endet relativ abrupt: Später ging er [Purkyně] nach Prag, wo er in der nationalen Renaissancebewegung der Tschechen eine Rolle spielte. […] Zu einer sonstigen persönlichen oder brieflichen Verbindung zwischen den beiden kam es aber nicht. (Urzidil 1932: 188)
Eine solche Teilnahmslosigkeit Urzidils könnte auch bei anderen Darstellungen der tschechischen Persönlichkeiten aus dem Umkreis von Goethe gezeigt werden.8 Der Lektüre der ersten Ausgabe Goethe in Böhmen nach scheint es, als ob die tschechische Kultur dem Goetheschen Konzept der Weltliteratur, die als eine Symphonie, zu welcher jede Nation ihren Ton beiträgt, zu verstehen 7 Im Register der Ausgabe von 1932 tauchen 29 Namen, in der Ausgabe von 1981 88 Namen auf, die entweder von Urzidil selbst als Tschechen oder Slowaken bezeichnet werden oder historische Persönlichkeiten der böhmischen Geschichte, die sich so deuten lassen (Hus, Przemysliden u. a. m.) Eine dritte Gruppe bilden die tschechischen Goethe-Forscher. 8 Z. B. vermerkt Urzidil (1932: 162) über die Beziehung zwischen Goethe und Kollár lediglich: „Die Beziehung zwischen beiden blieb […] unfruchtbar.“
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sei (Urzidil 1932: 244), nur wenig beisteuern zu können imstande gewesen sei. Es überrascht deshalb wenig, wenn der 36jährige Urzidil anstatt eigene zusammenfassende Schlüsse zum slavischen Themenkomplex zu ziehen, den damals einflussreichen, den deutschvölkischen Kreisen sich anbiedernden Wiener Germanisten Josef Nadler zitiert.9 Dieser, ebenfalls ein Schüler August Sauers, erklärt „mit nicht zu übertreffender Prägnanz“, so Urzidil, das Interesse Goethes für den Osten: Goethe beobachtete und erlebte in Böhmen die gleichen Verhältnisse, aus denen heraus ihm Hamann und Herder östlichen Lebensstoff zugeführt hatten; am böhmischen Lehrgange verdichtet sich ihm der gesamte Osten zur geschlossenen Vorstellung eines schicksalsvoll zusammenhängenden Ganzen, es geht ihm das Verständnis für die weltgeschichtliche Situation auf; durch das Volkslied geht ihm die Völkervielheit im östlichen Vorraum der Deutschen als ein ganzer geistiger Kosmos von Einzelwelten auf, er lernt eine volkhafte Substanz kennen. Ein Volk konnte ihm hiebei als Ersatz für die anderen elementaren Völker des Ostens gelten, die Tschechen, weil sie in den ursprünglichen Zustand der Kulturferne wieder zurückgesunken waren. Den gesuchten Begriff der Volkheit als die Wurzel alles Echten findet Goethe in der unmittelbaren Erfahrung der östlichen Volksliteraturen; so wird der Begriff der Weltliteratur geboren: Aufbruch dessen, was als Volkheit durch alle Völker hindurchgeht; der Begriff geht auf aus dem geistigen Vorgang, den die Völker des Ostens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts durchmachten. In Böhmen war Goethe auf die entscheidende Stelle des ganzen Ostens gestoßen. Über Böhmen erhob sich zuerst und mit gesammelter Kraft das große Ostproblem des Zusammenwohnens zweier Völker. (zit. n. Urzidil 1932: 245)
Das Zitat befremdet heute bereits durch die Fixiertheit auf die Kategorie Volk, aber vor allem durch die Hervorhebung nationaler Alteritäten. Das Interesse Goethes, der die Deutschen verkörpert, für den slavischen „östlichen Vorraum der Deutschen“ entspricht dem einer Kolonialmacht an exotischen und elementaren Naturvölkern. Ob die Exotik des Fremden, die dargestellte Kraft eines Volkes und der erwähnte „geistige Vorgang“, also die nationale Wiedergeburt der Tschechen, die behauptete Kulturferne des untersuchten Objekts wettmachen können, bleibt nach Nadler offen. So wird von ihm nicht 9 S. zu Josef Nadler Füllenbach (2004: 25-30) und Ranzmaier (2008). – Josef Nadler (18841963) machte sich einen Namen mit seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (erstmals 1912 veröffentlicht). Den hier vertretenen Ansatz, der heftige Diskussionen in der damaligen Germanistik hervorrief, radikalisierte Nadler in weiteren Ausgaben seines Buches, bis er ihn schließlich in der vierten zwischen 1938 und 1941 herausgegebenen Auflage bewusst für die nationalsozialistische Ideologie politisch missbrauchte. Obwohl die früheren Ausgaben noch keine radikale Form des Antisemitismus wie in der vierten Auflage dokumentierten, ist nach Füllenbach Nadlers Hinwendung zum völkischen Lager nach 1918 deutlich zu beobachten, zugleich einer der Gründe, warum Nadlers Ansatz so populär werden konnte.
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nur eine Hierarchisierung und damit verbunden wohl die jedem (vermeintlichen) Kulturträger immanente Arroganz ins Spiel gebracht, sondern die böhmische Welt, wie sie Goethe noch erleben durfte, zerfällt ahistorisch in zwei zumindest unterschiedliche Kulturräume: zum einen der kulturell hochstehende deutsche und zum anderen der sich bereits durch Volkskraft emanzipierte tschechische. Dabei lässt Nadler Goethe über die Kraft, die einem (Natur-)Volk eigen ist, erstaunen. Die Tatsache, dass der junge Urzidil hier den kolonialen und polarisierenden Diskurs von Nadler wortwörtlich übernimmt und unkommentiert lässt, führt zum Schluss, dass sich der Prager Autor dem von August Sauer propagierten Denkstil, der eine nationale Sichtweise in den Literaturwissenschaften akzentuierte, anschloss und seinen neuen und originellen Ansatz des ‚Hinternationalismus‘ hier nicht umsetzte.10
4. Goethe in Böhmen nach der deutsch-tschechischen Tragödie
Die nächsten, wesentlich überarbeiteten und erweiterten Nachkriegsausgaben von 1962 und 1965 bieten nicht nur quantitativ mehr Informationen zum Wechselverhältnis von tschechischer und deutscher Kultur zur Goethezeit, sondern diese werden auch anders gegliedert und bewertet. Ohne Fremdzitate11 tritt hier das Konzept des ‚Hinternationalismus‘ deutlich hervor. Neben einem ausschließlich Purkyně gewidmeten Kapitel wird in den neuen Aufla10 Der neutralen Stellung von Goethe in Böhmen im Kontext der nationalpolitischen Auseinandersetzung der frühen 1930er Jahre und damit den im Text erarbeiteten Befunden entspricht der ablehnende Kommentar von Herbert Cysarz, seit 1927 Nachfolger Sauers im Amt des germanistischen Ordinarius, zum von Urzidil 1931 beantragten Druckkostenzuschuss für Goethe in Böhmen. Der eindeutig völkisch gesinnte Cysarz, der sein Fach als ‚kämpfende Wissenschaft‘ verstand, argumentierte gegenüber Urzidil, die „bisher publizierten Vorarbeiten zu Goethe in Böhmen [ließen] keine definitive wissenschaftliche Einschätzung des Bandes [zu].“ Urzidil war also sehr wohl bemüht, seine Goethe-Studien aus den nationalpolitischen Konflikten herauszuhalten. Zugleich aber spielte er seinerzeit noch mit dem Gedanken, akademisch als Literaturwissenschaftler in Prag zu reüssieren und führte auch Cysarz in seiner Danksagung 1932 auf (Trapp 1999: 47f.). 11 Das Zitat von Nadler wird nicht mehr übernommen, der politisch umstrittene Literaturwissenschaftler wird nur in einer Fußnote aufgeführt, in der der Einfluss Goethes auf Grillparzer erwähnt wird (Urzidil 1981: 319).
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gen noch ein weiteres eigenständiges Unterkapitel über die Wechselbeziehung der tschechischsprachigen Zeitgenossen zu Goethe ergänzt. Dieses unter dem Titel Tschechen wird mit einem Zitat aus Masaryks Tschechischer Frage eingeleitet, das allerdings auch schon 1932 Aufnahme fand:12 Unsere [tschechischen] Denker schöpften aus der deutschen Literatur […]. Unsere Erwecker fanden ihre philosophischen Grundlagen in der deutschen Philosophie […]. Trotz allem Enthusiasmus für die Russen und alle Slawen, trotz allem Widerstreit gegen die Deutschen, bleiben die Deutschen dennoch unsere tatsächlichen Lehrer. (Urzidil 1981: 304; 1932: 244)
Unzweifelhaft sind die meisten slavischsprachigen Persönlichkeiten der Goethezeit auch in der deutschsprachigen Kultur bewandert. Urzidil urteilt daher sachgemäß: das Tschechentum [zur Zeiten Goethes] wiederum stellte sich literarisch und gesellschaftlich oft in deutscher Sprache vor, gab sich als gesamtböhmisch, wollte aber doch als tschechische Eigenart von allem Deutschen abgegrenzt betrachtet werden. Deutschböhmen und Tschechen waren zugleich, jeweils nach ihrem Grade, österreichisch. (Urzidil 1981: 304f.)
Die von Urzidil dargestellten tschechischen und slowakischen Zeitgenossen Goethes lassen sich der Phase A im dreistufigen Hrochschen Modell13 zur modernen Nationsbildung der kleinen Völker zuordnen (Hroch 1968). Ihre patriotischen Gefühle sind durchaus dem böhmischen Landespatriotismus verpflichtet (Urzidil 1981: 190). Obwohl Goethe, trotz seiner von Urzidil geschilderten Versuche, sich das Tschechische anzueignen, „keinen der slawischen Dialekte“ lernte, ermöglichten der Bilingualismus und zumeist deutschsprachige Publikationen dieser tschechischen Intellektuellen, dass er ein erstaunliches Interesse an Folklore, Sprache, Geschichte und (Volks-)Literatur der Slaven gewinnen konnte (Urzidil 1981: 306). Urzidil, diesmal mit 12 Urzidil schreibt im Brief vom 27.05.1964 an Gerhard Trapp, dass er das erstmals 1895 erschienene Buch Masaryks in den dreißiger Jahren ins Deutsche übersetzte, dann aber auf Bitten des Präsidenten, der dadurch zusätzliche politische Spannungen befürchtete, auf eine Veröffentlichung verzichtete (Trapp 1967: 16). Aus einigen Textabschnitten in Goethe in Böhmen wird ersichtlich, dass Urzidil sich mit dem Werk Masaryks ausführlich auseinander setzte und mehrere Aspekte übernahm. So werden z. B. die Rolle der deutschen Kultur für die tschechische nationale Wiedergeburt hervorgehoben oder das nationale Pathos Ján Kollárs bei Masaryk wie bei Urzidil übereinstimmend beanstandet (Masaryk 1969: 28; Urzidil 1981: 307). 13 In der ersten Phase (A) wird von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen die Grundlage nationaler Kultur herausgearbeitet, indem die Hochsprache kodifiziert und ein nationales Geschichtsbild konstruiert werden. Diese werden dann in der nächsten Phase (B) von engagierten Vertretern des nationalen Gedankens öffentlichkeitswirksam propagiert, bis die Nationalidee in einer dritten Phase (C) in der breiten Öffentlichkeit verankert wird.
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ausgeprägtem Sinn für Details, zeichnet aber auch den großen Einfluss nach, den Goethe auf Tschechen und Slowaken ausübte. Diese rezipierten seine Werke im Original, übersetzten sie sie ins Tschechische, achteten Goethe als überragende Autorität und holten sich öfters Rat bei ihm. Goethe soll gar den slowakischen Studenten, die wegen ihrer Teilnahme an der Wartburgfeier 1817 strafrechtlich belangt wurden, geholfen haben (Urzidil 1981: 308). So überrascht es kaum, dass Urzidil (1981: 308) zu dem Urteil kommt, die jungen liberalen Slowaken hätten in Goethe „den Schirmherrn ihrer nationalen Erneuerungsbestrebungen“ gesehen. Allerdings scheint das von Urzidil skizzierte Verhältnis zwischen Goethe, der die deutsche Kultur personalisierte, und den slavischen Kulturen von Asymmetrien geprägt gewesen zu sein. Denn der Verehrung Goethes seitens der slowakischen und tschechischen nationalen Vorkämpfer steht eine andere Beobachtung Urzidils entgegen. Goethe habe an der Bezeichnung Ungarn für die Slowaken festgehalten, obwohl ihn Ján Kollár als Jenenser Student über die Slowaken unterrichtete. Es scheint also, als ob Goethe keine Sensibilität für ihre nationalen Bestrebungen hätte entwickeln wollen. Nach Urzidil kann diese Wahrnehmung Goethes damit erklärt werden, dass Goethe zum Einen nicht gewohnt gewesen sei, zwischen Volks- und Landeszugehörigkeit zu differenzieren, zum Anderen die Slowaken sich untereinander des ungarischen Idioms bedient hätten und schließlich sie in den Universitätsmatrikeln als Ungarn eingetragen wurden (Urzidil 1981: 309). Die drei Erklärungsversuche können aber den Verdacht kaum zerstreuen, Goethe habe in den Augen von Urzidil die ersten Anzeichen der slavischen nationalen Wiedergeburt nicht oder mit keiner Sympathie betrachtet. Urzidil hebt diese Absage Goethes an den gewachsenen tschechischen bzw. slowakischen Nationalismus mehrmals hervor. Besonders deutlich wird dies bei der Behandlung von František Ladislav Čelakovský. Der tschechische Dichter habe, so Urzidil, zunächst „stark unter Goethes Einfluss“ gestanden, als dann aber Goethe die Zusendung von einigen Gedichten aus den Ohlas písní ruských [Nachhall russischer Lieder] unbeantwortet lässt und „eine Rezension seines [Čelakovskýs] Werkes sein starkes Nationalbewußtsein verletzte“, habe Čelakovský dies höhnisch kommentiert, Goethe mische ‚Panta peri Panton‘, also ‚Alles mit Allem‘ (Urzidil 1981: 316). Ähnliches lässt sich in der Einstellung gegenüber Ján Kollár erkennen, so Urzidils (1981: 307) Kommentar zu der Entwicklung der Kollárschen Weltanschauung: Diese von Herder stammende Humanität war allerdings vom hochfliegendem Nationalgefühl kontrapunktiert, dass Kollár (vier Jahre nach der Begegnung mit Goethe) in seinem
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für Tschechen und Slowaken klassischen Epos Slavy Dcera [sic!] [Slawas Tochter] mächtig zum Tönen brachte.
So, wie die tschechische Gesellschaft von Urzidil dargestellt wird, ist diese ausdifferenziert, aber auch ambivalent: Auf der einen Seite sind die Tschechen nach Spiridion Wukadinowič „das goethereifste Volk unter den Slawen“ (Urzidil 1981: 485), ein Lob, das auf den engen Kontakten einiger tschechischer und slowakischer Intellektueller zu dem deutschen Klassiker beruht, aber auch auf den zahlreichen Übersetzungen ins Tschechische. Auf der anderen Seite erteilt Urzidil dem nach der Goethezeit anwachsenden tschechischen Nationalismus eine klare Absage. Die wirkungsmächtige zweite Phase der tschechischen nationalen Wiedergeburt kämpfte nicht nur gegen die vorhandene Asymmetrie im Verhältnis der kleinen tschechischsprachigen Kultur zur mächtigeren deutschsprachigen, sie brachte damit „das böhmische Ganze“, das ertragreiche Miteinander der deutschsprachigen und tschechischsprachigen Böhmen ins Wanken. Signifikant für diese These erscheint die folgende Auslegung Urzidils: Die ‚Erwecker‘ der tschechischen Nation, die Dobrovský, Kollár, Jungmann, Šafařík und Palacký (der sich stets auf Goethes Würdigung der Prager Museumszeitschrift berief), hatten zum Teil noch zu Lebzeiten Goethes, geschult an seinen und an Herders Humanitätsbegriffen, die Fundamente des neueren tschechischen Geisteslebens gelegt. […] Dem neuen Nationalismus kam das übernationale Europäertum Goethes ebenso ungelegen wie der Umstand, daß er als größter Deutscher für die Tschechen auch mehr und mehr das Deutschtum schlechthin zu repräsentieren begann. Von dem sie sich doch, koste es, was es wolle, zu sondern strebten, eine Conditio sine qua non zur Erhaltung des nationalen Bestandes. (Urzidil 1981: 483f.)
Obwohl manche der hier zitierten Textstellen durchaus eine Lesart ermöglichen, mit der auf deutschböhmischer Seite ein Überheblichkeitsgefühl gegenüber der tschechischen Nachbarkultur begründet werden könnte, besteht doch ein gravierender Unterschied gegenüber der ersten Ausgabe. Zum einen ist, im Urteil des amerikanischen Exilanten Urzidil, Goethe ein Vertreter der gesamteuropäischen Kultur, zum Anderen wird die böhmische Kultur mit Goetheschen Augen von Anfang an als ein Ganzes zum Bestandteil dieser Kultur. Erst die Durchsetzung des neuen Nationalismus habe diese vorbildhafte Gesellschaft zerstört und eine Trennwand zwischen den Böhmen deutscher und tschechischer Sprache errichtet. In diesem Prozess sei in der Folge die Humanität auf der Strecke geblieben, die Kritik an nationalen Einstellungen und völkischen Kategorien wird offensichtlich.
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5. Purkyně als Vorbild
In der oben zitierten Aufzählung der von Goethes ‚europäischen‘ Gedanken und den vom Herderschen Humanitätsideal sich abkehrenden tschechischen nationalen ‚Erweckern‘ erwähnt Urzidil den Naturforscher Jan Evangelista Purkyně nicht. Er widmet ihm ein eigenes Kapitel im sechsten Teil, Naturforschung. Durch die Ausklammerung, die einer Würdigung gleicht, stellt ihn Urzidil in Opposition zu den im Kapitel Kulturraum behandelten tschechischen Intellektuellen Dobrovský, Kollár, Jungmann, Šafařík, Čelakovský und Palacký. Man kann darin die Intention erkennen, den tschechischen Universalgelehrten stärker in den Kontext der Goetheschen Ideale zu stellen (Kruta 1968; Urzidil 2003: 435f.). Urzidil setzte sich mit den Gedanken und der Persönlichkeit Purkyněs bereits anlässlich dessen 150. Geburtstags im Jahre 1937 auseinander (Urzidil 1937a-c). Die drei daraus entstandenen Aufsätze14 gleichen einander stark und bilden den Grundstock für das Purkyně-Kapitel in den Nachkriegsausgaben von Goethe in Böhmen, zu dem Urzidil nur wenige neue Informationen hinzufügt und in dem er nur an manchen Stellen stilistische Änderungen vornimmt. Das Jubiläum veranlasste auch Eugen Lemberg, sich mit Purkyně zu beschäftigen. Der gegenüber Urzidil sieben Jahre jüngere, in Pilsen geborene Lemberg (1903-1976), der nach 1945 als Soziologe und Nationalismustheoretiker bekannt wurde, studierte wie Urzidil an der Deutschen Universität Prag Slavistik und bei August Sauer Germanistik (Pohl 2004; Hahn 2007). 1937 arbeitete er an der Prager deutschen Lehrerbildungsanstalt als Tschechischund Deutschlehrer, außerdem redigierte er die Zeitschrift für den Tschechischunterricht (Němec 2009: 255-258). Die Parallelen im Bildungsgang der beiden Prager deutschsprachigen Intellektuellen und die Koinzidenz ihrer PurkyněBeschäftigung fordern nachgerade zu einem direkten Vergleich auf. Brisant macht dies noch der Umstand, dass beide in Purkyně eine vorbildhafte Projektionsfigur sahen, die in der damaligen angespannten politischen Lage für den aktuellen Diskurs instrumentalisiert wurde. Lemberg beginnt seinen in der oben erwähnten Zeitschrift publizierten Festaufsatz mit dem Prolog: Purkyně ist ein Symbol für jene Linie des tschechischen Volkes, die, heute völlig außer Acht gelassen, in der tschechischen Volksgeschichte doch immer wieder aufgetaucht ist und für 14 Zwei deutsche Aufsätze, wobei der eine (Urzidil 1937a) eine ergänzte Version des anderen (Urzidil 1937b) ist, der gekürzt und ins Tschechische übersetzt wurde (Urzidil 1937c).
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dieses Volk eine gewisse Tragik enthält, trotzdem aber immer wieder die fruchtbarsten Epochen des tschechischen Geisteslebens heraufführte: die tätige Teilnahme an den geistigen Bewegungen und Auseinandersetzungen des mitteleuropäischen Raumes. Auch darin ist Purkyně ein Symbol, daß bei solcher Einordnung das kleine, aber hochbegabte tschechische Volk für jenen größeren mitteleuropäischen Kulturkreis nicht selten geistig führende Persönlichkeiten gestellt hat. Purkyně war von dieser Art. (Lemberg 1937: 183)
Wie schon von Urzidil wird also auch von Lemberg die außerordentliche Position Purkyněs innerhalb der tschechischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte anerkannt. Doch bei dieser Übereinstimmung bleibt es nicht. Lemberg wie auch Urzidil betonen den Einfluss der deutschen Kultur auf den Gelehrten. Bei Lemberg (1937: 185) heißt es: Mit allen seinen Wurzeln ist Purkyně nämlich ein Angehöriger der deutschen Geisteswelt. Sein öfterer und mannhafter Einsatz für die Rechte seines Volkes, sein Glaube an dessen Zukunft schloß eine Weiterentwicklung des tschechischen Volkes innerhalb des deutschen Kulturkreises, in steter geistiger Auseinandersetzung und gegenseitiger Befruchtung mit dem deutschen Geistesleben nicht aus. Im Gegenteil: Purkyně konnte sich diese Weiterentwicklung kaum anders vorstellen.
Obwohl Urzidil auch Komenský unter den Leitfiguren Purkyněs erwähnt, ist seine Aussage vergleichbar: Fichtesche Philosophie, die Novalis’sche Romantik der „Lehrlinge zu Sais“, die pädagogischen Grundlehren eines Komenský und Pestalozzi bereiteten den Boden, der den jungen Tschechen zu Goethe führte. Diese entscheidende Einwirkung der deutschen Geisteswelt hat Purkyně nie verleugnet, auch nicht als er nach 1849 in Prag als Professor der Physiologie wirkte und seiner nationalen Gesinnung freien Lauf liess. (Urzidil 1937a: 1191)
Purkyně kann buchstäblich als ein hervorragendes Muster für eine gemeinsame deutsch-tschechische Geschichte herangezogen werden (Janko 1998). Mehr als die Hälfte seines aktiven Lebens verbrachte er an der Universität Breslau, wo er die meisten seiner bahnbrechenden Entdeckungen machte. Nach 1850 kam er nach Prag, wo er mit neuem Elan die tschechischen kulturellen, wissenschaftlichen und vor allem politischen Aktivitäten zu unterstützen trachtete (Hykeš 1937). Beide nationale Lager besaßen deshalb Gründe, den Universalgelehrten 1937 anlässlich seines 150. Geburtstags zu feiern. Allerdings bemerkte Lemberg, dass Purkyně deutlich stärker von deutscher Seite geschätzt würde als von tschechischer. Die tschechische Gesellschaft sehe ihn nur als nationalen Märtyrer, seine Wirkung auf die außertschechische Welt sei verhältnismäßig unbekannt, seine nationalpolitische Haltung dem heutigen Tschechen fremd. Lemberg (1937: 184f.) wiederholt: „Mit allen seinen Wurzeln ist Purkyně nämlich ein Angehöriger der deutschen Geisteswelt“, um dann zu resümieren:
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Erst nach Purkyněs Tode erfolgte die Wendung, die die Augen des tschechischen Volkes nach dem Westen Europas richtete, die ihm freilich neue Horizonte aufschloß und die – darüber müssen wir uns klar sein – einem allgemeinen europäischen Abfall von der deutschen geistigen Führung der ersten Jahrhunderthälfte entspricht, die aber statt der erwarteten geistigen Freiheit jenen Eklektizismus heraufbeschwor, der seither das Kennzeichen der tschechischen Kultur geworden ist. (Lemberg 1937: 185)
Lembergs Purkyně erkennt noch die führende Rolle der deutschen Kultur in Mitteleuropa an und legitimiert damit – inzwischen gescheiterte – Mitteleuropa-Projekte wie das Friedrich Naumanns von 1915 (Kořalka 2003). Dem Verlust der hegemonialen Position der Deutschen und/oder dem Scheitern des Naumannschen Projekts trauerte Lemberg offensichtlich nach. Sein Konservatismus ist großdeutsch orientiert und beharrt auf dem Vorrang der deutschen Kultur gegenüber der tschechischen. Im politischen Kontext der damaligen Zeit ist die Ansicht Lembergs durchaus in Einklang mit der nationalsozialistischen Propaganda zu bringen. Im Gegensatz dazu zeichnete Urzidil anhand der Biographie und ausgewählter Schriften Purkyněs ein bohemistisches, vornationales und daher utopisches Modell für das Zusammenleben der beiden Nationen in einem Staat: Die weitestgehende Verwirklichung des Tschechentums erhoffte er sich innerhalb eines landespatriotisch empfundenen Böhmentums, indem beide Völker, Deutsche wie Tschechen, gemeinsam im Sinne der Humanität ein Ganzes darzustellen hätten. (Urzidil 1937a: 1191)
Das böhmische Ganze offenbart sich zunächst schon darin, dass Urzidil am Anfang seines Aufsatzes auch die tschechischen Neuerscheinungen über Purkyně erwähnt und vor allem rekapituliert, wie an das Jubiläum erinnert wurde. Dabei hebt er die gemeinsamen deutsch-tschechischen Aktivitäten hervor. Ein weiterer Unterschied gegenüber dem Aufsatz Lembergs, der wohl bei dem Goetheaner Urzidil kaum überrascht, ist die Aufwertung der wechselseitigen Beziehung zwischen Purkyně und Goethe. Diese sieht Urzidil als gleichwertig, weil nicht bloß Purkyně erste und massgebende Anregungen aus Goethes Erkenntnissen schöpfte, sondern [...] auch Goethe sich durch die Arbeiten des ‚guten und schätzbaren‘ Purkyně neu bestätigt, ja gefördert fühlte. (Urzidil 1937a: 1192)
Obwohl sie beide nicht immer gleicher Meinung gewesen seien, bekunden die gegenseitigen Briefe in der Interpretation Urzidils ein Aufblühen eines gegenseitigen Verhältnisses, dem nur infolge der Alters- und Überlegenheitsdistanz der Charakter einer herzlichen Freundschaft versagt blieb. (Urzidil 1937a: 1192)
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Den einschneidenden Unterschied in der Wahrnehmung Purkyněs, der aktuellen Zeit und letztendlich der Weltanschauung zwischen den beiden deutschsprachigen Pragern im Jahre 1937, verdeutlicht noch eine weitere Tatsache: Urzidil widmet in seinem Text die Aufmerksamkeit ausschließlich Purkyněs aus pädagogischer Sicht interessanter Schrift Austria Polyglotta, die der deutsche Mittelschulprofessor Lemberg in seinem Aufsatz in einer Zeitschrift für die deutschen Sprachlehrer nicht einmal erwähnt. Das ist insofern überraschend, als Urzidil über die 1867 auf Deutsch und Tschechisch zugleich publizierte Schrift schreibt: „[Hier] fordert er [Purkyně] vor allem die gegenseitige Kenntnis der im österreichischen Kaiserstaat gebräuchlichen Sprachen.“ (Urzidil 1973a: 1191)15 Die Broschüre entging jedoch der Aufmerksamkeit der tschechischen Gesellschaft nicht, gerade 1937 und noch mehr 1938 wurde an sie erinnert (Hykeš 1937; Purkyně 1938). In der von Vladimír Klecanda initiierten Reprintausgabe von 1938 heißt es: Z líbezné této knížky, plné všelidské lásky a humanity, zavane na dnešního čtenáře – ohlušeného násilnicky řinčivými projevy z Třetí Říše a ohromeného obludnou a pathologickou lživostí německé propagandy – jakoby dech jiného, krásného, dávno již ztraceného světa. A přece je to neproměnný duch našeho národa, který z ní vyzařuje, duch svobodný a spravedlivý, který stejně tak naplňoval slavné dny naší národní revoluce jako ústavu naší republiky, který je Palackého a Masarykův právě tak jako nás všech a který je i nyní naším spolehlivým vodítkem v zápasu o svobodu naší vlasti. […] Ale duch této knížky je nesmr telný, protože je to projev věčného génia národa Československého. (Klecanda 1938: 71; Üb. von M.N.) [Aus dem anmutigen Büchlein, das voll mit allmenschlicher Liebe und Humanität ist, weht dem heutigen Leser – der durch brutal rasselnde Reden aus dem Dritten Reich taub und durch missgestaltete und pathologische Lügen der deutschen Propaganda erlahmt ist – ein Hauch wie aus einer anderen, schönen, lange schon verlorenen Welt. Und doch ist es ein unveränderlicher Geist unserer Nation, der aus dem Büchlein ausstrahlt, ein freier und gerechter Geist, der ebenso unsere Tage der Nationalrevolution erfüllte wie auch die Verfassung unserer Republik, der Palacký und Masaryk genauso gehört wie uns allen und der auch jetzt eine zuverlässige Stütze im Kampf um die Freiheit unseres Vaterlandes ist. […] Der Geist dieses Buches ist unsterblich, weil er eine Äußerung des ewigen Genius der Tschechoslowakischen [sic] Nation ist.]
Diese von Purkyně in Austria Polyglotta formulierten Ansichten verinnerlicht Urzidil. Das Kapitel über Purkyně, der von Urzidil am Ende seines Aufsatzes vom 1937 als „ein treuer Goetheanist und Hüter des Vermächtnisses klassischer Humanität in Leben und Wissenschaft“ dargestellt wird, endet mit den Worten: 15 Zu Austria Polyglotta s. Němec (2011).
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In seiner engeren böhmischen Heimat wie im weiteren österreichischen Staate befürwortete er [Purkyně] immer den Ausgleich nationaler Gegensätze, das heißt die Verwirklichung des Tschechentums innerhalb eines beide Nationen des Landes umfassenden humanitären Böhmentums. (Urzidil 1981: 460)
Urzidil reflektiert Purkyněs Gedankenwelt nicht nur in der Nachkriegsausgabe von Goethe in Böhmen, sondern sie ist für seine literarische Tätigkeit und vor allem für seinen ‚Hinternationalismus‘ prägend. In seinem Essay Wir standen Spalier, erstmals 1966 veröffentlicht, macht Urzidil den Hass und die vollkommene gegenseitige Lieblosigkeit aller gegenüber allen als Ursache für die gewaltsame Zerschlagung der Habsburger Monarchie verantwortlich (Urzidil 1972). Dies entspricht insofern den Ansichten Purkyněs, als dieser gerade in Austria Polyglotta für eine „Politik der Liebe“ warb, die als Fundament eines fruchtbaren Miteinanders nicht nur das Vielvölkerreich der Habsburger zu erhalten vermöchte (Purkyně 1938: 28f.).
6. Fazit
Urzidils Goethe in Böhmen von 1932 kann keineswegs der zeitgenössischen Tendenz einer Instrumentalisierung Goethes in der deutsch-tschechischen nationalpolitischen Auseinandersetzung zugeordnet werden, jedoch besitzt die erste Ausgabe noch nicht den für das Werk Urzidils typischen völkerverbindenden Ansatz. Der ‚Hinternationalismus‘ Urzidils tritt erst in der Nachkriegsausgabe deutlich hervor und beruht eindeutig auch auf Erfahrungen, die der Autor mit der Gedankenwelt Goethes und Purkyněs machte. Schon die wechselseitige Beziehung der beiden Genies diente Urzidil als ein greifbares Beispiel für ein Leben ohne nationale Zuschreibungen, eine mögliche Distanzierung von völkischen Kategorien. Während Goethe die funktionierende böhmische Welt noch als Ganzes erlebte, wurde der jüngere Purkyně schon mit den desintegrativen Tendenzen konfrontiert. Er konnte sich aber von tschechischen Nationalisten fernhalten und reagierte mit einem betonten Beharren auf traditionellen Werten des Humanismus und der Toleranz. Nationalismus lehnte er in jeglicher Form ab. Im Angesicht der politischen Veränderungen nach 1933, die auch Urzidils Leben tangierten, avancierten die Rückkehr in die Zeit Goethes und das Beharren auf Goethes
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Prinzipien nach Urzidil zu nachahmenswerten Vorbildern auch in einer politischen Dimension. Die Übernahme und Verinnerlichung dieser Grundsätze schon vor dem Ende des Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen in einem Staat begründete Urzidils erst nach dem Krieg ausdrücklich formuliertes ‚hinternationales‘ Credo. Sie bewirkten auch eine Kursänderung in Goethe in Böhmen. Das Werk sollte nun zum Paradigma deutsch-tschechischer Zusammenarbeit werden, wobei sich Urzidil gerade zwischen 1933-1939 mit tschechischen Germanisten intensiv austauschte (Trapp 1999: 49f.). Damit wurde er im Gegenteil zu vielen anderen seiner Landesleute zu einer Ausnahmeerscheinung. Ihm gelang es, sich auf mehrfache Weise zu emanzipieren. Zum einen von den in der Monarchie entstandenen, durch den Einfluss der Umgebung und durch die Erziehung weiter verfestigten Denkmustern. Zum anderen führte dies zum Bruch mit den vielen Schülern seines verstorbenen akademischen Lehrers, die sich in den 1930er Jahren national noch radikalisierten und in der Regel den Weg in den Nationalsozialismus fanden. Die bitteren Erfahrungen nach 1938 bestätigten Urzidils durch die Analyse von Purkyněs und Goethes Welt gewonnenen Überzeugungen, er wurde „zum großen Troubadour jenes für immer versunkenen Prags.“ (Brod 1966: 170f.)
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Jonathan Schüz
Der „Wunsch nach Präsenz“ in Johannes Urzidils Goethe in Böhmen und in seinen Erzählungen der Erinnerung
1. Einleitung
Johannes Urzidil wird nicht ausschließlich, aber doch über weite Strecken als ein ‚Erzähler der Erinnerung‘ wahrgenommen, der aus dem fernen amerikanischen Exil mehr oder weniger melancholisch-nostalgisch über seine räumlich und zeitlich entfernte böhmische Heimat schreibt. Diese Charakterisierung ist jedoch grob vereinfachend. Zum einen reduziert sie das umfangreiche Schaffen Urzidils auf lediglich einen (zugegeben zentralen) Ausschnitt, zum anderen verstellt sie in harmonisierender und idyllisierender Weise einen Zugriff auf eben diese Texte, der sie als literarische Texte in ihrer narrativen Komplexität ernst nähme. Es ist illusorisch anzunehmen, dass gerade eine solche Erinnerungsliteratur1 auf die Ebene eines „pränarrativen vergangenen Geschehens“ (Erll 2005: 264) zugreifen bzw. die Vergangenheit mimetisch abbilden kann.2 Gerade das Erzählwerk Urzidils reflektiert diese Brüche in vielfältiger Weise. Gleichzeitig lebt diese Literatur jedoch spürbar von einer gewissen Form der Referenz, von der noch zu sprechen sein wird. Der Begriff der ‚Präsenz‘ wird 1 Die von mir im Titel gewählte Bezeichnung „Erzählungen der Erinnerung“ ist dabei als provisorisches Konstrukt zu sehen, das sich eben auf die späteren, im weitesten Sinne „böhmisch“ konnotierten und häufig stark autobiographisch gefärbten Texte bezieht (wobei auch hier nur eine Auswahl der Texte betrachtet werden kann). Eine exakte literaturwissenschaftliche Tiefenschärfe wird dabei nicht angestrebt, grundlegend ist eher die morphologische Überlegung, dass ein ‚Erzähler der Erinnerung‘ eben ‚Erzählungen der Erinnerung‘ produziert. 2 Wobei, wie auch Wolfgang Braungart (1996: 149) betont, diese ontologische Kluft zwischen Literatur und Realität nicht zuletzt in der jeweiligen Rezeptionshaltung stets gefährdet erscheint.
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an dieser Stelle herangezogen, weil versucht werden soll, diese Texte in einem größeren historiographischen Kontext zu betrachten, der auch Urzidils literaturgeschichtliches Werk Goethe in Böhmen mit berücksichtigt und dabei helfen kann, verschiedene Parallelen aufzuzeigen. Dabei orientiere ich mich bei der Begriffsverwendung an Hans Ulrich Gumbrecht, der diese Präsenz als einen grundlegenden, wenn auch „verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten“ versteht, so der Untertitel von Die Macht der Philologie (Gumbrecht 2003: 3). Wie er an anderer Stelle betont, wird diese „Möglichkeit einer auf Präsenz basierenden Beziehung zur Welt“ (Gumbrecht 2004: 12) in den Wissenschaften häufig allzu schnell preisgegeben. Dabei soll hier nicht den Detailfragen seiner Präsenz diesseits der Hermeneutik nachgegangen werden, sondern sehr viel grundlegender der Frage, inwieweit der Komplex der Präsenz einen Gesichtspunkt darstellen kann, der verschiedene, wenn auch sicherlich nicht alle Aspekte des Schaffens Urzidils miteinander verbindet.
2. Das Erzählen von Erinnerung
2.1. Historiographische Metafiktion Johannes Sachslehners (1991: 498) Artikel in Walther Killys Lexikon der Literatur beschreibt Urzidil als einen Autor der „literarischen Erinnerungsarbeit“, der trotz bedeutender Bucherfolge in den 50er und 60er Jahren nicht mehr aus dem Exil zurückkehrt sei.3 Dabei spielt es für die vorliegende Betrachtung zunächst keine Rolle, wie sehr diese literarische Erinnerungsarbeit im Falle Urzidils autobiographisch zu lesen ist. Die „Weltbild-Maschine“ der Literatur (Fliedl 2005: 134) arbeitet im autobiographischen Bereich wie auch generell im historiographischen Bereich mit denselben Modi der Referenz, sie verweist auf
3 Wie bereits angedeutet deckt diese Schwerpunktsetzung bei weitem nicht alle Aspekte ab, sie entspricht jedoch dem Fokus der vorliegenden Betrachtung.
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die Sinnhorizonte des gegenwärtigen Kollektivgedächtnisses – und damit auf eine ‚Wirklichkeit‘, die [...] hochgradig symbolisch verdichtet, narrativ strukturiert und durch Gattungsmuster überformt ist. (Erll 2005: 264)
Der spezifisch literarische Charakter dieser Erinnerungsarbeit lässt sich dabei an verschiedenen Strukturmomenten ablesen, die Linda Hutcheon aus postmoderner Sicht als zentrale Elemente ihrer Definition von ‚Historiographischer Metafiktion‘ nennt, ohne dass hier jedoch Urzidil einer bestimmten Epoche zugeschlagen werden soll.4 Zunächst besteht auch aus postmoderner Sicht kein Zweifel daran, dass die Vergangenheit tatsächlich existiert, sie ist jedoch nur noch indirekt erfahrbar: The past really did exist, but we can only know it today through its textual traces, its often complex and indirect representations in the present. (Hutcheon 2002: 75)
Es fehlt somit die Basis für eine eindeutige und unverstellte Repräsentation, sowohl in fiktionalen wie auch in historiographischen Texten, „what fades away with this kind of contesting is any sure ground upon which to base representation and narration, in either historiography or fiction.“ (Hutcheon 1988: 92). Die Frage nach historischem Wissen und historischen Fakten verschiebt sich angesichts dieser Überlegungen hin zu der Frage nach den möglichen Techniken einer Repräsentation: „Knowing the past becomes a question of representing, that is, of constructing and interpreting, not of objective recording.“ (Hutcheon 2002: 70) Historiographische Metafiktion reagiert auf diese Problemstellungen, indem die Repräsentationstechniken in den Texten selbst als selbstreflexiver Gestus thematisiert werden, ohne dass dabei jedoch der Anspruch auf die Realität der Vergangenheit aufgegeben wird: By this [historiographic metafiction] I mean those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexive and yet paradoxically also laim claims to historical events and personages. (Hutcheon 1988: 5)
4 Ich konzentriere mich in meiner Betrachtung auf die eher narratologischen Gesichtspunkte der Referenz auf die Vergangenheit, und lasse Urzidils Positionierung im divergierenden Feld verschiedener Historikerschulen außen vor. S. zu diesem Gesichtspunkt den Beitrag von Isabelle Ruiz im vorliegenden Band.
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2.2. Retrophotographien von Realitäten In diesem, letzten Endes auf Hayden White zurückgehenden Begriffsverständnis, ist auch die „literarische Erinnerungsarbeit“ Urzidils in vielen Bereichen historiographische Metafiktion. Sie bildet vergangene Ereignisse nicht schlicht ab, sondern erzählt und verschriftlicht sie, kleidet sie also in habitualisierte narrative Muster ein und thematisiert diesen Vorgang explizit wie auch implizit. So wird z. B. der Erzählung Die letzte Tombola ein Absatz vorangestellt, der gewissermaßen als Gebrauchsanweisung für das Verstehen des Textes fungiert: „Vorgänge, Charaktere und Empfindungen der nachfolgenden Erzählung sind wahrheitsgetreue Retrophotographien von Realitäten“ (Urzidil 1971a: 9). Während in diesem Zitat das Adjektiv „wahrheitsgetreu“ auf den ersten Blick die Faktizität der Erzählung zu betonen scheint, wird diese Aussage jedoch sofort unterminiert, sowohl durch den Plural der Realitäten, der eben nicht auf eine tatsächliche Sachlage referiert, sondern eher die Kontingenz der Darstellung von Vergangenheit betont, wie auch durch den komplexen Begriff der „Retrophotographien“. Eine Reprofotographie (mit ‚p‘) ist die fotomechanische Wiedergabe einer bereits vorliegenden, zweidimensionalen Vorlage. Sie ist damit in vielen Fällen weniger als Foto eines realen Gegenstandes interessant, sondern vielmehr als Verdoppelung eines Gegenstandes, der seinerseits bereits eine Darstellung ist, sei es ein Bild oder ein Text. Indem die Vorsilbe hier von ‚repro-‘ zu ‚retro-‘ geändert wird, überträgt sich dieser Mechanismus auf die Darstellung der Vergangenheit: Die Erzählung referiert auf kein „pränarratives vergangenes Geschehen“ (Erll 2005: 264), sondern auf die Bilder und Erzählungen, die als Repräsentationsformen dieser Vergangenheit zur Verfügung stehen, die jedoch bereits eine symbolische Überarbeitung erfahren haben. Die narrative Darstellung dieser Elemente einer kollektiven Memoria kann dabei durchaus wahrheitsgetreu sein, sie kann sich jedoch nur noch indirekt und gebrochen auf eine dahinterstehende Realität beziehen.5 Metafiktional wird diese Literatur, indem sie diese verstellte Referenz nicht nur explizit betont, sondern auch implizit in ihren Darstellungsmodi thematisiert. Anja Kreuzer betont, dass bei Urzidil auf weiten Strecken ein unzuverlässiger Erzähler hinter den Geschichten steht (Kreuzer 2006: 216), wie es in 5 S. dazu auch die Erörterung des Begriffs von Vladimír Musil [= Miloš Minařík]: „‚Übersetzen‘ wir [diesen Begriff] frei als ‚Bilderzeugung bei unbeschränkten Wanderungen in den Gedächtnis- und Zeiträumen‘, so führt er direkt bis zur Schwelle der magischen Welt des Autors. Hier ist alles wie in der Wirklichkeit und trotzdem ein wenig anders.“ (Musil 1999: 235)
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der Erzählung Weißenstein Karl aus dem Prager Triptychon exemplifiziert werden kann. Dieselbe narrative Funktion hat dabei auch die häufige Verwendung der Kinderperspektive, aus der in vielen Erzählungen die Ereignisse geschildert werden, seien es verschiedene stärker autobiographisch gefärbte Texte, oder beispielsweise auch die Sicht des Kindes Adalbert Stifter, aus der zu Beginn der Erzählung Der Trauermantel die böhmisch-mährisch-österreichische Geschichte wie auch aktuelle politische Gegebenheiten referiert werden (Urzidil 1962c: 153-156). Aus dieser Perspektive erscheinen persönliche Eindrücke und historische Ereignisse, die kleine und die große Geschichte, gleichberechtigt, durch die in gewissem Sinn naiv markierte Erzählinstanz ironisch gebrochen, kaum verifizierbar und immer nur mittelbar dargestellt. Hutcheon (2002: 83) beschreibt einen Historiker als Leser von Fragmenten, der ähnlich wie ein literarischer Leser die Leerstellen in den Texten selbst füllen muss, um seine jeweilige Geschichte der Ereignisse zu konstruieren. Diese fragmentarische Darstellung des Geschehens ergibt sich bei Urzidil fast automatisch über die Kinderperspektive. Hier erscheinen die Darstellungsmittel wie auch der kognitive Horizont begrenzt, eben dadurch entstehen jedoch Leerstellen, die durch ihre interpretative Füllung sehr viel stärker wirken können, wie z. B. anhand der Schilderung des Todes der Mutter in Von Odkolek zu Odradek deutlich wird. „Ich kann nur erzählen, was ich sah“, vermerkt der Erzähler. Dies ist zum einen der Unfalltod der Nachbarin Frau Holy im Treppenhaus, zum anderen die Tatsache, dass in der darauffolgenden Nacht „alle im Lampenlicht im Zimmer der Mutter herumstanden und weinten. Meine vier Halbbrüder weinten, Elsa weinte, Faninka weinte, sogar Vater weinte.“ (Urzidil 1971b: 228) Der eigentliche Tod erscheint als Leerstelle, die durch randständige Details flankiert wird. Dies ist der Nachbar Holy, der den Vater am nächsten Morgen mit den Worten „So. Jetzt hat es uns beide erwischt,“ begrüßt, die drei Männer mit einer Leiter am nächsten Tag (für die sich der Erzähler jedoch nicht interessiert), sowie die Bestellung beim Bäcker Odkolek: „Bei uns bleibt es dasselbe, denn Mutter hat ja kein Brot gegessen.“ Der Erzähler ergänzt dazu: „Bei uns bleibt es dasselbe. Mutter hatte immer nur Karlsbader Wasserzwieback gegessen.“ und fährt fort: „Ich spielte wieder Ball mit Vendulka“ (Urzidil 1971b: 228f.). Der Leser erfährt nichts über diese enge Perspektive hinaus, aber doch genug, um die nicht erwähnten Dinge, hier den Tod der Mutter, zu ergänzen. Ein narratives Vorgehen, das sich dezidiert nur auf Darstellungen der Vergangenheit stützt oder sich selbst immer wieder ironisch bricht, kann eine vermeintliche Wirklichkeit hinter den Texten nicht erreichen. Sie ist bei Urzidil
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jedoch auch aus anthropologischer Sicht nicht notwendig, wie in Die Rippe der Großmutter erklärt wird: Mit Wirklichkeiten lebt man ja nicht, auch nicht mit der eigenen, sondern doch nur mit Schauformen und Vorstellungsbildern, an deren Kreuzungspunkt man die Erscheinungen mit stereoskopischer Optik wahrnimmt. So bleiben sie völlige Illusionen, noch dazu mit den skurrilsten Verkürzungen. (Urzidil 1970b: 145)
Ähnlich wie bei der Retrophotographie dient auch hier der Verweis auf die Optik als Metapher für die Möglichkeit des Erkennens vergangener Erscheinungen und Ereignisse. Das einzige, auf was man zurückgreifen kann, sind Schauformen oder Vorstellungsbilder, also bereits kognitiv und symbolisch verdichtete Darstellungen, die jedoch keine verlässliche Grundlage bieten können und zwangsläufig zu Verkürzungen oder Skurrilitäten führen. Im folgenden Abschnitt soll daher exemplarisch eine dieser skurrilen Darstellungskonventionen und ihre Funktion für die Produktion von Präsenz näher betrachtet werden.
2.3. Die Renitenz der Dinge Urzidil bezeichnet sich selbst bereits in einem Text von 1936 als Pedant und attestiert sich einen geradezu pathologischen Zwang zur Archivierung: Denn warum will einer nichts vergessen oder nichts verlieren, warum alles präsent halten, stets bereit sein und sich jedes vergangenen Details entsinnen? (Urzidil 1972: 20)
Dieses Ansammeln von Dingen und Daten benötigt ein genaues Archivierungssystem: Alles Vergangene ist festgehalten und alle bevorstehenden Arbeiten [...]. Deshalb hat mein Arbeitstisch drei Meter in der Länge und ist von einer Kavalkade kleiner Tischchen umgeben. (Urzidil 1972: 16)
Das Präsenthalten von Vergangenem lässt sich im Arbeitszimmer durch Briefbeschwerer oder eine Privatkartothek bewältigen (Urzidil 1972: 16f.). Es hinterlässt seine Spuren jedoch auch im erzählerischen Werk Urzidils, wo es sich in einer sehr konkreten Form zeigt, anhand einer Fülle an manifesten Dingen, die, wie Wolfgang Müller-Funk (1999: 40) schreibt, ein Eigenleben entfalten. Die Vergangenheit spielt in die Gegenwart hinein, sie manifestiert sich anhand verschiedener Gegenstände in einer überzeitlichen Dingform und
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zeigt so, dass sich hinter den vielfältigen Brechungen und Verzerrungen doch ein fester Grund abzuzeichnen scheint. Dies kann in skurrilen, fast schon fetischartigen Formen geschehen, z. B. als Rippe der Großmutter, die sowohl aus dem tatsächlichen Grab wie auch aus dem metaphorischen Grab eines böhmisch-österreichischen Archivs wiederaufersteht, und die, als Halsschmuck und Talisman des Erzählers, ihn sicher durch die politischen Wirren seiner Zeit bringt (Urzidil 1970b). Das Prager Haus Zu den neun Teufeln bewahrt über die Jahrhunderte hinweg die Apparaturen einer faustischen Alchemie, die als gegenständliche Zeugen von der Vergangenheit erzählen können. Die eiserne Kellertür, als Tor zur Unterwelt, verschluckt Personen, gibt jedoch einen Gegenstand wieder von sich, ein gerahmtes Bild (Urzidil 1962a; dazu Schneider 1998).6 Im Trauermantel lässt ein bunter Stein, den Stifter als Kind aufsammelt, seine spätere Karriere als Schriftsteller erahnen (Urzidil 1962c: 153), beim alternden Václav Hollar werden die „tschechischen Backenknochen“ zunehmend sichtbar (Urzidil 1962b: 133), um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das Brot des Bäckers Odkolek, das in der Erzählung einen Fixpunkt im Heranwachsen des Protagonisten darstellt, hat seine Funktion dabei bis in die heutige Zeit behalten, es wird in Prag nach wie vor produziert. Besonders plastisch wird diese Persistenz der Gegenstände in der Herzogin von Albanera. Hier begrüßt der Bankbeamte und etymologische Narr Wenzel Schaschek nach einem Arbeitstag zunächst jeden einzelnen Gegenstand in seinem Zimmer, bis sich diese zu einem „dorischen“ Gesang der Dinge aufschwingen, und dabei besonders ihre physische Präsenz betonen: Wir, die wartenden, immer getreuen, unbestechlichen Dinge. Wir von Holz oder Eisen, Stein oder Bein, schattenwerfenden, von geschmolzenem Kristall lichtdurchlässigen, immer dienenden Dinge. (Urzidil 1970a: 77)
Für den Protagonisten Schaschek dienen die Dinge, wie auch sein nur ausnahmsweise abgeänderter Speiseplan, zur Orientierung im Tagesablauf und zur Selbstvergewisserung. Im größeren Kontext des erzählerischen Werks Urzidils moderieren sie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, ohne dass diese beiden Ebenen direkt in Kontakt treten können. Sie produzieren somit die Präsenz der Vergangenheit, die, obwohl scheinbar verloren, immer wieder in die Gegenwart hineinspielt. In der Erzählung Die Rippe der Großmutter werden die Gründe dieser „Anhänglichkeit des Menschen an die Dinge und die der Anhänglichkeit der Dinge an den Menschen“ bedacht: „Vielleicht weil der Mensch sich selbst in ihnen nicht zerstören will und weil die Dinge den Lebensstoff der Treue in sich tragen.“ (Urzidil 1970b: 145) 6 S. a. den Beitrag von Myriam Richter und Hans-Harald Müller im vorliegenden Band.
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Dass dieses Moderieren nicht unbedingt als idyllischer und friedlicher Prozess ablaufen muss, dass die Vergangenheit durchaus bedrohlich sein kann und die Dinge auch als verzerrte, metonymische Wiedergänger ihrer früheren Bedeutung erscheinen, wird an vielen Stellen evident. So zerbricht Helmuth, der beinahe in Buddenbrook’scher Manier dekadente letzte Nachfahre der Familie Wellner, wenn man ihn überhaupt mitzählen wollte (Urzidil 1997b: 31), an der Vergangenheit seiner Familie, deren Präsenz sein Vater über eine Vielzahl von Dokumenten und intensiven Recherchen zementiert. Helmuth erhält kein Grab, er verschwindet. Erwähnt wird lediglich die Moldau, die als „Schicksalsstrom“ der böhmischen Heimat auch aus historischer Sicht in ihrer Tiefe vieles verbirgt (Urzidil 1997b: 58f.) und so den Freitod Helmuths zumindest andeutet. Generell fällt es in den Erzählungen Urzidils schwer, Protagonisten zu begraben. Auf dem Friedhof in Michelsberg in Die Frau mit den Handschuhen werden die Toten „mit Steinen beschwert“ oder, wenn das Geld nicht dazu reicht, „mit gußeisernen oder gar bloß einem hölzernen Kreuz gesichert und gebändigt“ (Urzidil 1971c: 257). Dennoch werden die Lebenden belästigt, wenn z. B. der Hilfslehrer Johann, eingekleidet in den Anzug seines verstorbenen Vorgängers, in seiner Kammer, die nur durch eine Bretterwand vom Leichenhaus abgetrennt ist, wegen des Geruchs „nach Weihrauch und Salmiak“ (Urzidil 1971c: 250f.) nicht so recht schlafen kann: „Wenn man in der Nacht nur durch eine zolldicke Bretterwand von einem Toten getrennt ist, schläft dieser tiefer als man selbst.“ (Urzidil 1971c: 254) Da sein Grab wegen des Platzregens vollgelaufen ist, kann der Selbstmörder Pernold in Die letzte Tombola nur mit Mühe (und eigentlich zunächst auch nur provisorisch) beerdigt werden. Der Sarg wird letzten Endes in die Grube befördert und von den Umstehenden „mit schlammiger Erde, Lehmklumpen, Kieseln, Tonscherben, kurz mit allem gerade Erreichbaren“ überschaufelt, damit er nicht oben schwimmt (Urzidil 1971a: 38). Doch auch selbst dann ist das Verschwinden des Leichnams nicht gewährleistet, wie der Lehrer Lukas erläutert: „Die Tonerde [des Wolschaner Friedhofs] enthält verschiedene Salze und Säuren, die der Präservation der dortselbst Bestatteten außerordentlich zuträglich sind“, wie z. B. auch die der Mutter des Protagonisten (wie auch des realen Urzidil) (Urzidil 1971a: 39). Das Fazit des Erzählers daraus findet sich bereits früher im Text: „Jedenfalls also war das Totsein auch nicht für ewig. Das Lebendigsein aber ebenfalls nicht. Nur ein Trottel blieb man für alle Fälle“ (Urzidil 1971a: 33). Diese Szenen sprechen für einen gewissen Hang zum Grotesken und Morbiden, der sich bei Urzidil subkutan an vielen Stellen nachverfolgen lässt. Es lässt sich jedoch ein Bogen zu einem allgemei-
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neren narrativen Programm spannen. Die Wiedergänger aus dem Grab sind prinzipiell frei für eine neue Belegung mit Sinn.7 So ist der bei der Bestattung der Tante ausgegrabene Schädel der Großmutter nicht Anlass für familiäres Andenken oder für ein Innehalten im Sinne des Memento mori, sondern für sehr viel pragmatischere Überlegungen: ‚Hier haben wir den Schädel, bitte.‘ Dieser bot sich als dunkelbrauner Klumpen, daran Lehmmassen hafteten, nach deren Beseitigung er sich als unterkieferlos und mit grauschmutzigen Haaren am Hinterkopf erwies. Der Vater betrachtete ihn mit Bewegung, ich mit Neugierde. ‚Siehst du, Hansel, im Oberkiefer stecken noch sämtliche Zähne. Nimm dir ein Beispiel. Sie wurde sechsundachtzig.‘ (Urzidil 1970b: 119)
Die auf den ersten Blick etwas ungelenken Reflexivkonstruktionen betonen dabei, dass der Schädel hier eben in einer Dingform vorliegt, die zunächst noch nicht vom Betrachter mit Sinn überzogen wird. Zuerst ‚bietet‘ er sich als Lehmklumpen, bei näherer Betrachtung ‚erweisen‘ sich dann verschiedene Charakteristiken. Erst in einem dritten Schritt, nach der Betrachtung, löst er eine Reflexion beim Betrachter aus, die den Gegenstand aus der Vergangenheit mit einem Sinn für die Gegenwart verknüpft, auch wenn dieser Sinn wie im vorliegenden Beispiel recht banal erscheint und als Stilbruch daherkommt. Nicht nur derartige Wiedergänger, auch Dinge im Allgemeinen können mit Sinn überzogen werden: „Was bedeutet ‚Andenken‘? Anhand eines Dinges zu gedenken. Das Ding aber ist vonnöten, denn man kann ja nicht immerzu denken.“ (Urzidil 1970b: 14f.) Die Dinge (es muss dabei nicht immer um menschliche Überreste gehen) stellen gewissermaßen ein potentielles und überzeitliches Archiv an möglichen Denkanstößen dar, die dann in einem konkreten Akt der Betrachtung aktualisiert werden können, wobei sich das Denken und die Assoziationen, die sich anbieten, jeweils frei bewegen können. Diese Freiheit ist jedoch auch problematisch, da sich aus historiographischer Sicht Ungenauigkeiten bei der Produktion von Präsenz einschleichen, die eine genaue Reproduktion unmöglich machen. So wird z. B. am Ende der Erzählung Von Odkolek zu Odradek ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Dingen, Urzidils genau recherchiertem und präsentem Prager Bäcker und Kafkas bizarr geformtem und ontologisch wie lokal unbehaustem Wesen 7 In gewisser Weise widerfährt dies auch Kafka, dessen Beerdigung auf dem Friedhof von Strašnice Urzidil folgendermaßen kommentiert: „Daß Kafka nun hier beheimatet werden sollte, war seltsam und unglaubwürdig, wußten wir doch um sein stärkeres Dasein (hic et ubique) und daß er uns in gewandelten Gestalten immerzu unerwartet begegnen würde; je näher wir dem Totenacker kamen, um so mehr verließ uns das Gefühl der Endgültigkeit.“ (Urzidil 1965b: 78) S. für eine dieser unerwarteten Begegnungen die Erzählung Kafkas Flucht (Urzidil 1964).
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Odradek in seinem Text Die Sorge des Hausvaters, postuliert. Sofern man nicht bedenke, dass sich Odradek „im Gleichklang“ zu Odkolek bildet (der Text geht hier davon aus, dass sich der Name Odradek auf Odkolek rückführen lässt), ist dieser Begriff frei belegbar und „etwas Absolutes“, er wird zum „Joker“ und kann „für jeden anderen Wert eingesetzt werden“ (Urzidil 1971b: 237), er hat lediglich einen „unbestimmten Wohnsitz“ (Kafka 1963: 171) und damit keinen exakten historischen Referenzpunkt mehr.8 An dieser Stelle korrespondiert der Begriff von Präsenz mit seiner Bedeutung bei Gumbrecht. Die Formulierung der „Produktion von Präsenz“ wird bei ihm zurückgeführt auf das lateinische „producere“, „das sich auf einen Akt bezieht, bei dem ein Gegenstand im Raum „vor-geführt“ wird.“ Diese „in ihrer „Präsenz“ verfügbaren Objekte werden als „Dinge dieser Welt“ bezeichnet, wobei, wie auch bei Urzidil, eine mögliche Sinnzuschreibung erst in einem zweiten Schritt geschieht (bzw. geschehen kann) (Gumbrecht 2004: 11).9
3. Goethe in Böhmen
3.1. Der Wunsch nach Präsenz Der Zusammenhang der bisherigen Ausführungen mit Urzidils Goethe in Böhmen zeichnet sich dabei deutlich ab, wenn man Gumbrechts Ansicht folgt, dass auch die philologischen Tätigkeiten von Wünschen nach Präsenz geprägt sind und sie hervorbringen, verstanden als „Wünsche nach einer physischen und 8 Dies zeigt sich beispielsweise bei Dorothee Kimmich, die, anders als Urzidil, nicht versucht, Kafkas Odradek etymologisch einzufangen. Damit ist es bei ihr außerhalb der Ordnung von Menschen und Dingen positioniert: „Der wahre Unhold ist ein lebendiges Ding ohne festen Wohnsitz.“ (Kimmich 2011: 25) 9 Es fehlt hier der Raum, um gründlicher auf die hermeneutischen Überlegungen einzugehen, die Gumbrecht mit diesem Begriff verbindet. Es ist natürlich zu überlegen, wie eine solche sinnfreie Präsentation der Dinge vonstatten gehen könnte. Auch Gumbrechts Paradebeispiel aus Die Macht der Philologie, der philologisch produzierte Text, erweist sich bei genauerer Betrachtung als sehr viel weniger präsent, als es auf den ersten Blick scheinen mag; s. zu einer Kritik an diesem Modell Alt (2007: 13f.).
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räumlich vermittelten Beziehung zu den Dingen in der Welt.“ (Gumbrecht 2003: 17) Dabei definiert er „Philologie“ zunächst als Editionsphilologie, in „Bezug auf eine Konfiguration wissenschaftlicher Fertigkeiten, die der historischen Textpflege dienlich sein sollen“ (Gumbrecht 2003: 11), wobei sich ein Großteil seiner Ausführungen auf ein weiter gefasstes Feld philologischer Arbeit, verstanden als Literaturwissenschaft und insbesondere Literaturgeschichte, übertragen lässt. Während Editionsphilologen in der Regel einen Text zu ihrem „Objekt der Begierde“ machen (Gumbrecht 2003: 102), richtet sich das Interesse in Goethe in Böhmen (GiB)10 auf die historische Person Goethes. Gemeinsam ist dabei (wie prinzipiell auch in den angesprochenen Erzählungen) der Versuch, die Präsenz eines historischen Objekts zu ‚produzieren‘ bzw. zu steigern. In GiB geschieht dies z. B. durch eine größtmögliche, am Copia-Konzept der Rhetorik orientierten Fülle von Informationen, die sich in Gumbrechts Philologie in der prinzipiell unerschöpflichen Menge an möglichen Kommentaren zu einem Text spiegelt (Gumbrecht 2003: 18), wobei eine solche groß angelegte Zu- und Einordnung von Daten auch Urzidils Definition von Goethe als „Riesengenius der Pedanterie“ (Urzidil 1972: 19) angemessen erscheint. Wie es in GiB sehr schnell evident wird, führt diese Strategie dazu, dass das Objekt (wenn es kurzzeitig erlaubt ist, Goethe als ein solches zu bezeichnen) durch seine Historisierung „sakralisiert“ wird: Historisierung bedeutet Umwandlung von Gegenständen der Vergangenheit in sakrale Objekte, also in Dinge, die Distanz herstellen und zugleich den Wunsch nach Berührung auslösen. (Gumbrecht 2003: 18)
Der Begriff der „Sakralisierung“ mag hier in gewisser Weise missverständlich sein, er bezieht sich in erster Linie jedoch darauf, dass derartige Objekte einen bestimmten „Rahmen der Inszenierung und Einrüstung“ benötigen, sie werden also von Spezialisten zu Sakralobjekten gemacht, da „es keine ‚ursprünglich‘ oder ‚von Natur aus‘ heiligen Gegenstände gibt.“ (Gumbrecht 2003: 103). Durch die Historisierung Goethes in GiB, also durch seine genaue zeitliche und räumliche Verortung, wird eine solche Sakralisierung im Sinne Gumbrechts vorangetrieben. Goethe wird damit nicht im religiösen Sinn geheiligt (auch wenn die Goethe-Verehrung manchmal derartige Züge 10 Die verwendete Textgrundlage ist die nochmals überarbeitete und erweiterte zweite Auflage von 1965 (nach der gegenüber 1932 stark überarbeiteten und ausgebauten Neuausgabe von 1962) als „Ausgabe letzter Hand“. Zur Entstehungsgeschichte von GiB s. Trapp (2000; 2005); zum Vergleich der Ausgaben von 1932 und 1962/1965 s. den Beitrag von Mirek Němec im vorliegenden Band; zur Erstausgabe s. außerdem den Beitrag von Václav Petrbok, zur Neuausgabe die Beiträge von Kurt F. Strasser und Klaus Weissenberger.
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zu haben scheint), sondern es werden die genannten zwei gegenläufigen Dynamiken erzeugt. Zum einen wird eine wissenschaftliche Distanz aufgebaut, zugleich jedoch ein Wunsch nach einer unverstellten Präsenz erzeugt, indem die Wanderrouten und Spuren Goethes in Böhmen minutiös nachgezeichnet und dadurch vermeintlich greif- und erfahrbar werden. Es ist hier freilich zu beachten, dass GiB aus einer strengen Klassifikation als wissenschaftliches, literaturhistorisches oder schlicht archivarisches Werk immer wieder ausschert, wie bereits 1963 Peter Demetz angesichts der zweiten Auflage von 1962 schrieb: Zu unserer Freude geht Urzidil als geborener Epiker zu Werke. Wer aus der Welt seiner böhmischen Erzählungen herkommt, wird die Einheit der Welten spüren. Hier wie dort Fülle, Dichte und Körperlichkeit; ein Spiel mit Leitmotiven; die gelegentliche ironische Distanz zum Gegenstand [...]; eine körnige Sprache, die aus der heutigen Literaturwissenschaft leider verschwunden ist (Demetz 1963: 198).11
In GiB nähern sich die literarischen und literaturwissenschaftlichen bzw. -historischen Darstellungsmodi an. Im Hinblick auf die Produktionsstrategien von Präsenz lässt sich der Text jedoch von den angesprochenen Erzählungen insofern abgrenzen, als dass es sich als nicht-fiktiv versteht. Um mit Iser (1991: 19-23) zu sprechen: Er fingiert seine Inhalte nicht bewusst. Ich möchte im Folgenden die Strategien dieser Präsenzproduktion im Text aus heuristischen Gründen etwas vereinfachend zwei komplementären Strategien zuordnen (die sich freilich nicht derart klar voneinander abgrenzen lassen wie hier zunächst postuliert), zum einen der ‚Bohemisierung Goethes‘, und zum anderen der ‚Goethisierung Böhmens.‘
3.2. Die ‚Bohemisierung Goethes‘ Die Charakterisierung Goethes geschieht in GiB nicht nur über das bekannte Klischee des Originalgenies. Natürlich liegt der Schwerpunkt des Textes auf den vielfältigen intellektuellen und künstlerischen Aspekten, die Goethe mit Böhmen verbinden, es macht jedoch gerade seinen Reiz aus, dass darin 11 Diese Mischung betonte Demetz auch in einer Rezension zu Urzidils Essay Die Tschechen und Slowaken (1960): „Man hat sein Vergnügen daran, wie der Epiker nicht selten den Historiker überwältigt, wie sich eine feine Ironie in den bewußt gehandhabten Chronikenstil mischt“ (Demetz 1961: 196).
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auch die menschlich-banalen Attribute in sehr unterhaltsamer Weise erwähnt werden. Goethe, wie auch viele andere Charaktere Urzidils, ist über weite Strecken schlicht mit Essen und Trinken beschäftigt: „In den böhmischen Bädern speiste man vortrefflich, und es ist sicher, daß Goethe auch wegen der guten Küche gerne dahin ging“ (Urzidil 1965: 268).12 Gerade angesichts von Goethes Beschwerden, die eher eine Diät verlangen, beeindruckt sein Speiseplan, er umfasst neben leichten Gemüsen, Früchten, Geflügel und Fischen, was so weit in Ordnung wäre, auch sehr massive böhmische Gerichte wie Rindfleisch mit Sardellensauce, Rindszunge mit polnischer [sic!] Sauce, Wildbret mit Pilzen; der Semmelknödel, das böhmische Nationalgericht, zuweilen auch mit dem Kartoffelknödel oder dem Germ- beziehungsweise Hefeknödel abwechselnd, lief als reguläre Beilage fast jeden Fleischgangs. (Urzidil 1965: 268)
Selbst das tiefe „Herzleid“, das Goethe 1823 wegen Ulrike von Levetzow plagt, kann über den kulinarischen Bereich, durch die Lektüre des Kochbuchs Die bayrische Köchin in Böhmen, gemildert werden (Urzidil 1965: 273). Die Bewirtung auf einem Ausflug nach Bilin im Jahr 1810 schlägt mit beeindruckenden 93 Gulden und 27 Kreuzern zu Buche, wobei hier noch drei Krüge Wein mit auf den Heimweg genommen wurden (Urzidil 1965: 270). Eben der Wein spielt eine zentrale Rolle, so betrinkt sich Goethe nach eigener Aussage am 27. August 1818 „umsonst“ in der Meinung, es wäre bereits der 28. und man habe seinen Geburtstag vergessen (Urzidil 1965: 272). Aus medizinischer Sicht sehr viel sinnvoller erscheint hingegen der Verweis, dass Goethe neben dem Glühwein auch den „Gespritzen“ erfunden haben könnte, eine Mischung von Wein und Mineralwasser, „besonders das des nahe bei Karlsbad entspringenden Mineralquells von Gießhübel an der Eger“ (Urzidil 1965: 272); generell gehört er „zu den besten Kunden des böhmischen Mineralwasserversands“, das er sich auch nach Weimar liefern lässt (Urzidil 1965: 274). Die gegensätzliche Seite dieses beachtlichen Metabolismus wird ebenfalls nicht verschwiegen, wenn Goethe Kritzeleien von den Wänden der Karlsbader „heimlichen Gemächer“ in sein Tagebuch übernimmt (Urzidil 1965: 275). Auch wenn diese kulinarischen Details im Text liebevoll ausgebreitet werden, stellen sie eher 12 Dieser Verweis auf Essen und Trinken kann dabei nur deswegen zur „Bohemisierung“ Goethes beitragen, weil hier das bekannte Klischee der habhaften böhmischen Küche zitiert wird, auch wenn Urzidil hier relativiert: „Wir stehen nicht an, all das hier darzulegen, weil landesübliche Speisen eine Aussage über Wesen und Verhältnisse von Land und Leuten bilden, sondern aber auch, weil wir die Ansicht nicht teilen, dass für Genies die gastronomische Seite des Daseins belanglos wäre“ (Urzidil 1965: 269). Derartige Übergeneralisierungen und stereotype Zuschreibungen sind, wie auch der Beitrag von Steffen Höhne im vorliegenden Band zeigt, keine Seltenheit im Werk Urzidils.
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Zufallsfunde und Randbemerkungen dar, die nicht zuletzt wegen ihres Unterhaltungswerts angeführt werden. Sie reihen sich dabei jedoch in das größere Unternehmen ein, das Schaffen und insbesondere die Person Goethes mit der nordböhmischen Kulturlandschaft zu verbinden: Goethes siebzehn böhmische Aufenthalte waren nicht bloß ‚Badereisen‘, wie gerne und etwas abschätzig angenommen wird, sondern es waren Unternehmungen, die das Leben und vielseitige Schaffen des Genies weitgehend beeinflußten und ihn mit einer neuen Welt bekannt machten, besonders auch mit der slawischen. (Urzidil 1965: 7)
Wie beim erwähnten Beispiel des Essens kann diese Verknüpfung über Motive geschehen, die sich genau so in den Erzählungen Urzidils finden. Zum Beispiel spiegelt sich die Zweisprachigkeit, die Urzidil bei seinen Protagonisten immer wieder betont, in Goethes Interesse (aber letztendlichem Scheitern) an der tschechischen Sprache. So stellt er korrekte etymologische Betrachtungen zum Namen des Berges Podhorn bei Marienbad [Mariánské Lázně] an (dieser Name heißt auf Tschechisch eigentlich „unter dem Berg“), oder er bestellt sich eine tschechische Grammatik für Korrekturarbeiten (Urzidil 1965: 305f.), 1825 bedauert er jedoch, „daß seine Mühe nicht von Erfolgs gekrönt war“, dass er keine slavische Sprache beherrscht. Dennoch konstatiert Urzidil, dass sich Goethe mit dem Tschechischen ethnographisch, historisch und linguistisch mehr beschäftigte als die meisten bedeutenden Deutschen seiner Zeit, die meisten böhmischen Deutschen mit inbegriffen. (Urzidil 1965: 306)
Intensiv werden seine mineralogischen Studien beschrieben, was über den kompletten Text hinweg geschieht, intensiv im sechsten Teil „Naturforschung“ (Urzidil 1965: 397-460). Ebenfalls werden Überlegungen angestellt bzw. aus der Forschungsliteratur zitiert, welche Orte in Böhmen Anlass für welchen literarischen Text Goethes waren, mehrfach z. B. die These, dass die Burgruine Hassenstein bei Kaaden [Hasištejn u Kadaně] und die sie umgebende Landschaft für die Schauplätze der Novelle Pate gestanden haben (Urzidil 1965: 77, 206f.).13 Selbst Goethes Italienreise kann so mit Nordböhmen verknüpft werden, da er in Karlsbad [Karlovy Vary] aufbricht: „Doch wovor er floh, war nicht Böhmen. So sehr er jetzt forteilt, er wird es nimmer vergessen und immer wieder dorthin zurückkehren“ (Urzidil 1965: 21).
13 Die Vielzahl der Einflüsse Böhmens auf die Werke Goethes lässt sich auch im Registerteil „Im Text erwähnte Werke Goethes“ (Urzidil 1965: 536-541) nach Werknamen und Gattungen sortiert nachvollziehen, vgl. dazu auch das folgende Kapitel in diesem Beitrag.
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3.3. Die ‚Goethisierung Böhmens‘ Der Schwerpunkt von GiB liegt freilich, wie auch der Titel betont, auf der ‚Goethisierung Böhmens‘, auf dem Nachzeichnen seiner Reiserouten und Spuren. Die Verbindung zwischen Goethe und Böhmen, die so geschaffen wird, funktioniert in beide Richtungen. Indem Goethe in mehrfacher Hinsicht in der Topographie Nordböhmens verortet wird, laden sich diese Nahtstellen auch auf böhmischer Seite mit Bedeutung auf. Besonders deutlich wird dieser Aspekt, und auch die von mir vorgenommene Unterscheidung zur ‚Bohemisierung Goethes‘, im paratextuellen Apparat der von mir herangezogenen Auflage von 1965. Hier finden sich gleich zu Beginn des Buches zwei kleine Karten zu den Reiserouten Goethes (Urzidil 1965: 3).14 Es werden minutiös die Stationen seiner Reisen in Nordböhmen wie auch der kurze Abstecher 1790 nach Ostböhmen aufgezeigt. Verzeichnet werden dabei jedoch nur die Orte, die Goethe in persona besucht hat. Auf dieser Karten entstehen die Landstriche Böhmens gewissermaßen als Fußspur Goethes, die nur durch seine Präsenz ins Dasein gerufen werden. Einzig die eingezeichneten Grenzen zwischen Böhmen und Sachsen bzw. Schlesien haben eine unabhängige Existenz. Während diese Karten somit eine ‚goethisierte‘ Version Böhmens bereitstellen, führt das mehrteilige Register diese Logik über die Landesgrenzen hinaus fort. Neben dem Registerteil zu den Werken Goethes, die im Text erwähnt werden, werden hier vor allem Personen und Orte verzeichnet. Wie es jedoch der Beginn des Buchstabens P im Ortsregister exemplarisch zeigt („Panamakanal [...] Paris [...] Pennsylvania, Staat im Nordosten der USA [...] Peru [...] (St.) Petersburg [...] Petschau, Ort in der Nähe von Karlsbad“; Urzidil 1965: 533), geht es hier nicht nur um Orte (und auch nicht um Personen) in Böhmen, vielmehr wird ohne Rücksicht auf kulturelle oder politische Bedeutung alles das verzettelt, was im Text erwähnt wird und in die genannten Kategorien passt. Dieses Verfahren leuchtet ein und ist an sich, wie auch die Karten, nichts Überraschendes. Indem die Karten nur die Elemente Böhmens verzeichnen, die Goethe tatsächlich besucht hat, und diese dazu durch die Landesgrenzen einrahmen, entsprechen sie dem Programm, das der Titel des Buches GiB 14 Im Anhang wird erwähnt, dass diese Karten bereits 1935 entstanden sind (Urzidil 1965: 501). Urzidil veröffentlichte in diesem Jahr mehrere Texte zum Thema Goethe und Böhmen (Macháčková-Riegerová 1972: 233-236; Trapp 1999: 218-220), ob diese Karte in einem dieser Texte bereits veröffentlicht wurde – was wahrscheinlich wäre –, konnte nicht mehr untersucht werden.
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entwirft: Goethe als leibliche Person ist nicht mehr erreichbar, seine physische Präsenz kann jedoch anhand seiner Reisestationen evoziert werden, die man nach wie vor aufsuchen und somit berühren kann. Die Karten sind dadurch nicht politisch konzipiert, sondern in gewissem Sinn ‚goethisch‘. Die Register führen dieses Prinzip weiter, indem sie keine Landesgrenzen beachten, sondern die verschiedenen Lemmata in einem unscharf verbleibenden, übernationalen Goethe-Kosmos verorten. Auch wenn der Schwerpunkt des Textes auf Böhmen liegt, so werden doch in sehr viel stärkerem Maße Bezüge über Landesgrenzen, Ethnien und auch Sprachen hinweg dargestellt. Diese supranationale oder kosmopolitische Wissensordnung korrespondiert dabei, gewissermaßen am entgegengesetzten Ende einer Skala an nationaler Bedeutsamkeit, mit Urzidils zunächst kindlich markiertem „Hinternationalismus“ (Urzidil 1997a: 12f.). Die im Text angeführten Ortschaften, Landschaftsmarken und Personen fungieren als mnemotechnische Merkwörter, die die Fülle an Informationen im Text zumindest ansatzweise zu gliedern vermögen und so die Präsenz Goethes in Böhmen aus kartographisch- wie auch rhetorischtopographischer Sicht unterstreichen. Diesen Zusammenhang betont Urzidil in seinem Vorwort zur Neuausgabe von 1965. Es gehe ihm darum, „die Landschaft als ästhetisch-sittlich wirksames Kontinuum und in ihrem Widerschein in Goethes Werk zu zeigen“ (Urzidil 1965: 8). Diese Zielsetzung erlaubt dabei auch Digressionen weg von der engen Themensetzung. Dies ist z. B. das intendierte Vorführen „der Ausstrahlung Prags“ (Urzidil 1965: 8). Goethe selbst besuchte Prag zwar nie, dennoch findet sich im Text ein eigenes Kapitel zu seinem „imaginären Prag“ (Urzidil 1965: 335-350), auch das Register verzeichnet insgesamt 107 mehr oder weniger aufschlussreiche Einträge zum Lemma „Prag“ (Urzidil 1965: 534).15 Während sich hier die physische Präsenz Goethes an einem Ort durch eine wie auch immer geartete ideelle oder imaginäre Präsenz ersetzen lässt, wird in den im Epilog geschilderten „Nachwirkungen“ Goethes in Böhmen bzw. in den dort dargestellten Einflüssen Goethes auf spätere, in Böhmen verortete Schriftsteller (Urzidil 1965: 463-491) komplett auf seine körperliche Präsenz verzichtet. Hier erscheint er als die Verkörperung eines allgemeinen, die Nationen übergreifenden Humanitätsprinzips. Besonders plastisch wird dies in der Schilderung von Masaryks Einstellung zu Goethe (Urzidil 1965: 489-491).
15 Mit dieser Verbindung spielt auch die bereits erwähnte Erzählung Zu den neun Teufeln (Urzidil 1962a), in der ein fiktiver Besuch Goethes in Prag angedeutet wird; s. dazu den Beitrag von Myriam Richter und Hans-Harald Müller im vorliegenden Band.
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Masaryk wendet sich zunächst massiv gegen Goethe, nähert sich ihm aber im Alter allmählich an: Ja mit zunehmenden Jahren wurde Masaryk für die abendländische Demokratie zum Symbol eines von den Ideen der Humanität getragenen Europäertums, das ohne den GoetheGeist undenkbar wäre. (Urzidil 1965: 491)
Diese Auflösung Goethes hin zu einem allgemeinen Lebensprinzip kommt dabei jedoch nicht ohne einen konkreten Kern aus, der sich in der forcierten Produktion der physischen Präsenz Goethes in Böhmen manifestiert: Die Regesten werden vor den Deutungen etabliert, damit der Leser sich zunächst der persönlichen Berührungsfläche zwischen Goethe und den böhmischen oder in Böhmen an ihn herangetretenen Erscheinungen vergewissern könne. (Urzidil 1965: 8)
Betrachtet man die dargestellten wissensorganisierenden Strukturen als das, was sie sind, als Erbe der Rhetorik mit der Funktion, zusammen mit dem Wissen zugleich auch die Basis einer möglichen Argumentation bereitzustellen, so zeichnet sich hinter dem Text die eigentliche Sakralisierung Goethes als neugieriger Kosmopolit, als herausragender Vertreter „einer Phase organischer Humanitätskultur der Nationen“ (Urzidil 1965: 9) ab, dessen Präsenz und Berührbarkeit in einem nicht-hinternationalen Böhmen vermisst wird. GiB empfiehlt sich damit als argumentatives Arsenal und Grundlage für einen kulturellen und politischen Dialog, dessen Kollaps im 20. Jahrhundert Urzidil so schmerzhaft zu spüren bekam.
4. Fazit
Erinnern und damit die Produktion von Präsenz kann nie wertfreioder objektiv geschehen. Urzidils ‚Erzählungen der Erinnerung‘ als literarische und fiktive Texte, also Texte, die ihre Inhalte bewusst fingieren (s. Iser 1991: 19-23), reagieren darauf mit einer zunehmenden Reflexion ihrer Darstellungsverfahren, die sich anhand einer Vielzahl von narrativen Brüchen und Verschiebungen nachverfolgen lassen. Der Text GiB versteht sich zunächst als wissenschaftlicher, wenn auch nicht elitärer (Urzidil 1965: 8), und damit nicht-fiktiver, oder besser nicht-fingierender Text. Er produziert Präsenz über eine kaum noch zu überschauende
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und über die Register nur notdürftig gebändigte Überfülle an Informationen, ohne dass sich dabei jedoch seine Funktion in einem losen Archiv an Fakten erschöpft. Der von Gumbrecht in die Debatte gebrachte Begriff der Präsenz mag zugegebenermaßen an den Rändern etwas problematisch und sicherlich in hohem Maße idiosynkratisch sein. Er stellt im vorliegenden Kontext jedoch eine praktikable Möglichkeit dar, um die starre Grenze zwischen spezifisch literarisch-fiktiven Texten (wie z. B. den Erzählungen) und philologischen Darstellungen (wie z. B. Goethe in Böhmen) zu überspringen und beide Gruppen zunächst einfach als ‚Texte‘ zu lesen, die einem spezifischen Set an narrativen Regeln gehorchen. Das Streben nach größtmöglicher Präsenz zeichnet sich so als eine Gemeinsamkeit ab, die zwar auf verschiedenen Strategien aufbaut, im Grunde jedoch mit demselben Dilemma kämpft, mit der Produktion einer Präsenz von Vergangenem, das sich der Darstellung immer wieder entzieht und nur durch Stellvertreter eingeholt werden kann. Sei es, wie in den Erzählungen, die Welt der Dinge, die einer eigenen Logik folgt, oder sei es, wie in GiB, die Sakralisierung Goethes sowohl als Mensch als auch als allgemeines Prinzip, die durch eine Überfülle an Daten und Fakten erzeugt wird. Das gebrochene Verhältnis von Sprache und insbesondere von Literatur zu den Dingen in der Welt ist spätestens seit der Moderne ein Allgemeinplatz. Als markantes Beispiel betont Blanchot in diesem Kontext, dass Sprache durch ihre Benennungsfunktion die eigentlichen Dinge tötet, und nur auf diese Weise funktionieren kann. Die Namen erfüllen so die Funktion eines schweren Grabsteins über einer (Sinn-)Leere: „Mon nom [...] fait [...] pour moi l‘office d‘une pierre tombale pesant sur le vide.“ (Blanchot 1982: 78) Sie sind nötig, da sich der Mensch nur über Sinnzuschreibungen der Dinge bemächtigen kann. Wie auch auf dem Michelsberger Friedhof [Michalovy Hory] bändigt und beschwert ein solcher Grabstein, was darunter liegt (Urzidil 1971c: 257), wie auch auf dem Wolschaner Friedhof bleiben die Dinge als Wiedergänger aber dennoch erhalten (Urzidil 1971a: 39) und können, wie auf dem Friedhof in Turnau [Turnov], statt den vermuteten böhmischen Halbedelsteinen in Form von menschlichen Überresten wieder hervorgeholt und neu mit Sinn belegt werden (Urzidil 1970b: 118f.). Die hier untersuchten Texte Urzidils, sowohl die Erzählungen als auch GiB, funktionieren (wenn diese Metapher hier weitergeführt werden darf) nach dem Prinzip der Salze und Säuren in der Wolschaner Friedhofserde. Sie produzieren die Präsenz einer Vergangenheit über eine zwar manifeste, konservierte und stabile, dabei aber immer frei verhandel- und interpretierbare Dingform von Gegenständen, Fakten und Personen. Der Text als Archiv des Vergangenen bewahrt die Wiedergänger für die Zukunft. Der Erzähler als Monarch einer konstitutionellen Monarchie, so
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Urzidil, hat über sie lediglich ein „Vetorecht“ und schwebt permanent in der Gefahr, von ihnen gestürzt zu werden (Urzidil 1962d: 190).
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Jonathan Schüz
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Der „Wunsch nach Präsenz“
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Klaus Weissenberger
Johannes Urzidils Kunstprosa im Exil – Paradigmen einer Erinnerungskunst
Bekanntermaßen zählt das Heimweh zu den grundsätzlichen Exiltopoi und im Falle von Johannes Urzidils nicht-fiktionaler Exilproduktion sogar zu deren vorherrschendem Kennzeichen. Was jedoch von der Forschung kaum beachtet worden ist, das ist deren Kunstcharakter, auf Grund dessen diese zur Kunstprosa zu zählen ist. Auf dichtungslogischer Ebene beruht die Kunstprosa auf dem Austragen der Spannung zwischen einem realen Aussagesubjekt und einem realen Aussageobjekt, bei dem nur der sprachliche Modus dieser Relation literarischen Charakter annehmen kann (Weissenberger 1998, 2010). Das Besondere daran besteht darin, dass die Kunstprosa gerade auf der Darstellung des Konflikts zwischen dem Einzelnen, Beobachteten, Bemerkten, sinnlich Aufgenommenen einerseits und seiner Aufhebung im Allgemeinen, Merksatzhaften, Reflektierten, durch den Geist Abstrahierten andererseits [insistiert]. (Neumann 1976: 5)
Zusätzlich zu der Erfüllung dieses Gattungskriteriums ist im Falle Urzidils der Oszillationsprozess auf Grund der durch das Exil bedingten räumlichen und zeitlichen Distanz zum Aussageobjekt, nämlich der böhmischen Heimat, von einer Mythomotorik gekennzeichnet, die sich dem Autor in zweifacher Weise anbietet: Entweder durch die Allusion oder Zitation oder als das Mythische an sich, das als Tiefendimension nicht musterhaft, sondern als Geschehen vorkommt. Indem auf Grund der transempirischen Darstellungsform die fiktiv-historische Oberflächenrealität des Mythos durchbrochen wird, kann die poetische Ausdrucksform des Mythischen die Oberflächenrealität infragestellen, erweitern und vertiefen. Dementsprechend ist im Falle von Heimatliteratur zwischen einer autochthon verhafteten Literatur, die sich auf Allusion und Zitation beschränkt, und einer supraterritorialen zu unterscheiden, die die örtliche und zeitliche Gebundenheit ins allgemein Menschliche erweitert und die – das deutlich zu machen ist das Anliegen dieses Beitrags – Urzidil repräsentiert. Dies soll anhand einer Analyse der erweiterten Fassung von Goethe in Böhmen (1962), der Essaysammlung Da geht Kafka (1966) und dem Essay Über das Handwerk (1954) bewiesen werden. Dabei gestalten sich die beiden ersten Werke zum überwiegenden Teil als Erinnerungskunst.
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In der Exilfassung von Goethe in Böhmen nimmt Urzidil die ursprüngliche Goethe-Biographie zum Ausgangspunkt für die Einstufung Böhmens als der mitteleuropäischen Kulturlandschaft schlechthin. Diese Hochschätzung seiner Heimatlandschaft bestätigt sich ihm auf dreifache Art und Weise: In ihrer Ausstrahlungskraft auf Goethe, die in dessen Begegnungen mit ihr und seinen Aussagen und Werken weiter wirkt, in seinem eigenen bis zur Vertrautheit gesteigerten unmittelbaren Erleben und als erinnerte Vergegenwärtigung im Exil. Die doppelte Vertrautheit mit Goethes Leben, Dichtungen und Naturforschungen einerseits und der böhmischen Landschaft und Geschichte andererseits gibt Einblick in die produktionsästhetischen Parameter von Goethes Schaffensprozessen. Dies artet allerdings nie in die nostalgischen Verklärung eines der beiden Bezugspole aus, weil sich beide gegenseitig bedingen. Diese Erkenntnis ist durch die Distanz des Exils und des damit verbundenen Bewusstseins des unwiderruflichen Verlusts seiner Heimat als einer derartigen Kulturlandschaft ausgelöst worden. Dadurch unterliegt die Darstellung dieses symbiotischen Verhältnisses einer kontrapräsentischen Mythomotorik, deren Wirkungskraft sich vom Autor auf den Leser überträgt, indem einerseits die Erinnerung Böhmen zum kulturfundierenden Mythos steigert und andererseits sich auch an Goethe diese mythische Wirkungsintention erfüllt, indem Böhmen in seiner Person und seinen Werken lebendig wird (Assmann 2000: 60-86).1 So wie Herder an „Lessings Schreibart [...] [den] Styl eines Poeten [rühmen kann], [...] nicht der gemacht hat, sondern der da machet, nicht der gedacht haben will, sondern der uns vordenket, wir sehen sein Werk werdend, wie das Schild des Achill bei Homer“ (Herder 1878: 12), so lässt Urzidil die Gestalt Goethes als Agierenden, Erlebenden, Forschenden, Dichtenden und letztlich Liebenden entstehen. Entsprechend der für die Biographie charakteristischen inneren Konsequenz oder Stimmigkeit des Lebenslaufs fügen sich alle diese Aspekte Goethes zur Ganzheit seiner Persönlichkeit, zu der die siebzehn Besuche Böhmens wesentlich beigetragen haben: Die Besuche in Karlsbad – und später auch in Teplitz – mußten vor allem auch die Frage nach der Herkunft der heißen Quellen aufrufen, sodann folgerichtig das Studium des Gesteins veranlassen, aus dem sie hervorbrechen. Dies mußte wiederum weiterführen zur Untersuchung der gesamten Bodenbeschaffenheit des Gebietes, seiner hydrographischen, klimatischen und meteorologischen Verhältnisse und Bedingungen. Daraus ergaben sich neue Einsichten in die Lebensumstände der Bewohner, in ihre Gegenwart und Vergangenheit, kurz die Erkenntnis des geschlossenen ‚böhmischen Ganzen‘, des ‚Kontinents mitten im Kontinente‘. (Urzidil 1962: 399) 1 Jan Assmann macht deutlich, dass die Anfänge der Biographie bis zum Totengedenken in homöostatischen Kulturen zurückreichen.
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Als Folge dieser Perspektive werden Goethes böhmische Aufenthaltsorte, an die sich seine Erinnerungen und Dichtungen knüpfen, zu einem Geflecht von Mnemotopoi der sich gegenseitig komplementierenden Mythen. Darin manifestiert sich Urzidils erweiterter Wahrheitsanspruch und zwar nicht nur hinsichtlich der Goetheforschung, sondern auch mit der impliziten messianischen Zielsetzung, an der Reziprozität zwischen Goethe und Böhmen die gegenseitige Bereicherung der deutschen und tschechischen Kultur vorgestellt und zu ihrer Fortsetzung angeregt zu haben. Aus der Fülle der Beispiele sei nur auf die Maria-Ludovica- und UlrikeEpisoden verwiesen. Die erste ist mit Karlsbad [Karlovy Vary] und Teplitz [Teplice] und die zweite mit Marienbad [Mariánské Lázně] verbunden, die alle drei aufgrund ihrer Heilquellen als Kurorte Treffpunkte des europäischen Adels und gehobenen Bürgertums waren. Die erste kurze Begegnung zwischen Goethe und der 23jährigen Kaiserin Maria Ludovica, einer feurigen und charmanten Italienerin, fand im Sommer 1810 in Karlsbad und die zweite in Teplitz während vier Wochen im Sommer 1812 statt; die Ulrike-Episode fällt in die drei Sommer von 1821 bis 1823. Die mit der Kaiserin verbundene politische Situation war äußerst delikat. Sie war die dritte Frau des Kaisers, dessen mit ihr gleichaltrige Tochter Marie Luise auf Betreiben Metternichs mit Napoleon verheiratet worden war, den sie „nicht nur stiefschwiegermütterlich, sondern aus hundert anderen Gründen leidenschaftlich haßte“ (Urzidil 1962: 144). Goethe las der Kaiserin aus seinen Werken vor, und sie war sehr empfänglich für deren magische Ausstrahlung: Man denke sich eine junge Zuhörerin den magischsten Kräften ausgeliefert, die jemals Dichtung unmittelbar übte, und man denke sich den Dichter vor solch aufnahmewilligem Spiegel. (Urzidil 1962: 148f.)
Die Hofdame Gräfin O’Donell ging nur zu gerne darauf ein, diese Zusammenkünfte zu arrangieren, da Goethe auch ihr gegenüber nicht gleichgültig war. Es bahnte sich die Tasso-Konstellation mit den zwei Leonoren an. Höhepunkt war der Plan, als Hauptdarsteller ein von der Kaiserin und Goethe verfasstes Lustspielchen mit dem Titel Die Wette aufzuführen, das „von dem Betragen zweier durch eine Wette getrennter Liebender“ handelt (Urzidil 1962: 377). Aus begreiflichen Gründen ist es jedoch nicht zu einer solchen Aufführung gekommen. Die vier Wochen in der Gegenwart der Kaiserin bedeuteten Goethe eine Ewigkeit: Eine solche Erscheinung gegen das Ende seiner Tage zu erleben, gibt die angenehme Empfindung, als wenn man bei Sonnenaufgang stürbe und sich noch recht mit inneren und äußeren Sinnen überzeugte, daß die Natur ewig produktiv, bis ins innere göttlich, lebendig, ihren Typen getreu und keinem Alter unterworfen ist. (Urzidil 1962: 151f.)
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Wie sehr Goethe diese Wiedergeburt mit Böhmen verbindet, beweist die an die Gräfin O’Donell gerichtete, aber sicherlich auch für die Kaiserin bestimmte Beteuerung: Sie haben mich mir selbst wiedergegeben. Sie haben mir mit Teplitz, mit Böhmen ein Geschenk gemacht. Ich sehe nun erst die Natur wieder und fange an, mich derselben von neuem zu freuen. (Urzidil 1962: 153)
Entsprechend hat der frühe Tod der Kaiserin im Jahre 1816 Goethe zutiefst erschüttert, und so oft er später nach Böhmen kam, haben ihn die Orte der damaligen Begegnung an sie erinnert (Urzidil 1962: 153). Davon zeugt auch der für den Sommer von 1821 vorgenommene Wechsel von Karlsbad nach Marienbad; denn zusätzlich zu Maria Ludovica erinnerte ihn Karlsbad an Marianne von Eyenberg, mit der er die Sommer von 1795, 1808 und 1810 verbrachte und die 1812 starb. Und 1816 war auch Christiane gestorben, der er in seinen Briefen immer relativ sachlich von seinem Verkehr mit den Damen berichtet hatte. Die Ulrike-Episode ist die bekannteste und einschneidendste unter den Böhmen-Episoden, aber zugleich auch die geheimnisvollste. Denn auch für Urzidil als wirklichen Experten zu diesem Thema stellt sich die Frage über Ulrikes Gefühle gegenüber Goethe, und seine Darstellung läuft darauf hinaus, ihrem sehr viel späteren Ausspruch „Keine Liebschaft war es nicht“, keinen Glauben zu schenken. Sein Verdienst besteht darin, die Stadien der gegenseitigen Annäherung anhand der unterschiedlichen Zeugen, vor allem gegenständlicher und literarischer Natur nachzuzeichnen, um sich und uns das Außerordentliche dieser Beziehung zu vergegenwärtigen. Eine derartige Bedeutung muss der Ausgabe der Wanderjahre zukommen, die Goethe Ulrike im ersten Jahr mit einer Widmung schenkt, weil sie noch keines seiner Werke kennt, und die noch in den 1890er Jahren in ihrem Besitz war (Urzidil 1962: 157). Und da sie zurecht eine Vorgeschichte dazu vermutet, erzählt ihr Goethe den Inhalt der ,Lehrjahre‘ in einer für ein junges Mädchen purifizierten Version. [...] Wäre sie aber nur etwas weniger naiv gewesen, so hätte sie in äußerste Bestürzung geraten müssen. (Urzidil 1962: 157)
Von noch weiter reichender Bedeutung für Urzidil ist der „böhmische Chrysopras, den Goethe Ulrike in Marienbad schenkte und den [er] [...] von der Baronin Rauch aus Ulrikes Nachlass erhielt“ und dann seiner Frau gegeben hat (Trapp 2000: 78). Umgekehrt hat Goethe von der Familie Levetzow zu seinem 74. Geburtstag ein
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fein geschliffenes böhmisches Glas [erhalten], kunstvoll facettiert mit Rauten und Ovalen, die in wechselnder Reihe ein breites tiefgekerbtes Band bilden und die drei eingravierten Namen zeigen: ,Ulrike, Amalie, Berta‘ (Urzidil 1962: 172).
Im April des nächsten Jahres stellt Goethe Ulrikes Mutter sein Erscheinen in Böhmen in Aussicht und fügt hinzu: „Indessen bleibt der zierliche Becher der Vertraute meiner Gedanken, die süßen Namenszüge nähern sich meinen Lippen“; dieses Glas hatte Goethe noch auf seine letzte Reise nach Ilmenau mitgenommen, zu seinem 82. Geburtstag vor sich hingestellt und Ulrikes Mutter davon berichtet. Natürlich ist die Marienbader Elegie auch für Urzidil das überragende dichterische Zeugnis von Goethes „großer böhmischer Romanze“ (Urzidil 1962: 176), doch ist Ulrike darin bereits zur literarischen Figur sublimiert, während die „fünf sommerlichen Versbotschaften an Ulrike“ – gemeint sind die Gedichte Tadelt man, daß wir uns lieben, Du Schüler Howards, Wenn sich lebendig Silber neigt, Du gingst vorüber? Wie! Ich sah dich nicht und Am heißen Quell verbringst du deine Tage – eine genaue „Entwicklungsgeschichte seiner Beziehung zu Ulrike, ihrer Schwierigkeiten und ihrer aufsteigenden Klimax geben können“ (Urzidil 1962: 360). An den für Außenstehende unbedeutenden Erscheinungen von Tageseinteilung, Topographie und Wetter entzündet sich die Leidenschaft und verbindet diese prosaischen Realien für die Eingeweihten zur Liebeslandschaft. Deshalb sieht sich Urzidil gezwungen, Ulrikes Behauptung, dass es zwischen ihr und Goethe außer beim Abschied nie einen Kuss gegeben hätte, durch die in der Elegie vergegenwärtigte Klimax vom Gutenachtkuss über den letzten bis „letztesten“ Kuss zu widerlegen. Denn nur indem sich Goethe an die Wirklichkeit hält, kann er sich durch die Erweiterung von Ulrikes Gestalt zur Beatrice der Vita Nuova der „Begeistung, dieser Ausgießung des Heiligen Geistes durch das Ewig-Weibliche“ (Urzidil 1962: 364) versichern und diese Krise, die den Lebensabschnitt des Alters markiert, überwinden. Dieser Wirklichkeitsbezug trifft auch auf die Landschaftshinweise der Elegie zu, die Urzidil (1962: 214) als „erhabene Scheidegrüße der böhmischen Landschaft“ bezeichnet. Dasselbe gilt für ihn hinsichtlich der Landschaftsbeschreibung in den Eingangsversen des letzten Akts von Faust II: „Nur wer über Goethes späteste Liebeslandschaft mit Nichtachtung hinwegginge, könnte die böhmischen Naturbilder der letzten Rhythmen verkennen“ (Urzidil 1962: 214), und an das Faust-Zitat schließt Urzidil die provokative Aufforderung an den Leser, sich die Bestätigung dafür selbst zu verschaffen – das zur Zeit von Exil und Eisernem Vorhang! Daher kann diese Aufforderung nur als messianische Wunschvorstellung zu verstehen sein: „Nun denn: Schaut euch diese Gegend
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an! Das sind Bäume, das sind Felsen, unter denen die allmächtige Liebe den Sturm der ,Elegie‘ bildete und hegte“ (Urzidil 1962: 214). Auch die Essaysammlung Da geht Kafka hat einen biographischen Kontext zur Grundlage, der aber immer wieder überspielt oder durchbrochen wird, um Urzidils eigentliches Anliegen zu verfolgen, auf das literarische Phänomen des Prager Kreises hinzuweisen, dessen bedeutendster Repräsentant allerdings Kafka war. Neben dem biographischen Kontext schwingt auch ein autobiographischer mit, aber keineswegs aus Geltungsdrang, sondern um der Darstellung die Beweiskraft der Authentizität zu verleihen. Dazu hat die Exilsituation in mehrfacher Weise den Anstoß gegeben; denn zum einen muss er über die anwachsende Rezeption Kafkas in Amerika, die in direktem Gegensatz zu dessen damaliger Unbekanntheit in Deutschland stand, erfreut gewesen sein, jedoch fehlte dieser Rezeption die Kenntnis des Prager Umfelds und zwar zu Lebzeiten Kafkas, mit dem Urzidil als einer der wenigen noch lebenden Menschen vertraut war und der daher den Satz formulieren konnte: „Zur Zeit der Hauptproduktion Kafkas war Prag am typischsten Prag und auch am typischsten kafkaesk“ (Urzidil 1966: 11). Gerade wegen dieser Kenntnis kann Urzidil auf den prinzipiellen Realismus in Kafkas Werken hinweisen, der bei den alltäglichsten und unscheinbarsten Dingen ansetzt, an deren Legitimität oder Daseinsberechtigung der Einzelne, insofern er nicht bereit ist, sie anzuerkennen, nur scheitern kann. Kafkas kindliche Freude an den kleinsten Dingen des Alltags beruht für Urzidil darauf, dass „es für ihn im Grunde nichts ,Kleines‘ gab und alles und jedes seine autonome Bedeutung sowohl für sich als auch für das Ganze hatte“ (Urzidil 1966: 56). Es ist gerade diese Überzeugung, die Urzidil als „immanente Prager Erkenntnis“ bezeichnet, „die ,Liebe für die sanften Einzelheiten‘ [...], die Kafka an Stifter heranrückt“ (Urzidil 1966: 57). Wie sehr Urzidil von dieser Erkenntnis als dichterischem Prinzip überzeugt ist, kann daran erkannt werden, dass die einzelnen fast anekdotisch scheinenden Essays seines Kafka-Buches sich zum Ausblick auf das Gesamtphänomen Kafka in seinem Prager Kontext erweitern. So enthält der Essay über Kafkas Hebräischlehrer Friedrich Thieberger, den Bruder seiner Frau (Urzidil 1966: 53-64), den Satz „Wer aber Kafka nicht im luftleeren Raum und gleichsam als von der Realität abgelösten Schriftsteller, das heißt: falsch verstehen will, der sollte unbedingt vorher Thiebergers ,Glaubensstufen des Judentums‘ abschreiten“ (Urzidil 1966: 54). Dementsprechend folgert Urzidil, dass Kafkas Hebräischstudium auf seinem Drang nach Gottesnähe [beruhte], dem Drang nach dem Gesetz, denn die Sprache der Schriften ist ja das einzige und unmittelbare menschliche Element, darin die Idee Gottes annäherungsweise erlebt werden kann. (Urzidil 1966: 63)
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Als Beweis dafür führt Urzidil (1966: 64) die von Kafka und ihm erlebte Rezitation von Hebels Erzählung Einer Edelfrau schlaflose Nacht an, „darin die Sprache der Schriften als die natürliche Sprache der Gottesnähe und des Ethos gerühmt wird“, und beendet den Essay mit der Feststellung: „alle diese Einzelheiten sind dicht miteinander verwoben und man muß sie erlebt haben, um sagen zu können: So war Kafka“. Im Zusammenhang mit der Golem-Mystik kommt Urzidil auch auf Egon Erwin Kisch, den rasenden Reporter, zu sprechen, der das Verbot, den Dachraum der Synagoge zu betreten, wo der Golem aufbewahrt sein sollte, gebrochen hatte. Ein Mitglied des Prager Kreises fragte ihn daraufhin: ‚Haben Sie auch vorher gefastet und für das Interview mit dem Golem Ihren Sterbekittel angelegt?‘ Der Befragte schwieg verblüfft und mochte vielleicht zum erstenmal im Leben verlegen geworden sein. ‚Dann können Sie auch den Golem nicht gesehen haben‘, bemerkte der Fragesteller trocken. Und dies war kein bloßer Sarkasmus. Es lag die profunde Wahrheit darin, man könne nur im Zustand der Heiligung wahrnehmen und erkennen. So auch sprach Kafka vom ‚Schreiben als Form des Gebets‘. (Urzidil 1966: 75)
Zusammenfassend erklärt Urzidil, dass „mit Kafka das geistige Prag jener tschechisch-deutsch-österreichisch-jüdischen Synthese, die die Stadt metropolitan getragen und durch Jahrhunderte inspiriert hatte, [endete]“ (Urzidil 1966: 101). Doch lebt es weiter in seinem Werk, so sehr auch sein Werk sich von Jahr zu Jahr vergrundsätzlicht und scheinbar der örtlichen und persönlichen Bindungen enthoben hat. Es ist Kafkas nahezu satirisches Verdienst, daß jenes Prag, das mit ihm abschloß, doch nicht mit ihm begraben wurde, obschon niemand [...] dies damals wußte. (Urzidil 1966: 102)
Denn indem Kafkas Werk Weltliteratur geworden ist, ist auch das Prag des Prager Kreises Weltkultur geworden. Auch dieser Realismus schwingt im Titel Da geht Kafka mit und zwar als eine Erkenntnis, die sich nicht als Forschungsergebnis darbietet, sondern aus der essayistischen Kunstform hervorgeht. Die Erörterung des Essays Über das Handwerk von 1954 bildet den Abschluss dieses Referats. Hinter dem trivial scheinenden Titel verbirgt sich Urzidils Bekenntnis zu einem Handwerksprinzip, das den gesamten menschlichen Schaffensprozess einschließlich des künstlerischen umfasst und dessen er sich gerade durch seine Exilsituation bewusst geworden ist. Diesbezüglich kann er sich nicht nur auf Goethes Aussage berufen: „allem Leben, allem Tun, aller Kunst müsse das Handwerk vorausgehen“ (Urzidil 1954: 11), sondern auch auf Kafkas Feststellung: „die Kunst habe das Handwerk nötiger als das Handwerk die Kunst“ (Urzidil 1954: 14). Dieser Rückbezug auf seine beiden Leitfiguren beruht sogar auf einer zweifachen exiltypologischen Komponente, zum einen als konkreter Heimatbezug, wie aus seinem Lebenswerk Goethe in Böhmen
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hervorgeht, und zum anderen als künstlerischer Gemeinschaftsbezug, die ihm beide zur Bestätigung seines dichterischen Selbstverständnisses dienen. Ausgangspunkt für diesen Essay ist jedoch die Tatsache, dass Urzidil im Exil das Lederhandwerk erlernt hat, um sich dadurch einen Lebensunterhalt zu verschaffen. Sein Erstlingswerk war das Einbinden einer dreibändigen Rabelais-Ausgabe in Schweinsleder, um dadurch die prächtige Ausgabe nicht nur vor dem Verfall zu bewahren, sondern auch gebührend auszuzeichnen. Allerdings ist ihm dies nur rein äußerlich gelungen, da er trotz größter Anstrengungen die Ausgabe so eingebunden hat, dass man die Bände nicht flach öffnen, daher auch nicht mehr lesen konnte und sie den ihnen auferlegten Dienst auch nicht mehr erfüllten. Seinen diesbezüglichen Dilettantismus bezeichnet Urzidil (1954: 19) als „Keckheit“ und fährt fort zu schildern, wie er aus diesem und weiteren Fehlern gelernt und es nach einigen Jahren zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hat: Ich hatte es erlernt, einen Gegenstand vollständig von Anfang bis zu Ende aus den Rohmaterialien herzustellen; ich hatte mich erzogen, anzustreben, daß jeder Handgriff auf das Endziel der vollkommenen Zweckmäßigkeit des Objekts abgestimmt werde, und auf alles zu verzichten, was dieser Zweckmäßigkeit nicht unmittelbar diente; ich hatte erkannt, daß die Schönheit und die Zierden eines Gegenstandes sich ausschließlich vom Material und von den Grundwerkzeugen herleiten dürfen. (Urzidil 1954: 22)
Diese selbstvollzogene Lehre gipfelt in der Erkenntnis: „Diese gesamte Disziplin ist in keiner Weise verschieden von der des literarischen oder dichterischen Schaffens“ (Urzidil 1954: 22). So schlicht diese Erkenntnis ist, so weitreichend sind ihre persönlichen und überpersönlichen Botschaften – besonders im Kontext des Exils. Nicht nur hat seine Handwerkslehre Urzidil dazu gezwungen, sich trotz des Exils auf die Grundlagen seines dichterischen Selbstverständnisses zurückzubesinnen. Doch darüber hinaus bietet diese Erkenntnis einen Schlüssel zum Verständnis für die allgemeine geistige Kata strophe, die zu Urzidils persönlichem Schicksal geführt hat. Denn das Krisenbewusstsein des modernen Menschen beruht auf dem verlorengegangenen geschlossenen Weltbild und einer damit verbundenen (und also mit diesem verlorenen) spirituellen Sinngebung seiner jeweiligen beruflichen Tätigkeit, die besonders wegen des überwiegend maschinellen Herstellungsverfahrens das Ganzheitserlebnis des handwerklichen Prozesses nicht mehr kennt. Daher ist man sowohl so sehr für Ideologien empfänglich, die diese Ganzheitserlebnisse vortäuschen, als auch für die ‚Keckheit‘ von denjenigen, die sie repräsentieren. Man vertraut dem äußeren Schein, ohne zu prüfen, ob auch wie beim echten Handwerk „jeder Handgriff auf das Endziel der vollkommenen Zweckmäßigkeit des Objekts abgestimmt“ ist. Nicht
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nur liegt die Analogie zur „Keckheit“ Hitlers und seinem scharlatanhaften dilettantischen politischen Handwerk auf der Hand, sondern auch die Analogie zu den allgemeinen Wunschvorstellungen, deren er sich bedienen konnte. Zugleich warnt Urzidil in Anlehnung an Plato auch vor dem Künstler, der „ausschließlich aus dem Spirituellen (schafft)“ (Urzidil 1954: 26) und fordert von ihm einen derartigen Realitätsbezug, „daß er fähig sein sollte, das was er malt oder dichtet, auch selbst in der Wahrheit zu erschaffen und in der Wirklichkeit herzustellen“ (Urzidil 1954: 26). Diesem Thema ist der spätere Essay Literatur als schöpferische Verantwortung von 1965 gewidmet. Letztlich kommt dem Handwerk, wie es Urzidil in seinen Prinzipien und Implikationen dargestellt hat, sogar die Bedeutung der individuellen und gesellschaftlichen Erneuerung zu. Denn echte Handwerker sind wie erste Menschen, einfach und ungebildet, so als schüfen sie selbst sich Hammer und Schneide und fänden sich in vertrauter Gemeinschaft mit dem Urbeginn aller Formen, die sie nicht nachbilden, sondern jedesmal in jedem Gegenstand von Neuem erzeugen, als wären sie Tubalkain, Jubal oder Hiram, die Erfinder des Schmiedens, des Musizierens und des Bauens. (Urzidil 1954: 25)
Nicht nur verweist Urzidil mit diesen Namen direkt auf „diejenigen, die über den Künstlern stehen, weil sie die Urbeispiele des Handelns und Verhaltens vorbilden“ (Urzidil 1954: 14), sondern auch unausgesprochen auf sie als freimaurerische Leitfiguren, wobei sich der freimaurerische Hauptmythos mit Hiram verbindet, der als Baumeister des Salomonischen Tempels gilt, aber vor der Fertigstellung des Tempels ermordet worden ist. Die Initiation in den Meistergrad setzt die Erfahrung von Dunkelheit und Tod voraus, auf die die Auferstehung Hirams in den Initianden und demzufolge die spirituelle Vollendung des Tempels erfolgen kann. Es ist letztlich diese Anverwandlung der masonischen Lehre, von der sich Urzidil die Erneuerung der Menschheit nach den Erfahrungen von Holocaust, Exil und Zweitem Weltkrieg erhofft. Denn diese beruht auf der Reziprozität der manuellen und spirituellen Prinzipien des Handwerks zu einer in sich geschlossenen Lehre von der „königlichen“ Lebenskunst, die eigene Seele und die Menschheit zum Tempel des Ewigen zu erweitern: „der Stufengang vom Lehrling zum Gesellen zum Meister [ist] das uralte und bewährte Gesetz des Handwerks und der Künste, der gewöhnlichen sowohl wie der königlichen“ (Urzidil 1954: 20). Von seiner Rückbesinnung im Exil auf die böhmische Kulturlandschaft, die auf der Integration ethnischer, spiritueller und künstlerischer Strömungen zu einer Ganzheit beruht hatte, auf die anhaltende, sogar wachsende und Kafka zu dankende Ausstrahlungskraft des Prager Kreises und auf die ethischen Prinzipien des Handwerks erhofft sich Urzidil eine Erneuerung der
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modernen Gesellschaft, sodass die kontrapräsentische Grundkomponente seiner Kunstprosa auch eine messianische Wirkungsintention besitzt. Nicht nur gipfelt die derart gewonnene Identitätsbestätigung in dem Ausspruch: „Meine Heimat ist, was ich schreibe“ (Urzidil 1958: 37), sondern hat auch zugleich im Schreibvollzug den darin enthaltenen künstlerischen Anspruch unter Beweis gestellt.
Literatur
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Monika Tokarzewska
Johannes Urzidil, Günther Anders und Gustaw Herling-Grudziński: Drei zentraleuropäische Autoren im Exil lesen Kafka
1. Vorbemerkung
Franz Kafka ist ein Phänomen der Literaturgeschichte. Nicht nur über die Exegese seiner parabelartigen Schriften entstanden Bibliotheken, sondern auch die Geschichte der Rezeption seiner Werke ist eine der reichsten und erstaunlichsten in der Weltliteratur. Die drei Lektüren von Kafka, die ich hier darstellen will, bilden allerdings einen besonderen Fall. Zum einen befindet sich jeder der drei Autoren, Johannes Urzidil, Günther Anders und Gustaw Herling-Grudziński zwischen verschiedenen Kulturen und Nationen. Sie sind von Geburt an Angehörige einer Minderheit, die in unterschiedlichem Maße an die Mehrheit und deren Kultur assimiliert war: Urzidil ist Deutscher aus Böhmen, seine Mutter stammte aus einer tschechisch-jüdischen Familie, seine Stiefmutter war Tschechin, Günther Anders ist deutscher Jude und Herling-Grudziński Pole jüdischer Herkunft. Alle drei sind, wenngleich auf unterschiedliche Weise, mit den Totalitarismen des letzten Jahrhunderts konfrontiert worden, und alle lebten zur Zeit ihrer Auseinandersetzung mit Kafka bereits im Exil.
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2. Johannes Urzidil – der Türhüter
Urzidil gehörte als Deutscher einer Minderheit in Prag und dann in der Tschechoslowakei an, die Prager Deutschen bildeten jedoch zugleich eine Bildungselite in der Stadt, wodurch sie als Gruppe eine privilegierte Stellung in der tschechischen Gesellschaft einnahmen. Wohl aus dieser Stellung heraus kann man Urzidils Verhältnis der tschechischen Literatur und den tschechischsprachigen Schriftstellern gegenüber erklären: Urzidil sprach sehr gut tschechisch, er hatte nicht nur für die tschechische Literatur eine Vorliebe, sondern betrachtete die Kenntnisse der Sprache als einen Schlüssel, der ihm den Zugang zur slavischen Welt ermöglichte. Die Prager Deutschen sah Urzidil als Mittler zwischen der tschechischen und der europäischen, bzw. der Weltliteratur an, da sie über die tschechischen Schriftsteller und deren Werke auf Deutsch schrieben und sie diese häufig übersetzten. Deshalb sah Urzidil in dem Untergang der Kultur der Prager oder Böhmen-Deutschen einen Verlust auch für die tschechische Kultur, denn es fehlte plötzlich der Mittler. Meiner Auffassung nach resultiert aus dieser besonderen Stellung Urzidils auch ein gewisser Hauch von Paternalismus den tschechisch schreibenden Schriftstellern gegenüber – da sie aus historischen Gründen an der Erhaltung bzw. dem Aufbau ihrer nationalen Kultur interessiert waren, sei, so Urzidil, ihre Perspektive nicht dermaßen universell wie die der deutschen Elite in Prag. Ein weiteres Phänomen der Selbstverortung bildet Urzidils Stellung zum Judentum. Urzidils Texte sind voller Lob auf die Kultur der Prager Juden, nicht nur der gebildeten, meist deutsch assimilierten Schicht, sondern auch der Folklore (etwa der berühmte Golem). Urzidil hat sich nicht als Jude verstanden, nur seine konvertierte Mutter war jüdischer Abstammung. Mit dem Beginn der Nazi-Herrschaft verlor Urzidil jedoch als ‚Nicht-Arier‘, dazu mit einer jüdischen Frau verheiratet, seine Stelle in der deutschen Botschaft in Prag und musste schließlich aus Prag und aus Europa fliehen. Man kann nur vermuten, dass ein solches Schicksal für ihn wie ein Schlag aus heiterem Himmel gekommen war. Er ist zum „Nicht-Arier“ gemacht worden, um den Begriff von Klaus Christian Köhnke (1995) zu benutzen, der einst von der ge scheiterten Universitätskarriere Georg Simmels schrieb, der völlig assimilierte Simmel sei im Kaiserreich zum Juden ‚gemacht‘ worden. Urzidil thematisiert dieses – wie man vermuten kann wohl traumatische – Erlebnis jedoch nicht, er
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scheint stattdessen in seinen Essays das vergangene Idyll der deutsch-jüdischen Symbiose am Beispiel Prags in der Erinnerung weiterzuschreiben.1 Johannes Urzidil kannte Franz Kafka noch persönlich und dessen Prag aus eigener Erfahrung, es war ein Kapitel seiner eigenen Biographie, was für seine Essays in Da geht Kafka (1965, erweitert 1966) von entscheidender Bedeutung ist. Sie stammen aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre (ausgenommen der Nachruf auf Kafka von 1924; Urzidil 1966b). Bei der Lektüre von Urzidils Kafka-Essays fällt es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass Franz Kafka hier zwar die Hauptfigur ist, in Wirklichkeit aber die Rolle des Schlüssels zu einer verlorenen Welt spielt.2 Kafka ist der Faden, an dem das ganze literarische und kulturelle Prag der Zehner- und Zwanzigerjahre stückchenweise aus der Vergessenheit geholt wird. Urzidil stellt fest, dass Kafka und das Prag seiner Zeit eins sind. Eine Welt, die es einmal gab, soll hier lebendig vor Augen geführt werden: Obzwar Prag in Kafkas Werk höchstens in gelegentlichen Umschreibungen deutlich wird, ist es doch überall in den Schriften enthalten, wie das Salz jenes buddhistischen Gleichnisses im Wasser. Obzwar das Salz als solches nicht sichtbar wird, schmeckt dennoch das Wasser ganz und gar salzig. So ließe sich in jeder Gestalt, jeder Situation, jeder Milieuschilderung Kafkas das Pragerische nachweisen. […] Zur Zeit der Hauptproduktion Kafkas war Prag am typischsten Prag und auch am typischsten kafkaesk. (Urzidil 1966a: 11)
1 Weniger verwickelt scheint die Position Günther Anders’ zu sein: der deutschen Kultur angehörend, ist auch er ‚zum Juden‘, also zur verfolgten Minderheit ‚gemacht‘ worden, und zwar erfolgte der ‚Schlag‘ von der gleichen Seite, die eigentlich als identitätsstiftend fungierte: von den Deutschen. Es war also im Falle des deutschen Judentums eine nicht nur äußerliche Ausgrenzung, sondern eine innere Spaltung und Enttäuschung, mit der sie fertig zu werden versuchten. Der Fall Herling-Grudzińskis ist in diesem Kontext deshalb interessant, weil er, obwohl er jüdische Motive in seinen Erzählungen thematisiert, nie direkt und persönlich über seine eigene Herkunft reflektiert, was vielleicht für eine besondere Vergleichsstudie zwischen ihm und Urzidil interessant wäre. Da aber Herling-Grudziński 1939 von den Sowjets gefangengenommen wurde und den Krieg in sowjetischen Lagern verbrachte, dann als Soldat auf der Seite der Alliierten kämpfte, blieb ihm die direkte Begegnung mit der nationalsozialistischen Todesmaschine erspart. Trotzdem ist zu vermuten, dass er vor dem Krieg mit dem Antisemitismus konfrontiert worden ist, der in der zweiten polnischen Republik nach dem Tod von Marschall Piłsudski zunahm. 2 In der 1964 verfassten Erzählung Kafkas Flucht (Urzidil 1964) stellt Urzidil Kafka als bejährten Exilanten in New York dar, der als Gärtner arbeitet und von seinen Freunden ‚Key‘ genannt wird. Auf dieses interessante Detail hat mich Klaus Johann aufmerksam gemacht. Valentina Sardelli zeigt in ihrem Beitrag im vorliegenden Band über die Korrespondenz Urzidils mit den Schriftstellern des ehemaligen Prager Kreises, dass Kafka immer wieder zur Bezugsfigur (um nicht zu sagen ‚Schlüsselfigur‘) der gemeinsamen Erinnerungen wird.
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– lesen wir in dem Essay Im Prag des Expressionismus.3 Die Beschreibung klingt für heutige Ohren wie eine sehr geschickte Kreation einer Stadtmarke: Prag bekommt das Gesicht von Kafka, und Kafka lernt man nirgendwo besser kennen als auf dessen Spuren im alten Prag. Kafka ist dort ‚daheim‘. Wir erfahren: „so, wie ich jenes Prag heute noch vor Augen habe, erscheint es mir im Wesentlichen als kafkaeske Stadt.“ (Urzidil 1966a: 11) ‚Kafkaesk‘ verwendet Urzidil jedoch nicht in der für uns üblichen Bedeutung als ‚entsetzlich‘ sondern er meint eine bunte Vielfalt und das Besondere einer Symbiose voller Heterogenität. Dieses Prag von damals existiert aber nicht mehr: In Wirklichkeit endete mit Kafka das geistige Prag jener tschechisch-deutsch-österreichischjüdischen Synthese, die die Stadt metropolitan getragen und durch Jahrhunderte inspiriert hatte. (Urzidil 1966b: 101)
Kafka erscheint in diesem Essay, (erstmalig abgedruckt 1964 im Juniheft des Merkur nie isoliert, er ist immer Bestandteil eines Netzes aus Namen, Ereignissen, Cafés. Urzidils Skizzen über Kafka sind in der Regel zugleich Essays über andere Personen aus dem Prager Milieu (etwa Paul Kornfeld, Rudolf Fuchs, Ernst Weiß), die allerdings keinen mit Kafka vergleichbaren Ruhm erreicht haben. Deshalb kann der größte Parabolist des 20. Jahrhunderts, der durch Ruhm ‚überlebte‘, diese Verschollenen aus dem Dunkel der Vergangenheit quasi retten helfen. Kafka fungiert als Schlüssel zu einer verschlossenen Tür. Seine Figur organisiert um sich herum andere Figuren, er hat eine kompositorische Funktion, denn ohne ihn würde jeder der Essays aus dem Band Da geht Kafka auseinanderfallen. Urzidil interpretiert Kafkas Werk nicht neu, er fördert auch keine neuen Fakten aus Kafkas Biographie zutage. Kafka ist der Hebel, mit dessen Hilfe eine vergangene Stadt ans Licht gehoben wird, natürlich unter der Obhut und Kontrolle des Hinübergeretteten, des Schriftstellers Johannes Urzidil, an dem wir nicht werden vorbeigehen können, wenn wir von der Atmosphäre dieses alten kulturell blühenden Prag noch etwas mitbekommen möchten. Zugleich ist Kafka für Urzidil aber auch jemand, der ohne Verlust dieser seiner spezifischen Prager Substanz in die überhistorische Weltliteratur eingegangen ist. Deshalb stoßen wir unter Urzidils Kafka-Aufsätzen auch auf solche, die um Kafka herum ein anderes Netz konstruieren. So spinnt etwa der über die Sirenen schreibende Kafka an einem Faden, der bis in die Antike zu 3 Der Essay erschien ursprünglich in ‚Imprimatur‘. Jahrbuch für Bücherfreunde (NF 3, 1961/62). Außer zahlreichen Essays und Rezensionen hat Urzidil Franz Kafka auch in zwei Erzählungen ‚auftreten‘ lassen: Vermächtnis eines Jünglings (in Prager Triptychon, 1960) und Kafkas Flucht (1964).
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verfolgen ist; woanders tauchen Goethe, Hofmannstahl, Kierkegaard und viele andere Größen als Resonanzraum auf, der sich anhand der Lektüre von Kafka eröffnet. Diese beiden Perspektiven, das Prag der ortsgebundenen Vorkriegszeit vs. der großen Literatur außerhalb von Raum und Zeit, unter denen Kafka von Urzidil gesehen wird, sind etwas widersprüchlich, zumindest auf den ersten Blick. Kafka erscheint als jemand, der vom damaligen Prag nicht zu trennen ist. Gleichzeitig überschreitet er stets diesen Kontext. Vermutlich geht diese doppelte Perspektive auf Urzidil selbst zurück. Abgesehen davon, dass er sich mit seinen Beiträgen, die in angesehenen Zeitschriften wie Merkur, Der Monat, The Germanic Review erschienen sind, im literarisch-kritischen Feld positioniert, versucht er im Fall von Kafka, sich selbst auf die Spur zu kommen. Nicht zufällig bekennt er sich im Essay Im Prag des Expressionismus ausdrücklich zu den „Prager Deutschen“. Die erinnerte Welt, all die Namen, Kontakte, Orte, sind Teil seiner Identität und haben die Funktion, diese Identität zu stärken. Urzidil baut von seiner Prager Welt auch Brücken nach Amerika – seinem Exilland –, und dies gelingt ihm wiederum mit Hilfe von Kafka.4 Zugleich erzeugen Essays, in denen weltliterarische Kontexte aufgebaut werden, für Urzidil eine autonome Welt von Schriftstellern und Werken, mit denen nicht nur Kafka, sondern auch er selbst sich auseinandersetzt. Die Prager Welt ist zwar verschwunden, wirkt aber nach wie vor stark identitätsstiftend und kann darüber hinaus mit Hilfe von Kafka in die überzeitliche Welt der großen Literatur, der Geschichte entrückt werden. Sie scheint gut dafür geeignet zu sein, eine Nische für die Gegenwart zu schaffen. Beide Welten, die der Vergangenheit und die der Ewigkeit haben etwas Mythisches an sich, und man kann sie in Urzidils Ausführung als mythisierende biographische Schreibstrategien interpretieren. Bezeichnenderweise sind Urzidils Kafka-Essays voller Bekenntnisse zur Kultur und Literatur, sehr selten jedoch ist in ihnen Geschichte und Politik zu finden. Es müsste eigentlich verwundern, denn zum einen liegt zwischen Kafkas (und Urzidils) Prag und Urzidils New York der Zweite Weltkrieg samt dem Holocaust, zum anderen befand sich Prag damals hinter dem Eisernen Vorhang. Es lassen sich in den Kafka-Essays lediglich kurze – meist sehr indirekte – Bemerkungen finden, die Bezüge zum historisch-politischen Kontext enthalten. Der Nationalismus wird kritisiert, doch vor allem noch im 4 Kafka und Amerika ist ein Thema für sich. Bekanntlich war Kafka nie in Amerika, verfasste über das Land aber einen Roman, der als einziges Prosastück von Kafka einen optimistischen Ausklang hat. Urzidil läßt den alten Kafka in seiner Erzählung Kafkas Flucht (Urzidil 1964) in New York leben (s. Anm. 2).
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Vorkriegskontext. Mit der Nachkriegszeit scheint Urzidil nichts zu tun haben zu wollen.5 Nur indirekt schreibt er für den Berliner Monat im Juni 1961: Die Aktualität Kafkas deutet man als einen Beweis für das Zusammentreffen seiner Visionen (von angsterfüllter Ausweglosigkeit inmitten einer kosmischen Bürokratie) mit gewissen qualvollen, keineswegs auf bestimmte Zonen beschränkten Zeiterscheinungen. (Urzidil 1966c: 17)
Oder in einem Aufsatz in der New Yorker Germanic Review im Oktober 1961: „Es wäre jedoch absurd, Kafkas Werk unter irgendeinem politischen Aspekt betrachten zu wollen.“ (Urzidil 1966d: 35) Eine solche Deutung würde Urzidil einfach als Verarmung empfinden. Eventuelle aktuelle Bezüge werden also bewusst ausgespart. Diese Vorgehensweise lässt sich in gewissem Maße mit der mythisierenden Schreibweise erklären, die nicht zuletzt die eigene Positionierung und Inszenierung selbst zum Ziel hat. Das Politische hat nach Urzidil offensichtlich hier nichts zu suchen, das Mythisierende und überzeitlich Stilisierte verhüllt politische Aspekte, die das harmonische Bild womöglich stören und zu einer Auseinandersetzung auch mit der eigenen Biographie zwingen könnten. Am wichtigsten sei für einen Schriftsteller die Sprache, die Urzidil als etwas sehr Essentielles betrachtet. Für den Schriftsteller sei sie eine ganze Welt. Der Kontext der (deutschsprachigen) Literatur ist daher der wichtigste, um Kafka zu verstehen, Urzidil meint sogar: Auf tschechischer Seite werden immer wieder Versuche gemacht, Kafka als eine Art verholenen [sic!] Tschechen darzustellen und ihn aus der deutschen Literatur zu eskamotieren, […] ein Schriftsteller gehört zur geistigen Repräsentanz der Sprache, in der er denkt und schreibt. (Urzidil 1966a: 12)
Man dürfe nicht vergessen, dass es um das Deutsch der Prager Juden geht, um ein verortetes Deutsch. Deshalb ist für Urzidil auch das Hebräische wichtig, das Kafka lernte; dem Hebräischlernen und dem Hebräischlehrer Friedrich Thieberger, seinem Schwager, hat Urzidil (1966e) einen langen Essay gewidmet. Man fragt sich aber, warum das Jiddische nicht auch dabei ist, dem
5 Klaus Johann meinte im Rahmen einer Diskussion hierzu, dass auch Urzidils Studie Die Tschechen und Slowaken von 1960 mehr oder weniger mit der Gründung der Ersten Republik endet, was davon zeugen könnte, dass der Schriftsteller eventuelle ‚Minenfelder‘ meiden wolle, indem er sie nicht anspricht. Nach Johanns Meinung, die er mit Gerhard Trapp (2005: 13f.) teilt, fürchtete Urzidil, sich in einen Teufelskreis von Schuldzuweisungen zwischen Deutschen und Tschechen zu begeben, zumal er seine Energie ins Schreiben investieren wollte, wie er auch schon in den vierziger Jahren an den Prager Freund Josef Matouš schrieb (s. dazu den Beitrag von Jitka Křesálková im vorliegenden Band).
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Kafka bekanntlich eine wunderbar provokante Rede6 widmete, in der er über das Hochdeutsche und das Jiddische, den ‚Jargon‘, sprach.7 Die tschechischen Schriftsteller schätzt Urzidil, zumindest in diesem Essay, nicht so hoch ein, sie hatten seiner Meinung nach geringere Chancen auf derartig Grundsätzliches, das im Prager Deutsch möglich war. „Tschechische Dichter und Schriftsteller, noch tief verstrickt in ihre nationalen Bestandskämpfe, konnten sich solcher Grundsätzlichkeit nicht anheimgeben“, meint er (Urzidil 1966a: 8). Das Deutsche sei im stärkeren Maße zur Objektivität fähig. Unter der Forderung des „schlechthin Europäischen“ seien die deutschsprachigen Dichter „viel entschiedener gestellt“ gewesen (Urzidil 1966a: 10). Zugleich schätzt Urzidil aber die vermittelnde Rolle des Tschechischen (dank dessen, wie gesagt, er russische Schriftsteller nicht nur in deutscher Übersetzung, sondern auch in einer slavischen Sprache lesen konnte) und man kann seinem Essay auch die Überzeugung entnehmen, dass in dem sprachlichen Schmelztiegel des Vorkriegsprags auch die deutsche Dichtung besser als woanders gedieh.
6 Siehe: Einleitungsvortrag über Jargon (Kafka 2002); der Text ist auch als Rede über die jiddische Sprache bekannt (Kafka 1953 und spätere Ausgaben). Kafka trug diese Rede am 28.01.1912 im jüdischen Rathaus in Prag aus Anlass eines festlichen Abends für den Schauspieler Jizchak Löwy vor. Der Text des Vortrags ist nur in einer Abschrift überliefet, angefertigt von Elsa Taussig (Pasley 2002: 67). Peter Demetz äußert in seinem Essay über die Rezeption des Jiddischen im Kreis der Prager Intellektuellen die Vermutung, daß das Interesse am Jiddischen in der Regel aus dem Interesse am Zionismus resultierte. Urzidil war kein Anhänger des Zionismus, vielleicht hat er deswegen das Jiddische als Phänomen aus dem Gesichtsfeld verloren (siehe: Peter Demetz 2006). 7 Klaus Johann erwähnte mir gegenüber, dass der Grund hierfür Urzidils Grundaxiom von der Reinheit des Prager Deutsch gewesen sein könnte. Urzidil verteidigte das Prager Deutsch „gegen alle noch so triftigen Einwände von Freund (Peter Demetz) und ‚Feind‘ (Klaus Wagenbach) wie ein Löwe“, zumal oft der Vorwurf erhoben wurde, es sei defizitär gewesen. Urzidil bemühte sich um eine Abgrenzung des Prager Deutsch vor allem gegen andere als defizitär oder minderwertig geltende Soziolekte, wie das Kucheldeutsche oder eben auch das Jiddische. Die Argumentation von Klaus Johann ist richtig und zutreffend, was die Haltung Urzidils betrifft, trotzdem erklärt sie nicht, warum ‚der Jargon‘ nicht erwähnt wird, als es um das Interesse Kafkas und anderer am Judentum ging. Eine Erwähnung würde ja nicht gleich eine Identifizierung der beiden Sprachen bedeuten – möchte man Urzidils Denkweise folgend entgegenhalten.
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3. Günther Anders – der Weltlose
Günther Anders schreibt seinen Essay Kafka, pro und contra ähnlich wie Urzidil in New York, auch auf Deutsch, also nicht in der Sprache des Exillandes.8 Er verfasst ihn jedoch unmittelbar nach Kriegsende 1946,9 was für die Perspektive dieses Textes zweifellos eine enorme Bedeutung hat. Die Abhandlung hatte ihre Anfänge noch in der Zwischenkriegszeit. In der in den achtziger Jahren verfassten Einleitung zu dem Essayband Mensch ohne Welt, der neben solchen Autoren und Künstlern wie Alfred Döblin, John Heartfield, Bertolt Brecht, Hermann Broch und Georges Grosz gewidmeten Aufsätzen auch einen Nachdruck des Kafka-Textes enthält, erinnert sich Anders an diese Vorgeschichte. Er habe Kafka früh rezipiert, neben Anerkennung jedoch seit je auch eine gewisse Abneigung gegen den Autor gehegt. Was Anders „aufregte“, war etwa das „Nicht-in-der-Welt-Ankommen-Können des Landvermessers K.“ (Anders 1993a: XXXI) Die Haltung des Kafkaschen Protagonisten deutete er als einen Zustand permanenten Unerwachsen-Bleibens (Klentak-Zabłocka 2005) und bezog sie auf die seiner Auffassung nach vielen westeuropäischen Juden eigene Sehnsucht, endlich in ihren nicht-jüdischen Gesellschaften und Kulturen anzukommen und sich völlig anzupassen. Anders notiert über seine frühe Kafka-Rezeption:
8 Günther Anders ist 1902 als Günther Stern in Breslau geboren, nach den Exiljahren in Paris und den USA lebte er seit Beginn der 50er Jahre in Wien, wo er auch gestorben ist. Urzidil und Anders verbindet auch die Tatsache, dass sie in den frühen dreißiger Jahren regelmäßig für den Berliner Börsen-Courier schrieben, im New Yorker Exil waren beide Aufbau-Autoren. 9 Anders führte nach der Erstveröffentlichung seines Kafka-Essays 1947 in der Neuen Rundschau eine öffentliche Diskussion mit Max Brod, dem Anders Deutung ausdrücklich nicht gefiel und der 1952 in der Neuen Schweizer Rundschau auf Anders replizierte (Brod 1952a), dieser ebendort wiederum auf Brod (Anders 1952) und dieser schließlich noch einmal ebendort auf Anders (Brod 1952b). Valentina Sardelli ediert in ihrer Dissertation einen Brief Urzidils an Brod vom 9. Juli 1947, in dem sich Urzidil zu der Kontroverse kurz äußert: „Ein anderer,“ – vorher war es um Charles Neider gegangen – „der auch alles besser weiß, ist Herr Günther Anders in der ‚Neuen Rundschau‘. Trude, die Sie herzlichst grüßt, und ich lasen die Anderssche Exegese und dachten mit Lachen daran, was Kafka hiezu [sic] gesagt haben möchte.“ (Sardelli: 2009: 111; zu Brod vs. Anders s. dort Anm. 202) (Eine ähnliche Haltung nimmt übrigens Kafka/Key in Kafkas Flucht ein, wenn er sich amüsiert: „Da scheinen ja einige Leute durch Beschäftigung mit meinen Betrachtungen ganz gut vorwärtsgekommen zu sein. Sogar Professoren sind darunter.“ (Urzidil 1964: 89)
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Und schließlich erkannte ich in den Lebensversuchen K.’s natürlich die uns Juden vertraute ‚Bemühung, dazuzugehören‘ und akzeptiert zu werden. Aber das Sich-Abstrampeln K.’s, das Kafka im ‚Schloß‘ darstellte, schien mir doch weit über das, was sich mit ‚Würde‘ vereinbaren ließ, hinauszugehen. Schwer zu verschweigen, dass ein Gran von Verachtung von vornherein in meine Bewunderung des Künstlers Kafka hineingemischt war. (Anders 1993a: XXXII; Herv. i. O.)
Aus diesem Grunde gab Anders seiner Kafka-Abhandlung den Untertitel pro und contra, der die Ambivalenz zum Ausdruck bringen sollte. Diese Sehnsucht nach vollkommener Angepasstheit, die er in Europa zu beobachten glaubte, erkannte er – wie er einige Zeilen weiter schreibt – in den vierziger Jahren im europäischen Flüchtlingsmilieu in Amerika wieder. Die neu Angekommenen wollten rasch so ‚amerikanisch‘ werden wie möglich. Die Problematik, um jeden Preis dazugehören zu wollen, verband er damals auch mit seinen frischen Erfahrungen aus Deutschland, wo er mit „atemloser Gleichschaltung gestriger Freunde mit dem Dritten Reich“ (Anders 1993a: XXXII) konfrontiert wurde. Eher zwischen den Zeilen als direkt erkennt der Leser, dass Günther Anders Kafka als zu unpolitisch und allzu sehr in einer schulderfüllten Passivität verstrickt empfunden haben muss. Obwohl er in Kafka, pro und contra den Prager Schriftsteller einen tiefen, sogar prophetischen Realisten nennt, sah er in den vierziger Jahren, wie die Wirklichkeit (er erwähnt die Atombombe) immer wieder über Kafka hinausging. Zweifellos aber blieb Kafka für Anders stets am engsten mit der spezifisch jüdischen Erfahrung in der Moderne verbunden. Mit der Kafka-Abhandlung schuf Anders eine suggestive Beschreibung des ‚weltlosen Menschen‘ und der totalitären Züge der Moderne – gerade von den Erfahrungen ausgehend, denen er mit Abneigung begegnete: Der Erfahrung des Immigrantendaseins in der Welt, des Paria samt seiner Sehnsucht danach, sich nicht mehr von der Umgebung unterscheiden zu müssen. Anders verfasste mit seinem Kafka-Text eine Parabel über die Moderne, deren Bestandteil nicht nur die Urbanisierung und Technik, sondern auch das Dritte Reich und die neue Welt der Massengesellschaft waren. Er versöhnte in dieser Abhandlung die Heideggersche auf Hölderlin rekurrierende Philosophie des Dichtens in einer ‚dürftigen Zeit‘ (das Heideggersche Echo ist in dem Kafka-Text oft an der Begriffsbildung zu erkennen) mit der marxistischen bzw. neomarxistischen Diagnose allgegenwärtiger Entfremdung im Spätkapitalismus – und erfasste ein Zeugnis der Selbstwahrnehmung des Zeitgeistes, das später im Exis tentialismus, in den Dramen Samuel Becketts, in den Kafka-Deutungen von Theodor W. Adorno und Martin Walser seine Fortsetzung fand. Unmittelbarer Anstoß zu einer Beschäftigung mit Kafka soll der Vortrag gewesen sein, den Anders 1934 im Institut d’Études Germaniques in Paris gehalten
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hatte. Er war als Flüchtling aus Hitler-Deutschland und als Staatenloser selbst in einer kafkaesken Situation. Unter den Zuhörern im Institut befanden sich Anders’ damalige Frau Hannah Arendt und Walter Benjamin (ein Großcousin von Anders) – wie Anders vermutete, die einzigen, die damals in Frankreich überhaupt eine Ahnung von Kafka hatten. Zehn Jahre nach dem Pariser Vortrag ergab sich für Anders, inzwischen in den USA angekommen, eine Gelegenheit, in der Presse etwas über Kafka zu schreiben, der dort gerade in Mode gekommen war. Aus den überbearbeiteten und erweiterten Pariser Notizen entstand der Text Kafka, pro und contra. Ein Kapitel der inzwischen umfangreichen Abhandlung war in der amerikanischen Zeitschrift Commentary erschienen. Die Erstveröffentlichung erfolgte nach Anders’ Rückkehr nach Europa 1951 beim Beck-Verlag, Auszüge waren bereits 1947 in der Neuen Rundschau abgedruckt worden. Wie wichtig Kafka für Anders war – trotz aller Distanzierungen und Einwände (Anders erwähnt immer wieder, dass der Anstoß zu seiner Kafka-Beschäftigung rein äußerlich war, dass er seine Notizen über Kafka immer wieder vergaß und dass es zum Druck der Abhandlung eigentlich ohne sein Zutun kam) (Anders 1993a: XXXVff.) –, erkennt man am besten an der Seitenzahl, die Anders in der Einleitung den einzelnen Autoren gewidmet hat. Der Einleitungsteil zu Kafka ist deutlich länger als die übrigen, den anderen Autoren gewidmeten Kapitel. Anders verfährt konträr zu Urzidil – bei ihm gibt es keine vergangene, aber identitätsstiftende lebendige Welt, in die Kafka hineingehören würde. Dort, wo bei Urzidil trotz allen Pessimismus’ der kafkaesken Welt eine Essenz zu finden ist, die vor allem darin besteht, dass eine kulturelle Vielfalt vorhanden war, hebt Günter Anders das Negative, Entstellte, Entfremdete hervor. Anders’ Text ist in sich sehr einheitlich, er arbeitet mit einer Perspektive, die überaus immanent zu sein scheint. In Wahrheit versucht er jedoch, eine tiefe Verbindung zwischen Kafkas Werk und der unmittelbaren Gegenwart zu finden. Diese Verbindung offenbart sich in Kafkas Stil, wie ihn Anders interpretiert, indem er auf solche Begriffe wie Umtaufen, Entstellen, Verblüffen, Irrealisieren, Invertieren verweist. Seinen Essay eröffnet er mit einem Zitat aus Kafkas Tagebuch: Ich habe das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämpfen, sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht habe, kräftig aufgenommen. An dem geringen Positiven sowie an dem äußersten, zum Positiven umkippenden Negativen, hatte ich keinen Anteil. Ich bin nicht von der allerdings schon sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen. Ich bin Ende oder Anfang. (Kafka, Tagebuch 4) (Anders 1993b: 45)
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Auch Günther Anders hält das Jüdische für äußerst wichtig in Kafkas Schaffen. Er sammelt jedoch keine Legenden vom Golem und der Kabbala, keine von den alten Prager Rabbinern, er beschreibt nicht die Geschichte der Juden in Prag, um Kontexte aufzubauen, sondern stellt fest: Ein beträchtlicher Teil des Kafkaschen Werkes handelt vom Juden. So der Roman ‚Das Schloss‘, so die Mäusegeschichte ‚Josephine‘. Aber das Wort ‚Jude‘ kommt selten vor. Ja, in den ‚Chinesische Mauer‘ genannten Stücken ist das Wort ‚Jude‘ sogar durchweg durch das Wort ‚Chinese‘ ersetzt. (Anders 1993b: 48)
Günther Anders zufolge versucht Kafka, indem er aus der jüdischen Erfahrung schreibt, die als Paria-Erfahrung zu verstehen ist, seine Leser auf die Entsetzlichkeit der modernen Welt vorzubereiten. Auch Anders sieht Kafka stets im Kontext der großen Namen der Weltliteratur (etwa neben Kleist und Cervantes).10 Einige Namen decken sich sogar mit denen Urzidils (etwa der Kierkegaards). Kafkas Stellung in der langen Reihe der Weltgrößen wird allerdings auf andere Weise als bei Urzidil gedeutet – weniger als Kontinuität, wenn auch unter dem Zeichen von existentiellem Pessimismus, sondern als Ende einer Tradition und zugleich als Anfang von etwas, was dieser Tradition nun zutiefst widerspricht, obwohl es aus ihr – wie nach dem Gesetz einer negativen Dialektik – geboren wurde. Kafka greife das uralte Motiv der Metamorphose auf, arbeite mit der seit Äsop bekannten Gattung der Fabel, um aber am Ende eine Welt darzustellen, die den älteren Autoren völlig fremd sein müsste, in der das Antihumane nicht mehr verblüfft. Hier findet die verfremdende Figur der Inversion ihre Anwendung. Anders stellt fest: „Will Kafka sagen: Das Selbstverständliche und Nichtverblüffende unserer Welt ist entsetzlich, so invertiert er: Das Entsetzliche ist nicht verblüffend.“ (Anders 1993b: 52) Es entsteht eine Welt, in der die Protagonisten nichts als ihre Funktionen und Berufe sind; in dieser Welt der Funktionen weiß trotzdem keiner, wer er ist. Keiner weiß, wer es ist? Widerspricht das nicht der vorhin vertretenen Behauptung, die ‚Kafka-Wesen‘ gingen in ihrem ‚Berufe‘, ihrem Status, auf […]? Kaum. Sowenig, wie sie sich etwa im faschistischen Staate widersprechen. (Anders 1993b: 80; Herv. i. O.)
Die berühmte parabolische Vieldeutigkeit der kafkaschen Schriften interpre tiert Anders dann auch im Sinne einer Kultur- bzw. Politikphilosophie: Wir haben es bei Kafka mit einer Situation zu tun, in der man (in Anspielung auf 10 Auch von Urzidil gibt es einen umfänglichen Essay Cervantes und Kafka (Urzidil 1972; zuerst erschienen in: Gold 1969: 107-122). Leider muss ich wegen Platzmangel auf einen Vergleich des Cervantes-Motivs bei Urzidil und Anders hier verzichten. Klaus Johann danke ich für den genauen Hinweis.
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den bekannten Marx-Satz aus den Thesen über Feuerbach) „die Welt interpretieren muss, weil andere sie verwalten und verändern.“ (Anders 1993b: 81) Von einer Verwurzelung in der Sprache, wie sie Urzidil schätzt, ist bei Anders kaum zu sprechen, denn Kafka benutzt nach ihm eine Sprache, in der alle sozialen und psychologischen Stufen nivelliert würden. Überhaupt könnte man wohl sagen: Dort, wo Urzidil noch eine letzte Chance auf Verwurzelung sieht, sieht Anders die radikale Inversion. Günter Anders’ Beschäftigung mit Kafka würde ich als die Erfahrung eines deutsch-jüdischen Exilanten aus dem Dritten Reich interpretieren, der sich die Nostalgie nach einer vernichteten Welt nicht leisten kann, sich aber im Herzen der Moderne, in Amerika, auch nicht wohl fühlt. Seine Erfahrung entspringt der Erfahrung des Jüdischseins als Pariadasein. Dank der Auseinandersetzung mit Kafkas stilistischen Kunstgriffen, mit seinem Erzählstil, muss das Wort Jude aber eigentlich nicht mehr genannt werden, denn es betrifft jeden, nur die Nicht-Juden und NichtParias haben es bisher nicht wahrgenommen.
4. Gustaw Herling-Grudziński – der Heimkehrer
Gustaw Herling-Grudzińskis Kafka-Lektüren haben, verglichen mit denen von Urzidil und Anders, wohl den intimsten Charakter, denn sie fanden vorwiegend in Grudzińskis Tagebuch Ausdruck, dass er seit Ende der sechziger Jahre bis zu seinem Tode führte.11 Das Tagebuch wurde von Anfang an mit dem Gedanken an eine Publikation geschrieben, allerdings Grudzińskis 11 Gustaw Herling-Grudziński wurde 1919 in einer polonisierten jüdischen Familie in Kielce (Zentralpolen) geboren und ist 2000 in Neapel gestorben. Seine Eltern waren mosaischen Glaubens. Grudziński versuchte 1940 nach Litauen zu fliehen, wurde aber von den Sowjets verhaftet und nach einem Gefängnisaufenthalt in das Lager Jercewo im Norden Russlands verschickt. Aufgrund des sowjetisch-polnischen Regierungsvertrags nach dem deutsch-sowjetischen Krieg konnte er 1943 die Sowjetunion mit der sogenannten AndersArmee verlassen. Er nahm als Soldat an Kämpfen an der Westfront teil und blieb 1945 im westeuropäischen Exil, lebte in Neapel. Er war Schriftsteller und Publizist, zu seinen bekanntesten Werken gehört Inny świat [Andere Welt, dt. Ausgabe 1953 als Welt ohne Erbarmen, Neuausgabe 2000], eines der frühesten Zeugnissen über die sowjetischen Lager. Seine Bücher sind in Deutschland unter dem Namen Gustaw Herling erschienen. Eine umfangreiche deutsche Auswahlausgabe aus den beiden Tagebuchbänden mit Eintragungen
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allzu persönliche oder tagespolitische Einträge entfernt. In dem Tagebuch wendet sich Herling-Grudziński Kafka nicht systematisch zu, er will keine zusammenhängende Darstellung geben, sei es von Kafkas Werken, sei es von dessen Leben, sondern er betrachtet Kafka, der für ihn eine Einheit aus Leben und Werk zugleich darstellt, immer wieder als Orientierungspunkt. Bestimmte Ereignisse kann man – so scheint Herling-Grudziński zu denken – mit Kafka besser verstehen oder mit Kafka am besten kommentieren. Grudziński hat weder einen persönlichen Kontakt zu Kafka und dem Prager Kreis gehabt, noch konzentriert er sich auf die innere Hermeneutik von Kafkas Werk, um die moderne Erfahrung der Entfremdung zu beschreiben. Er notiert vielmehr seine Gedanken nach der Lektüre von Kafkas Briefen, reflektiert über dessen Verhältnis zu Felice Bauer und Dora Dymant, denkt über Kafkas Stellung zum Schreiben nach. Die Tagebuchnotizen haben deshalb immer den Charakter von Skizzen und Fragmenten. Kafka gibt Grudziński im Tagebuch Gelegenheit zum Selbstgespräch – nicht zuletzt zum Selbstgespräch als Schriftsteller. Nicht selten schreibt Grudziński Ausschnitte aus Kafkas Texten ab oder fasst sie mit eigenen Worten zusammen, um sie dann selber weiterzuschreiben. In dem Tagebucheintrag vom 15. April 1973 erzählt er etwa die bekannte Parabel Vor dem Gesetz nach und fügt dann seine eigene Ergänzung hinzu. Heutzutage würde – so Grudziński – diese Parabel mit dem Bild des sterbenden Türhüters enden, dem ein vorbeigehender zufälliger Passant im letzten Augenblick erklärt, dass auch er, der Türhüter, sich getäuscht hat. Es gäbe kein Gesetz, die Tür führte ins Nichts, und sie hätte nur solange einen Sinn, wie der Mann vom Lande und der Türhüter lebten (Herling-Grudziński 1995: 21ff.). Andernorts wird auf eine ähnliche Weise Kafkas Umdeutung des Prometheus-Mythos fortgesetzt: Nach der fünften, Kafka unbekannten Legende, war Prometheus ein Provokateur. Nach einer Absprache mit den Göttern enthüllte er den Menschen falsche Geheimnisse, dann inszenierte er eine Komödie der Strafe, die auf der Fesselung an die Felsen des Kaukasus beruhte, wo die Adler Prometheus’ Leber Stück für Stück herausgerissen haben – alles, um die Menschen von der Suche nach wahren Geheimnissen abzubringen. Sollten sie je erfahren, dass sie betrogen wurden, dass der prometheische Traum von der den Göttern entrissenen Macht nur eine Provokation war, wird es bereits zu spät sein. (HerlingGrudziński 1995: 206f., übers. a. d. Poln. v. M. T.)
Entgegen der weit verbreiteten Meinung, Kafka habe das Grauen der Geschichte im 20. Jahrhundert wie kein anderer vorhergesehen, scheint Herling-Grudziński zu meinen, es gebe Dinge, von denen auch Kafka noch der Jahre 1984 bis 1995 ist unter dem Titel Tagebuch bei Nacht geschrieben 2000 bei Hanser in München erschienen.
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keine Vorahnung hatte. Tatsächlich ist ein Wort wie Provokation keines, das in das Vokabular von Kafka passt. Ähnlich wie Günther Anders sieht Grudziński in Kafka also einen prophetischen Schriftsteller, der in seinen dunklen, aller Deutung gegenüber verschlüsselten Parabeln die Grauen des 20. Jahrhunderts bereits zur Zeit des Ersten Weltkriegs diagnostizierte und vorahnte, der jedoch trotz seiner Gabe nicht selten von der Wirklichkeit eingeholt und überholt wurde. Man kann und soll also an Kafkas Werk weiterschreiben. HerlingGrudziński kannte die Kafka-Abhandlung von Anders und schätzte sie sehr. In dem Tagebucheintrag vom 14. Oktober 1985 nennt er Günther Anders den „wohl intelligentesten ‚Kafkologen‘“ (Herling-Grudziński 1996: 261-263) und zitiert eine Passage aus Kafka, pro und contra, in der Anders feststellt, das Erschütterndste an der Verwandlung sei nicht Gregor Samsas Erwachen als Ungeziefer, sondern die Tatsache, dass sich weder Gregor noch ein anderer über die Verwandlung wundert. Das Grausame ist die Alltäglichkeit des Grotesken. Schaut man sich das Namenregister der jüngsten Ausgabe von HerlingGrudzińskis Tagebüchern12 an, fällt sofort auf, dass der Name Franz Kafka zu den am häufigsten erwähnten gehört, und zwar unabhängig von der politischen Epoche. Vergleichbar oft werden nur Josef Stalin, Alexander Solschenizyn, Jesus Christus und Fjodor Dostojewskij, Papst Johannes Paul II., General Wojciech Jaruzelski, der 1981 den Kriegszustand in Polen ausrief, Lech Wałęsa (Jaruzelski und Wałęsa sind in den achtziger Jahren ein häufiges Thema), Gorbatschow (Anfang der neunziger Jahre), Lenin und Orwell erwähnt. Obwohl Herling-Grudzińskis Tagebücher sehr reich an Auseinandersetzungen mit Schriftstellern und Künstlern, sowohl mit den zeitgenössischen als auch mit denen aus vergangenen Epochen, sind, wird nur der Name Dostojewskijs vergleichbar oft wie der Kafkas genannt. Mit gewisser Ähnlichkeit zu den Essays von Johannes Urzidil errichtet sich der Schriftsteller Herling-Grudziński eine geistige Welt von Schriftstellern und Künstlern, auf die er sich immer wieder bezieht, bei denen er Anstöße und Fragen oder Antworten sucht. Im Unterschied zu Urzidil scheint bei ihm diese Klassikerwelt aber viel brüchiger zu sein, nicht der Geschichte entrückt; in der Regel wendet sich Grudziński an seine imaginären Gesprächspartner, um sich mit einer aktuellen Situation auseinanderzusetzen. Oft sind längst verstorbene Dichter in solchen Augenblicken plötzlich von weit größerer Bedeutung als die Zeitgenossen. Am 13. Oktober 1979 etwa fragt sich Herling-Grudziński am 12 Die erste ‚legale‘ polnische Ausgabe aus den neunziger Jahren ist mit einem Register versehen, die Untergrund-Ausgaben aus den achtziger Jahren verfügten über kein Register.
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Rande der Lektüre von Sebastian Haffners Anmerkungen zu Hitler (1978) nach dem Phänomen des ‚sozialisierten Menschen‘. Stefan George schrieb im Jahre 1921 ein Gedicht (Der Dichter in Zeiten der Wirren), das – so Herling-Grudziński (1995: 434ff.) Haffner folgend – „wie zugeschnitten“ auf einen Hitler war. Als Hitler jedoch die politische Szene betrat, floh der erschrockene George in die Schweiz. Hitler war nämlich – so Herling-Grudziński – ein Phänomen der beginnenden neuen Zeit, der Zeit einer zu Massenaufmärschen gedrillten und disziplinierten Menschheit, und einer der wenigen, die bereits früh das Nahen der neuen Epoche erblickte, war Kafka. Kafka scheint für Herling-Grudziński eine äußerst wichtige Funktion zu erfüllen, die erklärt, warum er in den Tagebüchern zu den am häufigsten erwähnten Schriftstellern neben Dostojewskij gehört. Sowohl Dostojewskij als auch Kafka erlauben Grudziński, trotz der Existenz des Eisernen Vorhangs, Europa als ein Ganzes zu sehen und die westeuropäische Erfahrung mit der osteuropäischen zu verbinden. Der russische Romancier des 19. Jahrhunderts hat wie kein anderer die Abgründe der menschlichen Psyche in der Epoche des ‚toten Gottes‘ beschrieben, er war auch einer der ersten, der die Arbeitslager in Sibirien beschrieb, lange vor der Zeit, als Lager im Herzen Europas errichtet wurden. Kafka verbindet für ihn die Züge der Moderne (wobei ihn Herling-Grudziński immer in letzter Instanz für einen äußerst unorthodox theologischen Dichter hielt) im westeuropäischen Sinne mit dem spezifisch Grausam-Grotesken des sowjetischen Ostblocks. Mit Kafka lässt sich über die totalitäre Erfahrung in Europa insgesamt sprechen. Es kann aus dieser Perspektive nicht verwundern, dass Grudziński in seinem Essayband über die russische Literatur und Literatur im Sowjetblock zwei Essays Franz Kafka gewidmet hat: Kafka w Rosji [Kafka in Russland] und Kafka wraca do Pragi [Kafka kehrt nach Prag zurück].13 Kafka ist in diesen Essays – in der Gestalt seiner Werke – ein Exilant, der nach vielen Jahren zurückkommt und nur unter großen Vorbehalten und für kurze Zeit „ein Visum“ erhält. 13 Gustaw Herling-Grudziński: Godzina cieni [Die Stunde der Gespenster], Kraków 1991 und Upiory rewolucji [Gespenster der Revolution], Lublin 1992 (beide Sammlungen enthalten beide Essays). Die Essays erschienen zuerst in verschiedenen polnischen Exilzeitschriften in Westeuropa. Neben den beiden Texten und den zahlreichen Aufzeichnungen zu Kafka in den Tagebüchern schrieb Herling-Grudziński 1976 die Erzählung Praga Kafki [Kafkas Prag]. Der Ausgangspunkt dafür war eine Pressenotiz in Le Monde, in welcher erwähnt wurde, dass anlässlich des 52. Todesjahres von Kafka in der US-amerikanischen Botschaft in Prag eine Gedenktafel eingeweiht worden sei. Die tschechoslowakische Regierung blieb der Zeremonie fern. Herling-Grudziński (1999) beschrieb daraufhin eine imaginäre KafkaKonferenz in der Botschaft in Prag.
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Aus der Perspektive einer imaginierten Rückkehr ist für Herling-Grudziński, obwohl er nicht wenig über erste Kafka-Übersetzungen bzw. Neuausgaben in der Volksrepublik Polen und in der Sowjetunion schreibt, die Kafka-Tagung im tschechoslowakischen Liblice von ganz besonderer Bedeutung gewesen. Er erwähnt diese Tagung mehrmals, in verschiedenen Kontexten, am besten hat er das Absurde und Groteske wohl in der Tagebuchaufzeichnung vom 27. März 1974 getroffen. Anlässlich des im vorangegangenen Jahr in der tschechischen Zeitschrift Tribuna erschienenen Hetzartikels Mit Kafka gegen den Sozialismus bemerkt Grudziński, damit werde Kafka, den man in Prag hinter dem Eisernen Vorhang 1963 vorsichtig einführte, aus Prag wieder verbannt: Genau zehn Jahre war Kafkas Aufenthaltsvisum für Prag gültig. Es begann mit der Aufforderung Ernst Fischers an tschechische Genossen: ‚Bekommt denn Kafka, zum Teufel, von euch kein Einreisevisum?‘ Dann debattierte man auf dem Liblicer Schloss in der Nähe von Prag am 27. und 28. Mai 1963, in der auserlesenen Gesellschaft prominenter europäischer Marxisten von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Es war im wahrsten Sinne der Prozess auf dem Schloss. Die einen waren dafür, die anderen dagegen, ein positives Urteil auf Bewährung hatte Goldstücker im Voraus auf dem Hradschin bereits ausgehandelt, gestritten wurde also praktisch nur um die Begründung. Vorsichtige Marxisten aus dem Kreml eilten nicht nach Liblice, aus der Ferne schlugen sie ihren Kollegen vor, die Begründung dieses Urteils auf Kafkas ‚Vorahnung des Faschismus‘ zu stützen. Es war eine vortreffliche Lösung, längst ausprobiert, auf eine solche Weise bekam einst der Autor der ‚Dämonen‘ sein Einreisevisum in die Sowjetunion. Der Vorschlag wurde indigniert aufgenommen […]. Man musste nun ein echtes Dilemma entscheiden: ist die kafkasche Entfremdung bloß ein wesentlicher Charakterzug des Kapitalismus, oder hat sie es geschafft, sich […] in die Festung des Sozialismus einzuschleichen? Eine goldene, […] Lösung fand Garaudy: Kafkas Entfremdung sei der modernen Industriegesellschaft eigen und mit keinem bestimmten politischen System verbunden. Aufgrund dieses Urteils gewährte man Kafka sein Einreise- und Aufenthaltsvisum. Annulliert wurde es im Mai des vergangenen Jahres, mit dem in der Parteiwochenzeitschrift Tribuna erschienenen Artikel Mit Kafka gegen den Sozialismus. (Herling-Grudziński 1995: 76f., Übers. v. M. T.)
Die turbulente und schnell wieder verbotene Präsenz Kafkas in seiner Heimat hinter dem Eisernen Vorhang hat Herling-Grudziński mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Seinen Essay Kafka wraca do Pragi [Kafka kehrt nach Prag zurück], der zuerst 1967 als Kafka wraca do kraju [Kafka kehrt in die Heimat zurück] in der polnischsprachigen Pariser Exilzeitschrift Kultura erschien, versah er im Nachdruck von 1968 mit einer Ergänzung, in der er einen Artikel aus dem Neuen Deutschland zitierte. Der Autor des Artikels, ein nicht mit Namen genannter DDR-Journalist, bezeichnete 1968 die Liblicer
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Konferenz als eine Vorbereitung auf die Konterrevolution und einen Hort des Revisionismus (Herling-Grudziński 1992: 57).14
5. Drei Lektüreparadigmen?
Die Kafka-Lektüren von Johannes Urzidil, Günther Anders und Gustaw Herling-Grudziński unterscheidet viel, es lassen sich jedoch auch gemeinsame Züge feststellen. Sowohl für Urzidil als auch für Anders und für HerlingGrudziński ist Kafka ein Autor, mit dem sie sich als Exilanten besonders 14 Interessanterweise ist diese Tagung in Liblice weder Urzidil, der von Věra MacháčkováRiegerová darüber informiert wurde (s. den Beitrag von Valentina Sardelli in diesem Band), noch Günther Anders entgangen, der sie Anfang der achtziger Jahre am Rande seiner Kafka-Beschäftigung erwähnt: „Nicht minder komisch als die Reaktion Brods scheint mir die Tatsache, dass sich ein paar Jahre nach der Veröffentlichung meines Bändchens einige marxistische Theoretiker auf dem berühmten Kongreß in Liblice ausgerechnet dadurch als antistalinistische und als echte Revolutionäre zu beweisen versuchten, dass sie entschieden für die (politisch ganz unentschiedenen) Schriften Kafkas und gegen die wahrhaft läppische Unterdrückung dieses ungefährlichen Werkes durch die Oststaaten auftraten. Wie sonderbar, dass sie (obwohl ich Kafka ja als politisch vage und desorientiert, und die Kafka-Mode als gleichschaltungsanfällig verdächtigt hatte) gerade meiner Darstellung Sympathie entgegenbrachten – so z. B. Ernst Fischer. Das rührte wohl daher, dass ich Kafka einen ‚Realisten‘ genannt habe, wodurch ich die Schande, ein kleinbürgerlicher Mystagoge zu sein, von ihm abgewaschen und ihn politisch stubenrein gemacht hatte. So geschehen mehr als 30 Jahre nach dem Tode des tuberkulösen Dichters, der damals wahrhaftig nicht hätte ahnen können, dass er noch einmal als Ausrede für Häretiker, gar als Bannerträger einer marxistischen Fraktion, des ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ fungieren würde. Auch Lukács hat mir übrigens in den 50er Jahren zugestanden, dass ich mit meiner Klassifizierung Kafkas als ‚Realisten‘, nein sogar als ‚prophetischen Realisten‘, recht gehabt hätte (Anders 1993a: XXXVII; Herv. i. O.). – „Eine der letzten Anekdoten aus Georg Lukács’ Leben [...]“, der ja in der Regierung Nagy Kultusminister war, handelt direkt nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes: „Nach nächtlicher Verhaftung in Budapest 1956, rasender Wagenfahrt mit verhängten Fenstern zu einem unbekannten Militärflugplatz, Abflug in einer Maschine ohne Hoheitsabzeichen in ein unbekanntes Land und Ankunft in einer schloßartigen Villa an blinkendem Meeresstrand, in der er lebte, halb zeremoniös behandelter Staatsgast, halb Zuchthäusler, noch immer ohne Kenntnis, wo er sich überhaupt befand, sagte Georg Lukács: Kafka war doch ein Realist.“ (Raddatz 1972: 113, 116) Eine leicht andere Fassung dieser Anekdote bei Löwy (2011: 183).
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intensiv auseinandersetzen, jeder auf seine Weise. Günther Anders macht aus der Erfahrung der Heimatlosigkeit, die er bei Kafka sehr textnah offenlegt, eine literarisierte Philosophie. Seine Perspektive ist wohl am wenigsten zentraleuropäisch, er schreibt aus der Position eines jüdisch-deutschen Intellektuellen, wenngleich auch ihm die Peripetien in Bezug auf Kafka hinter dem Eisernen Vorhang nicht entgangen sind. Für Johannes Urzidil ist Kafka der Retter einer nicht mehr existierenden Welt, nach der sich der in Amerika lebende Schriftsteller sehnt. Urzidil zeigt Kafka im Unterschied zu Anders und Herling-Grudziński in einem lebendigen Kontext: Bei ihm ist Kafkas Prag immer noch eine zentraleuropäische blühende Metropole, allen späteren Katastrophen zum Trotz. Gustaw Herling-Grudziński sucht mit Kafka eine Antwort auf die grausam groteske Welt des totalitären 20. Jahrhunderts und versucht mit ihm auch den Osten dem Westen zu erklären. Alle drei Schriftsteller setzen sich bei der Lektüre Kafkas mit dem jüdischen Schicksal auseinander, am intensivsten Günther Anders; auf Umwegen Johannes Urzidil, der als sogenannter Geltungsjude aus dem von den Nazis besetzten Prag fliehen musste, indem er zum Hebräischen und dem Prager Golem arbeitete. HerlingGrudziński, dessen persönliches Verhältnis zum Judentum selten direkt, aber immer wieder zwischen den Zeilen zu lesen ist, schrieb 1963: Kafkas Schrei: ‚Unsere Gesetze sind nicht allgemein bekannt; es ist schmerzhaft, von Gesetzen regiert zu werden, die man nicht kennt‘ – ist in genauso großem Maße eine metaphysische Formel des menschlichen Schicksals wie auch eine Glosse am Rande des jüdischen Schicksals. Die Endlösung hat die Juden im Zustand des bürgerlichen Minderwertigkeitskomplexes vorgefunden, mit dem Gedanken, dass sie auf der anderen Seite der Mauer öfter mit Ablehnung als auf Unterstützung rechnen können. Ihre Lage begünstigte also auf keinen Fall einen passiven Widerstand und Ungehorsam. Das Verbrechen wurde vom Dämon unserer Zeit konzipiert und organisiert. Das Gift war aber lange davor in Europas Luft enthalten. (Herling-Grudziński 1991: 141)
Soweit mir bekannt ist, wurde bisher noch keine Typologie der weltweiten Kafka-Rezeption erstellt,15 obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass sich hier bestimmte interpretatorische Strömungen unterscheiden ließen. Die Perspek tive der Exilanten aus Zentraleuropa und die drei Haltungen, die sie Kafka gegenüber einnehmen, um sich mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen und um die eigene Erfahrung zu objektivieren, könnten meiner Auffassung nach in einer solchen Typologie ein wichtiges Kapitel darstellen.
15 Allerdings werden Versuche zu einer solchen umfangreichen Typologie angestellt, s. z. B. von Gerhard Rieck ().
Johannes Urzidil, Günther Anders und Gustaw Herling-Grudziński
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Literatur
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Valentina Sardelli
Die „gute Prager Stimme aus New York“. Johannes Urzidils Exil-Korrespondenz mit Prager Autoren
1. Chronologie
In seinen rund dreißig Exiljahren hat Johannes Urzidil mit zahlreichen Persönlichkeiten in Verbindung gestanden, mit Intellektuellen, Schriftstellern, Journalisten, bildenden Künstlern, Musikern, Politikern. Von 1939 bis 1970 hat er mit den ehemaligen Prager Mitbürgern und Freunden auch korrespondiert und dadurch eine zentrierende Rolle gewonnen: In dieser Zeit wird Urzidil „die gute Prager Stimme aus New York“, wie H. G. Adler1 ihn in einem Brief aus London vom 21. März 1966 bezeichnet. Beim Lesen der von mir edierten Briefwechsel2 mit einigen Schriftstellern – H. G. Adler, Max Brod, Willy Haas, Felix und Robert Weltsch, Franz Werfel und andere –, die wie Urzidil die Jugend in Prag erlebt haben, fällt auf, dass der Verlust der Heimat seit 1938/393 und das reifere Alter diese Briefe für die Beteiligten so bedeutsam und geradezu lebensnotwendig machen. Denn sie bestehen aus Gemeinsamkeiten, die jeder Flüchtling eben nur mit den anderen Pragern teilen kann. Die 1 In Erinnerung ihrer sehr jung gestorbenen Brüder hatte die Mutter von Adler den Vornamen Hans Günther gewählt. Wegen des gleichnamigen SS-Offiziers, der für die Organisation der Judendeportation im Protektorat verantwortlich war, verwendete Adler seit dem Ende des Krieges seinen kompletten Namen nicht mehr. 2 Die Originaldokumente, zum größten Teil im Leo Baeck Institute in New York aufbewahrt, sind in einer halbdiplomatischen Transkription (Kanzog 1991; Plachta 1997) ediert worden. Während die diplomatische Transkription die genaue Wiedergabe eines Textes ohne Korrektur von Fehlern verlangt, legt die halbdiplomatische Transkription Wert auf die leichtere Lesbarkeit des überlieferten Dokumentes. Die gesamte Urzidil-Korrespondenz mit den erwähnten Autoren wird nach Sardelli (2009) zitiert, wo sie auch vollständig kommentiert ist. 3 Alle Korrespondenzpartner Urzidils konnten sich ins Exil retten, mit Ausnahme H. G. Adlers, der drei Jahre in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz und Niederorschel (Buchenwald Nebenlager) gefangen gehalten wurde.
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Korrespondenz gewinnt ihre Bedeutung daraus, dass sie die ansonsten in der Realität verschwundene Heimat bildet. Autor
Geburt
Flucht aus Prag: nach bzw. KZ-Haft: in
Johannes Urzidil
Prag, 1939: England; 03.02.1896 1941: New York
H.G. Adler
Prag, 1942: Theresienstadt; 02.07.1910 1944: Auschwitz, Niederorschel; 1945: Prag; 1947: London
21.03.1966 14.01.1969 London, 21.08.1988
Max Brod
Prag, 1939: Palästina 27.05.1884
März 1940 11.08.1968 Tel Aviv, 20.12.1968
Willy Haas
Prag, 1939: Indien; 07.06.1891 1947: London; 1948: Hamburg
01.08.1961 27.04.1965 Hamburg, 04.09.1973
Ernst Sommer
1938: London Iglau [Jihlava] (Böhmen), 29.10.1889
29.12.1940 18.12.1950 London, (die letzte 20.09.1955 Postkarte hat kein Datum)
Felix Weltsch Prag, 1939: Palästina 06.10.1884
15.01.1945 06.06.1945 Jerusalem, 09.11.1964
Robert Weltsch
Prag, 1919: Berlin; 20.06.1891 1938: Palästina; 1945: England, Palästina
10.02.1962 29.03.1966 Jerusalem, 22.12.1982
Franz Werfel
Prag, 1938: Frankreich; 10.09.1890 1940: USA
18.04.1940 03.07.1942 Los Angeles, 26.08.1945
Ludwig Winder
1939: England, BalSchaffa dock (in der Nähe [Safov] von London) (Südmähren), 07.02.1889
16.03.1940 08.01.1946 Baldock, 16.06.1946
Tab. 1: Biographisch-chronologische Tabelle.
Beginn Briefwechsel
Ende Briefwechsel
Tod
Rom, 02.11.1970
Die „gute Prager Stimme aus New York“
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2. Die Bedeutung der Korrespondenz
Die Anfangsschwierigkeiten, sich an eine neue Kultur und an ein neues literarisches Umfeld gewöhnen zu müssen, die Notwendigkeit, Vergangenes zu erinnern sowie die Gegenwart zu akzeptieren und für die Zukunft tätig zu sein: alles das findet sich in den Briefen und wird in den wichtigen Lebensmomenten der Korrespondierenden zur Sprache gebracht. In der Ferne spielen die Freunde eine entscheidende Rolle: Sie werden in der Tat fast eine Ersatzfamilie, weil die leibliche durch Krieg und Shoah verloren wurde. Wie Willy Haas am 27. April 1965 notiert, ist die „innere Verbindung zu [den] Freunden“ sehr wichtig geworden. „Man hat manchmal das Gefühl, unter einer luftleeren Kuppel zu schreiben, im hohlen Raum – kommt dann die Rede eines Freundes, erinnert sie gar an gemeinsam verbrachte Jugendjahre, so ist man gestärkt, ergriffen, aufgebaut“, vertraut sich Brod am 24. Oktober 1944 Urzidil an. Dessen Rolle entwickelt sich weiter: „unter den überlebenden ‚Literatoren‘“ sei er „am meisten die Verkörperung von Prag“ und durch Urzidil sei für ihn der „Anschluß an das etwas ältere geistige Prag […] hergestellt“, schreibt Adler 1966.4 Am 14. Januar 1969 gesteht er Urzidil die teils freiwillige, teils erzwungene Isolation ein, in der er lebt und die durch die briefliche Nähe zu Urzidil erleichtert wird; nur dank Urzidil habe er die Nachricht des Todes von Bruno Adler, Franz Theodor Csokor und Richard Katz erhalten.5 Ich fühle mich manchmal sehr unwert, von Ihnen so freundschaftlich behandelt zu werden. Aber es tut doch unendlich wohl. Man hat so viele wunde Stellen in seinem Gemüt, dass es Balsam bedeutet, einmal eine Hand zu fühlen, die wärmt und beruhigt,
betont Ernst Sommer gegenüber Urzidil in einem Brief aus London vom 30. November 1941; und am 10. April 1943 schreibt er: „Selten habe ich sosehr das Gefühl, die Stimme eines wirklich ehrlichen und aufrichtigen Menschen zu vernehmen, als wenn ich Ihre Briefe lese.“ Wie von Sommer selbst erzählt wird,6 setzt er sich mit Urzidil erst im Exil in Verbindung und heißt ihn in sei4 Erstes Zitat vom 21. März und das zweite vom 11. Dezember. 5 „Ich lebe in einer so starken – teils freiwilligen, teils erzwungenen – Isolation, daß ich erst durch Sie das Ableben von Bruno Adler, Csokor und Richard Katz erfahre, die ich allerdings kaum kannte. Nur von Brod wußte ich, übrigens auch verspätet. Das geht mir nahe. Im vergangenen Spätwinter war ich zweimal in Tel Aviv lange bei ihm zu Besuch, es waren bewegende Gespräche, er war besonders lieb.“ 6 „Wiewohl wir persönlich niemals zusammenkamen, sind Sie mir nicht nur von Ihren Büchern in lebhafter Erinnerung“ (29.12.1940).
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ner Einsamkeit willkommen. Kurz nach dem unerwarteten Tod von Ludwig Winder, mit dem Urzidil seit dem Jahr 1940 korrespondiert hatte, erzählt ihm Hedwig Winder in einem Brief aus Baldock (in der Nähe von London) vom 25. Juni 1946 über die letzten Lebenstage ihres Mannes: Während ich Ihnen diese Dinge schreibe, kommt es mir vor, als ob ich ein Geheimnis verletzen würde und doch schreibe ich sie, weil Sie einer der wenigen Menschen sind, mit denen Ludwig bis zu seinem Ende in Briefwechsel gestanden ist und weil ich weiss, dass Sie beide[7] Ihn lieb gehabt haben. Ihre Briefe waren immer eine Freude für ihn.
Die Bedeutung und der Wert der Rolle Urzidils werden von seinen Korrespondenzpartnern im Kreis der Prager Freunde und Bekannten deutlich anerkannt: Dank seiner Fähigkeit, aus der Entfernung Dialoge zu führen und Atmosphäre zu beschwören, wird er zu einer zentralen Figur. Urzidil ist nicht nur die Stimme, sondern auch der Geist von Prag; in seinen publizierten, schon berühmten Schriften, so wie in den privaten Dokumenten erschafft er die Geburtstadt wieder.
3. Die Bedeutung Urzidils
Am 5. Mai 1941 kommt Brod in dem Briefwechsel auf die Bedeutung Urzidils als Schriftsteller in Prag zu sprechen und betont: „wie sehr Sie unserem Kreis (Kafka, Weltsch, Werfel, Baum) nahe standen.“ Er sei zwar kein direktes Mitglied des Prager Kreises gewesen, stand ihm aber sehr nahe, was für einen damals in den zehner und zwanziger Jahren stehenden jungen Mann ein großes Privileg darstellte. Später, am 13. April 1959, erinnert sich Brod der von Hans Demetz organisierten Gedenkfeier für Kafka (am 19. Juni in der Kleinen Bühne in Prag) und wie diese Erfahrung ihn noch heute mit Urzidil verbinde. Wie bekannt, hatte Brod eine Rede als Vertreter der reifen Künstlergeneration gehalten und Urzidil eine als Vertreter der jungen. Am 31. Oktober 1960 erwähnt Urzidil seinerseits ein für ihn wichtiges Datum, nämlich die Veröffentlichung seines ersten Gedichtbuchs Sturz der Verdammten (1919); Brod hatte ihm dieses literarische Debüt ermöglicht: „So hattest Du also noch einen weiteren Dichter entdeckt und ich glaube diese Entdeckung nicht desavouiert 7 „Sie beide“ sind natürlich Urzidil und seine Frau Gertrude, geborene Thieberger.
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zu haben“, schreibt Urzidil. Die freundliche Stimmung zwischen den beiden Briefpartnern wandelt sich mit der Zeit zu einer großen Vertrautheit. Wegen der englischen Version seines Romans Der Meister (Brod 1951b) benötigte Brod die Hilfe Urzidils: Da das Buch in den USA „unter den Tisch gefallen“ sei, würde „ich mich sehr freuen […], wenn Sie mit Ihrer Ansicht in die Öffentlichkeit träten.“ (Tel Aviv, 28. Oktober 1952). Am 15. Januar 1945, in seinem ersten Brief an Urzidil, schreibt Felix Weltsch aus Jerusalem: Es handelt sich auch nicht um Zeitungsaufsätze, sondern um das, was genau dazwischen liegt, also Aufsätze von ca ½ Bogen, aktueller Art, mit verkappter Philosophie – die Form, zu der mich die Lebensbedürfnisse erzogen haben. Ich habe hier eine größere Anzahl solcher Produkte veröffentlicht [...]. Gibt es eine Möglichkeit solche Dinge in Amerika zu veröffentlichen? Gibt es einen Weg?
Viele vertrauten oft auf die Bedeutung und die Beziehungen Urzidils in New Yorker literarischen Kreisen. Zahlreiche Beispiele lassen erkennen, wie der Vertreter der jungen Generation des Prager Kreises eine bedeutende Mittlerstellung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten einnahm und wie New York diese Stellung begünstigte. In einer so lebendigen Stadt, wo viele Europäer Rettung und Wiedergeburt suchten, nahm Urzidil, wie schon in Prag, als er „hinter den Nationen“ lebte, die Rolle des Vermittlers zwischen den Kulturwelten ein: Mit Deiner ‚Entführung‘ [= Urzidil 1964; VS] hast Du mir viel Freude gemacht. […] Ich lerne durch Dich die Merkwürdigkeiten Amerikas kennen. Das ist sehr viel. Ich bin Dir dankbar dafür, daß Du neben dem Dichterischen und Erfindungsreichen auch so viel Realität gibst,
schreibt ihm Brod am 23. Januar 1965. Aus einer privilegierten Stellung beobachtet Urzidil die neue Welt und durch eine noch sehr europäische Betrachtungsweise beschreibt er sie den fernen Freunden.
4. Der ‚Kafka-Boom‘
Die Bedeutung Urzidils im Exil wird in einem Brief von Brod vom 5. Mai 1941 noch offensichtlicher: „Ich wäre sehr froh, wenn Sie und Ihre Frau über Kafkas amerikanische Wirkung wachten.“ Die Vereinigten Staaten, ein wei-
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tes und fruchtbares Land, das literarisch noch zu ‚erobern‘ ist, verlangen, so könnte man Brods Bitte verstehen, einen kritischen Wegweiser, jemanden der den ‚richtigen‘ Weg zu Kafka zeigen könnte, und diese Bitte Brods ist für Urzidil durchaus eine Legitimation. Am 7. Februar 1946 bittet Brod, der auf die konstanten Nachrichtenund Detailbeschaffungen über Kafka konzentriert zu sein scheint, Urzidil um Übermittlung jeder Aufzeichnung, jedes Eindrucks von Kafka. In demselben Brief schreibt er: „Interessant, wie Kafka jetzt berühmt ist und zugleich missverstanden wird. Wir wenigen Prager, wir wissen es besser“, und das Bild einer kleinen Elite von Zeugen, die sich der eigenen Stellung rühmen, begann sich abzuzeichnen. Urzidil war auch Adressat der Klagen Brods: Obwohl ihn der Kafka-Boom eher amüsiert als freut, wiederholt Brod nur gut drei Monate später – am 23. Mai 1946 – gegenüber dem Korrespondenzpartner die Bitte, ihm alles mitzuteilen, was dieser über den toten Freund weiß, zum Beispiel Erinnerungen an besondere Angelegenheiten oder Eindrücke über sein Verhalten. Das Ziel Brods ist, immer neues und unbekanntes Material zu bekommen, vermutlich um seinen eigenen Kritikern besser antworten zu können.8 Die Haltung von vielen dieser Kritiker stört ihn: „Allmählich hat sich bei den Kafka-Kommentatoren die Mode herausgestellt, mir immer so nebenher (nach formeller Verbeugung) einen kleinen Tritt zu versetzen.“ Er scheint, um die Unterstützung ehemaliger junger Prager Schriftsteller zu bitten, damit sich ein starker Bund gegen die Kritiker, die Kafka persönlich nicht gekannt haben, bilde. Brod ärgert sich am 15. September 1948 über den gesamten literarischen Betrieb, den er als „chaotisches Universum, wo jeder alles beweisen will und sogar kann“ beschreibt. Eine zornige Phrase, die sich gegen jeden wenden könnte, auch gegen ihn selbst. In diesem Fall ist es leicht einzusehen, wie solche Wendungen Brods die direkte Bekanntschaft mit dem 8 Sowohl zu Lebzeiten Kafkas als auch nach dessen Tod hat sich Brod immer bemüht, die Schriften seines genialen Freundes zur Veröffentlichung zu bringen. Daneben hatte er den Wunsch, den Nachlass Kafkas auch zu edieren und zu interpretieren: „Brods tendenziöse Lesart beweist die Richtung seiner Interpretation, Kafka als einen jüdischen Autor zu deuten, der sich sogar mit der zionistichen Bewegung identifizierte. Kafkas Schriften, Briefe und Tagebuchnotizen zeigen aber bekanntlich ein viel ambivalenteres Bild von Nahsein und Entfernung, Identifikation und Entfremdung.“ (Shahar/Ben-Horin 2008: 90) Diese Einstellung hat viele kritische Reaktionen hervorgerufen: ein frühes und bedeutendes Beispiel ist ein Brief von Walter Benjamin an Gershom Scholem vom 12. Juni 1938. Benjamin distanziert sich sehr stark von Brods Kafka-Biographie und vermutet, dass Brod extrem empfindlich auf andere Interpretationen reagiert, weil er die Schwachheit seiner eigenen irgendwie spürt (Benjamin 1966: 756-764). S. auch Benjamins kritische Rezension (1938) von Brods Kafka-Biographie (Benjamin 1981).
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Freund Kafka als Kristallisationspunkt in Brods eigener Haltung gegenüber der gegenwärtigen Kritik bezeugen. Trotz gemeinsamen Interessen und Erfahrungen ist der Stilunterschied zwischen Urzidil und Brod ziemlich groß. Am 5. Juni 1948 vergleicht sich Brod mit Kafka: „Auch mich wird man [...] erst nach meinem Tode entdecken. Ich möchte nur wünschen, dann nicht so gröblich missverstanden zu werden wie Kafka.“ Wiederholt verweist Brod auf das Missverstehen und die vermutliche Gemeinsamkeit mit dem Freund aufgrund seiner ähnlichen Bedeutung und seines ähnlichen Schicksals. Urzidil stellte sich dagegen nie auf eine Ebene mit Franz Kafka, und jeder mögliche Vergleich mit einem anderen von ihm bewunderten Autor, Adalbert Stifter, wurde immer negiert.9 Jedoch ist Urzidil ein Bewahrer von direkten Zeugnissen über Kafka: „Ich entsinne mich, dass ich selbst höchst eindringlich von Kafka auf [Robert] Walser hingewiesen wurde“, berichtet er zum Beispiel am 15. Januar 1959. Im Verlauf der lebenslangen Korrespondenz mit der Freundin und Wohltäterin Bryher (Sardelli 2009: passim),10 erwähnt Urzidil manchmal auch seine Erinnerungen an Kafka, zum Beispiel am 18. April 1961: There was, in Prague, a ‚Café Edison‘ where I used to sit sometimes with Kafka under a large signed photograph of Edison who, when in Prague, gave the Kaffehausowner permission to name his place for him. Kafka and myself even talked about Edison. Kafka’s extraordinary interest in America and the amazing interest of the Americans in Kafka now are the subject of [my] essay.11
9 „Seltsamerweise muss ich klein beigeben, wenn man mich immer als Erzähler a) mit Kafka, b) mit Stifter vergleicht, obschon doch beide mich wie hohe Türme beschatten, zu allem aber meine Schreibweise doch ganz und gar anders ist. (Ich meine, es ist höchst ehrenvoll, aber man tut Kafka und Stifter von oben her mir von unten her unrecht.)“ (Urzidil an Brod, 15.01.1959). Eine vergleichbare Äußerung findet man in einem Brief vom 25.03.1965 von Urzidil an den Germanisten Kurt Krolop. 10 S. dazu auch den Beitrag von Gerhard Trapp im vorliegenden Band. 11 Gemeint ist Urzidils Essay Edison und Kafka (Urzidil 1961).
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5. Die Prager ,Sekte‘
In vielen Fällen bestätigt sich die Vermutung, dass die Prager Beziehungen im Exil fester geworden sind. Die wenigen Überlebenden sind auf ihren gemeinsamen Ursprung wie auf die Möglichkeit, diesen Ursprung und die damit zusammenhängende Kultur in der Welt zu vertreten, sehr stolz. Der Verlust hat sich in eine Stärke verwandelt und hat sie zu Zeugen einer unwiederholbaren Epoche gemacht. „Wir sind ‚die letzten der Mohikaner‘ des Prager Kreises, die letzten jener ‚Happy Few‘, die noch zu den Müttern hinabstiegen“, schreibt Urzidil am 24. September 1969 der Germanistin Margarita Pazi, die ihn um Auskünfte über Felix Weltsch und den Prager Kreis gebeten hat (Pazi 1970; 1974). „Es war eine Sekte, gering an Zahl, aber bedeutend durch die Kraft ihrer Überzeugung, eine intellektuelle Verschwörung, eine Elite“, sind auch die Worte von Heinz Politzer,12 mit denen er die ehemaligen Freunde von Kafka in seinem Buch Franz Kafka, der Künstler einführt (Politzer 1965: 11; 1962: VIII). Fünfzehn Jahre nach dem Tod Franz Kafkas ist die Prager deutsche Kulturwelt im Jahr 1939 – durch Tod, KZ oder Exil – im Begriff zu verschwinden:13 eine Kulturwelt die fast alle Überlebenden jetzt bewahren und verteidigen wollen. Am 14. Januar 1969 schreibt H. G. Adler: 12 Urzidil rezensierte die deutsche Fassung von Politzers Buch (Urzidil 1968). Zu Urzidils Verhältnis zu Politzer, der in den dreißiger Jahren in Prag mit Brod an den Gesammelten Schriften Kafkas arbeitete und dort auch schon mit den Urzidils befreundet war, s. Johann (2008: 6 f.), Sardelli (2009: 33-37) und Weber (2008: 218f.). 13 Urzidil selbst charakterisiert die Prager deutsche Literatur und ihren multikulturellen Kontext im Rückblick 1962 folgendermaßen: „Die Prager deutschen Dichter und Schriftsteller hatten gleichzeitigen Zugang zu mindestens vier ethnischen Quellen: dem Deutschtum selbstverständlich, dem sie kulturell und sprachlich angehörten; dem Tschechentum, das sie überall als Lebenselement umgab; dem Judentum, auch wenn sie selbst nicht Juden waren, da es einen geschichtlichen, allenthalben fühlbaren Hauptfaktor der Stadt bildete; und dem Österreichertum, darin sie alle geboren und erzogen waren und das sie schicksalhaft mitbestimmte, sie mochten es nun bejahen oder auch dieses oder jenes daran auszusetzen haben.“ (Urzidil 1966: 7f.) Die erste wissenschaftliche Konferenz über die Prager deutsche Literatur fand 1965 in Liblice bei Prag statt (Goldstücker 1967). Einige Monate danach, am 13.05.1966, schreibt die Germanistin Věra Macháčková-Riegerová an Urzidil: „Ich muss auch berichten, mit welch stürmischem Beifall Ihr tschechischer Gruß an die Konferenz über Prager deutsche Dichter im November v. J. aufgenommen wurde. Man hat viel über Ihr Werk gesprochen und oft Ihrer gedacht – nicht nur Sie denken an Ihr altes Prag, sondern auch umgekehrt...“. Wie bekannt, wird die deutschsprachige Literatur aus der Hauptstadt Böhmens ungefähr zwischen dem Auftreten Rainer Maria Rilkes (1894)
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Erst jetzt, in meinem reiferen Leben, beginnt es mir wieder etwas zu bedeuten, daß ich noch in der alten Monarchie geboren bin, an die ich mich auch noch unmittelbar erinnere, daß ich Prager bin und aus Böhmen stamme.
Nach der emotionalen Verarbeitung des Holocaust (oder besser: beim Versuch, diesen zu verarbeiten) wird die ‚verlorene‘ Geburtsstadt Prag wieder ‚gefunden‘: Obwohl sie in der Erinnerung der Zeugen nah, unversehrt und gerettet ist, ist sie andererseits irgendwie auch fern. Die Gegenwart hat, in der Tat, nicht mehr viel gemein mit der Vergangenheit, und eine Versöhnung zwischen beiden scheint unmöglich; diesen großen Unterschied anzuerkennen scheint schwieriger, als sich nur an das Schöne zu erinnern und seinen Glanz wieder aufleben zu lassen. „Nun müssen wir für Prag stehen und auf seine Weise jeder erzählen davon, was wir vermögen“, schreibt Adler am 14. Januar 1969, was man auch aus vielen anderen Briefen erahnen kann. Als ‚Kulminationspunkt‘ unter den Korrespondenten sammelt Urzidil solche Verteidigungserklärungen, und der von allen geteilte Wille ist stärker als die Handlung selbst, weil seine Spontaneität und Offenherzigkeit den Wert und die Wahrheit des eigenen Zeugnisses zeigen. Aus dem einen gemeinsamen Ziel, im Exil entwickelt und im reifen Alter bearbeitet, schöpft die ‚Sekte‘ ihre Kraft. Das reale Prag hat sich in Gedanken, Erinnerungen und Erzählungen über Prag verwandelt, die Sorge um das Verschwundene gilt nunmehr die Überwachung seiner alten Bedeutung: also nicht nur der Erinnerung, die persönlich und deswegen unzerstörbar ist, sondern auch des gemeinsamen und geteilten Begriffs von der Stadt, die in der Gegenwart verwundbar wird.14 Nach dem Krieg sind und dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei (1939) datiert; historisch und stilistisch ist sie stark begrenzt, aber kann nicht als eine einheitliche Schule definiert werden, sondern umfasst viele „sehr differenzierte, z. T. gegensätzliche Individualitäten“, wie Urzidil selbst in einem Brief vom 15.03.1965 an Kurt Krolop erklärt. Trotz der Vielzahl der Autoren hat sich die Aufmerksamkeit der Welt, außer auf Rilke und vielleicht noch Werfel, besonders auf Kafka konzentriert. Zur Prager deutschen Literatur und zu Prag als multikultureller Metropole vgl. u. a. Stölzl (1979), Schmitz/Paesch/Udolph (2001), Krolop (2005), Becher/Knechtel (2010) und Džambo (2010) sowie zu Urzidils Rolle in diesem Zusammenhang den Beitrag von Ekkehard W. Haring im vorliegenden Band. 14 Wie hier erklärt, „[kann] der Übergang vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis theoretisch beschrieben werden, wobei dieses nicht als bloße Analogie oder Metaphorisierung von jenem zu verstehen sei: Während das biologisch-organisch konstituierte neuronale Gedächtnis von einem individuelle[n] Gehirn getragen wird, findet das soziale Gedächtnis – in dem sich das individuelle Gedächtnis mit den Erinnerungen anderer verschränkt – seine Trägerschaft in der Kommunikation der soziale[n] Gruppe, die sich durch einen gemeinsamen, regelmäßig reaktualisierten Erinnerungsfundus stabilisiert, und das kulturelle Gedächtnis in symbolische[n] Medien, das heißt hier, in transferierbaren und tradierbaren kulturellen Objektivationen wie Symbolen, Artefakten, Medien und Praktiken sowie deren
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die Erinnerungen „aus unserer Prager goldenen Zeit“, so Brod an Urzidil am 8. Januar 1967, irgendwie idealisiert, auch wegen der politischen Situation nach dem Februarumsturz durch die Kommunisten und dem Tod des Präsidenten Edvard Beneš 1948. Am 20. Februar 1964 hatte Urzidil der Freundin Bryher erzählt: The literary Prague […] had been represented by the fruitful although somewhat pugnacious symbiosis of Czechs, Germans, Austrians and Jews […], by which Prague had become – since the middle ages – a kind of supranational intellectual metropolis. Now, however, with only the red Czechs remaining, it is nothing but just the capital of a smaller nation.
Nach Urzidils Meinung und Gefühlen ist die neue Stadt so anders geworden, dass eine Heimkehr sich nicht lohne. Was sich mehr lohnt, ist, die Erinnerungen laut zu äußern, sie schriftlich zu artikulieren: Am 2. Mai 1966 schreibt er an Brod, um ihm von einem Treffen der Gruppe 47 (Arnold 2004) in New Jersey zu erzählen. Diese wurde, auf Kosten der Ford Foundation, von der Princeton University eingeladen. Obwohl er die Bedeutung von einigen Mitgliedern der Gruppe treffend vorausschauend anerkennt, scheint Urzidil bei seiner Kritik nicht wohlwollend zu sein.15 Ihre Rolle als literarische Wortführerin ihrer Epoche erkennt er nicht an, seiner Meinung nach haben sie nicht die notwendigen Erfahrungen und Beweggründe, um über die Geschehnisse jener Zeit zu schreiben, da sie keine Überlebenden und direkte Zeugen seien. Hier kann man lesen, was öffentlich von Urzidil nicht formuliert wird: Dass seine Generation ihre Bedeutung aus dem erfahrenen historischen Moment gewonnen hat; einem solchen Moment und seiner Außergewöhnlichkeit können die jüngeren Autoren nur schwer etwas Gleichrangiges entgegensetzen. Während in der direkten Nachkriegszeit einige der sogenannten ‚inneren Emigranten‘ (Frank Thiess, Walter von Molo) in einer öffentlichen Debatte gegenüber den Exilanten (vertreten durch Thomas Mann) für sich beanspruchten, mehr durchlitten und erlebt zu haben (Weninger 2004), ist es nun der Exilant Urzidil, der gegen die zum Teil erheblich jüngeren (der in Princeton anwesende Institutionen, die sie von Menschen als sterblichen Individuen ablösen und durch ihre Übertragbarkeit ihre langfristige Geltung sicherstellen.“ (Salzborn 2009: 211) Das kulturelle Gedächtnis stützt sich also auf die Kommunikationsysteme, die jede soziale Gruppe regeln: Deswegen müssen solche Gruppen bestehen, und deswegen kann die kollektive Erinnerung leichter verwundbar als die individuelle sein. 15 „Dies mochte daran liegen, daß es jetzt sowohl den westdeutschen wie den amerikan. Autoren viel besser geht denn je und daß sie nun zwar irgend eine Opposition entwickeln möchten, aber nicht genau wissen wogegen und dies daher halben Herzens und halber Zunge tun.“ (Urzidil an Brod, 02.05.1966) und „...in spite of certain extremely gifted qualities in the case of Grass.“ (Urzidil an Bryher, 23.05.1965).
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Peter Handke ist fast fünfzig Jahre nach Urzidil geboren) ein ähnliches Argument anzuführen scheint. Der grundlegende Unterschied liegt jedoch darin, dass es bei der Kontroverse zwischen Thiess/von Molo und Thomas Mann vor allem um eine politische Haltung ging, während Urzidil lediglich die literarische Gestaltungsfähigkeit der jüngeren Schriftstellergeneration auf Grund ihrer anderen Lebenserfahrung infrage stellt. Am 20. April 1966 berichtet Urzidil Brod über einen Kafka-Vortrag, den Klaus Wagenbach im Goethe Haus in New York gehalten hatte. Der Höhepunkt des Berichtes ist Urzidils Verhalten am Ende des Vortrags; er erhebt sich, um auf die Behauptungen des Referenten zu antworten und die Prager Sprache und Literatur zu verteidigen: Wenn Wagenbach den ‚geringen Wortschatz‘ des Prager Deutsch hervorheb[t], so wäre dazu zu sagen, dass es nicht darauf ankomm[t] mit wie vielen Worten ein Autor arbeite[t], sondern wie und ob er gut mit den ihm zur Verfügung stehenden verf[ährt].
Urzidil streitet nicht ab, dass der Wortschatz des Prager Deutsch gering sei; er ist aber auch überzeugt, dass die Ausdruckskraft der Sprache dadurch nicht gemindert werde (Demetz 1966a; 1966b; 1997; 1999). Rembrandt habe mit vier Farben tatsächlich Wirkungen erzielen können, die von anderen mit zwanzig nie erreicht worden seien, erklärt Urzidil weiter, das Publikum habe mit Begeisterung reagiert. Am 26. April 1966 stimmt Brod den Eindrücken Urzidils über Wagenbach und seine Thesen zu und bedankt sich für Urzidils deutliche und wirksame Reaktion darauf. Der einstige Vertreter der jüngeren Prager deutschen Literatur ist jetzt Bote und Apologet der gesamten, oft erwähnten Generation (oder Elite oder Sekte) geworden, und diese neue Rolle hat Brod, der Ältere von beiden, anerkannt.
6. Eine neue Einheit und eine neue Unabhängigkeit
Ein Briefwechsel entwickelt sich manchmal aufgrund von Gemeinsamkeiten, wie einer alten Bekanntschaft oder Lebenserinnerungen; manchmal ist es aber auch die Neuentdeckung von Gemeinsamkeiten (wie der Bewunderung für jemanden oder einer Verwandtschaft), die so einen Briefwechsel ermöglicht. Jede Korrespondenz hat eine eigene Natur, die das Wesen der Korrespondie-
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renden, im Moment der Korrespondenz, offenbart. Die Briefe Urzidils zeigen die konkrete Bedeutung seiner Rolle, die auch erst durch diese Dokumente selbst so stark geworden ist; seine Tätigkeiten und sein Schreiben haben eine verlorene Einheit wiederhergestellt, eine verschwundene Gemeinschaft wieder zum Leben erweckt, und sie haben Prag und die Prager Vergangenheit in eine Kategorie geistiger Imagination transformiert. Trotz allem – den Briefen, den Erinnerungen oder den Verbindungen – gibt Urzidil seine emotionale und moralische Unabhängigkeit nie auf: I knew Franz Kafka for many years and conversed with him frequently. I grew up in his neighborhood, enjoyed the company of his friends and, since my early youth, devoted much time to his writings. Nevertheless I do not consider these advantages sufficient for a full perception of his work. It may easily be that others, not so close to him, show a far better understanding [...]. Kafka‘s greatness may be seen in the very fact that it lies within the power of any reader to attempt and to achive his own deciphering of Kafka. (Urzidil 1963a: 23)
Das schreibt er in The Kafka problem, herausgegeben von Angel Flores im Jahr 1963 (in zweiter Auflage, die erste erschien 1946). Über die erste Fassung des Buches von Flores wie über den Ratschlag Urzidils, es zu lesen, hatte sich Brod – in einem Brief vom 23. Mai 1946 – kritisch geäußert.16 Offensichtlich hat die Reaktion Brods die positive Meinung des Freundes nicht beeinflusst und die Entscheidung Urzidils, seinen Vortrag Recollections in der zweiten Auflage zu publizieren, auch nicht verhindert (Urzidil 1963a, b). Jetzt wie früher kann er es sich erlauben, frei und offen zu reden. Jetzt wie früher bleibt er vor allem sich selbst und seinen Ideen treu. Jetzt, dank der Bedeutung seiner Rolle, vielleicht noch bewusster.
Literatur
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16 „Sie erwähnen diesen Angel Flores als sachverständig. Das ist er nicht. Wie viele gröbste Fehler stehen in den wenigen Seiten seiner ‚bibliography‘ [...].“
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Johannes Urzidils Verbindung zu seiner Mäzenin Bryher, zu der Lyrikerin Hilda Doolittle und seine Übersetzung von Doolittles By Avon River
1. Hilda Doolittle und Bryher – Profil ihrer Persönlichkeiten und Lebensläufe
Seiner Übersetzung von Hilda Doolittles (‚H. D.‘) Shakespeare-Huldigung By Avon River (Doolittle: 1949), steuert Urzidil eine Nachbemerkung bei, die mit dem Satz schließt: „Der wegbereitenden Persönlichkeit Bryhers gebührt auch der besondere Dank des Übersetzers“.1 Um Urzidils fast hermetische Dankesformel in ihrer ganzen Tragweite für sein eigenes Werk und Leben zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit den wichtigsten Basisinformationen über die englische Autorin Bryher und die amerikanische Lyrikerin Hilda Doolittle vertraut machen. Von Avon wird an späterer Stelle die Rede sein. „Bryher“, eigentlich Annie Winifred Ellerman, wird am 2. September 1894 in dem Küstenort Margate in der englischen Grafschaft Kent geboren, ist also fast gleichalt mit Johannes Urzidil. In der väterlichen Linie von deutschen Einwanderern abstammend, wächst sie im unbegrenzten Wohlstand der viktorianischen Ära auf. Ihr Vater John Reeves Ellerman, war Großreeder und Eigentümer der Cunard-Lines, ein Tycoon, wie man ihn sonst nur aus den USA kannte, und zählte zu den wohlhabendsten Unternehmern im damaligen Großbritannien. Schon als Kind mit ihren Eltern häufig auf mondänen Wanderreisen zu kulturgeschichtlich bedeutsamen Orten in Frankreich, im ganzen Mittelmeerraum und dem Vorderen Orient, lernt Bryher Fremdsprachen wie Deutsch und Französisch von ihrem Vater oder von wechselnden Kindermädchen 1 H. D. (1955: 136) [In der Bibliografie unter Doolittle, Hilda].
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und entwickelt ein lebhaftes Interesse für Architektur, Literatur und Kunstgeschichte. Erst mit fünfzehn Jahren wird sie in das englische Internat Queenswood eingeschult, unter dessen rigiden Erziehungsmethoden das sensible Mädchen leidet. 1911 reist sie mit einer Freundin zum ersten Mal zu den vor der südenglischen Küste Cornwalls gelegenen Scilly-Inseln und ist von deren subtropischer Vegetation im Golfstrom begeistert. Ihr ganzes Leben hält sie sich dort immer wieder auf und wählt den Namen einer der Inseln, Bryher, zu ihrem literarischen Pseudonym: „Even now, although I have travelled from the Kyber to the Arctic, it is Scilly of all places and countries that holds my heart“, schreibt sie in dem Erinnerungsband The Heart to Artemis. A Writers Memoirs (Bryher 1963a: 180).2 1917 nimmt Bryher nach langem Zögern den Kontakt zu der von ihr bewunderten amerikanischen Lyrikerin Hilda Doolittle auf, für Bryher schlechthin der Kulminationspunkt ihres Lebens. H. D., unter diesem Kürzel publizierte Doolittle, wurde am 10. September 1886 im amerikanischen Bethlehem, Pennsylvania, geboren, ihre Mutter stammte aus Mähren und folgte den pietistischen Traditionen der Mährischen Brüder. Bekannt wurde H. D. nicht nur durch ein bis zu ihrem Tod am 27. September 1961 in Zürich auf über zwanzig Bände angewachsenes lyrisches und episches Werk, sondern auch durch ihre lebenslange, leidenschaftlich-qualvolle Liaison mit dem amerikanischen Dichter Ezra Pound,3 der, selbst nur ein Jahr älter, die Fünfzehnjährige mental überwältigt und in schwere psychische Probleme gestürzt hatte.4 Pound führt sie in seine Gedankenwelt der Imagisten ein, eine literarische Gruppierung, die sich in Ablehnung gegen eine erstarrte spätviktorianische Lyrik in der Nähe zum französischen Symbolismus positioniert. Ihm folgt H. D. 1911 nach London. Hier beginnt nun seit 1917 eine symbiotische, von harmonischen Phasen wie von Entfremdungen und räumlichen Trennungen geprägte Lebensgemeinschaft mit Bryher, die bis zum Tod von H. D. 1961 andauert. Die acht 2 Dass die Autorin ihr Herz an Artemis verliert – Tochter des Zeus und vielgestaltige Göttin der Jagd, berühmt für Ihre Schönheit, frei und ungebunden umherschweifend – kennzeichnet symbolisch Bryhers feministische Orientierung. 3 Aus der umfangreichen internationalen wissenschaftlichen Literatur zu Ezra Pound hier nur der Hinweis auf den jüngsten Beitrag der Pound-Forscherin Eva Hesse (2008). 4 Gegen Ende ihres Lebens resümiert H. D. in Form eines quasi exorzistischen Tagebuchs, datiert vom 11.03. bis zum 13.07.1958 ihr komplexes Verhältnis zu Ezra Pound (H. D. 1979 [dt.: 1985]) erschienen mit einem biographischen Essay von Renate Stendhal (1985), die auch auf die Rolle Bryhers eingeht.
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Jahre jüngere Bryher erkennt in H. D. die Inkarnation einer in der Antike verankerten Poesie radikaler Modernität, die sich jenseits bürgerlicher Konventionen realisiert. Bryher zitiert ein an sie gerichtetes Wort von H. D.: „You must love. A person, an island, an idea, but it must be completely and with utter dedication.“ (Bryher 1963a: 195) Ein solch unbedingtes Liebesverlangen jenseits von Geschlechtergrenzen oder Eheschließungen enthält ein starkes emanzipatorisches Element und ließ vor allem H. D. bis heute zu einer Ikone der Genderliteratur werden: H. D. und Bryher pflegten zwar eine vorrangige, aber ‚freie‘ Beziehung mit anderweitigen, ständig fluktuierenden Lieb- und Leidenschaften; beide empfanden sich als androgyn, und beide schrieben. (Stendhal 1985: 17)
Bryher ist in dieser Beziehung die lebenspraktischere Partnerin, die H. D.s Alltagsleben an verschiedenen Orten organisiert und sie bei ihrer künstlerischen Arbeit berät, die ihr in unermüdlichem Einsatz persönlich zur Seite steht, wenn H. D. in Depressionen, Krisen oder Krankheit zu versinken droht. Als im März 1919 aus einer nicht-ehelichen Beziehung H. D.s Tochter Perdita zur Welt kommt – sie ist in diesen Jahren mit Richard Aldington verheiratet – nimmt Bryher sich der Erziehung des Kindes an, das sie später adoptiert.5 Beide Autorinnen profitieren voneinander durch ihre jeweiligen Freundeskreise. Einen prominenten Fürsprecher hat Bryher schon in den 1920er Jahren in England in dem irischen Dichter William Butler Yeats, Nobelpreisträger 1923, gewonnen, andere kommen bei vielen ausgedehnten Reisen hinzu, wobei sie auch die scheue H. D. gelegentlich begleitet. Im Mai 1922 übersiedelt Bryher in die Schweiz, wo sie in Territet am Genfer See lebt. Von hier aus wird Paris zu einem Schwerpunkt langjähriger Selbstfindung und intensiver Begegnungen.6 1923 führt Robert McAlmon sie dort in internationale literarische Zirkel ein, wo sie unter vielen anderen James Joyce (auch ihn unterstützt sie finanziell), André Gide, Ernest Hemingway und Gertrude Stein kennenlernt. 1927 trifft sie auf den amerikanischen Filmkritiker des Manchester Guardian, Robert Herring, mit dem sie und H. D. auf einer Reise nach Berlin mit wichtigen Akteuren der aktuellen Filmszene wie Fritz Lang, Georg Wilhelm Pabst7 und Sergej Eisenstein zusammenkommen. Kenneth Macpherson und Bryher 5 Es war ihre [H. D.s und Bryhers] „gemeinsame Strategie, dass Bryher zweimal heiratete: 1921 den jungen Schriftsteller Robert Mc Almon (um sich vom psychischen Joch der Familie zu befreien) und 1927 Kenneth Macpherson (damit der junge Dichter versorgt war und sich die ‚kostspielige Zeit‘, so Bryher, für seine Affaire mit H.D. leisten konnte).“ 6 Allgemein zu Paris als Zentrum feministischer Kultur Benstock (1986) und Weiss (2006). 7 Carl Zuckmayer (2002: 127) erwähnt einen Besuch von Pabst bei Bryher im Jahr 1939 in ihrer Villa bei Vevey und nennt sie ‚eine sehr gute alte Freundin‘.
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geben 1927 bis 1933 mit Close-up die erste englische Zeitschrift heraus, die sich mit Filmtheorie und -ästhetik beschäftigte, und für die H. D. und Bryher Beiträge liefern. Bis heute von Bedeutung ist Macphersons avantgardistischexperimenteller Stummfilm Borderline (1929),8 in dem Rassenprobleme, Homosexualität und psychische Grenzfälle in Ausnahmesituationen thematisiert werden. H. D. und Bryher treten als Schauspielerinnen auf. Ihre Bryher wie H. D. psychisch überfordernden eigenen Existenzen führen sie beide in Neurosen und erfordern wiederholte psychoanalytische Behandlungen, z. B. bei Hanns Sachs in Berlin, einem Schüler von Sigmund Freud, der selbst H. D. 1933 analysiert, und der mit ihr bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden ist.9 Bryher trägt alle entstehenden Kosten; sie hatte Freud schon 1928 in Wien aufgesucht. 1931 wird in La Tour-de-Peilz (so die heutige Ortsangabe, identisch mit der früheren Burrier-La-Tour) bei Vevey am Genfer See der Bau der Villa Kenwin vollendet, den Bryher bei dem avantgardistischen deutschen Architekten Hermann Henselmann (1905-1995) in Auftrag gegeben hat. Die Villa Kenwin, eine Ikone moderner Architektur, an Mies van der Rohes Villa Tugendhat in Brünn erinnernd, ist als offener Schauplatz unkonventionellen Zusammenlebens konzipiert und soll auch für Dreharbeiten geeignete Räume bieten. In einem Dokumentarfilm von Véronique Goel wird das Haus dokumentiert.10 Hier lebt Bryher zeitweise zusammen mit H. D., Perdita und Macpherson bis zu ihrem Tod 1983. 1932 reist Bryher zum letzten Mal vor dem Krieg nach Berlin und erlebt den Terror der SA und die beginnende jüdische Emigration, empfindet deutlich den Untergang der geliebten Stadt und einer Epoche europäischer Geschichte. Erst 1960 wird sie Berlin wieder besuchen. Es folgen mehrere Aufenthalte in den USA, z. T. mit H. D. Kurz nach Kriegsausbruch verlässt Bryher ihr luxuriöses schweizerisches Refugium und kehrt am 28. September 1939 nach London zurück, um in der Zeit der Not zu ihrem Volk zu stehen. Auch H. D., die zu dieser Zeit in London lebt, verzichtet auf eine Rückkehr in die USA. Beide sind Mittelpunkt der Lowndes Group, einem Kreis von Intellek8 Als DVD heute wieder greifbar: Kenneth Macpherson: Borderline, Absolut Medien, Arte Stummfilm Edition, 71 min, engl. und dt. Untertitel. 9 Zu ihren eigenen Erfahrungen mit S. Freud: H. D. (1971; 2008). Hierzu instruktiv Jens Zweremann (2009) und Susan Stanford Friedman (2002) [Die Formulierung des Titels trifft sehr gut die Situation, in der die Partner beide Rollen, als Analysierte und den Analytiker Analysierende ausfüllen]. 10 Kenwin, Dokumentarfilm von Veronique Goel, CH 1996, 85 min ( Abgerufen Mai 2009.)
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tuellen und Künstlern, benannt nach dem Ort ihrer Zusammenkünfte in der kleinen Wohnung von H. D. Zu ihm zählen u. a. die Amerikaner Robert Herring und Norman Holmes Pearson.11 Zusammen mit Herring arbeitet Bryher in der Redaktion der schon in Paris entstandenen Literaturzeitschrift Life and Letters Today, in der auch Urzidil publizierte. Sie ist sehr kritisch gegenüber der englischen Politik, in der sie Appeasement und konservative Verkrustung erkennt, allein Churchill sei schließlich die Rettung zu verdanken.12 Durch H. D. macht sie die Bekanntschaft anderer englischer Schriftsteller, darunter des weithin angesehenen (gebürtigen Amerikaners) T. S. Eliot. 1946 löst sich die Lowndes Group auf: Pearson geht zurück in die USA, Bryher in ihre Schweizer Villa und H. D. folgt etwas später nach Zürich, wo sie bis zu ihrem Tod 1961 lebt.
2. Urzidils Verbindungen zu Hilda Doolittle und Bryher
Wie ist es nun zu der Verbindung von Johannes Urzidil und Bryher gekommen? Bryher hat an drei psychoanalytischen Kongressen teilgenommen, die 1934 in Luzern, 1936 in Marienbad und 1938 in Paris stattfinden. Hierbei hat sie sich mit der Berliner Analytikerin Christine Olden angefreundet, der früheren Ehefrau des republikanisch-antifaschistischen Publizisten und Rechtsanwalts Rudolf Olden (1885-1940), erfolgreicher Verteidiger Carl von Ossietzkys 1932 und seit 1933 im Exil (Begleitbuch 2010). Christine Olden (1888-1959) wird in Prag als Tochter des österreichischen Historikers und Politikers August Fournier geboren, verlebt ihre Jugendzeit in Prag und geht später nach Berlin. Von hier aus emigriert sie um 1935 wieder in ihre Heimatsstadt und hält die Verbindung mit Bryher aufrecht. Urzidil lernt Christine 11 Norman Holmes Pearson, Professor für Anglistik an der Yale University, New Haven, wurde nach dem Tod von H. D. deren Nachlassverwalter und Hrsg. ihrer Werke und stand in freundschaftlicher Verbindung zu J. Urzidil, mit dem er literarische Interessen teilte. Eine Korrespondenz Pearson-Urzidil 1952-1967 ist Teil des Urzidil-Nachlasses im Leo Baeck Institute, New York. 12 Bryhers Erfahrungen im England der Kriegszeit schlagen sich in zwei Büchern nieder: Beowulf (Bryher 1956) und The Days of Mars. A Memoir, 1940-1946 (Bryher 1972). In London beginnt sie, ihre historischen Romane zu schreiben.
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Olden in jenen Prager Jahren kennen, und sie vermittelt ihm den Kontakt zu Bryher. 1938 flieht Christine Olden weiter in die USA, wo sie dem Ehepaar Urzidil vor deren Übersiedelung von England nach New York im Januar 1941 bei der Erlangung eines Affidavits hilfreich zur Seite steht (Trapp/Heumos 1999: 418). Bryher, die selbst Prag mehrfach besucht hatte, spricht von 105 Personen, denen sie durch finanzielle Zuwendungen die Flucht ins Exil ermöglicht, ohne Namen zu nennen: „Roughly two thirds of my cases were Jewish, but the other third were Christians of purely German descent.“ (Bryher 1963a: 277) Urzidil selbst äußert sich hierzu: „Sie spielte die Rolle einer Red Pimpernell und hatte sich zum Ziel gesetzt, Bedrängten zu helfen.“ (Pistorius 1978: 2)13 Urzidil meint hierbei Scarlet Pimpernel, Hauptfigur in einem seinerzeit sehr erfolgreichen Theaterstück gleichen Namens (später auch Romane und Filme), das die ungarische, im englischen Exil lebende Baroness Emma Orczy geschrieben hat und das 1903 uraufgeführt wurde. Es handelt von einem fiktiven englischen Adligen, der während der Französischen Revolution anonym den Verfolgten hilft. „Scarlet“ (nicht „Red“, wie Urzidil schreibt) Pimpernel war der nom de guerre dieser Figur, die ihre Botschaften mit einer kleinen scharlachroten (scarlet) Blume signierte. Schon vor seiner dramatischen Flucht aus Prag am 30. Juni 1939 hatte Urzidil Bryher seine Bücher Goethe in Böhmen (1932) und Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock (1936) in die Schweiz zugeschickt, und er erinnert sich noch am 7. November 1968 in einem Gespräch mit Gottfried Stix in Rom: Eines Tages aber [...] kam ein Brief an mich persönlich, aus England, voll Anerkennung, sogar Begeisterung, mit folgendem Nachsatz: Wenn Sie je einmal in einer Zwangslage sein sollten, dann wenden Sie sich bitte an die beiliegende Adresse. (Stix 1984)14
Zweifellos ein Brief von Bryher, bei der „beiliegenden Adresse“ dürfte es sich um jene des Londoner Rechtsanwalts Bertram Baylis handeln, der im Auftrag von Bryher für Urzidil alle rechtlichen Formalitäten in England regelt. Urzidil hat sich mit zwei Briefen im Juli 1939 aus Triest an Bryher gewandt, wo das Ehepaar sich seit dem 1. Juli 1939 aufhält, um ein englisches 13 Pistorius zitiert hierbei aus einem fragmentarischen Entwurf Johannes Urzidils: „Meine Beziehung zu Bryher“ vom 24. August 1956, in den ihr Gertrude Urzidil in New York Einblick gewährte, ehe der Nachlass nach ihrem Tod 1977 an das Leo Baeck Institute New York fiel. Weder dort, noch im Kryptobestand Gertrude Urzidils im Deutschen Literaturarchiv Marbach ist dieser Text heute nachweisbar, so dass man vermuten kann, dass Gertrude Urzidil ihn unterdrückt hat oder er auf andere Weise verloren ging. 14 Der österreichische Germanist Prof. Dr. Gottfried W. Stix (1911-2010) war 1968 an der römischen Universität La Sapienza tätig.
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Einreisevisum zu erlangen. Bryher antwortet am 17. Juli 1939 aus London in deutscher Sprache und garantiert die Kostenübernahme der Schiffspassage Genua-Southampton. Sie adressiert Urzidil noch mehrere Jahre stets falsch als „Mr. Urzidel“, ehe sie später zu dem vertraulicheren „Dear John“ oder „My dear Johnny“ übergeht (analog dazu Urzidil: „Dear Bryher“ bis „Dearest Bryher“) und unterzeichnet ihre ersten Briefe mit dem Namen ihres zweiten Ehemanns „W. Macpherson“, bald darauf mit „Bryher“. Abgesehen von dem ersten Brief vollzieht sich der gesamte Briefwechsel in englischer Sprache.15 Nach dem Tod von Johannes Urzidil 1970 setzt Bryher ihre freundschaftliche Korrespondenz mit seiner Frau Gertrude bis zu deren Tod 1977 fort. Versucht man, die wesentlichen Elemente und Tendenzen des Briefwechsels zu verdeutlichen, wird der eingangs zitierte Satz von der „wegbereitenden Persönlichkeit Bryhers“ verständlich: Wegbereitend ist sie vor allem für ihn selbst, für seine ökonomische, soziale und künstlerische Existenz im englischen und amerikanischen Exil. Nicht nur zahlt Bryher dem Ehepaar die Schiffspassagen Italien-England (1939) und England-USA (1941) zuzüglich eines Taschengelds, sondern auch für die Zeit in England eine monatliche Rente, und sie hinterlegt bei einer New Yorker Bank ein Depositum von 1600 US-Dollar. Darüber hinaus unterstützt sie Urzidil massiv in immer wiederkehrenden Notlagen bis 1955 mit mindestens 5600 US-Dollar, wie aus Jahresnotizbüchern hervorgeht, die Urzidil führt (Pistorius 1978: 45, 47), und punktuell auch noch in den Folgejahren. Ebenso wichtig sind Bryhers Initiativen bei der Vermittlung zu literarischen und akademischen Kreisen in den USA, markiert durch die Namen Norman Holmes Pearson oder Robert Herring, Herausgeber der Zeitschrift Life and Letters, der Urzidil seit 1944 Beiträge liefert. Die Tonlage des Briefwechsels ist zunächst freundlich-formell, wird zunehmend persönlicher, zu keiner Zeit aber vertraulich eng. Es ist offensichtlich, dass beide sich schätzen und achten und dass Bryher Urzidils Liebe zur Antike und Kunst teilt, dass er aber nicht zu ihrem engsten, privaten Kreis 15 Zahlreiche Briefe von Bryher an Urzidil von 1939 bis 1970 befinden sich im Archiv des Leo Baeck Institute New York, hingegen nur sieben Briefe Urzidils an Bryher, von denen er Kopien aufbewahrte. Durchschnittlich wechselten sie ein bis zwei Briefe im Monat. Der Briefwechsel wurde in der bisherigen Forschung wenig beachtet. Bemerkenswerte Ausnahmen sind hier die Dissertationen von Isabelle Ruiz (1997; s. a. ihren Beitrag im vorliegenden Band) und Valentina Sardelli (2009; s. a. ihren Beitrag im vorliegenden Band) sowie die Untersuchung von Jörg Thunecke (2009). Ein Nachlass Bryhers an der Yale University in New Haven (USA), enthält 22 Briefe von Johannes und Gertrude Urzidil an Bryher 19401975. Diese Briefe können nur an Ort und Stelle eingesehen werden und standen somit für diese Untersuchung nicht zur Verfügung ().
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zählt. Sie verehrt ihn als Vertreter der alten europäischen Kultur, als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus und als Dichter: „What a difference it makes, being a writer. You tell me more than almost any of my correspondents.“ (Brief Bryhers vom 17. Dezember 1941) Wir werden Zeugen eines permanenten Informations- und Gedankenaustauschs über Kunst, Literatur, Verleger, Reisen, Leseerfahrungen, über Religion, Kultur, zeitgeschichtliche Vorgänge oder Todesfälle gemeinsamer Freunde. Bryher versucht, Urzidil die amerikanische Moderne nahe zu bringen (John Steinbeck, Theodore Dreiser, William Faulkner u. a.), Urzidil berät sie bei ihrer Goethe- und Stifterlektüre. Der Briefwechsel intensiviert sich erheblich im Zusammenhang mit Urzidils Übersetzung von H. D.s By Avon River, wovon noch die Rede sein wird. Urzidil schickt Bryher seine Veröffentlichungen zu, berichtet vom Fortgang der Neufassung seines Goethe in Böhmen und beschenkt sie gelegentlich mit seinen kunsthandwerklichen Lederarbeiten, die sie begeistern. Es ist bemerkenswert, wie Urzidil in seiner Beziehung zu Bryher wie zu H. D. seine konservativ begründete Reserve gegenüber Psychoanalyse und Frauenemanzipation außer Kraft setzt, die in seinem literarischen Werk ebenso deutlich zum Ausdruck kommt wie in seinem Privatleben. Bis zum Tod Johannes Urzidils in Rom am 2. November 1970 kommt es zu mehreren persönlichen Begegnungen: Die erste am 23. Januar 1941 in der Londoner Wohnung von H. D., die zweite erst im Oktober 1953 in Zürich, 1957 abermals in der Schweiz, im Oktober 1962 und im November 1964 in der Villa Kenvin am Genfer See und schließlich im Oktober 1969 in New York. Urzidil bespricht für die österreichische Abteilung der Voice of America Bryhers historischen Roman The Fourteenth of October (Bryher 1952), der 1955 in deutscher Übersetzung erscheint (Bryher 1955). Bryher hatte sich Urzidil als Übersetzer gewünscht, der deutsche Verlag entschied jedoch anders (Brief Bryhers an Urzidil vom 4. Juni 1954) und wählt die professionelle Übersetzerin Maria Wolff, Tochter aus erster Ehe von Kurt Wolff, der Bryhers Werke in seinem New Yorker Verlag Pantheon Books verlegte.16 Urzidil rezensiert die englische Erstausgabe für die Neue literarische Welt, die Zeitschrift der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung unter dem bei deutschen Lesern höchste Ansprüche weckenden Titel Ein englischer Witiko17 (Urzidil 1952) und stellt in der Stimme Amerikas auch Bryhers (1957) The Players Boy vor, einen historischen 16 Maria Wolff (geb. 1918) übersetzte auch Bryhers Roman Wall (1954, New York: Pantheon; dt. 1956: Der römische Wall. Freiburg i. Br.: Herder). 17 Auch Hermann Hesse widmete dem Buch eine eingehende Besprechung in der Zürcher Zeitschrift Weltwoche (14.10.1955).
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Roman, der im England Jakobs I. im 17. Jahrhundert spielt und ebenfalls im New Yorker Verlag Pantheon Books erschien, der von dem hierher emigrierten prominenten deutschen Verleger Kurt Wolff geführt wurde. Ihn kannte Urzidil noch aus alten Zeiten seiner ersten größeren Lyrik-Veröffentlichung Sturz der Verdammten (Urzidil 1919). Nicht nur durch Rezensionen oder Rundfunkbeiträge stattet Urzidil zeit seines Lebens seinen Dank an Bryher ab. Die beiden für seine eigene literarische Karriere wichtigsten Bücher sind ihr ausdrücklich gewidmet: Auf einem Vorsatzblatt in Die verlorene Geliebte (Urzidil 1956)18 und am Schluss seines Vorworts in Goethe in Böhmen.19 Auf die Würdigung Bryhers in Urzidils Übersetzung von H. D.s Avon wurde schon hingewiesen (Doolittle 1955). Dem Erzählungsband Entführung und sieben andere Ereignisse (Urzidil 1964a) stellt er ein Zitat aus Bryhers Roman The Coin of Carthage voran: „He had understood the struggles of a ragged, despairing paddler, and such a man, if given a chance, could change the world“. (Bryher 1963b) Schließlich sagt in dem AmerikaEpos Das Große Halleluja die Hauptfigur Weseritz, ein literarisiertes alter ego für Urzidil selbst: „Er erhielt sich durch Handwerk und das hohe Herz einer Freundin, die über Ozeane hinweg unaufgefordert fühlte, wenn es schlecht um ihn stand.“ (Urzidil 1959: 348)
18 Hierzu Urzidil im Folgejahr: „Damals und späterhin, in bedrohlichen und verwirrenden Zeiten, wurde mein Vertrauen auf angeborene Güte menschlichen Wesens vor allem durch das Beispiel jener Persönlichkeit bestätigt, ja gesteigert, deren Widmung des Buches ‚Die verlorene Geliebte‘ mit dem Namen ‚Bryher‘ gedenkt.“ (Urzidil 1957a: 92) 19 „Doch ziemt es sich, einen Namen herauszuheben, der für die Fortsetzung und endgültige Gestaltung des Werkes in England und Amerika entscheidend wurde: Bryher.“ (Urzidil 1962: 9) Kurt Wolff schreibt am 20. März 1963 an Urzidil in einem Brief, in dem er sich überschwenglich für die Zusendung von Goethe in Böhmen bedankt: „Eine besondere Freude war mir am Schluß der Einleitung unsere gemeinsame Freundin betont genannt zu finden. Wir alle sind Bryher Dank für vieles schuldig. Ich beneide Sie, daß Ihnen Gelegenheit ge geben ist, Bryher’s Namen an so bedeutender Stelle nennen zu dürfen.“ (Wolff 1966: 443) Auch in Briefen an Hermann und Ninon Hesse erwähnt Wolff Bryher als gemeinsame Freundin (Wolff 1966: 276, 279).
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3. Urzidils Übersetzung von H. Doolittles Avon
1949 erscheint in New York Hilda Doolittles Band By Avon River, dessen erster Hauptteil in drei Abschnitten eine subjektiv-lyrische Interpretation zu Shakespeares Sturm, bzw. die imaginäre, artifiziell-poetische Figur der Claribel darstellt. Der zweite Prosateil mit dem Titel Der Gast zeigt Shakespeare inmitten von 59 dichtenden Zeitgenossen. H. D. widmet den ersten Teil Bryher und Robert Herring unter Bezug auf den Shakespeare-Tag am 23. April 1945, also gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und somit auch zu deuten als Feier des größten europäischen Dramatikers nach dem Sieg über die Barbarei. Den Prosateil widmet sie allein Bryher, der sie, wie wir wissen, aufs Engste verbunden war und die ihr entscheidend die Gestaltung ihres literarischen Lebenswerks ermöglicht hatte. Hermann Hesse (1951) rezensiert das Buch am 17. Februar 1951 in der Neuen Zürcher Zeitung und spricht von „einer unsäglich eigenwilligen und versponnenen Dichtung“, der er gleichwohl höchstes Lob zollt: „ein Gespinst von Traumfäden […] keine gangbaren Gedichte für Volk und Haus, aber Verse von einer ebenso süßen wie wilden Eigenart und Traumkraft.“ Bryher nimmt nach dem Krieg den Kontakt mit Hermann Hesse und seiner Frau Ninon auf, die seit 1931 in Montagnola im Tessin leben, und die sie auch auf Urzidil aufmerksam machen. In einem Brief an Urzidil vom 31. Dezember 1955 schildert sie eindringlich die Schönheit und Atmosphäre des Anwesens, wo sie bei Hesses Weihnachten 1955 zu Gast ist. Urzidil schickt seine Veröffentlichungen Hesse zu, der sich angesprochen fühlt und sich für Die verlorene Geliebte, das Prager Triptychon, Das Große Halleluja und auch für Urzidils spätere By Avon River-Übersetzung auf Briefkarten kurz bedankt. Urzidil lernt aber Hesse nie persönlich kennen, merkwürdigerweise jedoch dessen letzte Ehefrau Ninon, die der jüdischen Familie Ausländer aus Czernowitz entstammt und die sich 1917, für kurze Zeit als Kunststudentin aus Wien angereist, in Prag aufhält, wo sie und Urzidil im Café Arco trifft. Urzidil hat sie nie vergessen und bleibt mit ihr bis zu ihrem Tod 1966 in Briefkontakt. Bereits vor dem Erscheinen der englischen Erstausgabe besteht Übereinstimmung bei Doolittle und Bryher, dass Urzidil das Buch ins Deutsche übersetzen sollte. Schon 1950 liegt ein Manuskript vor, wozu Bryher ihm mit Brief vom 20. September 1950 schreibt: „I am immensely impressed with your translation of Avon“ und ihm die Überweisung eines Honorars von 500 US-
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Dollar zusagt. Mit H. D. diskutiert Urzidil Details der Übersetzung, die ihn in ihrer ungewöhnlichen Metaphorik vor einige Probleme stellt.20 Auf der Suche nach einem deutschen Verleger wendet sich Urzidil zunächst an Kurt Wolff und dessen New Yorker Verlag Pantheon Books. Wolff sieht für das Buch hier keine Chance, setzt sich aber in einer Korrespondenz von 1952 bis 1955 bei dem Gründer und damaligen Leiter des Suhrkamp-Verlags, Peter Suhrkamp, nachdrücklich für sein Erscheinen ein. Ihm hat Urzidil das Manuskript zugeschickt, worauf ab Herbst 1952 ein intensiver Briefwechsel über das Erscheinen des Buchs hinaus bis April 1959 entsteht.21 In seinem ersten Brief an Urzidil vom 6. November 1952 schreibt Suhrkamp u. a.: Es war nicht nötig, daß Sie mir ausführlich über sich schrieben. Mir war nicht nur ihr Name in Erinnerung, sondern auch Arbeiten von Ihnen. Ich denke auch noch an die Gespräche mit Oskar Loerke, in denen Sie vorkamen.22
Es vergehen aber zweieinhalb Jahre, ehe Suhrkamp nach mehrfachen Interventionen Urzidils mit Schreiben vom 8. Februar 1955 definitiv den Druck ankündigt, wobei in weiterer Korrespondenz noch kontroverse Punkte wie das Nachwort des Übersetzers, das dann zu einer Nachbemerkung mutiert, zu den diversen Widmungen, zu Anmerkungen und Index geklärt werden müssen. Das Buch erscheint im Frühjahr 1955 als Band 1 der bibliophilen Reihe der
20 Im New Yorker Nachlass finden sich 11 Briefe von H. D. an Urzidil von 1949 bis 1961, ein einziger von Urzidil an H. D. vom 02.01.1957. 21 Die Briefe Peter Suhrkamps an Urzidil sind komplett aufbewahrt im Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung, Dt. Literaturarchiv Marbach, diejenigen Urzidils an Suhrkamp im Archiv des Leo Baeck Institute New York. 22 Urzidil war bis zu diesem Zeitpunkt literarisch allenfalls als Lyriker und Essayist in begrenzten Fachkreisen bekannt geworden. Oskar Loerke (1884-1941) rezensierte seine Gedichtsammlung Sturz der Verdammten noch im Erscheinungsjahr 1919 (Loerke 1919: 1527) und abermals zwei Jahre später (Loerke 1921). Er erwähnt ihn in seinen Tagebüchern, die von Hermann Kasack herausgegeben wurden (Loerke 1955: 80). Kasack, gleichaltrig mit Urzidil, steht seit seiner Zeit als Lektor im Kiepenheuer-Verlag 1924 mit Urzidil in Kontakt (allerdings lernen sie sich schon 1921 bei Loerke kennen, und Kasack schreibt, Urzidil habe ihm 1923 Prag gezeigt). Beide rezensieren gegenseitig ihre Veröffentlichungen. Kasack (1932) bespricht die Erstausgabe von Urzidils Goethe in Böhmen 1932, Urzidil (1922; 1933) rezensiert Kasacks Drama Die Schwester. Eine Tragödie in 8 Stationen (1920) und dessen Gedichtband Echo (1933). Kasack nennt ihn auch in seinen Erinnerungen Mosaiksteine (Kasack 1956: 219, 295). Unter Kasacks Präsidentschaft (1953-1963) für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt wird 1962 Urzidil zu deren korrespondierendem Mitglied gewählt. Der Briefwechsel Urzidil-Kasack 1956 bis 1966 befindet sich im Archiv des Leo Baeck Institute, New York.
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„Tausenddrucke“ in 50 Exemplaren in Halbpergament und 950 in Halbleinen gebunden (H. D. 1955).23 Urzidil dankt selbstbewusst mit Schreiben vom 8. September 1955, nachdem ihm verspätet das Buch vom Verlag zugestellt worden war: Ich muß Ihnen und auch mir zu dieser ungewöhnlich schönen Ausgabe gratulieren. Format, die Einbände, das Papier, Satz, Satzbild und Gesamtanordnung sind von makelloser Harmonie. Für jeden, der Bücher liebt, muß es ein Vergnügen sein, dieses Buch in Händen zu halten.
Der Verkauf des Buchs verläuft schleppend, bis Ende März 1956 sind 613 Stück abgesetzt (ein Exemplar, das ich um 1960 erwarb, trug die Nummer 738, sodass man vermuten kann, dass im Lauf der Jahre der Gesamtbestand verkauft worden ist). Avon wird in der überregionalen deutschsprachigen Presse nur vereinzelt rezensiert. Von herausragender Qualität ist eine umfangreiche Besprechung von Richard Gerber (1955) in der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. Dezember 1955.24 Er anerkennt vor allem die Absicht des Übersetzers, „den deutschsprachigen, des Englischen nur wenig mächtigen Leser mittels H. D. einen englischen Shakespeare erleben zu lassen.“ Gerber verdeutlicht detailliert die Struktur des Buchs, wo Lyrik und Prosa „einen Zusammenhang von Tönen und Assoziationen“ bilden und bestätigt Urzidils These in dessen Nachwort, wonach es sich um „Musik gleichsam mit unterlegtem Text“ handle. Der Rezensent erkennt die komplexe Einheitlichkeit der Konstruktion und erhebt nur wenige Einwände zu konkreten Formulierungen in Urzidils Übersetzung. Er schließt: So wird der willige Leser auch in der deutschen Fassung, trotz der genannten Einschränkungen, zwischen historischer Realität und dichterisch ertastender Einfühlung die Spätzeit Shakespeares in einer traumhaften Spiegelung vor sich erstehen sehen. (Gerber 1955)
Es ist kennzeichnend, dass Gerber keinerlei Ausführungen zur Person Johannes Urzidils macht. Er ist damals in der literarischen Öffentlichkeit eben noch
23 Band 2 der Tausenddrucke bringt Konrad Weiß: Die Gedichte aus der Tröstung der Philosophie des Boethius (1956) und Band 3 die Erstausgabe von Peter Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960). Danach wird die Reihe eingestellt. 24 Richard Gerber (1924-1986), in der Schweiz geboren, lehrte als Anglist u.a. in Zürich, seit 1956 in Köln, danach bis zu seinem Tod an der FU Berlin und trug maßgeblich zur Shakespeare-Forschung bei.
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fast unbekannt, was sich erst im Folgejahr 1956 mit dem Erscheinen seines ersten Erzählungsbandes Die verlorene Geliebte ändert.25 Zu seiner konkreten Arbeit als Übersetzer wie zu Problemen des Übersetzens allgemein äußert sich Urzidil in seiner Nachbemerkung zu Avon. Zum einen betont er die besondere Qualität der Lyrik Doolittles, zum anderen verweist er auf seine Disposition, die ihn schon seit den 1930er Jahren in die Zeit Shakespeares geführt habe, als er sich intensiv mit dem böhmischen Barockgrafiker Wenceslaus Hollar (1607-1677) beschäftigt, woraus zwei Veröffentlichungen 1936 und 1942 hervorgingen (Urzidil 1936, 1942). Selbst Emigrant in England, folgt Urzidil auch hier Hollars Spuren und lebt zugleich von September 1939 bis Januar 1941 in Viney Hill in der Grafschaft Gloucestershire, am Severn River gelegen, in den der aus der Welt Shakespeares bekannte Fluss Avon einmündet. In seiner Erzählung Die Fremden (Urzidil 1956: 258-297) schildert Urzidil eindringlich die geschichtsträchtige Landschaft des Forest of Dean und es verwundert nicht, dass er Verse aus H. D.s By Avon River mit seinem eigenen Erzähltext verwebt, die ich erst jetzt identifizieren konnte (H. D. 1955: 60-62). Die hinzugewonnene Nähe zu Viney Hill und Shakespeare lässt sich auch daran erkennen, dass Urzidil diesen Ort auf seiner ersten Europareise nach dem Krieg im Herbst 1953 sogleich wieder aufsucht.26 Urzidil ist kein naiver Übersetzer, vielmehr beschäftigt er sich mit grundsätzlichen Problemen des Übersetzens zeitlebens in mehreren Veröffentlichungen, am eindringlichsten in einer längeren Abhandlung Die Sprache im Exil (Urzidil 1946), die ironischerweise zuerst 1945 in englischer Übersetzung durch Moina M. Kallir in Bryhers Zeitschrift Life and Letters Today erscheint. Urzidil, der im Exil unveränderlich darauf besteht, nur in seiner Muttersprache zu schreiben, hätte es nie gewagt, in eine Fremdsprache zu übersetzen. Die generelle Problematik jedes Übersetzens und die Beweggründe, die ihm dies dennoch ermöglichen, beschreibt Urzidil in seinem Nachwort zu seiner Übersetzung von avon: Er [Urzidil spricht hier von sich in der dritten Person Singular; GT.] erwähnt dies, weil er in jener Studie [Die Sprache im Exil; GT] über das ganze Ausmaß der Schwierigkeiten abhan25 In einem Brief an Urzidil vom 03.07.1957 weist H. D. auf zwei Rezensionen von Al fred Günther hin: „one of which pleased me more, I almost feel, than any review that I ever received“. Günther (1885-1969) hatte sich als Schriftsteller, Verlagslektor und Shakespeare-Biograph einen Namen gemacht. Die Rezension erschien in der Deutsche Zeitung und W irtschaftszeitung (11.02.1956: 20) und in verkürzter Form in: Dichten und Trachten. Jahresschau des Suhrkamp Verlages (8, 1956: 82f.)[Diesen Hinweis verdanke ich Klaus Johann, Münster]. 26 Zu Urzidils englischem Exil s. a. Patsch (1985: 163-176) und Thunecke (2009).
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delte, die jeglichem Übersetzen, sonderlich aber dem dichterischer Werke entgegenstehen, ja es geradezu unmöglich zu machen scheinen. Es ist nun aber so, dass jegliche Erkenntnis und Behauptung in sich selbst den geheimen Stachel des Gegensatzes trägt und daß, wer um die Dinge des Geistes redlich besorgt ist, keinen Versuch unterlassen möchte, sich selbst so vollkommen als möglich zu widerlegen. Einen solchen Widerlegungsversuch stellt die vorliegende Übertragung dar (Doolittle 1955: 135, Nachwort).
Wobei auch die Übersetzung in die Muttersprache zwangsläufig zu Veränderungen des Originals führt. Dies belegt er, beginnend mit Überlegungen Schleiermachers, am Beispiel von Julian Greens Übersetzungen aus dem Französischen ins Englische, er zitiert Luther, Charles Sealsfield, Adalbert von Chamisso, Joseph Conrad, Diderot, Wilhelm v. Humboldt und viele andere. Urzidil ist sich der Risiken bewusst, die Übersetzungen mit sich bringen, wie er schon in Die Sprache im Exil schreibt: Für die Psyche des Deutschen ist die Vorliebe für die Anwendung des Konjunktivs, des Konditionalsatzes, die Häufung von Adjektiven, die Verschachtelung von Relativsätzen kennzeichnend. Dadurch erhält der deutsche Stil – im Gegensatz etwa zum Englischen – etwas Unbestimmtes und Schwebendes […]. Slavische Sprachen kennen männliche, weibliche und sachliche Flexionsformen des Verbums und ebensolche Typisierungen des Adjektivums. In ihrer spezifischen Qualität sind diese ebensowenig in andere Sprachen übertragbar wie etwa der geschlechtlich modulierte Artikel des deutschen Substantivs. Der Mond ist im Deutschen männlich, das Schiff sächlich, während im Englischen beide weiblich sind. Solche fundamental verschiedene Empfindungsweisen sind für das Problem adäquater Übersetzungen nicht gleichgiltig. – Und wie steht es nun gar um den Klangrhythmus einer Sprache, der ja keineswegs eine losgelöste ästhetische Tatsache ist? Wer vermisst sich, Verlaines Verse ‚Il pleut dans mon coeur comme il pleut sur la ville‘ […] wiederzugeben? Wer ist dem Ausdrucksreichtum gewachsen, den z.B. die tschechische Lyrik vermöge gemeinsamer Anwendung akzentuierender und quantitierender Effekte aufweist? Im Deutschen ist jede lange Silbe von Natur betont, im Tschechischen gibt es lange und dabei unbetonte Silben von besonderer rhythmischer Wertigkeit, die keine Übertragung wiederzugeben vermag. [...]Der Übertragung eines literarischen Werkes in ein fremdes Sprachmedium wird so fast immer ein bloss approximativer Charakter anhaften müssen. […] So erfordert die wahre Kunst des Übersetzens nicht bloss sprachliche und psychologische Voraussetzungen, sondern ebenso sehr physiologische, sie erfordert eine kongruente Kongenialität in allen Belangen. Nur sehr seltene Momente gibt es, in denen ein Übersetzer begnadet genug sein kann, diesen Anforderungen zu entsprechen (Urzidil 1946: 23).
Wenn wir an den heute obsolet gewordenen Begriff Begnadung für künstlerische Gestaltungsfähigkeit anknüpfen wollen, findet dies bei Urzidil einen konkreten Hintergrund, der in seiner eigenen lebenslangen lyrischen Produktion liegt. Bis zu seiner Emigration wird er, wenn überhaupt, in Literaturgeschichten, Lexika oder Adressbüchern überwiegend als Lyriker geführt. Seine expressionistische und später eher klassischen Formen folgende Lyrik wird mehrfach von Oskar Loerke (1919: 1527; 1921) gepriesen, Kurt Wolff schrieb
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1957 anlässlich seiner Lektüre von Urzidils (1957b) Gedichtsammlung Die Memnonssäule sehr emphatisch: Vom ‚Sturz der Verdammten‘ zur ‚Memnonssäule‘ – welch ein Weg! Ich danke Ihnen von Herzen für ein schönes, bedeutendes, starkes Buch, das mir einen sehr hohen Rang im zeitgenössischen dichterischen Gestalten einzunehmen scheint. Und ich sage ‚zeitgenössisch‘, nicht ‚deutsch‘, weil es im Besten und Wichtigsten besteht, was, meiner Kenntnis nach wenigstens, in deutscher, englischer, französischer, italienischer Sprache hervorgebracht worden ist.27
Diese wenigen Anmerkungen zu Urzidils Lyrik, deren sachkundige Untersuchung bisher ein wissenschaftliches Desiderat blieb, sollen lediglich die These untermauern, dass ohne den Lyriker Urzidil auch der Übersetzer nicht vorstellbar wäre. „Eines meiner geliebtesten Experimente“ nennt Urzidil selbst seine Arbeit in einer Widmung, die er mir im Oktober 1966 in avon eintrug. Eine der gegenwärtig bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen, Ulrike Draesner, hat H. D.s Gedichtzyklen Hermetic Definition/ Heimliche Deutung ins Deutsche übertragen (H. D. 1972; 2006). Dazu bewegte sie, wie sie mir mitteilte, das „ganz ungewöhnliche System, der neue Ton und die Metaphorik“.
4. Zur Position Urzidils im amerikanischen Exil
Die Forschungsliteratur zum Exil Urzidils hat unisono seine Aktivitäten im Zeitraum von 1939 bis 1970 hervorgehoben: 31 Lebensjahre im Exil, ablesbar allein schon in seiner Bibliographie (). Es ist kaum nachvollziehbar, wie er im September 1939, kaum in London angekommen und schon nach einem Monat nach Viney Hill umsiedelnd, seine Lebensverhältnisse innerhalb kürzester Zeit für sich und seine Frau organisiert, auch wenn er sich dabei auf private oder die Hilfe der tschechoslowakischen Exilregierung stützen kann (Trapp/Heumos 1999). Neben seiner publizistischen Tätigkeit setzt er unverdrossen seine Recherchen zu Goethe in Böhmen fort, die wir als seinen inneren Kompass verstehen können, der ihn lebenslang leitet. 27 Brief von Kurt Wolff an Urzidil vom 24.05.1957, Archiv des Leo Baeck Institute, New York. Zu Kurt Wolff in diesem Kontext Seeber (2007).
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Bei anfänglich ebenso schwierigen Existenzbedingungen in New York seit Februar 1941 beobachten wir dieselbe Haltung: Er schlägt sich jahrelang mit handwerklichen Lederarbeiten durch, die er zunehmend gut verkaufen kann, Gertrude Urzidil ist als Babysitterin tätig. Die Wohnsituation bleibt lange Zeit unbefriedigend. Es dauert zehn Jahre, bis er durch eine Anstellung bei der österreichischen Abteilung der Stimme Amerikas Boden unter die Füße bekommt, und erst 1956 konsolidiert sich seine Situation mit dem Erscheinen der ersten Sammlung seiner Erzählungen Die verlorene Geliebte im Münchner Verlag Langen Müller. Entscheidend für seinen späten Erfolg und sein Verbleiben in den USA ist zweifellos seine Fähigkeit, sich auf Gegebenheiten des Gastlands einzulassen und nicht in resignierender Nostalgie zu verharren, wobei dem klugen, galanten, vitalen und auch physisch beeindruckenden Mann seine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit sehr zu Gute kommt.28 Dazu gehört es, dass Urzidil sich von Anfang an intensiv mit der amerikanischen Geschichte und Kultur beschäftigt, wobei die Literatur im Vordergrund steht und W. Whitman von ihm schon in frühen Prager Jahren intensiv rezipiert wurde. Der hier unvollständige Katalog beginnt im 19. Jahrhundert mit Washington Irving, den schon aus Jugendlektüren bekannten James Fenimore Cooper und Mark Twain, führt weiter über Henry Wadsworth Longfellow, Edgar Allen Poe zu den ihm wesensverwandten Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und Nathaniel Hawthorne, zu Herman Melville, Walt Whitman oder Henry James. Schon im 20. Jahrhundert zu verorten sind die Namen der Lyriker Robert Frost oder Marianne Moore (auch eine Freundin von Hilda Doolittle), die Epiker Sinclair Lewis, Thomas Wolfe, Ernest Hemingway, William Faulkner oder die Dramatiker Eugene O’Neill und Thornton Wilder. Unter den hier angeführten Namen sind die Erzähler Emerson und Hawthorne, der Naturphilosoph und Zivilisationskritiker Thoreau und der durch die junge deutsche (und europäische) Lyrik schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich wahrgenommene Walt Whitman für Urzidil von besonderer Bedeutung. Zu den meisten dieser Autoren veröffentlicht Urzidil Beiträge in deutschsprachigen und amerikanischen Fachzeitschriften oder in seinen Rundfunksendungen. Bei einigen wie Hawthorne oder Thoreau recherchiert er an Ort und Stelle ihrer Herkunft. In seinem eigenen literarischen Werk spiegeln sich seine Erfahrungen in den USA in diversen Erzählungen, vor allem 28 Zur Thematik Urzidil und Amerika s. Gronicka (1956), Schwarz (1984), Elfe (1989), Grün zweig (1999), Trapp (2000). Auch in Essays spielt Amerika in unterschiedlichen Bezugsrahmen eine wichtige Rolle s. Urzidil (1958; 1964b; 1968). S. ferner die Beiträge von Vera Schneider, Jana Mikota und Anja Bischof in diesem Band.
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aber in seinem einzigen umfangreichen Roman Das Große Halleluja (Urzidil 1959). Hierzu schreibt er an seinen Freund und Förderer, den Schriftsteller Heinz Risse am 18. November 1955 nach Solingen: Nun muß ich Ihnen aber das Wichtigste erzählen, daß ich an einem Roman schreibe, dessen erstes Drittel schon fertig ist. Der Roman trägt sich im Amerika der unmittelbaren Gegenwart zu und spielt unter amerikanischen Menschen, unverbrämt alles Positive und Negative erörternd bzw. behandelnd, amerikanisch auch in dem Sinne, daß er nicht vom ‚Immigranten-Aspekt‘, aber doch von der Terrasse des Nicht-Amerikaners geschrieben ist. (Popp 2008: 139)29
Urzidils weithin geglückte Bewältigung der subjektiven wie objektiven Probleme, die das Exil an jeden Exilanten stellt, ist als ein Sonderfall anzusehen. Er beruht auf Offenheit, Willensstärke und klugen Strategien, aus dieser Situation das Beste zu machen. Dabei assimiliert er sich nicht wirklich, bleibt als Betroffener wie als Beobachter in jener Terrassenposition, die den skeptischen Humanisten kennzeichnet und ihm Identifikation und Distanz ermöglicht. Eine geistige Selbstübereignung an die Sprache und Kultur des Gastlandes findet nicht statt.
Literatur
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„Meere zwischen uns und Kontinente des Schlafs“. Johannes Urzidils Briefwechsel mit Christine Busta
Abb. 1 und 2: Johannes Urzidil („Johannes am 10. Jan. 1959 denkend an Christine“) und Christine Busta (ca. 1957).1 Seit einer Europareise anlässlich des Erscheinens seines Gedichtbands Die Memnonssäule im Jahre 1957 stand Johannes Urzidil intensiv mit der Wiener Lyrikerin Christine Busta in Briefkontakt. Die gegenseitige Bewunderung, ähnliche Themen- und Fragestellungen in den Werken sowie eine gewisse Herzensnähe ließen den Kontakt bis zu seinem Tod 1970 nicht abbrechen, obwohl die Vorgeschichte der Korrespondierenden dies nicht unbedingt auf den ersten Blick vermuten lassen würde. Während Urzidil als sogenannter ‚Halbjude‘ und Ehemann einer Rabbinertochter nach Einmarsch der deutschen Truppen in Prag aus seiner Heimat hatte fliehen müssen, war Busta Mitglied der NSDAP und mit einem ausgewiesenen Nationalsozialisten verheiratet gewesen. Dass sie diesen Teil ihrer Vergangenheit dem Exilanten nicht bekannt machte, stellt ein nicht zu vernachlässigendes Detail des Briefwechsels dar und soll hier näher erörtert werden. Ebenso lohnend ist der Blick auf inhaltliche Besonderheiten des Briefwechsels: Der Dialog über Schwierigkeiten und Erfolge des Schriftstellerdaseins 1 Abb. 1: FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.2: Beilage zu Brief von Johannes Urzidil an Christine Busta, 18.2.1959 [Fotograf: Wayne Andrews]). Abb. 2: FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.28.25.3 [Fotograf: nicht eruierbar]).
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gewährt Einblick in das literarische Leben der späten 1950er und der 1960er Jahre (man kommentiert Autorenkollegen, Lesereisen, Literaturskandale und -veranstaltungen); der ‚Austausch‘ über Literatur – auch im wörtlichen Sinne: von Literatur –, der im Mittelpunkt der über 200 Briefe steht, bringt uns die Leseinteressen und Schreiberfahrungen der Korrespondierenden näher: Werke werden empfohlen und besprochen, eigene Texte werden beigelegt und die Umstände ihrer Entstehung erläutert, nicht selten werden dabei auch literarische Verfahrensweisen sichtbar gemacht. Christine Busta gilt als eine der angesehensten österreichischen Lyrikerinnen der Nachkriegsjahrzehnte, vor allem im Bereich der Natur- und Liebeslyrik. Aufgrund der immer wiederkehrenden religiösen Motive wird sie gerne als katholische Dichterin bezeichnet, wobei die Verwendung der Motive „zumeist auf eine Irritation der kirchlichen Tradition“ zielt: Das jenseitsorientierte Christentum wird kritisiert, indem gelebte Nächstenliebe gefordert wird (Wiesmüller 2003: 4) – eine Anschauung, die auch Urzidil nicht fern lag. Während Busta allerdings zeit ihres Lebens ein ambivalentes Verhältnis zur katholischen Kirche pflegte – nach dem Kirchenaustritt während der Zeit des Nationalsozialismus sowie dem Wiedereintritt im Jahr 1945 (Bakacsy et al. 2007/2008) bezeichnete sie sich als Heidin, die sich nach Glauben sehne und immer wieder versuche, auf Jesus zuzugehen –,2 war Urzidil nach dem frühen Tod seiner jüdischen Mutter, die vor der Heirat zum Katholizismus konvertiert war, von seinem Vater streng katholisch erzogen worden und dem Christentum – wie auch dem Judentum – stets verbunden geblieben (Urzidil 1957b; Urzidil 1972; Weltsch 1970).3 Obwohl oder gerade weil Bustas Lyrik der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre der Tradition oder bisweilen einer gemäßigten Moderne verpflichtet gilt, haben sich Texte von ihr über Jahrzehnte hinweg im österreichischen Kanon gehalten. Die Beschäftigung mit dem Nachlass im Zuge eines vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekts4 2 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 08.12.1958). 3 Auch seine besondere Affinität zur Freimaurerei soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben (Urzidil 1972: 191-195; Křesálková 2000); s. a. den Beitrag v. Jitka Křesálková im vorliegenden Band. 4 Der Nachlass befindet sich seit 2007 am Forschungsinstitut Brenner-Archiv in Innsbruck in 51 Kassetten, Nachlassnummer: 183. Seit März 2008 wird von Ursula Schneider, Christine Tavernier und Verena Zankl unter der Leitung von Annette Steinsiek an folgendem Projekt gearbeitet: Poetik – Religion – Politik. Neue Perspektiven auf Werk und Leben von Christine Busta (1915-1987) auf der Grundlage ihres Nachlasses (, Juni 2011). Austrian Science Fund (FWF): [P20606].
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ergab nicht nur, dass Busta sehr wohl mit verschiedenen literarischen Formen experimentiert hat – unter den zahlreichen unveröffentlichten Texten finden sich sowohl Konkrete Poesie als auch Dialektgedichte oder Aphorismen – (Tavernier 2011), sondern brachte auch bisher nicht bekannte Dokumente ans Tageslicht, die offenlegen, dass die Lyrikerin tiefer in den Nationalsozialismus verstrickt war als vorher angenommen.5 In Bezug auf die Freundschaft mit Urzidil soll dieser Abschnitt ihrer Vergangenheit hier nicht unbeachtet bleiben. Da Busta erst nach 1945 als Autorin den Weg in die Öffentlichkeit suchte und 1947 Gedichte im Plan veröffentlichen konnte (Busta 1947b), der ja bewusst nur unbelasteten Autorinnen und Autoren eine Publikationsplattform bot, war ihre NS-Vergangenheit lange Zeit nicht bekannt geworden. Publik war seit 1977 (Lanz-Plieger 1976/1977) lediglich das, was sie auch der Entnazifizierungsbehörde 1946 mitgeteilt hatte:6 „Ein befreundeter Arzt“ habe sie „in die Partei hineingeschwindelt“, um ihr eine Hilfslehrerinnenstelle zu ermöglichen.7 Sie wurde daraufhin als ‚Mitläuferin‘ eingestuft und mit der Amnestie im Jahr 1948, die den Abschluss der Entnazifizierung für ‚Minderbelastete‘ bedeutete, nicht weiter strafrechtlich verfolgt (Bakacsy et al. 2009). Die Dokumente im Nachlass legen nun nahe, dass Busta bereits 1937 – als die Partei in Österreich noch verboten war – um Mitgliedschaft bei der NSDAP angesucht hat, sie belegen, dass sie zwischen 1934 und 1938 Mitglied der austrofaschistischen Vaterländischen Front gewesen ist und 1940 eine Kindergruppe der Nationalsozialistischen Frauenschaft geführt hat. Ihr Ehemann Maximilian Dimt, den sie 1935 kennengelernt hatte, war bereits seit 1934 Mitglied der NSDAP, gehörte der SA und der SS an und arbeitete zeitweise in der Gebietsführung der HJ von Niederdonau.8 Bustas Angaben, dass sie seit 1929 für sich und ihre einkommenslose Mutter zu sorgen und in der Parteimitgliedschaft eine Sicherung im ‚Kampf ums tägliche Brot‘ gesehen hatte, kann man zwar für möglich halten, immerhin bekam sie im Juni 1938 – die Machtergreifung 5 Diese Tatsache wurde erstmals in Aufsätzen der Busta-Projektgruppe am Forschungsinstitut Brenner-Archiv herausgearbeitet (Schneider/Steinsiek 2008; Bakacsy et al. 2007/2008; Bakacsy et al. 2009). 6 WStLA (M. Abt. 119, A 42, 13. Bezirk, Nr. 282, NS-Registrierungsakt v. Christine Dimt/Busta: Brief Christine Busta an das Magistratische Bezirksamt für den 13. Bezirk, 04.11.1946). 7 Brief Christiane Busta an Martha Lanz-Plieger, 15.05.1975 (Lanz-Plieger 1976/77: Anhang 1-6, hier 2; s. a. Wiesmüller 1989: 210). 8 Hier sind wir auf Maximilian Dimts eigenhändigen Lebenslauf angewiesen (BArchB, ehem. BDG, RKK, Dimt, Maximilian Franz: [Lebenslauf], 13.11.1941).
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der Nationalsozialisten hatte in Österreich am 13. März 1938 stattgefunden – eine Anstellung als Lehrerin, obwohl sie ihr Studium der Germanistik und Anglistik noch nicht beendet hatte, was sie auch später nicht getan hat. Dass sie den von den Nationalsozialisten propagierten Visionen einer besseren Gesellschaft aber sehr wohl Glauben schenkte, bezeugen Briefe an ihren Mann und Stellen in ihrem Tagebuch (Schneider/Steinsiek 2008: 168). Zum Zeitpunkt der ersten Begegnung mit Urzidil im Oktober 1957 war Busta bereits mit Einzelveröffentlichungen in wichtigen Nachkriegszeitschriften und -anthologien9 hervorgetreten, mit ihrem soeben erschienenen zweiten Gedichtband Lampe und Delphin (Busta 1955)10 stand sie am Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere und scheint großen Eindruck auf den bereits etablierten Autor gemacht zu haben. – Überlegt werden könnte an dieser Stelle, inwieweit Busta sich anfänglich eine Unterstützung erhofft hat. Urzidil hatte zwar erst 1956 mit seinem Erzählband Die verlorene Geliebte seinen endgültigen Durchbruch geschafft, er war aber bereits seit 1919 mit zahlreichen selbstständigen Publikationen sowie Veröffentlichungen in Sammelbänden, Zeitungen und Zeitschriften an die Öffentlichkeit getreten und genoss zu dieser Zeit bereits hohes Ansehen (Trapp 1999). In den 106 erhaltenen Karten und Briefen von Urzidil im Nachlass der Autorin wird mehrfach seine Wertschätzung für die Wiener Lyrikerin deutlich, in der Rezension zu ihrem Lyrikband Unterwegs zu älteren Feuern wird diese 1965 auch öffentlich (Urzidil 1965). Beim Sichten der 104 erhaltenen Gegenbriefe bestätigt sich eine beinahe geschwisterliche Verbundenheit, die sich aus gegenseitiger Bewunderung speist und nicht zuletzt in der ‚gemeinsamen‘ Herkunft der beiden begründet ist. Wenngleich Busta in Wien aufgewachsen ist, stammen ihre Vorfahren sowohl mütter- als auch väterlicherseits ebenfalls aus dem böhmisch-mährischen Raum. Urzidil gegenüber bezeichnet sie Wien als „die Stadt meines Eintritts in die Welt“, Prag aber als ihre „Vaterstadt“.11 Angesichts von Bustas NS-Vergangenheit mag dieses Betonen der tschechischen Wurzeln verwundern, wenn man bedenkt, dass die slavischen Völker, ihre Sprachen und Kulturen im Nationalsozialismus eine extreme Abwertung 9 Neben Busta (1947b) auch Busta (1947a; 1948; 1949a; 1949b; 1950; 1951b; 1951c; 1951d). 10 Der erste Band war Der Regenbaum (Busta 1951a). 11 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 08.12.1958). Der Vater Ludvík Čižek (1887-1964) hatte die Mutter Magdalena Bušta (1888-1974) noch vor der Geburt der Tochter verlassen und lebte bis zu seinem Tod in Prag, von wo er Christine Busta in den 1920er und 1930er Jahren acht Briefe schrieb, die sich in ihrem Nachlass erhalten haben (FIBA, Nachlass Christine Busta, Sign. 183.13.55).
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erfahren hatten (z. B. Schaller 2002); in Bustas Fall bot die Rückbesinnung auf die Herkunft ihrer Vorfahren aber eine Möglichkeit, sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft neu zu entdecken, ja sich im Kontext der wiedererstandenen Republik Österreich neu zu erfinden – wie auch Stellen in Briefen an andere Personen aus dieser Zeit nahelegen. An Reinhold Schneider, dessen Werke während der Zeit des Nationalsozialismus verboten waren, weil er „scharfe Kritik an der geschichtslosen und menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie“ geübt hatte, und der 1945 wegen Hochverrates angeklagt wurde, weil seine Werke weiterhin illegal durch zahllose Abschriften weiter verbreitet wurden (Lüttich 2005), schrieb Busta – ebenfalls 1958: Ich bin Österreicherin, aber soweit sich das kontrollieren läßt, ein ausschließliches Gemisch aus slawischen Völkern u. also ein legitimes Kind der alten Monarchie.12
So mag es auch nicht verwundern, dass Urzidils Buch Die verlorene Geliebte – mit den Erzählungen über die Zeit der Kindheit und Jugend in Prag – seit seinem Erscheinen zu ihrer Lieblingslektüre zählte. Es ist oft zum Weinen schön u. zum Lächeln gut, herzzerreißend u. heilend u. besänftigend […]. Es ist zeitlos u. erschreckend genau in der Zeit. Welch eine Parabel für alles, was wir erlebt haben u. immer noch erleben in der Geschichte ‚Wo das Tal endet‘, welche Trauer in der Gelassenheit des Erzählers! Hätten Sie nur diese eine Geschichte geschrieben, wären Sie schon ein großer, unvergeßlicher Chronist. […] Was steckt für den, der lesen kann, nicht in Ihrem Neujahrsrummel, welch eine dämonische Welt, durchweht von tödlich reinem Schnee, in dem der Sucher Größeres findet, als der Verlierer verloren hat. Keine Geschichte ohne die ganze Last u. Lust des Menschseins, ohne die furchtbare Schrecksekunde, ohne den Augenblick der Gnade!13
Als Urzidil im Oktober 1957 auf der erwähnten Lesereise durch Europa14 nach Wien kam, nahm Busta die Gelegenheit wahr, ihn persönlich kennenzulernen und ihm ihren Gedichtband Lampe und Delphin als Geschenk zu überreichen. Beim Presseempfang, der vom Wiener Bergland-Verlag zur Feier der Herausgabe von Die Memnonssäule veranstaltet wurde (Th. 1957), übergab sie den Band – „aus Scheu vor einer Begegnung“ – Gertrude Urzidil, die der jungen Autorin ihren Ehemann vorstellte.15 Johannes Urzidil zeigte sich angetan
12 BLB (K2875: Brief Christine Busta an Reinhold Schneider, 20.02.1958). 13 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 27./29.12.1958). 14 Die Reise führte ihn im September/Oktober 1957 nach England, Holland, Deutschland, Österreich und in die Schweiz (, April 2011). 15 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 27./29.12.1958).
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von ihren Gedichten und schrieb ihr vier Tage später – mittlerweile auf der letzten Station seiner Lesereise – aus Zürich: Ich wüßte nicht zu sagen, welche Verse mir seit Jahren so tiefe Freude bereitet hätten wie die Ihren. Haben Sie aufrichtigen Dank. Ich hoffe, daß wir in Verbindung bleiben. Sehr großen Wert lege ich darauf.16
Und zwei Monate später erneut: „Immer wieder freue ich mich Ihrer Verse, jeder Vers ein Lot in der Tiefe klarster Fluten.“17 Obwohl er bis auf eine Weihnachtskarte18 keine Antwort auf seine beiden Schreiben erhielt, schickte er der Autorin als Dankeschön für ihren Gedichtband eigene soeben erschienene Arbeiten über Henry David Thoreau (Urzidil 1956b) und Adalbert Stifter (Urzidil 1957c), das Reclambändchen Neujahrsrummel (Urzidil 1957a) sowie den Aufsatz Das Christentum steht noch am Beginn (Urzidil 1957b).19 Acht Monate nach Urzidils erster Kontaktaufnahme schreibt Busta am 22. Juni 1958 auch ihm einen ausführlichen Brief – im Anhang elf Gedichte, die in ihren in Planung befindlichen dritten Gedichtband Die Scheune der Vögel aufgenommen werden sollen und von denen sie eines Urzidil zu widmen beabsichtigte: Ich habe ein Gedicht ausgewählt, von dem ich glaube, daß es Ihnen nicht ganz fern steht. Ich glaube das sowohl aus Ihrer Botschaft in der ‚Verlorenen Geliebten‘ als auch aus Ihrem Sonderdruck vom Christentum zu erkennen. Wenn Ihnen – abgesehen vom Thematischen – auch die Gestalt des Gedichtes so gelungen erscheint, daß Sie Freude daran hätten, wäre ich aufrichtig glücklich, wenn Sie mir dieses öffentliche Bekenntnis unserer Verbundenheit erlauben würden.20
16 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.1: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 19.10.1957). 17 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.1: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta [vor dem 17.12.1957]). 18 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 18.12.1957). 19 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 22.06.1958). 20 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 22.06.1958).
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Abb. 3: Christine Busta, Der weiße und der braune Heiland (Busta 1958).21
Tatsächlich ist die im Briefauszug erwähnte „Botschaft […] aus Ihrem Sonderdruck vom Christentum“ jener des Gedichts nicht unähnlich. Auf die Frage des Herausgebers Karlheinz Deschner „Was halten Sie vom Christentum?“ hatte Urzidil mit einem Aufsatz „in Form eines persönlichen Bekenntnisses“ geantwortet und die Bereitschaft zum „selbstlosen Opfer, nicht nur für den ‚Nächsten‘, sondern für den Mitmenschen“ gefordert; er hatte die Notwendigkeit der Nächstenliebe für das Gelingen einer Gemeinschaft betont und gleichzeitig festgehalten, wie weit die abendländische Welt noch von dieser gelebten Nächstenliebe entfernt sei (Urzidil 1957b: 93f). Im Busta-Gedicht (Abb. 3) wird dieser Gedanke metaphorisiert: „Der weiße Heiland“, die geheiligte Hostie für die Anwärter/-innen des Abendmahls, wird dem „braunen Heiland“, dem gewöhnlichen Brot für jedermann, gegenübergestellt; dabei wird zweiterem klar der Vorzug gegeben, obwohl der „weiße Heiland“ durch Reinheit in ‚Farbe‘ (weiß) und Klang (beide Wörter ent21 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Beilage zu Brief von Christine Busta an Johannes Urzidil, 22.06.1958).
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halten den Diphthong ‚ei‘) besticht. Dem „weißen Heiland“ sind lediglich die beiden ersten und die beiden letzten Zeilen gewidmet, die ihm zugedachten Adjektive „kühl“ und „weiß“ drücken Distanz aus und betonen das Abweisende und Abwesende der Kirche. Im Gegensatz dazu steht die Barmherzigkeit des „braunen Heilands“, das Brot, das das Volk nährt und dem Adjektive wie „wärmend“, „braun“, „duftend“ zugedacht sind. Genau in der Mitte des Gedichts wird durch eine Tonbeugung im Metrum ein Innehalten provoziert, das durch die Härte des gehäuft auftretenden Konsonanten ‚K‘ verstärkt wird: „Kutscher“, „Krämer“, „Kinder“. Die evozierte Pause nach dem Wort „derb“, das mit dem Wort „darbend“ in der Zeile darunter korrespondiert, bringt den Lesefluss ins Stocken und lenkt den Blick auf den achtlosen Umgang mit dem Brot, das jeden Mitmenschen nährt und nicht nur den Nächsten, in diesem Fall den Kirchenbesucher. Das Gedicht kann als Aufruf gelesen werden, die christliche Botschaft auch im Alltag zu leben. Dass Busta dieses Gedicht für Urzidil ausgewählt hat, nimmt er jedenfalls mit Freude auf: ich möchte nur gleich sagen, daß mich nichts tiefer erfreuen kann als Ihre beabsichtigte Widmung, durch die mein Name vermutlich länger bewahrt bleiben wird als durch meine eigenen Arbeiten.22
Nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Christentum, sondern auch die in diesem Gedicht auftretende Figur des ‚kleinen Dienstleisters‘, der auf der Straße mit seinen Waren für das tägliche Wohl des Menschen sorgt, findet sich in vielen Gedichten Bustas, aber auch in den Erzählungen Urzidils immer wieder. Treten sie bei ihr als „Lavendelweiber“ oder „Strohmann“ auf, z. B. in Den Gassenrufern der Kindheit (Busta 1965: 33), sind es bei ihm die „Radieschenweiber“ oder „Mandolettiverkäufer“, die z. B. in Stief und Halb (Urzidil 1956a: 39) ihre Waren feilbieten. Diese Erinnerung an die Kindheit nimmt Busta auch einige Monate später in ihrem zweiten Widmungsgedicht für Urzidil (zu seinem Geburtstag 1959) wieder auf. Sie stellt dem Gedicht einen „alten Gassenruf aus der Kinderzeit“ sowie ein Urzidil-Zitat aus der Verlorenen Geliebten als Motto voran und schreibt im dazugehörigen Brief: Gewisse Beschwörungen aus Ihrer Prager Zeit haben in mir das Echo alter Gassenrufe aus meinen Kinderjahren heraufbeschworen u. einen ganz unsagbaren Zauber in mir gewirkt. Und das Gedicht ist ein Versuch, etwas von dieser Stimmenverflechtung im Schicksalsge-
22 FBI (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.1: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 26.06.1958).
„Meere zwischen uns und Kontinente des Schlafs“ webe spürbar zu machen – möge es nicht ganz mißlungen sein od. wenigstens so verstanden werden, wie ich von Ihnen glaube, daß Sie verstehen.23 Beim Lesen eines Buches von Johannes Urzidil Als Geburtstagsgruß für den Dichter und den Freund C. B. Stroh, Stroh, Strohmåñn is då! (Alter Gassenruf aus der Kinderzeit) ... das leise Summen der alten Brezelweiber im Park ..... (Johannes Urzidil) Hinab in die Kindheit zu Dir steig ich verschollene Stufen. Warst Du nicht schon bei mir, als der Strohmann gerufen? Es rauschten auf seiner Fuhr Sommer, die meine nicht waren. Bleicht ihre goldene Spur nicht in Deinen Haaren? Damals träumt ich zur Nacht von ärmlichem Stroh umknistert. Ärmer noch bin ich erwacht und Dir seltsam verschwistert. Wenn wir eingehn zur Goldenen Stadt, tauschen wir unser Rätsel. Dem, der den Strohstern behütet hat, hüt ich summend die Brezel. Wien, 2. Jänner 1959 Christine24
Für das Verständnis der letzten Strophe ist die Kenntnis des Briefwechsels hilfreich. Busta hat Urzidil zu Weihnachten 1958 – und damit drei, vier Wochen vor dem Verfassen des Gedichts – einen selbstgebastelten Strohstern
23 LBI (Johannes and Getrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 28.01.1958) 24 Das Gedicht befindet sich nicht in Urzidils Nachlass, ist aber in Abschrift von Busta in ihrem Nachlass erhalten (FIBA, Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.2).
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geschickt,25 den er als Zeichen seiner Verehrung für sie über eine „Originalhandschrift Goethes in meinem Arbeits- und Schlafzimmer“ hängte.26 Indem sie Urzidil als Hüter des Strohsterns in ihrem Gedicht verewigt (Vers 15), schreibt sie sich auch gleichzeitig in sein Werk ein: Sie wird zum „summenden Brezelweib“ (Vers 16) in Urzidils Erzählung Ein letzter Dienst (Urzidil 1956a: 253). Die „Goldene Stadt“ (Vers 13) erscheint in der Korrespondenz immer wieder als imaginärer Rückzugsort, den sich Busta und Urzidil füreinander herbeisehnen, als Ort, an dem alles gut werden kann, als Ideal der Zeit der Kindheit, Ovids „Goldenes Zeitalter“ aus den Metamorphosen klingt darin mit. An diesem gemeinsamen mythischen Ort gibt es keine Geheimnisse mehr, alle „Rätsel“ sind gelöst (Vers 14). Ob Busta hier auch auf ihre NS-Vergangenheit anspielt, darüber kann lediglich spekuliert werden. In ihren Briefen an Urzidil gibt es diesbezüglich nur Andeutungen, die stets kryptisch bleiben. Auf seine (harmlose) Frage nach ihrem „legalen“ Namen („Busta“ oder „Dimt“) antwortet sie umständlich auf drei Seiten, ehe sie mit den Worten schließt: Im Taufschein steht Christine Busta, auf dem Meldezettel Christine Dimt geb. Busta u. im Reisepaß Christine Dimt – abstrakt gesprochen. […] Doch wozu willst Du das eigentlich wissen? Erscheine ich Dir schon so verdächtig, daß Du heimlich die Polizei zu Rate ziehen willst? Ich bin nicht verschlagen, außer vor Behörden. (Und auch dort nicht aus Böswilligkeit sondern aus Respekt vor der Dummheit!) Vor Dir bin ich präziser u. penibler als meinem Ansehn guttun mag. Ich mag nichts beschönigen, was freilich nicht heißt, daß ich gern mit Dreck um mich werfe. Denn Dreck bleibt Dreck u. Wahrheit ist Wahrheit. Die erfährt man nicht aus dem unbehauchten Lehm. – –27
Nachfragen von Urzidil gab es nie, denn bereits in ihrem ersten Brief hatte sie Fragen nach ihrer Vergangenheit streng untersagt, „weil ich wenig mitteilsam bin u. weil mich Ausfragereien u. alle Bekundungen meiner Meinung über mich u. andere in eine gräßliche Verlegenheit stürzen“. Stattdessen legte sie einen Zeitungsartikel mit einem Porträt von sich bei, der ihr abnehmen sollte, „Ihnen ein paar periphere Lebensfakten aus meinem Alltag zu berichten“.28
25 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 08.12.1958). 26 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.1: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 14.12.1958). 27 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 28./29.03.1959). 28 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 22.06.1958).
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Abb. 4: Ernst Wurm, Porträt einer Wienerin (Wurm 1958).29
Biografische Informationen finden sich im Artikel nur wenige, manche Angaben werden aber handschriftlich von ihr ergänzt; die Zeilen über die Zeit des Nationalsozialismus und der Besatzung bleiben unkommentiert. So ist dort zu lesen, dass sie „in den turbulenten Nachkriegsjahren [...] harter Da29 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Beilage zu Brief von Christine Busta an Johannes Urzidil, 22.06.1958).
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seinsnot ausgesetzt“ gewesen sei; sie sei „Hilfslehrerin an einer Handelsschule“ geworden, „dann Dolmetscherin und sogar Hotelleiterin im Dienst der englischen Besatzungsmacht“ (Wurm 1958). Dass sich diese Angaben in vielen (auch publizierten) Lebensläufen wiederfinden (Weigel 1951), widerlegt nicht die Tatsache, dass es sich bei diesen Tätigkeiten um Arbeitseinsätze im Zuge der Entnazifizierung handelte, wie aus Dokumenten im Nachlass hervorgeht.30 Nach ihrer Mitteilung in einem späteren Brief desselben Jahres, dass sie sich das Schreiben während der Jahre 1934 bis 1946 strengstens verboten habe (was ebenfalls nicht der Wahrheit entspricht) (Bakacsy et al. 2009: 107f.), wurde dieses Kapitel der Vergangenheit im Briefwechsel nicht weiter erörtert. Stattdessen rückte Busta die gefühlte gemeinsame Herkunft in den Mittelpunkt der Korrespondenz, auch die Jahre ihrer Kindheit, die geprägt waren von Geldnot, Hunger und Einsamkeit: Nachdem der Vater noch vor ihrer Geburt zurück nach Böhmen gegangen war, hatte die Mutter für den gemeinsamen Lebensunterhalt aufkommen müssen; Busta war viel alleine, Spielgefährten durfte sie keine einladen, die Leute sollten nicht erfahren, wie arm die Familie war. Als die Mutter arbeitslos wurde, musste Busta – mit 14 Jahren – mit Nachhilfestunden im Alleingang für sich selbst und die kranke Mutter sorgen (z. B. Schmölzer 1982; Busta 1959). Indem Busta in ihrem ersten Brief an Urzidil Fragen zu ihrer Person unterbunden hatte, wurden private Befindlichkeiten zwar immer wieder mitgeteilt, von Urzidil aber wenig kommentiert; er wahrte respektvoll die Distanz, um die sie in ihrem Schreiben gebeten hatte, nicht ohne sie stets seines Mitgefühls zu versichern. Gleichzeitig konnte sich aber – vielleicht gerade wegen der Tabuisierung der Vergangenheit – der Schriftwechsel zu dem entwickeln, was ihn letztendlich reizvoll macht: Man konzentrierte sich auf den ‚Austausch‘ über Literatur und das eigene Schreiben. Zum einen sind die Briefe Zeugnisse der Schreibbiografien der Korrespondierenden, vor allem Urzidils Briefe an Busta sind zum Teil regelrechte Arbeitstagebücher, in denen er ihr von seinen Plänen, den verschiedenen Stadien seiner Werke und von seinen Vorträgen und Lesungen berichtet, sie aber auch an seinen negativen Erfahrungen als Schriftsteller teilhaben lässt; so wird über Rezensenten genauso geklagt wie über Finanzielles.31 Zum anderen findet in den Briefen ein Austausch im wörtlichen Sinn statt, der sich vielfältig gestaltet. Von Beginn an werden eigene 30 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.25.3: Bescheinigung der „Erfassungsstelle ehemalig. Mitglieder d. NSDAP. für den Arbeitseinsatz, 18.06.1945-16.11.1946). 31 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.2: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 05.04.1959; Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.10: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 17.04.1967).
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Texte beigelegt, in gedruckter Form, als druckreifes Typoskript oder als Manuskript im Entstehungsstadium. Während Urzidil weniger unveröffentlichte und mehr gedruckte Arbeiten (Bücher und Sonderdrucke) sendet, erreichen ihn von Busta hauptsächlich Typoskripte von soeben entstandenen Arbeiten; meistens als Geschenk, manchmal aber auch, um sein Urteil zu hören. Wie ernst Busta Urzidils Kritik nimmt, zeigt sich darin, dass sich Texte nicht in geplanten Publikationen wiederfinden, wenn er davon abgeraten hat.32 Nicht selten werden – von beiden Seiten – Gedichte auf und für das Gegenüber verfasst und zuweilen entwickelt sich parallel ein Dialog innerhalb der Beilagen, indem auf Gedichte „Gegengedichte“ verfasst werden: wie zum Beispiel Komm Schöpfer Geist von Urzidil als „Gegengedicht von mir an Sie über den Ozean“33 oder Warum Worte sich zu Rhythmen drängen, das er nach dem Lesen der Scheune der Vögel geschrieben hat,34 worauf Busta ihm wiederum mit dem erwähnten Geburtstagsgedicht mit dem Zusatz „Beim Lesen eines Buches von Johannes Urzidil“ antwortete.35 Außerdem überlagern sich literarische Texte und Briefe stellenweise, indem lyrische Verse (eigene und fremde) in die Briefe eingebaut werden oder Motive aus den Briefen Eingang in beigelegte Gedichte finden (wie im Gedicht Vigilie, s. u.). Nicht zuletzt findet in den Briefen selbst ein poetisches Zwiegespräch statt: Nachdem Busta Urzidil – ebenfalls in ihrem ersten Brief – ermuntert hat, sie an seiner unmittelbaren Umgebung teilhaben zu lassen,36 entspinnt sich in den folgenden Briefen ein wahres „Gespräch über Bäume“ – um auf Brechts bekanntes Zitat aus seinem Gedicht An die Nachgeborenen (Brecht 1976) Bezug zu nehmen und zugleich die Debatte über „das Naturgedicht als Stereotyp“ der Lyrik der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre (Riha 1971; s. a. Korte 2004: 20-23, 33-46, 88-93) ins Gedächtnis zu rufen. Urzidil stellt seitenweise literarische Betrachtungen über die Natur an, er benennt und beschreibt die verschiedenen Baumarten, die Farben der Vögel und der Blumen und schwärmt 32 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 05.03.1962); FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.38.8: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 19.03.1962). 33 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.1: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 14.12.1958). 34 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.2: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 08.01.1959). 35 LBI (Johannes and Getrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 28.01.1959). 36 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 22.06.1958).
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über die „allerherrlichsten Herbste der Welt“.37 Auch die Karten und Briefe von seinen Reisen gelten vornehmlich dem Benennen und Beschreiben von Bäumen, von Blumen und von Gesteinen. Die „Rückkehr zur Natur“, als die Urzidil (in Anlehnung an den von ihm verehrten amerikanischen Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau)38 auch seine Hinwendung zum Leder-Handwerk in den ersten Jahren „in der Wolkenkratzerstadt“ New York bezeichnet hat (Urzidil 1969: 53ff.), zeigt sich nicht nur in seinen Veröffentlichungen wie dem Amerika-Roman Das Große Halleluja (Urzidil 1959), sie findet sich auch in seinen Briefen an Busta wieder und zwar in ähnlicher Weise. Hier wie dort kommen nicht nur dieselben Tiere, Blumen und Bäume vor, in Büchern und Briefen fühlt sich die Leserschaft hineinversetzt in die Landschaft, so detailgenau wird die Umgebung beschrieben. Wie aus dem Essay Handwerkliches aus New York hervorgeht, sah Urzidil seine „Rückkehr zur Natur“ als logische Konsequenz seiner inneren Protesthaltung an: Vielleicht gibt es noch andere Arten, in Reinheit zu leben. Aber keine gibt es, die sich innerhalb der Koexistenz mit den menschlichen Einrichtungen und Vorurteilen lange erhalten könnte, denn selbst das Aufbegehren und Protest gegen sie, so sittlich rühmenswert er sein mag, kann sich nur innerhalb der organisierten Gemeinschaften vollziehen, die immer und in jedem Fall das Individuum, auch das protestierende, manipulieren. […] Mit derartigen Gesinnungen scheint es absurd, gerade in New York zu leben. Aber eben New York ist ein Urwald. (Urzidil 1969: 58)
Bei Busta, die ihrerseits mit Schilderungen aus dem Wiener Stadtleben antwortet (mit Beschreibungen von Blumenwiesen und Elektrizitätswerken am Stadtrand, von Spaziergängen durch Industriegelände und Ziegelschutthalden),39 könnte man hingegen Überlegungen anstellen, inwieweit die Behandlung von Naturthemen in den Briefen ähnlich zu sehen ist wie jene in der österreichischen Lyrik der 1950er Jahre; womit sie auch in die Nähe jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu rücken wäre, die in diesen Jahren – um noch einmal Brecht zu zitieren – ohne den Blick auf die „Zeiten“ sich der Natur annähern
37 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.1: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 18.11.1958; Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.6: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 23.03.1963. 38 Dieser hatte sich für zwei Jahre in eine selbstgebaute Blockhütte an einen See zurückgezogen und sich selbst versorgt (Thoreau 1854). Urzidil setzte sich in zahlreichen Texten mit Thoreau auseinander, z. B. in der an Busta verschickten Studie (Urzidil 1956b). 39 Z. B. LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 07.02.1959).
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und gleichzeitig „über so viele Untaten“ schweigen (Wiesmüller 1996). Hatte Busta doch den Briefwechsel von Anfang an in diese Richtung gelenkt.40 Ein Motiv, das den Briefwechsel von Anfang an und auf beiden Seiten durchzieht, ist das Meer. In zahlreichen Briefen, aber auch beigelegten Texten findet es Eingang. Es symbolisiert zugleich das Trennende und das Verbindende ihrer Beziehung: Es trennt die beiden Kontinente, auf denen sie sich befinden, und beschreibt den Weg, den die Briefe zueinander nehmen müssen. Das Gedicht Vigilie thematisiert diesen Gedanken auf besonders eindringliche Weise.41 Vigilie Zwischen uns die stille Gefährtin ist eingeschlafen. Wachsam weben die Stimmen das Ungesagte unsagbar Zwiesprach, die überm Herzen kaum den Atem bewegt. Immer hab ich nur so zu Dir geredet: Meere zwischen uns und Kontinente des Schlafs; wenn Du die Sonne aufhobst, hab ich Sterne gesammelt. Heut für immer hüt ich mit Dir die gleiche Nacht. Wien, am 1. Adventsonntag 1962 Für Johannes zum Wiedersehen u. Abschied von Christl42
Das Gedicht verbildlicht, wie das Briefeschreiben für zwei Menschen auch über große Distanzen hinweg die Möglichkeit bietet, miteinander in Kontakt zu bleiben. Gleichzeitig wird eine Situation entworfen, in der das lyrische Ich und das angesprochene Du auch die räumliche Entfernung überwunden haben, indem sie sich in derselben Zeitzone, in derselben Nacht einfinden. Es braucht keinen verbalen Austausch mehr wie in den Briefen, es genügt das Wissen, dass man sich nahe ist, wie das lyrische Ich sich während der Nachtwache (so der Titel Vigilie) der gemeinsamen Nähe versichert. Das Gedicht thematisiert die Überwindung der Distanz zweier Liebender im Allgemeinen; da Motive aus den gemeinsamen Briefen ineinander ver40 Dieser wichtige Aspekt soll hier nur angesprochen werden und wird in der in Arbeit befindlichen Edition des Briefwechsels mitberücksichtigt. 41 Erstmals gesehen hatte Busta das Meer ein halbes Jahr vor Entstehung des Gedichts in Holland, „ansonsten kannte ichs nur aus Bildern u. der Dichtung.“ (ÖNB, Handschriftensammlung, Nachlass Willem Enzinck, 1305/63-2: Brief Christine Busta an Willem Enzinck, 11./12.08.1962) 42 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 02.12.1962).
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woben sind, ist es aber auch Urzidils und Bustas ganz persönliches (Liebes-) Gedicht. Bereits in den ersten Briefen hatte Busta das Thema der Zeitverschiebung beschäftigt, als sie ihm den erwähnten Strohstern als Weihnachtsgeschenk beigelegt hatte: Aber jetzt leg ich Ihnen nur noch ein kleines neues Adventlied bei und einen kleinen Strohstern für den Weihnachtsabend, hoffentlich übersteht er die Flugreise ungeknickt. Eben beunruhigt mich etwas arg: die Zeitrechnung! Nun haben Sie ja gar nicht zur selben Zeit Heiligen Abend wie wir im alten Europa.43
Woraufhin Urzidil versicherte: Wir werden zu Weihnachten in der Stille unserer Wohnung sein und ich werde ganz gewiß an Sie denken, in sechs-sieben Stunden Distanz, dann werden Sie wahrscheinlich schon schlafen.44
Und auch die räumliche Distanz bzw. deren Überwindung wurde bereits in den ersten Briefen zum Thema gemacht: In welchem Stock wohnen Sie? Halten Sie mich nicht für närrisch, ich fände es hübsch, es zu wissen, wenn ich aus dem 9. Stock meines ‚Miniaturwolkenkratzers‘ in den Himmel gucke, um Sie über Meere u. Kontinente hinweg zu grüßen.45
Und ein halbes Jahr später: Ich wenigstens gebs Ihnen schriftlich, daß Sie als Mensch wie als Dichter (Unsinn, als ob die beiden von einander zu trennen wären!), eben als der, der Sie sind, einen ungemein kräftigen Faden zu drehen verstehen u. ein wunderbarer böhmischer Weber sind! Ihr Webstuhl ist auf 2 Kontinenten gegründet u. wen Sie darin einspannen, der vergißt, daß Meere dazwischen liegen, der läuft über Wasser u. Abgrund.46
Das Gedicht Vigilie wurde nach dem ersten Wiedersehen seit dem Kennenlernen in Wien verfasst – vier Jahre nach den zitierten Briefstellen; Busta überreichte es ihm persönlich vor seiner Abreise. Im dazugehörigen Brief erläuterte sie: Gegen die letzte Zeile der Vigilie könnte die Grammatik einwenden, daß es dieselbe u. nicht die gleiche Nacht ist. Aber für das, was ich meine, ist ‚dieselbe‘ Nacht zu pedantisch. Ein 43 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 08.12.1958). 44 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.1: Brief Johannes Urzidil an Christina Busta, 14.12.1958). 45 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 22.06.1958). 46 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 27./29.12.1958)
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Sprichwort sagt, wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht das Gleiche. Laß es gelten, daß einmal dieselbe Nacht zur gleichen wird.47
Dass die Beziehung zwischen Johannes Urzidil und Christine Busta eine besondere poetisch-geistige Verwandtschaft war, erkennt man aus jedem Korrespondenzstück. Dass Busta über ihre NS-Vergangenheit beharrlich schwieg, sorgt für einen bitteren Beigeschmack. Ein abschließender Blick auf die Korrespondenz zwischen Johannes Urzidil und Oskar Schürer (1892-1949) in den Jahren 1946 bis 1949 erlaubt uns anzunehmen, was hätte passieren können, hätte Urzidil mehr darüber gewusst. Hatte Busta ihm keine Möglichkeit zu einer Stellungnahme gegeben, zeigt sich in den Briefen an Schürer ganz klar Urzidils Haltung gegenüber dem NS-Karrieristen und langjährigen Freund. Zur Ausganglage: Während Urzidil nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Anstellung bei der Prager deutschen Gesandtschaft verloren hatte und beruflich vor dem Nichts stand, verdankte Schürer, mit dem er bereits in den 1920er Jahren freundschaftliche Kontakte pflegte und in denselben kulturellen und wissenschaftlichen Kreisen verkehrte, seinen beruflichen Aufstieg gerade seinem Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Das gegenseitige Vertrauen sei hierdurch allerdings noch nicht getrübt worden, hält Gerhard Trapp (2003) in einem Aufsatz zu diesem Briefwechsel fest. Die Jahre seien erst rückblickend thematisiert worden, als Urzidil nach einer siebenjährigen Pause den Briefwechsel im Jahr 1946 wieder aufnahm, „glücklich zu wissen, dass Du diese schweren Jahre persönlich gut überstanden hast“, so im Brief vom 5. August 1946 (zit. n. Trapp 2003: 267), nicht ohne aber sofort seinen Standpunkt klarzumachen: – „so, als wäre er doch nicht ganz sicher, welche Positionen der alte Freund im Deutschland der Jahre 1939-1945 wohl bezogen haben könnte“, wie Trapp (2003: 268) erläutert. Ich möchte mich in meinem heutigen Brief an Dich über politische Dinge nicht auslassen. Du kennst unsere Grundeinstellung ohnehin. Wir sind seit einiger Zeit amerikanische Bürger und gedenken nicht, nach Europa zurückzukehren. Du darfst gewiss einsehen, dass wir alle positiven und negativen Seiten der allgemeinen und besonderen Entwicklungen in Europa und namentlich in Mitteleuropa und Deutschland ziemlich genau zu beurteilen wissen. […] Trudes jüngerer Bruder ist von den Nazis in Oswiczine durch Gas ermordet worden. Ihrem älteren Bruder gelang es, nach Jerusalem zu entfliehen. Ihre Schwester lebt in England. Dies ist das diasporische Schicksal der Familien, heraufbeschworen durch das dringliche Bedürfnis nach einem ‚Grossdeutschland‘. (zit. n. Trapp 2003: 267)
47 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Christine Busta an Johannes Urzidil, 02.12.1962).
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So wie Urzidil Bustas Wunsch nach Diskretion respektierte, so konnte auch Schürer (vorerst) erleichtert sein, dass Urzidil „unangenehme Fragen oder gar Vorwürfe [vermied] und stattdessen die Freundschaft auf ‚so warme und gütige Weise‘ erneuerte“, denn Schürer war sich bewusst, dass eine Freundschaft keine Selbstverständlichkeit mehr war (Trapp 2003: 268). Und so folgten auf beiden Seiten gegenseitige Beteuerungen ihrer Liebe, so an Schürer am 2. August 1947 (zit n. Trapp 2003: 274), nicht ohne dass dem dann aber eine ‚Aussprache‘ in Form eines Monate andauernden Disputs gefolgt wäre. Urzidil bezog in seinen Briefen klar und ausführlich Stellung zu den Gräueln des Nationalsozialismus, der Schuld des deutschen Volkes sowie der „konkreten Beteiligung der deutschen Massen, die Hitler auf den Schild hoben“ (Brief an Schürer, 04.06.1947; zit n. Trapp 2003: 272). Auch die Gefahr der „Geschichtslüge“, der „der Weg gebahnt“ werde (zit. n. Trapp 2003: 272), thematisierte Urzidil in seinen Briefen an Schürer: Ich glaube nicht […] dass die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes die Gewalttaten der Nazis mißbilligte. Ich glaube, dass diese Mehrheit die in die Millionen gehenden Morde an Juden wenn schon nicht billigend, so doch gleichgiltig (und mit Befriedigung die Profite einstreichend) mitansah. Ich glaube nicht, dass die Deutschen naiv genug waren, nicht zu wissen, was sich tatsächlich abspielte […]. Ich bin überzeugt […], dass man die Auspowerung, Deportierung, Massakrierung und Expatriierung von Hunderttausenden durchaus billigte und davon Vorteil zog […]. Wenn Du mir also in Deinem letzten Briefe […] schreibst, dass Millionen von Deutschen in polnischen, russischen und tschechischen Konzentrationslagern zu Grunde gehen, so habe ich dazu zu sagen: Ich billige weder die Russen, noch die Polen, noch die Tschechen. Ich lehne diese Art der Menschenbehandlung ab, ‚sogar‘ wenn es sich um Deutsche handelt (und dieses sogar enthält das ganze Mass meiner Verachtung), aber ich kann angesichts der von Deutschland hingemordeten 6 Millionen Juden von dieser Art Meldungen nicht sehr erschüttert sein. (zit. n. Trapp 2003: 272)
Stellt man diese Briefstellen nun den Aussagen Bustas gegenüber, in denen sie ihre Not in den Nachkriegsjahren schildert und um Urzidils Anteilnahme wirbt, wird umso deutlicher, wie wenig Busta sich kritisch mit ihrer NS-Vergangenheit auseinandergesetzt hat. An ein Schuldeingeständnis bzw. die explizite Thematisierung ihrer Schuld hat sie sich ein Leben lang nicht herangewagt, wenngleich diese in ihren Gedichten, ins Allgemeine transponiert, durchaus eine Rolle spielt (Bakacsy et al. 2009). Gerade im Falle von Urzidil glaubte Busta sich durch ihr Beharren auf gemeinsamer Herkunft und verwandtem Schreiben eine Nähe sichern zu können, die ihr in anderen Beziehungen nicht vergönnt war. Sie genoss eine Vertrautheit mit ihm, die sich – gerade wegen der großen Distanz – auch nie erschöpfen konnte. Den Briefwechsel durchziehen von der ersten bis zur letzten Seite kleine, leicht ironische, aber doch ernst gemeinte Liebesbekundungen und zeugen von dem einnehmenden Hu-
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mor, der Urzidils und teilweise auch Bustas literarische Werke kennzeichnet. Urzidil: Meine Frau grüsst herzlich. Sie bewundert Deine Texte immer höchlich. Und ich liebe und umarme Dich, Du geniales Mädchen, Trost meines Greisenalters und Wonne meiner Korrespondenz.48
Quellen
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48 FIBA (Nachlass Christine Busta, Sign. 183.23.4: Brief Johannes Urzidil an Christine Busta, 23.02.1961).
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LIEBE oder Beile? Eine perspektivische Betrachtung zum ästhetischen Charakter von Johannes Urzidils Roman Die verlorene Geliebte Für F. V.
1. Die verlorene Geliebte – Kunstwerk oder Erbauungsliteratur?
Wie eine dünne rote Linie, ein Faden, zuweilen auch wie eine Blutspur, zieht sich das Thema der Liebe durch Urzidils Verlorene Geliebte (1956), die in diesem Beitrag als autodiegetischer Roman gelesen werden soll. Das Motiv im Titel des Buches begegnet erstmals in einer Erinnerung an die früh verstorbene Mutter und wird außerdem mit dem Tod der kleinen Adele, einer ersten Spielgefährtin, parallel geführt (VG 21f.).1 In einer folgenden Episode berichtet der Knabe von seiner bewundernden Liebe zum „Vater mitsamt seinem Jähzorn und seiner gottähnlichen, ohrfeigenverteilenden Herrlichkeit“ (VG 71). Dann erlebt man den jungen Gymnasiasten als Vorsitzenden des Clubs der Misogynen, der sich in gemeinsamen literarischen Mußestunden romantischer Gefühle seiner Mitschülerin Stella gegenüber doch nicht zu erwehren weiß und der schließlich, von Repetent Bäumel zu einem Bordellbesuch verführt, seiner ersten Liebe auch schnell wieder verlustig geht. Zuletzt mag auf den gehetzten Flüchtling verwiesen werden, der fürsorgliche Aufnahme, Schutz und einen letzten Dienst erfährt, bei einem Menschen, der sich unerwartet als Freund erweist. – Philia und Eros sowie Agape oder Caritas, die Grundmodi der Liebe, werden in dem Text vielfach realisiert und variiert. Am Ende des Romans – fast in der Art einer symphonischen Kadenz – stehen Sätze konfessionellen Charakters und Appelle, die die Botschaft der Liebe verkünden:
1 Alle Zitate aus der Verlorenen Geliebten mit Seitenzahlen im laufenden Text nach Urzidil (1982). – Zur Bestimmung des Textes als Roman und der Mutter als erste ‚verlorene Geliebte‘ s. Holl (1982).
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„Nur in der Liebe allein liegt des Menschen Wahrheit, liegt sein Anspruch und liegen allenfalls seine Pflichten.“ (VG 197) Insgesamt gesehen, könnte man sagen, vermittelt der Text das Bild eines Menschen, der durchaus nicht frei von Fehlern, aber gerade dadurch sympathisch und liebenswert erscheint. Dieser Befund hat aber auch seine Kehrseite. Der häufige Lobpreis des „großen Humanisten“ Urzidil suggeriert gewollt oder ungewollt Zweifel an der künstlerischen Bedeutung seines Werkes, zumindest aber von dessen Teilen (Fiala-Fürst 1999): Handelt es sich bei der Verlorenen Geliebten um ein Kunstwerk oder eine Art Erbauungsliteratur? – Weniger feuilletonistisch, aber in der Tendenz gleich, stellt auch Peter Demetz in einem Beitrag von 1999 die Frage nach der dauernden Aktualität des Schriftstellers: [Urzidil] war der letzte der aus dem österreichischen Böhmen herstammenden Landespatrioten, der fortfuhr, den getrennten und mißtrauischen Nationen die Fruchtbarkeit der Symbiose ins Gedächtnis zurückzurufen, und er darf den historischen Anspruch für sich erheben, die verlorene Symbiose in sich noch einmal in aller Reinheit inkarniert zu haben. Die Frage ist nur, ob das alles auch die Zukunft des Schriftstellers Urzidil und seiner Bücher garantieren wird; ich bin […] eher zu glauben geneigt, daß der nostalgische Blick in die Vergangenheit nicht mehr genügt. […] Ein wenig kritischer Formalismus wird von besonderem Nutzen sein, wenn es darum geht Unterscheidungen zu treffen, ausgehend von den Anregungen Gerhard Trapps und der früh verstorbenen Christa Helling, zu fragen, wie er seine verschiedenen Stile variierte und kombinierte. (Demetz 1999: 33f)
Fokussiert auf das Leitthema der Liebe soll im Weiteren der entworfenen ästhetischen Fragestellung nach der Botschaft und ihrer Darstellung nachgegangen werden. Ziel des Beitrags ist es ist, die Frage zu beantworten, ob es in dem Text eher um ‚LIEBE‘ oder um ‚Beile‘ geht.
2. Das Kunstproblem in der Moderne nach Thomas Manns Tonio Kröger
Als nächstes stellt sich die Frage nach der Norm: Wie muss sich das Verhältnis von Botschaft und Darstellung gestalten, damit von einem Kunstwerk
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die Rede sein kann?2 Diese Frage ist im Kantischen Sinne problematisch, d. h. sie ist zu komplex als dass man eine definitive Antwort erwarten könnte. Wir suchen also stattdessen eine pragmatische Lösung, die dem formulierten Problem entspricht, sich aus dem Text selbst ableitet und die in einer perspektivisch reflektierten Antwort bestehen mag. An dieser Stelle fällt uns Thomas Mann ein: Seine Novelle Tonio Kröger (1910) ist ein künstlerisches Manifest, das, in ganz ähnlicher Weise wie wir es bei Urzidil als Problem empfinden, das Dilemma der dichterischen Botschaft behandelt und diese Botschaftsnot überdies am Beispiel der ‚Liebe zum Leben‘ thematisiert. Insofern bietet sich dieser Text an, um die Frage nach der Norm für ein Kunstwerk in unserem Zusammenhang einer Antwort zuzuführen: Der Vater von Tonio Kröger war bekanntlich „ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit sinnenden blauen Augen, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug“ (TK 10), während Tonio seine Mutter immer „ein wenig liederlich fand“ (TK 11). Dieser Widerspruch seiner Herkunft überträgt sich in das Schaffen des Künstlers. Die Aporie besteht darin, dass nach Ansicht des Künstlers Tonio das schöpferische geistige Prinzip einzig und allein auf die Form einer Aussage gerichtet ist, während sich der Bürger Kröger, der in dem Künstler Tonio fortlebt, eine unstillbare Sehnsucht „nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit“ (TK 106) bewahrt. So ist paradoxerweise Tonio Krögers Kunst durch das mit dem Kunstprinzip unvereinbare Bekenntnis „Ich liebe das Leben!“ (TK 52) motiviert. Interessant ist nun – gerade im Hinblick auf Urzidil – die Frage, ob es in der Novelle Tonio Kröger selbst zu einer Lösung dieses Widerspruchs kommt. Im Anschluss an Überlegungen Hermann Kurzkes (2010: 100ff.) lässt sich diese Frage bejahen. Die Auflösung liegt freilich auf einer anderen Ebene als dem Credo, das Tonio in den Schlusspassagen des Textes spricht. Man entdeckt sie im Prinzip der Ironie. Sucht man die Aussage des Textes und orientiert sich an dem gesteigerten Spiel mit dem Prinzip der Ironie, dann treten statt 2 Auf diese Frage wird man keine allgemein befriedigende Antwort finden. Die Auffassungen vom literarischen Kunstwerk differieren in den verschiedenen theoretischen Schulen so sehr, dass nicht zuletzt der Begriff des Kunstwerks selbst längst strittig geworden ist (als eine erste Richtung, die den Werkbegriff ablehnte, kann der Russische Formalismus der 20er Jahre betrachtet werden). Will man keinen dogmatischen Standpunkt vertreten, der von der unbedingten Richtigkeit nur einer Auffassung beherrscht ist, gilt es zunächst ein Bekenntnis zur Perspektivität abzulegen. Damit aber der Perspektivismus nicht der Beliebigkeit anheim fällt, sollten Kriterien genannt werden, durch die sich die jeweils gewählte Perspektive legitimiert. Als solche bieten sich folgende an: 1. Die literaturtheoretische Perspektive sollte sich aus der Beschreibung des Kunstwerks ableiten. 2. Sie sollte transparent gehalten werden. 3. Sie sollte heuristisch effektiv oder, mit Goethe gesprochen, fruchtbar sein.
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des Protagonisten die lächerlichen Nebenfiguren in den Vordergrund. Solche sind z. B. die etwas lästigen Verehrerinnen Tonios, von denen es leitmotivisch heißt, dass sie „immer hinfiel[en]“ (u. a. TK 30). Weiter kann man sich des jungen Leutnants erinnern, der, obwohl er „ein hübscher und strammer Mensch [war], dem ich niemals eine seines Ehrenkleides unwürdige Handlungsweise zugetraut hätte“ (TK 55), den faux pas begeht, die „Verstörung“ einer „Gesellschaft“ mit „ebenso tief empfundenen wie unwirksam[en]“ Gedichten zu verursachen. Und schließlich – am gelungensten vielleicht – muss man an den jungen Kaufmann denken, von dem es auf einer Überfahrt auf See heißt, dass er „eine erstaunliche Menge von Hummeromletten zu sich nahm“ (TK 78), der dann die „Sderne“ am Himmel in ihrer Schönheit und Erhabenheit preist und von dem wir zuletzt lesen: „dort hinten stand, tief über Bord gebeugt, der junge Mann aus Hamburg und ließ es sich schlecht ergehen.“ (TK 82) – Gerade diese ironisierten, allesamt lächerlichen Figuren können nun in Wahrheit als Träger der Aussage des Textes bestimmt werden: Thomas Manns Lösung des Kunstproblems ist die verdoppelte Ironie. Die Potenzierung des künstlerischen Prinzips der Ironie führt zu ihrer Selbstaufhebung, die verdoppelte Verneinung zu einer affirmativen Aussage. Die Nebenfiguren im Tonio Kröger fungieren wie am mittelalterlichen Hof die Narren. Sie dürfen an der Tafel des Königs als einzige die Wahrheit sagen, weil sie niemand ernst nimmt. In ihrer Lächerlichkeit können die Nebenfiguren als Exemplifikationen des Lebens betrachtet werden. Weil sie lächerlich sind, sind sie liebenswert. – Der Text erlaubt diese Lesart. Zwingend ist sie freilich nicht, da die Ironie als dominante ästhetische Figur des Textes seine Aussage formuliert und zugleich in Frage stellt. Indem Gehalt und Gestalt3 in ihrer Bedeutung in der Schwebe gehalten werden, erfüllt die Novelle Tonio Kröger, sowohl die in ihr selbst formulierten 3 In der Literaturtheorie entspricht die so gedeutete Mannsche Position einer solchen, die am Prinzip der Autonomie der Dichtung festhält und die zur Zeit der Entstehung der Verlorenen Geliebten als herrschende Lehre galt. Sie steht in Übereinstimmung mit der Auffassung der werkimmanenten Schule oder mit Jan Mukařovskýs Deutung der poetischen Funktion als Mittel der Relativierung aller übrigen Funktionen oder auch mit Hans-Georg Gadamers literaturtheoretischem Begriff der Selbstpräsenz. – Sie korrespondiert weniger dem folgenden autopoetischen Statement in Urzidils späterem Text Handwerkliches aus New York: „Die Literatur erschien und erscheint mir noch immer als der individuelle Versuch der Festhaltung und Deutung von Charakteren, Geschehnissen und Ideen auf Grund der persönlichen Wahrnehmung der Phänomene.“ (VG 36) Dort heißt es außerdem, „daß literarische Geltung […] die Kraft bedeutet, freiwillige Änderungen von Erkenntnissen und Verhaltensweisen bei im Übrigen unbekannten Lesern zu bewirken[.]“ (VG 36f.) – Besonders die letzte Äußerung ließe sich als ein eher an der Rhetorik orientiertes Literaturverständnis deuten, und von hier aus könnte auch eine andere ‚Perspektive‘ auf den
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Anforderungen der Kunst wie auch die des Lebens. Sie kann als ein gelungenes Kunstwerk gelten.
3. Stilzüge bei der Darstellung von Liebe in der Verlorenen Geliebten
Hält man nun an der durch die Mannsche Kunstformel entwickelten Norm als Untersuchungshorizont für die Verlorene Geliebte fest, ergibt sich als nächstes die Frage, ob sich in dem Text bei der künstlerischen Darstellung der Liebesbotschaft ästhetische Verfahren, d. h. insbesondere Stilzüge, ermitteln lassen, die diese in der Form wieder relativieren. Die Verlorene Geliebte besteht aus elf Erzählungen, in denen ein (meist) autodiegetischer Erzähler von Geschichten berichtet, die zusammengenommen ein Leben beschreiben – von der Kindheit in Prag vor dem Ersten Weltkrieg bis ins reifere Erwachsenenalter in der Zeit des Exils im Zweiten Weltkrieg. Es handelt sich also um eine Lebensgeschichte bis „Mitte des Lebens“, die im Übrigen auch der erzählten Zeit eines Bildungsromans entspricht. Unter stilistischem Gesichtspunkt können nun vier Aspekte hervorgehoben werden, die dem Text eine besondere ästhetische Qualität verleihen: Erstens das fiktionale Spiel mit der Faktualität; zweitens die Intertextualität; drittens essayistische Merkmale des Textes; viertens die Figur des Widerspruchs. Diese sollen im Folgenden besprochen werden.
3.1. Das Spiel mit der Faktualität Sobald Fiktionalität als Prinzip von Literatur bestimmt wird, besitzt der Gedanke einer Subversion dieses Prinzips, einen besonderen künstlerischen Reiz. – Wer mit den Umrissen von Urzidils Biographie vertraut ist, meint in den autodiegetischen Erzählungen der Verlorenen Geliebten leicht den Autor des „ästhetischen Charakter“ von Urzidils Verlorener Geliebter entwickelt werden. (Zitate nach Urzidil 1969).
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Buches selbst wiederzuerkennen. Auch der Text scheint diese Relation nahezulegen. So heißt es an einer Stelle: „Der Sohn, der Leser weiß ja bereits, daß ich selbst es bin, und so will ich mich denn auch offen zu mir selbst bekennen“ (VG 30). – Wie in der Sekundärliteratur bereits mehrfach nachgewiesen wurde, mag dieser Schluss aber zuweilen ein Trugschluss sein und in Bezug auf die zitierte Stelle könnte es sich bei der scheinbaren Defiktionalisierung tatsächlich um die Fiktion einer Defiktionalisierung handeln. Hartmut Binder, der in einem Beitrag von 1984 über die Erzählung Repetent Bäumel das Verhältnis von ‚Erweislichem und Erzähltem‘ detailliert untersucht, kommt zu dem Schluss, dass Urzidil die Fallhöhe des Falls Bäumel deshalb „zumindest teilweise selbst geschaffen hat“, um „das Dargestellte zum Beispielfall des Menschlichen“ (Binder 1984: 67) zu machen. In diesem Falle wäre es freilich nur die ‚vorformulierte Bedeutung‘ einer Aussage, die durch das geschichtliche Material versinnbildlicht werden soll und tatsächlich identifiziert Binder diese Aussage mit derjenigen des Textes: In ihm [Bäumel] lebte eine verhaltene Wahrheit. Im Kleinen versuchte er sich von der Welt mittels der Lüge zu trennen. Als es auf das Große ankam, brach jene Wahrheit triumphierend durch. Dies einzig zählt. (Binder 1984: 108)
Folgt man der Binderschen Analyse und stellt sie unter die Perspektive der Mannschen Kunstphilosophie, ergibt sich allerdings ein disqualifizierender Befund. Das Spiel mit der Faktualität hat hier nicht etwa den Sinn das Fiktionalitätsprinzip zu stören, um es in dieser Verfremdung selbst erst thematisch zu machen, sondern es handelt sich lediglich um eine stilistische Modifikation am biographischen Material, die vorgenommen wurde, um eine vorher schon feststehende Botschaft plakativer zu vermitteln. Die epische Form erweist sich nicht als autonom und die Verlorene Geliebte besitzt nicht den Status eines Kunstwerks.
3.2. Die Intertextualität Ein zweiter Aspekt, dem in der Forschung verschiedentlich nachgegangen wurde,4 besteht in Urzidils Vorliebe für intertextuelle Verweise. Auch das literarische Zitat kann dazu dienen, den beispielhaften Charakter des Erzählten (‚die Fallhöhe des Falls‘) zu erhöhen. Die Gefahr, durch eine Allusion nur eine 4 S. z. B. die Untersuchung zur Stifterrezeption in Urzidils Grenzland (Trapp 1967: 91-98).
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vorgefasste Botschaft zu exemplifizieren, ist hierbei insofern geringer als nun von Literatur auf Literatur verwiesen wird. In diesem Zusammenhang kann etwa auf das im Text explizit angeführte Nausikaa-Motiv in der letzten Erzählung, den Fremden, hingewiesen werden (VG 202). Durch das Zitat Homers stellt der Erzähler seine kleine Flüchtlingsgeschichte in den Kontext der großen europäischen Geschichte – der Suche nach Heimat und Ursprung. Indem der Held bei Urzidil seine Liebe zur Jungfrau „Virginia“ so erlebt wie sein Vor-Bild Odysseus, wird suggeriert, dass der letzte Dichter (Urzidil) dieselbe Geschichte wie der erste Dichter (Homer) erzählt. Auch gewinnt die Figur der Spiegelung an dieser Stelle in Ansätzen ästhetische Autonomie, wenn man bedenkt, dass die Liebe des älteren Mannes zur Jungfrau eine ‚Inversion‘ gegenüber dem Anfangsverhältnis der Liebe des Kindes zur verlorenen Mutter darstellt. So rundet sich das Geschehen im Horizont des Romans – ‚alles ist allem ein Gleichnis‘. Allerdings stellt sich die Frage, wie konsequent dieses Spiel mit der Intertextualität tatsächlich gespielt wird. Es scheint doch zweifelhaft, dass sich der Text, allein auf dieses Prinzip gestellt, als Kunstwerk im oben erläuterten Sinne erweisen könnte.
3.3. Essayistische Merkmale Der Essayismus ist ein Kennzeichen der mitteleuropäischen Romanciers der zweiten Moderne. Musil, Kafka oder Broch werden dieser zugeordnet. Milan Kundera sieht sich in dieser Tradition. – Der in die Geschichte eingestreute Essay hat eine ambivalente Wirkung. Er kann die Handlung durch begriffliche Reflexion bestätigen und stört doch die epische Illusion, passt sich dieser nie vollkommen an. Gerade in dieser Ambivalenz von Bestätigung und Störung, könnte man sagen, besteht die Kunst des Essayismus. Wenn wir zu dem in der Einleitung angeführten Zitat von Peter Demetz zurückkehren und dessen Fortsetzung betrachten, dann ist zu bemerken, dass Demetz gerade hier die besondere ästhetische Qualität von Urzidil vermutet. Er führt freilich andere Titel als den der Verlorenen Geliebten an, um seine Aussage plausibel zu machen: Die Modernität der Schriften Urzidils liegt an jener fragilen Grenze des Epischen und des Essays, wo er – wie zum Beispiel im ‚Prager Triptychon‘, im ‚Weissenstein‘, oder in vielen Kapiteln der Goethe-Studie – mit Gattungen und Schreibarten spielt und sich auf das offene und verborgene Zitat hinbewegt, das Pastiche, die Parodie, oder gar jene artistische
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Mimikry, die einem klassischen Vorbild huldigt, wo sie seine Manier nicht nachahmt, sondern in raffinierter Kunst neu erschafft. (Demetz 1999: 34)
In der Verlorenen Geliebten finden sich Ansätze zum Essayismus in den Passagen, in denen sich die auktoriale Präsentation verselbstständigt und die aktorial vorangetriebene Handlung in den Hintergrund rückt. Was bedeutet dies nun für das Verhältnis von Handlung und Reflexion? Als auf eine sehr effektvolle und beinahe populäre Stelle kann in diesem Zusammenhang auf das Ende der Erzählung Ein letzter Dienst verwiesen werden: Der sich vor der Gestapo verbergende, gehetzte Flüchtling findet Unterschlupf bei einem alten Bekannten. In der Nacht räsoniert er über letzte Dienste, zu denen seiner Meinung nach besonders das Lachen, das einer „bewirkt, als tiefe Befreiung von Bürden und Kümmernissen“ (VG 173) gezählt werden sollte. Nach dieser Reflexion wird die Geschichte zu Ende erzählt. Der Schluss besteht bekanntermaßen in einem Witz: Der verschlafene und nervöse Flüchtling gibt dem Grenzer statt des geforderten Ausreisescheins versehentlich einen Zettel aus der Schulzeit: „Ich soll nicht schwätzen und einsagen!“ (VG 173) Der Grenzer muss lachen und lässt ihn darauf nach Vorzeigen eines schlecht gefälschten Ausreisescheins, ohne viel zu überlegen, passieren. Die Stelle ist tatsächlich eine – um das Wort von Peter Demetz aufzunehmen – ‚raffinierte‘ Exemplifikation des zuvor Gesagten, denn sie provoziert das Lachen beim Leser ganz unerwartet. Allerdings, so schön die Stelle ist, auch in ihr zeigt sich – unter Voraussetzung der entworfenen ästhetischen Perspektive – das Grundproblem des ganzen Textes: Die Geschichte geht gänzlich im Gedanken auf. Die Botschaft dominiert den Text, dessen stilistische Merkmale dieser nur dienen und die zu schwach erscheinen, um die Aussage in eine ästhetische Offenheit, den Raum des nur Möglichen, den bereits Aristoteles als den eigentlichen Bezirk der Kunst bestimmt hat, zu heben. So müssen wir bis hierher feststellen, dass es in dem Text nur um LIEBE geht – ein gedanklich bestimmtes Thema, das durch verschiedene stilistische Tricks besser veranschaulicht wird (wie die Majuskeln in LIEBE dieser einen gewollten Akzent verleihen).
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3.4. Die Figur des Widerspruchs In der Verlorenen Geliebten gibt es keine schlechtweg glückliche Begebenheit, freilich auch keine vollkommen unglückliche. Alles wird im Modus des ‚Ja, aber‘ präsentiert. – Der Roman beginnt mit dem Satz: „Die Kinder spielten im Garten ‚Himmel und Hölle‘.“ (VG 7), und er endet mit dem Aufruf: „Laßt uns glauben, […] daß auch unseren Dunkelheiten noch ein gütiges Licht vergönnt ist.“ (VG 204) Dazwischen wird die Figur des Widerspruchs, häufig kunstvoll, zuweilen auch etwas gezwungen, in jedem Fall aber konsequent in allen Erzählungen in eine zentrale Position gerückt. Betrachten wir die Darstellung der Liebe: In der ersten Erzählung Spiele und Tränen muss der Knabe erleben, wie seine kleine Freundin Adele stirbt, wobei er erkennt, „dass es schön und traurig sei auf der Welt.“ (VG 22) Mit der Stiefmutter hält der Eros mit seiner beglückenden, aber auch immer wieder destruktiven Wirkung Einzug. Seine ambivalente Gestalt verkörpert dabei bereits die ‚Stief‘ selber, von der es heißt: „Der Siebenjährige betrachtete mit Staunen ihre ausladenden Formen, deren in Wahrheit einladender Sinn ihm erst später begreiflich wurde“ (VG 25). In den Flammenden Ferien lauscht der Junge dem Schwanengesang der „Schlossliesel“, die in Trauer über den Tod ihres Geliebten vor diesem Kind ein letztes Mal an ihrem Bösendorfer spielt. Im Dienstmann Kubat verdient sich der Schuljunge als persönlicher Postzusteller in Prag ein kleines Taschengeld. Er wird – wie es scheint – in einen Mord aus Eifersucht verwickelt und erfährt aus der Zeitung – wie es scheint – von einem zwar nicht gerichtlichen, aber doch „göttlichen Ausgleich“ (VG 50) der Affäre. Das Motiv des Liebesmords wird noch einmal in der Schreckensnacht aufgenommen. Eine solche verbringt der junge Soldat mit einem Albin Strohberger in einer fremden Wohnung. Beide müssen sich, weil es zu spät geworden ist, vor der Militärpolizei verstecken. Bei dem nächtlichen Gespräch wirkt Strohberger unkompliziert. Er scheint nichts weiter als ein einfacher Kerl aus Tirol zu sein. Dann erfährt man, dass er eine Tapferkeitsmedaille bekommen hat. Am Ende aber entpuppt sich Strohberger als Mädchenmörder. Privat scheint er ein gewöhnlicher Bursche zu sein. Für das öffentliche Bewusstsein ist er – je nach dem – ein Held oder eine Bestie. Von den Naturmenschen Toni und Otti in Grenzland heißt es, dass sie „zu den Dingen der Natur mit eingeborenem Vertrauen und Misstrauen standen, wie sich dies eben ergab, je nachdem die selbst sich zutraulich oder abweisend verhielt.“ (VG 126) Nachdem Otti in einer Nacht am Waldrand ein Liebespaar beobachtet, verliert sie ihre wunderbare Begabung und stirbt. In Wo das Tal endet, einem Text über ein Zerwürfnis in einem Dorf, das sich auswächst bis zum
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Mord, liest man: „Dann aber sind da noch die Familien, die Herdstätten der Liebe, aber auch die Urzellen der Gruppeneigensucht und der gegenseitigen Überheblichkeit.“ (VG 143) Und in dem folgenden, schon einmal erwähnten Letzten Dienst heißt es über Alfred, einen Bekannten aus der Jugend, der ebenfalls von der Gestapo gesucht wird: Dann sah ich zwei Männer hinter Alfred treten, von denen einer ihn ganz leicht auf die Schulter tippte. Alfred erhob sich, als hätte er dieses Tippen längst erwartet. […] Er hatte helle blaue Augen. In ihnen schien mir in dieser Sekunde alles Leid, aber auch alles Erbarmen des Daseins vereinigt. Er ging zwischen den zwei Männern durch die Bankreihen davon gegen eine Öffnung des Portals in ein Licht und ein Dunkel, aus dem er nicht mehr zurückkehrte. (VG 167)
Die letzte Erzählung, Die Fremden, wurde schon in Zusammenhang mit der Intertextualität behandelt. Sie ist ebenfalls reich an adversativen Beschreibungen, Oxymora und paradoxen Befunden. In Gegensätzen werden Menschen (z. B. Mary Elisworth; VG 179), Bräuche (der Faustkampf unter den Berg leuten „stört die Freundschaft nicht, sondern bekräftigt sie eher“; VG 178) und die natürlichen Lebensbedingungen (Bäume geben den Waldbewohnern Brot und erschlagen sie; VG 177) beschrieben. Der Erzähler streut sie en passant ein („erregende Monotonie des Angelsports“; VG 180) oder beschreibt in einer längeren Passage seine widersprüchlichen Gefühle zur verlassenen Heimat, die er mit einer verlorenen Geliebten vergleicht (VG 189). Aber: „Für jede Verzweiflung des Menschen gibt es eine Gegenkraft.“ (VG 191) Die Gegenkraft zur Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten ist für den Fremden Virginia, die junge Frau, die junge Liebe vor Ort: Sie schloß ihre Hände hinter seinem Nacken ineinander, als ob sie sich an ihm emporheben wollte, während sie ihn in Wirklichkeit zu sich herabzog. Er glaubte sich frei machen zu sollen, stattdessen aber fühlte er, wie er sich an sie herandrängte. Es schien wohl so, als ränge sie mit ihm, aber ihre Anklammerung wurde nur immer heftiger. Er hörte sie leise lachen und schluchzen, und er lachte und schluchzte selbst in dem weichen Schnee in der Tiefe der Hecke […] Dann war eine grenzenlose Stille rundum, ein sanftes Gefühl des Friedens und der Ewigkeit. (VG 201)
Aber bei Urzidil gibt es kein grenzenloses Glück, keine Liebe ohne Bitterkeit. Gleich im Anschluss heißt es: „Aber in jener Stunde waren in den umliegenden Städten Hunderte von Menschen im Donner des furchtbarsten Angriffs zugrunde gegangen.“ Und darauf, damit es ganz unmissverständlich wird: „Zwei Wochen später starb Virginia an Lungenentzündung.“ (VG 201) Roman und Erzählung enden mit der Überfahrt des Emigranten nach Amerika. Leitmotivisch kehrt der Erzähler auch hier im Gedenken an diese Fahrt immer wieder zum Thema der Widersprüchlichkeit des Lebens zurück:
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Das Erregendste und Grausigste in der Welt ist die Gleichzeitigkeit. Auch das am meisten Groteske. La Comédie Humaine. Der Narr in der Tragödie. Armer Yorick! Das Satyrspiel nach dem Wehgeschrei des Philoktet. (VG 203)
So ergibt sich, dass die konsequente Ausarbeitung von Widerspruchsstrukturen5 das markanteste stilistische Verfahren in der Verlorenen Geliebten darstellt. Stellen wir unsere Lektüre unter diesen Gesichtspunkt, wird es fraglich, ob die Botschaft oder ihre Darstellung den Text dominiert, d. h. in dieser Schwebe gewinnt der Text nach unserer Formel am deutlichsten den Charakter eines Kunstwerks.6
4. Conclusio – LIEBE oder Beile
In diesem Beitrag wurde die Frage gestellt, ob die für Urzidils Roman Die Verlorene Geliebte zentrale Liebesbotschaft durch ihre Darstellung derart in die Form aufgehoben wird, dass sich die Dominanz jener Botschaft über die Aussage des Textes relativiert. Nur im letzteren Fall wollten wir, ausgehend von einer Kunstformel aus Thomas Manns Tonio Kröger, in Bezug auf die Verlorene Geliebte von einem Kunstwerk sprechen. Als für den Text kennzeichnende stilistische Verfahren wurden zunächst das Spiel mit der Faktualität, eine forcierte Intertextualität und essayistische Merkmale genannt. Es wurde aber festgestellt, dass diese Verfahren nicht radikal genug eingesetzt werden, dass sie eine der Botschaft des Textes gegenüber autonome Bedeutung gewännen; wenn doch, wie im Falle der Intertextualität, dann nur in Ansätzen. Als viertes und wichtigstes Stilmerkmal wurde schließlich dasjenige der Gestaltung von Widersprüchlichkeit über den gesamten Text hin in Bezug auf das zentrale Thema der Liebe untersucht. Hier ergab sich allerdings der Befund einer konsequenten Durcharbeitung, die stellenweise sogar den Charakter einer ‚Manier‘ gewinnt – denkt man etwa an die Darstellung des Liebes(-un-)glücks, das der Fremde mit Virginia erfahren muss. Stellen wir die Lektüre also unter die Perspektive einer (manieristisch) widersprüchlichen Gestaltung, dann verliert 5 S. hierzu Johann (2008). 6 Eine genauere Analyse müsste hier anschließen und die verschiedenen Ausformungen der Widerspruchsstrukturen näher beschreiben.
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das Pathos der humanistischen Botschaft an Gewicht – und der Ausgleich in der Bedeutung von Gehalt und Gestalt verleiht dem Text, aus der besprochenen kunstphilosophischen Perspektive, zumindest phasenweise den Charakter eines Kunstwerks.7 Während es also in Bezug auf die ersten drei Verfahren um stilistische Mittel geht, die die Botschaft der LIEBE nur deutlicher machen sollen, kann man, nimmt man die Widerspruchsgestaltung wahr, davon sprechen, das es eigentlich um ‚Beile‘ geht. – Was soll das heißen? Der Ausdruck mag verunsichern. Wenn wir sagen, es geht im Text um Beile, dann sagen wir zunächst, es ist nicht klar, worum es in dem Text geht. Sollte es sich um ein Kunstwerk in der oben beschriebenen Form handeln, dann sollte seine Aussage tatsächlich in der Schwebe bleiben. Eine Interpretation könnte dann wie folgt aussehen: Beile können metonymisch für Gewalt und Tod, Trennung, Verlust oder auch Mord, Lustmord stehen. Man kann sich an jene ‚Blutspur‘ erinnern, von der in diesem Beitrag anfangs die Rede war und all dies steckt in dem Roman. In den Beilen steckt außerdem die Liebe. Die Liebe ist bei Urzidil nie ohne Schmerzen. Die verlorene Geliebte ist die romantische Geliebte, ihr Eros ist einer der steten Verschiebung. In Platons Symposion wird Liebe als Erinnerung an eine vorzeitliche Wesensschau der Idee des Guten erklärt – ein erfülltes Dasein, das uns aktuell verloren ist. Aristophanes wird in demselben Platonischen Text die Deutung der Liebe aus dem Hermaphroditenmythos zugeschrieben: Zeus trennte mit seinem Blitz, Donnerkeil oder Beil die zu stark gewordenen Hermaphroditen, schuf so die Menschen und machte es ihnen zum Schicksal, zeitlebens nach ihrer anderen Hälfte, nach der verlorenen Geliebten zu suchen. Wie die Liebesbotschaft bei Urzidil in den Arabesken widersprüchlicher Gestaltung steckt, so steckt die Liebe im Beil: Hier dauert sie als Möglichkeit, ohne thematisch zu dominieren, ohne notwendig erfasst zu werden. – Im Übrigen ist ‚Beile‘ ein Anagramm zu ‚Liebe‘.
7 Eine interessante Entwicklung nimmt Urzidils Kunst in Bezug auf die Gestaltung des Widersprüchlichen dann im Prager Triptychon (1960), wo diese sich besonders im Weißenstein Karl zu einer Schreibweise des Grotesken vervollkommnet. So steht Urzidil in einer barocken Tradition und erinnert in dieser Hinsicht im tschechischen zeitgenössischen Kontext zuweilen an Bohumil Hrabal.
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Literatur
VG = Die verlorene Geliebte (Urzidil 1982). TK = Tonio Kröger (Mann 1983).
Binder, Hartmut (1986): Erweisliches und Erzähltes. Johannes Urzidils Repetent Bäumel. – In: Lachinger, Johann/Schiffkorn, Aldemar [sen.]/Zettl, Walter (Hgg.), Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Johannes-Urzidil-Symposions 1984 (= Schriftenreihe des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, 36.). Linz: Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, 65-90. Demetz, Peter (1999): Johannes Urzidil – Lesen/Wiederlesen. – In: Schiffkorn, Aldemar (Hg.), Böhmen ist überall. Internationales Johannes-Urzdil-Symposion. Linz: Ed. Grenzgänger, 25-34. Fiala-Fürst, Ingeborg (1999): Die misslungenen literarischen Anfänge eines großen Humanisten. Johannes Urzidils expressionistische Lyrik. – In: Schiffkorn, Aldemar (Hg.), Böhmen ist überall. Internationales Johannes-Urzdil-Symposion, 8.-10.3.1995. Linz: Ed. Grenzgänger, 91-98. Holl, Oskar (1982): Nachwort. – In: Urzidil, Johannes, Die verlorene Geliebte. Erzählungen. Frankfurt/M.: Ullstein, 205-216. Johann, Klaus (2008): Existieren in Widersprüchen: die „Inkonsequenz“ als „wahrheitsgetreueres Bild des Lebens“. Zu Johannes Urzidils (auto)biographischer Skizze ‘Väterliches aus Prag’ (1968), mit einem kleinen Exkurs über Urzidil und Franz Kafka. – In: Germanoslavica 19/2, 1-18. Kurzke, Hermann (1991): Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck. Mann, Thomas (1983): Tonio Kröger. Frankfurt/M.: Fischer. Trapp, Gerhard (1967): Die Prosa Johannes Urzidils. Zum Verständnis eines literarischen Werdegangs vom Expressionismus zur Gegenwart. Bern: Lang. Urzidil, Johannes (1969): Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York. Zürich: Artemis. Urzidil, Johannes (1982): Die verlorene Geliebte. Erzählungen. Nachwort. v. Oskar Holl. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein. Urzidil, Johannes (1997): Prager Triptychon. Erzählungen. Hrsg. u. Nachwort v. Peter Demetz. Salzburg, Wien: Residenz.
Ingeborg Fiala-Fürst
Urzidil wie Rothacker wie Watzlik? Johannes Urzidil als Grenzland-Dichter
Der Titel des Beitrages ist freilich mit Absicht provokativ gewählt, denn den Kennern der deutschböhmischen Literatur sind Autoren wie Rothacker und Watzlik, Strobl und Pleyer, Hohlbaum und Ott, Göth und Altrichter, Stauff und die Teichmann nur als anstößige Beispiele von Schriftstellern bekannt, die im ‚Kampf ums deutsche Volkstum in Böhmen‘ an prominenten Stellen standen, die negativsten Auswüchse des Sudetendeutschtums repräsentierten, häufig die besonders abscheuliche Gattung des Grenzlandromans pflegten und nach 1945 die revanchistischen Ansätze eines Teils der Vertriebenen kanalisierten. Warum in aller Welt soll Johannes Urzidil, der letzte große Erzähler der Prager Schule, der große Humanist, der Homo vere humanus, Prags Menscheitsdämmerer, der hinternationale Troubadour des alten Prag – (so nur einige Überschriften von Aufsätzen über Johannes Urzidil) – warum soll Johannes Urzidil mit revanchistischen Autoren in einer Reihe genannt oder gar verglichen werden? Zumal seine negativen Stellungnahmen zu diesem Autorenkreis bekannt sind: um in der Welt zu gelten, bedürfen die Prager deutschen Dichter keines einzigen nach 1900 im so genannten Sudetenland geborenen nichtjüdischen Dichters. Diese hingegen tun gut daran, sich an jene zu halten, wenn sie überhaupt irgendwo außerhalb ihrer eigenen Zirkel bemerkt werden wollen. (zit. n. Berger 1995: 243)
Es wäre freilich nur ein billiges Spiel mit Worten, wenn ich die Verbindung Urzidils zu diesen Grenzlanddichtern auf der bloßen Tatsache aufbauen würde, dass er eine seiner vielen böhmischen Erzählungen Grenzland nannte. Es wird zwar im Folgenden um diese Erzählung gehen, doch nicht nur um sie. Entstanden 1954, erstmals veröffentlicht 1955 im Merkur, wurde sie in die erste, 1956 herausgegebene Erzählsammlung Urzidils, Die verlorene Geliebte, aufgenommen. Sie spielt – anders als die ihr vorangestellten Erzählungen (etwa Spiele und Tränen, Repetent Bäumel, Neujahrsrummel u. a.), nicht in Prag, sondern im Böhmerwald, hat – wiederum ähnlich wie die ihr vorangestellten Erzäh-
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lungen – einen autobiographischen Helden,1 der zugleich der Ich-Erzähler ist, und sie erzählt die Geschichte eines „merkwürdigen Kindes“ (Urzidil 1982: 129), der Stifter Otti. Otti Stifter, die ohne Mutter (womöglich eine weitere autobiographische Verbindungslinie zum Autor?),2 nur mit ihrem Vater, dem Stifter Anton, in der lieblichen und als Naturidylle dargestellten böhmerwäldischen Waldeinsamkeit lebt, verfügt über sonderbare Kräfte, die man geneigt ist, kurzerhand als magische Kräfte zu bezeichnen: Wenn sie den Arm ausstreckt, setzen sich Waldvögel drauf, wenn sie einen Stein aufhebt, beginnt er zu leuchten, wenn sie die Hand über Königskerzen bewegt, folgen diese ihrer Bewegung, wenn sie die Hand in den Bach taucht, schmiegen sich ihr liebkosend vorbeischwimmende Forellen an und die Wasserrosen bewegen sich auf sie zu. Sie sieht unter Moos verborgene Pilze, kann Regen und Gewitter, aber auch einen Brand im Dorf voraussagen, findet mit sicherem Griff verlegte Dinge, doch auch einen verlorenen Dorfjungen, zerbricht nie ein Ding, errät Stimmungen der Menschen, noch bevor diese sie selbst in sich wahrnehmen. Von der Außenwelt werden diese Fähigkeiten als „krank“, „abnormal“ und „verkehrt“ (Urzidil 1982: 131f.) bezeichnet, weil sie sich jeglicher rationalen Deutung widersetzen. Auf die wiederholte Frage des Erzählers, der eine rationale Erklärung erzwingen will, „Wie machst du denn das? .... Wie stellst du das an?“ (Urzidil 1982: 129f.) antwortet Otti, „nur so“ (Urzidil 1982: 130) – und schon diese Erwiderung ist für sie außergewöhnlich rational (oder konventionell), denn sie benutzt die Sprache selten zur bloß konventionellen Kommunikation: Sie spricht selten ganze Sätze, sondern nur Satzfetzen, meistens nur deiktische Wörter, singt viel lieber, als sie spricht, singt den Dingen selbst erfundene Lieder in einer „völlig unverständlichen Sprache“, die „keinen Sinn ergeben·[...] sondern fast wie eine Zauberformel klingen.“ (Urzidil 1982: 131)3 Auch als sie die Laune des Erzählers errät oder erzeugt, indem sie im Vorbeigehen fragt, „Weh?“ (Urzidil 1982: 130), ist ihr Sprachgebrauch magisch zu nennen, denn ihre Sprache beschreibt und bezeichnet nicht, sie schafft Wirklichkeit – was der Erzähler richtig deutet, indem er kommentiert: 1 Der Ich-Erzähler und die handelnde Ich-Figur werden zwar im sonderbaren Abstand voneinander gehalten – „In dieses unendliche Reich kam einmal einer, der hieß Ich.“ (Urzidil 1982: 126) – doch die autobiographischen Signale (die humanistische Bildung, das Schreiben als Beruf usw.) sind eindeutig. 2 Im späteren Verlauf der Interpretation wird sich allerdings zeigen, dass dieses Motiv nicht autobiographisch, sondern dem literarischen Vorbild entliehen ist. 3 Ob man deswegen Ottis Sprachgebrauch gleich als „in die Zone des Zungenredens, der Glossolalie im frühen Christentum gerückt“ interpretieren muss (Trapp 2007: 44), bleibe dahingestellt.
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Ich hörte auf zu pfeifen und wusste nicht, ob ich traurig geworden war, weil sie das gesagt hatte, oder ob sie trotz meines Pfeifens erkannt hatte, dass ich traurig sei. (Urzidil 1982: 131)
Otti genießt freilich keine konventionelle Bildung durch Schule und Kirche, sondern zimmert sich ihre eigene Weltweisheit aus naturreligiösen, matriarchalisch gefärbten Vorstellungen. Dieses merkwürdige Kind zerbricht an der destruktiven Kraft des Eros (womöglich ein Nachklang der expressionistischen Phase Urzidils):4 Der bloße Anblick sich umarmender Liebender verwirrt sie, macht sie krank, beraubt sie ihrer Sicherheit im Umgang mit Dingen und Natur, beraubt sie ihrer magischen Kräfte. Der Erzähler erklärt sie für tot, noch bevor sie sich – nach dreimaliger verbaler Weigerung, zur Schulausbildung ins österreichische Kloster zu gehen – dem Druck der gesellschaftlichen Konvention, der Notwendigkeit, erwachsen und ergo „wie die anderen“ (Urzidil 1982: 138) zu werden, endgültig durch den Suizid im See verweigert. Diese Erzählung Johannes Urzidils hat – trotz des Titels – herzlich wenig damit zu tun, was man gemeinhin unter Grenzlandroman versteht, wie diese Gattung Michael Berger oder neuerdings Karsten Rinas charakterisierten: Der grenzlanddeutsche Schriftsteller will in und mit seinen Werken den slawischen Verschlingungstrieb entlarven und das Erwachen des völkischen (eingeschlossen des rassischen) Lebenswillens eines Volkstums auf dem Weg von der Not- und Schicksalsgemeinschaft zur deutschen Volksgemeinschaft darstellen und befördern helfen. (Berger 1995: 265f.) In der sudetendeutschen Grenzlandliteratur werden zeitgenössische Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen thematisiert, wobei insbesondere um Sprache, Schule und die ökonomische Vorherrschaft gestritten wird. (Rinas 2008: 118)
Urzidils Grenzlanderzählung beinhaltet keines der genannten Motive, sondern knüpft die Verbindungslinien ganz woanders, bei Adalbert Stifter. Der große Böhmerwald-Dichter wird im Anfang der Erzählung explizit genannt, die Erzählung spielt in Stifterschen Kulissen, die Sprache der idyllisierenden Naturbeschreibungen ist die Sprache Stifters, sogar die Figur Ottis ist mit einer Stifterschen Figur nah verwandt, nämlich mit Ditha aus Stifters Novelle Abdias. Ich bin freilich nicht die erste, die auf diese Verbindung der beiden Texte aufmerksam macht, sondern es taten vor mir bereits Alfred Doppler (1986: 110f.), Johannes John (2000) und Gerhard Trapp (1967: 91-
4 Es gibt Interpreten, die – indem sie diese Erfahrung der weiblichen Heldin mit dem erotischen Erwachen eines männlichen Helden (des Hans in Morgen fahr ich heim aus Bist du es, Ronald? ) vergleichen, dieses Motiv genderartig deuten, was m. E. weder notwendig noch Urzidil angemessen ist (John 2000: 239).
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98; 2007),5 doch die Urheberschaft dieser Verbindung ist nicht so wichtig, wichtig ist, dass beide Figuren tatsächlich so nah verwandt sind, dass Urzidils bewusste Anleihe als ausgemacht gelten kann. Auch die mutterlose Ditha wird als ungewöhnlich bezeichnet. Ähnlich wie im Falle Ottis wird Dithas Andersartigkeit von der Außenwelt als Defizit wahrgenommen, sogar der liebende und umsorgende Vater „sah bald, dass das Mädchen nicht sei, wie es sein sollte.“ (Stifter 1987: 321) und „Abdias konnte sich nicht helfen, er musste denken, dass Ditha blödsinnig sei.“ (Stifter 1987: 322) Der Erzähler Stifters bleibt bei der Bewertung der Andersartigkeit der Figur allerdings nicht in der Schwebe wie der Erzähler Urzidils, sondern findet einen rationalen – defizitären – Erklärungsgrund: Ditha ist blind geboren, was lange keiner sah. Mit Otti verbindet Ditha am stärksten ihr Sprachgebrauch: Sie spricht unbekannte Worte, „die aus ihrem inneren Zustande genommen waren“, die niemand versteht, sie singt Lieder, die sie selbst erfindet, sie vermischt Sinneseindrücke in kühne Synästhesien6 und kommt den nicht verstehenden Anderen „etwa wie eine redende Blume“ (Stifter 1987: 341) vor. Ein weiteres Signal der StifterFiliation der Figur Ottis, bildet der Erklärungsversuch des „Amerikaners“ Feiferling hinsichtlich der magischen Kräfte Ottis: „Ich hab einmal etwas über ein magnetisches Mädel gelesen, die hat den Blitz angezogen“ (Urzidil 1982: 132), ein direkter Bezug zu Stifters Ditha, die sich als das äußerst gewittersensitives „magnetisches Mädel“ erweist, welches durch einen Blitz erst sehend und durch einen anderen Blitz schließlich getötet wird.7 Die Verbindungslinie der Erzählung mit dem sinnschweren und gewiss reflektierten und wohl überlegten Titel Grenzland (Urzidil hätte sie ja auch ganz anders nennen können: weder Stoff noch Inhalt ergeben notwendig den Titel,8 5 Den drei Interpreten geht es aber um die Stifter-Rezeption Urzidils, nicht um das Grenzland-Thema. Gerhard Trapp vergleicht Otti mit zwei weiteren weiblichen Gestalten der Literatur, Goethes Mignon und Stifters „braunem Mädchen“ aus der Erzählung Katzensilber. 6 „Als sie einmal [...] an einem großen blühenden Flachsfelde standen, rief sie aus: ‚Vater, sieh nur, wie der ganze Himmel auf den Spitzen dieser grünen, stehenden Fäden klingt!‘ [...] So sprach sie auch von violetten Klängen und sagte, dass sie ihr lieber seien als die, welche aufrecht stehen und widerwärtig seien wie glühende Stäbe.“ (Stifter 1987: 341) 7 John (2000: 225) macht noch auf eine weitere Verbindungslinie aufmerksam, den Essay Urzidils über Abdias (Urzidil 1948). 8 Johannes John (2000: 238) deutet den Titel in Bezug auf die Grenzüberschreitung hin zum Erwachsenwerden nach dem erotischen Erlebnis Ottis, doch dafür ist die Erzählung – so scheint mir – zu wenig psychologisch, misst das ‚Grenzland‘ des Pubertären nur sehr am Rande aus, diesem Motiv – trotzdem es freilich die Katastrophe einleitet – wird zu wenig Raum gewidmet, sodass es nicht plausibel schient, dass dadurch die Titelfundierung zu erklären wäre.
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den Raum, in welchem sie spielt, hätte man ja getrost auch ‚Böhmerwald‘ oder anders nennen können, zumal in der Erzählung nie explizit irgendeine Grenze genannt wird) zu Stifters Text, die – andererseits – vollkommene Unverwandtschaft dieser Erzählung mit den Vertretern der Granzlandromangattung sind so deutlich, dass man die These wagen könnte, dass Urzidil seine Erzählung bewusst gegen das geläufige Muster des Grenzlandromans geschrieben hat, dabei als Leitfolie die Gedankenwelt Stifters nutzend. Zur Unterstützung dieser These soll die in der Sammlung Die verlorene Geliebte nachfolgende Erzählung Wo das Tal endet herangezogen werden. Auch diese Geschichte begleitet den Ich-Erzähler in den Böhmerwald, auch in dieser Geschichte wird Stifter explizit erwähnt (der Ich-Erzähler liest Stifters Mappe meines Urgroßvaters und denkt über das „sanfte Gesetz“ nach), auch diese Geschichte hat eine merkwürdige Figur zum Haupthelden, den Dorftrottel Alois, ein Spiegelbild Ottis (im Gegensatz zu Otti zerbricht er – golemartig – alles, was ihm in die Hand kommt), seine Sprache ist noch reduzierter als die Ottis: Alois äußert sich nur durch „schrilles Gelächter oder winselndes Weinen“ (Urzidil 1982: 143), wobei aber beide Äußerungen „jeweils unter umgekehrten Vorzeichen erfolgen.“ (Urzidil 1982: 143) Wenn also den Ich-Erzähler bei seiner Ankunft ins Tal Alois’ „wieherndes Lachen“ begrüßt, ist dies ein schlechtes Omen. Trotzdem folgt zunächst eine überaus witzige, ironisch-satirische Darstellung eines Dorfstreites zwischen den Rechts- und Linksbächlern in Hirschwalden, den Grünschmieden und Bierschimmlern um einen verschwundenen Quarkkuchen – die witzige Burleske endet allerdings mit einem Mord. Die Eskalation des Konflikts um triviale Ursachen, die einzelnen Schritte des lächerlichen Streites sind unschwer als Allegorie der tschechisch-deutschen Konfliktgemeinschaft in Böhmen zu dekodieren, obwohl der nationale Konflikt bis auf eine Ausnahme nicht explizit genannt wird. In diese Richtung weisen auch die eingestreuten Kommentare des Erzählers über die sich selbst potenzierende, sich verselbständigende, von den Ursachen abkoppelnde Eskalierung eines Konfliktes bzw. auch die Darstellung des Tales als Prototyp für Konflikte auf der ganzen Welt. Unbeteiligt ist neben dem durchreisenden Erzähler lediglich der Förster Jelen, der nicht aus Hirschwalden, sondern aus dem Egerland stammt und die Herrschaft vertritt, welcher der Wald gehört und die von den Dorfbewohnern übereinstimmend gehasst und bestohlen wird. Jelen ist der einzige, der keine eindeutige nationale Zuordnung erfährt, dessen tschechisch-deutsche Ambivalenz betont wird:
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Er hieß Jelen, war aber ein Deutscher aus dem Egerlande, wobei zu bemerken wäre, dass der Name Jelen an sich tschechisch ist und ‚Hirsch‘ bedeutet [...]. Die Familiennamen im zweisprachigen Böhmen waren zu allen Zeiten sehr untermischt. (Urzidil 1982: 142)
Jelen versucht im Streit zu vermitteln, wird jedoch als „Hergelaufener“, der sich lieber „um seine eigenen Angelegenheiten kümmern“ (Urzidil 1982: 148) solle, abgewiesen. Fehl schlagen auch die allerdings nur auf der Ebene der Erzählerreflexion erfolgenden Versuche des Erzählers, die zerstrittenen Dörfler auf die Stiftersche „Gemeinschaft des Waldes“ einzuschwören: Immerhin schien es schon eine besondere Vergünstigung, mit dem Dichter des Waldes gerade in diesem Tal umzugehen, wenngleich sein sanftes Gesetz zu jener Zeit dort nicht waltete. (Urzidil 1982: 150)
Klar ist jedenfalls, dass alle drei am Konflikt unbeteiligten Figuren,9 die des Försters Jelen (dessen Namen man hier auch als einen typisch jüdischen Namen lesen könnte),10 die des – aus dem Abstand der inzwischen erfüllten Zukunft kommentierenden – Erzählers und die aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft leitend hineinragende Figur Adalbert Stifters, für die andere Lösung des böhmischen Konfliktes stehen, die friedliche, die landespatriotische, die utraquistische. Diese andere Lösung scheitert jedoch an der Aggressivität des sich verselbständigenden Konflikts, doch vielmehr und viel endgültiger noch am Einbruch der großen Geschichte ins Hirschwaldener Theatrum mundi. Im Epilog der Erzählung fallen Allegorie und historische Realität in eins, werden zum apokalyptischen Symbol: Die Frühlinge, die Sommer, die Herbste und die Winter zogen wohl darüber hinweg, aber über ihnen noch unheimlichere Wetterkatastrophen, die sich an keine natürliche Jahreszeit kehrten, apokalyptische Reiter und Sensemänner einer tieferen und gründlicheren Vernichtung. Und nach dieser kam von unten her eine neue Macht, die auch hier das Angestammte aus dem Boden riss und vertrieb. Sie achtete keiner Uferseite. Sie zwang am Ende allen das Reisebündel auf. [...] Das Tal hatte sich in Niemandsland verwandelt. (Urzidil 1982: 155)
9 Johannes John zählt zu den Unbeteiligten auch den Dorftrottel Alois, was aber eindeutig nicht stimmt, denn Alois beteiligt sich sehr wohl an Prügeleien unter den Kindern, beschleunigt den Gang des Konflikts durchs unerlaubte Melken der entwendeten Kuh, begleitet die Konflikthandlungen durch seine verkehrten Lach- und Weinäußerungen. Dafür zählt John Stifter nicht zum Ensemble der Unbeteiligten und Vermittelnden. 10 Mag sein, wie Gerhard Trapp (2007: 44) belegt, dass Jelen ein gleichnamiges reales nichtjüdisches Vorbild hatte, doch der Fluss meiner Argumentation berechtigt mich trotzdem dazu, in seinem Namen auch die Nennung der Gruppe der böhmischen Juden, die im tschechisch-deutschen Konflikt (wie bereits oft beschrieben) die Außensteher- und Außenseiterrolle hatten, mitzuhören.
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Dieser Epilog korrespondiert wiederum mit dem Prolog der Erzählung Grenzland, wo es in den ersten Zeilen heißt: In Oberplan und in den Dörfern des böhmischen Hochwalds gab es immer noch Leute, die Stifter hießen. [...] Selbst als die Gewalttätigkeit – verschiedenfarbig aber gleich widersinnig – sich dieser Landschaft bemächtigte, lebten dort noch Menschen mit dem Namen Stifter, bis auch sie davongehen mussten und sich dann irgendwo in der Fremde verloren. (Urzidil 1982: 125)
Die parabolische Botschaft der beiden Erzählungen ist hiermit überdeutlich, und die These, dass Urzidil – anders als seine böhmischen Generationsgenossen (die ihre Grenzlandromane und Grenzlanderzählungen allerdings mitten im tschechisch-deutschen Konflikt schrieben, nicht mit Abstand von fünfzehn Jahren, nach der globalen tragischen Beendigung und Auflösung des Konflikts) – eine andere Leitfigur, nämlich die Adalbert Stifters, und andere Leitgedanken in seiner Darstellung des Grenzlands benutzte und damit wahrscheinlich bewusst gegen die Gattung des Grenzlandromans anschrieb, wohl ebenfalls genügend bewiesen. Bleibt die Frage, warum Johannes Urzidil, der sich nicht nur mit dem letzten Satz aus der Erzählung Wo das Tal endet als Dichter, als Anwalt der Vertriebenen zu verstehen gibt11 und der sich mit dem Titel Grenzland und der bewussten Orientierung des Grenzlandthemas auf Stifter und weg von der eingeübten Grenzlandgattung zum Grenzlanddiskurs meldete, warum Johannes Urzidil eben aus diesem Diskurs so gut wie hinausgefallen ist, äußerst selten als ‚Grenzlanddichter‘ wahrgenommen wird. Die Antwort ist wohl in der einführend zitierten Briefstelle zu erkennen, in der Urzidil selbst eine scharfe Trennlinie zwischen der Prager deutschen und der sudetendeutschen Literatur zieht: Etwa vom Anfang der 60er Jahre an ist die Forschung um die deutschböhmische Literatur darauf bedacht, eine Grenze zwischen den ‚zwei deutschsprachigen Literaturen‘ aus Böhmen und Mähren zu ziehen, zwischen der Prager deutschen und der ‚anderen‘, wobei die ‚andere Literatur‘ im Verhältnis zur Prager deutschen eine ästhetische und kulturpolitische Abwertung erfuhr, die ihr bis heute anhaftet.12 Diese Abgrenzung mag zwar 11 „Und ich gehöre noch zu den letzten, die das irrsinnige Gelächter über diesem See der Gewalt von ferne her vernehmen und seinen warnenden Sinn verstehen.“ (Urzidil 1982: 155) Urzidils eindeutige Verurteilung der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen ist ebenfalls in seinem Stifter-Essay Der Blick vom Stingelfelsen (1965; auch in Bekenntnisse eines Pedanten, 1972) nachzulesen. 12 Einflussreich sind in diesem Zusammenhang nach wie vor die Formulierungen des tschechischen Germanisten Eduard Goldstückers (1967: 21, 24f.), der in Anknüpfung an seine Definition der Prager deutschen Literatur auch die sudentendeutsche Literatur erwähnt:
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die ästhetische, intellektuelle und politische Profilierung der Prager deutschen Literatur in den 20er und 30er Jahren kennzeichnen und auf zeitgenössische Texte von Max Brod, Pavel Eisner, Ludwig Winder, Otto Pick sowie auf spätere Memoiren der Prager Autoren (wie die Johannes Urzidils) zurückgehen. Nichtsdestoweniger etabliert sie ein exkludierendes und normatives Schema mit groben Vereinfachungen und einer stereotypen Wahrnehmung. Die deutsche Literatur aus der Provinz wird an der ästhetisch und auch ethisch höherstehenden Prager deutschen Literatur gemessen und vereinfachend mit der stigmatisierenden Bezeichnung sudetendeutsche Literatur belegt und abqualifiziert, deren Kennzeichen neben revanchistischem Nationalismus, Antisemitismus und biederer Heimatpflege auch ein triviales Kunstverständnis sei. Die so definierte sudetendeutsche Literatur wird dann von der Prager deutschen Literatur abgegrenzt, eine Vermengung der beiden Diskurse – des allein der sudetendeutschen Literatur zugeschriebenen Grenzland- und Vertriebenendiskurses und der der Prager deutschen Literatur – ist so gut wie undenkbar. Kein Wunder, dass selten ein Interpret sich wagte, beide zu verschränken, Johannes Urzidil – den „letzten großen Erzähler der Prager Schule“13 – in die Nähe, selbst wenn es eine kontradiktorische Nähe sein sollte, der sudetendeutschen Grenzlanddichter Pleyer, Watzlik, Strobl und anderer zu rücken.14 Es gab in den böhmischen Ländern „noch eine andere, in deutscher Sprache geschriebene Literatur, die sich als ‚deutschböhmisch‘ bezeichnete. Dieser Ausdruck wurde nach dem ersten Weltkrieg und insbesondere nach der nationalsozialistischen Machtergreifung durch die Bezeichnung ‚sudetendeutsch‘ ersetzt. Es handelt sich im wesentlichen um eine regionale Literatur, deren Verfasser meistens auf dem Standpunkt eines militanten deutschen Nationalismus [...] standen. [...] Die Ausnahmen betreffen einmal die sozialistische [...], zum anderen die Literatur, die zwischen den zwei Kriegen den Weg zu einem vernünftigen Zusammenleben von Tschechen und Deutschen [...] suchte. Als ihre markanteste Persönlichkeit muss zweifellos Josef Mühlberger angesehen werden. [...] Die Prager deutsche Literatur in unserem Sinn unterscheidet sich von dieser so genannten sudetendeutschen Literatur dadurch, dass kein einziger ihrer Verfasser [...] den militanten nationalen Standpunkt gegenüber den Tschechen einnahm und selbstverständlich keiner von ihnen unter dem Einfluss des Antisemitismus stand. Diese ‚sudetendeutsche‘ Literatur [machte] zu ihrer Zeit viel böses Blut [und ist heute] so gut wie spurlos verschwunden.“ 13 So Ernst Schönwieses (1980) Schule machende Bezeichnung für Johannes Urzidil. 14 Die Betrachtung der – von Klaus Johann zusammengestellten – Bibliographie der Sekundärliteratur ergab, dass von den 721 Einträgen (mittlerweile umfaßt sie 804 Einträge, s. ) sich bloß ca. 15 auf den sudetendeutschen Kontext beziehen lassen, wobei ich diesen Bezug auf zweierlei Wegen herstellte: durch die Nennung eines sudetendeutschen Themas/Autors im Aufsatz (wie etwa Alena Kovařikova: Hans Watzlik und Johannes Urzidil. Zwei Heimatbilder – etwa die Hälfte der 15 Bibliographieeinträge) oder durch die Publikation eines Textes über Johannes Urzidil im Publikationsorgan, das traditi-
Urzidil wie Rothacker wie Watzlik?
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Ich wollte mit meinem Beitrag Johannes Urzidil, sein Werk, seine Gedankenwelt mitnichten in das Niemandsland zwischen der Prager deutschen und der sudetendeutschen Literatur rücken und Urzidil, „den entschiedenen Gegner der Eingliederung des Sudetenlandes ins deutsche Reich“ (John 2000: 224) des Kontextes der Prager deutschen Literatur berauben, den er ja mit seinen Nachkriegs-Werken kräftig mitgeholfen hat zu gestalten, sogar ins Mythische zu überhöhen, sondern wollte nur zeigen, dass ein Aufbrechen ideologisch diktierter Diskursgrenzen den analysierten Text hin und wieder erhellen mag.
Literatur
Berger, Michael (1995): Von der böhmischen Heimat ins sudetendeutsche Grenzland. Differenzierungsprozesse in der deutschböhmischen Literatur von 1848 bis 1939. – In: brücken NF 3, 241-277. Doppler, Alfred (1986): Wie sieht Johannes Urzidil Adalbert Stifter? – In: Lachinger, Johann/Schiffkorn, Aldemar [sen.]/Zettl, Walter (Hgg.), Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Johannes-Urzidil-Symposions 1984. Linz: AdalbertStifter-Institut des Landes Oberösterreich, 107-112. Goldstücker, Eduard (1967): Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen. – In: Ders. (Hg.), Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Praha: Akademia, 21-45. John, Johannes (2000): Adalbert Stifter in Erzählungen von Johannes Urzidil. – In: Hettche, Walter/Ders./ Steinsdorff, Sibylle v. (Hgg.), Stifter-Studien. Ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zu seinem 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 217-243. Rinas, Karsten (2008): Die andere Grenzlandliteratur. Zu einigen tschechischen Romanen mit antideutscher Tendenz. – In: brücken NF 16, 115-163.
onsgemäß dieser Szene zugeordnet wird (wie etwa Sudetenland ). Der zweite Bezugsweg sagt aber eigentlich weniger über Urzidils Beziehung zum Sudetendeutschtum aus als vielmehr über die Beziehung der Vertriebenenkreise zu Urzidil und deren Versuche, Urzidil als den ihrigen zu vereinnahmen. – Eine genauere Untersuchung dieser Beziehung steht noch aus, genauso wie die Untersuchung der Frage, inwieweit bzw. wann und wann nicht mehr sich Urzidil vereinnahmen ließ.
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Schönwiese, Ernst (1980): Literatur in Wien zwischen 1930 und 1980. Wien, München: Amalthea. Stifter, Adalbert (1987): Erzählungen. Stuttgart: Parkland. Trapp, Gerhard (1967): Die Prosa Johannes Urzidils. Zum Verständnis eines literarischen Werdegangs vom Expressionismus zur Gegenwart. Bern: Lang. Trapp, Gerhard (2007): Aspekte der Stifter-Rezeption bei Johannes Urzidil. – In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 14, 41-48 Urzidil, Johannes (1948): Adalbert Stifter and Judaism. – In: The Menorah Journal 36/4, 327-338. Urzidil, Johannes (1982): Die verlorene Geliebte. Nachwort v. Oskar Holl. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein.
Myriam Richter, Hans-Harald Müller
„Zu den neun Teufeln“1 Für Kurt Krolop zum 80. Geburtstag Zuweilen gibt ein lichter Blick dir Kunde Von Herzen, die in toten Dingen schlagen Hugo von Hofmannsthal, Sunt animae rerum
Max Brod hat Urzidils Erzählung Zu den neun Teufeln als „Meisternovelle“ (Brod 1966: 170) bezeichnet, aber das muss nicht heißen, dass die allgemeine Einschätzung, bei Urzidil handle es sich um einen konservativen Autor, richtig ist. Dieses Urteil mag einen gewissen Anhaltspunkt an der Oberflächenstruktur des Sprachstils seines Spätwerks finden; im Hinblick auf die Erzählkonzeption und die erzählten Welten auch des Spätwerks – vom expressionistischen Frühwerk und den publizistischen Arbeiten der Zwischenkriegszeit einmal ganz abgesehen – ist es inakzeptabel. An andrer Stelle2 haben wir zu zeigen versucht, in welcher Weise sich die Prager Moderne von der utopischen Variante der Berliner Moderne unterscheidet; hier beschränken wir uns darauf, das moderne historische Erzählen Urzidils am Beispiel der Neun Teufel zu charakterisieren. Angesichts des zähen Forschungskitschs, der sich um den Begriff der Erinnerungskultur aufgetürmt hat, halten wir es für sinnvoll, nüchtern zu beschreiben, was die Erinnerung in Urzidils Erzählung vermag – und was nicht. Bereits mit dem ersten Satz führt der Erzähler in eine längst versunkene Vergangenheit; das „noch“3 („noch in meiner Knabenzeit“, 423) weist hin auf ein – nicht ausgesprochenes – ‚Nicht mehr‘, das der erzählten Welt schlechthin gilt. Der Erzähler des Ganzen hat nun fast nichts versäumt, um die Glaubwürdigkeit der Erinnerung der von ihm direkt oder indirekt engagierten Erzähler zu unterminieren. Deren gibt es zwei: den Ich-Erzähler als extradiegetischen 1 Unser Dank geht an Tilmann Altenberg, Cardiff University, dessen – aus dem Jahr 1994 stammende – Hausarbeit zu Urzidils Erzählung wir verwenden durften; sie hat vor allem narratologische Fragen und die interne Chronologie der Erzählung geklärt. Im Folgenden abgekürzt zitiert als: Altenberg (1994). 2 Siehe den Beitrag von Kindt und Müller im vorliegenden Band. 3 Der Text der Erzählung wird im Folgenden stets ohne Titel, nur mit Seitenangabe wiedergegeben nach der Ausgabe von Dieter Sudhoff und Michael M. Schardt (Urzidil 1992).
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Erzähler und dessen Vater als intradiegetischen Erzähler, der in zitierter Figurenrede einem alten Fräulein seine Stimme leiht. Lesen wir die Rahmenerzählung von innen nach außen, so ergibt sich die folgende Kette von Erzählungen (nach Altenberg 1994: 15): Die 1813 beziehungsweise 18234 vorgefallenen Ereignisse werden vom alten Fräulein um 18755 erzählt. Der Vater überliefert seine Version dieser Erzählung seinem Sohn gegen Ende des 19. Jahrhunderts.6 Dieser wiederum erzählt sie im reifen Mannesalter in der Version, die uns vorliegt. Wie viel vom faktischen Kern dessen, was das Fräulein im Jahr 1813 erlebt haben will, in der, niedrig geschätzt, 130 Jahre währenden Überlieferungsgeschichte konserviert werden konnte, ist fraglich. Aber der Erzähler hat auch die Glaubwürdigkeit der erzählenden Figuren eingeschränkt. Keine von ihnen nämlich erzählte das Erlebte unmittelbar, nachdem es geschah (Altenberg 1994: 9): Die Greisin erzählte ihre Geschichte mindestens fünfzig Jahre post festum, der Vater überlieferte sie mehr als zwanzig Jahre, nachdem er sie gehört hatte, und der Sohn berichtet die im Knabenalter vernommene Geschichte im Mannesalter – für alle Erzählungen ist der authentische Kern mithin zweifelhaft, alle sind lebensgeschichtlich überformt. Es kommt hinzu, dass es für keine der Erzählungen einen befragbaren Zeugen gibt. Das alte Fräulein erzählt seine Geschichte vielleicht nicht zufällig erst „kurz nach ihres Vaters Tod“ (429), und der Vater des Erzählers lässt das Fräulein seine Geschichte nicht selbst erzählen, sondern erzählt sie lediglich „mit den Worten des Fräuleins“ (429) – in deren Abwesenheit, wohlgemerkt. Die Glaubwürdigkeit der Geschichte des Vaters erscheint insgesamt sehr zweifelhaft. Als er von seinem Sohn gefragt wird, ob er etwas über das ‚wichtigste Ereignis‘ (425) aus dem Leben des Fräuleins wisse, bejaht er das, fügt jedoch hinzu: „Aber es ist lange her. Ich muß es mir wieder zurechtdenken und aufbauen“ (426) – diese Formulierungen lassen nicht auf einen schlichten Zugriff auf das Gedächtnis schließen. Und in der Tat konstruiert der Vater die Erzählung sehr umsichtig, indem er zunächst vom Fund des Bildes berichtet, „das dem Fräulein so wichtig“ (426) ist, und vor die Erzählung des Fräuleins – mit der Behauptung „dazu muß man vieles wissen“ (427) – eine umständliche Darlegung der Geschichte des Hauses Zu den neun Teufeln einschiebt – samt 4 Datierung nach S. 429: „Ich war noch ein Kind, kaum dreizehn Jahre alt, es war in dem Jahr, als der Franzose bei Leipzig geschlagen wurde“ beziehungsweise S. 434: „Achtzehnhundertdreiundzwanzig.“ 5 Datierung erschlossen aus S. 423: „In jenem Hause hatte er als Student in den siebziger Jahren gewohnt.“ 6 Datierung erschlossen aus S. 429: „Es [scil. der Bericht des Fräuleins] ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her.“
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seiner Bewohner, seiner Beziehungen zu einem anderen Haus, das mit den Namen ‚Fausts‘ verbunden ist und schließlich noch mit den Experimenten zur Erzeugung eines Homunculus – eine Darlegung, die mit der Geschichte des Fräuleins zunächst in keinem Zusammenhang zu stehen scheint. Zumindest beim heutigen Leser dürfte diese Historie mit ihren Filiationen der Herkunft Fausts eine gewisse Verwunderung über den Bildungsstand der Beamten im höheren Dienst der k. k. österreichischen Eisenbahn auslösen. „Nach einigem Nachdenken“ (429) aber entscheidet der Vater sich schließlich, die Geschichte „mit den Worten des Fräuleins“ (429) zu erzählen. Im Wortlaut wiederzugeben, was die alte Dame ihm zwanzig Jahre zuvor aus der Perspektive einer Dreizehnjährigen berichtet hatte – das ist ein kühnes Unterfangen. Das Vertrauen in seine Glaubwürdigkeit wird spätestens in dem Augenblick auf eine harte Probe gestellt, wenn nicht schon überstrapaziert, als der Vater mit den Worten des Kindes beschreibt, wie sehr es sich über die Betrachtung der Gegenstände des Hauses durch den nächtlichen Gast gefreut hat und es als „plötzliches Erkennen eines längst Erkannten“ (431) charakterisiert – wir kommen darauf zurück. Von zweifelhafter Glaubwürdigkeit sind indes nicht allein die Erzählin stanzen des Geschehens, sondern auch das Geschehen selbst. Um an die Erscheinung des Fremden zu glauben, bedurfte es schon des Vaters Einstimmung in die „alte Zauberstadt“ Prag, in der „viele zauberhafte, unbegreifliche und sonst nie gesehene Dinge, Worte, Charaktere und Begebenheiten“ (427) sich ereignen. Der Fremde selbst scheint denn auch eher aus Literatur denn aus Fleisch und Blut gemacht, wenn er mitteilt, „es komme ihm seine Anwesenheit in dieser Stadt nicht eigentlich als Wirklichkeit, sondern eher als Traum vor, als etwas durchaus Unglaubhaftes, eine Luftspiegelung fast, die Verdichtung eines heftigen Wunsches, den man bereit sei, als Tatsache zu nehmen“ (430). Nur wer bereit ist, die Anwesenheit des Fremden ‚als Tatsache zu nehmen‘, wird auch dessen spurloses Verschwinden im ‚ortlosen Dunkel‘ (433) akzeptieren und, zehn Jahre später, das Auftauchen eines Porträts des Fremden in einem ‚versiegelten Päckchen‘ (434) ohne Absender. An der eisernen Pforte betet das Fräulein vor dem Porträt des Verlorenen in der Hoffnung, sie könnte ihn derart aus dem „Unbetretenen, nicht zu Betretenden“ (435) wieder hervorrufen. Doch statt dass die Worte Mephistos, derer sich das Fräulein hier bedient,7 den Verlorenen zurückbringen, muss das Fräulein feststellen, dass auch noch das Porträt „lautlos in jene Finsternis hinab[glitt], die schon einst den Gast aufgenommen hatte, den es darstellte“ (435). 7 Faust II, V. 6222f. – Für diesen Hinweis danken wir Bernd Hamacher.
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Mit dem Verschwinden und Wiederauftauchen hat es ein – nach dem endgültigen Verschluss der eisernen Tür definitives – Ende, als der Vater etwa 50 Jahre später ein Bild an der Schwelle zum ‚ortlosen Dunkel‘ entdeckt, das beim alten Fräulein Jubel, Singen, Tanzen, eine Kalbsstelze und den, wie der Vater versichert, „besten Apfelstrudel meines Lebens“ (427) auslöst. Aber wen zeigen die Bilder? Woher stammen sie? Ist das vom Vater gefundene Bild tatsächlich dasselbe, das einst das „versiegelte Paket“ enthielt? War dessen Absender nicht vielleicht der Vater des Fräuleins selbst, „der sie überraschen wollte“ (436), und schließlich: Ist das vom Vater des Erzählers gefundene Bild tatsächlich identisch mit dem vom Dunkel verschluckten? Diese Fragen haben in der Erzählung Zu den neun Teufeln eine eigene Gestalt gewonnen in der Figur des Sohnes, der die Erzählung des Vaters ungläubig und mit milder Ironie verfolgt. Zu seinen kommen die bohrenden Fragen der Leserinnen hinzu, aber sie haben einen eigentümlichen Effekt: Je mehr die Erzählung an Glaubwürdigkeit verliert, desto mehr gewinnt sie an Überzeugungskraft der literarischen Konstruktion. Die Bewunderung darüber, wie die Geschichte voranschreitet, lässt schließlich alle Zweifel daran verblassen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Dem Erzähler aber fliegen weder Tauben aus den Ärmeln, noch zersägt er eine Frau in der Luft, er ist kein Schwarzkünstler (s. 427), sondern ein solider Konstrukteur, nicht zuletzt des Hauses Zu den neun Teufeln. An diesem Haus, das der Erzählung den Titel gibt, haben alle ein besonderes Interesse – außer seinen Bewohnern, dem alten Fräulein und dessen Vater. Seine unverwechselbaren Züge gewinnt es erst durch die zwei Fremden, den Vater-Erzähler, der „aus dem deutschsprachigen Westböhmen in das ihm fremde, riesenhaft erscheinende und etwas unheimliche Prag gekommen“ (423) war, und den rätselhaften Fremden, der „beim Kerzenschein betrachten“ will, „was dem Tag nicht angehört“ (431) und mit dessen Geschichte sich das Haus verbindet. Zum Haus gehört alles. Die neun Teufel ebenso wie die namenlosen adligen Besitzer, die es nie bewohnen, sondern nur besorgen lassen; wie der Doktor, dem sie es zur Verfügung gestellt hatten, und die „Magier und Goldköche“ (428). Das Haus wurde im Laufe der Jahrhunderte mehrere Male umgebaut – „innen aber sind die Räume immer die gleichen geblieben mitsamt den Werkzeugen und Geräten aus dem Zauberjahrhundert“ (428). Die Identität im Wechsel der Jahrhunderte verdankt das Haus der „Verräumlichung der Zeit“ (Ohl 1978); in den Räumen erhalten die Gegenstände aus Vergangenheit und Gegenwart eine virtuelle Gleichzeitigkeit. Zudem ist das Haus in verschiedene Bereiche gegliedert. Überall herrscht die wahllose Zufallsordnung des „Kramuriwerks“, außer in der Wohnung des
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alten Fräuleins, die „weniger eine Wohnstatt als eine genaue Apparatur zur Erzielung größtmöglicher Sicherheit und Zuverlässigkeit des täglichen Lebens“ (424) war. Dienen in den unbewohnten Räumen die Gegenstände, die längst ihren Zweck eingebüßt haben, nur noch dem „Älterwerden“ (423), so besteht die Wohnung des alten Fräuleins aus einem „fast feierlichen Aufbau von hunderterlei Notwendigem oder zur Notwendigkeit erhobenen Überflüssigen“ (425). Die Bilder des ästhetischen Verfalls kontrastieren auf eine pittoreske Weise den Anblick der inmitten ihrer peinlichen Ordnung „geradezu überirdische[n] Sauberkeit“ der Greisin. Der Kontrast von zweckvoller Ordnung und sinnlosem Altern, von peinlicher Sauberkeit und erhabenem Verfall kennzeichnet die bewohnte Welt des alten Fräuleins im Gegensatz zur Welt der unbewohnten Räume. Aber neben dieser Ordnung gibt es noch eine des Oben und des Unten, der die von Rationalität und Obskurantismus entspricht. Oben die kosmologischen Modelle, das Coelotellurium, in dem die Gestirne auf wie immer wohlberechneten Bahnen auf dem Himmelskörper kreisen, unten die Welt der Alchimie, in der Gold und künstliche Menschen gekocht wurden, oben eine Welt der Regelmäßigkeit, in den unteren Gewölben eine Welt der Regellosigkeit, mit der die eiserne Tür zwischen dem Haus und dem abgründig Unbekannten sich öffnet und zuschlägt. Über diese Tür, Schwelle und Grenze, die die Welt des Hauses und des Apeiron zugleich verbindet und trennt, wäre aus postmoderner Perspektive mancherlei zu sagen. Da wir indes – im Gegensatz zum Fremden – nicht versuchen wollen, „das Unerklärliche bis zu seiner äußersten Grenze zurückzutreiben“ (432), und es, wie postmoderne Kritiker, auch nicht besingen mögen, werden wir uns mit der Feststellung begnügen, dass aus dem Aufeinandertreffen dieser Welten jenes „muntere Leuchten“ der Erzählung entsteht, das, wie der Fremde uns belehrt, „ein Ergebnis des freien Schwebens“ (431) ist. Dass dieses an den Homunculus in seiner schwebenden Phiole aus Faust II erinnert, sei hier nur festgestellt. Gibt es an der Erzählung etwas zu interpretieren, das der Erzähler nicht schon selbst interpretierte? Etwa das Verhalten des alten Fräuleins, das „am Ende ihrer eigenen Wirklichkeit unsicher“ (436) wurde und ihr Leben erst wiedergewann, als der Vater das Bild des Fremden fand? War ihr der Fremde – und später das Bild des Fremden – nicht die Verheißung – und später die Erinnerung – einer erfüllteren Welt als es die war, in der sie mit ihrem kranken Vater vereinsamt lebte? (Altenberg 1994: 21) Auch des Vaters Lust am Erzählen findet sich in der Erzählung gedeutet:
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Traurig war der Vater, und aus seiner Trauer trat er nur selten heraus, nur wenn er gerade ins Erzählen geriet, darein er sich verlieren konnte, was wohl auch im wörtlichen Sinne der Grund seiner Erzählens sein mochte (425).
Dass der Vater seinen Grund im Sichverlieren finden konnte, das ist eine jener paradox anmutenden Formulierungen wie die, dass der fremde Gast „aus einer unbestimmten Wirklichkeit in eine noch unbestimmtere Unwirklichkeit eingetreten“ (434) sei, oder der Ausspruch des Wirts, dass es Zeiten gebe, in denen das „Unmögliche möglich“ (433) sei. Die Trauer des Vaters ist indes nur das Motiv seiner Lust am Erzählen, sie motiviert aber nicht, weshalb er gerade die vorliegende Geschichte mit ihren eigentümlichen Paradoxien erzählt. Doch vielleicht ist der Sohn des Erzählers der Schlüssel zur Erzählung, der, verwaist wie das alte Fräulein, nach einem Halt in der Wirklichkeit und einer Beziehung zum Weltbild seines Vaters sucht, der „zwischen den geistigen Teufelsschülern und den neueren Technikern auf einer Mittelstufe“ stehen geblieben war, „wo man zwar noch einen Gott, aber keine Teufel mehr für möglich“ (428/29) hielt? Wer diese Deutungen als zu partikular und reduktionistisch empfindet, wird vielleicht sich an die mit dem „Merk dir das!“ beschwerte Botschaft des Vaters halten: „Das ist die Zeit. Sie erzeugt Werte. Mindestens ebenso viele, wie sie vernichtet“ (426). Doch diese allgemeine Weltweisheit vermag kaum zu erklären, auf welche Weise in der Erzählung selbst Werte geschaffen werden. Dort geschieht das, indem zwischen den verfallenden Dingen und den Betrachtern Beziehungen einer besonderen Art gestiftet werden. „Der Vater“, so heißt es bei der Beschreibung seiner Gänge durchs Haus, „suchte nichts, er berührte kaum je etwas, er betrachtete nur, als benötigte das Verlassene und Vergessene zuweilen eines Blickes zum Weiterbestehen“ (424). Eine solche Art beziehungsstiftender Betrachtungen pflegt auch der nächtliche Gast, an dem das dreizehnjährige Kind, wir erwähnten es schon, seine Freude hat: „Denn sein Schauen war kein erstauntes Starren, es hatte eine gewisse rhythmische Bewegung, es war kein bloßes mit dem Auge Betasten, vielmehr ein strahlendes Umfangen, ein plötzliches Erkennen eines längst Erkannten“ (431). Der Gast stellt eine Beziehung zu den Gegenständen her, die sie in ihre einstige Funktion zurückversetzen, es gelingt ihm sogar, mit Hilfe des Coelotelluriums, eine Mondfinsternis und die Geschehnisse in den Himmeln so zu demonstrieren, dass das Fräulein – respektive der sie wiedergebende Vater – bekennt: „Nie hab’ ich die Sonne so herrlich aufscheinen gesehen wie in seinen Worten, nie wieder beleuchtete mich ein Mond so sicher und sanft wie sein Blick“ (432). Urzidil – wenn wir an dieser Stelle einmal kurz auf ihn zu sprechen kommen dürfen – hat über die Beziehungen von Menschen zu Gegenständen
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und die aus ihnen resultierenden Verpflichtungen und Wirkungen häufig und intensiv nachgedacht. Anlässlich einer Rezension schrieb er 1923 über sie: in der Ausmalung dieser Motive verrät sich ebenso Lust wie Tiefe. Hier etwa das Gefühl, daß die Seele des Menschen beim Menschen selbst nicht sicher genug ist, daß auch im unbelebt Scheinenden Seele stecken kann, daß der Mensch mit jenen Wesen zugrunde geht, denen er seine Seele schenkt, und endlich das Gefühl, daß alle Geschehnisse der Welt mit einander im Grunde zusammenhängen. (Urzidil 1923)
Zu den neun Teufeln ist, wie Sie unschwer erkannt haben werden, neben vielem anderen eine moderne Erzählung über die Herstellung von Beziehungen von Menschen zu Zeiten, Orten, Räumen – modern, weil sie die Entstehung solcher Beziehungen am Beispiel eines für Prag sinnbildlich stehenden Hauses,8 seiner Bewohner, aber vor allem seiner Gegenstände auf eine überaus konstruktive Weise selbst zum Thema macht (Schneider 1998: 136). Der Vater besucht das Haus Zu den neun Teufeln denn auch nicht allein aus Anhänglichkeit zum alten Fräulein, das ihn einst beherbergte, sondern aus einem Grund, der, wie er versichert, im „Hause selbst“ (429) liegt. Es ist sein – nicht ausgesprochener – Wunsch, mit dem Haus und dessen Geschichte verknüpft zu sein; als zugereister Westböhme ist er es gar nicht, aber wie er sich diesen Wunsch durch die Erzählung der Geschichte dann doch erfüllt – performativ, wenn Sie es hören wollen –, das macht deren Reiz aus – nicht irgendeine Erinnerungskultur.9 Weit unverblümter artikuliert der nächtliche Fremde in der Erzählung, dass seine Anwesenheit im Hause und in Prag „die Verdichtung eines heftigen Wunsches“ (430) sei, und wenn denn „das etwa handgroße farbige Brustbild eines ansehnlichen Herrn in hochgeschlossenem Rock mit einem Ordensstern“ (425) tatsächlich den Fremden abbildet und es sich bei ihm überdies noch um – den in der Erzählung zweimal anzitierten – Goethe handelt,10 dann hat der Erzähler mit diesem Prag-Besuch (in der Erzählung) Goethe einen ihm in der Wirklichkeit versagten Wunsch erfüllt. Und Urzidil vielleicht sich selbst – aber das steht auf einem anderen Blatt.
8 Zumindest ist der Vater der Auffassung, dass das Haus „für die Stadt von großer Wichtigkeit ist“ (426). 9 Es geht in der Erzählung nicht um eine Erinnerung der Vergangenheit – das alte Fräulein, das in einem wohlarrangierten Privatmuseum lebt, vermag sie ja aus eigener Kraft nicht festzuhalten. Viel eher geht es um eine bilderschaffende Fiktion, die dem Gedächtnis supplieren oder es sogar ersetzen kann. 10 Es tut der Erzählung nicht gut, das allzu fest zu behaupten (Schneider 1998: 135f., 148).
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Literatur
Brod, Max (1966): Der Prager Kreis. Stuttgart u. a.: Kohlhammer. Ohl, Hubert (1978): ‚Verzeitlichung des Raumes‘ und ‚Verräumlichung der Zeit‘. – In: Ritter, Alexander (Hg.), Zeitgestaltung in der Erzählkunst (= Wege der Forschung, 447). Darmstadt: WBG, 229-247. Schneider, Vera (1998): Schauplatz, Zeitzeuge, Grenzbereich – Poetik eines Prager Hauses. Johannes Urzidils Erzählung Zu den neun Teufeln. – In: brücken NF 6, 133151. Urzidil, Johannes (1923): Eine Handvoll neuer Bücher. – In: Prager Tagblatt 48/40 (18.02.1923) [, 20]. Urzidil, Johannes (1992): Das Haus zu den neun Teufeln. – In: Sudhoff, Dieter/ Schardt, Michael M. (Hgg.), Prager deutsche Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 423436.
Jindra Broukalová
Schlüsselerlebnisse im Leben eines Menschen und Künstlers. Das Bild Václav Hollars in Johannes Urzidils Erzählung Das Elefantenblatt und in Miloš V. Kratochvíls Roman Dobrá kočka, která nemlsá Es ist notwendig sich dessen bewusst zu werden, wie verborgen der wahre Mensch und sein Innenleben sind. Karel Čapek
In den beiden hier untersuchten Texten kann man dieselben historisch bekannten Lebensstationen Václav Hollars finden, unterschiedlich sind aber die Stationen des verborgenen inneren Reifens seiner Persönlichkeit, die der jeweilige Autor hineingedichtet hat, sowie die Art der Verknüpfung von innerem und äußerem Lebensweg. Den Schlüssel, mit dem Johannes Urzidil und Miloš V. Kratochvíl1 sich dem Künstler nähern wollen, suchen sie im Werk Hollars, das seine Persönlichkeit für uns bis heute lebendig macht. Beide haben einen Kupferstich ausgewählt, der als Tor in Hollars Inneres dient und der den Titel des jeweiligen Werkes bestimmt. Dabei wählt jeder die Abbildung eines Tieres, um das er die Schlüsselerlebnisse2 des Protagonisten gruppiert, die im Text zugleich als Motive fungieren. Zu Beginn der Erzählung Das Elefantenblatt begegnet der Leser Hollar im Jahre 1629 in Frankfurt am Main, wo er als Lehrling bei dem berühmten Verleger Merian arbeitet. Auf der Frankfurter Messe sieht der junge Mann eine dressierte Elefantin, die seine Aufmerksamkeit fesselt. Er macht Skizzen dieses riesigen exotischen Tieres. Als dieser Skizzen wegen ein Streit ausbricht, 1 Der im Jahre 1904 in der Familie eines tschechischen protestantischen Archivars in Wien geborene und im Jahre 1988 in Prag gestorbene M. V. Kratochvíl ist als Verfasser von historischen Romanen und Erzählungen einer der wichtigsten Autoren der tschechischen Literatur der Nachkriegszeit geworden, der in den tschechischen historischen Roman moderne Erzählverfahren und Ansichten brachte, sich zugleich aber auch der Tradition des tschechischen historischen Romans verpflichtet fühlte (Hrabák 1979: 205). 2 Ein Schlüsselerlebnis im Leben eines Menschen verstehe ich kognitiv als ein solches Erlebnis, das in freier Anlehnung an Johannes Urzidil (1982:37) das Bewusstwerden von etwas grundlegend Wichtigem innerhalb von Sekunden bedeutet.
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mischt sich die Elefantin Trompette in diesen Streit ein, indem sie Hollars Gegner mit ihrem Rüssel packt und in den Main wirft. Die Ereigniskette, die dieses Eingreifen Trompettes auslöst, bringt Hollar Begegnungen mit Menschen, denen er seine Schlüsselerlebnisse verdankt. Das einleitende Erlebnis, das über die Grenzen seiner Existenz hinausweist, verdankt er jedoch der Elefantin selbst. Noch nie hatte er derart gelacht. Nie wieder im Leben sollte er so sehr lachen. In den Wogen dieses Gelächters versank ihm die ganze Welt mit allen Kümmernissen, Ärgerlichkeiten und Problemen. Er war gar nicht Herr dieses Gelächters. Es lachte aus ihm heraus. Die große Komik des Weltalls schien ihn zum Schallrohr gewählt zu haben. (Urzidil 1962: 113)
Dieses Lachen3 ist in Hollars Leben einzigartig, was die Wendungen „noch nie“ und „nie wieder“ besagen, es ist einzigartig durch seine Intensität und durch die Auswirkungen, die es auf ihn hat. Es bringt Hollar, der gerade in einen Konflikt mit der Macht hineingezogen worden ist, Befreiung von allen Mühen des Lebens, unter denen das Zusammenleben mit den Mächtigen dieser Welt nicht gerade die kleinste ist. Dieses Lachen verbindet ihn aber auch mit der „Komik des Weltalls“, wodurch es diesem Erlebnis eine mystische Dimension verleiht. Die nächste Lachexplosion löst der Wärter der Elefantin Bohumír mit seiner auf tschechisch gestellten Frage aus „A co si teď počnem?“ [Und was nun?] (Urzidil 1962: 113) Die Antwort ist schnell gefunden, alle drei fliehen vor einer Bestrafung aus Frankfurt. Die Begegnung mit Bohumír bringt Hollar das Erlebnis menschlicher Gemeinschaft und Freundschaft, das sich auch mit dem Erlebnis des „Glücks der Gegenwart“4 verknüpft. Auf der Flucht kann er über seine Arbeit nachdenken,5 er macht 3 Dem Lächeln und Lachen kommt in Urzidils Werk als derjenigen Emotion, die gemeinsam mit dem Weinen den Menschen erst menschlich macht (Urzidil 1982: 174), eine bedeutende Rolle zu und er kann es sogar auf Gott beziehen. In der Erzählung Stief und Halb nennt der Ich-Erzähler, als er den Sinn seines Lebens entdeckt und die Allmacht Gottes beschwört, Gottes Lächeln als das Zeichen seiner Barmherzigkeit: „Aber mit dem Lächeln der Einheit hast Du alle Welt gesegnet und durch die Heiligkeit des Ausgleichs allen Wunden Linderung verheißen.“ (Urzidil 1982: 35) S. auch die Erzählung Ein letzter Dienst (ebenfalls in Die verlorene Geliebte, 1956) und die Anekdote Paul Kornfelds letztes Lachen. 4 Ohne den Bogen des Vergleichs zu weit spannen zu wollen möchte ich darauf hinweisen, dass die Schilderung der glücklichen Augenblicke Hollars in einem breiteren Kontext von Urzidils Schaffen zu sehen ist: „Was Urzidil also bewegt und was ihn, seit er im tätigen Amerika ist, offensichtlich noch stärker bewegt, ist eben das ‚Glück der Gegenwart‘.“ (Holl 1982: 215) So lautet auch der Titel eines 1958 separat erschienenen Essays von Urzidil über, so der Untertitel, Goethes Amerikabild. 5 Der Erzählung Das Elefantenblatt kommt in Urzidils Schaffen eine besondere Rolle zu, weil hier Urzidil die Breite seiner Persönlichkeit zeigen kann. Zu Wort kommt er als Kenner von
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aber auch existentielle Erfahrungen. Bei einer Magd lernt er eher zufällig die Liebe kennen (Urzidil 1962: 123), in einem Akt der Notwehr tötet Hollar einen Schiffer und wird in extremer Form mit einer weiteren Grunderfahrung menschlicher Existenz, mit Schuld, konfrontiert. Bei der Übernachtung in einem Kloster beichtet Hollar seine Schuld, die Buße darf er selbst wählen: „Ich will trachten zu dienen und mich nicht selbst zu erhöhen.“ (Urzidil 1962: 126) Dann kommt Hollar nach Straßburg und vollendet das Elefantenblatt, sein erstes selbständiges Werk, wodurch diese Erlebniskette auch zu einer künstlerischen Initiationskette wird. Interessant ist die Entwicklungslinie, die diese Erlebnisse bezeichnen, die dem Lebensweg eines christlichen Büßers nicht unähnlich sind. Von zufälliger und deshalb verbotener Liebe und von der Schuld am Tod eines Menschen gelangt Hollar moralisch zum Dienen6 als höchstem Wert. Auch Kratochvíls Hollar verdankt sein erstes Schlüsselerlebnis einem Tier. Dieses Tier ist die Katze Maura, die er als kleines Kind gekannt und geliebt hat und die er nicht vergessen kann. statná, mourovatá kočka jeho dětství, klidná a vznešená, která se řídila jen svou vlastní vůlí, a přesto – nebo právě proto – se zdála plná moudrosti, neboť si svou životní cestu ničím jiným nekřížila a nezatěžovala. (Kratochvíl 1970: 17) [Die stattliche getigerte Katze seiner Kindheit, die sich ruhig und erhaben, wie sie war, nur nach ihrem eigenen Willen richtete und trotzdem – oder gerade deshalb – voll von Weisheit zu sein schien, denn sie verwirrte und belastete ihren Lebensweg durch nichts anderes.]
Die Tatsache, dass Kratochvíl gleich beim ersten Erscheinen der Maura im Roman ihre Freiheit als das wichtigste Merkmal anführt, ist kein Zufall. Nach seiner freien Entscheidung zu leben ist auch für Hollar das Entscheidende. Das Erlebnis, das mit dem Anblick der toten Maura verbunden ist, bildet das Nachempfinden und Verstehen des Todes (Kratochvíl 1970: 69). Erst bei diesem Anblick kann das Kind den Tod der Mutter, die vor kurzem gestorben ist, verstehen. Es ist ein Verstehen der Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit, das zugleich auch den ersten und grundsätzlichsten Riss in der allumfassenden Hollars Leben und Werk, als leidenschaftlicher Erzähler, der Freude am Fabulieren hat, und als Kritiker, der sich gern Gedanken über die Kunst macht. Aus der Ahnung des jungen Hollar, dass man nicht gleichzeitig die Kunst des Malens beherrschen und wissen kann, wie man es macht, kann man zum Beispiel ein entferntes Echo des taoistischen Satzes „alles, was gelehrt werden kann, ist nicht der Mühe wert, gelernt zu werden“ heraushören, den Urzidil (1969: 51) in Väterliches aus Prag Handwerkliches aus New York zitiert. 6 In den Begriff des Dienstes schließt Urzidil (1969: 54) auch die Beziehung des Menschen zu den Elementen und zu dem Stoff ein, den er bearbeitet. S. auch die Erzählung Ein letzter Dienst.
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Geborgenheit von Hollars kindlicher Welt bedeutet. In der unsicheren Zeit nach der Schlacht auf dem Weißen Berg wird Hollar mit dem Anblick eines toten Soldaten mit aufgeschlitztem Bauch konfrontiert. Die Tatsache, dass der Ermordete ebenso wie höchstwahrscheinlich auch seine Mörder keine Räuber, sondern Soldaten in Uniform waren, die für das Recht einer Kriegspartei kämpften, führt bei Hollar zu einer tiefen Skepsis an einer klaren Trennungslinie zwischen Recht und Unrecht7 bzw. an einer dichotomen Weltsicht,8 die ihn sein ganzes Leben lang begleiten soll. Auch bei dem nächsten Erlebnis spielt der Tod wiederum eine herausragende Rolle. Hollar, den sein Vater in der Zeit nach der Schlacht auf dem Weißen Berg von dem Geschehen in Prag abzuschotten versucht, erlebt auf dem Altstädter Ring zufällig die Exekution der 27 Anführer des böhmischen Aufstandes von 1618. Angesichts des mehrfachen grausamen Todes begreift er, dass er selbst die Verantwortung für sein Leben tragen muss. Diese drei Schlüsselerlebnisse sind Meilensteine auf dem Weg der Erkundung von Leben und Tod. Der Anblick der toten Katze Maura bewirkt das Verstehen des Todes und beendet so die frühe Kindheit, eine Zeit von absoluter Sicherheit und Geborgenheit. Die Gedanken über dem Körper des ermordeten Soldaten lassen den Jungen die Komplexität der Welt zum ersten Mal erahnen, bei der Exekution auf dem Altstädter Ring akzeptiert er die Verantwortung für sein Leben und wird erwachsen. Auch Kratochvíls Hollar, obwohl er weniger lebensfroh veranlagt ist als der Urzidilsche, kann das Glück des Lebens genießen. Bei der Reise mit Lord Arundel erreicht sein Glück ein so hohes Maß, dass er sich wie im Paradies fühlt (Kratochvíl 1970: 37).
7 Die Widersprüchlichkeit des Lebens ist ein konstituierendes Element auch von Urzidils Weltsicht. Während sie aber dem Prager Autor dank dem Beispiel seines Vaters (Johann 2008: 11ff.) und als Folge dessen auch manch einer von seinen Figuren ganz selbstverständlich war, muss sie Kratochvíls Protagonist erst durch ein erschütterndes Erlebnis sehen lernen und er tut es in Opposition zu seinem Vater, einem Beamten, dessen Rechtsverständnis gerade auf klaren Rechtsunterscheidungen basiert. Durch die Tatsache, dass in ihm die Entdeckung dieser Widersprüchlichkeit zunächst einen Schock auslöst, scheint Hollar einem modernen Menschen ähnlich zu sein, wie ihn Chesterton auffasst (Johann 2008: 17). 8 Die Mehrdeutigkeit der Welt wird von Kratochvíl nicht nur explizit postuliert, sondern sie wird auch in poetischen Bildern festgehalten. Eines davon ist das Bild der Venus, die am Himmel als Abend- und Morgenstern erscheint (Kratochvíl 1970: 76).
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Das Tier,9 mit dem das gravierendste Schlüsselerlebnis verbunden ist, taucht in beiden Werken kurz vor Hollars Tod in der Erinnerung noch einmal auf. Der letzte Mensch, mit dem der Sterbende in der Erzählung Das Elefantenblatt spricht, ist weder eine seiner beiden Frauen noch eines seiner Kinder, sondern der alte Freund und Schicksalsgenosse, der Elefantenwärter Bohumír. Auch in Kratochvíls Roman taucht die Katze Maura in Hollars Todesstunde noch einmal auf (Kratochvíl 1970: 286). Jetzt, als der Tod nur noch Augenblicke entfernt ist, steht Maura nicht für den Tod, sondern für ein erfülltes und gerechtes Leben. Menschen, mit denen Hollar in Urzidils Erzählung seine prägenden Erlebnisse erlebt, sind Fremde, denen er rein zufällig begegnet und die er nur einmal trifft. Die Familie steht bei Urzidil im Hintergrund, aber nichts deutet auf einen Konflikt hin. Eine besondere Stellung unter diesen Menschen nimmt Bohumír ein, der, wie schon erwähnt, auch als Einziger noch einmal – kurz vor Hollars Tod – erscheint. Bohumír ist eine mehrdimensionale Gestalt. Er ist nicht nur ein realer Mensch, sondern auch eine Figur mit symbolischem Wert. Die Begegnung mit ihm ist für Hollar in erster Linie eine Begegnung mit einem Landsmann, der ein Stück Heimat in die Fremde bringt. Als dann Bohumír auf der Flucht für sie beide einen Braten zubereitet, erinnert sich Hollar an die Küche seiner Mutter (Urzidil 1962: 116), und mit dieser Erinnerung an die Mutter, die geradezu das Herzstück der innersten Heimat darstellt, macht der Verfasser aus einem flüchtig bekannten Landsmann einen Menschen, der zu dem Kern dieser Heimat in einer unmittelbaren Beziehung steht. Bohumír ist aber viel mehr als ein Landsmann in der Fremde. Er ist vor allem ein hilfsbereiter Mensch, der mit Hollar nicht nur Essen und Geld, sondern auch Menschen- und Weltkenntnis teilt,10 wobei er große Toleranz zeigt. Er bringt Hollar drei wichtige Tugenden des Christentums und der Antike bei: Freigiebigkeit, Weisheit und Gerechtigkeit. Als nicht sesshafter Mensch steht Bohumír jedoch zugleich am Rande der Gesellschaft (Urzidil 1962: 114), dadurch und vor allem durch das kritische Nachdenken über die Menschen vermittelt seine Gestalt einen rebellischen Unterton im Text. Darüber hinaus 9 Im Falle der Katze Maura spricht Josef Hrabák von einem Erzählrahmen, der ein Grundelement der Erzählstruktur des Romans darstellt, und auch im Falle der Elefantin könnte man von einem solchen Rahmen sprechen (Hrabák 1985: 248). 10 So befolgt Bohumír den Rat des römischen Kaisers und Philosophen auf dem Thron Marcus Aurelius Antoninus (121-180), der in einem seiner Aphorismen schreibt: „Lidé jsou stvořeni kvůli sobě navzájem, buď je tedy poučuj, nebo je snášej!“ [Die Menschen sind füreinander geschaffen. Du sollst sie entweder belehren oder ertragen können.] (Marcus Aurelius Antoninus 1969: 115)
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symbolisiert Trompettes Wärter, wie sein Name (auf Deutsch Gottfried) nahelegt, eine Verbindung zum Himmel. Diese Lesart bestätigt auch sein Auftreten als Trostbringer in den letzten Augenblicken vor Hollars Tod. Bei Kratochvíl erlebt Hollar seine Erlebnisse zwar auch mit fremden Menschen, aber die Familie, vor allem der Vater, ist viel wichtiger. Das zweite und dritte Erlebnis mit dem Tod fungieren als Katalysator in dem Prozess der Entfremdung zwischen Hollar und seinem „Herrn Vater“. Trotz dieser Entfremdung begleitet aber der Vater Hollar sein ganzes Leben lang und an seinen Ansichten, die er nicht teilt, misst er die eigenen. Mit den Menschen, mit denen er seine Schlüsselerlebnisse erlebt, tritt Hollar bei Urzidil in eine direkte Interaktion. Bei Bohumír nimmt diese Kommunikation die Form eines Nachdenkens über die Welt und über die Kunst an, dessen Echos in Hollars Seele das ganze Leben lang nachklingen.11 Auch Kratochvíls Hollar trifft viele Menschen, seine prägenden Erlebnisse kommen aber nicht im Gespräch, per Kommunikation und Interaktion zustande, sondern sie entstehen durch das Beobachten. Bei Gesprächen hört Hollar sehr oft nicht zu, sondern befasst sich mit dem Gesichtsausdruck seines Gegenübers (Kratochvíl 1970: 189) und denkt darüber nach, wie es am besten zu zeichnen wäre. Unterschiedlich gestaltet sind auch die Lebensabschnitte und und Lebensumwelten, in denen Urzidil und Kratochvíl die Schlüsselerlebnisse ihres Protagonisten situieren. Während Urzidil Hollars Schlüsselerlebnisse in die Zeit der Adoleszenz verlegt, bettet Kratochvíl sie in die Kindheit und frühe Pubertät ein, wobei sich das erste und entscheidende Erlebnis schon in der frühen Kindheit abspielt.12 Die Natur wirkt in Urzidils Erzählung nicht nur durch ihre Schönheit, sondern sie ist auch ein Schauplatz, den der Verfasser oft wählt, wenn er den Werdegang seines Protagonisten darstellen möchte. Am deutlichsten erscheint dies bei der Begegnung mit Bohumír, eine fast archaische Situation. Zwei Männer sind hier allein, umgeben nur von der freien Wildbahn, und tauschen sich aus. Der historische Hollar war ein Stadtmensch, der die Natur zwar oft, aber nur als Besucher aufsuchte. In der Erzählung ist er jedoch ein Schiffsbrüchiger, dessen Insel der Rücken eines exotischen Tieres ist, deshalb könnte diese Wahl des Schauplatzes überraschend sein, aber 11 Im Hinblick auf die Arbeit mit Dialogen und Dialogsplittern kann man eine Ähnlichkeit zwischen den Erzählungen Das Elefantenblatt und Stief und Halb sehen. 12 Dadurch nähert sich Kratochvíl den Ansichten der modernen Psychologie vor allem der Psychoanalyse, für die „das Kind das hauptsächliche Objekt“ der Forschung ist und die in traumatischen Erlebnissen in der Kindheit den Grund für psychische Störungen bei dem Erwachsenen sieht (Nyman 1966: 141).
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sie steht völlig in Einklang mit Urzidils Betrachtung der Natur, die nicht nur ein reales Phänomen, sondern auch eine philosophische Kategorie darstellt (Urzidil 1969: 53). Kratochvíls bevorzugte Schauplätze sind hingegen Hollars väterliches Haus und der öffentliche Raum des Altstädter Rings. Solche Schauplätze entsprechen dem jeweiligen Lebensalter des Protagonisten und seiner sozialen Situation. Auch Kratochvíls Hollar nimmt die Natur intensiv wahr, aber er ist ihr nie existenziell ausgeliefert. Die Natur, in der er Skizzen für seine Kupferstiche macht, besucht er als Beobachter. Das, was ihn anspricht, ist die Symbiose von Natur und menschlicher Arbeit (Kratochvíl 170: 41). Hollar fühlt in der Erzählung die Nähe Gottes, dieser ist präsent in seinem Leben und in seinem Gespräch mit Bohumír. Aussagekräftig erscheint schon die Tatsache, dass Urzidil dasjenige Schlüsselerlebnis, das Hollars sittlichen Werdegang abschließt, in ein Kloster verlegt. Der Leitstern im sittlichen All dieses Menschen, dessen Seele schlichte menschliche Weisheit erschließt, wird von nun an einer der wichtigsten christlichen Werte, die Demut, sein. Kratochvíls Hollar fühlt die Nähe Gottes nicht. Dies soll jedoch keineswegs bedeuten, dass er für das Transzendentale völlig unempfindlich wäre. Beim Anblick der schönen Rheinlandschaft ist er so gerührt, dass er sogar betet. Er ist sich aber nicht sicher, wem sein Gebet eigentlich gelten sollte, bis ihm klar wird, dass er zum Leben betet (Kratochvíl 1970: 41). Das Leben ist die höchste Größe, auf die er sich beziehen kann. Dadurch nähert der Kratochvilsche Hollar sich eher einem modernen Menschen, der weltanschaulich nicht fest verankert ist. Als er in England im puritanischen Gefängnis erfährt, dass er durch Lösegeldzahlungen vor einer drohenden Hinrichtung gerettet worden ist, fühlt er zwar große Erleichterung, sein Rechtsempfinden ist aber erschüttert (Kratochvíl 1970: 235). Bei der Audienz bei Kaiser Ferdinand, der für die Exekution auf dem Altstädter Ring verantwortlich ist, zeigt Hollar Mut und Zivilcourage, als er entgegen dem Protokoll die Hand des Kaisers nicht küsst (Kratochvíl 1970: 46ff.). Der Aufforderung von Lord Arundel, ein Bild des Kaisers anzufertigen, weicht er aus (Kratochvíl 1970: 46).13 So nähert er sich einem Dissidenten, der seine Kunst nicht zur Glorifizierung von ungerechter Macht einsetzen will. 13 Bei seinem Besuch in Prag bezeichnet Hollar im Gespräch mit seinem toten Vater die Tatsache, dass er die Entscheidung über seine Laufbahn selbst und gegen den Widerstand des Vaters getroffen hat, als den ersten Grund für seine Zufriedenheit (Kratochvíl 1970: 71). Die Freiheit, nach seinem eigenen Willen zu leben – das heißt, auf den Menschen übertragen, seine eigene Entscheidung zu treffen –, die das Kind bei der Katze Maura bewundert hat, ist zum wichtigsten Wert für den Erwachsenen geworden. Die Betonung der eigenen
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Aufschlussreich ist ferner die Begründung der Hollarschen Präzision, die beide Autoren als prägendes Merkmal seiner künstlerischen Arbeit ansehen. In beiden Texten bildet die enge Verknüpfung von Arbeit und Leben die gleichwohl unterschiedlich weltanschaulich motivierte Grundlage für seine Genauigkeit: Exactissime, darauf kam es an, nicht nur für Auge und Hand, sondern vor allem für das Herz. Ein genaues Herz haben, das nichts geringachtet und im Rhythmus der Dinge schlägt, den großen Gedanken der Schöpfung noch einmal denkt. nicht ihn erspintisiert, sondern aus dem Herzen denkt (Urzidil 1962: 128).
Dies sind die Gedanken Václav Hollars, als er bei dem Besuch Prags mit Lord Arundel das Bild seiner Geburtsstadt festzuhalten versucht. Das dem christlichen Vokabular entliehene Substantiv der „Schöpfung“ signalisiert, dass sich Hollar auch als Künstler vor allem Gott verpflichtet fühlt. Das Verb „geringachten“ entspricht wiederum der Demut, zu der sich Hollar schon bei seinem Besuch im Kloster bekannte. In Kratochvíls Roman ist Hollar bei seiner Arbeit auch deshalb so genau, weil er von der Bedeutung dieser Arbeit für die Erkundung des Lebens überzeugt ist. někdy se mu totiž zdá, že by mohl přesným zakreslením jediného chlupu třeba králičí srsti odkrýt smysl architektonické stavby všeho živého – (Kratochvíl 1970: 224) [manchmal glaubt er durch genaues Verorten, sei es zum Beispiel nur eines einer Kaninchenhaardecke entwachsenden Haars, in den Sinn des architektonischen Baues von allem Lebendigen hineindringen zu können –]
Das Verb „hineindringen“ entspricht einem dem Entdeckungsgeist der Renaissance gemäßen Durst nach Wissen, der auch dem modernen Menschen eigen ist. Dem „großen Mahner“ (Urzidil 1962: 138) lauscht der von seinen Gläubigern und Schmerzen Geplagte bei Urzidil vor seinem Tod. Im Roman spricht der Sterbende in Gedanken mit seinem toten Sohn (Kratochvíl 1970: 287). Die Nähe Gottes ist aber in Urzidils Erzählung auch an der begrifflichen Kategorie der Wahrnehmung zu erkennen. So wird z. B. der schöne Morgen14 bei der Mainüberquerung als „Herrlichkeit des Morgens“ bezeichnet freien Entscheidung erinnert auch an den Existenzialismus, dem sich Kratochvíl nach Josef Hrabák (1979: 54) schon in seinem in der Zeit der nazistischen Besatzung entstandenen Roman Osamělý rváč [Der einsame Raufbold] (1955) näherte. 14 Dadurch, dass Hollar an diesem Morgen fühlt, dass sich an der Lust des Lebens auch Wasserpflanzen und ein Storchzug beteiligen (Urzidil 1962: 120), erhält sein geistiges Profil etwas fast Franziskanisches, das sich den Ansichten des Humanisten und Theologen Albert Schweitzer nähert.
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(Urzidil 1962: 120). Hollars Kirchenbesuche sind so wichtig, dass sie in einer nicht besonders langen Erzählung dreimal erwähnt werden. Explizit genannt werden auch die sakralen Kunstwerke, die er dort sieht und die seine Seele ansprechen und seine Erlebnisse pointieren. Nachdem er seinen Initiationsweg durchlaufen hat, erschallt in Erwin von Steinbachs Münster in Straßburg vom Gerichtspfeiler15 der Posaunenengel (Urzidil 1962: 126). Bei seinem Besuch in Prag mit Lord Arundel gehört ein neues Holzrelief16 in St. Veit zu den Neuigkeiten der stark veränderten Stadt, die Hollar zur Kenntnis nimmt (Urzidil 1962: 127). Dieses Holzrelief trägt aber einen weltlichen Charakter, und es spricht in Hollar einen aufmerksamen Beobachter von geschichtlichen Umstürzen, nicht den gläubigen Menschen an. Kratochvíl führt hingegen Kunstwerke mit religiöser Thematik nur selten ein und wenn, dann betont er ihren weltlichen Charakter. Johannes Urzidil hat immer im Spannungsfeld der Politik gelebt, deshalb ist es interessant zu beobachten, auf welche Weise er seinen Protagonisten die Politik seiner Zeit erleben lässt. Sein Hollar ist kein politischer Emigrant, er hat die Heimat aus Sehnsucht nach einem neuen und weiteren Horizont verlassen.17 In den späteren Jahren hat der Künstler jedoch das Schicksal eines Heimatlosen zu tragen. Trotz politischer Zurückhaltung nimmt sein Protagonist die Politik der Zeit wahr. Hollars Kupferstich, auf dem die Menschenansammlung auf dem Stadtplatz zu Antwerpen anlässlich der Friedenserklärung abgebildet ist, führt Urzidil nicht nur als ein Beispiel von Hollars Fähigkeit an, die Atmosphäre des Augenblicks im Werk einzufangen, sondern sein Hollar ist unmittelbarer Zeuge, der die Bedeutung und Tragweite dieses historischen Ereignisses versteht. Die dichte atemlose Stille auf dem Stadtplatz zu Antverpen, als an einem Junimorgen dort endlich der Friede zwischen Spanien und den Niederlanden verkündet wurde, man fühlt sie aus Hollars Blatt, er war ein Teil der Menge. O pace, pace! Ein kleines Volk hatte hier zurecht bestanden im Kampf mit einer königlichen Weltmacht. Und er durfte sagen, er sei dabeigewesen. (Urzidil 1962: 130)
15 Das Gericht stellt eines der biblischen Grundkonzepte dar, das das Alte und Neue Testament auf vielen Ebenen durchzieht. 16 Dieses Holzrelief erwähnt Urzidil auch am Anfang der Predella seines Prager Triptychon (Urzidil 1963: 7), in der es ihm als Ausgangspunkt für die Schilderung der Atmosphäre Prags, dem, so der zweite Titel der Erzählung, Relief der Stadt, dient. 17 Auf Hollars Emigrantenschicksal hat Urzidil insbesondere in der englischen, gekürzten und stark überarbeiteten Fassung seines Hollar-Buches Wert gelegt, wie schon der Titel zeigt: Hollar. A Czech Emigré in England (1942). S. auch den Beitrag von Ralph Melville in diesem Band.
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Man fühlt, dass dieser Satz in einem inneren Zusammenhang zu Hollars Verwunderung darüber steht, dass Prag in „Germanien“ liege (Urzidil 1962: 128). Bei Kratochvíl, der Hunger und Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges thematisiert, ist Hollar vor allem ein politischer Emigrant.18 Die Exekution der Anführer des böhmischen Aufstandes vertreibt ihn aus seiner Heimat. Politische Umstürze in England kann er nur als Echos der Prager Ereignisse wahrnehmen (Kratochvíl 1970: 176). Mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der Politik hängt auch Hollars jeweilige Beziehung zu Böhmen zusammen. Bevor dem Leser Hollars Identität verraten wird, führt ihn Urzidil in Frankfurt als einen Fremden ein und nennt dann erst seinen Namen in einer für ihn charakteristischen Reihenfolge: Hollar ist Böhme, Prager und Tscheche (Urzidil 1962: 103). Hollars Prager Lehrer, auch ein Zugezogener, hat ihm einen Rat gegeben: „Aber die Weite, das ist das wahre Leben. Da begreift man erst auch die Heimat.“ (Urzidil 1962: 105) Das Verlassen der Heimat bedeutet nicht den Abschied von der Heimat, sondern ihre letzte Erkenntnis und ihre Verinnerlichung. Über Hollars Beziehung zu seinen Heimaten Böhmen und Prag erfährt man aber eigentlich nur wenig. Wir erfahren auch nicht, was Hollars Heimat bedeutet und wie sie beschaffen ist. Die Heimat ist abstrakt, ein Bereich in der menschlichen Seele,19 vielleicht ihr Anker, der nicht näher beleuchtet oder gar analysiert wird. Kratochvíls Hollar ist mit seiner Heimat geradezu verwachsen, aber diese seine Heimat trägt nicht die abstrakte Bezeichnung Heimat, sondern sie heißt Prag, das für Hollar „věčný domov živé lásky“ [ewige Heimat seiner lebendigen Liebe] (Kratochvíl 1970: 213) darstellt, und Böhmen, und sie besitzt die 18 Bezeichnet der tschechische Schriftsteller Václav Kaplický (1955: 317) Kratochvíls Roman Osamělý rváč als ein „nad jiné průkazný dokument o zmatku, nejasnostech i osamělosti jisté části naší inteligence v době Mnichova a brzy po něm.“ [äußerst unmissverständliches Dokument der Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Einsamkeit eines gewissen Teils unserer Intelligenz in der Zeit der Krise um das Münchner Abkommen und kurz danach.], so kann man sagen, dass es Kratochvíl gelungen ist, mit seinem im Jahre 1969 abgeschlossenen Roman über Václav Hollar ein literarisches Werk zu erschaffen, in das in der schwierigen Zeit nach der Niederschlagung des Prager Frühlings von 1968 viele Tschechen ihre politischen Ansichten und Stimmungen hineininterpretieren konnten. Miloš V. Kratochvíl selbst ist eine wichtige Persönlichkeit des tschechoslowakischen kulturellen Lebens geblieben und im Jahre 1974 wurde er sogar mit dem Ehrentitel Nationalkünstler ausgezeichnet. 19 Die Wechselbeziehungen zwischen der menschlichen Sehnsucht nach der Heimat und nach der Ferne beleuchtet Urzidil in dem Essay Heimat, in dem er schreibt: „Was ist Odysseus in der Heimat? Nur in der Ferne ist er Odysseus, nur aus der Ferne ist die Heimat ihm Heimat.“ (Urzidil 1941: 3) Hier stellt er auch fest, was für ihn die Heimat ist – ein Traum.
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geradezu körperlich sinnliche Gestalt von Prager Häusern, Höfen, Moldauufern und Weinbergen (Kratochvíl 1970: 213). Diese Beziehung stützt sich vor allem auf die Erinnerung an die Kindheit und an alles, was diese Kindheit begleitet hat. Das Panorama Prags, an dem er seine Gestaltungs- und Zeichnerqualitäten zu Anfang seiner Laufbahn erprobte, hat Hollars künstlerisches Sehen geprägt und er trägt dieses Bild als eine Art Maß in sich (Kratochvíl 1970: 136). Seine tschechische Identität erscheint dabei als offenkundig. Für Lord Arundel, seinen Gönner und Auftraggeber, der seine Kunst und Persönlichkeit aufmerksam betrachtet, besitzt Hollars Wesen etwas Bäuerliches und Hussitisches (Kratochvíl 1970: 133). Hollar stellt nach Kratochvíl einen mit seinem Volk verbundenen Intellektuellen dar, der die Traditionen20 dieses Volkes verkörpert. Hartmut Binder (1996: 50) greift das von Urzidil häufig verwendete Goethe-Wort auf und nennt Urzidil „einen Meister der exakten Phantasie“ und beim Lesen der Erzählung Das Elefantenblatt kann man diese beiden Fähigkeiten des Erzählers aus Prag bewundern. Bei der Konstruktion von Hollars Erlebnissen zeigt er sich als ein Erzähler mit reicher Phantasie und mit viel Sinn für das Spiel des Zufalls. Bei der Darstellung von Hollars späteren Jahren zeichnet er den Lebensweg genau nach und kommentiert lakonisch-kritisch,21 ohne zu psychologisieren. Eine besondere Rolle spielen dabei Aussagen von Menschen, denen der Kupferstecher begegnet ist, und Inschriften, mit denen er seine Werke versah. Urzidils Sprache ist sachlich, manchmal verdichtet er komplizierte Sachverhalte in abstrakten Formulierungen oder verwendet Metaphern. Durch Naturmetaphern nimmt sein Protagonist vor allem den weiblichen Körper
20 In seinem Schaffen nach 1945 wandte sich Kratochvíl dem Hussitentum zu, was mit den gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhing. „Leč skutečný život, s počátečním datem r. 1945, poučil autora, o jiném a ukázal mu cestu od Ruswormů a Václavů IV. k Husům, Žižkům, Želivským a husitskému lidu“ [Das wirkliche mit dem Anfangsdatum 1945 beginnende Leben hat den Autor jedoch eines besseren belehrt und seine Aufmerksamkeit von den Russworms und Wenzels IV. auf die historischen Figuren vom Schlag eines Hus, Žižka oder Želivský und auf das hussitische Volk umorientiert.] (Kaplický 1955: 314). 21 Dass dieser kritische Ton seine Wurzeln möglicherweise schon in Urzidils Kindheit hat, bemerkt Gerhard Trapp (2008: 192): „Der Vater Joseph selbst, auch er den Musen zugetan, versorgte das Kind mit Goethe-Gedichten, wenn er ihm nicht gerade aus Wielands Abderiten vorlas, eine recht ungewöhnliche Lektüre für ein Kind, bei der der kleine Johannes erstmals mit einer kritisch-satirischen Erzählweise in Berührung kam, die er später selbst auf seine Art kultivierte.“
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wahr (Urzidil 1962: 122). Gelegentlich lässt es sich der Goethe-Kenner Urzidil nicht entgehen, ein Goethe-Zitat22 einzubinden. Kratochvíl denkt die historischen Quellen weiter, sein Roman nähert sich eher der Dokumentarliteratur (Hrabák 1979: 40), weil er auf dem Boden des Wahrscheinlichen bleibt. Hollars Persönlichkeit analysiert er psychologisch und erzählt mit vielen Rückblenden, was die Rekurrenz der wichtigsten Motive23 bewirkt. Oft fließt in seine Analyse ein starkes Gefühlspathos ein, das sich sprachlich in der Verwendung von einigen eher in der Lyrik geläufigen stilistischen Mitteln manifestiert, was ein prägendes Merkmal seiner Schreibweise darstellt, die sich dem Erzählstil von Vladislav Vančura nähert (Hrabák 1979: 209). Warum Hollar in der Erzählung und im Roman gerade so und nicht anders gestaltet wurde, ist schwer zu sagen, eines steht aber fest. Der jeweilige Hollar teilt manches mit seinem Verfasser. Kratochvíl, der aus einer protestantischen tschechisch-patriotischen Familie stammt, verleiht seinem Protagonisten eine große Liebe zu den Tschechen und einen ausgeprägten Sinn für tschechische Geschichte, wobei er die hussitische Tradition und das nationale Trauma der Schlacht auf dem Weißen Berg betont. Seine Erinnerungen an die eigene glückliche Kindheit sowie die Erfahrungen des Autors von Büchern für junge Leser trugen sicher dazu bei, dass auch für Hollar die Kindheit so wichtig erscheint. Dem entspricht die Verknüpfung des ersten prägenden Erlebnisses mit einer Katze, einem Haustier, das sogar einem Kleinkind vertraut ist. Urzidil, der fast die Hälfte seines Lebens in der Emigration verbracht hat, betont bei seinem Hollar das Weltoffene und er entscheidet sich deshalb für ein exotisches Tier. Die Elefantin Trompette und ihr Wärter Bohumír tragen in Hollars mitteleuropäische Lebensumwelt die weite Welt hinein, wodurch Hollar, den Urzidil (1936) den ‚Kupferstecher des Barock‘ nennt, eine Erfah-
22 Die Bezeichnung „Erwins Münster“ für das Straßburger Münster (Urzidil 1962: 126) entstammt Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1733). Hollars Teilnahme am niederländischen Unabhängigkeitskampf gegen Spanien kommentiert Urzidil mit den Worten „er durfte sagen, er sei dabeigewesen“ (Urzidil 1962: 130), mit denen Goethe in seiner Schrift Campagne in Frankreich (1822) seine Anwesenheit bei der Kanonade von Valmy kom mentiert. 23 Am wichtigsten ist wohl das Motiv des Todes, das den ganzen Text durchzieht. So hat der Roman wenigstens drei Interpretationsebenen. Erstens ist es eine Biographie Hollars, zweitens die Geschichte eines politischen Emigranten und drittens eine Auseinandersetzung mit dem Tod. Bei Urzidil fehlt diese Auseinandersetzung völlig. Sein Hollar ist nicht über den Tod, sondern darüber besorgt, dass er die Begräbniskosten nicht tragen kann (Urzidil 1962: 138).
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rung gewinnt, die für den Menschen der Barockzeit prägend24 war und die auch in Hollars Werk25 zu sehen ist. Seinem Kupferstecher hat Urzidil seinen Glauben an Gott, seine Achtung vor dem christlichen Wertekanon und manch eine Eigenschaft gegeben, die mehrere von seinen Figuren mit ihrem Verfasser teilen. Wenn man in der Erzählung z. B. liest, dass in der Selbsterkenntnis der letzte Sinn der Darstellung von allen Dingen der Welt liegt (Urzidil 1962: 133), erinnert man sich an die gegenseitige Verbundenheit von Mensch und Ding,26 die einen Grundstein von Urzidils Weltwahrnehmung bildet. Hollars Fähigkeit, die Schönheit des Lebens zu sehen, unterstreichen beide Autoren übereinstimmend, unterschiedlich ist aber, auf welche Eigenschaft des Lebens es dem jeweiligen Hollar ankommt. In Kratochvíls Roman nimmt er am intensivsten den architektonischen Bau des Lebens und die feinen Unterschiede in seiner Struktur wahr (Kratochvíl 1970: 94), in Urzidils Erzählung ist es die permanente Verwandlung des Lebens und die Bewegung aller Dinge (Urzidil 1962: 137).
24 In seiner Arbeit České baroko bezeichnet der tschechische Historiker Zdeněk Kalista die Entdeckungsfahrten des 15. und 16. Jahrhunderts als das auslösende Moment für die Entstehung des Grunderlebnisses der Barockzeit: „Zámořské cesty, jejich atmosféra vyvolává cosi, co můžeme právem nazvati základním zážitkem baroka: pocit přiblížení se Bohu skrz tento svět.“ [Die Entdeckungsfahrten, ihre Atmosphäre, lösen etwas aus, was man mit Fug und Recht als das Grunderlebnis der Barockzeit bezeichnen kann: das Gefühl der Annäherung an Gott durch diese Welt.] (Kalista 1941: 9) Er zeigt auch, wie diese Entdeckungsfahrten das geistige Klima verändert haben, in dem sich der Alltag der Menschen dieser Zeit abspielte: „Člověk současný přestává žíti jen tomu, co vidí, co jej bezprostředně obklopuje, v jeho mysli uplatňují se daleko více než dříve živly fantaskní, jistý neklid ovládá společnost, dosud zvyklou žíti - v duchu těch kupeckých republik italských a nizozemských“ (Kalista 1941: 9). [Der zeitgenössische Mensch lebt immer weniger für das, was er sieht und was ihn umgibt, viel mehr als früher verschaffen sich auch phantastische Elemente Eintritt in sein Gemüt, eine gewisse Unruhe beherrscht die Gesellschaft, die vorher gewöhnt war in einem von italienischen und niederländischen Kaufmannsrepubliken vorgeprägten Geist zu leben] 25 „Und indem Hollar seiner Heimat die Treue hält, versammelt er doch die ganze Welt um sich, China, Indien, Afrika, sogar Amerika berührt seine Kunst […].“ (Urzidil 1971: 53) 26 Doktor Canetti aus dem Roman Das Große Halleluja entdeckt sogar einen neuen Grund zum Leben, als er die Freude einer genesenen Patientin über das Wiedersehen mit ihren Dingen sieht, die jetzt, als sie wieder da ist, wieder einen Sinn haben: „Der Mensch ist – unter anderem – auch dazu da, damit die Dinge einen Sinn haben.“ (Urzidil 1959: 262)
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Jindra Broukalová
Literatur
Binder, Hartmut (1996): Ein Meister der exakten Phantasie. Vor hundert Jahren geboren: Johannes Urzidil – Erinnerung an einen Schriftsteller aus dem alten Prag. – In: Stuttgarter Zeitung (13.04.), 50. Holl, Oskar (1982): Nachwort. – In: Urzidil, Johannes, Die verlorene Geliebte. Erzählungen. Frankfurt/M.: Ullstein, 205-216. Hrabák, Josef (1979): Miloš V. Kratochvíl. Praha: Československý spisovatel. Hrabák, Josef (1985), Nachwort. – In: Kratochvíl, Miloš V. (1985), Dobrá kočka, která nemlsá [Eine gute Katze, die nicht nascht]. Praha: Československý spisovatel, 247250. Johann, Klaus (2008): Existieren in Widersprüchen: Die ‚Inkonsequenz‘ als „wahrheitsgetreueres Bild des Lebens“. Zu Johannes Urzidils (auto)biographischer Skizze ‚Väterliches aus Prag‘ (1968), mit einem kleinen Exkurs über Urzidil und Franz Kafka. – In: Germanoslavica 19/2, 1-18. Kalista, Zdeněk (1941): České baroko [Böhmischer Barock]. Praha: ELK Kaplický, Václav (1955): Osamělý rváč [Der einsame Raufbold]. – In: Kratochvíl, Miloš V. (Hg.), Osamělý rváč [Der einsame Raufbold]. Praha: Československý spisovatel. 315-317. Kratochvíl, Miloš V. (1955): Osamělý rváč [Der einsame Raufbold]. Praha: Československý spisovatel Kratochvíl, Miloš V. (1970): Dobrá kočka, která nemlsá [Eine gute Katze, die nicht nascht]. Wenceslaus Hollar Bohemus. Praha: Československý spisovatel Marcus Aurelius Antonius (1969): Hovory k sobě [Selbstbetrachtungen]. Praha: Svoboda. Nyman, Alf (1966): Die Schulen der neueren Psychologie. Bern, Stuttgart: Huber. Trapp, Gerhard (2008): Johannes Urzidil: Ein Prager auf den Spuren Goethes. – In: Tvrdík, Milan/Stašková, Alice (Hgg.), Goethe dnes/Goethe heute. Červený Kostelec: Pavel Mervart. 191-208 [tschechisch 209-225]. Urzidil, Johannes (1941): Heimat. – In: Die Zeitung. Londoner deutsches Wochenblatt (12.11.1941), 3. Urzidil, Johannes (1959): Das Große Halleluja. München: Langen Müller. Urzidil, Johannes (1962): Das Elefantenblatt. Erzählungen. München: Langen Müller. Urzidil, Johannes (1963): Prager Triptychon. Roman. München: dtv. Urzidil, Johannes (1969): Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York. Zürich: Artemis.
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Urzidil, Johannes (1971): Wenzeslaus Hollar. – In: Neue Zürcher Zeitung (05.12.), Fernausgabe, 53. Urzidil, Johannes (1982): Die verlorene Geliebte. Erzählungen. Nachwort v. Oskar Holl. Frankfurt/M.: Ullstein.
Jana Mikota
Der Blick auf New York: Heimat oder Fremde? Johannes Urzidils Das Große Halleluja im Kontext der deutschsprachigen New Yorker Exilliteratur
1. Vorbemerkungen
New York gehört zu jenen Städten, die in unterschiedlichster Art in Literatur, Kunst und Film verarbeitet wurden und werden. Die Widersprüche der Stadt werden ebenso aufgenommen wie die Architektur: Das faszinierend-schöne New York steht hier neben dem Bild der Ausgeburt der Unterwelt oder dem Sündenbabel. Auch die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die nach 1933 vorübergehend oder längerfristig eine Heimat in New York fanden, beteiligten sich an diesem Diskurs. Eines Morgens – hatte man überhaupt noch daran geglaubt? – standen die Konturen der Wolkenkratzer im Grau, und vom Nebel verschönt, hob die Freiheitsstatue den Arm. Wenn uns einen Augenblick auf dieser Reise feierlich zumute war, so damals. Wir ahnten etwas: New York. (Mann/Mann 1996: 11)
Mit diesen Worten beschreiben Erika und Klaus Mann ihren ersten Blick auf New York in Rundherum. Abenteuer einer Weltreise (1929) und nehmen bereits die wichtigsten Topoi vorweg, die sich später auch in der Exilliteratur finden: Die Wolkenkratzer und die Freiheitsstatue. Aus ihren Worten klingt eine Begeisterung, die sicherlich nicht alle teilten. Ende der 1930er Jahre wurde New York dann für zahlreiche Intellektuelle die letzte Zufluchtsstätte, die sie – so etwa der Protagonist in Erich Maria Remarques Roman Schatten im Paradies (1971)1 – nach der Besetzung Frankreichs noch erreichen konnten. 1 Der Roman ist erst nach Remarques Tod 1971 im Droemer-Verlag in einer vom Autor selbst nicht autorisierten Fassung mit dem Titel Schatten im Paradies erschienen. Seine Erbin Paulette Goddard sowie sein Agent Felix Guggenheim gaben den Roman an Droemer weiter. Der Arbeitstitel des Romans war Das gelobte Land, was aus den Aufzeichnungen Remarques hervorgeht.
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Die neue Welt wurde, so zeigen es Biografien, aber vor allem die literarischen Zeugnisse, unterschiedlich aufgenommen. Nicht immer war New York das erhoffte Ziel einer langen Reise oder der Beginn einer „verheißungsvollen Zukunft“ (Winkler 1989: 1367), sondern vielen galt die Stadt als ein Ort der Verbannung weit weg von der eigentlichen Heimat, nämlich Europa. Die Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der europäischen Lebensart, das Zurechtfinden im Exil ‚am Ende der Welt‘ und die Einsamkeit im Exil sind die wichtigsten Themenfelder der Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die unterschiedlich besetzt werden. Doch zugleich geht es im folgenden Beitrag auch um den Blick auf die (verlorene) Heimat. Frauen und Männer erleben den Verlust unterschiedlich und können auch das Ankommen in einem neuen Land anders beschreiben. Eines aber unterscheidet ihn grundsätzlich von den meisten aus Hitlers Europa geflüchteten Autoren: nämlich, daß er sich tief auf die Natur und die Geschichte, die Menschen, die Sitten und Denkgepflogenheiten, kurz auf die Kultur des Gastlandes eingelassen hat. (Schwarz 1985: 223)
Mit solchen Worten hebt der Germanist Egon Schwarz, selbst Exilant (Schwarz 2005), in seinem Aufsatz Urzidil und Amerika die Bedeutung Urzidils innerhalb der Exilliteratur hervor (s. a. Grünzweig 1999, Popp 2008: 137-157). Es ist vor allem die Stadt New York, die im folgenden im Mittelpunkt stehen soll. Räume und Orte spielen in literarischen Texten eine wichtige Rolle. Die Figuren bzw. der Erzähler schildern die Raumeindrücke oder die Wahrnehmung des Raumes, Räume können zudem die Emotionen oder Handlungen widerspiegeln und Figuren reagieren auf den Raum. Der erzählte Raum kann also Handlungen, Themen oder Figurenkonstellationen strukturieren und als „Bedeutungsträger fungieren“ (Nünning 2008: 605). Räume in der Literatur sind somit fiktional und konstruiert, und doch lassen sich in der Darstellung der Stadt New York Gemeinsamkeiten finden, die sowohl von Schriftstellerinnen als auch von Schriftstellern aufgenommen werden. Räume werden jedoch nicht nur als Kulisse benutzt, sondern tragen auch zum Erzählen bei und strukturieren die Handlung. Literatur nutzt also den Raum, um die Geschichte zu entfalten, zugleich entsteht sie in einem Raum – und zwar kulturell, sozial, genderspezifisch oder historisch. Damit bekommen Räume weitere Bedeutungen und zugleich können sie sich wandeln, je nach dem Kontext, in dem die Texte entstanden sind, und wie der dort entworfene Raum gedeutet wurde. Das Exil machte die Schriftsteller und Schriftstellerinnen heimat- und sprachlos. (Urzidil 1945, 1946) Ihr Leben fand an öffentlichen Orten statt, der private Raum verschwand. Sie arbeiteten in Cafés oder Hotelzimmern und
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waren ständig auf der Flucht. Ihnen fehlte mitunter die Ruhe oder der Raum zum Schreiben. Der folgende Beitrag fragt nach der Darstellung der USA in Urzidils einzigem Roman Das Große Halleluja (1959) und vergleicht ihn mit drei weiteren Romanen, nämlich Schatten im Paradies (1971) von Erich Maria Remarque, Oskar Maria Grafs Die Flucht ins Mittelmäßige (1959) sowie Ein Fenster am East River (1945) von Adrienne Thomas. Alle drei Romane werfen einen unterschiedlichen Blick auf New York und die USA und stehen somit exemplarisch für zwei Tendenzen: (1) USA als neue Heimat; (2) Sehnsucht nach Europa, der Blick zurück verbunden mit einer Rückkehr. Ausgewählt wurden zudem drei Autoren und eine Autorin, die New York entweder als eine bzw. als letzte Station vor der Rückkehr nach Europa oder aber als letzen Wohnsitz betrachteten. Alle hier vorgestellten Autoren gehören einer Generation an und blicken doch sehr unterschiedlich auf die USA: Johannes Urzidil ist Jahrgang 1896, Oskar Maria Graf 1894, Erich Maria Remarque 1898 und Adrienne Thomas 1897. Zugleich bringen sie unterschiedliche Erfahrungen mit dem literarischen Betrieb mit: Während Erich Maria Remarque bereits in den 1920er Jahren ein Weltbestsellerautor und Johannes Urzidil zumindest in Prag relativ bekannt war, standen Adrienne Thomas und Oskar Maria Graf, der 1927 mit seinem autobiografischen Werk Wir sind Gefangene einen ersten Erfolg feierte, noch am Beginn oder im Falle von Adrienne Thomas vor ihrer schriftstellerischen Karriere, die die nationalsozialistische Machtergreifung unterbrochen, wenn nicht gar zerstört hat. Nichtsdestotrotz lässt sich mit dem Blick auf männliches und weibliches Exil im Falle der hier vorgestellten Schriftsteller nicht konstatieren, dass Autorinnen der neuen Heimat gegenüber offener waren als Autoren oder umgekehrt. Der Beitrag fasst den Bereich der Exilliteratur weit, denn das Exil hörte für die Schriftsteller und Schriftstellerinnen nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und damit auch nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus auf.
2. „Anna liebte New York“: Der Blick der Exilanten auf die Stadt In der Forschung wird immer wieder hervorgehoben, dass das Verhältnis der Flüchtlinge zu ihrer neuen Umwelt, nämlich New York bzw. den USA,
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schwierig ist. Michael Winkler (1989: 1367-1384) schreibt in seinem Aufsatz Die Großstadt New York als Thema der deutschsprachigen Exilliteratur, dass den Exilantendas Leben in den USA unbekannt ist. Hinzu kommt noch, dass es kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt und so die Schriftsteller von den Hilfskomitees abhängig sind. Auch Urzidil verdankte seine erste Buchveröffentlichung in den USA, nämlich die Erzählung Der Trauermantel (1945), der Organisation Writers Service Center von Friderike Maria Zweig (1985: 211). Kontakte zu den Einheimischen werden durch Sprachprobleme erschwert. Tatsächlich scheint es so, dass die meisten Exilanten unter ihresgleichen verkehren. Das alte Europa bzw. Gespräche über Europa, europäische Kultur und Lebensart prägen das Leben der Exilanten in den USA und werden auch, wie zumindest an Remarques Roman noch gezeigt wird, literarisch umgesetzt. Tatsächlich dominiert auch in den meisten Exilromanen, die in New York angesiedelt sind, die Exilerfahrung. Und selbst dort, wo etwa wie in Lisas Zimmer (1965) von Hilde Spiel junge Frauen in die USA kommen und dort auch Kontakte mit der neuen Welt knüpfen, ist die Sehnsucht nach Europa vorhanden. Hilde Spiel zeigt besonders eindrucksvoll, dass vor allem die ältere Generation im Exils der alten Heimat nachtrauert und sich nur schwer der neuen Heimat annähert. Die jüngeren Leute scheinen dagegen weniger Probleme zu haben. Erich Maria Remarque nimmt in seinem Roman Schatten im Paradies die Figur des Journalisten Robert Ross wieder auf, der bereits in Die Nacht von Lissabon (1962) das europäische Exilschicksal teilte. Damit stellt Remarque das Schicksal eines Exilanten in den Mittelpunkt der Handlung. Bereits der Anfang deutet an, dass sich der Held der Geschichte nach der alten Heimat sehnt: Das Ende des letzten Krieges erlebte ich in New York. Die Gegend um die 57. Straße war mir, dem Heimatlosen, der die Sprache dieses Landes nur sehr mangelhaft beherrschte, fast zu einer neuen Heimat geworden. (Remarque 2004: 9)
New York ist eine Zwischenstation von vielen Orten, die Stadt wird nicht als ein neues Zuhause wahrgenommen. Auch der Held bewegt sich fast ausschließlich in Exilkreisen und sein Leben ist trotz einer neuen Liebe und einer neuen Arbeit von Einsamkeit und Sehnsucht geprägt. Er spricht wenig Englisch, und New York erscheint ihm wie ein anderer Planet (Remarque 2004: 11), der jedoch zugleich auch seine Rettung bedeutet. Damit wird New York zu der letzten möglichen Zufluchtstätte und ist kein selbst erwählter Ort. Remarque besetzt die Beschreibungen der Stadt mit den bekannten Mustern: Der Ich-Erzähler streift durch die „anonyme Stadt“ (Remarque 2004: 18), die laut ist. Doch zugleich ist es auch eine Stadt, die von Emigranten erschaffen wurde:
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Aber New York ist der große Einfallshafen der Emigranten, der irischen, italienischen, deutschen, jüdischen, armenischen, russischen und noch einem Dutzend anderer. Wie sagt man bei euch: Hier bist du Mensch, hier darfst du’s sein. Hier bist du Emigrant, hier darfst du’s sein. Dieses Land ist von Emigranten gegründet worden. Wirf also deine europäischen Minderwertigkeitskomplexe ab. Hier bist du wieder Mensch. (Remarque 2004: 21)
Diese Worte richtet ein russischer Einwanderer an Ross, und dennoch findet dieser nicht das Gefühl der Heimat, hängt nach wie vor an Europa und auch an Deutschland. Auch in Exilantenkreisen erinnert man sich an die alte Heimat und kennt die Sorgen der Flüchtlinge. Ross bewegt sich fast ausschließlich in öffentlichen bzw. halböffentlichen Räumen. Auch dies hängt mit der Exilsituation zusammen, denn die privaten Räume der Exilanten sind eingeschränkt und oftmals müssen sie sich die Zimmer teilen. Am Ende des Romans kehrt Ross nach Europa zurück, doch auch dort kann er die alte Heimat nicht wiederfinden: „Als ich nach Europa zurückkam, fand ich eine Welt vor, die ich nicht mehr kannte.“ (Remarque 2004: 492) New York wird zu einem Stimmungs- und Aktionsraum gleichermaßen. Die Einsamkeit und auch die Rastlosigkeit des Exilanten Robert Ross zeigen sich ebenso in seiner Wahrnehmung der Stadt, in der er keine Ruhe findet. Auch sein Zimmer, das er jedoch mit einem weiteren Exilanten teilen muss, ist trostlos und korrespondiert mit seinen Stimmungen: Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer. Mit einem Schwall kam mir die Vergangenheit entgegen, als habe sie auf mich gewartet. Ich warf mich auf mein Bett und starrte in das graue Rechteck des Fensters. (Remarque 2004: 59)
Das Zimmer bedeutet weder ein Zuhause, noch erweckt es positive Gefühle. In solchen Beschreibungen wird die Einsamkeit deutlich, die sich nicht nur im Wandern von einem Ort zum nächsten offenbart, sondern auch in privaten Räumen. Zugleich ist es die Bewegung bzw. die Rastlosigkeit von Ort zu Ort, die Ross hilft, sein Schicksal zu ertragen. Seine Spaziergänge auf der Fifth Avenue fangen nicht den Glanz und den Reichtum auf, sondern beschreiben die Läden „im grauer werdenden Tag“ (Remarque 2004: 325), oder er betrachtet Schaufenster, in denen „Mortadella-Würste“ (Remarque 2004: 324) ‚trauerten‘. Er sucht Trost in den Straßen und findet ihn nicht. Auch hier werden bekannte Bilder New Yorks aufgenommen, und doch transportieren sie ein anderes Bild: Trostlosigkeit und teilweise Dunkelheit. Auch Oskar Maria Grafs Die Flucht ins Mittelmäßige (1959), im selben Jahr wie Urzidils Das Große Halleluja erschienen, nimmt sich der Exil- und der New York-Thematik an. Erneut steht ein Exilant im Mittelpunkt der Handlung, der seit fast zwanzig Jahren in New York lebt:
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Ling lebte nun schon fast zwanzig Jahre in New York und verstand bis jetzt immer noch kaum mehr als einige notwendige englische Redewendungen. Er gab sich auch gar keine Mühe, seine Sprachkenntnisse zu vervollständigen, und außer demjenigen, was ihm gewissermaßen automatisch-mechanisch komfortabel erschien, hatte er auch sonst noch nichts ‚Amerikanisches‘ angenommen. Dadurch kam er natürlich nie vorwärts und weiter. […] Immer noch hauste er in dem gleichen häßlichen, engen Zimmer bei alten schwäbischen Deutschamerikanern, den Emmerless, und immer noch konnte er sich nicht mehr leisten als das billige Essen in einer Cafeteria. (Graf 1976: 8)
Martin Ling, der seit rund zwanzig Jahren in New York lebt, fühlt sich immer noch als Exilant, spricht kaum Englisch und möchte sich nicht anpassen. Graf beschreibt das Leben der Exilanten, die im Deutschenviertel Yorkville und entlang der Park Avenue leben. Es ist eine Enklave, die das Großstadtleben ausschließt. Aber auch Graf wirft einen Blick auf New York, der mit Stereotypen und gängigen Bildern arbeitet: Und in Amerika war auf einmal alles, alles, ganz, ganz anders! Der Wechsel war zu abrupt. Der Gerettete kam nicht zum vollen, freien Aufatmen. Die überlaute, grellbunte, überrumpelnde Menschen- und Häusergigantomie New Yorks bestürzte und irritierte ihn dermaßen, daß er wieder genau dasselbe jähe, brutale Herausgerissensein aus allem Gewohnten und Gemeinsamen empfand wie bei seiner einstigen Flucht aus Deutschland. (Graf 1976: 26)
Die Größe der Stadt lädt nicht dazu ein, sich zu entspannen. Auch Graf nutzt die Beschreibung, um die Rastlosigkeit und Einsamkeit der Menschen darzustellen. In Grafs Roman ist der Protagonist sogar noch nach zwanzig Jahren in New York nicht beheimatet, was sich auch an den mangelnden Sprachkenntnissen zeigt. Graf bleibt bis zu seinem Tod 1967 in den USA, Remarque dagegen pendelte nach 1945 zwischen den USA und Europa. Der Roman Ein Fenster am East River von Adrienne Thomas, 1943/44 geschrieben, kann dagegen als ein Bekenntnis zu den USA gelesen werden, was bereits der Beginn des Romans andeutet: Der Wecker knackte ein wenig. Das hieß, es war sieben Uhr abends. Anna schnitt der Uhr eine Fratze; jeden Abend um die gleiche Stunde brachte einem dieses impertinente Knacken ein Vorgefühl davon, daß man am nächsten Morgen um sieben Uhr aus dem besten Schlaf gerissen werden würde. (Thomas 1948: 5)
Während also Remarques Roman mit der Ankunft in New York beginnt, so zeigt Thomas, dass Anna bereits in New York angekommen ist. Doch nicht nur das: Annas Leben scheint geordnet zu sein, was zumindest das regelmäßige Aufstehen um sieben Uhr morgens andeutet. Anna Martinek, die aus der Tschechoslowakei vor den Nationalsozialisten geflohen ist, hat in New York eine eigene Wohnung sowie eine Arbeitsstelle gefunden und konnte
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schnell Kontakte zu US-Amerikanern knüpfen. Sie hat zwar auch Kontakte zu den Emigrantenkreisen, doch widerspricht sie den Heimwehargumenten ihrer Freunde und bekennt sich offen zu den USA. Die Wohnung ist ihr Zuhause, in der sie auch keine Einsamkeit verspürt. Daher verwundert es auch nicht, dass Adrienne Thomas einen Teil der Handlung in privaten Räumen spielen lässt und so das Heimatgefühl verstärkt. Doch auch in diesem Roman wird mit gängigen Bildern von New York gespielt: New Yorks Wolkenkratzer werden als „grandiose Gebirgswelt aus Menschenhand“ (Thomas 1948: 5) bezeichnet, und Anna meint, die „Zauberschlösser der Märchenbücher“ zu sehen, wenn sie auf die Häuserschluchten blickt. Sie liebt New York trotz der schmerzlichen Erinnerungen an ihre alte Heimat. Denn New York hilft ihr, diese Erinnerungen zu vergessen. Anna findet zudem einen US-amerikanischen Ehemann, der in die Armee einberufen wird. Der Roman endet damit, dass die Alliierten und mit ihnen Annas Mann in Nordfrankreich landen. Sie äußert sich über einen früheren Freund und vergleicht ihn mit ihrem Mann: Er steht für einen Freund ein, aber nicht für eine Sache. Er kennt nur Deutschland und nicht die Welt. Du hast mir zu Anfang unserer Bekanntschaft gesagt, daß du nicht ruhig über deinen Forschungen sitzen könntest, solange es noch Faschismus in der Welt gäbe. Du hast damals gesagt, gegen diese Krankheit kenne man noch kein anderes Penicillin als Tanks und Kampfgeschwader. Heute weiß ich, was du damit gemeint hast. Ich weiß es, und ich will deshalb auch nicht weinen, wenn du morgen fortgehst. Ich bin stolz auf dich. (Thomas 1948: 302)
Der Roman endet mit Annas Versprechen „Hier bleib ich, hier warte ich auf dich“ (Thomas 1948: 302), die also nicht nach Europa zurückzukehren möchte, sondern sich zu ihrer neuen Heimat bekennt. Anna hasst die Deutschen: „Anna hat gelernt, alles zu hassen, was deutsch war. Sie haßte mit der ganzen zähen, langsam sich steigernden Inbrunst der Tschechen.“ (Thomas 1948: 62) Sie blickt nicht melancholisch bzw. nostalgisch nach Europa, sondern sieht in den USA die Möglichkeit, weiter zu leben. Es ist das Land, das von Emigranten urbar gemacht wurde. Adrienne Thomas entwirft den American way of life, dem sich Anna angepasst hat. Anna Martinek glaubt an das Versprechen der amerikanischen Demokratie. Tatsächlich spiegelt der Roman auch das Wohlbefinden der Autorin Adrienne Thomas wider, die gerne in New York geblieben wäre. In einem Brief schreibt sie: „Nach Europa zurückzukehren, wäre mir nicht im Traum eingefallen, wenn ich es nicht um Julla’s Willen hätte tun müssen.“ (zit. n. Gürtler/ Schmid-Bortenschlager 2002: 271) Adrienne Thomas hatte den Sozialdemokraten Julius Deutsch geheiratet und kehrte mit ihm nach Österreich zurück.
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Wichtig ist, dass die verlorene Heimat in Fenster am East River nicht zu einer Projektionsfläche schmerzhafter Erinnerungen wird. Anna versucht, sich in New York einzuleben, und verabschiedet sich von ihrer alten Heimat, in dem sie den früheren Geliebten verlässt und ein neues Leben mit ihrem US-amerikanischen Ehemann beginnt. Alle drei Romane nehmen ähnliche Bilder von New York auf: Es sind die Wolkenkratzer, die Anonymität der Stadt, die Lautstärke und die Hektik auf den Straßen. Doch werden diese Aspekte sehr unterschiedlich verarbeitet. Remarque nutzt den Raum New York, um die Einsamkeit der Exilanten zu zeigen. New York ist nicht Europa, und Ross hadert mit der fremden Welt. Das Ankommen gestaltet sich schwer und die Stadt ist nur eine weitere Durchgangsstation. Sein Ziel ist die Rückkehr nach Europa. Adrienne Thomas dagegen nutzt die Stadt, um ihrer Protagonistin eine neue Heimat zu geben. Das Fremde wird immer vertrauter, was sich u. a. auch in der eigenen Wohnung manifestiert. Anna Martinek lebt nicht mit anderen Exilanten, sondern genießt ein selbstständiges Leben. Obwohl sie auch sehnsuchtsvoll nach Europa blickt, ist sie bereit, sich auf das neue Leben einzulassen. Der American Way of Life wird positiv beschrieben, die Stadt bietet ihr trotz der Größe eine Heimat. Auch die Wolkenkratzer erscheinen ihr nicht bedrohlich, sondern üben eine Faszination aus. Nimmt man den Körper bzw. den Intellekt als Raum, so lässt sich auch hier feststellen, dass es Unterschiede gibt. Zwar verändern sich die Figuren durch das Exil, der Körper leidet unter den Strapazen, doch eine Veränderung, die eine Anpassung an den US-amerikanischen Lebensstil bedeutet, erlebt lediglich Anna Martinek, die sich sowohl geistig als auch körperlich – etwa in Hinblick auf ihre Kleidung – dem neuen Land anpasst. Oder anders gesagt: Mit Anna zeigt Thomas die Anpassung einer Emigrantin. Thomas selbst, die zweisprachig aufgewachsen ist, fühlte sich ebenfalls heimisch und kannte aufgrund ihrer Zweisprachigkeit möglicherweise nicht die enge Bindung an eine Heimat wie andere Autoren.
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3. „Dieses Land war ein gutes Land“: Das Große Halleluja von Johannes Urzidil
Johannes Urzidil kommt 1941 mit seiner Frau Gertrude nach New York. Die Verhältnisse des Ehepaars sind in New York jedoch nur wenig gesichert, was auch im Roman Das Große Halleluja (1959) geschildert wird. Urzidil schreibt für tschechoslowakische Exilzeitungen, was jedoch finanziell nicht ausreicht. Seine Frau Gertrude kann als Babysitterin etwas Geld verdienen. Urzidil beginnt schließlich, als Lederkunsthandwerker zu arbeiten, um so den Lebensunterhalt zu sichern. Doch Urzidil und seine Frau treffen in New York auch andere Exilanten, u. a. auch Mascha Kaléko. Mit dem Maler Maxim Kopf, den er bereits aus Prag kennt, pflegt er ebenfalls Kontakt. Der Maler war mit der Journalistin und engagierten Nazigegnerin Dorothy Thompson verheiratet, die einen Salon in New York und auf ihrer Farm in Vermont führte; diesen portraitiert Urzidil u. a. in seinem einzigen Roman. Seit 1946 waren die Urzidils amerikanische Staatsbürger. Neben Das Große Halleluja, dem ausschließlich in den USA spielenden Erzählungsband Entführung (1964) und der Studie Amerika und die Antike (1964) ist es vor allem die Prosaskizze Handwerkliches aus New York (1969), in der sich Urzidil mit der USA auseinandersetzt. Er möchte nicht ausschließlich von Schicksalen der Exilanten schreiben, sondern auch über das Land, in dem er lebt: Ich will jetzt nicht die vielen Kreuzwege des Exils beschreiben, […]. Das sind emigrantische Trivialitäten und sie gehören zur Kategorie des „unedlen Unglücks“, wie mein alter Freund Max Brod einmal sehr treffend formuliert hatte. (Urzidil 1972: 35)
In Das Große Halleluja erzählt Urzidil von Emigranten und Amerikanern aus den unterschiedlichsten Milieus. Bereits der Anfang unterscheidet sich stark von den Erzähleingängen der Romane von Remarque, Thomas und Graf. Der Erzähler konzentriert sich auf die Landschaft Vermonts, nähert sich ähnlich einem Zoom dem Farmhaus von Ellens Eltern an der Ostküste. Ellen ist die Hauptfigur des Romans und hält die einzelnen Handlungen zusammen. Hier beschwört der Erzähler des Romans das Bild der US-amerikanischen Freiheit. Doch es ist vor allem die harte Arbeit der Farmer, die diese Freiheit erschafft: Die Verdienste jener Farmer um die Freiheit waren beträchtlich. Zusammen mit den übrigen Vermontern hatten sie schon im 1777er Jahr ihren eigenen Freistaat errichtet, des-
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sen Verfassung jedem (ohne Ansehen des Besitztums) das Wahlrecht zuerkannte. (Urzidil 1959: 7)
Mit einem solchen Beginn nimmt der Erzähler des Romans die USA als freies Land auf, das demokratisch konzipiert ist. Mit dem Blick in das ausgehende 18. Jahrhundert deutet er zudem an, dass eine solche Freiheit bereits seit Jahrzehnten besteht. Doch er verweilt nicht in der Vergangenheit, sondern entwirft ein Bild der USA im 20. Jahrhundert. Freiheit wird hier zugleich mit den Werten der Landschaft gleichgesetzt. Doch Urzidil hebt insbesondere hervor, dass die Freiheit vor allem in der Vergangenheit liegt und die Situation sich verändert hat: Wohlan denn: da liegt er, der Baumfäller und Blockwälzer, der alles mit eigenen Händen tat und schuf, […]. Das ist der Ort der rauhen Ureltern der Nation und der Freiheit, fünf Fuß unter dem Boden, zur Erde geworden, mit der sie zeitlebens in Umgang gewesen. Das Erdgetier bricht ein in ihre Kammer, zieht seine Gänge mitten durch ihre Reste und merkt sie gar nicht, so sehr sind sie eins mit dem Allgemeinen, indes die Urenkel fern in den großen Städten Maschinen regieren und von ihnen regiert werden, die wiederum Maschinen erzeugen, und so fortan. (Urzidil 1959: 12)
Der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird anhand der Dichotomie zwischen Land und Stadt entworfen. Die Freiheit der Menschen, insbesondere in den Städten, wird hinterfragt. Der Erzähler deutet immer wieder an, dass Menschen von Lärm, Geld und Maschinen beherrscht werden. Damit beginnt zwar der Roman als „eine monumentale Danksagung“ (Trapp 2000: 473) mit einem stimmungsvollen und positiven Bild der USA, das jedoch nicht konsequent beibehalten wird. Die Handlung des Romans ist komplex, in mehreren Erzähl- und Handlungssträngen werden unterschiedliche Personen vorgestellt, die sich nach und nach in New York treffen, kurz unterhalten und sich dann wieder aus den Augen verlieren. Neben der verschachtelten Handlung entfaltet Urzidil eine ungeheure Fülle von Schauplätzen und Naturbeschreibungen, um so den Lesern ein vielschichtiges Bild der USA anzubieten: Landschaft und Dörfer in Vermont, Salem als Kleinstadt in Massachusetts, eine Ranch im Westen und New York als Großstadt mit Mietshäusern, Privatwohnungen, Schnellrestaurants, Cafés, Untergrundbahnen oder Pensionen. Urzidil nimmt zudem unterschiedliche Berufszweige auf: Ärzte, Krankenschwestern, Börsenmakler, Künstler und Wissenschaftler. Hinzu kommen noch Gangster sowie die ‚kleinen‘ Leute. Somit ist sein Roman weitaus differenzierter als die Romane von Thomas, Graf oder Remarque, die sich weitestgehend auf New York konzentrieren.
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Im Mittelpunkt steht bekanntlich nicht eine Exilantin oder ein Exilant, sondern das US-amerikanische Mädchen Ellen. Damit verzichtet Urzidil darauf, nur das Schicksal eines Exilanten zu entwerfen, sondern zeigt das Leben der US-Amerikaner. Der Roman setzt mit Ellens Geburt in Fenimore ein, bei der die Mutter stirbt. Der fiktive Ort Fenimore ist nach dem zweiten Vornamen James Fenimore Coopers, einer Schlüsselfigur der US-amerikanischen Literatur, (Urzidil 1969: 37f.), benannt. Der weitere Handlungsort in Ellens Biografie ist Salem (Urzidil 1958: 119-123), dessen puritanische Geschichte in dem Roman The Scarlet Letter (1850, dt. Der Scharlachrote Buchstabe) von Nathaniel Hawthorne literarisch verarbeitet wurde; später geht Ellen dann nach New York. Oder anders gesagt: Es ist nicht nur die europäische Literatur, die immer wieder wie in den anderen Exilromanen zitiert bzw. genannt wird und die Urzidil aufnimmt, sondern auch die US-amerikanische (Grünzweig 1999), etwa eines John Dos Passos, sowie die Unterhaltungsliteratur. Tatsächlich nähert sich Urzidil sowohl der US-amerikanischen Lebensart als auch den Regionen und entwirft so ein breites Panorama. Urzidil nutzt die unterschiedlichen Landschaften und Orte, um so die Vielfalt des Landes vorzustellen. Salem wird beispielsweise als eine Stadt eingeführt, in der Altes neben modernen Fabrikgebäuden steht. Der Großstadt New York dagegen eilt der Ruf voraus, eine Stadt voller Verführungen zu sein. Ellen lernt New York auch über die Mode kennen, da sie immer wieder auf New Yorkerinnen trifft. In einem zweiten Handlungsstrang wird eine Verbrecherbande um Sam Bolton vorgestellt, der in New York lebt. Interessant ist in dem Kontext weniger das Verbrechen, sondern v. a. Urzidils Erzählweise, die an den hardboiledKriminalroman der 1940er Jahre erinnert. Bewusst werden zeitgenössische Kriminalromanhelden wie Ellery Queen, Perry Mason oder Mike Hammer (Urzidil 1959: 51) genannt, wobei die ersten beiden es auch damals schon zu eigenen Fernsehserien gebracht haben. Ähnlich wie Remarque und Thomas skizziert auch Urzidil die USA als ein Einwanderungsland und macht deutlich, dass Emigranten das Land aufgebaut haben. Das Exil bzw. Vertreter des Exils aber tauchen erst im Laufe der Handlung auf und scheinen in der US-amerikanischen Gesellschaft angekommen zu sein. Mrs. Barnabe Nichols, die an Dorothy Thompson erinnert, führt eine Art Salon sowohl in New York als auch auf ihrer Farm und versammelt Intellektuelle aus verschiedenen Ländern um sich. Erst in diesem Kreis werden Menschen eingeführt, die vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten. In Nebensätzen wie „Zum Kreise Barnabes gehörte weiterhin Zeckendorf, der zu Beginn der europäischen Wirrnis als Flüchtling das Land erreicht hatte“ (Urzidil 1959: 116) wird das Exil und Schicksal Europas
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vorgestellt. Doch Zeckendorf hat sich in den USA eingelebt. Gerhard Trapp vermutet, dass Carl Zuckmayer Vorbild für die literarische Figur Zeckendorf war (Trapp 2000: 476-478). Ein weiterer Flüchtling ist Josephus Weseritz mit seiner Ehefrau.2 Er ist ein alter Jugendfreund von Barnabes Ehemann und besucht regelmäßig den Salon: Auch er war ein Flüchtling und neuer Bürger der Staaten, der als Schriftsteller seiner Sprache die Treue hielt, nicht auf die fremde umzusatteln suchte und es vorzog, sich von Handwerk zu ernähren. (Urzidil 1959: 117)
Das Ehepaar Weseritz erinnert an das Ehepaar Urzidil. Egon Schwarz hebt in seinem Aufsatz Urzidil und Amerika hervor, dass wörtliche Übereinstimmungen zwischen dem Roman und der autobiographischen Prosaskizze Handwerkliches aus New York (Urzidil 1972) existieren (Schwarz 1985: 233). Doch es ist nicht das autobiographische Moment, das interessant ist, sondern wie Urzidil anhand des Ehepaares die Räume des Exils entwirft. Ähnlich wie Anna Martinek hat auch das Ehepaar eine eigene Wohnung, US-amerikanische Freunde und scheint in dem Land zuhause zu sein. Es irrt nicht mehr herum. Daher bezeichnet sich das Ehepaar „trotz der Schwere des Exils als glückliche Menschen“ (Urzidil 1959: 352). Auch die Ehe ist trotz aller Sorgen glücklich und hebt sich durchaus von anderen Ehen im Roman ab. Das Ehepaar Weseritz diskutiert beispielsweise mit Nachbarn abends auf der Außentreppe sitzend die politische Weltlage. Josephus und Eva […] saßen zusammen mit den Mistletoes und mitten unter den Schicksalen der Gasse, ja sogar im Dunstkreis der stiefmütterlichen O’Rourke wie in einer Art Heimat. (Urzidil 1959: 369)
Es ist vor allem das Bild der Außentreppe, das alltäglich in New York ist und hervorhebt, dass Urzidil New York und die Alltagsverhältnisse kennt. New York wird, das deutet die Aussage an, zu einer Heimat für das Ehepaar und damit stellvertretend auch für Johannes Urzidil. In Nebensätzen werden die Schwierigkeiten der Exilanten fast schon lapidar erläutert: Sprache, Sprachverlust und das Überleben des Schriftstellers im Exil. Weseritz arbeitet als Handwerker und schreibt weiter, ohne auf Veröffentlichungen zu hoffen. Seine bisherigen Erlebnisse werden am Rande erwähnt. Die Gespräche im Kreise um Mrs. Nichols drehen sich um Kunst, Architektur oder Frauen. Urzidil entwirft ein Bild von Exilanten, die fast selbstverständlich in den USA leben und an den Gesprächen teilhaben. In diesen Gesprächen werden jene 2 Weseritz trägt übrigens den latinisierten Vornamen von Urzidils Vater Josef, dessen Sterbeort Weseritz [Bezdružice] war.
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Themenfelder aufgenommen, die sich nicht um das Exil drehen: Gespräche um Geld, Börse oder Verbrechen dominieren. Die Kardiographin Erna Kristaller hat ihre Verwandten in Vernichtungslagern verloren und arbeitet als Krankenschwester in New York. Und trotzdem ist sie es, die Ellen rät, das Leben einfacher zu nehmen. Damit haben auch die Exilanten den American way of life aufgenommen und ermuntern ihre US-amerikanischen Freunde, sich diesem Weg anzuschließen. ‚Take it easy‘ als Parole ist für Ellen wesentlich einfacher anzunehmen, da sie in den USA geboren ist, Englisch spricht und sich frei bewegen kann.
4. Fazit
Die Vorstellung der vier Romane deutet die unterschiedliche Darstellung New Yorks an. Mit Adrienne Thomas, aber auch mit Hilde Spiel, deren Roman Lisas Zimmer ebenfalls in New York angesiedelt ist, wird ein Roman vorgestellt, der sich für die USA einsetzt und New York als die neue Heimat schildert. Urzidil geht sogar noch einen Schritt weiter: Er wählt eine US-Amerikanerin als Hauptperson und zeigt so, dass er in den USA angekommen ist. Auch die zahlreichen Anspielungen auf die US-amerikanische Literatur unterstreichen diesen Aspekt. Sein Amerika zeigt das einfache Leben und hebt z. T. ein „anti-modernistisches“ (Schwarz 1985: 231) Amerika hervor, was sich bereits im ersten Kapitel des Romans wiederfindet. Sowohl Thomas als auch Urzidil nehmen jedoch auch die Mythen von Freiheit, den American Dream, den amerikanischen Toleranzgedanken und den Geist der Demokratie auf. Es spiegelt sich darin möglicherweise auch ein Stück Dankbarkeit gegenüber dem Gastland wider. Beide Autoren entwerfen die US-Amerikaner als offene Menschen, die sich auf Treppen Fremden nähern. Damit nutzen Thomas und Urzidil die Außentreppe, um eine Annäherung zwischen den Exilanten und den New Yorkern deutlich zu machen. Remarques Roman konzentriert sich auf das Exil, stellt auch die unterschiedlichen Debatten vor und damit gehört sein Roman der zweiten Gruppierung an: Die USA wird als Übergangsstation wahrgenommen, die Rückkehr nach Europa nicht ausgeschlossen. Die Protagonisten scheinen fast in einer Enklave zu leben, Kontakte zu US-Amerikanern sind selten. Oskar Ma-
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ria Graf skizziert in seinem Roman eine schwäbisch-jüdische Gruppe in New York, die ebenfalls kaum in New York angekommen ist. Martin Ling, einer der Protagonisten, lebt seit Jahren in der Stadt, ohne diese als seine Heimat zu betrachten. In beiden Romanen gilt somit die Stadt nur als Kulisse, das großstädtische Ambiente wird mitunter als Synonym für Einsamkeit eingesetzt.
Literatur
Graf, Oskar Maria (1976): Die Flucht ins Mittelmäßige. Ein New Yorker Roman. München: Süddeutscher. Grünzweig, Walter (1999): Permanente Revolution: Urzidil und die amerikanische Literatur. – In: Schiffkorn, Aldemar [jun.] (Hg.): Böhmen ist überall. Internationales Johannes-Urzidil-Symposion in Prag. Sammelband der Vorträge. Primärbibliographie und Register. Linz: Ed. Grenzgänger, 101-115. Gürtler, Christa/Schmid-Bortenschlager, Sigrid (2002): Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918-1945. Fünfzehn Porträts und Texte. Salzburg, Wien, Frankfurt/M.: Residenz. Johann, Klaus/Schneider, Vera (Hgg.) (2010): HinterNational. Johannes Urzidil. Ein Lesebuch. Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa. Mann, Klaus und Erika (1996): Rundherum. Abenteuer einer Weltreise. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. Nünning, Ansgar (2008): Raum/Raumdarstellung, literarische(r). – In: Ders. (Hg.), Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, 604607. Popp, Valerie (2008): „Aber hier war alles anders …“ Amerikabilder der deutschsprachigen Exilliteratur nach 1939 in den USA. Würzburg: Königshausen & Neumann. Remarque, Erich Maria (22004): Schatten im Paradies. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Schneider, Sigrid (1989): Deutschsprachige Journalisten und Publizisten im New Yorker Exil. – In: Spalek, John M./Strelka, Joseph Peter (Hg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2/1: New York. Bern: Francke, 1257-1299. Schwarz, Egon (1985): Urzidil und Amerika. – In: German Quartely 58, 223-237 [1986 auch in: Lachinger, Johann/Schiffkorn, Aldemar [sen.]/Zettl, Walter (Hgg.), Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Urzidil-Symposions. Linz: Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, 27-39; 2009 auch in: Vansant,
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Jacqueline (Hg.): (Mit) Schwarz lesen. Essays und Kurztexte zum Lesen und Gelesenen von Egon Schwarz. Wien: Praesens, 141-56.] Schwarz, Egon (2005): Unfreiwillige Wanderjahre. Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente. Nachwort von Uwe Timm. Neuausg., München: Beck [EA 1979: Ders., Keine Zeit für Eichendorff. Chronik unfreiwilliger Wanderjahre. Königstein/Ts.: Athenäum.]. Thomas, Adrienne (1948): Ein Fenster am East River. Wien: Büchergilde Gutenberg. Trapp, Gerhard (2000): Carl Zuckmayer – Johannes Urzidil: Zeitzeugen im Dialog. – In: Zuckmayer-Jahrbuch 3, 443-479. Urzidil, Johannes (1945): Language in exile. Übers. v. Moina M. Kallir. – In: Life and Letters Today 45/92, 23-34. Urzidil, Johannes (1946): Die Sprache im Exil. – In: Deutsche Blätter 4/32, 19-27 [Deutsche Fassung von Urzidil (1945)]. Urzidil, Johannes (1958): Literarische Reise durch Massachusetts. – In: Schweizer Monatshefte 38/2, 106-123. Urzidil, Johannes (1959): Das Große Halleluja. München: Langen, Müller. Urzidil, Johannes (1969): Stifter aus drei Distanzen. – In: Literatur und Kritik 31, 3447. Urzidil, Johannes (31972): Handwerkliches aus New York. – In: Ders., Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York. Zürich: Artemis, 31-78. Winkler, Michael (1989): Die Großstadt New York als Thema der deutschsprachigen Exilliteratur. – In: Spalek, John M./Strelka, Joseph Peter (Hgg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 3, Teil 2/1: New York. Bern: Francke, 1367-1384. Zweig, Friderike Maria (1985): Spiegelungen des Lebens. Frankfurt/M.: Fischer [EA 1964: Wien u. a.: Deutsch].
Vera Schneider
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1. Einführung und Fragestellung
In Amerika vergehen die Jahre wirklich schneller als sonstwo. [...] Alles flimmert und vibriert, das ganze Leben irisiert von dannen [...], es prescht vorbei wie die Eilzüge der Untergrundbahnen auf den Mittelgeleisen der Lokalstationen, einen unheimlichen UntergrundOrkan erzeugend, so daß auf den Plattformen die Männer nach den Hüten und die Frauen nach den Röcken greifen. Da stehst du, aber dort schießt dein Leben vorbei, denn dort bist du auch. (EN 279)
So sinniert der Erzähler in Johannes Urzidils Der Tod und die Steuern, einem Text, der von den Assimilationsbemühungen des Wahlamerikaners Franz Lampenstein alias Frank Stonelight berichtet. Die amerikanische Lebensweise wird hier versinnbildlicht durch einen Un-Ort: U-Bahn-Stationen betritt man nicht um ihrer selbst willen, sondern um sie so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Sie bewahren die Zeit nicht auf, sondern sind dafür gemacht, die in ihnen verbrachten Minuten möglichst schnell und spurlos verschwinden zu lassen. Auch was das Verhältnis von Raum und Zeit betrifft, steht Urzidils Heimatstadt Prag für ihn auf der anderen Seite der Skala: Hier konfrontiert jeder Stein den Vorübergehenden mit der Vergangenheit (EN 17). Enthalten ist Der Tod und die Steuern im 1964 erschienenen Buch Entführung und sieben andere Ereignisse, das – im Gegensatz zu allen anderen Erzählbänden, deren Prosa ganz oder teilweise in Böhmen spielt – ausschließlich Texte mit Urzidils ‚zweiter Heimat‘ New York als Schauplatz enthält. Dabei ist der Teil des Urzidilschen Œuvres, in dem er sich den verschiedenen New Yorker Milieus widmet, von der Forschung und vor allem auch vom Lesepublikum bisher wenig beachtet worden. Berühmt geworden ist Urzidil vielmehr als „Troubadour jenes für immer versunkenen Prag […], das er in einem anderen Buchtitel Die verlorene Geliebte genannt hat“ (Brod 1979: 196). Doch steht neben Urzidils Reminiszenzen an die Vergangenheit immer auch sein Streben nach
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einem Glück der Gegenwart (so auch der Titel seines 1958 erschienenen Essays zu Goethes Amerikabild). Und der Ort, der für diese Gegenwart den Rahmen bildet, ist die Stadt New York. In ihren Beiträgen zu den vergangenen Johannes-Urzidil-Symposien (1984 und 1995) haben sich bereits Egon Schwarz und Walter Grünzweig mit dem Verhältnis des Autors zu seinem Exilland befasst. Schwarz (1986: 27) bescheinigt ihm eine „kritisch-verständnisvolle Zuwendung“ zu seiner Wahlheimat; tiefer als die meisten anderen Emigranten habe sich Urzidil auf Amerika eingelassen. Walter Grünzweig spricht von einer „partiellen Assimilation an die neue egalitäre und polyphone Kultur der Neuen Welt und der Moderne“ in Urzidils Werk (Grünzweig 1999: 112). Valerie Popp schließlich widmet dem Roman Das Große Halleluja (1959) ein ausführliches Kapitel ihrer 2008 erschienenen Dissertation zu den Amerikabildern der deutschsprachigen Exilliteratur. Dort konstatiert sie Urzidils „Ausgewogenheit, ja fast Neutralität und Fairness in der Beurteilung Amerikas“ (Popp 2008: 156); für sie ist Das Große Halleluja sogar „der große Amerika-Roman, den die Exilliteraturforschung allenthalben vermisst“ (Popp 2008: 141). Auf der einen Seite, darin sind sich die Interpreten einig, hat Urzidil also stets danach gestrebt, seinem Gastland auch als Autor gerecht zu werden. „Aber ganz so schlimm war Amerika doch nicht. Lampenstein fand vieles zu seiner Rechtfertigung“, räumt der Erzähler, wenngleich etwas bemüht, in Der Tod und die Steuern ein (EN 279). Andererseits zieht sich durch die Texte jedoch ein Befremden gegenüber der amerikanischen Alltagskultur – vom Kaugummikauen bis zum Konsumzwang – und eine Kritik an der Herablassung gegenüber dem Geistigen und am blinden Glauben an Technik und Fortschritt. Eine auf die Spitze getriebene Materialisierung dieser Tendenzen trat Urzidil in der äußeren Gestalt seiner zweiten Heimatstadt New York entgegen. Im folgenden Beitrag soll daher der Frage nachgegangen werden, inwieweit die ambivalente Haltung des Autors gegenüber seinem Gastland die Darstellung der New Yorker Soziotope mit ihrer Architektur und ihren speziellen Formen von Urbanität geprägt hat.
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2. Biografische Orte
Welche der disparaten New Yorker Lebenswelten hat Johannes Urzidil als Einwohner dieser Stadt besonders intensiv wahrgenommen, welche Eindrücke haben seinen Alltag geprägt? Hier lohnt sich ein Versuch, den persönlichen Aktionsradius des Autors zu rekonstruieren. Das Hotel, das die Urzidils nach ihrer Ankunft in New York am 14. Februar 1941 beziehen, liegt direkt im pulsierenden Herzen von Manhattan; ihr erster Eindruck von der Stadt unterscheidet sich, was die Äußerlichkeiten betrifft, also nicht wesentlich von dem eines Touristenpaares auf Besichtigungsreise. In seinem Kalender notiert Urzidil an diesem Tag: Die Formalitäten nehmen wenig Zeit in Anspruch. Um 3 Uhr haben wir im Hotel ‚Times Square‘ nahe Broadway (neben dem Gebäude der New York Times) Wohnung genommen [...]. Ungeheure Lichterfülle, Wolkenkratzer, maßlose Üppigkeit der Läden und Freßlokale. Menschenmassen, enormer Autoverkehr. Billige Preise. Vielfarbige Menschen. Wildheit des Gesamteindrucks gegenüber dem edlen, vornehmen England. Lebensdurst, unglaubliche Lust am Materiellen. – Großartigkeit der Wolkenkratzer.1 (Urzidil 1941: o. Z.)
Die zwei Tage dauernde Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft führt das Paar schließlich nach Queens auf Long Island. Im nordwestlich gelegenen Wohnviertel Jackson Heights finden sie für 57,50 Dollar im Monat eine Bleibe (Serke 1987: 195). Es folgen „neun Jahre [...] beklemmenden Untermieterschicksals in Mrs. O’Rourkes Hinterzimmern“, wie sich Urzidils literarisches Alter Ego Josephus Weseritz2 im Großen Halleluja erinnert (GH 195). Die Baulichkeiten seines ersten Wohnhauses haben in seinem Werk kaum Spuren hinterlassen. Es ist lediglich bekannt, dass sich die Wohnung von Gertrude Boland (so der eigentliche Name der Vermieterin) im Obergeschoss eines Zweifamilienhauses befand (Serke 1987: 195). Typischer für Jackson Heights sind allerdings die zu Co-ops zusammengeschlossenen Garden Appartments, mit Innengärten versehene Komplexe aus sechsstöckigen Ziegelbauten. In den 1910er und 1920er Jahren hatte man sie für eine New Yorker ‚middleclass‘ errichtet, die sich die teuren Mieten in Manhattan nicht mehr leisten konnte. 1922 nannte die New York Times Jackson Heights stolz „the foremost garden 1 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Kalenderblatt, 17.02.1941). 2 Der Name dieser Figur ist eine Reminiszenz an Josef Urzidil, den Vater des Autors: Der Vorname der Figur ist der latinisierte des Vaters, der Nachname spielt auf den westböhmischen Ort Weseritz [Bezdružice] an, wo Josef Urzidil die letzten Monate seines Lebens verbrachte und am 24.12.1922 starb.
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apartment residential section in the world.“ (N. N. 1922: 1) Was ihr äußeres Wohnumfeld betrifft, müssen sich die Urzidils demnach nur geringfügig umstellen, als sie 1950 im obersten Stockwerk eines – ebenfalls in Queens gelegenen – modernen Appartementbaus endlich eine eigene Wohnung finden. Die Wohnung 6-E mit der Postadresse 83-39 116th Street Kew Gardens 18 (1961 umbenannt in Richmond Hill 18) bleibt bis zu Johannes Urzidils Tod sein Lebensmittelpunkt in New York.
Abb. 1: Wohnblock der Urzidils in Kew Gardens von 1950 bis 1970 (Aufnahme von 2005).3
Obgleich die Urzidils ihren Umzug als eine deutliche Verbesserung ihrer Wohnverhältnisse empfunden haben müssen, war der in einer grandiosen Stadtkulisse Aufgewachsene und zudem kunsthistorisch äußerst Bewanderte offensichtlich wenig begeistert von der Wohnarchitektur seines neuen Quartiers. Im Großen Halleluja berichtet Urzidil vom Einzug des Ehepaars Weseritz; sie sind die ersten Mieter in dem neu erbauten Haus: 3 Abbildungen 1, 2 und 4: © Vera Schneider, Berlin.
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Von außen betrachtet, hätte der kahle sechsstöckige Ziegelbau mit seinen fünf Ein gängen als Gefängnis gelten können, wenn die Fenster auch noch mit Gittern versehen gewesen wären. Der Cour d’ Honneur mit seinen Rasenflächen und Sträuchern hob diesen Eindruck nicht auf, zumal der Fortschritt es liebt, auch Stätten der Verdammnis stilvoll und ansprechend auszustatten. Rund um den Appartementbau beharrten noch Einzelvillen in ihren wohlgepflegten Gärten, und dahinter dehnte sich gegen Brooklyn teils wald-, teils parkartig ein Naturschutzgebiet, darin man meilenweit nach Belieben unter hohen Bäumen, durch Dickichte über Lichtungen, auf Wiesen und in Föhrenwäldchen umherstreifen konnte. (GH 194f.)
Kew Gardens, ein nach dem Londoner botanischen Garten benanntes Wohnviertel im Zentrum von Queens, expandierte bereits seit dem Anschluss an die U-Bahn im Jahre 1936; es entstanden seitdem eine Vielzahl der typischen vier- bis zehnstöckigen Appartementhäuser.4 Das Viertel und seine Umgebung wird zum Gegenstand von Urzidils sozialkritischen Betrachtungen und zum bevorzugten Schauplatz seiner New Yorker Prosa. Auch in eines seiner raren Gedichte hat das „kleine Haus am Sund“, wie er seinen Wohnblock auf der „langen Insel“ (Long Island) dort diminuierend nennt, Eingang gefunden: In Die Väter lässt er seinen eigenen Vater und den seiner Frau, die in ihren Gräbern keine Ruhe finden, an dessen Pforte klopfen (Urzidil 1947: 5). Bei den Wohnorten der Urzidils handelt es sich um vorstädtisch anmutende ‚neighborhoods‘ kleinbürgerlichen Gepräges, die administrativ nicht mehr zu New York City gehören und mit dem mondänen Treiben am Broadway und der spektakulären Wolkenkratzerarchitektur Manhattans bis heute wenig zu tun haben. Da Kew Gardens nur eine halbe Stunde U-Bahn-Fahrt vom Broadway entfernt ist, Arbeitswege zurückgelegt werden mussten und Urzidil überdies von der typischen Neugier des Schriftstellers beseelt war, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass er auch andere Teile New Yorks intensiv erkundet hat.
3. Perspektiven
Nun soll die Ebene der Realien verlassen und die Darstellung der New Yorker Soziotope im Werk des Autors betrachtet werden. Er zeigt sie in seinen Texten 4 Siehe auch (Stand: September 2011).
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aus verschiedenen Perspektiven, die ganz wesentlich Auswahl und Bewertung der jeweils in Augenschein genommenen Stadtviertel und urbanen Phänomene beeinflussen. Die hier betrachteten Texte benennen ihre Schauplätze recht präzise: Tausendfuß spielt rund um den Manhattan-Pfeiler der Brooklyn Bridge; Bist du es, Ronald? im Stadtteil Astoria (Queens), in der Bronx nördlich von Manhattan und in einer nicht benannten wohlhabenden Gegend Manhattans; Die arme Pamela in Corona (Queens); Die große Finsternis in New York sowie Teile von Der Stahlpalast und Das Große Halleluja in Kew Gardens mit dem Forest Park; Kafkas Flucht und Umwege durch Bingham Street in Jamaica (Queens); Schauplatz der Erzählung Im Aufzug ist das Calatrava-Hochhaus, das – nach seiner Funktion und Bauweise zu urteilen – im Financial District von Manhattan situiert sein dürfte.
3.1. Der soziologische Blick 1965 konstatierte Johannes Urzidil in einem Interview mit David Berger seine eigene Assimilation; als Voraussetzung dafür sieht er die hochgradige Durchmischung der New Yorker Bevölkerung: New York is supernational, the center of converging ideological powerlines from all continents. At the same time it is intrinsically American, because all America is omnipresent here. It is always modern, always new, always exciting […] New York has the greatest possible concentration and accumulation of nations, religions, races, and social strata of all kinds. It offers good luck and bad luck, success and trouble. I would never exchange it for any other city, for after almost a quarter of a century residence, I feel like a real New Yorker. (Berger 1965: 23f.)
Schon in Urzidils Texten über Prag finden sich zahlreiche Belege seiner Sensibilität für den Unterschied von Arm und Reich oder das Mit- und Gegeneinander der Nationalitäten. In New York findet er eine noch weitaus konfliktreichere Realität mit schärferen Kontrasten vor – ein Umstand, den er als Inspiration betrachtet, ohne freilich die damit verbundenen Gefahren aus den Augen zu verlieren. Im Großen Halleluja schreibt er über Josephus Weseritz: Er war übrigens nicht bloß wegen der grünen Umgebung in dieses Haus gezogen, sondern auch wegen der nahe befindlichen Straßenwildnis des Stadtteils Jamaica, einer (wie man sagt) ‚gewöhnlichen‘ Gegend, wo arme oder (ebenfalls wie man sagt) ‚kleine‘ Leute wohnten, in ungezierten kahlen Häusern und schmucklosen Häuslichkeiten, in öden Straßenzügen und Seitengassen mit Läden für Menschen, die eigentlich schon Verschwender
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waren, wenn sie gerade nur aßen und tranken oder überhaupt existierten, und mit dumpfen Lokalen, in denen die nie wechselnde Speisenfolge mit Kreide auf einer schwarzen Tafel geschrieben stand. Josephus liebte es, gerade in diesen Vierteln herumzugehen, wo die Menschen innerhalb ihrer Sphäre nichts vorspiegelten, ein vielleicht für Außenseiter nicht ganz ungefährliches Einvernehmen die Leute zusammenhielt und zugleich ein bedenklicher Friede in den Gassen hing, unheilvoll geschwängert mit den Keimen abendlicher Familienkräche und zähneeinschlagender oder gar messerstechender Auseinandersetzungen [...]. (GH 195f.)
Abb. 2: Hauptstraße von Jamaica (Queens) mit den Gleisen der 1917 erbauten BMT Jamaica Line (Aufnahme von 2005).
Das Viertel, dessen Nachbarschaft Weseritz hier beschreibt, wird in anderen Texten zum Hauptschauplatz. Sein Protagonist Key alias Franz Kafka lebt in der 1964 erschienenen Erzählung Kafkas Flucht als Gärtner „in den weltvergessenen Außengeländen des New Yorker Stadtviertels Jamaica, wo nur Italiener, Portorikaner [sic!] und Neger wohnten.“ (EN 90) Key schätzt das Zusammenleben mit Leuten, „die alle richtige Arbeitsberufe ausübten und nicht solche, die man durchs Telephon betreibt.“ (EN 94) „Jeder in der Welt hat einen fremdländischen Akzent. Man bemerkt ihn nur nicht immer“, belehrt er einen neugierigen Kunden, als der sich um die Enthüllung seiner Identität bemüht (EN 105). Nicht oft kommen die Figuren oder der Erzähler in Urzidils Texten beim Anlegen der soziologischen Sonde zu einem solch versöhnlichen Ergebnis. Porträtiert der Autor die ‚normalen‘ amerikanischen Familien, aus deren Kreis sich seine unmittelbare Nachbarschaft rekrutiert haben dürfte, so offenbaren
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sich Abgründe: Von dunklen Trieben beherrschte Musterknaben, bestenfalls abwesende Väter, Mütter, die aufgrund von exzessiver Berufstätigkeit oder Drogenkonsum ihre Kinder wahlweise vernachlässigen oder zum rücksichtslosen Umgang mit Menschen und Dingen erziehen. „Was sich nicht zerhauen ließ, war bösartig. It’s a free country. Tim und Butch und alle anderen waren früh vertraut mit ihren verfassungsmäßigen Freiheiten“, referiert der Erzähler – nicht ohne kritischen Unterton – die Gedanken des siebenjährigen Tim Gossamer aus der Erzählung Die große Finsternis in New York, die im postum erschienenen Erzählband Die letzte Tombola enthalten ist (LT 171). Tim und seine Freunde machen sich einen Spaß daraus, regelmäßig Bänke und Straßenlampen in dem an Kew Gardens angrenzenden Forest Park zu zerstören. Ein hervorstechendes Merkmal dieser literarischen Figuren ist ihre Austauschbarkeit; auch das Verhalten von Tim „bekundete eine gewisse Regelmäßigkeit und unterschied sich nicht wesentlich von dem anderer Jungen“ (LT 169). Diese Eigenschaft korrespondiert mit der architektonischen Uniformität ihrer Wohnumgebung. So steht das sechsstöckige Appartmenthaus, in dem Tim wohnt, zwischen ebenso hohen, ganz gleichartigen Häusern, die wie Strafkasernen mit flachen Dächern und ununterscheidbar bebuschten Vorhöfen nebeneinander drohten, eine beängstigende Gleichheit, jedes der Häuser mit fünf ganz gleichartigen Eingängen, von den gleichen Architekten für mehr oder weniger gleiche Leute gebaut (LT 172).
Dass Ausnahmen die Regel bestätigen und sich hinter der eintönigen Fassade auch Überraschungen verbergen, zeigt sich gleich im Anschluss: Tim gerät versehentlich in die Wohnung eines Schriftstellers, der sich unschwer als Alter Ego des Autors identifizieren lässt – und damit als Zugezogener, der auf einem anderen Kontinent sozialisiert wurde. Nora Nottingham aus der Erzählung Bist du es, Ronald? in dem gleichnamigen Band (1968) wartet nicht nur mit einem Ponyschopf und einer attraktiven Figur auf, sondern zeigt auch alle die anderen Gewöhnlichkeiten, die man in dieser Stadt täglich hundertemale zu sehen bekommt, hübsch, geschmackvoll gekleidet in ein billiges Meisterwerk der Ladies Garment Workers Union, darunter die entsprechende Nylon-Polyester-Brassiere und was sonst Mädchen allenfalls in den diskreten Provinzen ihrer Physis für nötig erachten. (RO 151)
Bei der kennerhaften Schilderung dieser zwar intimen, aber durch ihre Berechenbarkeit alles andere als geheimnisvollen Details bedient sich der Erzähler allerdings der Perspektive des Protagonisten Bannister, dessen Wahrnehmungen und Handlungen deutlich zum Pathologischen tendieren. Die trendbewusste Nora wohnt in Astoria, einem offensichtlich besonders tristen Teil von
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Queens. Ihre Straße, die Parkview Lane, ist weniger ansprechend, aber ebenso verwechselbar wie ihre Bewohnerin: Weit und breit gab es da keinen Park, sondern nur mittelgroße Zinshäuser, die auf andere Zinshäuser Aussicht hatten. Auch das Wort ‚Lane‘ war eine Vorspiegelung, da es ja eigentlich einen Heckenpfad oder jedenfalls ein bloßes Gäßchen bezeichnete, während dies hier eine ziemlich breite kahle Betonstraße war, deren Gehsteige nicht einmal von kümmerlichsten Bäumchen gesäumt waren. Man konnte da schwermütig werden. ‚Parkview Lane‘ also war ein Lügenname. (RO 152)
Corona, das östlich von Jackson Heights gelegene Viertel, in dem die Arme Pamela der gleichnamigen Erzählung ihr kurzes Leben verbracht hat, besteht ebenfalls aus „nüchternen stillosen Zinshäusern“ (EN 233). Auch die Straße, deren Name sich im Titel der ebenfalls 1968 publizierten Erzählung Umwege durch Bingham Street findet, ist nach der Einschätzung eines Polizeiinspektors eine ganz gewöhnliche Gasse mit dreißig oder vierzig Arbeiterhäusern auf jeder Seite, ebenso wie hundert andere Gassen auch, nur daß sie anders heißt. (RO 54)
3.2. Der kriminologische Blick Ihre Austauschbarkeit hindert aber keine dieser Wohngegenden daran, zum Schauplatz von brutalen Verbrechen oder tragischen Unglücksfällen zu werden. Das Böse lauert – folgt man dem Blick des Autors – unter einer Schicht von Banalität und Gleichgültigkeit; wo alle gleich sind, sinkt der Wert des Einzelnen. So ist die Frage nach den inneren Ursachen von Morden und unerwarteten Todesfällen kennzeichnend für eine weitere Perspektive, aus der Urzidil New York beschreibt. Der kriminologische Blick muss sich zwangsläufig aus seinen soziologischen Betrachtungen ergeben und nimmt die Auswirkungen der Großstadtanonymität in die Kritik. In der 1966 erschienenen Erzählung Der Stahlpalast schildert er den Mord an der 29jährigen Kitty Genovese, der sich 1964 in seiner Nachbarschaft real zugetragen hatte: ‚Hilfe‘, schreit Kitty, ‚man mordet mich!‘ Und alsbald in den umliegenden Häusern erleuchten sich die Fenster in den Stockwerken. Das große Publikum erscheint hinter den Topfblumen, um die Schreie Kittys deutlicher zu vernehmen, sie womöglich zu sehen. Der Angreifer wendet sich und flieht. Kitty wimmert nur noch ein wenig. Und da es wieder still und bewegungslos wird, verlöschen die Lichter. […] Dreiundzwanzig Nachbarn vernahmen, was geschah. Keiner von ihnen rief die Polizei an. […] Viele von den Zuschauern
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hatten auch zu Hause eine Bibel, ein Evangelium oder ein Siddur, wie das jüdische Alltagsgebetbuch genannt wird. Aber was hat man nicht alles ererbt von seinen Vätern? (ER 62)
Auch in der Wirklichkeit machte damals weniger die Tat selbst Schlagzeilen als vielmehr der sogenannte Bystander-Effekt: 38 Nachbarn (Urzidil untertreibt hier noch) hatten die grausigen Vorgänge, die sich über eine halbe Stunde hinzogen, verfolgt, ohne dass jemand zur Hilfe kam oder auch nur Hilfe holte. Dieses sozialpsychologische Phänomen heißt seither in Fachkreisen auch Genovese-Syndrom und wurde seit dem Mord in zahlreichen Studien untersucht.5 Mit seiner Idee, das Tötungsverbrechen als theatrales Ereignis zu zeigen, hat sich Urzidil post mortem als Visionär erwiesen: 2006 feierte das Musical The Screams of Kitty Genovese, auf der Website der Produktion beworben als „a thrilling new rock opera“, seine New Yorker Premiere.6 Zwar stellt der Librettist David Simpatico ebenfalls die moralische Frage nach der Ursache für die Tatenlosigkeit der Zeugen, doch fehlt hier die bittere Ironie, mit der die Ereignisse in Der Stahlpalast auf eine imaginäre Bühne gebracht werden – ohne Billigung durch den Erzähler, der durch diesen Kunstgriff vielmehr für ein Sich-Einmischen des vermeintlichen Publikums plädiert. Der ‚bystander‘ von 2011 schließlich kann nicht nur aus der bequemen Distanz des Theatersessels die Inszenierung der Bluttat betrachten, sondern auch einer ‚kitty g‘, hinter der sich die Produzenten des Musicals verbergen, anonym auf der Internetplattform Twitter folgen. Man kann sich ausmalen, welchen Kommentar Johannes Urzidil zu dieser neumedialen Erweiterung des Zuschauerkreises von 1964 abgegeben hätte.
Abb. 3: Logo des Musicals The Screams of Kitty Genovese mit den typischen Wohnblocks von Kew Gardens.7 5 So dokumentierten die beiden amerikanischen Psychologen John M. Darley und Bibb Latané (1968) zahlreiche vom ‚Fall Genovese‘ inspirierte Experimente. In jüngerer Zeit griffen mit dem Franzosen Didier Decoin und dem US-Amerikaner Ryan David Jahn zwei weitere Schriftsteller den Stoff in Kriminalromanen auf (beide 2009, dt. 2011). 6 (Stand: September 2011). 7 © .
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Beim Aufbau seiner Spannungsbögen bedient sich Urzidil in Erzählungen wie Der Stahlpalast, Die arme Pamela oder Bist du es, Ronald? gekonnt der GenreElemente guter Kriminalliteratur. Die Schauplätze werden zu Mitspielern, treffende Raumsituationen tragen zu einer steten Schürung der Spannung bei. Zwar können auch die Interieurs von Urzidils Prager Erzählungen eine Form von Tücke entwickeln, etwa wenn in der Erzählung Zu den neun Teufeln ein Wi(e)dergänger Goethes auf Nimmerwiedersehen im Keller eines Kleinseitner Hauses verschwindet (Urzidil 1962: 81f.)8 oder wenn sich – etwas profaner – in Von Odkolek zu Odradek eine füllige Nachbarin im engen Treppenflur zu Tode stürzt, weil sie zu lange auf dem Abort gesessen hat (GT 225f.). Doch haben die hier geschilderten Begebenheiten oft eine skurrile oder märchenhaft-phantastische Komponente. Wohl deshalb moniert Claudio Magris (1986: 121) eine „sentimentale Nachsichtigkeit“ in einigen dieser Erzählungen, die „den Schrecken und das Leiden allzuleicht miteinander versöhnt“. Solch ein ‚behagliches Grausen‘ fehlt in den genannten New Yorker Erzählungen fast vollständig. Urzidil zeigt Tatorte von ausgewählter Tristesse und leuchtet sie grell aus. Die vierjährige Pamela wird in der Waschküche erdrosselt, „wo täglich die Hauswäsche durch die Maschinen, die Auswinden und die Trockner getrieben wurde“ – und nach ihrem Tod auch weiterhin wird (EN 261). Einzig der Zementfußboden bewahrt die Erinnerung an das Geschehen durch eine Wasserlache just am Fundort der Leiche, die aber – bar jeder Mystik – von einer defekten Maschine ausgeht; schließlich beseitigt die Hausverwaltung auch dieses Memento mori. Der Autofriedhof in New Jersey, auf dem der neunjährige Eddy Castaldo im Stahlpalast tot aufgefunden wird, ist nicht nur per se ein zivilisatorischer Un-Ort; er wird eingebettet in ein „ganzes Land voll von Fabriken, Schloten, Hochspannungsleitungen, Öltanks, Schutt, Müll und Sümpfen […], über dem atemverschlagende Kohlenoxyd-, Schwefelwasserstoff- und andere mephitische Dämpfe schwelten“ (ER 68). Nora Nottinghams Straße ist zum Tatzeitpunkt „leer […] und vollständig lautlos, als wäre sie überhaupt unbewohnt“ (RO 153). Es ist klar, dass Schreie hier ungehört verhallen. Ihre Wohnung, die für sie zur tödlichen Falle werden soll, wird mit der gleichen kühl anmutenden Detailtreue beschrieben wie später das knackende Geräusch, das ihr Genick unter der Hand des Mörders von sich gibt. Doch dieser Hyperrealismus dient mitnichten reißerischer Effekthascherei, sondern unterwirft sich dem moralischen Anliegen des Erzählers. Es gibt 8 Vgl. dazu Schneider (1998) sowie den Beitrag von Myriam Richter und Hans-Harald Müller in diesem Band.
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keinen Trost angesichts des Todes von Kindern und unschuldigen jungen Frauen, und gerade die schonungslos scharfe Zeichnung führt über das Mitleiden hinaus zur Frage nach den Hintergründen, nach den Tätern und Mitschuldigen: Urzidils New Yorker Soziotope werden bevölkert von jungen Männern wie Ronald Bannister, der „im Krieg war und mindestens drei Dutzend Feinde kaltgemacht hat, etliche sogar im Nahkampf“ (RO 153), und von Eltern, die ihren Kindern den Namen von Zahnpastasorten geben (EN 235) oder sie überhaupt erst wegen der zu erwartenden Sozialhilfe in eine Welt setzen, wo man „hübsch lang laufen [muss], um den ersten Strauch zu finden, dessen Blätter nicht mit einer Rußschicht bedeckt waren.“ (ER 68)
3.3. Mensch und Technik Dies führt auf direktem Weg zu einer weiteren Blickrichtung der Zivilisationskritik in Urzidils ‚amerikanischer‘ Erzählprosa: die Entfremdung von der Natur und die Versklavung durch die Technik. Zu deren Sichtbarmachung bietet sich die kritische Darstellung moderner Wohn- und Arbeitsarchitektur an. So kommt etwa Josephus Weseritz im Großen Halleluja als Bewohner von Kew Gardens in den Genuss sämtlicher „Vorzüge der technischen Mittelstandszivilisation“ (GH 194). Der „Neubabylonier der Technik“, wie Urzidil den modernen Großstadtmenschen nennt, bezahlt diesen Komfort aber mit völliger Abhängigkeit. Das zeigt sich, wenn die Technik versagt oder sich gegen ihn wendet. „Tableau […], so muss es kommen, wenn man sich auf nichts anderes als auf die technische Zivilisation verlässt“, konstatiert der namenlose Schriftsteller angesichts des allgemeinen Stillstands während der Großen Finsternis in New York, eines flächendeckenden Stromausfalls im Jahre 1965, dessen Auswirkungen Urzidil in der gleichnamigen Erzählung beschreibt (GT 177). Wenigstens kann jener Schriftsteller noch auf eine Kerze aus seinem Fluchtgepäck und ein batteriebetriebenes Radio zurückgreifen. Die zweite Hauptfigur, der siebenjährigen Tim, hat weniger Glück: Nicht nur, dass er zwischen den uniformen und noch dazu stockfinsteren Wohnblocks die Orientierung verliert; in kindlicher Hybris gibt er darüber hinaus seiner Zerstörungslust die Schuld an der Havarie. Diese Vorstellung erfüllt ihn erst mit Stolz und führt dann zu seinem tödlichen Unfall – ein Opfertod, der notwendig zu sein scheint, „um den Moloch wieder zu versöhnen.“ (GT 202)
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In seiner Erzählung Im Aufzug (1964) unternimmt Urzidil einen seiner vergleichsweise seltenen erzählerischen Ausflüge nach Manhattan: Der Erzähler beobachtet die Zwangsgemeinschaft eines Mannes und einer Frau in einem Personenaufzug, der über dem 29. Stockwerk eines Bürowolkenkratzers hängengeblieben ist. Die Chance, dass jemand ihre Hilferufe hört, ist gering, denn im Gegensatz zu den hellhörigen Wohnhäusern ist das Gebäude perfekt schallisoliert. „Es ist in jeder Hinsicht das Beste, was die moderne Bautechnik zu bieten hat“ (EN 129), befindet die junge Frau, scheint aber zunächst die Haltung des Erzählers zu teilen: „Es macht mir Spaß, wenn sich die Technik ab und zu ad absurdum führt.“ Mehr noch: Sie bringt die Technisierung der Alltagswelt ausdrücklich in Zusammenhang mit den modernen Vernichtungswaffen: „‚Besser dreißig Treppen hinuntersteigen müssen, als von einer Atombombe zerfressen zu werden.“ (EN 128) Je näher die Nacht kommt, desto unwahrscheinlicher wird eine rasche Befreiung aus der Zwangslage, desto tiefgründiger werden aber auch die Gespräche zwischen den beiden bisher einander Unbekannten. Urzidil lässt die in ihrem Funktionieren wie in ihrem Versagen undurchschaubare Technik noch einige dramatische Momente generieren: Das plötzliche Verlöschen des Lichts, mysteriöse Geräusche, ein unerwartetes Abwärtsgleiten der Kabine. „Wir zahlen den Preis für die BabelTürme“, resümiert der Mann am Ende der Erzählung (EN 151); ob und wann Rettung kommt, bleibt offen. Dass eine funktionierende Technologie für die Integrität des Menschen noch bedrohlicher sein kann als eine, die ab und zu versagt, zeigt die Erzählung Der Stahlpalast. Wie schon erwähnt, hat Urzidil die moderne New Yorker Wohnarchitektur wiederholt mit der von ‚Strafkasernen‘ verglichen. Hier setzt er nun tatsächlich eine Haftanstalt in Szene: Dieses Gefängnis war das weitläufigste und modernste der Welt, ein bauliches und technisches Meisterwerk aus Stahl, Beton, Glas und Elektrizität, außen von unablässig wandernden Flutlichtern, innen von den allerneuesten kriminologischen und psychologischen Erfahrungen bestrahlt. (ER 54)
Die Schilderung der perfekt funktionierenden Maschinerie – von sich automatisch füllenden Waschbecken über Musikberieselung in den Arbeitsräumen bis hin zum diätischen, aber nahrhaften Essen – erinnert an die düsteren Zukunftsvisionen von Aldous Huxley oder George Orwell. Denn das Ziel ist nicht nur ein reibungsloser Strafvollzug mit lückenloser Überwachung, sondern eine Konditionierung der Insassen, die sich hier „beinahe frei fühlen sollten, insoweit Freiheit überhaupt mehr als ein Idealbegriff war.“ (ER 54) Auf diese Weise erhebt Urzidil den Stahlpalast zum Symbol einer technokratischen, den Menschen sich selbst entfremdenden Gesellschaft.
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Dennoch wäre es vermessen, aus dieser Erzählerposition auf eine grundsätzliche Ablehnung jeglichen Fortschritts seitens des Autors zu schließen. Der beste Gegenbeweis ist wohl die Schlussszene des Großen Halleluja: Urzidil synchronisiert hier die Geburt des Sohnes von Oliver und Ellen mit der Radiomeldung von der „ersten zuverlässigen Landung einer Menschengruppe auf einem der Festländer des Mondes“ (GH 483) – und ist damit seiner Zeit sogar zehn Jahre voraus.9
3.4. Der ästhetisierende Blick Neben der Darstellung von Ödnis, Uniformität und Bedrohlichkeit finden sich in Urzidils New Yorker Texten auch einige Stadtbilder von berückender Schönheit. Ein ästhetisierender Blick auf seine Exilheimat gelingt ihm immer dann, wenn er sie aus einer emotionalen oder räumlichen Distanz betrachtet und gleichzeitig eine Brücke zu Lebensbereichen schlagen kann, die vertraut und positiv konnotiert sind. In vielen Fällen ist dies die Natur – als standhafter Antipode zur Technik, die zwar alles zu verschlingen droht, aber darin nur partiell erfolgreich ist. So hat Key alias Franz Kafka zwischen den Bahngleisen von Long Island zum inneren Frieden gefunden, weil er als Gärtner unter Gärtnern lebt, immer „in großer Gesellschaft all des Lebendigen auf seinem Gartengrund.“ Dass sich dem lebensmüden Protagonisten der Erzählung Tausendfuß (1968) auf der Brooklyn Bridge ein atemberaubendes Panorama offenbart, ist dem veredelnden Licht der Morgensonne und nicht etwa der Schönheit der Stadt an sich zu verdanken: Der junge Mann […] blickte nach Osten. Dort hatte die Sonne sich jetzt über die Häusermassen erhoben und bestrahlte die blauen Rauchsäulen, die Gas- und die Wasserreservoirs und die Brooklyner Wolkenkratzer, lauter öde Einzelheiten, die aber im ganzen jetzt etwas vielfarbig Prächtiges anzunehmen begannen, ein Fleckelteppich [sic!], dessen Lappen zusammen einen Sinn und sogar eine Art Ästhetik ergeben. […] Durch das schwebende Netz der Brückenkabel spähte er nach den sich im steigenden Licht immerzu vermehrenden Hochhäusern von Süd-Manhattan, von denen jedes ein neues und anderes zu erzeugen schien. Die Sonne zog sie wie Pilze aus dem Boden. (RO 13)
In den poetischsten Momenten seiner Zwiesprache mit der Stadt lässt der Erzähler neben die Natur noch die Musik treten, eine zweite Kraft, der er ver9 Ausführlich wird dieser Aspekt von Valerie Popp untersucht (2008: 144f.).
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traut und die ihm vertraut ist. So heißt es in der Erzählung Die Fremden, in der Urzidil seine Emigration bis zur Ankunft in New York verarbeitet, über das hoffnungsvolle Ende einer langen Flucht: „Die Kristalldruse der Hochhäuser steigt aus dem Meere empor, und die Riesenharfen der Brücken erklingen.“ (VG 296f.) Josephus Weseritz schließlich beobachtet vom Dach seines Appartmenthauses immer wieder gern „die Crescendos der Wolkenkratzer mit ihren hochgestimmten Vertikalmusiken“ (GH 236) und lauscht dem „Orgeln der vielen unablässig umherkreuzenden Aeroplane“ (GH 195).
3.5. Der kulturhistorische Blick Eine weitere Perspektive, aus der Urzidil beim Betrachten seiner ‚zweiten Heimat‘ Vertrautes im Fremden zu entdecken vermag, ist die des Kulturhistorikers. In seinem Essay Amerika und die Antike (1964) spürt er den Einflüssen antiker Ideale auf die amerikanische Denk- und Lebensart nach und findet Berührungspunkte zwischen antiker und US-amerikanischer Städtebaukunst. Für ihn evident sind dabei zunächst die bewussten Anleihen an die griechischrömische Formensprache, die ihrerseits bereits im europäischen Klassizismus zitiert wurde: Postämter, Justizpaläste und Regierungsgebäude aller Art sind im Stile des Parthenon errichtet oder prunken mit dem Säulenpomp des athenischen Tempels des olympischen Zeus. Vielleicht ist es bloß eine Anekdote, aber man kann sich die Amerikanerin sehr gut vorstellen, die bei Betrachtung dorischer Tempelordnungen in Athen ausgerufen haben soll: ‚Ich wußte gar nicht, daß die alten Griechen schon so viele Banken hatten‘, oder daß ein New Yorker im Anblick der Zerstörungen am Parthenon aufseufzte: ‚Hoffentlich wird die Säulenfassade unserer Pennsylvania-Station kein solches Schicksal erleiden.‘ (Urzidil 1964b: 52)
Doch der Autor ist beim Aufspüren von Parallelen noch weitaus findiger: Er entdeckt sie etwa im schnurgeraden, schachbrettartigen Straßenverlauf, der auf den ersten Blick als Produkt des amerikanischen Pragmatismus erschienen mag, aber auch im antiken Rhodos, Alexandria oder Babylon üblich war. In einem Rundfunkbeitrag für RIAS Berlin von 1966 zeigt er sogar Gemeinsamkeiten zwischen antiker Bauweise und modernster Wolkenkratzerarchitektur auf: Ich darf daran erinnern, dass zum Beispiel der berühmte moderne schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier, als er zum ersten Mal nach New York kam, eine Gemeinsamkeit
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zwischen den New Yorker Wolkenkratzern und dem Baugeist der Antike feststellte, die klar, zweckmäßig, materialgerecht, stromlinienartig und ohne Überflüssigkeiten baute und vierdimensionale Gebäude in den Raum stellte, nicht bloß aneinandergeklebte Fassaden mit unorganischen, aufgepappten Ornamenten. (Urzidil 1966: o. S.)10
3.6. Der Blick von oben Die letzte der Urzidilschen Perspektiven auf New York, die hier betrachtet werden soll, birgt das größte Potenzial zur Synthese und zur Versöhnung von Gegensätzen; sie war – folgt man den Texten – wohl diejenige, die der Autor am meisten geschätzt hat. Der Blick von oben gibt Sicherheit durch größtmögliche Distanz, er lässt Zusammenhänge erkennen und führt die unbegreifliche Synchronität der Ereignisse und Phänomene vor Augen, ohne den Betrachter in eines davon zu verwickeln.11 Urzidil kannte und liebte diese Art von Fernsicht schon aus dem Böhmerwald, und in seinem 1965 verfassten autobiografischen Essay Blick vom Stingelfelsen äußert er die These, dass sie Adalbert Stifter zum Dichter gemacht habe (Urzidil 1972: 37). Auch Josephus Weseritz im Großen Halleluja widmet sich mit Vorliebe der Draufsicht, denn auf diese Weise kann er Stadt-, Natur- und philosophische Betrachtung miteinander verbinden: Von dem flachen Dach des Appartementhauses sah Weseritz viele Reiche. Erst das geometrische Stadtrelief mit den longitudinalen Rhythmen der Avenuen und den Querläufen der Straßen […]; dann das beharrende Grün der Gärten und Parks und das rückweichende an den Peripherien, das verhangene Graugrün der sieben Bays und der beiden Ströme, die, von Brücken überklammert, Manhattan umschlingen, das vielfältige Hafengetriebe mit Molen und Barken, Booten, Schleppern, Fähren, Barkassen, ein- und ausgleitenden Passagier- und Lastschiffen, die gischtenden Strande längs des Ozeans. (GH 236)
10 Auch erschienen auf Der böhmische Akzent: Johannes Urzidil und das Radio (CD-Beilage von Ingo Kottkamp zu Johann/Schneider 2010). 11 S. auch die Arbeit von Christa Helling (1981: 131f.), die sich ebenfalls mit dieser Perspektive befasst und einen Bezug zu Stifters „Turmperspektive“ auf Wien herstellt.
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Abb. 4: Kew Gardens 18, Blick vom Dach des Wohnblocks (Aufnahme von 2005).
Seine Wohnung im achten Stockwerk bot dem Autor auch realiter eine gute Möglichkeit, die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten; Hansres Jacobi (1970) gegenüber nannte er sie vielleicht auch deshalb scherzhaft seinen „elfenbeinernen Turm am Rande New Yorks“. Dass es Urzidil dabei sogar gelang, Long Island böhmischem Territorium anzuschließen, und welche Mühen er dafür auf sich nahm, berichtet Peter Demetz: Als ich die Urzidils dort besuchte […], war Johannes sehr stolz darauf, daß man von seiner Wohnung aus das Meer sehen konnte, genauer gesagt, nur von der kleinen Küche aus, und da mußte man den Kopf in einen abenteuerlichen Winkel drehen, ehe man ganz in der Ferne einen Silberstreifen sah. Ich wußte aber, worauf Urzidil hinaus wollte. Seine Wohnung, Böhmen ist überall, lag wahrhaftig am Meer, wie Shakespeare sagte, allerdings mit kleinen Modifikationen. (Demetz 1999: 27)
Auch im Blick vom Stingelfelsen ermöglicht die Sicht vom Empire State Building aus den gedanklichen Brückenschlag nach Böhmen – und gibt dem Autor gleichzeitig das Stichwort für eine Liebeserklärung an seine zweite Heimat: Und so ist der Blick vom Stingelfelsen auch mit mir, selbst hier in Amerika, mitten in New York. Von der Höhe des Empire-State-Buildings kann ich die Insel-, Brücken-, Strom- und Seehafenmetropole mit ihrem nimmermüden Getriebe, ihren Wolkenkratzer-Schluchten und ihrem beharrlichen Wachstum betrachten, sich unablässig ausweitend und überhöhend. Und ich spüre dabei nicht bloß diesen schwer atmenden Stadtgiganten, sondern zugleich die befreiende und frei erhaltende Weite des ganzen Amerika, das mich an sich zog wie der Magnet den winzigen Feilspan und mir seine Magnetkraft mitteilte wie diesem. (Urzidil 1972: 37)
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Abb. 5: Blick vom Empire State Building im Jahr 1961.12
4. Fazit und Epilog
Im Prager Triptychon schildert Johannes Urzidil eine zufällige Begegnung mit zwei alten Amerikanerinnen tschechischer Herkunft, die schon seit vielen Jahrzehnten in dem „riesigen, rauschenden New York“ leben. Mitten auf dem Broadway, im Angesicht der Wolkenkratzer, entspinnt sich folgender kleiner Dialog: ‚Und Sie‘, fragten sie mich, ‚woher sind denn Sie? ‘ – ‚Ich bin ein Deutscher aus Prag.‘ – ‚Oh, aus Prag‘, staunten sie, ‚dann sind Sie ja aus einer großen Stadt.‘ (Urzidil 1960: 29f.)
Die durch den unterstellten Vergleich zunächst kurios wirkende Bemerkung der alten Damen führt den Erzähler zu dem Schluss, dass Prag für ihn tatsächlich die ‚größere‘ Stadt ist: „Groß ist, was im Geist des Herzens errichtet bleibt.“ (Urzidil 1960: 30) Hier wird ein Wertmaßstab angelegt, der zum einen aus Urzidils unfreiwilliger Trennung von seiner ersten Heimat und der damit verbundenen Neigung 12 © Photograph courtesy of Empire State Building LLC, managed by Helmsley-Spear, Inc.
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zur nostalgischen Rückschau erklärbar ist. Zum anderen stellte die europäische Lebensart für ihn offensichtlich ein Leitbild dar, an dem er das deutlich empfundene ‚Andere‘ des American Way of Life zu messen suchte. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Darstellung der New Yorker Schauplätze und ihres Personals in Urzidils Prosa betrachtet. Ihr fehlen über weite Strecken der versöhnlich wirkende Humor und die Phantastik, jene beiden Elemente, die Urzidils Pragbilder prägen und seine Kritik an den Zuständen in der Moldaumetropole nicht selten relativieren. An ihre Stelle treten kriminologischer Scharfblick und soziologische Analyse: Der ‚Moloch‘ New York, so der Befund, hat seine Bewohner fest im Griff und prägt ihre Lebensformen in einer für den Zugezogenen schwer nachvollziehbaren, oft sogar schockierenden Weise. Der Erzähler scheut sich nicht vor moralischer Be- und manchmal auch Verurteilung, bemüht sich aber auch um Einfühlung in die Motive und Hintergründe der Protagonisten; damit stellt er seine Fähigkeit zur teilnehmenden Beobachtung unter Beweis. Besonders die Kinderfiguren dürfen Milde erwarten, denn sie erscheinen in doppelter Hinsicht als Opfer: Sie stehen zum einen unter dem verrohenden Einfluss der Stadt, zum anderen sind sie das Produkt des Erziehungsstils unfähiger Eltern. Als ästhetisches Phänomen übt die Stadt New York trotz aller Konflikte und Probleme eine starke Faszination auf den Erzähler Urzidil aus, wie sich anhand zahlreicher eindrucksvoller Schilderungen der Stadtkulisse zeigen lässt. Die äußere Gestalt der Metropole erscheint vor allem dann als positiv konnotiert, wenn Urzidil sie aus der Distanz betrachtet und dabei eine Beziehung zu bereits Vertrautem herstellen kann – etwa zu antiken Bauformen, zur Natur oder zur Musik. Johannes Urzidil, der seit 1946 amerikanischer Staatsbürger war und in New York bereits eine Grabstätte für sich und seine Frau gekauft hatte, starb 1970 auf einer Lesereise in Rom (Schmidinger 1970). Auch die italienische Metropole gehörte für den Erzähler im Prager Triptychon zu den ‚großen‘ Städten.13 Durch einen Winkelzug des Schicksals fand sein Autor die letzte Ruhestätte in diesem Zentrum europäischen Denkens.
13 Ausführlich widmet sich Brita Steinwendtner (2007) der Beziehung Urzidils zu Rom.
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Quellen
LBI: Leo Baeck Institute, New York.
Literatur
GH = Das Große Halleluja (Urzidil 1959) EN = Entführung und sieben andere Ereignisse (Urzidil 1964a) ER = Die erbeuteten Frauen (Urzidil 1970) LT = Die letzte Tombola (Urzidil 1971) RO = Bist du es, Ronald? (Urzidil 1968) Berger, David (1965): A conversation with Johannes Urzidil. – In: American-German Review 32/1 (October/November), 23-24. Brod, Max (1979): Der Prager Kreis. Mit einem Nachwort von Peter Demetz. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Darley, John M./Latané, Bibb (1968): Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility. – In: Journal of Personality and Social Psychology 8, 377-383. Decoin, Didier (2009): Est-ce ainsi que les femmes meurent. Paris: Grasset & Fasquelle [dt. 2011: Der Tod der Kitty Genovese. Aus dem Französischen von Bettina Bach. Zürich: Arche]. Demetz, Peter (1999): Johannes Urzidil lesen/wiederlesen. – In: Schiffkorn, Aldemar (Hg.), Böhmen ist überall. Internationales Johannes-Urzidil-Symposion Prag. Linz: Ed. Grenzgänger, 25-34. Grünzweig, Walter (1999): Permanente Revolution. Urzidil und die amerikanische Literatur. – In: Schiffkorn, Aldemar (Hg.), Böhmen ist überall. Internationales JohannesUrzidil-Symposion Prag. Linz: Ed. Grenzgänger, 101-113. Helling, Christa (1981): Johannes Urzidil und Prag. Versuch einer Interpretation (= Univ. degli studi di Trieste, 7). Triest: Del Bianco.
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Erinnerung als Konstante in Johannes Urzidils erzählerischem Werk
In keinem Werk Johannes Urzidils ist das Thema des Erinnerns so präsent wie im 1960 im Langen-Müller-Verlag erschienenen Erzählungsband Prager Triptychon (Kreuzer 2006). Die Evokation der Erinnerung ist dem Wesen der Stadt Prag inhärent, wie Urzidil es in der ersten Erzählung des Bandes, Relief der Stadt, beschreibt: Jedes Haus, jede Gasse, jeder Platz in Prag rief unaufhörlich die ganze Geschichte entlang: ‚Vergiß nicht das! Vergiß nicht jenes!‘, so daß man vor lauter Erinnerung und Vergeltungssucht das gegenwärtige Leben schier darüber vergaß. (Urzidil 1997: 17)
Die ganze Stadt, das erinnerte Prag, ‚atmet‘ die Erinnerung an vergangene Zeiten, an Sagen und Mythen, die sich mit der Gegenwart auf eine unentwirrbare Weise verknüpfen. Es ist die Erinnerung an ein vergangenes Leben, die im Relief der Stadt wehmütig anklingt, ein Leben und eine Ordnung, die in unerreichbare Ferne gerückt sind. Urzidil schrieb das Prager Triptychon – wie seine anderen Erzählungsbände – im Exil. Nicht nur dieser Band, sondern alle seine Erzählungen, die in Prag und Böhmen spielen, erinnern an die verlorene Heimat (Farese 1986). Urzidil, der 1941 vor den Nationalsozialisten aus England weiter in die USA floh, fand sich urplötzlich in einer völlig neuen Lebenswelt wieder. Konfrontiert mit der Unmöglichkeit, in seiner eigenen Sprache zu publizieren – er beharrte auf seiner Sprache und verweigerte sich der Übersetzung (Urzidil 1946) –, war er angewiesen auf ein sicherlich nicht sehr hohes Einkommen als Lederhandwerker und auf die Einkünfte seiner Frau Gertrude, die Kinder hütete. Hinzu kam die kulturelle Differenz: Urzidil kam aus einer Lebenswelt, die von Geschichte fast erdrückt wurde, einer Welt, in der fast jeder Stein auf eine lange und bedeutende Historie zurückblickte. Doch nicht allein die Architektur und die Baugeschichte Prags luden zum Verweilen in der Vergangenheit ein. Der Maler und Graphiker Hugo Steiner-Prag, mit dem Urzidil befreundet war (Urzidil 1947), beschrieb die Stadt in einem Brief an Gustav Meyrink als
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etwas ganz Merkwürdiges und sehr Seltsames, eine Stadt, die nicht nur mit Gassen und Häusern, sondern mit ihren Menschen in der Vergangenheit stecken bleiben wollte. (zit. n. Mühlberger 1981: 322)
Das entspricht natürlich dem gängigen literarischen Klischee eines Prags der Mythen und der Golems, in dem die meisten Prager Literaten – auch Johannes Urzidil – zumindest bis zu einem gewissen Grad gefangen waren. Amerika nun war das genaue Gegenteil: Hier wurde Urzidil mit einer fast manischen Zukunftsorientierung und einem Drang nach Geschichtslosigkeit konfrontiert. Das Im-Hier-und-Jetzt-Leben, ohne Blick auf die Vergangenheit oder die eigenen Wurzeln, sondern einzig auf den rasanten technischen Fortschritt gerichtet, musste Urzidils ausgeprägten Konservativismus und die Sehnsucht nach seiner Heimat herausfordern. Es ist also nicht verwunderlich, dass Urzidil seinen ersten Erzählungsband Die verlorene Geliebte nannte. In ihm zeichnete der Dichter in elf Erzählungen gleichsam allegorisch die Stationen seines Lebens nach, von Kindheit und Jugend in Prag und Böhmen über die nationalsozialistische Bedrohung in Prag 1939 und das englische Exil bis zur Ankunft in New York. Jede der Erzählungen ist in sich geschlossen und kann für sich alleine stehen, in ihrer Gesamtheit erfüllen sie jedoch die Funktion einer chronologischen Lebensrückschau. Gleichsam als Resümee des Bandes thematisierte Urzidil in der letzten Erzählung die Verlorenheit im Exil, die nie ganz zu schwinden vermag. Die verlassene Heimat wird zur verlorenen Geliebten: Auch der Verbannte verändert sich, und wonach er sich sehnt, ist nur sein eigenes Vormals, das ja auch nicht mehr da wäre, selbst wenn er in der Heimat hätte bleiben können. Zu der verlorenen Geliebten sollte man nicht zurückstreben. Aber das Herz verlangt schmerzhaft nach dem Leid der völligen Enttäuschung, um Ruhe zu finden. (Urzidil 1956: 335)
Dass Urzidil ein Erzähler der Erinnerung war, scheint also eigentlich eine triviale Feststellung. Faszinierenderweise steckt das Thema Erinnern jedoch nicht nur in den Texten, die sich mit der ‚Alten Welt‘, also mit dem Prag und dem Böhmen des untergegangenen Europas befassen, sondern auch in seinen sogenannten ‚amerikanischen‘ Erzählungen. Urzidil, der sehr klare Moralvorstellungen hatte, was besonders in den Erzählungen zutage tritt, die ihren Handlungsort in Amerika haben, und in denen er noch viel stärker als in den Prager Erzählungen die fortschreitende Verrohung der Gesellschaft und die soziale Kälte beschrieb, suchte dennoch das verbindende Element zu der Kultur, in der er lebte. So beschrieb er 1948 in einem Brief an Oskar Schürer, dass er dennoch
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das große Positive sehen [könne], die ungeheure Leistung und Vitalität, das Streben und die Gestaltung einer allmählichen Kulturphysiognomie, die Achtung vor dem Freiheitsrecht des Nebenmenschen in diesem Lande und die grosse Bereitschaft zur Hilfe, deren Wurzeln in der Pionierzeit ruhen. (zit. n. Popp 2008: 156f.)
Urzidil hatte – trotz aller propagierten Gegenwarts- und Zukunftsversessenheit der Amerikaner – die Wurzeln seines Gastlandes entdeckt. Dass sich dies auch immer auf die Auseinandersetzung mit den kulturellen und besonders den literarischen Wurzeln Amerikas bezieht, lässt sich beispielsweise auch in seinem nachdenklichen Aufsatz Literarische Reise durch Massachusetts von 1958 erkennen (Urzidil 1958). Am deutlichsten tritt dies sicherlich in seinem Roman Das Große Halleluja (Urzidil 1959) zum Vorschein. Hier entwarf er ein schillerndes Panorama Amerikas, mit allen Facetten, die dieses vielseitige Land zu bieten hat. Der Roman ist ein vielschichtiges Mit- und Nebeneinander verschiedener Erzählstränge, die in einem großen Ganzen zusammenlaufen. Die geschilderten Einzelschicksale entsprechen dem soziokulturellen ‚melting pot‘ der USA: irische und italienische Einwanderer, organisierte Kriminalität, einfache Arbeiter, Lebenskünstler, Intellektuelle, vor dem Nationalsozialismus geflohene Schriftsteller – sie alle repräsentieren das Amerika der 40er Jahre. Das verbindende Glied all dieser Erzählstränge ist die Hauptfigur Ellen, die mit allen anderen Figuren mehr oder minder stark in Kontakt tritt. Ellen ist geprägt vom Leben auf dem Land, und ihre tiefe Naturverbundenheit ist das Element, welches Natur und Stadt, Alte und Neue Welt, zu versöhnen vermag: In ihr lebt die Erinnerung an die Pionierzeit ihrer Vorväter fort und verleiht ihr die Stärke, die Gegenwart mit ihrem Fortschrittsfanatismus und ihrer Kälte gegenüber menschlichen Bedürfnissen kritisch und unaffektiert, aber mit einer unwiderstehlichen Empathie zu meistern. Diese Empathiefähigkeit bewegt schließlich andere, wie zum Beispiel den Mafiaboss Morelse dazu, sich zu erinnern; dem Erinnern wohnt dabei ein kathartisches Moment inne. Auch wenn es Urzidil gelang, im Großen Halleluja Vergangenheit und Gegenwart zu harmonisieren, überwiegt in seinen amerikanischen Erzählungen doch das Befremden und die Ohnmacht gegenüber dem ‚American Way of Life‘. Einerseits fasziniert von der umfassenden Freiheit, die sein Gastland zu bieten hatte, beschrieb er andererseits immer wieder fassungslos, wie Kinder zu Mördern werden, weil sie vernachlässigt sind oder zuviel Freiheit haben; wie Menschen Opfer der ‚Umstände‘ werden, nur weil sie in die falsche gesellschaftliche Schicht hinein geboren wurden. In Erzählungen wie Die Krücken (aus Entführung und sieben andere Ereignisse, Urzidil 1964) oder Der Stahlpalast (aus Die erbeuteten Frauen, Urzidil 1966) finden sich zahlreiche Beispiele hierfür.
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Wir haben also auch im literarischen Werk Urzidils zunächst zwei unterschiedliche Lebenswelten, die aufeinandertreffen: Das in der Retrospektive verherrlichte Prag, die alte Welt, in der die Ordnung prinzipiell klar erscheint, eine Welt, die für Werte und Traditionen steht. Auf der anderen Seite stehen Amerika und New York als Sinnbild der Großstadt, dominiert von Fortschrittsgläubigkeit, Materialismus, Schnelligkeit und sozialer Kälte, eine Wegwerfgesellschaft, die ihre Geschichts- und Respektlosigkeit in selbstgefälliger Manier zelebriert und den Gedanken der allumfassenden Freiheit ad absurdum führt. Je länger Urzidil über Amerika schrieb, desto häufiger waren seine Erzählungen geprägt von der Kritik und dem Missfallen gegenüber dem ‚American Way of Life‘ (Schwarz 1985, Grünzweig 1999). Doch dahinter scheint noch eine andere Seite der Neuen Welt durch: Figuren, die aufgrund der Erinnerung an ein Ereignis in ihrem Leben eine Veränderung erfahren, welche sie zeitlebens begleiten wird – und die durch die Erinnerung angehalten sind, Buße zu tun für ihre Missetaten. Beispiele sind die Erzählungen Ein alter Brief und Taubenfutter (aus Das Elefantenblatt; Urzidil 1962). Aber nicht nur Buße ist das Resultat von Erinnerung: Da sind Figuren, deren Erinnerung an die Alte Welt ein Hauptbestandteil ihres Daseins ist, Menschen, die ins Exil gezwungen wurden wie der Schriftsteller Josephus Weseritz im Großen Halleluja, der deutlich autobiographische Züge trägt, oder das Emigrantenpaar in der Erzählung Das Aviso (aus Das Elefantenblatt; Urzidil 1962), die nun versuchen, in der fremden Umgebung Fuß zu fassen und ein Stück Heimat neu zu gewinnen. Schließlich gibt es in den amerikanischen Erzählungen auch immer wieder Figuren, die an die Gestalten aus den Prager Erzählungen erinnern, wie z. B. der junge Mann, der sich in Tausendfuß (aus Bist du es, Ronald?; Urzidil 1968) das Leben nehmen will, weil er seine Freundin zur Abtreibung gezwungen hat und sie dabei gestorben ist – diese Geschichte erinnert an Weißenstein und seine Philomene aus dem Prager Triptychon, die sich – vom Drängen Weißensteins getrieben – vor ein Auto wirft und dabei ums Leben kommt. Urzidil legte seinen Fokus immer wieder auf die sogenannten kleinen Leute, deren Schicksal repräsentativ für die Menschheit im Allgemeinen steht. Ob die verbitterte Frau aus der Erzählung Taubenfutter ihrer selbstauferlegten Buße für den Tod ihres Sohnes vor der Bibliothek in New York oder in Prag nachgeht, ist für die Vermittlung des Inhalts im Grunde genommen irrelevant. Der Beispiele wären hier viele. Ein weiterer erzählerischer Kunstgriff Urzidils in seinem Werk liegt darin, dass er Figuren erschuf, die in sich die Erinnerung an eine andere, vergangene Welt tragen, wie Athalia Montez (aus Entführung und sieben andere Ereignisse; Urzidil 1964), die an die „kumäischen, thrakischen oder auch sogar die delphischen Seherinnen“ erinnert, oder „Schmar, ein von Kaf-
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ka erdichteter, daher wirklicher Mörder“, der in der Erzählung Der Stahlpalast eine Rolle spielt, und mit dem Urzidil Kafka quasi ein literarisches Denkmal setzt – eines von vielen. Man kann den Stahlpalast jedoch auch anders lesen: Urzidil hat Kafkas Brudermord zwar ein wenig abgewandelt und einiges hinzugedichtet, wie z. B. die Heimkehr Schmars zu seiner schlafenden Familie, andererseits hat er aber auch Passagen aus Kafkas Text wörtlich übernommen. Man könnte diesen Kunstgriff Urzidils dahingehend interpretieren, dass Prag und New York letztlich austauschbar sind. Dass dies letztendlich auch in Urzidils persönlicher Wahrnehmung der Fall war, zeigt folgendes Zitat: Unsere Generation ist in eine Mobilität gezwungen worden, bei der das ‚Haus‘ gleichsam wie die Bundeslade der Juden mitwandert. […] Wo immer ich bin, ist Prag, sind meine Prager Wohnungen. Das geht so weit, dass wir sogar New York im Gespräch mit Prag verwechseln. (zit. n. Serke 1987: 186)
Orte sind Erinnerungsträger: „Erinnerung kann in einen Raum hineinprojiziert werden, sie kann aber auch selbst diesen Raum herstellen und strukturieren“ (Damir-Geilsdorf/Hendrich 2005: 32). Darum erscheint es bei Urzidil allzu oft, dass New York – trotz seiner Wolkenkratzer, seiner U-Bahn, seiner Schnelligkeit – der verlorenen Heimat Prag so sehr ähnelt. Nicht unbedingt in der Darstellung der Architektur der beiden Städte, aber in der Konzeption der Figuren. Erinnerung ist bekanntlich ein zentraler Faktor für die Identitätsbildung eines Individuums. Indem man sich erinnert, reiht man sich selbst in ein größeres Ganzes ein, verleiht seinem Leben eine Kontinuität. Was man erinnert, ist jedoch nicht bildhaft im Gedächtnis gespeichert; das ist in der Erinnerungsforschung – in der psychologischen wie auch in der literaturwissenschaftlichen – mittlerweile hinreichend belegt. Wer erinnert, rekonstruiert die Vergangenheit. Man könnte auch sagen: Er schreibt seine eigene Geschichte neu. Auch Urzidil pflegte die Erinnerung, indem er dichtete. An Heinz Risse schrieb er am 3. Juni 1960, dass es ihm „lieber und entsprechender [sei], das Erlebte in Erzählung aufzulösen“.1 Das gab ihm die Möglichkeit, nicht nur die Realität zu schildern, sondern das Erzählte auszuschmücken – oft mit Hilfe des unzuverlässigen Erzählens (Martinez/Scheffel 2002: 95-107; Müller 1992: 187; Kindt 2001: 36-60). Man denke dabei an den Begriff der „exakten Phantasie“ (Urzidil 1962: 264). Das ‚So könnte es gewesen sein‘ zieht sich durch Urzidils gesamtes Werk. In einem großen Teil der Erzählungen Urzidils findet eine Vermischung von Erinnertem und Legende statt; das Erinnern steht im Vordergrund, das unzuverlässige Erzählen wird als Methode genutzt, um das 1 LBI (Johannes and Gertrude Urzidil Collection, AR 7110: Brief Urzidil an Heinz Risse, 03.06.1960).
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Erinnerte anschaulicher zu gestalten. Hierzu bediente er sich auch der Dichtung als einer Art Topos, indem er die Figuren sich selbst erschaffen lässt, wie im Prager Triptychon Weißenstein, der als Toter seine Lebensbeichte ablegt, oder Key, der totgeglaubte Kafka, der in Kafkas Flucht (Urzidil 1964) als 80jähriger Gärtner in den USA ein beschauliches kleines Leben lebt. Anlässlich der Verleihung des Andreas-Gryphius-Preises 1966 schrieb Urzidil in seiner Dankesrede: „Der Sinn [...] aller meiner Bemühungen war immer: Verbindungen herzustellen, Brücken zu schlagen, das Vereinigende zu zeigen und zur Wirkung zu bringen.“ (Urzidil 1967: 21) Für Urzidil war das Erinnern zunächst die einzige Brücke nach Europa. In seinen Erzählungen, die er – da (fast) ohne Publikum – nur für die Schublade schrieb, versuchte er, die von den Nazis zerstörte Welt, seine Welt, zu erhalten, nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Aber nicht nur das: Das erzählte Erinnerte war die einzige Möglichkeit, einen Halt in der Fremde zu finden, die einzige Aussicht, die eigene Identität nicht zu verlieren. Urzidil erinnerte – um seiner selbst willen. Nach und nach, als Urzidil in den USA einigermaßen Fuß fasste, änderte sich diese Position: In einem Gespräch mit Irmgard Bach 1959 wird dies deutlich: Amerika ist ein Land, das einen geradezu zur Epik herausfordert. Es ist ein Land, das einen, ich möchte sagen, zum Erzähler machen kann, und zwar nicht nur zum Erzähler der Dinge, die hier in Amerika vorgehen, sondern auch: es fordert einen zum Rückblick auf und zu dem Versuch, das einst Erlebte mit der Gegenwart zu vereinbaren. (Bach 1980: 169)
Erinnerung wurde zum Kontinuum, zum Motor seines Werkes: Sie diente nicht mehr nur dazu, sein früheres Ich zu erhalten, sondern sie erhielt nun die Funktion, wieder ‚ein Ganzes‘ aus ihm selbst zu machen. Indem er die Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, der Alten und der Neuen Welt schlug, schaffte er die Grundlage dessen, was ihn, der durch die Nationalsozialisten fast alles verloren hatte, zeitlebens aus tiefster Überzeugung beschäftigt hat: Versöhnung. Eine solche Versöhnung kann jedoch nur mit und in der Erinnerung erreicht werden: Urzidil ist nie nach Prag zurückgekehrt; einer der relevantesten Gründe für das Verbleiben in den USA war der literarische Rückbezug auf die Heimat: „Es wäre sonst die Quelle, von der meine Arbeit lebt, für immer versiegt“ (zit. n. Zettl 1999: 62). Auf diese Weise lässt sich auch die Allegorie verstehen, die am Ende der Zauberflöte im Prager Triptychon steht: „Die Welt ist eine Brücke. Gehe du über sie, aber lasse dich nicht darauf nieder“ (Urzidil 1997: 218). Indem Urzidil schrieb, erinnerte er. Indem er schrieb, erschuf er sich selbst neu – und kehrte zu sich zurück.
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Quellen
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Bibliographie der selbständigen Veröffentlichungen Johannes Urzidils. Eigene Werke, Übersetzungen, Bearbeitung, Herausgeberschaft, Urzidil-Anthologien Aufgeführt werden alle als selbständige Veröffentlichung publizierten Werke Johannes Urzidils sowie einen Essay (Nr. 30) und eine historische Studie (Nr. 20), die später in Übersetzung bzw. zweisprachiger Fassung als Separatausgabe veröffentlicht wurden. Die Bibliographie beruht auf der Johannes-UrzidilGesamtbibliographie von Vladmír Musil (= Miloš Minařík) und Gerhard Trapp () sowie auf eigenen Recherchen. Die deutschsprachigen Buchgemeinschaftsausgaben wurden zum Teil lediglich durch einen Aufkleber im Buch ‚um-verlegt‘. 1.) Urzidil, Johannes (1919): Sturz der Verdammten. Gedichte. Leipzig: Kurt Wolff.
Nachdrucke:
Ders. (1970): Dass. – In: Schöffler, Heinz (Hg.), Der Jüngste Tag. Die Bücherei einer Epoche. Reprint in zwei Bänden. Bd. 2. Frankfurt/M.: Heinrich Scheffler., 753-792 + separate Paginierung.
Ders. (1970): Dass. – In: Ders., Dass. Lizenzausg. Bd. 2. Darmstadt: Moderner Buchclub, 753-792 + separate Paginierung.
Ders. (1981): Dass. – In: Ders., Dass. Nachdruck in sechs Bänden. Hrsg. und mit einem dokumentarischen Anhang v. Heinz Schöffler. Bd. 5. Frankfurt/M.: SocietätsVerl., 2559-2598 + separate Paginierung.
Ders. (1982): Dass. – In: Ders., Dass. Lizenzausg. Bd. 5. Frankfurt/M., Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg, 2559-2598 + separate Paginierung.
2.) Brand, Karl (1921): Das Vermächtnis eines Jünglings. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Johannes Urzidil. Vorw. v. Franz Werfel. Wien, Prag, Leipzig: Eduard Strache.
Nachdruck:
Ders. (1973): Dass. Nendeln: Kraus.
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3.) Beethoven, Ludwig van (1926): Die Ruinen von Athen. op. 113. Auf Grund des Original-Textes von August von Kotzebue erneuert durch Johannes Urzidil. Klavierauszug mit Text. Wien, Leipzig: Universal-Edition. Reine Textausgabe, ohne Klavierauszug: Ders. (1926): Dass. Ebd.
4.) Urzidil, Johannes (1930): Die Stimme. Als Manuskript gedruckt. Berlin: Lyrische Fachgruppe des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Druckaufsicht: Alfred Richard Meyer alias Munkepunke.
5.) Urzidil, Johannes (1932): Goethe in Böhmen. Wien, Leipzig: Dr. Hans Epstein 1932.
Sonderausgabe der Stadt Teplitz-Schönau [Teplice-Šanov] aus Anlass von Goethes hundertstem Todestag: Ders. (1932): Dass. Ebd. [Mit zwei zusätzlichen Teplitzer Bildern.] 2., stark erweiterte u. überarbeitete Ausgabe:
Ders. (1962): Dass. Zürich, Stuttgart: Artemis.
3., nochmals erweiterte u. überarbeitete Ausgabe (= 2., erweiterte u. überarbeitete Auflage der 2. Ausgabe):
Lizenzausgabe:
Übersetzung:
Ders. (1965, ²1981): Dass. Ebd. Ders. (1966): Dass. Berlin, Darmstadt, Wien: Deutsche Buch-Gemeinschaft. Ders. (2009): Goethe v Čechách. Übers. v. Veronika Dudková u. Michaela Jacobsenová. Hrsg. u. Nachw. v. Václav Petrbok. Přibram: Pistorius & Olšanská.
6.) Urzidil, Johannes (1936): Zeitgenössische Maler der Tschechen: Čapek, Filla, Justitz, Špála, Zrzavý. Bratislava: Forum. 7.) Urzidil, Johannes (1936): Wenceslaus Hollar, der Kupferstecher des Barock. Mit einem Beitrag v. Franz Sprinzels. Wien, Leipzig: Dr. Rolf Passer.
Übersetzungen:
Ders. (1937): Václav Hollar. Umělec, vlastenec, světoobčan. Za spolupráce Franze Sprinzelse [Václav Hollar. Künstler, Patriot, Weltbürger. Mit einem Beitrag von Franz Sprinzels]. Autorisierte Übers. v. Zdeněk Helfert. Praha: Orbis.
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Bibliographie
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Vorzugsausgabe:
Ders. (1937): Dass. Illustriert v. Karl Svolinský. Ebd.
Tausend Exemplare, von Beneš und Urzidil signiert; einsehbar, mit Download, unter .
9.) Papoušek, Dr. Jaroslav (1937): Dr. Edvard Beneš. Sein Leben. Autorisierte Übertragung v. Johannes Urzidil. Prag: Orbis. 10.) N. N. [= Urzidil, Johannes] (1939): Reiseführer durch Prag. Prag: Orbis. Anonym publizierte Kurzfassung von Urzidils im Auftrag der tschechoslowakischen Regierung verfassten Führer durch die Tschechoslowakei, der aufgrund der deutschen Okkupation 1939 nicht mehr erscheinen konnte, von dem sich aber eine vollständige Vorabausgabe in Urzidils Nachlass im Leo Baeck Institute in New York erhalten hat.
11.) Urzidil, Johannes (1945): Der Trauermantel. Eine Erzählung aus Stifters Jugend. New York: Friedrich Krause.
Neuausgabe:
Ders. (1955): Dass. München: Langen Müller. Aufgenommen in: Ders. (1962): Das Elefantenblatt.
Übersetzung in Separatausgabe:
Ders. (1997): La vanessa. Un racconto sulla giovinezza di Stifter. Übers. u. Nachw. v. Gianni Bertocchini. Piombino: Aktis.
Außerdem in: Ders.: La fuga di Kafka (1992), Poslední host/Der letzte Gast (1999), Jdu starým lesem (2005).
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Neuauflagen:
Ders. (1964): Dass. Nachw. v. Oskar Holl. Ebd.
Ders. (1969): Dass. Nachw. v. Oskar Holl. Ebd.
Ders. (1979): Dass. Nachw. v. Oskar Holl. Ebd..
Ders. (1996): Dass. Ein Prag-Roman. Mit einem Beitrag v. Otto Fritz Beer. Ebd.
Lizenzausgaben:
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Auswahlausgabe von drei Erzählungen:
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Übersetzungen:
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15.) Urzidil, Johannes (1957): Die Memnonssäule. Gedichte. Wien: Bergland. 16.) Urzidil, Johannes (1958): Denkwürdigkeiten von Gibacht. München: Langen Müller.
Lizenzausgabe:
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22.) Urzidil, Johannes (1962 [de facto 1963]): Geschenke des Lebens. Hrsg. u. Einleitung v. Ernst Schönwiese. Graz, Wien: Stiasny. Zusammenstellung von zwei Erzählungen aus Die verlorene Geliebte (1956) sowie Prager Triptychon (1960, gekürzt), elf Gedichten aus Die Memnonssäule (1957), elf unveröffentlichten Gedichten und einem unveröffentlichten Essay. Von diesem Taschenbuch gibt es innerhalb einer Auflage zwei verschiedene Ausgaben: Da Urzidil die Einbandgestaltung von Albert Großauer, insbesondere das Titelbild, sehr stark missfiel und er deswegen beim Stiasny-Lektor Viktor Suchy intervenierte, erschien das Bändchen ab der zweiten Bindequote mit gänzlich neuer Einbandgestaltung und einer Zeichnung des mit Urzidil befreundeten Künstlers Hans Fronius auf dem Cover.1
23.) Urzidil, Johannes (1964): Amerika und die Antike. Zürich, Stuttgart: Artemis 1964. 24.) Urzidil, Johannes (1964): Entführung und sieben andere Ereignisse. Zürich, Stuttgart: Artemis. 25.) Urzidil, Johannes (1965): Da geht Kafka. Zürich, Stuttgart: Artemis 1965.
Um vier Essays erweiterte Taschenbuchausgabe:
Neuauflage:
Übersetzungen:
Ders. (1966): Dass. München: dtv. Ders. (2004): Dass. Nachw. v. Herbert Rosendorfer. München: Langen Müller.
Ders. (1968): Daar gaat Kafka. Übers. v. Hermien Manger. Amsterdam: Meulenhoff.
Ders. (1968): There goes Kafka. Übers. v. Harold A. Basilius. Detroit: Wayne State UP.
Ders. (2002): Di qui passa Kafka. Übers. v. Margherita Carbonaro. Milano: Adelphi.
Ders. (2010): To byl Kafka [Da war Kafka]. Übers. v. Jana Zoubková. Praha: Dokořan/ Maj.
26.) Urzidil, Johannes (1965): Literatur als schöpferische Verantwortung. Zürich, Stuttgart:Artemis. 27.) Urzidil, Johannes (1965): Prag als geistiger Ausgangspunkt. Ansprache zum 80sten Geburtstage von Erich von Kahler im Leo Baeck Institute, New York am 21sten Oktober 1965. New York: Leo Baeck Institute.
1 S. hierzu den diesbezüglichen Briefwechsel Urzidils mit dem Stiasny-Verlag und Fronius in Urzidils Nachlass im Leo Baeck Institute in New York; auch im Internet einsehbar unter .
Bibliographie
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28.) Urzidil, Johannes (1966; 21968): Die erbeuteten Frauen. Sieben dramatische Geschichten. Zürich, Stuttgart: Artemis. Lizenzausgabe: Ders. (1966): Dass. Zürich: Buchclub Ex libris. Taschenbuchausgabe:
Ders. (1970): Dass. München: dtv.
29.) Urzidil, Johannes (Text)/Jaenicke, Anselm (Photos)(1966): Prag. Glanz und Mystik einer Stadt. Krefeld: Scherpe.
Mit dt. u. engl. Text, übers. v. Walter Sorell.
30.) Urzidil, Johannes (1967): Der lebendige Anteil des jüdischen Prag an der neueren deutschen Literatur. – In: Bulletin des Leo Baeck Institute. 10/40, 276-297.
Englische Separatausgabe:
Ders. (1968): The living contribution of Jewish Prague to modern German literature. Übers. v. Michael Lebeck. New York: Leo Baeck Institute.
31.) Urzidil, Johannes (1968): Bist du es, Ronald? Erzählungen. Zürich, Stuttgart: Artemis 1968.
Lizenzausgabe:
Ders. (1970): Dass. Zürich: Buchclub Ex libris.
32.) Urzidil, Johannes (1969, ²1969, ³1972, 41985): Väterliches aus Prag und Handwerkliches aus New York. Zürich: Artemis. 33.) Urzidil, Johannes (1971): Die letzte Tombola. Erzählungen. Zürich, Stuttgart: Artemis.
Taschenbuchausgabe:
Ders. (1973): Die letzte Tombola und andere Erzählungen. München: Goldmann.
Separat erschienene Übersetzungen aus Die letzte Tombola:
Ders. (1998): L’or de Caramablu [Das Gold von Caramablu]. Übers. u. Vorw. v. Isabelle Ruiz. Paris: Horay 1998.
Ders. (2003): El oro de Caramablú. Übers. v. Daniel Chavarría. Tafalla: Txalaparta.
34.) Urzidil, Johannes (1971): Morgen fahr’ ich heim. Böhmische Erzählungen. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Heinz Politzer. München: Langen Müller. Zusammenstellung (nach einem Plan Urzidils) von fünfzehn Erzählungen aus Prager Triptychon (1960), Das Elefantenblatt (1962), Die erbeuteten Frauen (1966) und Bist du es, Ronald? (1968).
Lizenzausgabe:
Ders. (1972): Dass. Wien: Buchgemeinschaft Donauland.
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35.) Urzidil, Johannes (1972): Bekenntnisse eines Pedanten. Erzählungen und Essays aus dem autobiographischen Nachlass. Hrsg. u. Einführung v. Hansres Jacobi. Mit einer Urzidil-Bibliographie v. Věra Macháčková-Riegerová im Anhang. Zürich, München: Artemis.
Zusammenstellung von bislang verstreut publizierten oder unveröffentlichten Texten.
36.) Urzidil, Johannes (1976): Gesammelte Erzählungen in 5 Bänden. Zürich, München: Artemis. Kassettenausgabe (aber keine Neuauflage) von Entführung und sieben andere Ereignisse (1964), Die erbeuteten Frauen (1966), Bist du es, Ronald? (1968), Die letzte Tombola (1971) und Bekenntnisse eines Pedanten (1972).
37.) Urzidil, Johannes (1976): Die Rippe der Großmutter. Erzählungen. Hrsg. u. Nachw. v. Dietrich Simon. Berlin (Ost): Volk und Welt. Zusammenstellung von neunzehn Erzählungen aus Das Elefantenblatt (1962), Die erbeuteten Frauen (1966), Bist du es, Ronald? (1968) und Die letzte Tombola (1971).
38.) Urzidil, Johannes (1985, ²1988): Hry a slzy [Spiele und Tränen]. Übers. v. František Marek. Vorw. v. Jiři Veselý. Praha: Odeon. Zusammenstellung von zehn Erzählungen aus Die verlorene Geliebte (1956) und Das Elefantenblatt (1962).
39.) Urzidil, Johannes (1989): La Maison des neuf diables [Das Haus zu den neun Teufeln]. Übers. v. Jacques Legrand. Paris: Desjonquères. Zusammenstellung von fünf Erzählungen aus Das Elefantenblatt (1962) und Bist du es, Ronald? (1968).
40.) Urzidil, Johannes (1991): La Fuite de Kafka et autres nouvelles [Kafkas Flucht und andere Erzählungen]. Übers. v. Jacques Legrand. Paris: Desjonquères. Zusammenstellung von drei Erzählungen aus Entführung und sieben andere Ereignisse (1964) und Bist du es, Ronald? (1968).
41.) Urzidil, Johannes (1992): La fuga di Kafka [Kafkas Flucht]. Übersetzt v. Antonio Pasinato u. Gian Carlo Giani. Hrsg. u. Nachw. v. Antonio Pasinato. Vorw. v. Italo Alighiero Chiusano. Roma: Lucarini. Zusammenstellung von vier Erzählungen aus Das Elefantenblatt (1962) und Entführung und sieben andere Ereignisse (1964).
42.) Urzidil, Johannes (1996): Kde údolí končí [Wo das Tal endet]. Übers. v. Anna Nováková u. Jindřich Buben. Praha: Argo. Zusammenstellung von neun Urzidil-Texten aus Die verlorene Geliebte (1956), Die erbeuteten Frauen (1966) und Bekenntnisse eines Pedanten (1972).
Bibliographie
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43.) Urzidil, Johannes (1999): Poslední host/Der letzte Gast. Bilingvní vydání [Zweispr. Ausg.]. Übers. v. Anna Nováková u. Jindřich Buben. Hrsg. v. Milada Urbanová [jetzt Minaříková], Vladimír Musil [= Miloš Minařík] u. a. Ill. v. Eva Prokopcová. Horní Planá: Srdce Vltavy. Zusammenstellung von vier Texten aus Die verlorene Geliebte (1956), Das Elefantenblatt (1962) und Bekenntnisse eines Pedanten (1972) sowie Essays zu Urzidil von Gerhard Trapp und Vladimír Musil und zuvor unveröffentlichten Dokumenten.
44.) Urzidil, Johannes (2003): Život s českými malíři. Vzájemná korrespondence s Janem Zrzavým. Vzpomínky – texty – dokumenty [Leben mit tschechischen Malern. Briefwechsel mit Jan Zrzavý. Briefe – Texte – Dokumente]. Übers. v. Vladimír Musil [= Miloš Minařík] u. Milada Urbanová [jetzt Minaříková]. Hrsg. v. Vladimír Musil. Horní Planá bzw. Hluboká: Fraktál/Alšova jihočeská galerie. Zusammenstellung von zum Teil verstreut publizierten Essays sowie vorher unveröffentlichten Briefen und Dokumenten, außerdem mit einer umfangreichen biographischen Studie zu Urzidil von Vladimír Musil.
45.) Urzidil, Johannes (2005): Jdu starým lesem. (Ich gehe durch den alten Wald). Hrsg. u. übers. v. Jan Mareš. Nachw. v. Martin Gaži. České Budějovice: Jihočeská vĕdecká knihovna. Zusammenstellung von sieben Texten aus Die verlorene Geliebte (1956), Das Elefantenblatt (1962), Geschenke des Lebens (1962) und Bekenntnisse eines Pedanten (1972) sowie zwei Zeitungsartikeln aus der Bohemia (1936) bzw. der Prager Rundschau (1937).
46.) Peroutka, Ferdinand/Urzidil, Johannes (2008, 22008): O české a německé kultuře [Über tschechische und deutsche Kultur]. Einleitung v. Jaromír Loužil. Hrsg. v. Martin Groman, Jaroslava Jiskrová u. Václav Maidl. Praha: Dokořan/Maj.
Übersetzung:
Dies. (1998): Gespräche im amerikanischen Exil über tschechische Literatur und Kultur. Übers. v. Michael Berger. Einf. v. Michael Berger u. Jaromír Loužil. Anm. v. Jaromír Loužil. In: brücken NF 6, 89-132.
47.) Johann, Klaus/Schneider, Vera (Hrsg.) (2010): HinterNational – Johannes Urzidil. Ein Lesebuch von Klaus Johann und Vera Schneider. Mit dem Audiofeature „Der böhmische Akzent. Johannes Urzidil und das Radio“ von Ingo Kottkamp auf CD. Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa. Zusammenstellung von Texten und Textauszügen von und über Urzidil aus verschiedenen Büchern und Zeitschriften, außerdem Biographie und unfangreicher biographisch-bibliographischer Anhang.
Personenregister Adámek, Karel 322 Adler, Bruno 417 Adler, Ervin 328 Adler, Friedrich 129-132, 329 Adler, H. G. 37, 131, 415ff., 422f. Adler, Victor 118 Adorno, Theodor W. 15, 61, 160, 403 Aldington, Richard 433 Alexander, Manfred 28 Allemann, Fritz Rene 31 Alt, Peter-Andre 372 Altenberg, Tilmann 499f., 503 Altrichter, Anton 489 Anders, Günther (= Günther Stern) 395, 397, 402-406, 408, 411f. Anders, Władysław 406 Andreas (Apostel) 272 Andrews, Wayne 453 Angel, Ernst 136 Anz, Thomas 115 Arendt, Hannah 404 Aristoteles 84, 91, 239 Armbrust, Heinz-Jürgen 33 Arnim, Bettina v., s. Brentano, Bettine Arnold, Heinz Ludwig 424 Arundel, 22nd Earl of, s. Howard, Henry Frederick Assmann, Aleida 128 Assmann, Jan 386 Auersperg, Joseph Graf v. 107 Augustin, Michael 35 Augustinus von Hippo/Aurelius Augustinus 157
Bach, Irmgard 35, 566 Bach, Johann Sebastian 225 Bachmann, Harald 192 Badeni, Kasimir Felix Graf 134 Baeck, Leo 20, 26, 34, 36, 39, 201, 298, 302ff., 309, 415, 435ff., 441, 445 Bahr, Erhard 344 Bakacsy, Judith 454f., 464, 470 Bartholomäus (Apostel) 272 Bass, Eduard 28, 325 Batka, Richard 129 Bauer, Felice 407 Bauer, Ludwig 28, 33 Bauer, Maria 33 Bauer, Robert Albert 33 Bauer, Stefan 26, 278 Baum, Oskar 129, 135, 418 Baylis, Bertram 436 Beauharnais, Eugene de 256 Becher, Johannes Robert 116 Becher, Peter 423 Becker, Sabina 116 Beckett, Samuel 403 Bednářová, Veronika 29 Beecher Stowe, Harriet 34 Beethoven, Ludwig van 20, 225 Beneš, Edvard 21, 37, 65, 76, 194, 196, 211, 230ff., 238, 278, 288f., 424 Ben-Horin, Michal 420 Benjamin, Walter 15, 404, 420 Benn, Gottfried 116 Benstock, Shari 433 Berg, Jan 105 Berger, David 544 Berger, Michael 24, 491 Bergmann, Alfred 319
Bergman[n], Samuel [auch Schmuel] Hugo 135, 203 Bermann, Richard Arnold 118 Bernays, Michael 323 Bertocchini, Gianni 25 Bezruč, Petr 36, 38, 169f. Biedermann, Flodoard v. 105 Biedermann, Woldemar v. 105 Bill, Friedrich 31 Binder, Alwin 21, 27, 135, 313 Binder, Hartmut 16, 33, 36, 178, 183, 480, 517 Bischof (geb. Kreuzer), Anja 16, 19, 26, 40, 366, 446, 561 Bischof, Anna 34 Bismarck, Otto v. 76, 312, 316 Blanchot, Maurice 380 Bluhm, Harald 69 Blumenberg, Hans 258, 261 Böhme, Thomas 22 Boland, Gertrude 230, 541 Böll, Heinrich 36 Bollenbeck, Georg 344 Bolzano, Bernard 27, 54, 89-109, 205 Borchmeyer, Dieter 324 Born, Jürgen 36 Borovský, František Adolf 282f., 286f. Borovský Havlíček, Karel s. Havlíček, Karel Borový, František 326 Bosch, Hieronymus 155f., 158 Bossi, Giuseppe 255ff., 262, 264-267 Bourdieu, Pierre 55 Brand, Karl 20, 129ff., 134138, 298
580 Brandes, Detlef 65 Brandl, Benedikt 324 Brandl, Peter Johann 221 Bratránek, František Tomáš (auch Franz Thomas) 322 Braun, Matthias 221 Braungart, Wolfgang 152, 363 Brecht, Bertolt 116, 118, 402, 465f. Brentano, Bettine (auch Bettina, verh. v. Arnim) 108 Březina, Otokar/Ottokar (= Václav Ignác Jebavý) 21, 167ff., 170-175, 177-183 Briegleb, Klaus 15 Broch, Hermann 36, 118f., 402, 481 Brod, Max 16, 36f., 119, 121f., 129-137, 139f., 153, 201-212, 236, 358, 402, 411f., 416-421, 424ff., 496, 499, 531, 539 Bronzino, Agnolo 248, 250f. Broukalová, Jindra 19, 243, 289 Brudzyńska-Němec, Gabriela 17, 19, 27 Bruegel, Pieter d. Ä. 155 Bryant, William Cullen 34 Bryher (= Annie Winifred Macpherson, geb. Ellerman) 29, 36, 38, 75, 228, 314, 421, 424, 431-440, 443 Buber, Martin 36, 135, 203, 207 Bullivant, Keith 15 Bulwer, John 260 Burckhardt, Carl Jacob 36, 38, 262ff. Burget, Eduard 304 Busta, Christine 36, 38, 453463, 465-471
Register Bušta, Magdalena 456
Cziczatka, Angela 33
Čapek, Josef 20, 37, 298, 300, 325, 332 Čapek, Karel 278, 330, 507 Carl (auch Karl) August von Sachsen-WeimarEisenach 255ff. Cassirer, Ernst 100f. Čelakovský, František Ladislav 323, 351, 353 Celan, Paul 160 Černík, Artuš 37f., 217f., 227, 235, 237ff., 298 Černý, František 12 Cervantes, Miguel de 405 Červenka, Miroslav 172, 174, 177 Chalupný, Emanuel 167, 169, 173 Chamisso, Adalbert v. 444 Chaplin, Charles 237 Chárová, Šárka 12 Charvát, Filip 19 Chelčický, Petr 238 Chiusano, Italo Alighiero 25 Churchill, Winston 435 Cicero/Marcus Tullius Cicero 272 Ciechanowska, Zofia 319 Čižek, Ludvík 456 Coffin, Robert Peter Tristram 34 Comenius, Johann Amos, s. Komenský, Jan Amos Conrad, Joseph 444 Cooper, James Fenimore 239, 446, 533 Corbin, Alain 84 Csokor, Franz Theodor 417 Curtius, Ernst Robert 152 Cysarz, Herbert 329f., 349 Czernin v. Chudenitz, Johann Rudolf Graf 107 Czernin v. Chudenitz, Maria Theresia Gräfin 107
Dahrendorf, Ralf 69 Damir-Geilsdorf, Sabine 565 Danneberg, Lutz 116 Darley, John M. 548 Decoin, Didier 548 Deleuze, Gilles 152f. Dell’Anna Ciancia, Elisabetta 25 Demetz, Han[n]a 131 Demetz, Hans 135, 150f., 418 Demetz, Peter 16f., 22, 35, 58, 66, 94, 115, 150ff., 154, 374, 401, 425, 476, 481f., 555 Den, Petr s. Radimský, Ladislav Denkstein, Vladimir 288 De Quincey, Thomas 300 Dérer, Ivan 325, 329 Deschner, Karlheinz 459 Despiaux, Charles 303 Deutsch, Ernst 129 Deyl, Rudolf 325 Dickinson, Emily 34 Diderot, Denis 444 Didi-Huberman, Georges 265, 267 Diels, Paul 327 Dietrich, Alfred 323 Dietzenschmidt (= Anton Franz Schmid) 131 Dimt, Maximilian 455 Dittrich, Anton Franz 107 Döblin, Alfred 402 Dobrovský, Josef/Joseph 223, 352f. Doderer, Heimito v. 36 Dolenský, Antonín 283 Domin, Karel 330 Doolittle, Hilda (Pseud.: H. D.) 21, 34, 36, 314, 431435, 438-446 Doolittle, Perdita 433f.
581
Register Doppler, Alfred 491 Dorošenko, Dmytro 319 Dos Passos, John 533 Dostal, Eugen 277, 284 Dostal-Lutinov, Karel 168, 172-175, 230 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 408f. Dreiser, Theodore 438 Dresch, Jutta 276 Dudková, Veronika 25 Dummett, Michael 95 Dupont, Jean (= Johannes Urzidil) 14, 28, 64, 190, 193, 210 Duras, Mary 305 Dürer, Albrecht 154f. Dvořák, Antonín 122, 169, 230 Dvořák, Max 277 Dymant, Dora (auch Diamant oder Dworja Diament) 407 Džambo, Jozo 423 Ebner, Jeannie 32 Eckermann, Johann Peter 258 Edison, Thomas Alva 421 Ehrenfels, Christian v. 83, 136 Eichler, Richard Wenzel 154, 243 Eisenstein, Sergej 433 Eisner, Paul/Pavel 169, 172179, 235f., 320, 325, 496 Elfe, Wolfgang Dieter 26, 446 Elias, Norbert 75, 78-85, 92, 102f. Eliot, Thomas Stearns 435 Ellerman, Annie Winifred, s. Bryher Ellerman, John Reeves 228, 431
Elmar, Hans (= Johannes Urzidil) 127 Emerson, Ralph Waldo 34, 446 Emrich, Wilhelm 36 Enzinck, Willem 467 Epstein, Hans 276f., 325 Erben, Karel Jaromir 285 Erll, Astrid 363, 365f. Erwin v. Steinbach/Meister Erwin 515, 518 Eybenberg, Marianne v. 108, 388 Faktor, Emil 28 Farese, Giuseppe 16, 561 Faulkner, William 34, 438, 446 Federer, Oskar 332 Feigl, Bedřich/Friedrich 222, 303 Fejtová, Olga 275 Ferdinand II. (HRR) 285, 287f., 513 Ferguson-Neven, Kathalyn 26 Ferry, Gabriel 239 Fesl, Michael Josef 93 Feuerbach, Ludwig 406 Feuillet, Jack 36 Feuillet-Thieberger, Jacqueline 36 Fiala, Josef František 233 Fiala-Fürst, Ingeborg 16, 19, 23, 78, 119, 121, 135, 145, 150f., 167, 476 Fichte, Johann Gottlieb 354 Ficker, Ludwig v. 37 Filla, Emil 20, 29, 221, 245, 303 Fischer, Ernst 410f. Fischer, Otokar 320, 324ff., 328-332 Fliedl, Konstanze 364 Flores, Angel 426
Flusser, Vilém 259, 268, 271f. Fournier, August 435 Frank, Ernst 323 Frank, Leonhard 116f. Frankl, Oskar 33, 67, 329 Franz II. (HRR) bzw. I. (Österreich) 89, 93, 387 Franz Joseph I. (Kaiser v. Österreich) 76 Franzel, Emil 329 Freneau, Philip 34 Freud, Sigmund 118, 314, 434 Friedman, Susan Stanford 434 Friedrich, Hugo 152 Fritsch, Gerhard 32 Fronius, Hans 37, 304f. Frost, Robert 34, 446 Fuchs, Rudolf 129, 326, 398 Füllenbach, Elias H. 348 Fürth, Walther 134f. Gadamer, Hans-Georg 478 Gamnitzer, Anton 325 Gay, Peter 80 Gaži, Martin 24 Gellner, Ernest 205 Genovese, Kitty 547f. George, Manfred 29 George, Stefan 15, 121, 160, 409 Gerber, Richard 442 Gerke, Hans/Jan 36, 135 Gide, Andre 433 Giono, Jean 30 Giotto di Bondone 268 Gödel, Kurt 103 Goddard, Paulette 523 Goebbels, Joseph 218 Goel, Veronique 434 Goertz, Heinrich 156 Goethe, Johann Wolfgang v. 11, 19-22, 25, 83f., 104-109, 122, 223, 225,
582 235ff., 244f., 255-258, 262, 264-269, 282, 289, 311, 313, 315ff., 319-332, 343ff., 347ff., 350-353, 355-358, 363f., 372f., 374ff., 378ff., 385-388, 399, 425, 436, 438f., 441, 445, 477, 481, 508, 517f., 549 Goethe (geb. Vulpius), Christiane v. 388 Goldstücker, Eduard 410, 422, 495 Goll, Yvan/Iwan/Ivan 30 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 408 Göth, Ignaz 489 Grab, Hermann 129, 131 Graevenitz, Gerhart v. 157 Graf, Oskar Maria 525, 528, 531f., 535 Greber, Erika 152 Grebner, Gundula 128 Green, Julien 444 Greve, Heinz Ludwig 146f. Grillparzer, Franz 104, 349 Gronicka, Andre v. 30, 446 Grosz, Georges 402 Grüner, Carl Franz 258 Grüner, Joseph Sebastian 323 Grünewald, Matthias 266 Grünzweig, Walter 26, 34, 446, 524, 533, 540, 564 Gryphius, Andreas 565 Guattari, Felix 152f. Guggenheim, Felix 523 Gumbrecht, Hans Ulrich 364, 372f., 380 Günther, Alfred 443 Gürtler, Christa 529 Guth, Karel 283 Haas, Willy 29, 37, 128f., 131, 133ff., 415ff. Hadler, Frank 63
Register Hadwiger, Victor 129 Haeckel, Ernst 159 Haffner, Sebastian 409 Hahn, Eva 353 Halas, František 230 Hall, Murray Gordon 276f., 346 Hallegger, Kurt 303 Haluzický, Bohumil 326 Hamacher, Bernd 501 Hamann, Johann Gottfried 348 Hanbury, Caroline s. Honburg Handke, Peter 425 Handl, Willy 128 Haring, Ekkehard W. 16, 20, 423 Härtling, Peter 31 Hartmann, Mareike 157 Harunobu, Suzuki 252 Hašek, Jaroslav 278 Haslinger, Peter 57f., 60 Hauffen, Adolf 169, 175 Hauner, Milan 37 Hauptmann, Gerhart 320, 331 Havlíček, Karel 59, 67 Havlin, Michael 27, 58, 65, 194, 197, 210 Hawthorne, Nathaniel 446, 533 H. D., s. Doolittle, Hilda Heartfield, John 402 Hebbel, Friedrich 31 Hebel, Johann Peter 391 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 69 Heidegger, Martin 403 Heine, Gert 33 Heinrich-Salze, Karl Luis, s. Heise, Katharina Heise, Katharina (Pseud.: Karl Luis HeinrichSalze) 147 Heisenberg, Werner 103
Helfert, Alexander Freiherr v. 276 Helfert, Vladimír 276 Helfert, Zdeněk 276 Heller, Leo 129 Helling, Christa 35, 39, 139, 201, 476f., 554 Hemingway, Ernest 34, 433, 446 Hemmerle, Rudolf 31 Hendrich, Beatrice 565 Henlein, Konrad 193f., 196, 210f. Henselmann, Hermann 434 Henz, Rudolf 31f. Herder, Johann Gottfried 92, 127f., 134, 223, 330, 348, 351f., 353, 386 Herling-Grudziński, Gustaw 395, 397, 406ff., 409-412 Herren, Peter 35, 39 Herring, Robert 433, 435, 437, 440 Herzl, Theodor 203 Hesse, Eva 432 Hesse, Hermann 438ff. Hesse, Ninon 439f. Heumos, Peter 14, 29, 65, 67, 277f., 289, 436, 445 Heydrich, Reinhard 66 Hiller, Kurt 121 Hindenburg, Paul v. 326 Hitler, Adolf 76f., 193, 211, 224, 232f., 235, 239, 288, 312, 316, 318f., 332, 393, 404, 409, 470, 524 Hladík, Miloš 29 Hlaváč, Bedřich 28 Hlawáček, Eduard 323 Hocke, Gustav René 152 Hoffmann, Camill/Kamil 129, 169 Hofman, Vlastislav 230, 298
583
Register Hofmannsthal, Hugo v. 63, 68, 108, 119, 121, 399, 499 Hohlbaum, Robert 489 Höhne, Sibylle 320 Höhne, Steffen 13, 27f., 54, 62f., 91f., 192, 210, 375 Hölderlin, Friedrich 344, 403 Holl, Oskar 475, 508 Hollar z Prachně (von Prachin), Jan 288 Hollar z Prachně (von Prachin), Jakub 287 Hollar, Václav/Wenceslaus/ Wenzeslaus/Wenzel 20, 23, 26f., 221, 232, 239, 243, 275-289, 297, 304, 310, 325, 346, 369, 436, 443, 507-519 Holman, Petr 169, 182 Holmes, Oliver Wendell sr. 34 Homer 315, 386, 481 Honburg [recte: Hanbury], Caroline 107 Hoppner, Wolfgang 323 Horb, Max 222 Howard, Henry Frederick, 22nd Earl of Arundel 276, 280, 282, 285, 288, 513ff., 517 Hrabák, Josef 507, 511, 514, 518 Hrabal, Bohumil 486 Hroch, Miroslav 62, 350 Hrušková, Marie 37f., 217, 227, 230f. Hubinger, Gangolf 55 Hubler, Axel 260f., 271 Hultsch, Anne 16, 21 Humboldt, Alexander v. 319 Humboldt, Wilhelm v. 444 Hurwitz, Henry 30 Hus, Jan 169, 238, 347 Hutcheon, Linda 365, 367
Huxley, Aldous 551 Hykeš, Oldřich Vilém 354, 356 Iggers, Georg Gerson 79 Irving, Washington 446 Iser, Wolfgang 374, 379 Jakob/James VI. (König v. Schottland) bzw. I. (England/Irland) 439 Jacobi, Hansres 21, 75, 555 Jacobsenová, Michaela 25 Jacobus maior /Jakobus d. Ältere (Apostel) 271f. Jacobus minor /Jakobus d. Jüngere (Apostel) 272 Jaenicke, Anselm 20 Jaesrich, Hellmut 31 Jähnichen, Manfred 169 Jakobson, Roman 36 James, Henry 446 Jammes, Francis 299 Janáček, Leoš 169 Janko, Josef 319, 324, 354 Janouch, Gustav 131 Janowitz, Franz 135, 138 Jaruzelski, Wojciech 408 Jebavý, Václav Ignác, s. Březina , Otokar Jesus von Nazareth/Jesus Christus 259ff., 264f., 268-271, 273, 408, 454 Jirát, Vojtěch 324, 328 Jireček, Josef 286f. Jirgens, Eckhard 33 Jahn, Ryan David 548 Johann, Klaus 15f., 18, 22, 24, 34f., 39, 68, 104, 135, 189, 203, 205, 275, 314, 343, 397, 400f., 405, 422, 443, 485, 496, 510, 554 Johannes (Apostel und Evangelist) 266, 272 Johannes der Täufer 266
Johannes Nepomuk (= Johann v. Pomuk) 96f. Johannes Paul II. (Papst) 408 John, Alois 323 John, Johannes 491f., 494, 497 Jonckheere, Willem Frederik 21, 30 Joyce, James 433 Judas Ischariot (Apostel) 259f., 264, 268-271, 273 Jungbauer, Gustav 324 Jünger, Ernst 116, 118 Jungmann, Josef 92, 352f. Jureit, Ulrike 128, 139 Kafka, Franz 20, 22, 25f., 38, 67, 85, 119, 121, 123, 127-130, 135f., 138, 153, 235f., 252, 304, 372, 385, 390f., 395, 397-412, 418-421, 423, 425f., 481, 544f., 552, 565f. Kafka, Georg 131 Kahler, Erich v. 20, 33 Kahler, Felix v. 33 Kahler, Lilli v. 33 Kaléko, Mascha 36, 38, 531 Kalista, Zdeněk 519 Kallir, Moina M. 443 Kant, Immanuel 98, 101, 223, 225, 477 Kanyar-Becker, Helena 21, 35 Kanzog, Klaus 415 Kaplický, Václav 516f. Karl IV. (HRR) 67, 236 Kasack, Hermann 30, 441 Katholnigg, Franz 169, 174f. Kemper, Hans-Georg 120, 146, 153 Kiepenheuer, Noa 36 Kierkegaard, Søren 122f., 399, 404f. Kiesel, Helmuth 116 Killy, Walther 364
584 Kimmich, Dorothee 372 Kindermann, Heinz 319 Kindt, Tom 17, 66, 116, 499, 565 Kirpal, Alfred 279f. Kisch, Egon Erwin 128f., 135, 391 Klaar, Alfred 129f., 132 Klausnitzer, Ralf 343 Klecanda, Vladimír 356 Klee, Paul 37 Kleinberg, Alfred 329 Kleist, Heinrich v. 344, 405 Klentak-Zabłocka, Małgorzata 402 Kletzl, Otto 328 Kluge, Friedrich 91, 103 Knebel, Karl Ludwig v. 104, 106 Knechtel, Anna 423 Koch, Albrecht 29 Koch, Alexander 245 Koch, Hans-Gerd 38 Koch, Walter 28, 36, 330 Kohn, Hans 20, 36, 135 Köhnke, Klaus Christian 396 Kolben, Hans 131 Kollár, Jan 223, 347, 350353 Komenský, Jan Amos/ Comenius, Johann Amos 169, 238, 277, 288f., 354 Kopf, Maxim 304f., 531 Kořalka, Jiří 62, 355 Korn, Josef 322 Körner, Josef 127, 329 Kornfeld, Paul 33, 128f., 398, 508 Korte, Hermann 465 Kostrba-Skalický, Oswald 68 Kottkamp, Ingo 12, 34f., 554 Kot’a, Jaroslav 59f. Kotzebue, August v. 20
Register Kovařiková, Alena 496 Kracik, Jörg 54, 192 Králík, Oldřich 174f. Kramář, Karel 59ff. Krämer, Jürgen 14 Kratochvíl, Miloš Václav 507, 509-519 Krättli, Anton 32 Kraus, Arnošt Vilém/Ernst Wilhelm 319f., 322ff., 331 Kraus, Karl 130, 319, 331 Krause, Franz 343 Krejčí, František Václav 322, 324, 329ff. Kremlička, Rudolf 298 Křesálková, Jitka 14, 18, 27, 29, 37, 56, 206, 210, 298, 400, 454 Kreuzer, Anja , s. Bischof, Anja Křivský, Pavel 95 Křížek, Rudolf 279 Krofta, Kamil 28, 64 Krolop, Kurt 36, 54, 120, 128, 133, 202, 319, 331, 421, 423, 499 Krüger, Peter 155 Kruntorad, Paul 32 Kruta, Vladislav 353 Kubin, Alfred 305 Kubín, Otakar 222 Kubišta, Bohumil 221 Kundera, Milan 481 Künne, Wolfgang 94, 107 Kurzke, Hermann 477 Lachinger, Johann 40 Lambel, Hans 323 Lamping, Dieter 330 Lang, Fritz 433 Lanz-Plieger, Martha 454 Lášek, Jan Blahoslav 95 Lasker-Schüler, Else 154 Lasky, Melvin J. 31 Latane, Bibb 548
Laube, Gustav Carl/Karl 323 Lazarus, Emma 34 Lebeck, Michael 201 Legrand, Jacques 25 Leibniz, Gottfried Wilhelm 100, 102 Lein, Richard 80 Lemberg, Eugen 94, 353356 Lenin, Wladimir Iljitsch 408 Leonardo da Vinci 255-258, 262f., 266ff., 270 Leppin, Paul 129-132, 201 Lessing, Gotthold Ephraim 219, 223, 386 Lethen, Helmut 80, 118 Levetzow, Amalie v. 108, 389 Levetzow, Ulrike v. 323, 375, 387ff. Levin, Rahel 108 Levi-Strauss, Claude 82 Lewis, Sinclair 446 Lichtenberg, Georg Christoph 255, 261, 273 Lindsay, Nicholas Vachel 34 Lindner, Martin 118 Linz, Norbert 71 Liškutín, Ivo 330 Loerke, Oskar 30, 149ff., 441, 444 Löffler, Winfried 94 Lohmeier, Anke-Marie 115 Longen, Emil Artur 221 Longfellow, Henry Wadsworth 34, 446 Loužil, Jaromír 24, 95 Lowell, James Russell 34 Löw von Löwengrün und Bareyt, Margarete 285 Löwy, Jizchak 401 Löwy, Michael 411 Ludvová, Jitka 326 Luft, Robert 275 Lukács, Georg/György 411 Lukas (Evangelist) 190
585
Register Lüttich, Stephan 457 Macek, Antonín 167, 169, 171 Macháček, Karel 323 Macháčková-Riegerová, Věra 18, 21, 36ff., 168, 171, 182, 377, 411, 422 Machar, Josef Svatopluk 37 Macpherson, Annie Winifred, s. Bryher Macpherson, Kenneth 433f. Mádl, Karel Boromejský 283 Mágr, Antonín Stanislav 169, 180f., 319 Magris, Claudio 23, 25, 78, 549 Maidl, Václav 24 Maillard, Christine 116 Maillol, Aristide 303 Mann, Erika 523 Mann, Thomas 15, 28, 36, 237, 320, 331, 424f., 476-480, 485, 523 Mannheim, Karl 53f., 77, 128 Mannheimer, Georg/Jiři 28 Marc Aurel/Marcus Aurelius Antonius 511 Marek, Ferdinand 330 Marek, Michaela 321 Maria Theresia von Österreich 90 Marie-Louise (Luise) von Österreich 387f. Marie Ludovika (Ludovica) Beatrix von ÖsterreichEste 387f. Markham, Edwin 34 Mark Twain 34, 446 Martinez, Matias 565 Marx, Chico (Leonard) 237 Marx, Groucho (Julius Henry) 237 Marx, Gummo (Milton) 237
Marx, Harpo (Adolph Arthur) 237 Marx, Karl 406 Marx, Zeppo ( Herbert) 237 Masaryk, Tomáš Garrigue 21, 58f., 68, 169, 190, 196, 208-211, 222f., 229, 238, 275, 278, 287ff., 322ff., 326, 330, 350, 356, 378f. Masters, Edgar Lee 34 Matthäus (Apostel und Evangelist) 269, 272 Matouš, Josef 36ff., 170, 217f., 227-233, 235ff., 298, 303, 332, 400 Matouš, Lubor 38, 217, 227, 229 Matoušová, Jarmila 217, 230, 233, 237 Mauer, Otto 31 Maurer-Horn, Susanne 57 Mauthner, Fritz 129 May, Karl 239 Mayr-Harting, Robert 192 McAlmon, Robert 433 Mead, George Herbert 259 Medici, Cosimo I. de 250 Mell, Max 32 Melville, Herman 446 Melville, Ralph 20, 23, 243, 276, 304, 346, 515 Mendelssohn, Moses 219 Menke, Bettine 152 Merian, Matthäus 289, 507 Měšt’an Antonín 34, 37, 171, 168, 189, 343 Metternich, Clemens Fürst v. 107, 387 Meyer, Hans 279f. Meyrink, Gustav 129f., 153, 561 Meyssen, Jan 284 Michalitschke, Anton 31 Michalitschke, Walther 31 Mickiewicz, Adam 235
Mielke, Hans 276 Mikota, Jana 19, 26, 446 Milley, Edna St. Vincent 34 Minařík, Miloš (Pseud.: Vladimír Musil) 15, 18, 23, 28, 31f., 37f., 217, 243, 277, 304f., 321, 366 Minaříková (früher Urbanová), Milada 18, 23f., 37, 217, 243 Mies van der Rohe, Ludwig 434 Molo, Walter v. 424f. Montigel, Ulrike 271 Moore, Henry 238 Moore, Marianne 34, 446 Moras, Joachim 31 Morscher, Edgar 95, 101, 105 Mose(s) (Prophet) 299 Mozart, Wolfgang Amadeus 122 Mühlberger, Josef 29, 36, 127, 496, 562, 567 Mühlhölzer, Felix 104 Mukařovský, Jan 478 Müller, Cornelia 259, 272 Müller, Friedrich v. 84, 108 Müller, Hans-Harald 17, 19, 66, 116, 369, 378, 499, 549, 565 Müller, Jan Bohuslav 285 Müller-Funk, Wolfgang 368 Münz[e]rová/Munzer, Zdenka 30 Musil, Robert 68, 93, 97, 99, 117, 168, 481 Musil, Vladimír , s. Miloš Minařík Nadler, Josef 32, 63, 323, 330, 348f. Nagy, Imre 411 Natonek, Hans 131 Naumann, Friedrich 355 Neider, Charles 236, 402
586 Němec, Mirek 13, 20, 23, 27, 62, 222, 276, 325, 345, 353, 356, 373 Nemoianu, Virgil 26 Neruda, Jan 122, 239, 327 Neruda, Pablo 239, 328 Neumann, Gerhard 385 Newton, Isaac 100, 102 Nezdařil, Ladislav 169, 175 Nietzsche, Friedrich 116, 135 Nittner, Ernst 59 Novák, Arne 319, 324, 328 Novalis (= Georg Philipp Freiherr v. Hardenberg) 354 Nowak, Willi 37, 222 Nünning, Ansgar 524 Nyman, Alf 512 Öhlschlager, Claudia 258 Olden, Christine 314, 435 Olden, Rudolf 435 Orczy, Baroness Emma/ Emmuska 436 Orwell, George 408, 551 Ossietzky, Carl v. 435 Ott, Erwin 489 O’Donell, Josephine Gräfin 387f. O’Neill, Eugene 446 Pacovský, Emil 37 Paesch, Franziska 423 Paeschke, Hans 31 Pajdla, Vladislav 298 Palacký, František 59, 67f., 190, 223, 352f., 356 Pannwitz, Rudolf 32 Papoušek, Jaroslav 21, 230 Papst, Georg Wilhelm 433 Papst, Manfred 39 Pasinato, Antonio 25 Pasley, Malcolm 401 Passer, Rolf 275ff., 280, 304, 325, 346
Register Patočka, Jan 95 Patsch, Sylvia Maria 26, 443 Patzaková, Anna 325 Pavlíková, Marie 95, 98 Pazi, Margarita 36ff., 150, 422 Pearson, Norman Holmes 435, 437 Pečený, Štěpán 198 Pekař, Josef 68 , 330 Peroutka, Ferdinand 14, 24, 28, 30, 54, 60, 64, 170 Pestalozzi, Johann Heinrich 354 Petersen, Julius 331 Petrbok, Václav 20, 24, 276, 282, 321, 344, 373 Petrus/Simon Petrus (Apostel) 259f., 270-273 Petschl, Erna 37 Pfanner, Helmut Franz 26 Pfemfert, Franz 28 Pfitzner, Josef 63 Philippus (Apostel) 266, 272 Pico della Mirandola, Giovanni Conte 122 Pick, Otto 129, 133, 135, 167, 169, 172-182, 496 Piłsudski, Józef 397 Pinthus, Kurt 146, 149 Pistorius, Hedwig (jetzt: Agnes) 26, 29, 33f., 39, 436f. Plachta, Bodo 415 Plato(n) 393, 486 Platzer, Ignatz 221 Pleyer, Wilhelm 323, 489, 496 Poe, Edgar Allan 34, 446 Pohl, Karin 353 Polák, Karel 319, 324, 328 Polgar, Alfred 28 Politzer, Heinz 15, 22, 422 Popp, Valerie 21, 26, 447, 524, 540, 552, 562 Portisch, Emil 28
Postl, Karl, s. Sealsfield, Charles Pound, Ezra 432 Praxl, Paul 37 Pražák, Albert 328 Preitz, Max 323 Příhonský, Franz 94, 107 Procházka, Antonín 221 Przygode, Wolf 29f., 147 Purkyně, Jan/Johann/es Evangelist/a 27, 85, 222, 343, 347, 349, 353-358 Puschak, Christiana 14 Pyšvejc, Oldřich 252 Quinkenstein, Lothar 15 Quintilian/Marcus Fabius Quintilianus 272 Raabe, Paul 146f. Rabelais, François 305, 392 Raddatz, Fritz Joachim 411 Radimský, Ladislav (Pseud.: Petr Den) 24, 30 Rádl, Emanuel 58f., 60 Rádl, Otto 331 Raffaelli, Giacomo 256 Ranke, Leopold v. 79f. Ranzmaier, Irene 63, 348 Raß, Michaela Nicole 27, 243 Rathgeber, Georg 157 Rauch, Louise v. 388 Rauchenbacher, Marina 17, 243 Read, Herbert 238 Rechcígl, Miloslav/Míla jr. 30 Reder, Bern[h]ard 305 Reese-Schäfer, Walter 69 Reich-Ranicki, Marcel 15 Reiss, Leo 28 Remarque, Erich Maria 523, 525-528, 531ff., 535 Rembrandt Harmenszoon van Rijn 425
587
Register Rev, Adalbert/Béla/Vojtěch 28 Richter, Myriam 19, 369, 378, 549 Rieck, Gerhard 412 Riedl, Peter Philip 98 Riha, Karl 465 Rilke, Rainer Maria 99, 121, 129f., 135, 236, 422f. Rinas, Karsten 491 Risse, Heinz 22, 36, 447, 565 Robinson, Edwin Arlington 34 Roosevelt, Franklin Delano 235 Rosendorfer, Herbert 22 Rosenfeld, Stella P. 39, 135 Rosenkranz, Jutta 38 Rothacker, Gottfried 489 Rubens, Peter Paul 155f., 159 Rubiner, Ludwig 154 Rudik, Milan 12 Rudolf II. (HRR) 67 Ruiz, Isabelle 14f., 27, 39, 56, 78f., 102, 365, 437 Rumpler, Helmut 89 Ryba, Václav 325 Rybička, Antonín František 283-286 Sahánek, Stanislav 324 Sachs, Hanns 434 Sachs, Leopold 283 Sachslehner, Johannes 364 Saenger, Lela 299 Saenger, Samuel 299 Šafařík, Pavel Josef 223, 352f. Sak, Robert 24 Salus, Hugo 129ff. Salzborn, Samuel 424 Sandburg, Carl 34 Sandquist, Gisela 150 Santayana, George 34
Sardelli, Valentina 15, 17, 20, 37, 39, 397, 402, 411, 421f., 437 Sauer, August 31, 63, 104, 106, 323, 343, 348f., 353 Sauer, Hedda 329, 332 Saudek, Emil 167, 169, 178, 183 Saurau, Franz Josef Graf 90 Saussure, Ferdinand de 98 Schaller, Helmut 457 Schamschula, Walter 172177 Schardt, Michael Matthias 499 Scheffel, Michael 565 Schenk, Klaus 16, 19, 136 Scherer, Wilhelm 323 Schiffkorn, Aldemar [jr.] 40 Schiffkorn, Aldemar [sen.] 32, 37, 40, 305 Schiller, Friedrich 218f., 344 Schirnding, Ferdinand v. 59f. Schlegel, Friedrich 98 Schleiermacher, Friedrich 444 Schlösser, Hermann 15 Schmid, Karl 21 Schmidinger, Heinrich [sen.] 557 Schmid-Bortenschlager, Sigrid 529 Schmidt-Dengler, Wendelin 22 Schmitz, Walter 142, 423 Schmitz-Berning, Cornelia 14 Schmölzer, Hilde 464 Schneider, Reinhold 457 Schneider, Ursula 454ff. Schneider, Vera 12, 19, 22, 24, 26, 34f., 39, 189, 446, 505, 542, 549, 554 Schnitzler, Arthur 118 Scholem, Gershom 420
Schönerer, Georg Heinrich Ritter v. 59 Schönert, Jorg 115f. Schönwiese, Ernst 21, 30, 496 Schremmer, Ernst 154, 243 Schroubek, Georg Richard 31, 329 Schulz, Andreas 128 Schulz, Gerhardt 326 Schürer, Oskar 36f., 317f., 469f., 562 Schüz, Jonathan 16, 20, 276 Schwarz, Egon 13, 26, 446, 524, 534f., 540, 564 Schweitzer, Albert 237, 514 Sealsfield, Charles (= Karl Postl) 107, 444 Šebek, Jaroslav 192 Sedlák, Václav 325 Seeber, Ursula 38, 445 Selver, Paul 278 Serke, Jürgen 541, 565 Shahar, Galili 420 Shakespeare, William 431, 440, 443, 555 Siebenschein, Hugo 322, 324f. Sigourney, Lydia 34 Simmel, Georg 396 Simon Zelotes (Apostel) 272 Simon, Dieter 22 Simons, Peter 102 Simonek, Stefan 37 Simpatico, David 548 Škréta, Karel 221 Slavík, Bedřich 331 Slekow, Gustav 219 Słowacki, Juliusz 170, 235 Smetana, Bedřich/Friedrich 122, 169, 325 Sobieraj, Silke 54 Solschenizyn, Alexander 408 Sommer, Ernst 278, 416f. Sontag, Susan 247 Sorell, Walter 26
588 Soutmann, Peter 157 Špála, Václav 20, 230, 298, 303f., 309 Spengler, Oswald 311 Spiel, Hilde 526, 535 Spina, Franz 62f., 66, 192, 325, 327, 330 Spirk, Gertrud[e] 298 Springell, Francis C., s. Sprinzels, Franz Sprinzels, Alfred 279 Sprinzels, Anna 279 Sprinzels, Franz Karl (Exilname: Francis C[harles]. Springell) 275-279, 280-283 Sprinzels, Jacob 279 Sprinzels, Theresie 279 Stalin, Josef/Iosif Wissarionowitsch 408 Stauda, Johannes 29 Stauff, Philipp 489 Stein, Gertrude 34, 433 Steinbeck, John 438 Steiner[-Prag], Hugo 129, 303ff., 561 Steinsiek, Annette 454ff. Steinwendtner, Brita 12, 557 Stendhal, Renate 432f. Stephany, Heinrich 299 Stern, Günther, s. Anders, Günther Stern, Guy 26 Sternberg, Kaspar Maria Graf v. 205, 322f., 328, 346 Stevens, Wallace 34 Stifter, Adalbert 37, 59, 104, 206, 237, 305, 367, 369, 390, 421, 438, 458, 480, 491-495, 554 Stivín, Josef 28 Stix, Gottfried 436 Stölzl, Christoph 423 Štorch-Marien, Otakar 29 Storck, Joachim W. 127
Register Strasser, Kurt F. 19f., 27, 54, 95, 99, 107, 205, 276, 373 Straub, Eberhard 23 Streicher, Julius 219 Strelka, Joseph Peter 26, 30 Strobl, Karl 31 Strobl, Karl Hans 489, 496 Sudhoff, Dieter 499 Suh, H. Anna 263, 270, 272 Suhr, Norbert 276 Suhrkamp, Peter 441 Suk, Vojtěch 330 Süskind, Patrick 84 Suyderhoef, Jonas 157 Šustek, Vojtěch 63 Švehla, Antonín 192, 195 Szönyi, Endre 29 Tapp, Christian 101 Taschner, Rudolf 102, 109 Taussig, Elsa 401 Tavernier, Christine 454f. Teichmann, Hedwig 489 Tetzner, Johanna 323 Teweles, Heinrich 129f. Th., s. Thun-Hohenstein, Eleonore Thaddäus/Judas Thaddäus (Apostel) 272 Thieberger, Friedrich 390, 400 Thieberger, Gertrud(e), s. Urzidil, Gertrud(e) Thieberger, Richard 13, 35f., 77, 152, 299 Thiess, Frank 30, 424f. Thomas (Apostel) 272 Thomas, Adrienne 525, 528533, 535 Thompson, Dorothy 36, 233, 235, 304, 531, 533 Thoreau, Henry David 34, 446, 458, 465 Thun-Hohenstein, Eleonore (Kürzel: Th.) 457
Thunecke, Jörg 14, 29, 437, 443 Tietzmann, Michael 116 Tilschová, Anna Maria 230 Tintoretto (= Jacopo Robusti) 155 Tokarzewska, Monika 17, 20, 26 Toledo, Eleonora v. 248, 250 Toller, Ernst 116 Toyokuni, Utagawa 252 Trapp, Gerhard 14ff., 18, 21, 23-29, 31ff., 35ff., 39, 55, 62, 64ff., 120, 130, 135f., 145, 151, 156, 168, 182, 189ff., 208, 220, 228, 243, 248, 257, 277f., 289, 302f., 314, 317f., 321, 332, 344f., 349f., 358, 373, 377, 388, 400, 421, 436, 445ff., 469f., 476, 480, 490ff., 494, 517, 532, 534 Trakl, Georg 154 Trier, Walter 325 Tukalevskij, Vladimir Nikolajewitsch 319 Tunner, Erika 139, 201 Tyl, Josef Kajetán 328 Tyrš, Miroslav (Friedrich Tiersch) 327 Udolph, Ludger 62f., 132, 192, 423 Uljanow, Wladimir Iljitsch, s. Lenin, Wladimir Iljitsch Untermayer, Jean Starr 36 Urbanová, Milada, s. Minaříková, Milada Uridil, Josef 236 Urzidil, Elisabeth/Elise (geb. Metzeles) 14, 134, 193, 203, 367, 370, 395f., 454, 475, 481, 490
589
Register Urzidil, Gertrud(e) (geb. Thieberger) 14, 29, 34, 36, 76, 234, 298, 302, 309, 402, 418, 436f., 446, 454, 456f., 459, 531, 541, 561, 565 Urzidil, Joseph/Josef 35, 80f., 83, 100, 134, 203f., 233, 367, 371, 454, 475, 510, 517, 534, 541, 543 Urzidil, Marie (geb. Mostbeck) 81, 134, 203, 395, 483 Utitz, Emil 37, 332 Utitz, Ottilie 37 Václav IV., s. Wenzel IV. Valková, Jana 24 Vassogne, Gaëlle 27, 56, 203 Vatan, Florence 117 Verlaine, Paul 444 Veselý, Jiří 23 Vesper, Will 277 Vietta, Silvio 120, 146, 153 Vischer, Melchior 36 Vitiello, Vincenzo 260f., 265 Vlnas, Vít 275, 278, 282, 284ff. Vočadlo, Otakar 326f. Vodák, Jindřich 326, 331 Vogel, Kar(e)l 302f., 309 Vohryzek, Lev 28 Volt, Josef 325 Vrchlický, Jaroslav 328 Vusin, Johann, s. Wussin, Jan Vydra, Štěpán Karel 283, 287 Wagenbach, Klaus 401, 425 Wagner, Josef 29 Waldinger, Ernst 36 Wałęsa, Lech 408 Wallace, David Foster 101 Wallbott, Harald G. 272 Wallenstein/Waldstein/ Valdštejn, Albrecht v. 80
Walsa, Vinzenz 28 Walser, Martin 403 Walser, Robert 421 Watzlik, Hans 489, 496 Weber, Max 53 Weber, Regina 15, 422 Weber, Werner 15, 21 Wedekind, Frank 202 Weger, Tobias 324 Wehler, Hans-Ulrich 62 Weierstraß, Karl 95 Weigel, Hans 464 Weigel, Sigrid 128 Weiss, Andrea 433 Weiss, Peter 442 Weissenberger, Klaus 16f., 20, 26, 276, 373, 385 Weiß, Ernst 117ff., 121, 398 Weltsch, Felix 37, 119, 121f., 135f., 415f., 418f., 422 Weltsch, Robert 37, 135, 202, 415f., 454 Weninger, Robert 424 Wenzel/Václav IV. (HRR) 96 Werfel, Franz 20, 36f., 58, 119ff., 127-139, 154, 202, 229, 236, 298, 415f., 418, 423 Werneburg, Johann Friedrich Christian 105, 107f. Wertheimer, Max 83 White, Hayden 366 Whitman, Walt 34, 151, 154, 446 Whittier, John Greenleaf 34 Widtmann, Caspar 104 Wiegler, Paul 128f. Wiener, Oskar 127, 129, 132 Wiesmüller, Wolfgang 454f., 467 Wilder, Thornton 446 Wilhelm II. (DR) 76 Willomitzer, Josef/Joseph 130
Winder, Hedwig 418 Winder, Ludwig 416, 418, 496 Winicky, Ottokar 129 Winkler, Michael 524, 526 Winter, Eduard 90, 93, 104 Wißhaupt, Anton 93 Wittgenstein, Ludwig 95, 104 Witz, Friedrich 21 Wolfe, Thomas 446 Wolff, Bernhard 54 Wolff, Kurt 38, 128, 146, 149, 167, 438f., 441, 444f. Wolff, Maria 438 Wolff, Pius Alexander 258 Wölfflin, Heinrich 257 Wukadinowič, Spiridion 352 Wurm, Ernst 463f. Wurm, Franz 35, 131 Wurzbach, Constantin v. 106 Wussin, Jan/Vusin, Johann 283 Yeats, William Butler 433 Zankl, Verena 38, 454 Zauper, Joseph Stanislaus 323 Zelter, Carl Friedrich 108 Zemlinsky, Alexander v. 21 Zenker, Ernst Viktor 29 Zettl, Walter 40, 566 Zimmermann, Johann August 106 Zimmermann, Robert 106 Živný, Ladislav Jan 283, 287 Žižka z Trocnova (von Trocnov), Jan 169 Zoch-Westphal, Gisela 38 Zrzavý, Jan 20, 24, 36f., 229ff., 298-302, 308 Zuckmayer, Carl 36f., 534 Zweig, Friderike Maria 34, 305, 526
590 Zweig, Stefan 170, 305 Zweremann, Jens 434 Zymner, Rudiger 152
Register
Ortsregister Algier 227f., 305 Antwerpen 276, 515 Aspen 237 Auschwitz (KZ) 415f., 469 Avignon 229 Baldock 416, 418 Basel 28 Bečov nad Teplou (Petschau) 377 Berlin 12, 28-32, 54f., 61, 146, 169, 190, 193, 324, 332, 400, 402, 416, 433ff., 442, 499 Bern 28 Bethlehem/Pennsylvania 432 Bezdružice (Weseritz) 534, 541 Bílina-Lázně-Kyselka (BilinBad Sauerbrunn) 346, 375 Bordeaux 33 Bratislava (Preßburg) 29, 275, 326 Brescia 227 Brno (Brünn) 28f., 127, 168, 236, 275, 277, 279, 284f., 325, 330, 332, 434 Buchenwald (KZ) 415 Budapest 411 Burrier-La-Tour 434 Carcassone 229 Cardiff 499 Cheb (Eger) 29 České Budějovice (Budweis) 12, 18, 303, 308 Czernowitz (Tscherniwzi/ Cernăuţi/Czerniowce/ Tschernowitz) 440
Darmstadt 29f., 441 Frankfurt a. M. 507, 516 Freiburg i. Br. 37, 438 Genf 14, 28, 55, 64, 190, 193, 210 Genua 227, 437 Gibraltar 228 Hamburg 416, 478 Hasištejn (Hassenstein) (Burg) 376 Hluboká nad Vltavou (Frauenberg a. d. Moldau) 310 Horažd’ovice (Horaždowitz/Horaschdowitz) 283, 287 Horní Planá (Oberplan) 189, 495 Innsbruck 38, 454 Jablonec nad Nisou (Gablonz a. d. Neiße) 29 Jena 351 Jerusalem 416, 419, 469 Josefův Důl, auch Josefodol (Josefst[h]al) 303, 305 Kadaň (Kaaden) 376 Karlovy Vary (Karlsbad) 104-107, 367, 375ff., 386-388 Karthago 439 Kielce 406 Klatovy (Klattau) 279 Köln 12, 31, 442 Kraków (Krakau) 409
Krásný Dvůr (Schönhof) 104, 108 Krupka (Graupen) 344 Küsnacht 28 La Tour-de-Peilz 434 Lázně Toušeň (Bad Tauschim) 276 Leipzig 276, 304 Lenora (Eleonorenhain) 83 Liberec (Reichenberg) 29 Liblice 410f., 422 Lidice 65 Linz 32, 37, 305 London 26, 29, 33, 65, 76, 193, 228, 231f., 238, 275-278, 280, 287, 303, 416ff., 432, 434-438, 445, 543 Los Angeles 416 Lublin 409 Luzern 435 Lydney 229 Mainz 23 Manchester 433 Mariánské Lázně (Marienbad) 332, 345, 376, 387ff., 435 Marbach 36, 39, 146, 436, 441 Margate 431 Mailand 227, 255ff. Michalovy Hory (Michelsberg)370, 380 Montagnola 440 Montpellier 229 Moravská Ostrava (Mährisch-Ostrau) 31, 326 München 30f., 65, 67, 156, 320, 407, 446, 516
592 Napajedla (Napajedl) 83 Neapel 406 Narbonne 229 Nový Bydžov 309 New York 11, 19ff., 26, 29, 31, 33f., 36, 39, 55, 65, 75, 83, 201, 229ff., 234237, 239, 275, 283, 289, 298f., 302-305, 309f., 329, 397, 399f., 402, 415, 419, 425, 435-441, 445f., 465, 478, 523-536, 539-552, 554-557, 562, 564f. Niederorschel (Außenlager KZ Buchenwald) 415f. Nîmes 229 Oxford 65 Padua 227 Paris 33, 305, 377, 402ff., 433, 435 Plzeň (Pilsen) 332, 353 Potsdam 299 Pracheň (Prachin) (Burg) 285, 287 Prag 12, 14, 16, 19-23, 2536, 38, 40, 54, 57, 60, 63f., 67, 75, 77, 83, 85, 90f., 99, 104-107, 119ff., 123, 127-135, 138ff, 145ff., 150, 152, 168, 170, 181f., 189-195, 201ff., 205, 217, 221, 224, 227f., 231, 236f., 252, 275-279, 281-287, 289, 298, 300, 302, 304f., 308ff., 314, 324ff., 329-332, 343, 347, 349, 353f., 356, 369, 371, 378, 390f., 393, 396-401, 403, 405, 407, 409f., 412, 415-426, 435f., 440, 446, 453, 456f., 460, 469, 478, 481, 483, 486,
Ortsregister 489, 495ff., 499, 501f., 505, 507, 509f., 513517, 525, 539, 544, 549, 556f., 561f., 564ff. Princeton/New Jersey 424 Prčice (Prtschitz) 83 Rakovník (Rakonitz) 236 Regensburg 285 Rom 40, 58, 95, 189, 416, 436, 557 Rosice (Rossitz) 279 Šafov (Schaffa) 416 Salem/Massachusetts 532f. Salzburg 30 Santa Margherita Ligure 227 Solingen 22, 447 Sankt Petersburg 377 Southampton 228, 437 Straßburg (Strasbourg) 509, 515, 518 Strážov (Drosau) 279 Stuttgart 31 Tel Aviv 416f., 419 Teplice (Teplitz) bzw. Teplice-Šanov (TeplitzSchönau) 12, 108, 332, 386ff. Terezín (Theresienstadt) (KZ) 415f. Territet 433 Triest 227, 436 Turnov (Turnau) 380 Ústí nad Labem (Aussig) 12f., 25, 344 Valmy 518 Varnsdorf (Warnsdorf) 29 Vevey 433f. Vicenza 227 Viney Hill 443, 445 Washington 30
Weimar 13, 33, 116, 255f., 319f., 324, 329, 375 Wien 28, 31, 34, 89, 93f., 201, 236, 256, 275, 277, 283, 285, 304, 325, 332, 348, 402, 434, 440, 453, 456f., 466, 507, 554 Wrocław (Breslau) 347, 354, 402 Zürich 28, 32, 38, 432, 435, 438, 440, 442, 458 Zvonková (Glöckelberg) 37
Adressen Reihenherausgeber
Prof. Dr. Steffen Höhne
Hochschule für Musik Franz Liszt Platz der Demokratie 2/3 D-99423 Weimar [email protected]
Dr. Václav Petrbok
Ústav pro českou literaturu AV ČR v.v.i. Na Florenci 3 CZ-110 00 Praha 1 [email protected]
Dr. Alice Stašková
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie Freie Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin [email protected]
Adressen Bandherausgeber
Dr. Klaus Johann
Rudolfstraße 16 D-48145 Münster [email protected]
Dr. Mirek Němec
Univerzita Jana Evangelisty Purkyně Katedra germanistiky České mládeže 8 CZ-400 96 Ústí nad Labem [email protected]
594
Adressen
Adressen Autoren
Dr. Alwin Binder
Krüsbreede 38 D-48157 Münster [email protected]
Dr. Anja Bischof
Bismarckstr. 14a D-23564 Lübeck [email protected]
Dr. Jindra Broukalová
Katedra germanistiky Pedagogická fakulta Univerzita Karlova v Praze Celetná 13 CZ-110 00 Praha 1 [email protected]
Dr. Gabriela Brudzyńska-Němec
[email protected]
Dr. Filip Charvát
[email protected]
Prof. Dr. Ingeborg Fiala-Fürst
Katedra germanistiky Filozofická fakulta Univerzita Palackého Křížkovského 512/10 CZ-779 00 Olomouc [email protected]
Dr. Ekkehard W. Haring
Univerzita Konstantina Filozofa v Nitre Katedra germanistiky Štefánikova 67 SK-949 74 Nitra [email protected]
Dr. Michael Havlin
Torfstraße 21 D-13353 Berlin [email protected]
Dr. Anne Hultsch
Technische Universität Dresden Institut für Slavistik D-01062 Dresden [email protected]
595
Adressen
Prof. Dr. Tom Kindt
Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für germanistische Literaturwissenschaft Frommannsches Haus Fürstengraben 18 D-07743 Jena [email protected]
Prof. Dr. Jitka Křesálková
Via Necchi 2 I-20123 Milano Tel./Fax 0039/02/8055216
Dr. Ralph Melville
Im Münchfeld 30 D-55122 Mainz [email protected]
Dr. Jana Mikota
Universität Siegen Germanistisches Seminar Adolf-Reichwein-Str. 2 D-57076 Siegen [email protected]
Miloš Minařík
Společnost Johannese Urzidila Větrná 1467/72A CZ-37005 České Budějovice 2 [email protected]
Mgr. Milada Minaříková
Společnost Johannese Urzidila Větrná 1467/72A CZ-37005 České Budějovice 2 [email protected]
Prof. Dr. Hans-Harald Müller
Universität Hamburg Institut für Germanistik 2 Von-Melle-Park 6 D-20146 Hamburg [email protected]
Michaela Nicole Raß, M. A.
Hermann-Hahn-Platz 18 D-81477 München [email protected]
596
Adressen
Myriam Richter, M. A.
Universität Hamburg Institut für Germanistik 2 Von-Melle-Park 6 D-20146 Hamburg [email protected]
Dr. Isabelle Ruiz
U.F.R. des Langues, Littératures et Civilisations Etrangères Campus Villejean Place du Recteur Henri Le Moal – CS 24307 F-35043 Rennes Cedex [email protected]
Dr. Valentina Sardelli
Via Curtatone 3 I-53036 Poggibonsi (Siena) [email protected]
Prof. Dr. Klaus Schenk
Institut für deutsche Sprache und Literatur Fakultät Kulturwissenschaft Technische Universität Dortmund D-44221 Dortmund [email protected]
Dr. Vera Schneider
Zillertalstraße 13 D-13187 Berlin [email protected]
Dr. Jonathan Schüz
Am Rathaus 2a D-10825 Berlin [email protected]
Dr. Kurt F. Strasser
Österreichische Akademie der Wissenschaften Am Fachbereich Philosophie der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften Universität Salzburg Franziskanergasse 1 A-5020 Salzburg [email protected]
597
Adressen
Dr. Monika Tokarzewska
Katedra Filologii Germańskiej Wydział filologiczny Uniwersytet Mikołaja Kopernika ul. Gagarina 11 PL-87-100 Toruń [email protected]
Dr. Gerhard Trapp
Meraner Str. 16 d D-81547 München [email protected]
Dr. Gaëlle Vassogne
Na Kozačce 5 CZ-120 00 Praha 2 [email protected]
Prof. Dr. Klaus Weissenberger
Department of German Studies-MS 32 Rice University P.O.Box 1892 USA, Houston/TX 77251-1892 [email protected]
Mag. Verena Zankl
Forschungsinstitut Brenner-Archiv Universität Innsbruck Josef-Hirn-Str. 5 A-6020 Innsbruck [email protected]
Reihe Jüdische ModeRne Herausgegeben von alfred bodenHeimer, Jacques Picard, monik a rütHers und daniel Wildmann
eine ausWaHl
bd. 11 | andrea Heuser
bd. 7 | stefanie leuenberger
„jüdIschkeIt“ In der deutschen
schRift-RauM JeRusaleM
gegenWArtslIterAtur
IdentItätsdIskurse Im Werk
2011. 396 s. br. | isbn 978-3-412-20569-0
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deutsch-jüdIscher Autoren 2007. viii, 274 s. 15 s/W-abb. auf 15 taf.
bd. 12 | casPar battegay
gb. | isbn 978-3-412-20058-9
das andeRe blut
bd. 8 | alexandra binnenkade,
jüdIschen schreIben 1830–1930
ekaterina emeliantseva,
2011. 329 s. gb. | isbn 978-3-412-20634-5
gemeInschAft Im deutsch-
svJatoslav PacHolkiv VeRtRaut und fReMd zugleich
bd. 13 | katerina ČaPková,
jüdIsch-chrIstlIche nAchbAr-
micHal frankl
schAften In WArschAu – lengnAu
unsicheRe zuflucht
– lemberg
dIe tschechosloWAkeI und Ihre
mit einem geleitWort von Heiko
flüchtlInge Aus ns-deutschlAnd
Haumann.
und ÖsterreIch 1933–1938
2009. x, 216 s. 3 s/W-abb. gb.
aus dem tscHecHiscHen übersetZt
isbn 978-3-412-20177-7
von kristina kallert
bd. 9 | beatrix borcHard,
isbn 978-3-412-20925-4
2012. 327 s. 41 s/W-abb. gb. Heidy Zimmermann (Hg.) Musikwelten – lebenswelten
bd. 14 | stefanie maHrer
jüdIsche IdentItätssuche In der
handweRk deR ModeRne
deutschen musIkkultur
jüdIsche uhrmAcher und uhren-
2009. 406 s. 26 s/W-abb und 10 s/W-
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TT094
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