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German Pages [336] Year 2001
VÔR
ARBEITEN Z U R GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG D E R HISTORISCHEN KOMMISSION Z U R E R F O R S C H U N G DES PIETISMUS
H E R A U S G E G E B E N VON MARTIN B R E C H T , C H R I S T I A N B U N N E R S UND HANS-JÜRGEN SCHRÄDER
BAND 39
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
J O H A N N K O N R A D DIPPEL (1673-1734) SEINE RADIKALPIETISTISCHE THEOLOGIE UND IHRE ENTSTEHUNG
VON STEPHAN GOLDSCHMIDT
VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
Die ersten 16 Bände dieser R e i h e erschienen im LutherVerlag, Bielefeld. Ab Band 17 erscheint die R e i h e im Verlag von Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
FÜR MEINE TÖCHTER SOLVEI G GOLDSCHMIDT UND NORA GOLDSCHMIDT, DIE WÄHREND DER ENTSTEHUNG DER VORLIEGENDEN DISSERTATION AUF GEMEINSAME ZEIT MIT SPIEL UND SPASS HÄUFIG VERZICHTEN MUSSTEN.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Goldschmidt, Stephan: Johann Konrad Dippel: (1673—1734); seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung/von Stephan Goldschmidt. — Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 39) Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-525-55823-6
© 2001 Vandenhoeck & Ruprecht, in Göttingen http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. — Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Johann Conrad Dippel (1673-1734) anonymer Kupferstich, u m 1700 Westfälisches Landesmuseum, Münster
Vorwort Die vorliegende zum D r u c k überarbeitete Darstellung der ersten Lebenshälfte des Radikalpietisten Johann Konrad Dippel wurde 1998 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Die Anregung, mich mit diesem T h e m a zu b e schäftigen, erhielt ich innerhalb eines von H e r r n Prof. Dr. Hans Schneider geleiteten Seminars über den radikalen Pietismus im Wintersemester 1988/89, an das ich mich dankbar zurück erinnere. H e r r Prof. Dr. Hans Schneider ermutigte mich später zu dem Dissertationsprojekt und hat die Arbeit betreut sowie durch viele Hinweise u n d Korrekturen gefördert. Danken möchte ich außerdem H e r r n Prof. Dr. Wolfgang Bienert, fur die Ü b e r n a h m e des Korreferates der Dissertation u n d H e r r n Pfarrer i. R . Heinrich Bette für die freundliche Unterstützung beim Verständnis lateinischer Texte. Die Arbeit hat auch wichtige Anregungen erhalten durch H e r r n Prof. Hans-Jürgen Schräder, H e r r n Pfr. Dr. Willi Temme, H e r r n U w e Jaschke, H e r r n Dr. Thilo Daniel u n d H e r r n Pfr. Markus Meier. M e i n Dank gilt auch Frau Pfarrerin Inken R i c h t e r - R e t h w i s c h für die Korrekturen des Manuskripts. Z u m D a n k bin ich auch der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus verpflichtet, die die vorliegende Arbeit in die wissenschaftliche R e i h e Arbeiten zur Geschichte des Pietismus a u f g e n o m m e n hat. Für namhafte Druckkostenzuschüsse danke ich der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, der Evangelischen Kirche in Hessen u n d Nassau u n d d e m Verein Evangelischer Pfarrerinnen u n d Pfarrer in Kurhessen Waldeck e.V. Marburg, im Frühjahr 2001
Stephan Goldschmidt
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Inhalt Einleitung Kapitell:
11 Epochen der Dippelforschung
1. Die Anfänge der Dippelforschung (bis 1780) 2. Die ersten Ansätze der historischen Auseinandersetzung (bis 1785) 3. Der Stillstand in der Dippelforschung (bis 1850) 4. Die neuen Impulse und grundlegenden Arbeiten (bis 1950) . . 5. Die neueste Forschung Kapitel 2: Kindheit und Jugend Dippels Vorfahren Kindheit und Jugend Die Grundschulzeit Die Konfirmation Die Gymnasialzeit Kapitel 3: Studium in Gießen Stadt und Universität Die Durchsetzung des Pietismus an der Universität Dippels Aufnahme in die Universität Die Stipendiatenanstalt . . : Das Grundstudium Die Magisterpromotion Der Beginn des Theologiestudiums Kapitel 4: Studienzeit in Straßburg Als Hauslehrer im Odenwald Straßburg und seine Universität Erste Profilierungsversuche Orientierungssuche Die Hinwendung zum Pietismus Die theologische Disputation de conversione secunda relapsorum . . . Dippel und die frühchristlichen Schriftsteller Makarios, Gennadius und Tertullian Dippel und Spener
16 16 18 21 22 28 33 33 35 39 42 44 52 52 57 59 62 66 72 78 83 83 88 96 101 108 115 124 131
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Kapitel 5: Dippels theologische Entwicklung bis zur Begegnung mit Gottfried Arnold
136
Die verkehrte Theologie des Alten Adam Die Tätigkeit als Prinzenerzieher Die Disputation circa facultates mentis humanae Die Orcodoxia Orthodoxorum Die Bedeutung der Orthodoxie für Dippels theologische Entwicklung
136 147 151 162 182
Kapitel 6: Die Begegnung mit Gottfried Arnold
184
Der Beginn von Gottfried Arnolds Lehrtätigkeit Arnold und Dippel Der einige Weg zum Heyl Der Zeitpunkt von Dippels »Bekehrung« Die Schrift Papismus Protestantium vapulans Die Zeit bis zur Veröffentlichung Dippel und Schwenckfeld
184 187 191 199 202 229 231
Kapitel 7: Kirchliche Prozesse gegen Dippels Theologie
234
Der Prozess wegen der Schrift Papismus Protestantium vapulans . . Der Prozess wegen der Schrift Wein und Oel in die Wunden des gestäupten Papsttums Kapitel 8: Dippel, der Chiliasmus und die Apokatastasis Die Entwicklung von Dippels chiliastischen Vorstellungen Die Christenstatt auff Erden Eschatologische Hysterie in Laubach
234 243 250
. . .
250 252 258
Abschließende Einschätzung
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Anhang Zeittafel zur frühen Biographie Johann Konrad Dippels Literaturverzeichnis Abkürzungen 1. Quellen 2. Hilfsmittel und Sekundärliteratur Personenregister
272 272 275 275 276 303 329
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Einleitung Johann Konrad Dippel ist eine der umstrittensten und bekanntesten' Persönlichkeiten des 17. und 18. Jahrhunderts, dessen vieldiskutierte Schriften von den einen strikt abgelehnt und häufig kritisiert, von den anderen aber hoch geschätzt wurden. In ihnen zeigt sich Dippel zunächst als Kritiker der orthodoxen Theologie, später auch der westeuropäischen Aufklärung. Seine vorwiegend polemischen Publikationen hat er in einem journalistischen Stil verfasst, der den Gegner mit Spott und Hohn bedenken konnte und zugleich bildhaft und von einer bezwingenden Logik war. 2 Dippel war Zeit seines Lebens ein Grenzgänger. Die traditionelle T h e o logie des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts konnte seine kritischen Fragen nicht ausreichend beantworten, aber auch der Pietismus in seiner kirchlichen Erscheinungsform vermochte ihn nicht zu fesseln, obwohl dieser sein Denken tiefgreifend beeinflusst hatte. So wurde Dippel zum radikalen Pietisten, der sich keiner kirchlichen Gruppierung zuordnen ließ und der nahezu sämtliche Lehrpunkte der zeitgenössischen Theologie radikal bekämpfte. Durch seine Schriften, in denen er weitgehend logisch diskutiert, ohne aber die biblische Tradition aus dem Auge zu verlieren, wurde er zum Wegbereiter der deutschen Aufklärung, ohne sich ihr selbst zuzuwenden. Dippel durchbrach aber nicht nur in theologischer Hinsicht Schranken, denn sein Lebensweg führte den in Hessen-Darmstadt geborenen Theologen aus der beschaulichen Landgrafschaft zunächst nach Straßburg und
Vgl. zu Dippels Bekanntheitsgrad einen Tagebucheintrag von CASIMIR VON SAYN-WITTGENSTEIN v o m 13. N o v e m b e r 1729: Z w i s c h e n d e m 7. u n d 13. N o v e m b e r sei »nichts s o n d e r liches passiret, als daß der Welt beriimhte [!] D. Dippelius [,] der u n t e r d e m N a h m e n D e m o critus d e n e n Gelehrten bekant ist, ... hierher k o m m e n ist« (WBA, R T 3, 14, fol. 274). Welche große R o l l e Dippels Schriften in der theologischen Diskussion seiner Z e i t spielten, zeigt der Widerhall, den Dippel in der r e n o m m i e r t e n theologischen Zeitschrift Unschuldige Nachrichten, bzw. deren Vorläufer- u n d Fortsetzungsorganen fand. Dippel war im Vergleich mit der E r w ä h n u n g anderer Autoren eine der am häufigsten g e n a n n t e n Personen. Im Register der Unschuldigen Nachrichten der Jahre 1701—1710 umfasst Dippel z u s a m m e n mit seinem P s e u d o n y m Christianus Democritus vier Seiten. G o t t f r i e d Arnold, dessen Kirchen- und Ketzerhistorie für u n geheure A u f r e g u n g gesorgt hatte, umfasst f ü n f Seiten des Registers. Spener werden n u r zweieinhalb u n d Francke n u r eine Seite g e w i d m e t . Im Vergleich zu d e n Vertretern des Pietismus w e r d e n die b e d e u t e n d e n Philosophen Spinoza u n d Descartes (zusammen nur knapp m e h r als eine Seite) geradezu vernachlässigt. 2 N a c h EMANUEL HIRSCH ist Dippel »der erste deutsche Schriftsteller, welcher ernste t h e o logische Fragen in e i n e m freien Tone behandelt hat« (Geschichte der n e u e r n evangelischen Theologie, Bd. 2, 278). 1
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Berlin, später unter anderem in die Niederlande, nach Norddeutschland, nach Schweden und Dänemark. So ist sein Einfluss auch nicht auf den deutschsprachigen R a u m beschränkt geblieben und seine Schriften wurden in verschiedene europäische Sprachen übersetzt. Für den Pietismus in Schweden war er von großer Bedeutung, da dieser sich während seines dortigen Auftretens in eine kirchliche und separatistische Bewegung spaltete. U n d Dippel überschritt auch die Grenze der theologischen Wissenschaft. Er promovierte in der Medizin, war zu seiner Zeit ein berühmter Arzt und beschäftigte sich längere Zeit intensiv mit Alchemie. Die folgende Arbeit widmet sich Dippels bisher kaum erforschter Frühzeit bis zum Jahre 1700. Für diese bietet sie eine detaillierte Biographie und sucht nach Einflüssen auf Dippels theologisches Denken. Dies ist nicht allein für die Person Johann Konrad Dippels von Interesse, sondern darüber hinaus in zweifacher Hinsicht für die gesamte Geschichte des Pietismus. Denn erstens kann dadurch die These überprüft werden, dass dieser der deutschen Aufklärung den Weg bereitet hat, für die Dippel immer wieder als Beispiel herangezogen wird. 3 U n d zweitens kann an seiner Person die Frage untersucht werden, aus welchen Quellen sich die Theologie eines Vertreters des radikalen Pietismus speiste, wodurch der Debatte um die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Strömung vielleicht neue Impulse gegeben werden können. Obwohl im Blick auf das Verhältnis zwischen Pietismus und deutscher Aufklärung verschiedene Forscher darauf hinwiesen, dass Dippel als ein Wegbereiter der letztgenannten Epoche angesehen werden muss, wurde noch nie ernsthaft die Frage erörtert, inwiefern er selbst etwa durch Vertreter der Frühaufklärung beeinflusst worden ist. 4 Träfe dies zu, so könnte Dippel nicht mehr als überzeugendes Paradigma für die These angeführt
3 In der Forschung ist Dippel vielfach als Vorläufer der Aufklärung benannt worden, am deutlichsten von WILHELM BENDER, Johann Konrad Dippel. Der Freigeist aus dem Pietismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Aufklärung, B o n n 1882. Dippel war ihm ein Paradigma dafür, dass der Pietismus insgesamt als Vorläufer der deutschen Aufklärung gelten kann. Diese These war schon früher aufgestellt worden, und wird im Sinne Benders bis heute vertreten: FRITZ MAUTHNER, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. 3, 188f.; W. KLOSE, Johann Konrad Dippel, 468; HORST STEPHAN, D e r Pietismus als Träger des Fortschritts; HANS-WERNER MÜSING, Speners Pia Desideria und ihre Bezüge zur deutschen Aufklärung; HERMANN BÖSSENECKER, Pietismus und Auklärung. Ihre B e g e g n u n g im deutschen Geistesleben des 17. und 18. Jahrhundert (v.a. 107-114). Selbst ALBRECHT RITSCHL konnte dem Pietismus nicht gänzlich seine Beziehung zur Aufklärung absprechen (Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, B d . 1, 363). Dippel wird von ihm als mystischer Aufklärer bezeichnet (a.a.O., 379). 4 Vgl. STEPHAN GOLDSCHMIDT, Johann Konrad Dippel und die Aufklärung, 98 f. Die Arbeiten, die Dippel als von Spinoza beeinflusst beschrieben haben (MAX GRUNWALD, Spinoza in Deutschland, 69f.; JACOB FREUDENTHAL/CARL GEBHARDT, Spinoza. Leben und Lehre,
Teil 2 , 2 2 4 f . ; GERHARD ALEXANDER, S p i n o z a u n d D i p p e l ; STEFAN W I N K L E , D i e h e i m l i c h e n
Spinozisten in Altona, 19-27), sind methodisch unzureichend.
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werden, dass der Pietismus die deutsche Aufklärung aus der Wiege gehoben habe. Dass bisher praktisch noch nie die Frage nach einer möglichen Prägung Dippels durch verschiedene Frühaufklärer gestellt wurde, ist kein Zufall, da fur ihre Beantwortung die Voraussetzungen fehlten. Keine Arbeit über Dippel hat bisher über die Zeit, die fur Dippels theologische Entwicklung entscheidend war, nämlich die Schul- und Studienzeit, auch nur ansatzweise Ergebnisse hervorgebracht, anhand deren diese Frage hätte geklärt werden können. Im Folgenden wird nach den Einflüssen gesucht, welchen er während seiner Kindheit, der Schul- und Studienzeit und bis zu dem Zeitpunkt ausgesetzt war, an dem er seine Theologie in ihren Grundzügen entwickelt hatte. 5 Auf die Frage nach dem Zusammenhang von kirchlichem und radikalem Pietismus sind in der neueren Forschung verschiedene Antworten gegeben worden. 6 Für Emanuel Hirsch handelt es sich um zwei durch vielfältige Beziehungen zwar verbundene, im Grunde aber voneinander weitgehend unabhängige Phänomene, die ihren Ursprung jeweils in einer anderen Tradition haben. 7 Der in mancherlei Hinsicht Hirsch entgegenstehende Ansatz Martin Schmidts kommt letztlich zu einem ähnlichen Ergebnis über die Beziehung des radikalen und des kirchlichen Pietismus. 8 So konnte Hans Schneider als Ergebnis der beiden wichtigsten Gesamtkonzeptionen des Pietismus in der neueren Forschung festhalten: »Von einem radikalen Pietismus kann man [nach Hirsch und Schmidt] streng genommen gar nicht sprechen; die so benannten Personen und Gruppen sind nicht dem Pietismus zuzurechnen«! 9 Stattdessen handelt es sich bei den Radikalen um die Ausläufer des mystischen Spiritualismus (Schmidt), bzw. um eine Be-
5 Dies war 1698 der Fall, wie die Schrift Papismus Protestantium vapulans aus diesem Jahr zeigt, in der Dippels T h e o l o g i e ihre typische A u s f o r m u n g erreicht hatte. Vgl. dazu Dippels eigene Aussage in Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen, durch die Publication der sämtlichen Schrifften Christiani Democriti, in drey Bänden, welche er selbst nach und nach bis an seinen Tod dem Druck hat übergeben. Nebst einem summarischen Auszug der Theologischen Schrifften; wozu noch kommt ein Anhang einiger noch nie gedruckten Stücken, so von ihm herkommen, wie auch dessen Personalia. Mit einer kurtzen allgemeinen Vorrede des Auctoris, und einer andern von dem Herausgeber, wie auch einem hinlänglichen Register, Bde. 1 - 3 , Berleburg 1747, hier, Bd. 2, 1081. B e i m Zitieren dieser Gesamtausgabe w e r d e n im Folgenden lediglich die Bände durch die Z i f fern I—III angegeben. 6 Vgl. HANS SCHNEIDER, D e r radikale Pietismus in der neueren Forschung, 2 1 - 3 1 . 7 HIRSCH, Geschichte der n e u e r n evangelischen T h e o l o g i e , Bd. 2, 2 0 8 - 3 1 7 . 8 SCHMIDT, Art. »Pietismus«, in: R G G 3 , Bd. 5, 3 7 0 - 3 8 1 ; DERS., W i e d e r g e b u r t u n d n e u e r Mensch; DERS., D e r Pietismus als theologische Erscheinung. Schmidt sieht den Pietismus nicht lediglich als Frömmigkeitsbewegung, s o n d e r n als theologische Erscheinung, deren S c h w e r p u n k t in der Lehre von der W i e d e r g e b u r t liegt. In der geistesgeschichtlichen E i n o r d n u n g der protestantischen R e f o r m b e w e g u n g hebt Schmidt die B e d e u t u n g des mystischen Spiritualismus hervor, der die wesentlichen Anliegen des Pietismus bereits hervorgebracht h a b e n soll. Speners Leistung war es, diese zu domestizieren u n d von ihren kirchenauflösenden Tendenzen zu befreien. 9 SCHNEIDER, D e r radikale Pietismus in der n e u e r e n Forschung, 28.
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wegung, die durch B ö h m e vermittelt an das Schwärmer- und Täufertum der Reformationszeit und den mystischen Spiritualismus anknüpfe (Hirsch). In neuester Zeit hat Hans Schneider eine Gegenposition zu Hirsch und Schmidt geboten, indem er die B e d e u t u n g der spenerschen R e f o r m v e r s u c h e für die Entstehung des radikalen Pietismus betonte, ohne die Verwurzelung in der Tradition des Spiritualismus aus den Augen zu verlieren. 1 0 D i e Frage nach den Q u e l l e n des radikalen Pietismus muss solange hypothetisch bleiben, bis die Forschungsdefizite zumindest teilweise behoben sind. 1 1 D i e vorliegende Arbeit will am Beispiel Johann Konrad Dippels aufzeigen, welche Traditionen für einen Vertreter des radikalen Pietismus bestimmend gewesen sein können. Sie versucht dies nicht zu klären, indem sie lediglich Ähnlichkeiten zwischen Dippel und Vertretern älterer Traditionen aufzeigt. Stattdessen werden Anhaltspunkte dafür gesucht, wann und w o Dippel mit diesen Traditionen in Berührung g e k o m m e n sein muss. Erst nachdem durch einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit ausgesagt werden kann, dass sich Dippel mit einem Theologen oder Philosophen b e schäftigte, wird nach dessen Einflussmöglichkeiten gesucht. So kann wahrscheinlich gemacht werden, dass Dippel neben Gottfried Arnold, der in der Forschung immer wieder als dessen geistiger Vater angesehen wurde, auch von Schwenckfeld, Spener und in etwas geringerem Maße von verschiedenen altkirchlichen Schriftstellern geprägt wurde. D i e Arbeit kommt in diesem Zusammenhang entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung zu d e m Ergebnis, dass Dippel von Spener und Schwenckfeld früher und in größerem U m f a n g beeinflusst wurde als von d e m Verfasser der Kirchen- und Ketzerhistorie. So kann hinsichtlich der Frage nach der Genese des radikalen Pietismus an einem seiner Vertreter deutlich gemacht werden, dass sowohl der spiritualistischen Tradition als auch d e m Verfasser der Pia desiderici entscheidende B e d e u t u n g zukommen. N e b e n Dippels Biographie, seiner theologischen Entwicklung und über die beiden zuvor geschilderten Fragen hinaus, die sich mit d e m geistesgeschichtlichen Zusammenhang des Pietismus beschäftigen, wird in der vorliegenden Arbeit vielfach der historische Kontext der fur Dippels erste Lebenshälfte bedeutenden Orte erhellt. Dies ist vor allem für die Gießener Zeit von Bedeutung, als Dippel für vier Semester in der von dem Pietisten Johann Heinrich May geleiteten Stipendiatenanstalt wohnte. Anhand von Q u e l l e n kann deutlich gemacht werden, wie diese im Sinne Speners zu
1 0 SCHNEIDER, D e r radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, 3 9 2 f . S c h o n JOHANNES WALLMANN hatte 1970 aufgezeigt, dass Spener schon vor der Abfassung der Pia desiderici in Verbind u n g stand mit Personen w i e J o h a n n J a k o b Schütz, die später d e m radikalen Pietismus zuzuordnen waren, u n d von diesen sogar wichtige Impulse e m p f i n g (Philipp J a k o b Spener u n d die A n f a n g e des Pietismus).
" Vgl. SCHNEIDER, D e r radikale Pietismus in der neueren Forschung, 15f.
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einer pietistischen Ausbildungsstätte für Pfarrer umgestaltet wurde. Und so kann die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag zu der Frage leisten, wie Speners Vorschläge zur Verbesserung des Theologiestudiums an einer deutschen Universität wirksam wurden. Im Schlusskapitel soll schließlich dargestellt werden, dass das Jahr 1700 für die Entstehung des radikalen Chiliasmus eine zentrale Rolle spielte. Die bevorstehende Jahrhundertwende muss die Endzeitstimmung so sehr verstärkt haben, dass sie selbst so nüchterne Theologen wie Dippel mitriss, der zeitweise daran glaubte, dass mit ihr das Reich Christi auf Erden beginnen müsse. Es kann gezeigt werden, dass neben Frankfurt das kleine Residenzstädtchen Laubach ein Zentrum des radikalen Chiliasmus bildete. Die Schlüsselrolle, die das Jahr 1700 für viele radikale Pietisten spielte,12 und die Enttäuschung über das Ausbleiben des Tausendjährigen Reiches lässt verständlich werden, warum in den folgenden Jahren deren Positionen milder wurden und sie nicht mehr so häufig mit extremen Meinungen an die Ö f fentlichkeit traten. Ernüchtert sahen sich etliche Radikale dazu gezwungen, sich mit der Welt und der Kirche zumindest zu arrangieren. Dippel gehörte zu denen, die auch im neuen Jahrhundert an ihren Uberzeugungen unbeirrt fest hielten und deshalb auch auf jegliche Anstellung in der »Babelkirche« verzichteten.
12 Vgl. dazu HANS SCHNEIDER, Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus u m 1700.
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Kapitel 1 : Epochen der Dippelforschung
1. Die Anfänge der Dippelforschung
(bis
1780)
Schon zu Lebzeiten wurden Leben u n d Lehre Dippels in zahlreichen Schriften kontrovers diskutiert, die an dieser Stelle nur dann gewürdigt werden, wenn sie eine Grundlage für spätere Forschungen bilden. Dies trifft zuerst auf verschiedene Artikel der theologischen Zeitschrift Unschuldige Nachrichten1 zu, die vorwiegend Rezensionen von Dippels Schriften und nur vereinzelt Mitteilungen zu seiner Biographie bieten. 2 Diese sind allerdings von der Absicht getragen, Dippel zu kompromittieren u n d daher aus historischer Perspektive kritisch zu beurteilen. Das gilt auch für die Darstellung Johann Georg Walchs, der Dippel 1733 in seine Sammlung der Religionsstreitigkeiten aufnahm u n d ihn v o m lutherischen Standpunkt aus kritisierte. 3 Die knappen biographischen Angaben sind kaum erwähnenswert und weitgehend von Dippels Lebens-Lauff4 u n d den Unschuldigen Nachrichten abhängig. Umfangreicher wird Dippels Theologie dargestellt, wobei die Christologie und die damit verbundene Rechtfertigungslehre einen Schwerpunkt bilden. Walch sah hier — völlig zutreffend — die G r u n d lage des gesamten theologischen Systems. Kurze Zeit später wurde Dippel in der Kirchengeschichte von Johann Georg Heinsius berücksichtigt, dessen Darstellung im Geiste der Unschuldigen Nachrichten gehalten und von diesen teilweise abhängig ist. 5 U b e r die Artikel der theologischen Zeitschrift hinaus werden Dippels letzte Lebensjahre geschildert. Für die erste Epoche der Dippelforschung bilden diese drei Beiträge die maßgeblichen G r u n d -
1 Altes und Neues aus den [!] Schatz theologischer Wissenschaften, Wittenberg 1701. Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen, Leipzig 1702—1719. Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen, Leipzig 1720-1750. 2 Material zu Dippels Biographie findet sich in den Jahrgängen 1704 (311 f.), 1706 (114-116), 1719 (879-885), 1726 (1030f.) u n d 1729 (1033-1038). 3 Historische u n d theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der EvangelischLutherischen Kirche, Bd. 2, Jena 1733; hier: 7 1 8 - 7 5 5 , u n d Bd. 5 / 2 , Jena 1739; hier: 9 9 9 - 1 0 2 9 . 4 Nützliche Zugabe, Enthaltend die Personalia, oder den kurtz-geführten Lebens-Lauff des gestorbenen und doch lebenden Christiani Democriti, I, 379—396. Leicht zugänglich ist diese autobiographische Skizze in: MARIANNE BEYER-FRÖHLICH, Deutsche Selbstzeugnisse, Bd. 7: Pietismus u n d Rationalismus, 73—94. Dippel hat diese Schrift laut einer Schlussnotiz im Herbst 1698 verfasst. Z u r U n t e r s c h e i d u n g von den Personalia in III, 147—173 wird diese Skizze im Folgenden als Lebens-Lauff bezeichnet. 5 Unpartheyische Kirchen-Historie Alten u n d N e u e n Testaments, von Erschaffung der Welt bis auf das Jahr nach Christi G e b u r t 1730, fortgesetzt von E. STOCKMANN u.a., Bd. 2, Jena 1735, 1 1 2 8 - 1 1 3 0 ; vgl. auch 731. 801. 849.
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lagen, doch lediglich Walch regt mit seiner ausfuhrlichen Auseinandersetzung mit Dippels Rechtfertigungslehre die Frage nach der Mitte von dessen Theologie an. Der erste Lexikonartikel über Dippel stammt aus dem Jahre 1742. 6 Hier wird Dippels Biographie anhand seiner autobiographischen Skizzen knapp dargestellt. Hervorzuheben ist, dass der Artikel mit der Angabe der Jahreszahl 1672 ein falsches Geburtsdatum nennt, worin ihm die spätere Forschung teilweise folgen sollte. Interessanterweise wird die Frage aufgeworfen, ab wann sich Dippel mit medizinischen Studien beschäftigte, die für die Genese seiner Theologie, in der immer wieder die Vorstellung von Gott als dem Arzt begegnet, von Bedeutung ist. O b die auf das Jahr 1698 zielende Antwort zutrifft, wird später zu klären sein. Von diesem Forschungsbeitrag und von den erwähnten Arbeiten Walchs ist ein Artikel über Dippel abhängig, der 1750 im zweiten Band des Gelehrtenlexikons von Christian Gottlieb Jöcher erschien. 7 Er geht zwar kaum über die bisherige Forschung hinaus, wurde aber für die kommenden Dippeldarstellungen wichtig. Wenige Jahre später erschien der bis dahin umfangreichste und wichtigste Forschungsbeitrag von Johann Anton Trinius. 8 Besonders ist die Bibliographie hervorzuheben, die bis heute Gültigkeit beanspruchen darf, weil sie zu fast jeder Dippelschrift eine kurze Inhaltsangabe bietet und zudem diejenigen Schriften erwähnt, in denen Dippel bekämpft oder verteidigt wird. Bereits in der ersten Phase der Dippelforschung gibt es den Versuch, Dippel ideengeschichtlich einzuordnen. Siegmund Jakob Baumgarten sieht Dippel von der Gnosis beeinflusst, 9 wobei er sich vorwiegend auf dessen naturphilosophische Schriften bezieht. Hiermit wirft Baumgarten die Frage nach den Quellen für Dippels medizinische und alchemistische Vorstellungen auf, die erst über hundert Jahre später von Wilhelm Bender 10 genauer untersucht und erst seither hin und wieder behandelt werden sollte.11 6 J A C O B C H R I S T O F F B E C K und A U G U S T J O H A N N B U R T O R F F , Supplement zu dem Baselischen allgemeinen Historischem Léxico (hg. V . J A C O B C H R I S T O F F I S E L I N ) , Bd. 1 , Basel 1 7 4 2 . 7 Allgemeines Gelehrten-Lexikon, darinne die Gelehrten aller Stände sowohl männ- als weiblichen Geschlechts, welche vom Anfange der Welt bis auf ietzige Zeit gelebt, und sich der gelehrten Welt bekannt gemacht, nach ihrer Geburt, Leben merckwiirdigen Geschichten, Absterben und SchrifFten aus den glaubwürdigsten Scribenten in alphabetischer Ordnung beschrieben werden, Bd. 2, Leipzig 1750, 149-151. 8 Freydenker-Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister, ihrer Schriften, und deren Widerlegungen ..., Leipzig/Bernburg 1759, 182-242. 9 Untersuchung theologischer Streitigkeiten, Bd. 1, Halle 1762, 119f. 10 Siehe dazu unten S. 25. 11 H A N S - G E O R G K E M P E R , Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß, Bd. 1, 215-264 und Bd. 2, 234-303, und J O H A N N G E O R G Z I M M E R M A N N , Das Weltbild des jungen Goethe. Beide sehen allerdings nicht in der Gnosis, sondern — völlig zutreffend — im Hermetismus die Quelle fur Dippels naturphilosophisches Denken.
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1762 wurde Dippel von Johann Salomo Semler als Hauptvertreter eines humanisierten Gottesbildes u n d der effektiven Rechtfertigungslehre angesehen. 1 2 Auch die Darstellung J o h a n n Lorenz von Mosheims, der nur kritische Worte über Dippel findet, gehört in die erste Phase der Dippelforschung. 1 3 Dieser nennt ihn beispielsweise einen M a n n , »der die ersten Grundsätze zu einer gesunden Vernunft u n d Frömmigkeit o h n e Ausnahme auf das verwegenste gemishandelt hat«.
2. Die ersten Ansätze
der historischen Auseinandersetzung
(bis
1785)
N a c h den geschilderten Anfängen kam es in der ersten Hälfte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts geradezu zu einem Q u a n t e n s p r u n g in der D i p pelforschung. Die erste Biographie, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dippel anstrebt u n d die deshalb hier ausfuhrlicher gewürdigt werden soll, ist die von J o h a n n Christian Gottlieb Ackermann. 1 4 In der Darstellung der Kindheit, Jugend u n d Studienzeit bezieht er sich auf eine autobiographische Skizze Dippels, lässt allerdings manchmal seiner Phantasie freien L a u f u n d hinterfragt seine Quelle nicht kritisch. Auch versucht er nicht, die geschilderten Ereignisse genauer zu datieren u n d bringt darüber hinaus die Reihenfolge der Studienzeit teilweise durcheinander, worin i h m spätere Forscher teilweise gefolgt sind. 15 So setzt er beispielsweise Dippels Habilitationsdisputation fälschlicherweise direkt nach dessen Hauslehrertätigkeit an u n d lässt die Straßburger Studienzeit d e m missglückten Versuch folgen, eine Professur in Gießen zu erlangen. 1 6 A u ß e r d e m bringt Ackermann als erster die Legende auf, nach der Dippel vor seinem Straßburger Studienjahr nach Wittenberg gezogen sei, u m dort sein Studium fortzusetzen. 17 Dippels H i n w e n d u n g zum Pietismus wird ganz im Sinne des LebensLauffs geschildert u n d wird entsprechend zeitlich erst mit der Abfassung der Schrift Papismus Protestantium vapulans von 1698 angesetzt, in der Ackermann erstmalig Dippels echte pietistische Gesinnung ausgedrückt sieht. Dass diese Schrift fünf M o n a t e unveröffentlicht beim Buchdrucker lag, interpretiert Ackermann als einen taktischen Schachzug Dippels, der vor
12
Geschichte der christlichen Glaubenslehre, Bd. 1, Halle 1762, 177-193. Vollständige Kirchengeschichte des N e u e n Testaments ..., Bd. 6, Leipzig 1774, 531f. 14 Das Leben Johann Conrad Dippels, Leipzig 1781. 15 Zuletzt findet sich die ackermannsche Datierung im Jahre 1970 bei K A R L - L U D W I G VOSS (Christianus Democritus, 9f.; vgl. auch DERS., Johann C o n r a d Dippel, in: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7, hg. v. M A R T I N G R E S C H A T , 2 7 7 - 2 8 5 , hier: 278f.). 1 6 A C K E R M A N N , a.a.O., 1 7 A C K E R M A N N , a.a.O., 21. Diese Annahme, der viele Forscher folgen sollten, beruht auf einer falschen Interpretation des Lebens-Lauffs. 13
18
einer Veröffentlichung erst habe abwarten wollen, ob er die dritte theologische Professur in Gießen erlangen würde. 18 Anschließend wendet sich Ackermann Dippels medizinischen und alchemistischen Tätigkeiten zu, bevor er kurz die Berliner Zeit streift.19 Danach werden Dippels medizinische Studien in Holland ausfuhrlich beschrieben, 20 während die Darstellung der Zeit in Altona, auf Bornholm und in Schweden lediglich Dippels autobiographischen Skizzen folgt. Nach einer Schilderung der letzten Lebensjahre bringt Ackermann ein ausfuhrliches Resümee, in dem Dippel als Reformator bezeichnet wird, der mit Luther zu vergleichen sei.21 Ackermanns Forschungsbeitrag ist vor allem wegen seiner positiven Würdigung Dippels lange maßgeblich geblieben. Seine Schwäche liegt in der zu starken Fixierung auf die autobiographischen Passagen in Dippels Schrifttum, die kaum kritisch hinterfragt und auch nicht mit anderen Quellen in Beziehung gesetzt werden. Gleichzeitig mit Ackermann verfasste Hans Wilhelm Hoffmann seine Darstellung über Dippel, die 1782 im Darmstädter Adresskalender22 und ein Jahr später separat veröffentlicht wurde. 23 Hoffmann versucht, Dippels Leben und Lehre nach den Kriterien der wissenschaftlichen Historiographie seiner Zeit darzustellen. Anders als in den früheren Forschungsbeiträgen sucht Hoffmann über die autobiographischen Skizzen hinaus nach Quellen, was ihm aber nur ansatzweise gelingt. Obwohl er teilweise die tendenziöse Darstellung des Lebens-Lauffs übernimmt, widersteht er der Versuchung, der spätere Gelehrte häufig erliegen sollten, Gottfried Arnold als Dippels geistigen Vater darzustellen.24 Recht knapp berichtet er von Dippels Hinwendung zur Alchemie und seinen Aufenthalten in Berlin, Holland und Altona. Auch die Zeit auf Bornholm und in Schweden wird nur gestreift, ebenso wie Dippels letzte Lebensjahre. Im zweiten Teil seiner Schrift versucht er, Dippels Lebensleistung zu würdigen und seine Lehre zu beschreiben, der er allerdings nicht gerecht wird. 25 Auf die Forschungsbeiträge Ackermanns, Hoffmanns und anderer baut Friedrich Wilhelm Strieder in seinem Gelehrtenlexikon auf. 26 So findet sich auch bei ihm teilweise eine falsche Reihenfolge der Ereignisse wäh-
18
ACKERMANN, a . a . O . , 4 7 f.
19
ACKERMANN, a . a . O . , 6 7 f .
20
ACKERMANN, a.a.O.,
21
ACKERMANN, a . a . O . , 1 1 1 .
69-77.
2 2 Hochfurstlich-Hessen-Darmstädtischer Staats- und Adreßkalender auf das Jahr 1782, 232-266. 2 3 Leben und Meinungen Johann Conrad Dippels, Darmstadt 1783. 24
HOFFMANN, a . a . O . , l O f .
25
HOFFMANN, a.a.O., 2 1 - 2 9 .
29-45.
Grundlagen zu einer hessischen Gelehrten- und Schriftstellergeschichte. Seit der R e f o r mation bis auf gegenwärtige Zeiten, Bde. 1 - 1 8 Göttingen/Kassel/Marburg 1 7 8 1 - 1 8 1 9 ; hier: Bd. 3, 8 9 - 1 3 5 . 26
19
rend Dippels Studienzeit. Allerdings wird eine fur die Genese von Dippels Theologie interessante Frage aufgeworfen, indem bereits während des Straßburger Studienjahres eine A n n ä h e r u n g Dippels an den Pietismus gesehen wird. 2 7 Das hindert Strieder allerdings nicht daran, zu behaupten, Dippel habe nach seiner R ü c k k e h r in die Heimat (1696) bloß so getan, als ob er Pietist sei. 28 Die Begegnung mit Arnold wird nur kurz gestreift, ebenso der Anfang von Dippels literarischer Tätigkeit. Z u erwähnen ist, dass Strieder bereits die Orcodoxia Orthodoxorum als typische Dippelschrift bezeichnet, die er »mit der gewöhnlichen Heftigkeit« verfasst habe. 2 9 Ausfuhrlich wird Dippels zweite Lebenshälfte beschrieben, angefangen bei dessen medizinischen und alchemistischen Studien, über Dippels Zeit in Berlin, bis zu seinen Aufenthalten in Holland, Altona u n d Schweden. Für eine Darstellung der ersten Lebenshälfte Dippels ist Strieders Forschungsbeitrag vor allem von Interesse, weil er die strikte Einteilung in eine o r t h o doxe u n d pietistische Lebensphase sprengt. N e b e n wohlwollenden oder unparteiischen Darstellungen gibt es auch in der zweiten Phase der Dippelforschung einen Kritiker, der in Dippel lediglich einen U n h o l d sieht. 30 Johann Christoph Adelung, der Dippels »philosophisches sowohl als theologisches System ein Gemisch hier und da aufgeraffter u n d nicht zusammen passender M e i n u n g e n u n d Sätze« nennt, 3 1 ist von der polemischen Darstellung, wie sie noch in der ersten Phase der Dippelforschung üblich war, nicht weit entfernt. Adelung bezieht sich vorwiegend auf die Darstellung Ackermanns, Hoffmanns u n d Strieders u n d auf Dippels autobiographische Angaben. Interessant ist der Versuch einer psychologischen Interpretation von Dippels Biographie, nach der dessen frühe Begabung u n d »das unzeitige Lob« dafür verantwortlich sein sollen, dass dieser stolz wurde u n d alles verachtete, was er nicht durch sein Genie erkannte. 3 2 Ähnlich wie bei den übrigen Darstellungen der zweiten E p o che der Dippelforschung liegt Adelungs entscheidendes Defizit darin, dass er über die autobiographischen Angaben Dippels hinaus nicht auf andere Quellen oder die jeweiligen historischen Kontexte zurück greift.
27
STRIEDER, a . a . O . , B d . 3, 9 3 f .
28
STRIEDER,
a.a.O., Bd.
3, 95.
Hier übernimmt Strieder kritiklos die Aussagen aus Dippels
Lebens-Lauff. a.a.O., Bd. 3, 96. Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibung berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden, Teil 1, Leipzig 1785; hier: 314—347. 31 A D E L U N G , a.a.O., 3 1 4 F . 32 A D E L U N G , a.a.O., 315f. 29
STRIEDER,
30
ADELUNG,
20
3. Der Stillstand in der Dippelforschung (bis 1850) N a c h d e m Ende des 18. Jahrhunderts Dippels Lehre und Leben von verschiedenen Autoren recht ausfuhrlich dargestellt worden waren, findet sich kein einziger herausragender Forschungsbeitrag in der dritten Periode der Dippelforschung. In diesem Zeitraum bleibt die zu besprechende Literatur auf Lexikonartikel und andere knappe Darstellungen beschränkt. In diesen werden die Ergebnisse der früheren Arbeiten meist unreflektiert und mit ihren Fehlern wiederholt. N o c h aus dem 18. Jahrhundert stammt der Artikel in Friedrich Carl Gottlob Hirschings Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, der allerdings für die Dippelforschung kaum von Interesse ist. 33 Die Arbeit von Christian Gotthilf Salzmann 34 scheint von Adelung beeinflusst zu sein und beurteilt Dippel entsprechend kritisch. Trotz seines Rückgangs auf die frühere Literatur trägt er einige neue Fehler in die Biographie ein, lässt Dippel beispielsweise das Berliner Blau 1710 erfinden, in einer Zeit also, in der dieser Berlin längst verlassen hatte. Freundlich urteilt Samuel Baur in zwei Artikeln über Dippel. 35 Indem er dessen philosophischen Kampf gegen Spinoza und Descartes erwähnt, 3 6 lenkt er den Blick der Forschung auf die Frage nach dessen Verhältnis zur Aufklärung. Der Artikel in W. D. Fuhrmanns Handwörterbuch 3 7 scheint sich teilweise auf Dippels autobiographische Skizzen zu stützen, ist aber doch stark von Ackermann und Strieder beeinflusst. Immerhin verbessert er Ackermanns falsche zeitliche Reihenfolge der Studienzeit teilweise, ohne jedoch selbst völlig richtig zu liegen. Die kurzen Artikel in der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie 3 8 und in H. A. Pierers UniversalLexikon 39 sind kaum aussagekräftig. Der Artikel des erstgenannten Lexikons ist für die Dippelforschung lediglich deshalb von Bedeutung, weil Dippel geistesgeschichtlich eingeordnet und als Böhmeanhänger geschildert wird. Dieser These folgen später namhafte Pietismusforscher wie 33 Historisch-literarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in dem 18. Jahrhundert gestorben sind ..., Bd. 2/1, Leipzig 1795; hier: 21—23. 34 Denkwürdigkeiten aus dem Leben ausgezeichneter Teutschen des achtzehnten Jahrhunderts [anonym], Schnepfentahl 1802, 224-227. 35 Interessante Lebensgemälde der denkwürdigsten Personen des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Leipzig 1803, 290-309, und Gallerie historischer Gemähide aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Handbuch für jeden Tag des Jahres, Hof 1804, 246—251. 36 BAUR, Interessante Lebensgemälde der denkwürdigsten Personen des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, 306. 308. 37 Handwörterbuch der christlichen Religions- und Kirchengeschichte ..., Bd. 1, Halle 1826, 611-615. 38 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, Bd. 3, Leipzig 1833, 310. 39 Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften und Künste und Gewerbe, Bd. 7, Altenburg 1741, 422.
21
Emanuel Hirsch. 40 Bei Pierer findet sich die falsche Behauptung, dass Dippel 1696 eine Professur verloren habe, die er entsprechend in Gießen besessen haben müsste. Erwähnt werden muss auch Johann Heinrich JungStillings Darstellung des Lebens Dippels in seiner Schrift Theobald.41 Danach zog Dippel von Berlin aus nach Russland und war dort als Leibarzt des Zaren tätig. Von dort soll er nach Schweden gegangen und erst danach auf Bornholm inhaftiert worden sein. Jung-Stillings Theobald dokumentiert eindrucksvoll, wie sehr die Kenntnisse von Dippel in der dritten Periode der Dippelforschung geschwunden waren. Der einzige hervorzuhebende Forschungsbeitrag in dieser Epoche ist der von Ferdinand Christian Baur. 42 Er hat sich gründlich mit Dippels Theologie auseinander gesetzt und versucht, ihn geistesgeschichtlich einzuordnen, sieht ihn allerdings allzu pauschal in der Tradition der Mystiker und Sozinianer. Für die Frage nach den Quellen von Dippels radikalpietistischer Theologie ist von großem Interesse, dass er dessen Verhältnis zu Jacob Böhme durchleuchtet, den er ebenfalls der Mystik zuordnet. Baur sieht allerdings zwischen beiden einen gravierenden Unterschied, da Dippel anders als Böhme in Gott allein die Liebe gesehen und gelehrt habe, dass nicht Gott mit den Menschen, sondern der Mensch mit Gott versöhnt werden muss. Baurs Kenntnis der Dippelschriften zeigt sich auch darin, dass er die Mitte der Versöhnungslehre Dippels in der von diesem schon sehr früh entwickelten eigentümlichen Beschränkung der Dreiämterlehre Christi auf die Rechtfertigung sieht: »So bestehe nur das Amt des Mittlers und Erlösers darin, daß er nicht allein als ein Hohepriester das Volk durch Gebet und Opfer versöhne, sondern auch als ein Prophet ... den Weg zur Heiligung ... zeige, und als König ... die Creatur Gottes völlig von der Sünde befreie«. Wenn Baurs Beurteilung zutrifft, hat Dippel die Mitte seiner Theologie damit schon in einer kleinen Schrift entwickelt, die er noch vor seiner Begegnung mit Gottfried Arnold verfasste. Dieser Gesichtspunkt wird bei einer Darstellung der theologischen Entwicklung Dippels eine wichtige Rolle spielen müssen.
4. Die neuen Impulse und grundlegenden
Arbeiten (bis 1950)
Neue Impulse erhielt die Dippelforschung vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der der Pietismus ausgehend von Friedrich August Gottreu Tholucks Arbeiten über die Geschichte und Vorgeschichte des Rationalismus völlig neuen FrageSiehe dazu unten S. 28. Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte, Stuttgart 1 8 3 7 , 24. 3 0 - 3 4 . 4 2 Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1 8 3 8 , 4 7 2 - 4 7 7 . 40 41
22
Stellungen unterzogen wurde. 4 3 In dieser Zeit wurde Dippels Biographie erstmals wirklich historisch bearbeitet, indem man konsequent versuchte, durch das Auffinden von Quellen Informationen zu erhalten, die über die Angaben von Dippels autobiographischen Skizzen hinausgehen. Den A n fang macht W. Klose, der Dippel 1851 erstmals seit fast 70 Jahren wieder eine umfangreiche Darstellung widmet. 4 4 Er bezieht sich weniger auf die Sekundärliteratur als auf Dippels autobiographische Skizzen. Von Dippels Lebens-Lauff beeinflusst, sieht er die entscheidende Wende in dessen Leben in einer durch Gottfried Arnold beeinflussten Bekehrung im Jahre 1697 und beantwortet damit die Frage positiv, die in vielen späteren Arbeiten über Dippel eine wichtige R o l l e spielt, inwieweit dieser als Schüler des Verfassers der Kirchen- und Ketzerhistorie zu verstehen sei. O b die Abhängigkeit von Arnold tatsächlich zutrifft, wird die Darstellung der theologischen Entwicklung des jungen Dippels prüfen müssen. Einfühlsam stellt Klose im zweiten Teil seiner Arbeit die Theologie Dippels dar und erweist sich dabei als profunder Kenner dessen Schrifttums. Hervorzuheben ist, dass er die Tendenz in Dippels Christologie erkennt, in der dieser die B e deutung des »historischen Christus« zugunsten des »Christus in uns« abgeschwächt habe, 4 5 eine Beobachtung, die im Zusammenhang der Fragestellung der vorliegenden Arbeit insofern eine R o l l e spielt, als sich Dippel in einer seiner ersten schriftlichen Äußerungen mit der Christologie beschäftigte. Kloses Impulse lassen sich in den folgenden drei knappen Beiträgen über Dippel noch nicht wiederfinden. So berichtet Friedrich Wilhelm Barthold in seiner Arbeit über die Erweckten Deutschlands von Dippels Studienzeit und späterem Aufenthalt in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt ganz im Sinne von Adelung. 4 6 1855 nahm Ludwig Noack Dippel in seine Darstellung der namhaftesten deutschen Aufklärer auf und widmet ihm einen knappen Artikel, 4 7 der zwar keine neuen Ergebnisse hinsichtlich der B i o graphie bietet, aber durch die Tatsache, dass er Dippel in die R e i h e der deutschen Aufklärer stellt und mit ihm seine Schrift eröffnet, die geistesgeschichtlich interessante Frage stellt, ob dieser nicht eher als Aufklärer denn als Pietist zu verstehen sei. Im Jahre 1857 setzte sich W. Gaß mit Dippel
4 3 Vgl. HARTMUT LEHMANN, Der Pietismus im Alten Reich, 6 0 - 6 6 , und MARTIN SCHMIDT, Epochen der Pietismusforschung, 26—57. 4 4 Johann Konrad Dippel und Antoinette Bourignon nach Leben und Lehre dargestellt, in: Z H T h 21 (1851), 4 6 7 - 4 9 7 . 4 5 KLOSE, a.a.O., 484. Vgl. auch a.a.O., 488ff. 4 6 Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besonders die frommen Grafenhöfe, in: FRIEDRICH VON RAUMER (Hg.), Historisches Taschenbuch 3 / 3 , Leipzig 1852; hier: 2 3 1 - 2 3 4 . 4 7 Die Freidenker in der Religion, oder die Repräsentanten der religiösen Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland, Bd. 3: Die deutsche Aufklärung in ihren namhaftesten Repräsentanten, Bern 1855, 7 - 1 5 .
23
auseinander, 48 bezieht sich allerdings vor allem auf dessen naturphilosophische Schriften, deren Aussagen er nicht in den Zusammenhang mit Dippels theologischem System zu stellen vermag. Eine bis heute grundlegende Abhandlung über Dippel stammt von Karl Buchner. 4 9 Dieser geht hinsichtlich der Schul- und Studienzeit und der zweiten Lebenshälfte Dippels zwar nicht über die bisherige Forschung hinaus, schildert dafür die der bisherigen Forschung unbekannt gebliebenen Prozesse gegen Dippel aufgrund dessen Schriften Papismus Protestantium vapulans, Wein und Oel und Summarisches Glaubens-Bekäntnüß anhand von neuen archivalischen Quellen. 5 0 1860 erschien posthum der dritte Band der »Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche« von Max Goebel, in dem dieser Dippel einen eigenen Paragraphen widmet, 5 1 ohne allerdings auf die neueste Literatur eingehen zu können. Hervorzuheben ist, dass der aus der Schleiermacherschule stammende Goebel den während Dippels Studienzeit schwelenden Streit zwischen dem Pietisten Johann Heinrich May und dem Orthodoxen Philipp Ludwig Hanneken erwähnt, der bisher in der Forschung noch keine R o l l e gespielt hatte. Damit macht er als erstes auf den unversöhnlichen theologischen Gegensatz innerhalb des Gießener Lehrkörpers aufmerksam, der für Dippels theologische Entwicklung von Bedeutung sein sollte. Die ersten Jahre nach der Zeit in Straßburg schildert Goebel ohne zur bisherigen Forschung Neues beizutragen und sieht ähnlich wie Klose in Gottfried Arnold Dippels wichtigsten Lehrer, der ihn zum Anhänger des separatistischen Pietismus gemacht habe. 5 2 Knapp wird Dippels Zeit in Berlin, Holland, in Altona und auf B o r n h o l m geschildert, ohne dass G o e bel auf irgendwelche Einzelheiten eingeht. U b e r Dippels Schwedenaufenthalt berichtet er deutlich ausführlicher. Besonders geht er auf seine in Schweden verfasste Schrift vera demonstratio evangelica ein, anhand derer er Dippels theologisches System einfühlsam darstellt. 53 Z u m Schluss schildert Goebel die in der bisherigen Forschung vernachlässigten Begegnungen Dippels mit Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Johann Friedrich Rock.54
4 8 Geschichte der protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhange mit der Theologie überhaupt, Bd. 2, Berlin 1857, 4 5 2 - 4 5 6 . Vgl. auch Bd. 4 (Berlin 1862), 8 4 - 8 9 . 4 9 Johann Konrad Dippel, in: FRIEDRICH VON RAUMER (Hg.), Historisches Taschenbuch, 3 / 9 , Leipzig 1858, 2 0 7 - 3 5 5 . 5 0 BUCHNER, a.a.O., 2 4 5 - 2 5 9 . 51 Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche, Bd. 3, Koblenz 1860, 1 6 6 - 1 9 3 . Zu Goebel vgl. SCHMIDT, Epochen der Pietismusfor-
schung, 31—34. 52
GOEBEL, a.a.O., B d . 3,
53
GOEBEL, a.a.O., Bd. 3, 1 7 7 - 1 8 4 . GOEBEL, a.a.O., Bd. 3, 1 8 5 - 1 9 2 .
54
24
173f.
Die bis heute wichtigste Darstellung über Dippel ist die 1882 vorgelegte Arbeit von Wilhelm Bender, 5 5 der in diesem den »Freigeist« innerhalb der protestantischen Reformbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts sieht, der von pietistischen Voraussetzungen ausgehend die wesentlichen Punkte der deutschen Aufklärung vorweggenommen habe. Somit ist Dippel für Bender ein Paradigma, mit dem er nachweisen will, dass der Pietismus als Wegbereiter der religiösen Aufklärung in Deutschland gelten kann. 56 Leider geht Bender in seiner Darstellung der ersten Lebenshälfte Dippels nicht über die bisherige Forschung hinaus, versäumt sogar, die von Buchner herangezogenen Akten einzuarbeiten und sieht in diesem erst nach der Begegnung mit Gottfried Arnold einen wirklichen Pietisten. 57 N e u e Erkenntnisse über die zweite Lebenshälfte Dippels kann Bender nach Einsicht verschiedener Akten aus Archiven in Kopenhagen und Stockholm beibringen, wodurch Dippels Aufenthalte in Berlin 5 8 , Altona und Bornholm 5 9 sowie in Schweden 6 0 in einem neuen Licht erscheinen. In den letzten beiden Kapiteln geht er auf die »aufklärerischen« Ideen Dippels und dessen gesamtes theologisches Denken ein und zeigt sich hier als profunder Kenner seiner Schriften, von denen er einzelne ausfuhrlich referiert. Der Versuch, Dippels radikalpietistische Theologie in verschiedene Perioden zu unterteilen, kann allerdings nicht überzeugen, da sich die wesentlichen Elemente seiner Theologie durch das gesamte Schrifttum durchziehen. 61 Neben den positiven Würdigungen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Dippel entgegengebracht wurden und die ebenfalls der gesamten Bewegung des Pietismus galten, 62 gab es auch äußerst kritische Stimmen in der kirchengeschichtlichen Wissenschaft. 1863 erschien die »Geschichte des Pietismus« des Neulutheraners Heinrich Schmid, der ohne auf Dippel einzugehen die kirchenzersetzenden und dem Protestantismus widersprechenden Motive der Reformbewegung hervorhob. 63 Ahnlich
5 5 Johann Konrad Dippel. Der Freigeist aus dem Pietismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Aufklärung, Bonn 1882. 56
BENDER, a.a.O., 1 - 6 . 6 - 3 1 .
57
B E N D E R , a . a . O . , 4 5 . 5 6 f . u. ö .
58
BENDER, a.a.O.,
84-89.
59
BENDER, a.a.O.,
101-112.
60
BENDER, a.a.O.,
112-122.
Schon ALBRECHT RITSCHL äußerte an dieser Periodisierung Kritik, nach der Dippel zunächst fur Kirchenreformen zugänglich gewesen sei und sich im Laufe seines Lebens zu einen Vertreter einer absoluten Privatreligion entwickelt habe (Geschichte des Pietismus, Bd. 2 / 1 , 324; vgl. aber auch FRIEDRICH BOSSE, Art. »Dippel«, R E 3 , Bd. 4, 703). 6 2 Z u den wichtigen positiven Würdigungen des Pietismus gehört auch HEINRICH HEPPES Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformierten Kirche, namentlich der Niederlande aus dem Jahr 1879. Heppe hebt dort die Nähe zwischen reformiertem Christentum und Pietismus hervor. Vgl. SCHMIDT, Epochen der Pietismusforschung, 37—40. 61
63
V g l . SCHMIDT, E p o c h e n d e r P i e t i s m u s f o r s c h u n g , 3 4 - 3 7 .
25
versteht Albrecht Ritsehl den Pietismus als rückwärtsgewandte, der R e f o r mation widersprechende und an der römisch-katholischen Mystik anschließende Bewegung und sieht in den progressiven, die deutsche Aufklärung initiierenden Elementen, die Bender am Beispiel Dippels aufgezeigt hatte, lediglich Randphänomene. 6 4 D e n n o c h kann er in seinen zwei instruktiven Beiträgen über Dippel 6 5 die Traditionslinie, die von dem R a dikalpietisten zur Aufklärung verläuft, nicht gänzlich negieren, gesteht diesem aber nur einen begrenzten Einfluss zu. 6 6 Umgekehrt postuliert er, dass Dippel durch frühaufklärerisches Denken geprägt wurde. 67 Damit wirft er eine Frage auf, die die Forschung bis heute nicht beantworten konnte und die fur die vorliegende Darstellung stets im Blickpunkt sein soll, inwiefern Dippel nicht nur ein Vorläufer der deutschen Aufklärung ist, sondern selbst von Vertretern der Frühaufklärung beeinflusst wurde. D e r grundlegenden Beurteilung des Pietismus als »rückwärtsgewandter Bewegung« hat die spätere Forschung widersprochen. Anfang des 20. Jahrhunderts legten Carl Mirbt und Horst Stephan jeweils geradezu einen Gegenentwurf zu Ritsehl vor, indem sie den Pietismus als Fortschrittsbewegung charakterisierten, 68 eine Sichtweise, die seither zu einem Paradigmenwechsel in der Pietismusforschung führte und die sich auch an Johann Konrad Dippel verifizieren lässt. Seither ist deutlich geworden, dass der klassische Pietismus nicht eng und starr war, sondern weltofFen und dass er der Zukunft und dem Fortschritt äußerst positiv gegenüberstand. 69 Auch wenn sich Ritschis insgesamt negative Bewertung des Pietismus als einer im Grunde unprotestantischen Bewegung in der Forschung nicht durchsetzen konnte, 7 0 stellt er mit einigen Beobachtungen der Dippelforschung neue Anfragen. So sieht er erstmals Parallelen zwischen Schwenck-
64 65
Geschichte des Pietismus, Bde. 1 - 3 , Bonn 1 8 8 0 - 1 8 8 6 . Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, Bonn 1882,
3 7 9 - 3 8 2 , u n d G e s c h i c h t e des P i e t i s m u s , B d . 2 / 1 , 3 2 2 - 3 3 8 . Z u R i t s e h l v g l . S C H M I D T , E p o -
chen der Pietismusforschung, 40—45. 6 6 Geschichte des Pietismus, Bd. 2 / 1 , 336 f. Interessant ist die Aussage, nach der Spener zur sich später »ausgeprägten verständigen Aufklärung ... ein viel directeres Verhältniß als Dippel« gehabt habe (a.a.O., 337). 6 7 Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, 379 f. Vgl. dazu EMANUEL HIRSCH, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 2, 286. 68
M I R B T , A r t . » P i e t i s m u s « , R E 3 , B d . 1 5 , 7 7 4 - 8 1 5 ; STEPHAN, D e r P i e t i s m u s als T r ä g e r d e s
Fortschritts in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung. Vgl. zu beiden SCHMIDT, Epochen der Pietismusforschung, 48—50. 6 9 Als Beispiele für diese neue Sichtweise des Pietismus, der sich sehr deutlich auch Emanuel Hirsch aber auch Martin Schmidt anschlossen (siehe zu beiden unten S. 28f.), seien die Beiträge genannt, die in dem Sammelband »Pietismus und moderne Welt« 1974 von KURT ALAND herausgegeben wurden. Diesem Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten und seither vielfach vertieften Verständnisses des Pietismus als Fortschrittsbewegung trägt auch der Titel des Jahrbuches der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Rechnung: »Pietismus und Neuzeit«. 7 0 LEHMANN, Der Pietismus im Alten Reich, 60f. 68.
26
felds u n d Dippels Rechtfertigungslehre u n d stellt damit eine geistesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen beiden her, die in der vorliegenden Arbeit verifiziert werden kann. Außerdem weist Ritsehl als erster auf die B e d e u t u n g der Schrift Christenstatt auff Erden fur Dippels radikalpietistisches D e n k e n hin u n d ist darüber hinaus mit Klose der einzige in der bisherigen Forschung, der Dippel in den Z u s a m m e n h a n g mit d e m Hermetismus stellt. 71 Einen wichtigen Forschungsbeitrag hat Wilhelm Diehl 1908 geleistet. 72 O h n e den Anspruch zu erheben, eine neue Biographie der ersten Lebenshälfte Dippels zu bieten, wirft er mit seiner Veröffentlichung Licht auf manch dunkle Stelle der bisherigen Forschung. So wendet er sich als erster der Erforschung der Vorfahren zu. Außerdem fuhrt er den Nachweis, dass Dippel nicht bereits 1689, sondern erst 1691 mit d e m Studium in Gießen begann, u n d dass die bisherigen Darstellungen der Studienzeit meist nicht korrekt waren. U n d schließlich bringt er etliche Informationen aus d e m Staatsarchiv in Darmstadt u n d d e m Universitätsarchiv in Gießen, die von der Forschung bisher nicht berücksichtigt wurden u n d die Dippels Gießener Zeit teilweise in einem neuen Licht erscheinen lassen. Eine hervorragende Ergänzung dazu bildet die regionalgeschichtliche Untersuchung über die Gießener Hochschule von Walther Köhler aus dem Jahre 1907. 7 3 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden mehrere Einzeldarstellungen veröffentlicht, von denen stellvertretend hier die Arbeiten von Pfarrer Nase 7 4 , Erich Seeberg 75 , Hilding Pleijel 76 u n d Heinz R e n k e witz 7 7 genannt werden sollen. Nase legt das Gewicht seiner Darstellung auf Dippels alchemistische Studien u n d auf dessen Zeit in Berleburg. Seeberg untersucht in seiner Monographie über Gottfried Arnold auch dessen Beziehung zu Dippel u n d geht dabei davon aus, dass dieser durch Arnold b e kehrt u n d in seinen radikalen theologischen Anschauungen maßgeblich geprägt wurde. Wegweisend auch für eine Darstellung der Genese der Theologie Dippels bleibt, dass Seeberg die B e d e u t u n g des mystischen Spiritualismus für die Entstehung des Pietismus nachwies. Pleijel behandelt von Dippels Biographie nur dessen Aufenthalt in Schweden u n d weist auf dessen Bedeutung für den schwedischen Pietismus hin, durch den sich die-
71
Geschichte des Pietismus, Bd. 2/1, 324. 336. Neue Beiträge zur Geschichte Johann Konrad Dippels in der theologischen Periode seines Lebens, in: BHKG, Erg. Bd. 3 (1908), 135-184. 73 Die Anfänge des Pietismus in Gießen 1689 bis 1695, Gießen 1907. Vgl. SCHMIDT, Epochen der Pietismusforschung, 51 f. 74 Ein Goldmacher im Wittgensteiner Land, in: MVGVW 2 (1914/1915), 19-24. 44-48. 75 Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit (1923), Darmstadt 1964 (ND), 551-566. Vgl. SCHMIDT, Epochen der Pietismusforschung, 55f. 76 Der schwedische Pietismus in seinen Beziehungen zu Deutschland, Lund 1934, 170—199. 77 Hochmann von Hochenau (1670—1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus (1935), Witten 1969 (AGP 5). Vgl. SCHMIDT, Epochen der Pietismusforschung, 56. 72
27
ser einerseits in eine kirchliche, andererseits in eine separatistische B e w e gung spaltete. U n d R e n k e w i t z weist im Zusammenhang mit Hochmanns Endzeiterwartung auf Dippel hin, der eine ähnliche Haltung an den Tag legte. D i e äußerst gehaltvolle Dissertation ergänzt Seebergs Hinweis auf den mystischen Spiritualismus, indem es durch umfangreiche Q u e l l e n studien profiliert Einblick in die verschiedenen Zentren dieser R i c h t u n g gewährt.
5.
Die neueste
Forschung
Aus der Fülle an Beiträgen der neuesten Zeit, die im Zusammenhang steht mit dem Aufschwung, den die Pietismusforschung seit der Mitte des 2 0 . Jahrhunderts nahm, 7 8 ist die Darstellung von Emanuel Hirsch hervorzuheben. 7 9 Innerhalb seiner Schilderung der neuzeitlichen T h e o l o g i e g e schichte von der zweiten Hälfte des 17. bis ins 19. Jahrhundert setzt dieser sich liebevoll und einfühlsam mit Dippel auseinander und zeichnet ein Bild von dessen System, das der ganzen Bandbreite weitgehend gerecht wird und übersetzt dabei Dippels Lehre in eine m o d e r n e Sprache. Hirschs fiinfbändiges Werk enthält eine der wenigen Gesamtüberblicke des Pietismus und setzt sich zudem theologisch mit diesem auseinander. Für die vorliegende Arbeit ist nicht allein das Kapitel über Dippel von Interesse, sondern auch die bereits in der Einleitung erwähnte Verhältnisbestimmung zwischen kirchlichem und radikalen Pietismus. Letzteren, und mit i h m auch Dippel, sieht er in erster Linie durch J a k o b B ö h m e geprägt und bezeichnet als den wichtigsten Unterschied zur spenerschen Position die Preisgabe der reformatorischen Rechtfertigungslehre zugunsten der Wiedergeburt. O b der Unterschied zwischen den beiden Flügeln des Pietismus darin besteht, dass der kirchliche die Rechtfertigung und der separatistische die W i e d e r geburt betont habe, lässt sich anhand der T h e o l o g i e Dippels hinterfragen, deren Z e n t r u m die effektive Rechtfertigung bildet. Inwieweit Hirsch auch hinsichtlich der Bedeutung B ö h m e s widersprochen werden muss, wird eine genaue Untersuchung der Entwicklung der dippelschen Lehre zeigen müssen. Ahnlich wie Hirsch und etwa um die gleiche Zeit versucht Martin Schmidt in verschiedenen Veröffentlichungen den Pietismus theologisch zu interpretieren und untersucht ihn zugleich nach seinen Traditionslinien. 8 0 Dippel widmete er zwei kurze Lexikonartikel, an denen sein Verständnis
78
MARTIN GRESCHAT, Z u r neueren Pietismusforschung. Ein Literaturbericht, 2 2 0 .
79
Geschichte
der neuern
evangelischen T h e o l o g i e , B d .
277—298. Vgl. SCHMIDT, E p o c h e n der Pietismusforschung,
2
(1951),
Gütersloh
2
1960,
59—62
8 0 Siehe die oben S. 13, A n m . 8 aufgeführten Titel. Vgl. auch SCHMIDT, E p o c h e n der P i e tismusforschung, 62—65.
28
des Pietismus deutlich wird, dass nämlich dieser entscheidende Impulse durch den mystischen Spiritualismus erhielt. D e m kirchlichen Flügel gelang es, diesen zu domestizieren und dadurch zu transformieren, während die Radikalen wie Dippel und Arnold ihn lediglich übernahmen. Dippel wird als Schüler des Letzteren charakterisiert und die Wiedergeburt, die für Schmidt den SchlüsselbegrifFdes gesamten Pietismus bildet, zum Zentrum seiner Theologie erhoben. An diesem Punkt hat sich Schmidt allerdings getäuscht, doch wirft er mit dem Hinweis auf die Traditionslinie vom mystischen Spiritualismus zum radikalen Pietismus nach Seeberg erneut eine gewichtige Frage auf, die in der Darstellung des jungen Dippels genau geprüft werden muss. In mehreren Beiträgen hat sich Walter Rustmeier mit Dippel beschäftigt, angefangen in seiner 1954 vorgelegten Dissertation über die Einflüsse des deutschen Pietismus auf die schwedische Kirche und Theologie, wobei er Dippel eine Schlüsselrolle zugesteht. 81 In den Jahren 1956 bis 1959 erschienen mehrere Aufsätze Rustmeiers, 8 2 in denen er sich einzelnen bisher meist wenig berücksichtigten Punkten in Dippels Biographie widmet, die allerdings nur für dessen zweite Lebenshälfte von Bedeutung sind. 1958 arbeitet Hermann Bößenecker in seiner Arbeit über das Verhältnis zwischen Pietismus und Aufklärung die aufklärerischen Züge in Dippels Theologie heraus, 83 wobei er meist von Bender abhängig ist. Auch wenn er durchaus die Brüche zwischen beiden Bewegungen aufzeigt, muss er doch Dippel zu den Wegbereitern der deutschen Aufklärung zählen. In neuester Zeit fand Dippels N a m e Eingang in zwei theologiegeschichtliche Werke. Von 1970 stammt die Darstellung der dippelschen Christologie von U w e Gerber, 8 4 der allerdings nicht auf Dippels spezifische Dreiämterlehre eingeht, die den Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Christologie bildet. Ahnliches kann für Gunther Wenz gelten, der 1984 Dippel in seiner Geschichte der Versöhnungslehre würdigt. 8 5 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Dippel auch von der englischsprachigen Forschung entdeckt. 1955 widmete Chauncey David Ensign in seiner Dissertation über den radikalen Pietismus, den er wie Hirsch auf B ö h m e zurück führt, Dippel ein recht umfangreiches Kapitel, 8 6 ohne über den bisherigen Forschungsstand hinausweisen zu können. InteNachwirkungen des deutschen Pietismus in Schweden, Diss, theol. Kiel 1954, 176-228. Johann Conrad Dippel in Schleswig-Holstein I-IV, in: S V S H K G . Β 14 (1956), 3 6 - 5 0 ; 15 (1957), 9 1 - 1 1 6 ; 16 (1958), 147-169; 17 (1959/1960), 6 9 - 7 6 . 8 3 Pietismus und Aufklärung, Diss. phil. Würzburg 1958, 1 0 7 - 1 1 4 . 8 4 Christologische Entwürfe. Ein Arbeitsbuch, B d . 1 : Von der R e f o r m a t i o n bis zur Dialektischen Theologie, Zürich 1970, 8 6 - 9 1 . 8 5 Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1, München 1984, 1 5 8 - 1 6 9 . 8 6 Radical German Pietism (c. 1675-c. 1760), Diss. phil. Boston 1955, 149-167. Vgl. dazu SCHNEIDER, Der radikale Pietismus in der neueren Forschung, 32f. 81
82
29
ressant ist die recht breit dargestellte Beziehung Dippels zur Aufklärung, womit Ensign fast zur gleichen Zeit wie Bößenecker die Frage nach der Wirkungsgeschichte des radikalen Pietisten anschneidet. Auch in der ersten englischsprachigen Gesamtdarstellung des Pietismus, die der amerikanische Kirchenhistoriker F. Ernest Stoeffler vorlegte, 87 wird Dippel erwähnt. Wie bei Ensign lieg die Stärke der beiden Bände Stoefflers allerdings nicht in der eigenständigen Bearbeitung der Quellen, sondern in der Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und deren übersichtlicher Präsentation. Stoeffler stellt den Pietismus als eine räumlich und zeitlich weitgespannte Bewegung dar 88 und lässt ihn bereits im Puritanismus beginnen. Die Gemeinsamkeit der verschiedensten Richtungen sieht er in der Bedeutung der subjektiven Erfahrung, dem Vollkommenheitsstreben, dem Biblizismus und der Kritik an der traditionellen Kirchlichkeit. Allerdings sind Stoefflers Ausführungen mit ihrem weiten Verständnis von Pietismus wenig geeignet, Klarheit in die Forschung zu bringen, sondern machen lediglich deutlich, wie umstritten die genaue Bestimmung dieser protestantischen Reformbewegung ist. Sie stellen eher den Sinn von Epochenbegriffen überhaupt in Frage, wenn sie nicht nur die Grenzen zu den nordwesteuropäischen Vorläuferbewegungen, sondern auch die zwischen Orthodoxie und Pietismus verschwimmen lassen. Dass Stoeffler beispielsweise Spener weitgehend der als reformwillig dargestellten lutherischen Orthodoxie zuordnet und kaum das Neue wahrnimmt, das dieser initiierte, will nicht überzeugen 89 und lässt sich in der vorliegenden Arbeit auch nicht verifizieren, wenn man Speners direkten und indirekten Einfluss auf Dippel berücksichtigt, den eine Analyse von dessen theologischer Entwicklung ans Licht bringt. Denn Speners Vermittlung war es zu verdanken, dass an die Gießener Universität pietistisch gesonnene Professoren berufen wurden. Später sollte er mit seinen Schriften Dippels Hinwendung zum Pietismus maßgeblich mitbestimmen.
87 The Rise of Evangelical Pietism, Leiden 1965, und German Pietism during the Eighteenth Century, Leiden 1973. Vgl. J O H A N N E S W A L L M A N N , Die Anfänge des Pietismus, 19, und S C H M I D T , Epochen der Pietismusforschung, 65f. 88 1972 hat J O H A N N E S W A L L M A N N am Rande eines Forschungsberichtes die Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Pietismus vorgeschlagen (Reformation, O r thodoxie, Pietismus, 200) und einige Jahre später diesen Ansatz ausfuhrlich dargestellt (Die Anfänge des Pietismus). Wallmanns R e d e vom engen und weiten Pietismus hat sich allerdings in der Forschung nur zum Teil durchsetzen können. 89 Diesem Ansatz hat 1970 J O H A N N E S W A L L M A N N in der ersten Auflage seiner Schrift »Spener und die Anfänge des Pietismus« überzeugend widersprochen, indem er zwar die Bedeutung der Straßburger Orthodoxie für Speners theologische Entwicklung herausarbeitete, doch diesen mit der Forderung nach Collegia pietatis und der Eschatologie in zwei entscheidenden Punkten über diese hinaus gehen ließ. Noch dazu konnte Wallmann nachweisen, dass Spener hierbei jeweils durch Gedankengut des Separatisten Jean de Labadie geprägt wurde.
30
Die einzige monographische Darstellung, die sich in neuester Zeit mit Dippel beschäftigt, ist die Dissertation von Karl-Ludwig Voss, 90 der Dippels Theologie »zwischen Pietismus und Aufklärung« stellt. In der ersten Hälfte der Arbeit widmet sich der Autor, der bisher unbenutztes Archivmaterial sowie die Beiträge von Diehl u n d Rustmeier heranziehen will, 91 der Biographie, während er im zweiten Teil die Anthropologie des radikalen Pietisten darstellt u n d als Anhang eine Bibliographie der Dippelschriften bietet. Seinem Anspruch, die Biographie auf ein neues Niveau zu heben, wird Voss allerdings kaum gerecht, da neue Archivmaterialien nicht geboten u n d die Ergebnisse von Diehl u n d Rustmeier kaum berücksichtigt werden. 9 2 Bemerkenswert und die bisherige Forschung überbietend sind die Beurteilungen, dass Dippel sich schon während der Straßburger Studienzeit von der O r t h o d o x i e innerlich distanziert habe u n d deshalb nicht einfach zu ein e m Schüler Gottfried Arnolds erklärt werden dürfe. 9 3 Die Darstellung der Anthropologie Dippels, der Voss noch dessen Ekklesiologie zur Seite stellt, leidet darunter, dass sie nicht in den Z u s a m m e n h a n g mit d e m Z e n t r u m von dessen Theologie gestellt wurde, der Neufassung der Dreiämterlehre Christi u n d der Betonung der effektiven Rechtfertigung. Dadurch wird nicht klar, dass die Anthropologie erst aus der Christologie u n d vor allem der Rechtfertigungslehre hervorgeht. Von den knappen Beiträgen über Dippel aus der neuesten Zeit ist diejenige von Hans Schneider 9 4 hervorzuheben, der über den bisherigen Forschungsstand hinaus Impulse für die Dippelforschung bietet. Dieser macht auf Dippels chiliastischen H o r i z o n t u n d auf dessen Vorstellung aufmerksam, dass das Tausendjährige R e i c h im Jahre 1700 anbrechen werde u n d weist zugleich auf die B e d e u t u n g der Schrift Christenstatt auff Erden hin. 9 5 Damit gibt er der Dippelforschung einen wichtigen Anstoß, denn durch die Naherwartung verschiedener Radikalpietisten lässt sich deren Verhalten teilweise erklären. U n d so muss in der folgenden Darstellung untersucht werden, ob sich Dippels Theologie aufgrund der Ü b e r n a h m e eschatologischer Vorstellungen separatistischer Kreise radikalisiert hat. In Bezug auf
90
Christianus D e m o c r i t u s . Das Menschenbild bei J o h a n n C o n r a d Dippel. Ein Beispiel christlicher Anthropologie zwischen Pietismus u n d Aufklärung, Leiden 1970. Vgl. auch V o s s ' Beitrag in: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7, hg. v. MARTIN GRESCHAT, 2 7 7 - 2 8 5 . 91 V o s s , Christianus D e m o c r i t u s , 2. 92 Vgl. dazu SCHNEIDER, D e r radikale Pietismus in der n e u e r e n Forschung, 35. 93 V o s s , Christianus D e m o c r i t u s , 12f. 16. 25. 94 D e r radikale Pietismus im 17. J a h r h u n d e r t , in: Geschichte des Pietismus. Bd. 1, hg. v. MARTIN BRECHT, G ö t t i n g e n 1993, 3 9 1 - 4 3 7 ; hier: 406. 4 1 6 - 4 1 9 , u n d D e r radikale Pietismus im
18. J a h r h u n d e r t ,
G e s c h i c h t e d e s P i e t i s m u s . B d . 2 , h g . v. M A R T I N B R E C H T u n d
KLAUS
DEPPERMANN, G ö t t i n g e n 1995, 1 0 7 - 1 9 7 ; hier: 1 5 2 - 1 5 6 . 95 Bereits RENKEWITZ hat Dippels Christenstatt auff Erden gewürdigt u n d am R a n d e seiner Arbeit ü b e r H o c h m a n n von H o c h e n a u zur H o f f n u n g auf das anbrechende Tausendjährige R e i c h in B e z i e h u n g gesetzt ( H o c h m a n n von H o c h e n a u , 4 4 - 4 6 ) .
31
Dippels Studienzeit ist hervorzuheben, dass Schneider dessen Hinwendung zum Pietismus schon vor der Begegnung mit Arnold beginnen lässt. Uberblickt man die dargestellten Forschungsbeiträge zu Dippel, so fällt das Alter der grundlegenden Arbeiten ins Auge, die bis auf eine Ausnahme nicht aus der neuesten Epoche stammen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmeten sich die Darstellungen meist nur noch einem kleinen Gebiet, einer speziellen Frage oder es handelte sich um Artikel oder Abschnitte in einer Uberblicksdarstellung. Lediglich in einer einzigen M o n o graphie beschäftigte sich der Autor ausschließlich mit Dippels Leben und Lehre, ohne jedoch völlig zu überzeugen. Es scheint sich also zu lohnen, den Faden erneut aufzunehmen und weiterzuspinnen, der die bisherige Dippelforschung durchzieht. Dabei muss versucht werden, die offen gebliebenen Fragen zu beantworten und zugleich die neue Literatur der allgemeinen Pietismusforschung aufzunehmen. In Bezug auf Dippels theologische Entwicklung, der sich die vorliegende Arbeit widmet, bleibt neben der Erhellung der jeweiligen historischen Kontexte die Frage nach den Quellen seiner radikalpietistischen Theologie brennend. Wurde er vorwiegend von Gottfried Arnold geprägt oder lassen sich auch noch andere Einflüsse auf sein Denken vielleicht schon während der Schul- und Studienzeit nachweisen? Möglicherweise kann anhand der Person Dippels eine neue Erkenntnis über die Zusammenhänge zwischen kirchlichem und radikalem Pietismus gewonnen werden und lässt sich an ihrer theologischen Entwicklung eine der unterschiedlichen Thesen nach der Traditionslinie des Pietismus (sein Verhältnis zur Reformation, zum Täufertum, zum mystischen Spiritualismus oder auch zur Aufklärung) erhärten.
32
Kapitel 2: Kindheit und Jugend Dippels
Vorfahren
»Von Vaters sowohl, als der Mutter Seiten, bin ich aus einem Geschlecht gebohren, welches schon seit der Reformation im priesterlichen Orden unverruckt einander gefolget«, so berichtet Dippel über seine Vorfahren.1 Er stammte also aus einer alten Pfarrerfamilie, deren Linie bis in die R e formationszeit zurück ging. Der älteste zu ermittelnde Vorfahre Johann Konrad Dippels ist sein Ururgroßvater Johannes Dippelius, der um das Jahr 1533 geboren wurde und in Marburg und Wittenberg studierte.2 Zunächst versah er im oberhessischen Allendorf a. d. Lumda (1565—1578), später in Kirchhain bei Marburg (1578-1606) eine Pfarrstelle.3 Als Pfarrer von Kirchhain nahm er am Conventus Mapurgenses, der hessischen Generalsynode teil, 4 wo er als überzeugter Lutheraner auftrat.5 Dass Johannes Dippelius nicht nur in Worten, sondern auch in Taten zu seiner Uberzeugung stand, bewies er, als Landgraf Moritz von Kassel 1605 seine Verbesserungspunkte auch im Marburger Land durchzusetzen suchte, mit denen dieser in dem lutherischen Oberhessen einen gemäßigten Calvinismus einfuhren wollte: 6 Er zog mit seinem Sohn Kaspar »aus dem Kirchhainer Pfarrdienst hinaus ins Elend, um >den reinen Glauben< nicht verleugnen zu müssen. Die beweglichen Bittschriften, die beide an Landgraf Ludwig V. in der Absicht auf Anstellung im Darmstädtischen schrieben, zeigen, daß
1
Abfertigung
2
Vgl. OSKAR HÜTTEROTH, D i e althessischen Pfarrer, 5 9 , u n d HEINRICH HEPPE,
der absurden Prahlerey, III, 5 5 0 ; vgl. auch I, 158. General-
synoden, B d . 2, 2 9 . 3 HÜTTEROTH, D i e althessischen Pfarrer, 59. 4 HEPPE, Generalsynoden, Bd. 2, 13. N a c h HÜTTEROTH (Die althessischen Pfarrer, 5 9 f . 4 4 0 ) ist WILHELM DIEHL ZU korrigieren, insofern es sich bei Johannes Dippel, J o h a n n K o n rads Ururgroßvater, und J o h a n n Dippel, dem »älteste[n] theologische[n] Vorfahr[en]« (Neue Beiträge, 139), um ein und dieselbe Person handelt. 5
HEPPE, Generalsynoden, B d . 2, 2 9 .
6
Vgl. HEINRICH
HEPPE, D i e E i n f u h r u n g der Verbesserungspunkte,
u n d KARL
Art. »Hessen«, in: T R E , B d . 15, 2 6 9 f . ERNST LUDWIG WILHELM N E B E L , K u r z e
DIENST,
Uebersicht
einer Geschichte der Universität Glessen, 1 2 6 f . : »Jedem Geistlichen in der Provinz [Marburg] wurde aufgegeben, die vier Verbesserungspunkte entweder anzunehmen und zu unterschreiben, oder seine Entlassung zu nehmen. Das Ergebniß war, daß fünf und fünfzig, mit Einschluß der Marburgischen T h e o l o g e n , die Unterschrift verweigerten, und sich plötzlich mit ihren Familien brotlos sahen, sechs und dreißig dagegen unterzeichneten und in ihrem A m t e blieben«.
33
sie beide höchst charaktervolle und überzeugungstreue Persönlichkeiten waren«. 7 D e r Sohn von Johannes Dippelius war der eben schon erwähnte Kaspar, der ebenfalls im kirchlichen Dienst tätig war und in Kirchhain die Stelle des Diakons und im benachbarten Langenstein die des Pfarrers inne hatte. W i e Dippels Ururgroßvater war auch er ein rechtgläubiger Repräsentant des Luthertums, der für seine Uberzeugung einzustehen bereit war. So verlor er Ostern 1606 sein Amt »wegen Nichtannahme der Verbesserungspunkte«. 8 Einige Jahre lebte er daraufhin arbeitslos in Kirchhain; alle Versuche, anderswo in den Pfarrdienst aufgenommen zu werden, scheiterten. 9 Johann Konrad Dippels Großvater hieß Johann Philipp und war wie seine Vorfahren Pfarrer. In M e n o Hannekens Sammlung der unter seinem Vorsitz verteidigten Disputationsthesen finden sich auch solche Dejustificatione hominis peccatoris coram Deo, die Dippels Großvater unter dem Vorsitz des Marburger Theologen verteidigte. 10 Von 1634 bis 1641 hatte er die Pfarrstelle in Kirchvers südwestlich von Marburg inne und soll früh gestorben sein. 11 Dippels Vater hieß wie der Großvater Johann Philipp und lebte zwischen 1636 und 1704. Er wuchs in R o d h e i m bei Gießen auf, war nach dem Theologiestudium 1 2 zunächst Lehrer in Zwingenberg an der Bergstraße, wo er am 22. August 1660 Anna Eleonora Mönchmeyer heiratete. 13 Ab dem 27. Mai 1672, also kurz vor der Geburt seines Sohnes Johann Konrad, war er Pfarrer in Nieder-Beerbach, später Pfarrer in Nieder-Ramstadt, 1 4 zwei Ortschaften in der Umgebung von Darmstadt. Neben der Familie des Vaters muss es nach Dippels eigener Aussage auch in der Familie der Mutter zahlreiche Pfarrer gegeben haben. 15 Dieser Linie fühlte er sich verpflichtet und sie erfüllte ihn mit einer Art Standesbewusst7 DIEHL, N e u e Beiträge, 139; vgl. auch DERS., Hassia sacra, Bd. 4, 3 5 1 ; Auszüge aus den beiden Briefen an Landgraf Ludwig V. finden sich in: DERS., Z u r Geschichte der von Landgraf Moritz removierten Pfarrer, 551—553. 8 HÜTTEROTH, Die althessischen Pfarrer, 6 0 . 9 DIEHL, Hassia sacra, Bd. 7, 3 4 0 ; DERS., Z u r Geschichte der von Landgraf Moritz r e m o vierten Pfarrer, 5 5 2 f. 10 SCHNEIDER, D e r radikale Pietismus in der neueren Forschung, 3 7 , Anm. 1 1 8 . 11 DIEHL, N e u e Beiträge, 139; vgl. auch HÜTTEROTH, Die althessischen Pfarrer, 6 0 . 12 Im Frühjahr 1 6 5 5 hielt Johann Philipp Dippel als Theologiestudent in Gießen eine Leichenpredigt aufJohann Gottfried von Linsingen (RUDOLF LENZ, Katalog der Leichenpredigten in der U B Gießen, 2 0 2 ) . 13 Vgl. BENDER, Johann Konrad Dippel, 36. Die Kirchenbücher aus Zwingenberg, NiederBeerbach und Nieder-Ramstadt verraten nichts über die Mutter Johann Konrad Dippels, außer dass Johann Philipp Dippel am 2 2 . August 1 6 6 0 in Zwingenberg »mit seiner Liebsten eingesegnet worden« ist (Kirchenbuch Zwingenberg). 14 Kirchenbuch von Nieder-Beerbach, fol. 4; DIEHL, Hassia sacra, Bd. 4, 4 7 ; vgl. auch DERS., Neue Beiträge, 138. , 5 Leider kann in den Gebieten von Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt kein Pfarrer mit dem N a m e n M ö n c h m e y e r oder Münchmeyer nachgewiesen werden.
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sein. Dies zeigt ein Abschnitt aus seiner Schrift Abfertigung der absurden Prahlerey, in dem Dippel seinen H o c h m u t schildert, den er wegen seiner A b stammung besessen habe. 1 6 Voll Stolz war der j u n g e Schüler und Student also darauf, aus einer Pfarrerdynastie zu stammen u n d selbst dazu ausgewählt worden zu sein, diese Tradition fortzusetzen.
Kindheit und Jugend Johann Konrad Dippel wurde während der Zeit, in der sein Vater die Pfarrstelle in Nieder-Beerbach versah, am 10. August 1673 geboren. 1 7 N i e d e r Beerbach wurde wohl bereits in karolingischer Zeit gegründet u n d liegt unterhalb der Burg Frankenstein, zu dessen Herrschaftsgebiet es auch gehörte. 1 8 Mit dieser Burg war es 1662 an Hessen-Darmstadt verkauft w o r den. 1 9 D e r O r t bildete mit den beiden Filialorten Ober-Beerbach u n d Malchen ein eigenes Kirchspiel u n d besaß neben der Kirche bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine Schule, die zunächst in einem Privathaus untergebracht war. 20 Wegen der damals häufig v o r k o m m e n d e n kriegerischen Ubergriffe der französischen Truppen auf deutsche Gebiete jenseits des R h e i n s waren J o h a n n Philipp u n d Anna Eleonora Dippel kurz vor der Geburt J o h a n n Konrads auf das Schloss Frankenstein geflohen. Im französischen Krieg (1672—1677) mussten die an der Bergstraße und im Odenwald gelegenen O r t e brandenburgischen Truppen Quartier gewähren, blieben dadurch aber nicht vor den feindlichen Franzosen geschützt. Oftmals wurde das Schloss Frankenstein eine Zufluchtsstätte für die O r t e der Umgebung, 2 1 sodass eine Geburt auf dem Schloss zur damaligen Zeit kein Einzelfall war. J o h a n n Konrad scheint nach der Geburt so krank gewesen zu sein, dass seine Eltern zunächst wohl mit seinem Tod rechneten und der Vater ihn unverzüglich taufte. Dieser notierte im Nieder-Beerbacher Kirchenbuch: »ein Stund nach d. geburt also bald getauftf,] weil er kranck war«. Als Taufpaten wurden der Pfarrer J o h a n n Henrich Vietor aus Nieder-Ramstadt u n d der Darmstädter Burgvogt Conrad Riedberger gewählt, deren Vornamen der neugeborene Sohn erhielt. Wegen der jäh v o r g e n o m m e n e n Taufe konnten beide nicht selbst anwesend sein und wurden vom N i e d e r 16
III, 550. Kirchenbuch von Nieder-Beerbach, fol. 6 Α. Das Datum versteht sich nach der alten Zeitrechnung des julianischen Kalenders. Nach dem heute üblichen Kalender war Dippels Geburtstag der 20. August. Im Folgenden wird auf den Gebrauch von unterschiedlichen Kalendern in den evangelischen und katholischen Territorien nicht gesondert eingegangen. IS O T T O H E I N R I C H S C H Ö N E R , Kurze Geschichte des Kirchspiels Nieder-Beerbach, 7f. 19 W O L F G A N G W E I S S G E R B E R , Die Herren von Frankenstein und ihre Frauen, 231. 20 S C H Ö N E R , Kurze Geschichte des Kirchspiels Nieder-Beerbach, 9 f. 1 5 ff. 21 S C H Ö N E R , Kurze Geschichte des Kirchspiels Nieder-Beerbach, 32. 17
35
Beerbacher Lehrer David Hermann vertreten. 22 Es ist anzunehmen, dass Dippels Vater bei dieser Nottaufe das übliche Taufformular verwandte, das die gesamthessische Kirchenordnung von 1574 vorsah. 23 Danach wird in der Tauffeier als erstes eine Erklärung des »Geheimnisses der Taufe« vorgelesen. Es folgte ein längeres Gebet, an das sich das Vaterunser anschloss. N u n wurde das Kinderevangelium verlesen (Mk 10, 13—16 par.), das mit der Formel »Dies gebe der Herr uns allen wohl zu fassen« beendet wurde. Es folgte der Wunsch: »Unser Herr Jesus Christus ... wolle nun mitten unter uns sein und alles ausrichten. Es ist seine Taufe, wir sind allein seine Diener und Werkzeuge, durch die er sein Geheimnis will ausspenden«. Direkt vor der eigentlichen Taufhandlung wurden die Paten, in diesem Fall deren Vertreter, gefragt, ob sie dem Teufel absagen wollen. Auf die Frage nach ihrem Glauben antworteten dieselben mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, woraufhin das Kind getauft werden konnte. Anschließend hielt der Pfarrer die Gemeinde und insbesondere die Paten dazu an, das Kind christlich zu erziehen und beendete die Tauffeier mit einer Danksagung. 2 4 Johann Konrad Dippel hatte elf Geschwister, vier Brüder und sieben Schwestern, 2 5 von denen allerdings drei vor seiner Geburt verstorben waren. Sein ältester Bruder war der bereits als Säugling gestorbene R u d o l p h Johann Ludovicus. Der älteste Bruder, der das Erwachsenenalter erreichte, war Heinrich Adam. Er wurde 1664, also bereits während der Lehrertätigkeit des Vaters in Zwingenberg, geboren und besuchte das Darmstädter Pädagog zwischen 1677 und 1683 2 6 und begann im Oktober 1683 in Gießen mit dem Grundstudium. 2 7 Welchen Beruf er später ausübte, ist nicht bekannt. Durch die Abwesenheit seines Namens in den hessen-darmstädtischen Schulmeister- und Pfarrerbüchern ist es aber unwahrscheinlich, dass er Pfarrer oder Lehrer wurde. Als folgende Geschwister wurden Johann Philipp und Anna Eleonora Dippel die zwei Mädchen Dorothea Magdalena und Anna Catharina geboren. 2 8 Es muss ein großer Schmerz für die Familie des Zwingenberger Lehrers gewesen sein, als beide Töchter 1670 innerhalb einer Woche starben. Etwa ein gutes Jahr nach Johann Konrad wurde Johann Heinrich geboren, von dem lediglich bekannt ist, dass er 1687 konfirmiert wurde. Am 5. Januar 1676 erblickte die nach der 1670 verstorbenen Schwester benannte Anna Catharina das Licht der Welt. Kirchenbuch von Nieder-Beerbach, fol. 6. Vgl. ALFRED NIEBERGALL, Zur Ordnung der Taufe in Hessen, 8 - 1 0 . 2 4 Niebergall, ebd. 2 5 Vgl. die Kirchenbücher von Zwingenberg, Nieder-Beerbach und Nieder-Ramstadt und auch DIEHL, N e u e Beiträge, 163, und DERS., Studien zur Gießener Matrikel, Teil 3, 356. 2 6 WILHELM DIEHL, Suchbuch für die Darmstädter Pädagogmatrikel, 176. 22
23
27
LUISE WALDHAUS u n d WILHELM DIEHL, S u c h b u c h für die Gießener
kel, 31. 2 8 Geburtsdaten sind im Kirchenbuch von Zwingenberg nicht erwähnt.
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Universitätsmatri-
Dippels jüngster Bruder, Johann Albert, wurde am 16. März 1678 in N i e der-Ramstadt geboren. 2 9 Er besuchte in den Jahren zwischen 1691 und 1698 das Darmstädter Pädagogium 3 0 und studierte anschließend in Gießen, 3 1 wo er sich nach dem Grundstudium zunächst der Theologie, später der Medizin zuwandte. U m 1710 soll er in Nieder-Ramstadt als Arzt tätig gewesen sein u n d hat den Dippelhof nördlich von Nieder-Ramstadt erbaut. J o h a n n Konrad Dippel hatte außerdem noch vier Schwestern, Juliane Lucia, Clara Anna Maria, Anna Magareta u n d Maria Katharina, von denen nur bei der ersten das Geburtsdatum (1681) bekannt ist. Eine von den f ü n f Schwestern, die das Erwachsenenalter erreichten, war mit d e m O b e r schultheißen Jakob Forst aus Katzenelnbogen verheiratet. 3 2 In Akten des Büdinger Archivs taucht im Zusammenhang eines kurzen Besuchs Dippels in Assenheim der Isenburg-Büdingische A m t m a n n König auf, der als D i p pels Schwager bezeichnet wird 3 3 und möglicherweise mit einer weiteren Schwester Dippels verheiratet war. U b e r J o h a n n Konrad Dippels Kindheit wissen wir leider fast gar nichts. Die ersten eineinhalb Jahre waren geprägt von den Auswirkungen des »französischen Krieges«. Die Einquartierung von brandenburgischen T r u p pen in Nieder-Beerbach muss für die Bevölkerung nicht leicht gewesen sein. Oftmals haben Soldaten eigenmächtig geplündert, Eigentum beschädigt u n d sogar einmal einen M a n n erschossen. N o c h schlimmer wurde es, w e n n ein französischer Streifzug bis in den O r t gelangte. 34 Dippel scheint von Kindheit an zu einer gewissen Frömmigkeit angehalten worden zu sein. 35 Die neben d e m Taufeintrag befindliche Randglosse im Nieder-Beerbacher Kirchenbuch, nach der Dippel schon früh durch Kritik an den Bekenntnisschriften aufgefallen sei, 36 ist nicht glaubhaft u n d widerspricht den autobiographischen Zeugnissen Dippels. Im Gegenteil muss Dippel als Kind ganz im R a h m e n der lutherischen O r t h o d o x i e gestanden haben, da bei seiner Erziehung u n d Entwicklung die Tatsache, dass er aus einer alten Pfarrerfamilie stammte, eine prominente Rolle spielte. Er wurde nicht nur schon früh z u m Pfarrer bestimmt, sondern hat sich ebenso früh mit d e m Beruf seines Vaters, Großvaters und weiterer Vorfahren identifiziert. 37
29 D a n a c h ist die in der Literatur b e g e g n e n d e Angabe zu korrigieren, wonach J o h a n n Albert bereits 1670 geboren sein soll. 30 DIEHL, Suchbuch für die Darmstädter Pädagogmatrikel, 176. 31 WALDHAUS/DIEHL, Suchbuch für die G i e ß e n e r Universitätsmatrikel, 31. 32 DIEHL, N e u e Beiträge, 163. 33 YBA, Kulturwesen, 2 2 / 1 7 8 d. 34 SCHÖNER, Kurze Geschichte des Kirchspiels N i e d e r - B e e r b a c h , 32f. 35 Vgl. die Abfertigung der absurden Prahlerey, III, 552. 36 Kirchenbuch N i e d e r - B e e r b a c h , fol. 6. 37 Vgl. die Abfertigung der absurden Prahlerey, III, 550.
37
Darüber hinaus war in der Regel für die gesamte Pfarrfamilie der Beruf des Vaters bestimmend. 38 Zu den ländlichen Pfarreien gehörte ein Pfarrgut, das meist die Pfarrersfrau bewirtschaftete, während der Mann sich seinem geistlichen Amt widmete. Die Pfarrfrau war die einzige Frau in der bäuerlichen Gesellschaft, die Tätigkeiten ausführen durfte, die sonst Privilegien des Mannes waren, nämlich Viehhandel und Aussaat.39 Wie ihre Eltern bildeten auch die Pfarrerskinder in ländlichen Gegenden einen gewissen Fremdkörper in der Gemeinde. Mitten im Dorf lebte die Pfarrersfamilie das Leben einer städtischen Kultur. 40 Auch wenn die Pfarrer sich gemeinhin beim Adel keines hohen Ansehens erfreuten, 41 besaßen sie doch ein recht ausgeprägtes Standesbewusstsein, das getragen war von der Uberzeugung einer göttlichen Stiftung des Predigtamtes. 42 Der evangelische Pfarrer gehörte zum Stand des aufstrebenden Bürgertums, 43 genaugenommen zum Bildungsbürgertum, da die Voraussetzung für den Pfarrerberuf ein Universitätsstudium bildete. Seit der Reformation gehörten die Theologen über weite Strecken zudem zu den modernsten Köpfen in der Gesellschaft, 44 wie eine interessante Erhebung zeigt, wonach bis zum Jahre 1900 von den etwa 1600 berühmten Persönlichkeiten, die in die Allgemeine deutsche Biographie aufgenommen wurden, mehr als die Hälfte aus dem evangelischen Pfarrhaus stammten. 45 Durch den Dreißigjährigen Krieg war es in Hessen-Darmstadt kaum zu einem sittlichen und geistigen Niedergang des Pfarrerstandes gekom38
39
Vgl. ANDREAS GESTRICH, E r z i e h u n g i m P f a r r h a u s , 6 3 .
GESTRICH, Erziehung im Pfarrhaus, 64. 66. Vgl. auch PAUL DREWS, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, 84. 40 WOLFGANG STECK, Im Glashaus: Die Pfarrfamilie als Sinnbild christlichen und bürgerlichen Lebens, 109 f. In die Außenseiterrolle wurden die Pfarrerskinder auch durch die hohe Erwartung gedrängt, die die Gesellschaft an die Kinder der Pfarrer hatte: Sie »müssen ... so sein, wie jeder Familienvater seine eigenen gerne hätte« (GESTRICH, Erziehung im Pfarrhaus, 63). Außerdem wird häufig die »Erfahrung, daß in dem Haus auf dem Berge [d.h. im Pfarrhaus] nichts im verborgenen geschieht,« die Bewohner belastet haben (STECK, Im Glashaus: Die Pfarrfamilie als Sinnbild christlichen und bürgerlichen Lebens, 110). 41 Vgl. DREWS, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, 92. 42 Vgl. HERMANN WERDERMANN, Der evangelische Pfarrer in Geschichte und Gegenwart, 30. 43 Innerhalb des Bürgertums besaßen die evangelischen Pfarrer und Theologen einen Spitzenrang (vgl. BERND MOELLER, Pfarrer als Bürger, 18). An den Universitäten bildete die theologische Fakultät die vornehmste. Entsprechend waren die Theologieprofessoren in Bezug auf ihren R a n g den übrigen Professoren des Lehrkörpers übergeordnet. Dippel schreibt selbst über das Standesbewusstsein der Pfarrer: »... ob es nun wohl scheinen solte, daß aus dieser Race [d.h. aus dem Pfarrerstand] ... der H o c h m u t h nicht so starck sich solte exaltieren ... als in dem Adel-Stand, so weiß ich doch aus der Erfahrung das Gegentheil ... « (III, 550). 44 MOELLER, Pfarrer als Bürger, 16-20. Vgl. auch DREWS, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, 7. 10, und STECK, Im Glashaus: Die Pfarrfamilie als Sinnbild christlichen und bürgerlich Lebens, 113. 45 WERDERMANN, Der evangelische Pfarrer in Geschichte und Gegenwart, 117f.
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men, 46 weshalb durchaus angenommen werden kann, dass auch in Dippels Familie ein Klima geistigen Interesses herrschte. In Pfarrhäusern wurden die Jungen in der Regel bereits ab dem dritten oder vierten Lebensjahr vom Vater selbst unterrichtet, der seiner Tätigkeit vorwiegend im eigenen Haus nachkam. 47 »In wenigen anderen Familien bekamen die kleinen Kinder zu allen Zeiten so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung gerade auch von den Vätern wie im Pfarrhaus«, 48 wodurch es zu der oft beobachteten Frühreife von Pfarrerskindern kam. 49 In die frühe Kindheit fällt der 1678 erfolgte Umzug der Familie aus dem beschaulichen Dorf Nieder-Beerbach im Odenwald in das etwas größere Nieder-Ramstadt, wo der Vater bis zu seinem Tode 1704 Pfarrer war. 50 Dippels Vater musste die Stelle mit dem bisherigen nieder-ramstädter Pfarrer Georg Heinrich May wegen dessen Streitsucht tauschen. 51 NiederRamstadt war vor »dem dreißigjährigen Krieg ein blühender aufstrebender Ort [gewesen], der mit einer Bewohnerzahl von etwa 180 erwachsenen Männern ... und rund 800 Seelen« größer war als die unmittelbaren Nachbarortschaften. Erst allmählich konnte sich Nieder-Ramstadt von den ungeheuren Bevölkerungsverlusten erholen, die es in diesem Krieg erlitten hatte. Zu Dippels Schulzeit besaß der Ort nur noch bis zu 70 Familien und etwa gut 300 Seelen. 52 Dass Dippel bereits in Nieder-Beerbach zur Schule ging, scheint unwahrscheinlich zu sein; er war dafür wohl noch zu jung.
Die
Grundschulzeit
Die Grundlagen für den späteren Besuch des Gymnasiums sind Dippel wohl nicht nur durch seinen Vater vermittelt worden, wie Diehl annahm, auch wenn Johann Philipp Dippel nach seinem Theologiestudium zunächst Lehrer in Zwingenberg gewesen war. 53 Wahrscheinlich ist Dippel in
46
DREWS, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, 89f. Vgl. W E R D E R M A N N , Der evangelische Pfarrer in Geschichte und Gegenwart, 37f. 48 G E S T R I C H , Erziehung im Pfarrhaus, 66f. Zitat: a.a.O., 67. 49 G E S T R I C H , Erziehung im Pfarrhaus, 78f. Vgl. auch W E R D E R M A N N , Der evangelische Pfarrer in Geschichte und Gegenwart, 118. 50 Vgl. DIEHL, Hassia sacra, Bd. 4, 47. 51 S C H Ö N E R , Kurze Geschichte des Kirchspiels Nieder-Beerbach, 33. 52 W I L H E L M L U D W I G F R I E D R I C H , Geschichte von Nieder-Ramstadt, 3 9 . Vgl. auch O T T O S C H Ä F E R , Nieder-Ramstadt, 1 6 : U m 1 7 0 0 soll es in Nieder-Ramstadt 9 2 Wohnhäuser gegeben haben. 53 Vgl. DIEHL, Neue Beiträge, 140. Dass Dippels Vater nach dem Studium zunächst Schulmeister und erst später Pfarrer gewesen ist (DIEHL, Hassia sacra, Bd. 4, 47), war in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich. Eine solche berufliche Laufbahn bildete damals im Gegenteil die Normalität; vgl. F R I E D R I C H P A U L S E N , Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1 , 335. 47
39
die 1575 gegründete Schule von Nieder-Ramstadt gegangen, 54 die dem Typ »kleine Lateinschule« entsprach. 55 Hier wurden die sechs- bis zwölfjährigen Kinder von einem einzigen Lehrer unterrichtet. Der Schulbetrieb war dem Rhythmus der Landwirtschaft angepasst und im Sommer wurden anders als im Winter nur wenige Stunden pro Tag unterrichtet. Die U n terrichtsmethode bestand in erster Linie im Auswendiglernen. Wichtigstes Unterrichtsziel war die Erziehung zum rechten Glauben, wenn auch nach der Schulreform Landgraf Ludwigs VI. seit 1669 mit dem Rechnen ein Fach eingeführt worden war, das über dieses Ziel hinaus ging. Die kirchliche Orientierung des Unterrichts blieb aber weiterhin dominant, was zum einen darin zum Ausdruck kam, dass der Katechismus und das Neue Testament die wichtigsten Lehrbücher waren, zum anderen darin, dass kirchliche Beamte die Schulaufsicht versahen. Neben dem Superintendenten und dem Metropolitan, der einmal jährlich zu Schulvisitationen verpflichtet war, hatte der Ortspfarrer, in diesem Fall also Dippels Vater, die Aufsicht über die Schule. 56 Das Schulhaus in Nieder-Ramstadt stand mitten im Ort, in unmittelbarer Nähe des Rathauses. 57 Bei der zentralen Lage des Pfarrhauses in der Kesselgasse hatte Dippel keinen weiten Schulweg, wie etwa Schüler aus den zwei Orten Traisa und Waschenbach, die ebenfalls in die Nieder-Ramstädter Schule gingen. Die Schüler aus Nieder-Ramstadt und den beiden Nachbarorten wurden nur von einer einzigen Lehrkraft unterrichtet, die während Dippels Schulzeit meist nach kurzer Zeit in eine andere Stelle wechselte. Wenn man davon ausgeht, dass Dippel ab seinem sechsten Geburtstag in die Schule ging 58 und frühestens nach seiner Konfirmation zu Pfingsten 1685 das Pädagogium besuchte, so ist er in sechs Schuljahren von fünf verschiedenen Lehrern unterrichtet worden! 59 Seine Lehrer waren
54 In seinem Lebens-Lauff spricht Dippel über d e n Besuch von Trivialschulen (I, 380). D e r Plural lässt zunächst v e r m u t e n , dass er zumindest zwei niedere Schulen vor d e m Eintritt in das Pädagogium besucht habe. Dass d e m nicht so ist, zeigt sich daran, dass D i p p e l den B e g r i f f T r i vialschule d e m der H o h e n Schule (=Hochschule) entgegensetzt u n d somit das Darmstädter Pädagogium zu den Trivialschulen gezählt hat. Deshalb e r w ä h n t er seine Gymnasialzeit auch nicht n o c h einmal gesondert. D e r Begriff Tivialschule hat einen Bedeutungswandel erfahren, er w u r d e ursprünglich v o m Trivium abgeleitet, d . h . e i n e m Teil des Stoffes, der w ä h r e n d des Mittelalters im philosophischen G r u n d s t u d i u m u n d ab d e m E n d e des 16. Jahrhunderts bereits im G y m n a s i u m gelehrt w u r d e (PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1, 326. 328). Später b e k a m der Begriff dann die B e d e u t u n g von Elementarschule, wie ihn auch PAULSEN gebraucht (Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1, 330). 55 Vgl. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1, 3 2 6 f . 56 Vgl. hierzu DIEHL, D i e Schulordnungen, Bd. 3, 9 7 - 1 0 5 . 57 FRIEDRICH, Geschichte von N i e d e r - R a m s t a d t , 50. 58 N a c h d e m Extract der Instruction vor die Praeceptores und Schulmeistere in kleinen Stätten und Döiffern aus d e m Jahr 1669 bestand in Hessen-Darmstadt eine Schulpflicht »über d e m 5. u n d u n t e r d e m 12. Jahr« (WILHELM DIEHL, D i e Schulordnungen, Bd. 3, 101. 103). 59 Vgl. DIEHL, Hassia sacra, Bd. 9, 67.
40
Reinhard Ulrich, Johann Peter Wolf, J o h a n n Adam Beyer, Johann Jakob Bechtel und wahrscheinlich Karl O t t o Fuchs (Vulpius). 60 Es ist anzunehmen, dass Dippel auf der Lateinschule in N i e d e r - R a m s t a d t bis kurz nach seiner Konfirmation zu Pfingsten 1 6 8 5 blieb, da diese n o c h in N i e d e r Ramstadt stattfand, und in kleinen Lateinschulen die Schüler meist nur bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr unterrichtet wurden. Schon früh zeigte sich Dippels hohe Begabung, u m die er von seinen Mitschülern beneidet wurde, wie er später in seinem Lebens-Lauff schreibt. 61 In die Nieder-Ramstädter Schulzeit fallt ein Ereignis, von dem Dippel in einer seiner letzten Schriften, der Abfertigung der absurden Prahlerey, b e r i c h tet. Es handelt sich hierbei u m eine Kindheitsvision, die Dippel nach eigener Aussage als Sieben- oder Achtjähriger hatte. 6 2 Die Schilderung der Vision erscheint glaubwürdig, da Dippel sie als alter M a n n in ironischer Weise wiedergibt und sich dadurch von ihr distanziert und nicht hervortut. Außerdem scheint er auch zu anderen Zeiten Visionen gehabt zu haben. 6 3 Die Vision beginnt damit, dass der kleine Johann Konrad Dippel sich zunächst n o c h in seinem B e t t liegend und betend wahrnimmt. N u n erst beginnt der Aufstieg in den H i m m e l , 6 4 w o er dem himmlischen Christus begegnet. »Er sähe u m den Heyland viele Millionen Engel und Heiligen stehen, und wurde von einem Engel bis vor Christi T h r o n geführet«, w o er sich a u f die Knie warf. Christus aber legte die Hand auf seinen K o p f und sagte einige Worte, die Dippel zwar nicht verstand oder nicht in E r i n n e rung behielt, die aber zweifellos zusammen mit der Vision, an die er sich n o c h im Alter erinnerte, einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Die
6 0 U n t e r Dippels Lehrern in Nieder-Ramstadt, von denen keiner näher bekannt ist, scheint einzig der Pädagoge J o h a n n Jakob B e c h t e l sich als Lehrer berufen gefühlt zu haben. D e n anderen wird die Lehrerstelle nur als Sprungbrett für eine Karriere anderswo gedient haben. Für Bechtels pädagogisches Interesse spricht die Tatsache, dass er zuvor nicht nur zwischen 1657 und 1 6 6 4 Lehrer in Sprendlingen war, sondern dort fast zehn Jahre später nochmals zwischen 1 6 7 3 und 1 6 8 3 die Stelle des Pädagogen versah. W ä r e er nur eine der unglücklichen Lehrergestalten gewesen, die zu j e n e r Zeit aus mangelnder Begabung nicht in eine Pfarrstelle aufrücken konnten, hätte er wohl kaum ein zweites Mal die Anstellung in Sprendlingen b e k o m m e n . 61 Vgl. I, 3 8 0 . Hier fügt Dippel hinzu, dass sich diese Begabung gezeigt hätte »ehe ich noch 14. Jahr auf dem Hals hatte ...«. O b w o h l dies dafür zu sprechen scheint, dass er erst zu B e g i n n der Gymnasialzeit für hoch begabt angesehen wurde, ist es wahrscheinlich, dass Dippels B e gabung bereits früher zu Tage trat. D e n n nur so lässt sich erklären, dass er als Stipendiat das darmstädtische Pädagog besuchen konnte (s.u. S. 4 5 ) . 62 III, 5 5 2 f . ; vgl. ebd. zum Folgenden. D i e Vision ist auch bei KARL-LUDWIG VOSS (Christianus Democritus, 37) in den Grundzügen wiedergegeben. Allerdings erkennt Voss nicht ihre wirkliche Bedeutung als Berufungsvision. Zu der meist ungenauen Angabe seines Lebensalters vgl. u. die Quellenkritik im Anhang, S. 2 9 9 . Analog zu den Fällen, in denen Dippel davon ausgeht, j ü n g e r als in Wirklichkeit zu sein, muss eventuell davon ausgegangen werden, dass Dippel diese Vision als 9 - oder lOjähriger hatte. 6 3 Z . B . um die Jahreswende 1 6 9 6 / 1 6 9 7 (I, 3 9 2 ) . 6 4 Dieser Ablauf ist für viele Visionen typisch; vgl. ERNST BENZ, D i e Vision, 172.
41
Analyse der Vision lässt auch erahnen, warum sie für Dippel während seiner Schul- und sogar noch während der Studienzeit von so großer Bedeutung war. Sie lässt sich nämlich als Berufungsvision analog zu den alttestamentlichen Berufungsvisionen vor dem himmlischen Hofrat deuten. 65 Das Auftauchen von biblischen Bildern in einer Vision weist nicht auf eine direkte Abhängigkeit hin. Dies liegt vielmehr an einem tiefen inneren Z u sammenhang zwischen der Bibel und dem christlichen Denken. Gerade die biblische Bilderwelt kann sich tief in das Unterbewusstsein einprägen, aus dem heraus die Bilder bei der Vision aufsteigen. 66 Außerdem bildet die Schilderung von Visionen und Visionären im Alten und Neuen Testament »eine regelrechte Schule visionärer Erfahrung«. 67 Von daher ist es verständlich, dass sich Dippels Kindheitsvision an biblischen Vorbildern orientierte. Dem Charakter einer Berufungsvision entspricht auch, dass Dippel sich durch diese Vision auserkoren fühlte, Superintendent zu werden. 68 Die Szene, in der er vor dem himmlischen Christus kniet, erinnert zudem an eine Ordination. Und schließlich muss die Vision auch deshalb als Berufungsvision verstanden werden, weil sich Dippel vom Zeitpunkt dieser Vision an in besonderer Weise zu einem ethisch reinen Leben verpflichtet fühlte.
Die
Konfirmation
In die Zeit, in der Dippel wahrscheinlich noch auf die Lateinschule in Nieder-Ramstadt ging, fiel seine Konfirmation, die zu Pfingsten 1685 stattfand. Bereits in der Reformationszeit war durch Martin Bucers Vermittlung die Konfirmation in die hessischen Kirchenordnungen von 1538 und 1539 eingeführt worden. 69 Doch hatte sich der Brauch der Konfirmation zunächst nicht überall in Hessen halten können. Nach 1575 allerdings war er in Hessen-Darmstadt allgemein üblich, wie Wilhelm Diehl anhand seiner Untersuchung einzelner Ortschaften wahrscheinlich gemacht hat. 70 Wie die Konfirmanden auf die Konfirmation vorbereitet wurden, ist schwer zu sagen, doch steht zumindest fest, dass dies durch Katechismuspredigten am Sonntag
65
J e s 6 ; 1. K ö n 2 2 , 1 9 - 2 3 . V g l . J O H A N N E S W A L L M A N N , D e r P i e t i s m u s , 9 6 . D i p p e l s K i n d -
heitsvision entspricht keiner Kategorie der Visionstypen, die bei BENZ (Die Vision) beschrieben sind. Es bleibt unverständlich, w a r u m Benz einen solchen Typ, für den es mehrere atl. Beispiele gibt, nicht auffuhrt. Die Bilderwelt dieser Kindheitsvision ist nicht von der bei BENZ (a.a.O., 353ff.) aufgeführten himmlischen Stadt abhängig, sondern auf das im AT v o r k o m mende Bild des himmlischen Hofstaates zurückzufuhren. 66
V g l . B E N Z , D i e V i s i o n , 4 4 3 f.
67
BENZ, D i e Vision, 445.
68
Das Amt des Superintendenten war damals das höchste erreichbare kirchliche Amt.
69
WILHELM MAURER, G e s c h i c h t e d e r F i r m u n g u n d d e r K o n f i r m a t i o n , 28.
70 Z u r Geschichte der Konfirmation, 72.74-81; vgl. auch a.a.O., 55. In Nieder-Ramstadt wurde seit 1681 in den Kirchenbüchern ein Konfirmandenregister gefuhrt (a.a.O., 78).
42
Nachmittag mit anschließendem Abfragen des Katechismus geschah. Dies hatte der Ortspfarrer, in unserem Fall also Dippels Vater, durchzufuhren. 71 O b auch in Hessen-Darmstadt zusätzlich eine Art von Blockunterricht vor der Konfirmation durchgeführt wurde, wie dies in vielen Territorien üblich war,72 bleibt ungewiss. Aufjeden Fall war der Konfirmandenunterricht ganz auf Luthers kleinen Katechismus ausgerichtet. 73 Dieser musste während oder kurz vor der Konfirmation im Gottesdienst von den Konfirmanden auswendig aufgesagt werden können, 74 zusammen mit den hessischen Fragstücken. 75 Dippel wurde in seinem Konfirmandenunterricht ganz im Sinne der lutherischen Orthodoxie geprägt und lernte anhand des kleinen Katechismus und der hessischen Fragstücke die wesentlichen Glaubensinhalte. 76 Dippels Konfirmation fand innerhalb des Pfingstgottesdienstes statt. Es ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Dippels Vater als Gemeindepfarrer selbst die Konfirmation durchführte, 77 die nach der hessischen Ordnung aus fünf Teilen bestand. 78 Erstens wurde das Taufbekenntnis wiederholt, wodurch dokumentiert werden sollte, dass der Konfirmand die elementaren Glaubenswahrheiten kannte. Wahrscheinlich muss man sich darunter eine Prüfung der Konfirmanden vorstellen. 79 O b die öffentliche Absage des Teufels, die ursprünglich mit dem ersten Teil der Konfirmation verbunden war, auch noch im 17. Jahrhundert beibehalten wurde, ist unwahrscheinlich, da sie in der Hessischen Kirchenordnung von 1566 fehlt. Der zweite Teil der Konfirmation bestand in einer fürbittenden Segenshandlung der Gemeinde. Der dritte Teil hat sich ζ. T. bis heute erhalten und besteht in der Handauflegung, bei der der Segen »Nimm hin den heiligen Geist, Schutz und Schirm vor allem Argen, Stärke und Hilfe zu allem Guten von der gnädigen Hand Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen«
Die evangelischen Kirchenordnungen, Bd. 2, 295. 393f. Zur Geschichte der Konfirmation, 57, und J O H A N N F R I E D R I C H B A C H M A N N , Geschichte der Einführung der Confirmation, 276—280. 72 B J A R N E H A R E I D E , Die Konfirmation in der Reformationszeit, 291 f. 73 Vgl. DIEHL, Zur Geschichte der Konfirmation, 54. 60. 74 Vgl. B A C H M A N N , Geschichte der Einführung der Confirmation, 2 7 9 , und H A R E I D E , Die Konfirmation in den Kirchenordnungen, 62. Das Auswendiglernen wurde allerdings nicht als Drill verstanden, sondern entsprach der damals üblichen Lernmethode (s.o. S. 40). Die Konzentration daraufbrachte es allerdings mit sich, dass der Unterricht kaum zu innerlicher Erkenntnis führte ( L U K A S V I S C H E R , Die Geschichte der Konfirmation, 73). 75 DIEHL, Zur Geschichte der Konfirmation, 66. 76 Nach H A R E I D E (Die Konfirmation in den Kirchenordnungen, 67) ging es in den Kirchenordnungen der Reformationszeit in erster Linie um den Glaubensinhalt, und nicht um die Glaubensaneignung. Dies wird auch in der Zeit der Orthodoxie so gewesen sein. 77 Vgl. H A R E I D E , Die Konfirmation in der Reformationszeit, 294. 78 Dazu MAURER, Geschichte der Firmung und Konfirmation, 29f. 79 Vgl. R I C H T E R , Die evangelischen Kirchenordnungen, Bd. 2 , 2 9 5 . 71
Vgl.
AEMILIUS LUDWIG RICHTER, WILHELM
DIEHL,
43
gesprochen wird. 8 0 Vierter und fünfter Teil bestanden in der Zulassung der Konfirmanden zum Abendmahl und der Unterwerfung der Konfirmanden »unter die Liebeszucht der christlichen Abendmahlsgemeinde«. 8 1 N a c h Maurer hat sich die Konfirmation seit 1 5 6 6 in Hessen hinsichtlich ihrer theologischen Entfaltung verändert. Danach hat sie ihren ursprünglich rein lutherischen Charakter verloren und galt als eine Art Vervollständigung der Taufe. 8 2 Für die Konfirmanden, und somit auch für Dippel, werden die theologischen Erwägungen zur Konfirmation keine R o l l e gespielt haben. Für sie war stattdessen die Zulassung zum Abendmahl und die mit der Konfirmation zusammenhängende Verpflichtung zu einem christlichen Leben wichtig.
Die
Gymnasialzeit
E i n e n wichtigen Abschnitt in Dippels Schulzeit bildeten die Jahre auf dem Darmstädter Pädagogium. A b wann er dieses Gymnasium besuchte, kann leider heute nicht mehr genau festgestellt werden, da die Schülerlisten dieser Zeit aus der Darmstädter Pädagogmatrikel von späterer Hand herausgeschnitten worden sind. 8 3 Es ist allerdings anzunehmen, dass Dippel analog zu anderen Fällen nicht lange nach seiner Konfirmation an Pfingsten 1 6 8 5 in diese Anstalt aufgenommen wurde. 8 4 E i n e n weiteren Hinweis darauf, ab wann Dippel auf das Darmstädter Pädagogium ging, können wir aus den Akten der G i e ß e n e r Stipendiatenanstalt rekonstruieren, an der Dippel während seiner Studienzeit B e n e f i c a rius war. D a nach der landgräflichen Stipendiatenordnung von 1 5 6 0 ein Stipendium für sieben Jahre gewährt wurde, wobei die Z e i t auf d e m Pädagogium teilweise mitgerechnet werden konnte, 8 5 kann der frühestmögliche B e g i n n von Dippels Gymnasialzeit errechnet werden. N a c h den Akten der
80
N a c h KARL D I E N S T , A r t . » K o n f i r m a t i o n « , in: T R E , B d . 1 9 , 4 4 0 .
MAURER, Geschichte der Firmung und Konfirmation, 30. MAURER, Geschichte der Firmung und Konfirmation, 35, und DERS., Gemeindezucht, Gemeindeamt, Konfirmation, 1 0 0 - 1 0 7 . Vgl. auch KARL DIENST, Zur Geschichte der Konfirmation in Frankfurt, 702. 8 3 DIEHL, Neue Beiträge, 140. 8 4 DIEHL, Neue Beiträge, 140. 8 5 BRUNO HILDEBRAND, Urkundensammlung der Universität Marburg, 67. 70; die Marburger Stipendiatenordnung von 1560 wurde für die Gießener Anstalt übernommen und nur um ein paar kleine Zusätze vermehrt (WILHELM MARTIN BECKER, Das erste halbe Jahrhundert der hessen-darmstädtischen Landesuniversität, 87. 92; vgl. auch DERS., Der Ubergang der Marburger Stipendien nach Gießen, 5 6 - 6 4 ) . Daher bietet sie uns eine hervorragende Quelle für die Verhältnisse der Stipendiatenanstalt in Gießen. Bei ihrer Neueröffnung nach 1650 scheint die Praxis, schon Schüler des Pädagogs in die Stipendiatenanstalt aufzunehmen, noch weiter ausgeweitet worden zu sein (vgl. WILHELM DIEHL, Geschichte der Gießener Stipendiatenanstalt, 54). 81
82
44
Stipendiatenanstalt war er mindestens bis zum März 1693 Beneficarius. 8 6 Wir können also annehmen, dass Dippel 1686, möglicherweise schon vor Beginn des neuen Schuljahres, Beneficarius der hessen-darmstädtischen Stipendiatenanstalt wurde und zur gleichen Zeit mit dem Besuch des Pädagogiums in Darmstadt begann. Zwar besuchten die Stipendiaten in der Regel das Gymnasium in Gießen, doch hatten sie auch die Möglichkeit, in Darmstadt auf die höhere Schule zu gehen. Dies geht aus dem Fall hervor, in dem einem Schüler am Darmstädter Pädagog ein Stipendium gewährt wurde. 8 7 Dass Dippel in den Genuss dieses Stipendiums kam, hing wohl mit seiner außerordentlichen Begabung zusammen. 8 8 In der Regel hatten nämlich nur diejenigen Orte ein Anrecht darauf, der Gießener Stipendiatenanstalt einen Kandidaten zu präsentieren, die einen jährlichen Beitrag zu deren Finanzierung leisteten. Da zu diesen Orten Nieder-Ramstadt nicht gehörte, muss in Dippels Fall die Sonderbestimmung der Stipendiatenordnung in Kraft getreten sein, nach der ein Schüler aus anderen Orten ausgewählt werden konnte, wenn ein Ort mit Präsentationsrecht keinen geeigneten Kandidaten besaß. 89 Darmstadt besaß als landgräflicher Regierungssitz eine stattliche Garnison, war aber trotzdem eine recht kleine Stadt. Sie beherbergte zu Dippels Studienzeit innerhalb ihrer Grenzen, abgesehen von der Garnison, nur etwa 1700 bis 1800 Einwohner. 9 0 Wo Dippel während seiner Gymnasialzeit gewohnt und gegessen hat, ist nicht mehr mit Sicherheit zu sagen. Der geringe Betrag von 20 Gulden im Jahr, der damals einem Stipendiaten aus-
Akten der Stipendiatenanstalt (UAG, Allg 1408), fol. 434. DIEHL, Geschichte der Gießener Stipendiatenanstalt, 55. 8 8 Dippels Begabung muss so beeindruckend gewesen sein, dass »schon unter meinen C o n discipulis ... die R e d e gienge, ich müste einen Spiritum familiarem ... [d.h. Beistand durch einen vertrauten Geist] haben« (I, 380). O h n e fremde Hilfe traute man offensichtlich einem Schüler eine solche Begabung nicht zu. Dass Dippel sich anfangs im Pädagogium »stupid« gezeigt habe (HANS WILHELM HOFFMANN, Leben und Meinungen Johann Conrad Dippels, 4), ist wegen der Gewährung eines Stipendiums ausgeschlossen. Möglicherweise spielte auch die Pfarrertradition der Familie Dippel bei der Vergabe dieses Stipendiums eine Rolle. 8 9 HILDEBRAND, Urkundensammlung, 66. 68. Dippel wurde wahrscheinlich weder von Darmstadt, in dessen unmittelbarer N ä h e Nieder-Ramstadt liegt, noch von Zwingenberg, wo sein Vater als Lehrer tätig gewesen war, der Stipendiatenanstalt präsentiert. N a c h den D a r m städter Stipendien-Akten ist mit Sicherheit ausgeschlossen, dass Dippel in den Genuss eines Stipendiums dieser Stadt gelangte (UAG, Allg 1452). In den Zwingenberger Stipendien-Akten ist zwischen 1680 und 1692 kein Schriftwechsel wegen Stipendienangelegenheiten vorhanden (UAG, Allg 1517). Entweder haben es die Zwingenberger versäumt, einen geeigneten Kandidaten der Gießener Stipendiatenanstalt zu präsentieren, oder der Schriftwechsel über ein dazwischen liegendes Stipendium ist verloren. In letzterem Fall wäre es eventuell denkbar, dass die Zwingenberger den Sohn ihres früheren Präzeptors der Stipendiatenanstalt präsentiert hätten, doch dies ist eher unwahrscheinlich. 86
87
90
ERICH KEYSER, Hessisches S t ä d t e b u c h , 85.
45
gezahlt wurde, lässt es eher unwahrscheinlich erscheinen, dass sich Dippel dafür bei einer Familie in Darmstadt einmieten konnte. 91 In Nieder-Ramstadt zu bleiben, war für ihn wegen des recht langen Schulwegs ausgeschlossen, wenn man bedenkt, dass der Unterricht am Pädagog im Sommer um 5 Uhr und im Winter um 6 Uhr begann. 92 Möglicherweise konnte Dippel im Pädagoggebäude unterkommen, wo drei Lehrer und zwei Pedellen, die gleichzeitig Schüler waren, wohnten. 9 3 Wahrscheinlicher aber erscheint es, dass Dippel von seinem Taufpaten, dem Darmstädter Burgvogt Conrad Riedberger, 94 in sein Haus aufgenommen wurde. Auf dem Darmstädter Pädagogium wurde Dippel von der lutherischen Orthodoxie geprägt. Es war 1629 in Darmstadt gegründet worden, um die Schüler der Landgrafschaft ganz in diesem Sinne zu erziehen. Das Bildungsziel des Pädagogs entsprach deshalb ganz dem der Reformation. 9 5 Die moderne Pädagogik eines Comenius fand hier ebensowenig Eingang, wie die moderne Philosophie, stattdessen sollten die Schüler zur Frömmigkeit und Beredsamkeit erzogen werden. »Das Mittel aber, um jenes Bildungsideal zu verwirklichen, war neben umfangreicher religiöser Belehrung die Antike«. Anders als im Humanismus geschah die Lektüre antiker Autoren aber nicht um ihrer selbst willen, sondern war lediglich ein Mittel zur Ausbildung von Schülern für ein Amt in Kirche und Staat.96 Die Unterrichtsmethode unterschied sich im Pädagogium nicht allzusehr von der in der Nieder-Ramstädter Lateinschule. Auch hier musste zunächst viel auswendig gelernt werden und auch hier bestand eine enge Bindung an die Kirche. 97 Bis ins 18. Jahrhundert hinein war jeder Lehrer am Pädagog Theologe und musste sich außerdem auf die Confessio Augustana verpflichten. Täglich sollten sich die Schüler nach der Darmstädter Pädagogordnung von 1658 zu Gebet und Lesung eines Bibeltextes einfinden, und die Unterrichtsstunden wurden mit einem Gebet begonnen und mit
91
Anfang des 17. Jahrhunderts sollen Gießener Studenten jährlich zwischen 130 und 140 Gulden zum Leben und Studieren gebraucht haben; vgl. BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 132, Anm. 257. Bei Schülern dürfte die zum Leben notwendige Summe nur geringfugig niedriger gelegen haben. 92
RUDOLF ALLMANRITTER, 1 6 2 9 - 1 9 5 4 . D r e i h u n d e r t f u n f u n d z w a n z i g j a h r e L G G , 9 .
93
WILHELM DIEHL, Alt-Darmstadt, 52. N a c h WILHELM UHRIG (Geschichte des
Groß-
herzoglichen Gymnasiums, 13) wohnten nach 1658 nur der Rektor und ein zweiter Lehrer im Schulgebäude. 94 Nieder-Beerbacher Kirchenbuch, fol. 6. 95 L. IMGRAM, Zur älteren Geschichte des Gymnasiums, 13. 19ff. 96 GUSTAV PAUL, Die Stellung der Antike in der Geschichte des Ludwig-Georgs-Gymnasiums, 136. 97 PAUL, Die Stellung der Antike, 136f. Die Bindung an die Kirche dokumentierte sich auch in der Tatsache, dass der Rektor des Pädagogs von zwei Inspektoren beaufsichtigt wurde, die von einer kirchlichen Behörde ernannt wurden (IMGRAM, Zur älteren Geschichte des Gymnasiums, 11).
46
Gebet oder Gesang beendet. 9 8 D e r Gottesdienst am Sonntag und auch noch an anderen Tagen war für die Schüler selbstverständlich; viermal im Jahr sollten sie darüber hinaus gemeinsam z u m Abendmahl gehen, auf dessen würdigen E m p f a n g sie ein Lehrer am Vorabend vorbereiten m u s s t e . " Im Gegensatz zur Grundschule gab es am Pädagog neben d e m R e k t o r noch vier weitere Lehrer. 1 0 0 Außerdem wurde die beträchtliche Zahl von durchschnittlich mehr als 90 Schülern 1 0 1 in vier Klassenzimmern unterrichtet. Das Gymnasium unterschied sich von der Grundschule in erster Linie allerdings dadurch, dass es zum Studium an einer Universität b e fähigte. 1 0 2 Entsprechend war die Beherrschung des Lateins, der damaligen Gelehrtensprache, das wichtigste Unterrichtsziel, und die Schüler sollten inner- und außerhalb des Unterrichts möglichst lateinisch reden. 1 0 3 D e r Lateinunterricht war getrennt in Grammatik und R h e t o r i k . Vor allem in der Q u a r t a und Tertia wurde die Grammatik gelehrt, weil viele Schüler in das Pädagog eintraten, deren Lateinkenntnisse nur gering waren. 1 0 4 In diesen unteren Klassen wurde aus den Colloquia Helvici, einer Sammlung lateinischer Autoren, gelesen, wobei nicht in erster Linie das inhaltliche Verstehen der Texte im Vordergrund stand. Vielmehr sollten die Schüler am Vorbild der Klassiker durch Imitation und durch Auswendiglernen von R e d e w e n d u n g e n lernen, gutes Latein zu sprechen. Außerdem übten die Schüler in den unteren Klassen den U m g a n g mit der Wissenschaftssprache durch das Ubersetzen eines deutschen Textes ins Lateinische und aus dem Lateinischen wieder ins Deutsche. 1 0 5 In der Sekunda sollten nach der Darmstädter Pädagogordnung von 1658 die Bücher des Cornelius N e p o s de viris illustribus, und in der Prima Schriften des Kirchenvaters Justin auf Latein gelesen werden. 1 0 6 Auch Cicero, Vergil und O v i d gehörten zur Unterrichtslektüre, wahrscheinlich in den oberen Klassen. W i e in der Q u a r t a und Tertia mussten die Schüler in der Sekunda und Prima R e d e w e n d u n g e n auswendig lernen und die antiken
9 8 ALLMANRITTER, 1629-1954. Dreihundertfìinfundzwanzig Jahre L G G , 9; DIEHL, Die Schulordnungen, B d . 1, 139. 99
V g l . d i e S c h u l o r d n u n g v o n 1 6 5 8 b e i D I E H L , S c h u l o r d n u n g e n , B d . 1, 1 4 2 . ALLMANRIT-
TER, 1629-1954. Dreihundertiunfundzwanzig Jahre L G G , 9. 1 0 0 IMGRAM, Zur älteren Geschichte des Gymnasiums, 11. 101 D i e Schülerzahl schwankte zwischen 1651 und 1700 beträchtlich zwischen 117 und 58 Schülern. Meistens lag ihre Zahl aber über 90; vgl. UHRIG, Geschichte des Großherzoglichen Gymnasiums, 111. 102 v g l . DIEHL, Schulordnungen, Bd. 1, 127 f., wonach vor Dippels Zeit auf dem Pädagog der Abschluss am Darmstädter Pädagog als vollständige Hochschulreife zeitweise nicht anerkannt wurde. Dies hat sich später geändert, so dass Dippel ohne Schwierigkeiten nach B e endigung der Gymnasialzeit auf die Gießener Universität wechseln konnte. 1 0 3 PAUL, D i e Stellung der Antike, 138. 104
D I E H L , S c h u l o r d n u n g e n , B d . 1, 1 3 0 .
105
DIEHL, Schulordnungen, Bd. 1, 131; vgl. auch a.a.O., 137. DIEHL, Schulordnungen, Bd. 1, 143; DERS., Schulordnungen, Bd. 2, 256.
106
47
Schriftsteller imitieren. Allerdings wurde hier zumindest nebenbei auf den Sinn des Gelesenen geachtet. 1 0 7 Im Rhetorikunterricht, dessen Krönung die öffentlichen Redeübungen bildeten, die zweimal im Jahr am Tag nach den Examina veranstaltet wurden, 1 0 8 sollten die Schüler die Fähigkeit erlernen, auf Latein eine R e d e zu halten. Mit der gleichen Methode wie das Latein wurde den Schülern ab der Tertia Griechisch beigebracht. Sie lernten diese Sprache nach einem Lehrbuch und nach dem griechischen Neuen Testament, bei dessen Lektüre es stärker als im Lateinunterricht auf das Verstehen ankam. Als klassischer Autor wurde daneben auch Plutarch gelesen, 1 0 9 doch in erster Linie sollten die Schüler dazu befähigt werden, das griechische Neue Testament zu gebrauchen. In diesem Griechischunterricht wurde wohl bereits das Fundament für Dippels späteres Interesse am paulinischen Schrifttum gelegt. In seinen späteren radikalpietistischen Schriften zitiert er es häufig und gewinnt wichtige Einsichten ζ. T. durch eine eigenständige Exegese. Die anderen Fächer traten neben dem Erlernen der klassischen Sprachen 1 1 0 in den Hintergrund. Von einiger Bedeutung waren der Logik-, der Katechismus- und der Bibelunterricht. Der Logikunterricht wurde nach der Logik des früheren Gießener Professors für Logik und Metaphysik und Schülers von Christoph Scheibler 1 1 1 , Kaspar Ebel, gestaltet, die als typisch orthodoxes Lehrbuch gelten kann. 1 1 2 Der Katechismusunterricht orientierte sich an der Institutio des früheren Philosophieprofessors und späteren Ulmer Superintendenten Konrad Dietrich 1 1 3 . Hierbei wurde Lektion für Lektion dieser Glaubenslehre durchgegangen und darin erwähnte Belege im griechischen Neuen Testament oder in einer Psalmen-Edition nachgelesen, in der diese hebräisch und lateinisch abgedruckt waren. 1 1 4 W i e die übrigen Fächer gestaltet wurden, ist nicht mehr zu ermitteln, da weder in der Pädagogordnung von 1658 noch in dem Visitationsbericht von 1655 über sie etwas berichtet wird. D o c h kann zumindest der wohl wesentlichste Zweck des Musikunterrichts ermittelt werden, der darin bestand, die Schüler zum Singen zu befähigen, was sie an Sonntagen in der Kirche unter 107 DIEHL, Schulordnungen, Bd. 1, 132f. Vgl. auch UHRIG, Geschichte des Großherzoglichen Gymnasiums, 11. ios vgl. UHRIG, Geschichte des Großherzoglichen Gymnasiums, 112. 109
DIEHL, S c h u l o r d n u n g e n , B d . 1, 1 3 3 f .
Neben Latein und Griechisch war der hebräische Unterricht in der Prima freiwillig (IMGRAM, Zur älteren Geschichte des Gymnasiums, 21). Wer wie Dippel das Studium der Theologie anstrebte, wird sich dem Erlernen dieser Sprache nicht verschlossen haben. 111 Scheibler, der von 1610 bis 1624 Professor fur Logik und Metaphysik in Gießen war, kann als der bis dahin wichtigste protestantische Darsteller einer Metaphysik gelten (MAX WUNDT, Die deutsche Schulmetaphysik, 119-123). 112 DIEHL, Schulordnungen, Bd. 1, 128f.; WUNDT, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, 1 1 8 - 1 2 4 . 113 Zu Dietrich vgl. FRITZ HERRMANN, Zwei Promotionskosten-Verzeichnisse, 100. 110
114
48
DIEHL, S c h u l o r d n u n g e n , B d . 1, 1 3 4 f .
Beweis stellen mussten. Z u d e m war es armen Schülern erlaubt, durch öffentliches Singen Geld zu sammeln. 1 1 5 »Geographie und Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaft, ja auch ein besonderer deutscher Unterricht fehlen im 17. Jahrhundert am Gymnasium in Darmstadt ganz oder treten doch hinter der unumschränkten Herrschaft des Lateins vollständig in den Hintergrund«. 1 1 6 Das Pädagog bestand zwar aus vier Schulklassen, die jeweils in einem eigenen R a u m von einem Lehrer unterrichtet wurden. Doch war die Struktur einer Klasse differenzierter; es wurde teilweise, nach den Fähigkeiten der Schüler, in bessere und schlechtere unterschieden. Mancher Lehrer musste also gleichsam zwei Klassen zugleich unterrichten, mit denen er unterschiedliche Lektionen durchging. 1 1 7 Ein Schüler brauchte entsprechend seinen Fähigkeiten meist mehr als ein Jahr, um eine Klasse zu vollenden. In der Regel blieben die Schüler zwei Jahre in einer Klasse und in der obersten Klasse solange, bis sie die nötigen Qualifikationen für das Studium besaßen, was häufig länger als zwei Jahre dauerte. 118 Wenn Dippel ab 1686 das Pädagogium besuchte, so hat er etwa nur fünf Jahre dort zugebracht, d.h. er hat wohl die ersten drei Klassen jeweils in einem Jahr absolviert. Dippels Lehrer waren die Rektoren Johann Otto Gorr und Martin Michaelis und möglicherweise auch Gregor Daniel Gernand, der später Professor in Gießen wurde, 1 1 9 sowie Johann Heinrich Welcker, Heinrich Georg Draudt 1 2 0 , Johann Georg Schleyermacher und Ludwig Heinrich Schlosser. 121 Ludwig Heinrich Schlosser (1663—1723) war ein Bruder des Gießener Professors Philipp Casimir Schlosser, zu dem Dippel später eine besonders gute Beziehung haben sollte. Der junge Lehrer muss innerhalb des Kollegenkreises herausgeragt haben, erlangte er doch schon 1692 das Konrektorat, obwohl er erst 1687 an das Darmstädter Pädagogium gekommen war. 122 Dippel hatte wahrscheinlich ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu seinen Darmstädter Lehrern, die seine Begabung zu fördern suchten: 115 116 117 118 119
IMGRAM, Zur älteren Geschichte des Gymnasiums, 27. PAUL, Die Stellung der Antike, 137. DIEHL, Schulordnungen, Bd. 1, 135. ALLMANRITTER, 1629-1954. DreihundertfiinfundzwanzigJahre L G G , 9. Bei
FRIEDRICH
WILHELM
STRIEDER
(GHGSG,
Bd.
4, 3 7 0 - 3 7 2 )
ist als B e g i n n
von
Gernands Tätigkeit als R e k t o r des Pädagogiums nur die Jahreszahl 1691 angegeben, so dass wir nicht genau wissen, ob Dippel ihn noch als Lehrer kennen lernte. Einen nennenswerten Einfluss konnte Gernand in der möglichen kurzen Zeit sicherlich nicht auf Dippel ausüben. Z u Gernand vgl. außerdem RÜDIGER MACK, Pietismus und Frühaufklärung, 56, und DIEHL, N e u e Beiträge, 152. 120 Bei diesem handelte es sich wohl u m Georg Heinrich Draudius, einem Enkel von G e o r g Draudius (1573-1635), der als äußerst gelehrter Pfarrer etliche Schriften herausgab (vgl. STRIEDER, G H G S G , Bd. 3, 2 1 3 - 2 2 1 ) . 121 UHRIG, Geschichte des Großherzoglichen Gymnasiums, 33. 107. 122
S T R I E D E R , G H G S G , B d . 1 3 , 5 1 f.
49
»Auch selbst vor meiner Praeceptorum Augen war ich schon ein W u n d e r ; die dann mit mir als einem zukünftigen Lumine mundi, (Licht der Welt) auf die hohe Schul [d. h. Universität] eyleten, damit das eingepflantzte Gute nicht aufgehalten und unterdruckt würde«. 1 2 3
Dem Rektor Johann Otto Gorr hat Dippel über die Schulzeit hinaus ein hohes Andenken bewahrt, wie ein Trauergedicht anlässlich Gorrs Beerdigung zeigt. 124 Uber Dippels Verhältnis zu seinen Lehrern erfahren wir außerdem etwas aus einer Passage der Fata chymica125. Dort berichtet er von einem späteren Besuch bei einem Prediger nahe bei Gießen, »der zuvor in meinen Schüler-Jahren zu Darmstadt, als ein Studiosus Theologiae, mich zuweilen informiret«. 126 Dieser Pfarrer 127 muss Dippel, wahrscheinlich aufgrund des guten Eindrucks, den er ihm als Schüler vermittelt hatte, in den unterschiedlichsten Fachgebieten für hoch begabt gehalten haben. Denn er drängte ihm zwei alchemistische Schriften geradezu auf, weil er glaubte, Dippel könne diese besser als er selbst begreifen. Von der Vielfältigkeit der Begabungen Dippels spricht schließlich auch der Umstand, dass er »mit 3. Doctoribus schwanger [d.h. mit dem Ziel, in drei Fächern zu promovieren] auf die Academie« nach Gießen ging. 128 Dippel verließ das Pädagogium nicht vorzeitig fünfzehn- oder sechzehnjährig, wie die meisten Dippelforscher vermuteten. 129 Im Alter von 17 Jahren und 7 Monaten wurde er mit einigen Mitschülern am 27. März 1691 als Abiturient aus dem Darmstädter Pädagog entlassen.130 In einem Proto-
Lebens-Lauff', I, 380. Siehe dazu unten S. 80. 125 Anderer Theil des Weg- Weisers zum Licht und Recht in der äussern Natur, oder Entdecktes Geheimnüß des Segens und des Fluchs in denen Natürlichen Cörpern zum wahrhaften Grund der Artzney-Kunst in Liebe mitgetheilet. Sammt einer Vorrede, worinnen des Christiani Democriti Fata chymica, zur nöthigen Nachricht offenherzig communiciret werden, I, 9 1 9 - 9 3 0 . Auch abgedruckt bei BEYER-FRÖHLICH, Deutsche Selbstzeugnisse, Bd. 7, 9 5 - 9 8 . 126 I, 920. Welche Funktion dieser Theologiestudent erfüllte, wird aufgrund der Notiz in den fata chymica nicht ganz klar. Es ist denkbar, dass er Dippel als Aushilfslehrer am Pädagogium oder aber auch zusätzlich unterrichtete. Die zweite Möglichkeit ist unwahrscheinlich, da Dippels Vater die finanziellen Mittel fur einen solchen Privatunterricht schwerlich aufbringen konnte und dies wegen der offensichtlichen Begabung Johann Konrads auch gar nicht nötig war. 127 Bei diesem handelte es sich wahrscheinlich um Philipp Wilhelm Geilfus, der ab 1694 Pfarrer in Heuchelheim bei Gießen war. Vgl. dazu DIEHL, Hassia sacra, Bd. 2, 535. Er ist der einzige Pfarrer, der eine Pfarrstelle in der näheren Umgebung von Gießen noch während oder bald nach dem Ende der Gymnasialzeit Dippels antrat und außerdem durch das mit dem Magistergrad abgeschlossene Grundstudium die Voraussetzung zur Fortsetzung des Studiums in der theologischen Fakultät erfüllte. 128 Lebens-Lauff, I, 380. 129 S. u. S. 60, Anm. 38. 130 DIEHL, Neue Beiträge, 141. Vgl. auch DERS., Suchbuch für die Darmstädter Pädagogmatrikel, 176, und DERS., Abiturientenliste der hessischen Pädagogien, 166. 123
124
50
koll vor dem Darmstädter Konsistorium vom 2. März 1699 sagte Dippels Väter aus, sein Sohn sei »cum summa laude von M. Gorren sei. eximirt [entlassen] worden«. 131 Da Gorr nur bis Ende 1689 Rektor des Pädagogiums war, vermutet Diehl mit Recht, dass er diese Entlassung als Darmstädter Stadtpfarrer und stellvertretender Superintendent vornahm. 1 3 2 Es gehörte offenbar zu den Obliegenheiten des Superintendenten, der für die Schulaufsicht verantwortlich war, das Schlussexamen durchzufuhren und die Entlassung der Schüler vorzunehmen. Auf dem Pädagog war Dippel ganz im Sinne der lutherischen Orthodoxie erzogen worden. Im Lateinunterricht waren ihm einige ausgewählte Klassiker nahegebracht worden. Außerdem hatte er dort die Grundlagen der lutherischen Orthodoxie im Katechismus- und Bibelunterricht kennengelernt. Mit modernen Strömungen in Philosophie und Theologie war er während seiner Schulzeit dagegen noch nicht in Berührung gekommen. D o c h bereits während seiner Gymnasialzeit muss Dippel gelernt haben, seine Gedanken souverän in Sprache zu kleiden, eine Fähigkeit, die er später in seinen Schriften so ausgezeichnet beherrschte. Diese erlangte er wohl vor allem im Rhetorikunterricht. Aber auch die Beschäftigung mit dem Neuen Testament innerhalb des Griechischunterrichts mag für Dippels theologischen Werdegang von einiger Bedeutung gewesen sein.
131 132
StADa, E 6B, 5/3, fol. 34F.; abgedruckt bei DIEHL, Neue Beiträge, 157F. DIEHL, Neue Beiträge, 141.
51
Kapitel 3: Studium in Gießen Stadt und
Universität
Direkt nach der Schulzeit ging Dippel zum Studium auf die hessen-darmstädtische Landesuniversität nach Gießen. Die Größe der Stadt lässt sich gut bestimmen, da fest steht, dass es im Jahre 1687 657 Bürgerfamilien und 164 Familien ohne Bürgerprivilegien gab. Insgesamt wird die Stadt zu Dippels Studienzeit etwa 4000 Einwohner gezählt haben. 1 Im Spätmittelalter war die Stadt durch Zuzug von Handwerkern und anderen Gruppen gewachsen. Sie hatten innerhalb der Stadtmauer allerdings keinen Platz mehr gefunden und sich außerhalb ansiedeln müssen. Zu ihnen gehörten wohl auch die Tuchmacher, die in wirtschaftlicher Hinsicht eine große R o l l e spielten und das Gießener Gewerbe beherrschten. 2 Für die Wirtschaft der Stadt war außerdem ihre Lage an der großen Handelsstraße wichtig, die N o r d - und Süddeutschland verband. Durchziehende Kaufleute gehörten wohl ebenso zum Leben in der Stadt, wie die Garnison, die im 17. Jahrhundert etwa 400 Mann stark war. 3 Die Universität hatte für die Stadt ebenfalls eine große Bedeutung. Allerdings hatte die Studentenschaft in Gießen nur einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von etwa 6%. Die Gießener Universität hatte sich im 17. Jahrhundert als Verteidigerin der reinen lutherischen Lehre einen Namen gemacht. 1607 war sie als Gegenpol zu der damals reformierten Marburger Universität gegründet worden. 4 Entsprechend wurde Gießen vor allem von »Studenten aus lutherischen Ländern« besucht. Nach den Angaben der für die Frühzeit der Hochschule leider nur sehr unvollständig erhaltenen Universitätsmatrikel kamen zwischen 1607 und 1624 die meisten Studenten aus der weiteren Umgebung. Die Anziehungskraft der Universität reichte bis nach Skandinavien! Nicht einmal 10% kamen aus Hessen-Darmstadt. 5
1
V g l . ERICH K E Y S E R , H e s s i s c h e s S t ä d t e b u c h , 1 9 3 .
2
E R N S T LUDWIG W I L H E L M N E B E L , K u r z e Ü b e r s i c h t e i n e r G e s c h i c h t e d e r U n i v e r s i t ä t
Glessen, 117ÍF. 3 Vgl. J . B . RADY, D i e Zustände der Stadt Gießen zu Anfang des 18. Jahrhunderts, 69. 4
Z u r G e s c h i c h t e d e r G r ü n d u n g d e r G i e ß e n e r U n i v e r s i t ä t v g l . W I L H E L M MARTIN B E C K E R ,
Das erste halbe Jahrhundert der hessen-darmstädtischen Landesuniversität, 9 - 7 5 . 5
WILHELM
MARTIN BECKER, Stärke u n d Z u s a m m e n s e t z u n g
Frühzeit der Universität Gießen, 66f.; Zitat: a.a.O., 66.
52
der S t u d e n t e n s c h a f t in
der
Gerade in den ersten beiden Jahrzehnten der neugegründeten H o c h schule hatten die Gießener Professoren weithin einen exzellenten R u f . 6 Einen N a m e n machte sich die theologische Fakultät in den Anfangsjahren besonders im Kenosisstreit zwischen den Gießener u n d den Tübinger Theologen, 7 der lebhaftes Interesse in der protestantischen Öffentlichkeit fand. Schließlich wurde die fuhrende theologische Fakultät des Luthertums in Wittenberg als Schiedsrichter angerufen. Die Entscheidung, die zugunsten der Gießener Hochschule ausging, war sicherlich ein ungeheurer Prestigegewinn fur die n o c h j u n g e Universität. Auch in Bezug auf die personelle Ausstattung gehörte die Gießener Hochschule zu den fuhrenden deutschen Universitäten. Im Gründungsjahr umfasste der Lehrkörper neun Professoren, zwei in der theologischen, zwei in der juristischen, vier in der philosophischen und einen in der medizinischen Fakultät. Die Größe der philosophischen Fakultät ergab sich dadurch, dass diese eine Art Vorschule für die Studiengänge in Theologie, Jura u n d Medizin war und ein Sammelbecken für die verschiedensten Fachgebiete darstellte. 8 N a c h der W i e d e r e r ö f f n u n g der Hochschule im Jahre 1650, n a c h d e m sie zwischen 1624 u n d 1650 mit der Marburger Universität zusammengefasst worden war, lehrten in Gießen zwölf ordentliche Professoren. Ab 1663 gab es an der Gießener Ludoviciana gar 19, zur Studienzeit Dippels 17 Professorenstellen, die von 14 Hochschullehrern besetzt waren. 9 D a mit besaß sie unter den deutschen Universitäten einen der größten Lehrkörper. 1 0 In Bezug auf die Studentenzahlen lag Gießen am Ende des 17. J a h r h u n derts verglichen mit den übrigen deutschen Universitäten im Mittelfeld. Ein genauer Vergleich der Immatrikulationszahlen der 15 Jahre zwischen 1686 u n d 1700 zeigt, dass die Ludoviciana hinter den Massenuniversitäten Leipzig, Wittenberg und Jena, hinter der ziemlich großen Universität in Helmstedt sowie den weit im Osten liegenden Universitäten Frankfurt a. d.
6
BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 76. W A L T E R S P A R N , Art. »Jesus Christus V«, in: T R E , Bd. 17, 6f. und A L F R E D A D A M , Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, 413. 8 Beispielsweise gehörte die historische Professur, die Gottfried Arnold im Wintersemester 1697/1698 besetzte (s.u. S. 184-187), der philosophischen Fakultät an. 9 UAG, Allg 1 5 3 5 ; vgl. auch H E I N R I C H A P F E L S T E D T , Professoren und Studenten der Ludoviciana, 22f. Die Privatdozenten, die es vor allem in der philosophischen Fakultät gab, wurden nicht mitgerechnet. 10 A P F E L S T E D T , Professoren und Studenten der Ludoviciana, 22. Vgl. auch F R A N Z E U L E N BURG, Die Frequenz der Deutschen Universitäten, 318. Jena und Helmstedt hatten nach der Tabelle von Eulenburg im 17. Jh. durchschnittlich etwa gleich viele Professoren wie Gießen. Uber die Wittenberger Universität sagt die Tabelle bei Eulenburg für das 17. Jh. nicht viel aus, da die letzte Angabe über 23 Professoren von 1614 stammt. Sicher ist nur, dass die Wittenberger Universität im 17. Jh. weniger Professoren besaß als im 16. Jh. 7
53
Oder und Königsberg zu den mittelgroßen evangelischen Universitäten gehörte, die eine durchschnittliche Inskriptionszahl von ca. 100 Studenten pro Jahr hatten. 11 Uber die Qualität einer Hochschule erhält man aber nicht allein aus den Studentenzahlen einen Anhaltspunkt. Mehr noch gibt darüber die Herkunft der Studentenschaft Auskunft. U n d diese bestand gerade nicht überwiegend aus Landeskindern, wie Eulenburg falsch darstellt. 12 Nach der Universitätsmatrikel stellten die Landeskinder in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts weniger als die Hälfte der Studenten. 1 3 Meistens setzte sich die Studentenschaft aus etwa zwei Dritteln Auswärtigen und einem Drittel Landeskindern zusammen, so auch in den Jahren, in denen Dippel in Gießen studierte. Nach der Matrikel schrieben sich in den Jahren 1689 bis 1694 1 4 insgesamt 531 Studenten ein, von denen nur 179 aus der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, dagegen 333 aus den übrigen deutschen Gebieten und aus Skandinavien stammten. 15 Auffällig ist, dass von den auswärtigen Studenten zu Dippels Studienzeit wiederum etwa die Hälfte aus weiter entfernten Gebieten Deutschlands oder aus dem Ausland kamen. 1 6 Dies zeigt, dass die Gießener Hochschule weithin einen guten R u f
11
Vgl. EULENBURG, D i e Frequenz der D e u t s c h e n Universitäten, lOOf., u n d WILHELM
D I E H L , D i e A b i t u r i e n t e n l i s t e n , 1 3 3 . D i e T a b e l l e b e i R A I N E R C H R . SCHWINGES ( I m m a t r i k u -
lationsfrequenz u n d Einzugsbereich der Universität Gießen, 288), bei der Gießen a u f den 16. Platz in der Immatrikulationsfrequenz zwischen 1650 und 1700 liegt, geht w i e E u l e n b u r g von unvollständigen Zahlen aus (vgl. DIEHL, a.a.O., 133, w o n a c h zumindest zeitweise die Abiturienten des Gießener P ä d a g o g i u m s an der Ludoviciana studieren konnten, o h n e sich in die Matrikel einschreiben zu lassen). A u ß e r d e m ist S c h w i n g e s ' Tabelle für Dippels Studienzeit nicht aussagekräftig. D e n n etliche H o c h s c h u l e n weisen im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts einen deutlichen R ü c k g a n g an Studenten auf. M e h r e r e Universitäten, die in S c h w i n g e s ' T a belle n o c h vor Gießen piaziert sind, haben während Dippels Studienzeit weniger o d e r etwa gleich viele Studenten aufzuweisen (vgl. dazu EULENBURG, D i e Frequenz der D e u t s c h e n U n i versitäten, 100 f.). 12 D i e Frequenz der D e u t s c h e n Universitäten, 90. Vgl. dazu auch SCHWINGES, I m m a t r i k u lationsfrequenz u n d Einzugsbereich, 272—275. 13
V g l . D I E H L , A b i t u r i e n t e n l i s t e n d e r h e s s i s c h e n P ä d a g o g i e n , 1 3 9 . O T F R I E D PRAETORIUS
( Z u r Geschichte der Gießener Universität) spricht sogar davon, dass nach der W i e d e r e r ö f f n u n g der Ludoviciana i m Jahre 1 6 5 0 »die H e s s e n - D a r m s t ä d t e r >Landeskinder< nur etwa ein Viertel der Studentenschaft« ausmachten. »Besonders stark stiegen die Z a h l e n der von auswärts k o m m e n d e n Immatrikulierten von 1688 bis 1707«. D a g e g e n geht SCHWINGES fälschlicherweise davon aus, dass die Landeskinder nach 1675 bis z u m E n d e des 18. Jahrhunderts die M e h r h e i t an der Universität bildeten (Immatrikulationsfrequenz und Einzugsbereich). D i e s e A n g a b e n sind allerdings bezeichnenderweise nicht belegt. 14 D i e beiden Jahre 1689 u n d 1690 hatten hinsichtlich der Studentenzahl u n d - Z u s a m m e n setzung bereits A u s w i r k u n g e n auf den B e g i n n von Dippels S t u d i u m . Sie müssen also bei der E r r e c h n u n g der durchschnittlichen Studentenzahl u n d -Zusammensetzung während Dippels Gießener Studiums berücksichtigt werden. 15 DIEHL, Abiturientenlisten der hessischen P ä d a g o g i e n , 139; bei 19 Studenten ist die H e r kunft unbestimmt. 16
54
Vgl. die Tabelle bei PRAETORIUS, Z u r Geschichte der Gießener Universität.
besaß. 1 7 U n d zwar richtete sich ihre Anziehungskraft im 17. Jahrhundert vorwiegend auf lutherisch gesinnte Studenten. Z u diesen kann man auch den Abiturienten Dippel zählen, der sich seiner lutherischen Familientradition mit Stolz bewusst war und auf d e m Darmstädter P ä d a g o g i u m den Geist der lutherischen O r t h o d o x i e geatmet hatte. Deshalb war die Gießener Ludoviciana für ihn eine Universität erster Wahl. D i e theologische Fakultät hatte zwar gegen E n d e des 17. Jahrhunderts nicht mehr den hervorragenden R u f , den sie am A n f a n g desselben besessen hatte. D o c h auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Gießener Hochschule weithin bekannt. Zahlreiche Lehrbücher von überregionaler B e d e u t u n g waren von Gießener Professoren verfasst worden. 1 8 S o hat Dippel sicherlich nicht nur die materielle Absicherung durch das hessen-darmstädtische Stipendium nach Gießen getrieben. Er ist wohl gerne an die Gießener Hochschule gegangen, deren B e s u c h für viele Absolventen der Pädagogien in Gießen und Darmstadt und anderer hessen-darmstädtischer Schulen die natürliche Fortsetzung ihrer Ausbildung bildete. D i e Gießener Universitätsmatrikel ist nicht nur eine hervorragende Q u e l l e für die Herkunft der Studenten. Aus ihren Eintragungen kann man auch ungefähr die Zahl derer errechnen, die zu Dippels Studienzeit in G i e -
17 Aufgrund der Größe des Lehrkörpers, sowie der Herkunft und der Größe der Studentenschaft, ist es unverständlich, wenn PETER MORAW die Gießener Hochschule in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts »als recht >provinziellBeanus< oder >Ba[c]chanten< in einen gesitteten Sohn der Musen versinnlichten«. Dies geschah unmittelbar vor der Immatrikulation, indem der bisherige Stand des Schülers verächtlich gemacht wurde. Die Studienanfänger wurden unwürdigen B e handlungen unterzogen, u m den erstrebten Stand des Studenten positiv von dem bisherigen abzuheben. Später führte sie der Depositor zum Dekan der philosophischen Fakultät, »der, hie und da sogar unter Anrufung der Dreieinigkeit, die Weihe mit Salz und Wein vornahm, die Neulinge mit ernsten Ermahnungen vom Beanismus absolvierte und für rechte Studenten erklärte«. Anschließend wurde erst die Immatrikulation vorgenom-
3 7 Johann Philipp Dippel war beim Studienbeginn seines Sohnes Johann Konrad bereits in den Mitfunfzigern. 38
Universitätsmatrikel ( U A G , A U g 1 2 6 1 ) , fol. 2 7 5 . Vgl. a u c h LUISE WALDHAUS u n d
WIL-
HELM DIEHL, Suchbuch für die Gießener Universitätsmatrikel, 31, und DIEHL, N e u e B e i träge, 141. Immatrikulieren konnte man sich damals ununterbrochen das ganze Jahr hindurch (BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 117). D i e falsche Frühdatierung des Studienbeginns, nach der Dippel schon 1689 oder 1690, bzw. als 15- oder 16jähriger mit dem Studium in Gießen begonnen haben soll, lässt sich zurückfuhren auf eine Angabe in Dippels Lebens-Lauff., nach der er »kaum 16. Jahr alt« auf die Universität ging (I, 380). Von dieser Datierung ist wiederum der Herausgeber der posthumen Gesamtausgabe der Dippelschriften, JOHANN CONRAD KANZ, abhängig, wenn er in den Dippelii Personalia schreibt, »daß er schon im 16. Jahr [also mit 15 Jahren!] seines Alters sich auf die Universität nach Gießen begeben« habe (III, 743). 3 9 Vgl. DIEHL, Die Schulordnungen, B d . 1, 127f.; Zitat: BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 118. 4 0 WILHELM FABRICIUS, Pennalismus und Deposition in Gießen, 25. 41 Immerhin erschien die Schrift Academicus civilis von JOHANN JUSTUS VALENTINI 1689 und zehn Jahre später in zweiter Auflage, die unter anderem von diesem Brauch handelte.
60
men. 42 Auch Dippel wird sich wahrscheinlich dieser Sitte unterworfen haben müssen. Auch er musste sich wohl auf den Boden legen und wurde symbolisch wie ein unbehandelter Baumstamm mit einem Hobel bearbeitet, musste sich den Bacchantenzahn 43 ziehen und das Weisheitssalz in den Mund streuen oder andere Unannehmlichkeiten über sich ergehen lassen, um überhaupt in Gießen mit dem Studium beginnen zu dürfen. Die Sitte des Pennalismus war zu Dippels Studienzeit wahrscheinlich ebenfalls, trotz obrigkeitlichen Verbots, noch nicht gänzlich ausgerottet. O b wohl die Gießener Professorenschaft, allerdings erst nach langem Zögern und aufgrund des Drucks der Obrigkeit, sich gegen den Pennalismus ausgesprochen hatte, scheint er sich in Gießen noch längere Zeit gehalten zu haben, denn »noch 1775 wurde in Gießen ein Student wegen Pennalismus religiert ..., und 1790, ja 1811 erscheinen Pennalismus und Nationalismus noch in den Gießener Universitätsgesetzen«.44 Wie die Deposition war der Pennalismus ein Aufnahmeritus, und zwar in die landsmannschaftlichen Vereinigungen. Die neuimmatrikulierten Studenten, die noch fast Schüler (Pennäler) waren, wurden von den älteren noch nicht als richtige Studierende angesehen. Stattdessen »nannten [sie] sie >Pennäle< und verlangten während des Pennaljahrs ..., von ihnen mancherlei Entsagungen und Leistungen«. Sie durften weder gut gekleidet sein noch die Abzeichen eines Studenten, wie beispielsweise Degen und Federn, tragen. Zum Abschluss des Pennaljahres hatte der junge Student jedes Mitglied seiner Landsmannschaft um die »Absolution« zu bitten. Wurde ihm diese verweigert, musste er sich zunächst noch Nachkorrekturen gefallen lassen, bevor die »Absolution« vollzogen werden konnte. Diese wies eine ähnliche Form auf, wie die der Deposition. Anschließend wurde ein Absolutionsschmaus veranstaltet, den selbstverständlich der Absolutus bezahlen musste, wenn möglich mit anderen Neuabsolvierten zusammen. Nun erst war er ein vollberechtigter Student. 45 Hören wir aus Dippels eigenem Munde nichts von den Bräuchen der Deposition und des Pennalismus, so doch von den mit dem Pennalismus eng zusammenhängenden landsmannschaftlichen Zusammenschlüssen. 46 Wenn Dippel in seinen autobiographischen Angaben über seine Studentenzeit von »liederliche [n] Gesellschafften, Fechten und Springen« spricht, 47 so ist an Versammlungen solcher Landsmannschaften zu denken, in denen Dippel zunächst als einer der »Pennäler« von den älteren Studenten einiges zu erleiden hatte, später aber wahrscheinlich jungen Studenten genau das mitgab, was er selbst erlitten hatte.
42
43 44 45
46 47
F A B R I C I U S , Pennalismus und Deposition in Gießen, 24f.; vgl. ebd. zum Folgenden. D. i. der Schülerzahn. F A B R I C I U S , Pennalismus und Deposition in Gießen, 28. F A B R I C I U S , Pennalismus und Deposition in Gießen, 25. Lebens-Lauff, I, 386: hier spricht er von seinen »Lands-Leuten«; vgl. auch a.a.O., I, 385. Lebens-Lauff, I, 381.
61
Die
Stipendiatenanstalt
Z u m Studienbeginn konnte Dippel mit sieben weiteren Beneficarli, die sich ebenfalls im Sommersemester 1691 in der Gießener Hochschule einschrieben, 48 in die Stipendiatenanstalt einziehen. 49 Diese hatte nach der 1650 erfolgten Wiedereröffnung der Universität zunächst ein Schattendasein geführt und mit finanziellen Schwierigkeiten gekämpft, war nun aber wieder zu ansehnlicher Größe angewachsen. 50 Nach den in den Akten verzeichneten N a m e n bei den Stipendiatenexamina kann die Zahl der Beneficarli geschätzt werden. Danach gab es im Sommersemester 1691 22 Stipendiaten, im Wintersemester 1691/1692 waren es 29, im Sommersemester 1692 24 und im Wintersemester 1692/1693 28. Möglicherweise lag ihre Zahl etwas höher, wenn den Studenten der oberen Fakultäten das Examen erlassen werden konnte. Die Stipendiatenanstalt befand sich im Dachgeschoss des stattlichen Universitätsgebäudes, das zudem die Hörsäle, die Universitätsbibliothek und das Konsistorium beherbergte. Durch die unmittelbare Nähe zwischen Stipendiatenwohnungen, Hörsälen und der Bibliothek 5 1 war eine gute Voraussetzung fur ein intensives Studium gegeben. Als Stipendiat kam Dippel auch in den Genuss eines gemeinsamen Tisches. 5 2 Mindestens vier Semester lang konnte er umsonst wohnen und durfte gegen ein geringes Entgelt am gemeinsamen Tisch speisen, wie seine letzte Erwähnung in den Akten der Gießener Stipendiatenanstalt am 3. März 1693 zeigt. 53 Die Stipendiaten wurden von einem der Professoren als Ephorus betreut. Dieser hatte nicht nur die Aufsicht über den gemeinsamen Tisch, sondern auch über die Studiengestaltung seiner Schützlinge. Er sollte bei den einzelnen Stipendiaten nachfragen, welche Vorlesungen und Privatkollegs besucht und welche Autoren privat gelesen wurden. Gegen Ende eines jeden Semesters musste er sich zudem in einem Examen über die Leistungen der Beneficarli informieren. U n d schließlich sollte er die Stipendiaten zur täglichen Bibellektüre anhalten. D e m Ephorus war zumindest ein Stipendiatenmajor untergeordnet; meist gab es mehrere Majore, die den Ephorus bei
WILHELM DIEHL, Stipendiatenbuch der hessen-darmstädtischen Universitäten, 48. Akten der Stipendiatenanstalt (UAG, Allg 1408), fol. 425. 5 0 MORAW, Kleine Geschichte der Universität Gießen, 68 f. Vgl. auch die ausfuhrliche B e schreibung über die Wiedereröffnung der Anstalt bei WILHELM DIEHL, Geschichte der Gießener Stipendiatenanstalt, 49—69. 51 Vgl. BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 176f.; vgl. auch DIEHL, Geschichte der Gießener Stipendiatenanstalt, 54. Durch einen Kupferstich zwischen den Seiten 76 und 77 des Merians von 1655 (Topographia Hassiae) bekommt man einen guten Eindruck von dem Gießener Universitätsgebäude, das nicht nur zentral gelegen war, sondern neben der Stadtkirche das imposanteste Gebäude der Stadt bildete. 5 2 Vgl. DIEHL, Geschichte der Gießener Stipendiatenanstalt, 64f. 5 3 Akten der Stipendiatenanstalt (UAG, Allg 1408), 434. 48 49
62
seiner Aufsichtspflicht unterstützen sollten. Mit ihrer Hilfe wurden während Dippels Studienzeit u.a. Lektionen in der Heiligen Schrift gehalten. 54 Insgesamt studierten die Stipendiaten weitgehend unter der Kontrolle des Ephorus, der fur sie eine der entscheidenden Persönlichkeiten während ihres Studiums war. Zu Dippels Studienzeit versah Johann Heinrich May das Amt des E p h o rus. Während des schwelenden Streites um die Collegia pietatis war er nach und nach befördert worden und hatte neben anderen Amtern gegen Ende des Jahres 1690 das des Leiters der Stipendiatenanstalt erhalten. 55 Als solcher war er fur Dippel während seiner ersten vier Semester eine wichtige Persönlichkeit, der er kaum aus dem Weg gehen konnte. U n d May war sich der Chancen wohl bewusst, die ihm das neue Amt neben seiner Professur in Theologie und der in Orientalistik bescherte. Hier hatte er die Möglichkeit, eine ganze Generation von künftigen Pfarrern der Landgrafschaft dem Pietismus zuzuführen. May versuchte, Speners Reformprogramm, in dem einer Neugestaltung des Theologiestudiums besondere Bedeutung zukam, an der Gießener Universität und insbesondere in der Stipendiatenanstalt durchzuführen. U m zu verstehen, dass die Stipendiatenanstalt aus dem Blickwinkel des Ephorus eine ungeheure Chance bildete, muss man sich die Bedeutung der Pfarrerausbildung im Pietismus vor Augen halten. Drei der sechs Besserungsvorschläge der Pia desideria, von denen sich Spener eine umfassende Erneuerung der Kirche versprach, zielten auf eine Besserung der Pfarrerschaft. Bei den übrigen Vorschlägen sollten die Pfarrer eine Änderung ins Werk setzen. 56 Entsprechend hatte der Pietismus höchstes Interesse an der Theologenausbildung. Sie sollte nicht mehr auf der theologischen Kontrovers- und Streitlust aufbauen, sondern sich auf die Bibel konzentrieren und auf das, was der Erbauung diente. 57 W i e sehr May an einer umfassenden R e f o r m des Theologiestudiums gelegen war, zeigt seine Leichenpredigt mit dem Titel Von des Studii Theologici rechten Zweck und Mitteln vom 18. Februar 1695, die er 1699 herausgab. 58 Die meisten zukünftigen Pfarrer studierten nach May an den Universitäten aus falschen Motiven und auf eine falsche Weise. Sie wollten sich durch ihr
54
Vgl. D I E H L , Geschichte der Stipendiatenanstalt,
55
U A G , T h e o l K 3 , May, Nr. 8; vgl. auch MACK, Pietismus und Friihaufklärung, 4 2 . 4 5 .
51-54.
56
Pia desideria,
53ff.; vgl. auch MARTIN SCHMIDT, Das pietistische Pfarrerideal, 2 1 2 - 2 1 4 ,
und JOHANNES WALLMANN, D e r Pietismus
46f.
Innerhalb der sechs R e f o r m v o r s c h l ä g e in Speners Pia
desideria
n i m m t deijenige, der die
R e f o r m des Theologiestudiums behandelt, den breitesten R a u m ein. A u c h innerhalb Speners umfangreicher Korrespondenz spielen Vorschläge zu dieser R e f o r m eine große R o l l e (MARTIN BRECHT, Philipp Jakob Spener und die R e f o r m des Theologiestudiums, 9 5 ) . 57
BRECHT, Philipp Jakob Spener und die R e f o r m des Theologiestudiums, 9 6 f . 1 0 4 f . Vgl.
auch FERDINAND COHRS, Art. »theologisches U n t e r r i c h t s - und Bildungswesen«, in: R E 3 , Bd. 20, 3 0 8 . 58
Abgedruckt in: Die allerbäste
Weißheit
der Christen
insgemein,
91-132.
63
Studium fur eine gut bezahlte und bequeme Stelle qualifizieren und meinten, »sie könten durch menschlichen Fleiß/ frequentierung der Collégien/ disputieren/ predigen u. s. f.« das lernen, was im Pfarramt wichtig sei.59 Dagegen sieht May als Ziel des Theologiestudiums einen erwecklichen Glauben und eine durch den Heiligen Geist gewirkte innere Erleuchtung. 60 U m beides zu erlangen, sollen die Theologiestudenten erstens ihre »Welt Förmigkeit« ablegen, weil »die Weißheit ... nicht in eine boßhafftige Seele [kommt] und ... nicht in einem Leibe/ der Sünden unterworfFen« ist, wohnt. 61 Als zweites und drittes Mittel, um den wahren Glauben und die innere Erleuchtung herbeizuführen, werden »das herzliche Gebeth« und das meditative Studium der Schrift genannt. 62 Das Schwergewicht fur die Theologenausbildung sieht May im Schriftstudium, das nicht oberflächlich geschehen soll, sondern in einer Weise, dass Christus »in uns eine Gestalt gewinnen und in unser Hertz gedruckt werden« kann, wodurch der Hörer des göttlichen Wortes »gleichsam vergöttert« werde. 63 May schloss sich Speners Betonung der Exegese für die Theologenausbildung an 64 und hatte deshalb innerhalb der Stipendiatenanstalt Lektionen in der Heiligen Schrift eingerichtet, die mit Sicherheit im Sinne des Pietismus genutzt wurden. Sie dienten höchstwahrscheinlich zur Vorbereitung auf die Stipendiatenexamina, die May bereits 1690 völlig abgeändert hatte. Bisher sollten bei diesen Examina die Kollegien geprüft werden, die der Prüfling im vergangenen Semester gehört hatte. May machte daraus ein reines Examen exegeticum. 65 Möglicherweise wurden die zur Vorbereitung dieser Examina dienenden Lektionen in der Heiligen Schrift nicht allein von May, sondern auch von den beiden Stipendiatenmajoren abgehalten, 66 jedenfalls musste Dippel trotz seiner orthodoxen Gesinnung an diesen Veranstaltungen der Stipendiatenanstalt teilnehmen. So hat er im Sommersemester 1691 wahrscheinlich an einer Lektion über den R ö m e r brief, im Wintersemester 1691/1692 an einer über das Lukasevangelium, im Sommersemester 1692 wieder an einer über den Römerbrief und schließlich im Wintersemester 1692/1693 an einer Lektion über die Ge59
Die allerbäste Weißheit der Christen insgemein, 98. Die allerbäste Weißheit der Christen insgemein, 105f. Vgl. auch a.a.O., lOOff. 6 ' Die allerbäste Weißheit der Christen insgemein, 114 f. 62 Die allerbäste Weißheit der Christen insgemein, 118 f. 121 f. 63 Die allerbäste Weißheit der Christen insgemein, 123f. Vgl. auch zur Wichtigkeit des Schriftstudiums fiir das T h e o l o g i e s t u d i u m , a.a.O., 125f. Z u m Verständnis der »Vergötterung« vgl. MARTIN SCHMIDT, Teilnahme an der göttlichen Natur. 64 Die allerbäste Weißheit der Christen insgemein, 1 2 1 - 1 2 6 . 65 DIEHL, Geschichte der G i e ß e n e r Stipendiatenanstalt, 71. 66 Vgl. BECKER, D e r Ü b e r g a n g der Marburger Stipendien nach Gießen, 63. N a c h der d o r t abgedruckten ältesten G i e ß e n e r Stipendiatenordnung von 1605 sollte sich ein Stipendiat w ä h rend seines G r u n d s t u d i u m s j e d e n Tag für eine Stunde mit seinem M a j o r »ad repetitionem« treffen. Möglicherweise w u r d e diese B e s t i m m u n g im Laufe der Z e i t u m g e ä n d e r t zur Teiln a h m e an d e n L e k t i o n e n in der Heiligen Schrift. 60
64
nesis teilgenommen, zumindest wurde er über diese biblischen Schriften geprüft. 67 Aber auch im Hinblick auf die Erbauung des inneren Menschen hatte May die Stipendiatenanstalt im Sinne des spenerschen Reformprogramms umgestaltet. So hatte er beispielsweise die Andachten, die bei den täglichen Mahlzeiten gehalten wurden, im Sinne des Pietismus gestaltet. 68 In den auf Erbauung ausgerichteten Reformvorschlägen Speners zeigt sich, dass das Ziel der pietistischen Pfarrerausbildung nicht Wissensvermittlung war, sondern Bekehrung der Kandidaten und Erziehung zu einem gottgefälligen Leben. 69 In diesem Sinne wird May auch die monatlichen Gespräche genutzt haben, die er in seiner Funktion als Stipendiatenephorus mit den Beneficarii über Studiengang und -planung führen sollte.70 May fand in seinen Bemühungen, die Stipendiaten für den Pietismus zu gewinnen, Unterstützung durch Philipp Georg Wicht 71 , den späteren Pietistenführer der Obergrafschaft, der auch in den Streit um die Collegia pietatis als Bundesgenosse Mays verwickelt war. 72 Wicht war vom Sommersemester 1691 bis zum Wintersemester 1692/1693 Stipendiatenmajor und hat in dieser Funktion Dippel möglicherweise Anstöße für seine theologische Entwicklung in den ersten Studienjahren gegeben. Neben Wicht versah während Dippels Studienzeit noch Johann Kaspar Petri das Amt eines Stipendiatenmajors. 73 Dippel konnte sich als Stipendiat gar nicht der Beeinflussung durch den Ephorus und seine Helfer entziehen. Uber das in der Stipendiatenanstalt Dargebotene hinaus, wird er bei May zudem noch Lehrveranstaltungen besucht haben. Als Professor für orientalische Sprachen war dieser ja einer von vier Professoren der philosophischen Fakultät, deren Lektionen und 67
Akten der Stipendiatenanstalt (UAG, AUg 1408), fol. 425. 430. 432. 434. DIEHL, Stipendiatenanstalt, 71-73. Vgl. MARTIN SCHMIDT, Speners Pia Desideria, 139-141. 70 DIEHL, Geschichte der Stipendiatenanstalt, 52. Wie diese Gespräche tatsächlich verlaufen sind, ist natürlich nicht mehr festzustellen. Doch wenn man bedenkt, dass nach Speners Vorschlägen zur R e f o r m des Theologiestudiums die Professoren sich um das Leben der Studenten kümmern und sie, wenn nötig, seelsorgerlich ermahnen sollten (BRECHT, Philipp Jakob Spener und die R e f o r m des Theologiestudiums, 98f. 101; SCHMIDT, Das pietistische Pfarrerideal, 224), kann man sich vorstellen, wie May diese Gespräche geführt hat. 71 Zu Wicht vgl. WILHELM DIEHL, Beiträge zur Geschichte des Pietismus in der Obergrafschaft, 319-322, und HEINRICH STEITZ, Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, 205 f. Wicht erhielt später eines der fünf ersten Exemplare von Dippels radikalpietistischer Schrift Wein und Oel (s.u. S. 247). 68
69
72
Vgl. KÖHLER, D i e A n f ä n g e des Pietismus, 5 9 - 6 1 . 6 3 .
73
Akten der Stipendiatenanstalt (UAG, Allg 1408), fol. 425. 430. 432. 434. Vgl. auch DIEHL, Stipendiatenbuch, 35. Danach war Petri der Sohn eines Gießener Schuhmachers und hatte zwischen 1689 und 1700 das Amt des Stipendiatenmajors inne. Über seine Biographie und theologische Einstellung konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Es ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er Pietist war. Sonst hätte er seine Stelle in der von Johann Heinrich May geleiteten Stipendiatenanstalt sicher nicht so lange behalten.
65
Kollegien fìir einen k ü n f t i g e n T h e o l o g i e s t u d e n t e n von Interesse waren. Es ist fast u n d e n k b a r , dass D i p p e l die Lehrveranstaltungen von M a y einfach unberücksichtigt ließ, zumal May ü b e r Studiengang u n d - p l a n u n g m i t j e d e m Stipendiaten m o n a t l i c h sprechen sollte.
Das
Grundstudium
Dippel musste mit d e m philosophischen G r u n d s t u d i u m b e g i n n e n , dessen Abschluss die Voraussetzung fìir das S t u d i u m der drei Fächer T h e o l o g i e , Jura u n d Medizin bildete. In der Artistenfakultät sollten traditionell die artes liberales gelehrt werden, zu d e n e n i m Mittelalter Grammatik, R h e t o r i k , Dialektik, A r i t h m e t i k , G e o m e t r i e , Musik u n d Astronomie gehörten. 7 4 D i e Vorlesungsverzeichnisse der G i e ß e n e r Universität lassen n o c h erkennen, dass in der philosophischen Fakultät die artes liberales gelehrt w u r d e n . G r a m matik u n d R h e t o r i k waren wahrscheinlich d e m Professor f ü r E l o q u e n z z u geordnet, Dialektik oblag w o h l d e m fìir Logik. Arithmetik, G e o m e t r i e u n d Astronomie lehrte der Professor f ü r M a t h e m a t i k . U b e r die sieben freien Künste hinaus w u r d e n an der G i e ß e n e r Universität n o c h Geschichte, o r i e n talische Sprachen, Metaphysik, Moral, N a t u r r e c h t u n d Physik gelehrt. 7 5 U b e r Dippels G r u n d s t u d i u m ist w e n i g b e k a n n t u n d außer den dürftigen A n g a b e n i m Lebens-Lauff lassen sich k a u m Q u e l l e n finden, die etwas ü b e r diese Zeit aussagen. Eine B e m e r k u n g von J o h a n n H e i n r i c h May in e i n e m Brief an seinen Landgrafen v o m 27. M ä r z 1699 w u r d e v o n Diehl auf das gesamte f r ü h e S t u d i u m Dippels, d . h . bis 1694 hin gedeutet. 7 6 M a y hatte b e h a u p t e t , D i p p e l habe »kein einziges Collegium Theologicum bey mir gehalten und [sei] nie mein Auditor [gewesen], so lange aber als M. Schlosser alhier war [d.h. bis 1695], [sei er] mein feind gewesen [und habe] meiner Information sich niemahls bedienet«. 77 Aus dieser A n g a b e aber zu schließen, D i p p e l hätte sich von L e k t i o n e n u n d Kollegien 7 8 pietistisch g e s o n n e n e r Professoren völlig ferngehalten, ist v e r fehlt. May n i m m t bewusst H a l b w a h r h e i t e n 7 9 u n d sogar eine Falschaussage 80 74
HANS WOLTER, Art. »Artes liberales«, in: R G G 3 , Bd. 1, 636. Vgl. die Gießener Vorlesungsverzeichnisse (UAG, AUg 1535). 76 DIEHL, Neue Beiträge, 142. 77 StADa, E 6B 5/3, fol. 84; mit kleineren Abweichungen abgedruckt bei DIEHL, Neue Beiträge, 142. 78 Z u r Unterscheidung zwischen Privatkollegs und öffentlichen Vorlesungen vgl. EWALD HORN, Kolleg und Honorar, 13 ff. 20. 79 Die Aussage, dass Dippel bei ihm keine theologische Lehrveranstaltung besucht habe, ist wohl korrekt, verschweigt aber, dass dieser bei ihm zumindest eine Lehrveranstaltung innerhalb des philosophischen Grundstudiums besuchte, die sich mit einem theologischen Thema befasste (s.u. S. 67f.). 80 Dass sich Dippel niemals der Information Mays bedient hatte, ist falsch (s.u. S. 67-69). 75
66
in Kauf, u m sich von der gegen ihn erhobenen Anschuldigung zu befreien, der vor dem Konsistorium angeklagte Radikalpietist Dippel sei sein Schüler gewesen. Dippel will sich nach seinem Lebens-Lauff entschieden auf die Seite der O r t h o d o x e n gestellt u n d eifrig gegen die Pietisten gestritten haben. 8 1 An dieser Darstellung ist richtig, dass der aus einer d e m Luthertum eng verbundenen Familie stammende u n d auf dem Darmstädter Pädagog von orthodoxen Lehrern erzogene Dippel sich auf die Seite der O r t h o d o x e n stellte. Aber die Aussage in der autobiographischen Skizze darf nicht so verstanden werden, als ob er sich völlig von Lehrveranstaltungen der Pietisten ferngehalten hätte. Zumindest ist seine Teilnahme an einer Lektion Mays nachweisbar. Als Professor flir orientalische Sprachen bot dieser fur das Sommersemester 1692 u n d das Wintersemester 1 6 9 2 / 1 6 9 3 eine Vorlesung an, in der er sich kritisch mit einer Schrift des Franzosen Richard Simon 8 2 auseinander setzte. Innerhalb dieser gegen den Franzosen gerichteten Vorlesung ließ May die Studenten jeweils über eine von ihm verfasste Abhandlung öffentlich disputieren. 8 3 Z u den Studenten, die unter dem Vorsitz Mays öffentlich dessen Ansichten verteidigten, gehörte auch D i p pel! Er musste am 16. Juli 1692 Mays Anschauungen zur Textkritik verteidigen, die sich gegen den Versuch Simons richteten, durch die handschriftliche Überlieferung der Schriften zum ursprünglichen Text des N e u e n Testaments zu gelangen und darüber hinaus Rückschlüsse auf die Entsteh u n g biblischer Bücher im Sinne der Literaturwissenschaft zu ziehen. Diese Exegese des Franzosen wird als unerlaubter Versuch gesehen, die Geltung der neutestamentlichen Schriften zu schmälern. Die zu verteidigenden Abhandlungen waren von May selbst verfasst worden. Dieser gab 1694 seine innerhalb der zweisemestrigen Lehrveranstaltung entstandenen Aufsätze gegen Richard Simon unter d e m Titel Examen historiae criticae textus Novi Testamenti a P. Richardo Simonio heraus. 8 4 W i e
81
I, 3 8 0 f. R i c h a r d S i m o n ( 1 6 3 8 - 1 7 1 2 ) gilt als d e r B e g r ü n d e r d e r h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e n E i n l e i t u n g s w i s s e n s c h a f t e n . In seiner Histoire critique des N T ( 1 6 8 9 - 1 6 9 3 ) v e r s u c h t e er z u m u r s p r ü n g l i c h e n Text des N T s v o r z u d r i n g e n , i n d e m er sich d e r h a n d s c h r i f t l i c h e n Ü b e r l i e f e r u n g (Textkritik) z u w a n d t e . D a b e i stellt er die Unzuverlässigkeit d e r h a n d s c h r i f t l i c h e n U b e r l i e f e r u n g heraus, w o m i t er b e w e i s e n will, dass die Bibel n i c h t als einzige O f F e n b a r u n g s q u e l l e g e l t e n dürfe. A u ß e r d e m v e r s u c h t e er die E n t s t e h u n g e i n z e l n e r ntl. S c h r i f t e n zu e r f o r s c h e n . B e m e r k e n s w e r t an seinen exegetischen S c h r i f t e n ist die Tatsache, dass er die Bibel als L i t e r a t u r w e r k 82
b e t r a c h t e t (EDUARD R E U S S u n d EBERHARD NESTLE, A r t . » S i m o n « , i n : R E 3 , B d . 18, 3 6 2 f . ;
WERNER GEORG KÜMMEL, D a s N T . G e s c h i c h t e d e r E r f o r s c h u n g seiner P r o b l e m e , 4 1 - 4 3 . ; DERS.: E i n l e i t u n g ,
7; H A N S - J O A C H I M
KRAUS, G e s c h i c h t e
der historisch-kritischen
Erfor-
s c h u n g , 6 5 - 7 0 ; LUDWIG DIESTEL, G e s c h i c h t e des A l t e n Testamentes, 3 5 2 - 3 5 4 ) . 83 Vgl. d i e Vorlesungsverzeichnisse d e r L u d o v i c i a n a z u m S o m m e r s e m e s t e r 1 6 9 2 (UAG, Allg 1535). 84 D i e A b h a n d l u n g , d i e sowohl D i p p e l als a u c h ein w e i t e r e r S t u d e n t v e r t e i d i g e n m u s s t e n , b e f i n d e t sich a.a.O., 3 8 5 - 4 1 3 .
67
sehr sich Dippel mit den Gedanken Mays identifizierte, ist schwer zu sagen, da in der damaligen Disputationspraxis inhaltliche Fragen wenig Bedeutung hatten. Stattdessen sollten die Studenten Schlagfertigkeit und U b e r zeugungskraft lernen. 8 5 Eine spätere Äußerung lässt vermuten, dass Dippel teilweise von Richard Simons Standpunkt beeindruckt war. Die Verbalinspirationslehre der Orthodoxie lehnte er nämlich 1698 in seiner Schrift Papismus Protestantium vapulans ab. Gleichzeitig sieht er allerdings die von Simon vertretene Textkritik als Torheit an, weil sie sich nur mit dem toten Buchstaben beschäftige. 86 Nach eigener Aussage war Dippels wichtigster Lehrer der von Johann Heinrich May im obigen B r i e f erwähnte orthodoxe Professor Philipp Casimir Schlosser (1658—1712), der Bruder des Lehrers auf dem Darmstädter Pädagog. B e i Schlosser, der als Schüler Kilian Rudrauffs und Heinrich Phasians selbst der Gießener Philosophietradition entsprungen war, hat Dippel zweifellos mehrere Lehrveranstaltungen gehört. Schlosser hat selbst keine Lehrbücher geschrieben und verwendete in seinen Vorlesungen wahrscheinlich die Schriften seines Lehrers und Vorgängers Kilian Rudrauff. Für seine Vorlesungen im Sommersemester 1692 und im Wintersemester 1693/1694 verwandte er nachweislich Lehrbücher Abraham Calovs, eines typischen Dogmatikers der Orthodoxie. 8 7 Lehrbücher waren für die damalige Vorlesungstätigkeit unabdingbar und bildeten die Grundlage der Vorlesungen. Aus ihnen las der Professor einen Abschnitt vor, um anschließend erklärende Bemerkungen hinzuzufügen. 88 Es ist wahrscheinlich, dass Schlosser in seinen Logikvorlesungen im Sinne seines Lehrers Rudrauff gegen Descartes polemisierte 89 und dass Dippel bereits innerhalb dessen Lehrveranstaltungen diese moderne Philosophie kennen lernte und ablehnte. Die Kritik an Descartes, die sich hier allerdings mit einer H o c h schätzung der herkömmlichen aristotelischen Metaphysik verbunden hatte, ist wohl der einzige Punkt gewesen, den Dippel von seinen der Orthodoxie verpflichteten Gießener Lehrern lernte und auch später noch vertrat. N e ben Schlosser wird Dippel auch bei Heinrich Phasian 90 (1633—1697), dem Professor für Eloquenz und Geschichte Lehrveranstaltungen besucht ha-
85 Vgl. BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 147 f. Bevor ein Student öffentlich disputierte, eignete er sich zuvor die nötigen Fähigkeiten bei Privatdisputationen und in Deklamationsübungen an (vgl. BECKER, a.a.O., 1 4 8 - 1 5 4 ) . 86 I, 182. 87 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse (UAG, Allg 1535). Zu Calov, der bereits gegen die ersten Anfange der Aufklärung stritt, vgl. FRANZ LAU, Art. »Calov«, in: R G G 3 , Bd. 1, 1587. Vgl.
a u c h JOHANNES WALLMANN, A r t . »Calov«, in: T R E ,
B d . 7, 5 6 3 - 5 6 8 , und JÖRG BAUR, Art.
»Calov«, in: R G G 4 , Bd. 2, 15f. 88 Vgl. BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 143f. 89 Rudrauffs Lehrbuch Errans philosophia prima von 1670 wandte sich bereits gegen die moderne Philosophie des Descartes (MAX WUNDT, Die deutsche Schulmetaphysik, 125). 90 Vgl. zu diesem STRIEDER, GHGSG, Bd. 11, 3 3 - 3 6 .
68
ben. Unter dessen Aufsicht hielt er später im Rahmen seiner Magisterpromotion eine öffentliche Redeübung. Die von Phasian verfasste Einladung zeigt, wie sehr er Dippel schätzte.91 Phasian hatte sich den Gießener Orthodoxen angeschlossen, besaß allerdings durchaus Interesse an Fragestellungen des Pietismus, wie zwei von ihm verfasste Leichenpredigten zeigen. 92 Daneben ist es wahrscheinlich, dass Dippel bei dem Professor für Mathematik, Balthasar Mentzer III 93 (1651-1727), einem Nachkommen der gleichnamigen Theologen, im Wintersemester 1693 eine Vorlesung über Astronomie hörte, 94 da er zu Beginn des Straßburger Studienjahres 1695 bereits Kenntnisse in Astrologie besaß, die damals von der Astronomie kaum unterschieden war. 95 Mentzer, der zur orthodoxen Fraktion des Gießener Lehrkörpers gehörte, war an Astronomie recht stark interessiert, wie die Bibliographie seiner Schriften bei Strieder zeigt. Vier von seinen dort aufgeführten 15 Titeln beschäftigten sich mit dieser Wissenschaft. 96 Obwohl Dippel vor allem bei Vertretern der Orthodoxie Lehrveranstaltungen besuchte, müssen wir davon ausgehen, dass der aufgehende Stern des Pietismus nicht ohne Einfluss auf seine theologische Entwicklung bereits in den ersten Studienjahren geblieben ist. Während dieser Zeit war Dippel in der Stipendiatenanstalt täglich mit pietistischer Frömmigkeit konfrontiert worden. Bei den Mahlzeiten musste er im pietistischen Sinne gehaltenen Andachten zuhören. An mindestens einer Lehrveranstaltung Johann Heinrich Mays hatte er teilgenommen, die nach den Statuten an vier Wochenstunden abgehalten werden musste. 97 Außerdem hatte er wahrscheinlich vier Semester lang die Lektionen in der Heiligen Schrift innerhalb der zur pietistischen Ausbildungsstätte umfunktionierten Stipendiatenanstalt besuchen müssen. Schließlich war sein Studiengang durch den Ephorus und einen der Stipendiatenmajoren regelmäßig überprüft worden. Somit ist Dippel bereits während der ersten Semester seines Studiums nicht nur mit dem Pietismus intensiv in Berührung gekommen, sondern wohl auch von diesem beeinflusst worden. Allerdings war Dippel deshalb noch lange kein Pietist. Seine Aussage im Lebens-Laujf, dass er sich eindeutig auf die Seite der Orthodoxie schlug und 91
Multa quidem sunt (*26 unter A 56455, fol 99). Es handelt sich u m die anlässlich des Todes J o h a n n R i c h a r d Malcomesius' im Jahre 1692 gehaltene Leichenpredigt mit d e m Titel Das seelige Schweigen der Kinder Gottes (vgl. hier v. a. 6. 8. 18 f. 21. 23) u n d die z u m G e d e n k e n an Michael Heyland von 1693 mit d e m Titel Desiderium piorum unicum, der glaubigen Kinder Gottes eintziges Verlangen (vgl. hier v.a. 4. 12). 93 Vgl. zu diesem STRIEDER, G H G S G , Bd. 8, 4 5 4 - 4 5 6 . 94 Vgl. das Vorlesungsverzeichnis v o m Wintersemester 1693 (UAG, Allg 1535). 92
95
Vgl. FRANZ STRUNZ u n d CARL-MARTIN EDSMANN, Art. »Astrologie«, in: R G G
3
, Bd.
1,
664-666. 96
STRIEDER, G H G S G ,
B d . 8,
454-456.
97
Vgl. BECKER, Das erste halbe J a h r h u n d e r t , 139; allerdings ist damit zu rechnen, dass die Vorlesungen ab u n d zu ausfielen, da die Professoren ihre Verpflichtungen damals nicht allzu ernst g e n o m m e n haben.
69
den Pietisten »durch allerley Wege ... [seine] Feindschafft zu erkennen gab«, 98 ist sicherlich korrekt, ebenso wie die Aussage Mays, dass Dippel sein Feind - also Vertreter einer kontroversen theologischen R i c h t u n g — gewesen sei. Da Dippel während seiner Studienzeit in Gießen v o m Pietismus nicht gänzlich unbeeinflusst blieb, sah er schon damals, »wo der Schuh auf beyden Seiten druckte, u n d daß weder die O r t h o d o x i n o c h die Pietisten ü b e r all rein währen«. 9 9 Aber er wollte damals nicht einen Standpunkt zwischen den rivalisierenden theologischen R i c h t u n g e n einnehmen, weil er solche Gedanken als Produkte seiner eigenen Furcht ansah, eventuell selbst mit der O r t h o d o x i e an Ansehen zu verlieren, deren Stern am untergehen war. Diese Gedanken, an die er sich später als Radikalpietist als von Gott geschenkte Einsichten erinnerte, schienen i h m während seines Grundstudiums in Gießen aus unlauteren Motiven entstanden: »So wolte es mir doch ... ein gewisses Argument einer heuchlerischen Furcht seyn, wo ich mir nur solte neutral verhalten«. 100 D e m wachsenden Einfluss des Pietismus an der Universität wollte sich Dippel also nicht anschließen. Stattdessen fühlte er sich der immer schwächer werdenden Opposition zugehörig, zu der ein Teil des Lehrkörpers u n d der geringere Teil der Studentenschaft zählte. Er berichtet in seinem Lebens-Lauff, dass er in dem Vorhaben, sich als rechtschaffener O r t h o d o x e r zu erweisen, »den Pietisten zu Trutz, alle liederliche[n] Gesellschafften« besuchte. 1 0 1 Allerdings darf man sich diese Z u s a m m e n k ü n f t e nicht allzu exzessiv vorstellen, w e n n man die Tendenz der Schrift berücksichtigt. A u ß e r dem gibt eine Stelle im zweiten Kapitel der Abfertigung der absurden Prahlerey zu bedenken, dass Dippels Studentenjahre nicht ausschweifender als üblich gewesen sind. Hier schreibt Dippel, wie sehr ihn die oben geschilderte Kindheitsvision beeindruckt habe, bis dahin, dass sie »ihn in denen grossesten Versuchungen u n d unter denen gefährlichsten C o m p a n i e n allezeit zuvor vor groben Excessen ... erschreckt u n d bewahret hatte«. 102 Außerdem waren seine finanziellen Verhältnisse nicht dazu angetan, ein Leben in Saus 9
8 I, 381. Lebens-Lauff, I, 381. 100 ubens-Lauff, I, 381. An gleicher Stelle wird noch ein zweiter Grund für Dippels standfestes Beharren in der Orthodoxie genannt: Angeblich will ihn die Furcht, dass »die Leute, die mich sonst wegen meiner standhafftigen Hadiesse (Kühnheit) mit Verwunderung ansahen, alsobald muthmassen [würden], ich schickte mich, wegen zeitliches Interessefs], in die Zeit und lernete allgemach heucheln«, dazu veranlasst haben, sich im Streit zwischen Orthodoxie und Pietismus neutral zu verhalten. Hier muss allerdings die Tendenz des Lebens-Lauffs berücksichtigt werden, das frühere Leben lächerlich zu machen. Dass die Angst vor dem Urteil der Leute und nicht die eigene Überzeugung dazu gefuhrt haben soll, dass Dippel ein Vertreter der Orthodoxie geblieben ist, kann nur dieser Tendenz entspringen. 101 I, 381. ">2 III, 553. 99
70
u n d Braus zu fuhren. W e n n man bedenkt, dass sein Vater n o c h mindestens einen weiteren in der Ausbildung befindlichen Sohn unterhalten musste, kann man davon ausgehen, dass Dippel, abgesehen von kleineren Z a h l u n gen des Vaters, fast vollständig auf die geringe S u m m e seines Stipendiums angewiesen war u n d ein verhältnismäßig normales Studentenleben führen musste. Die von Dippel als liederlich bezeichneten Gesellschaften waren wohl Z u s a m m e n k ü n f t e mit seiner Landsmannschaft, bei denen Alkoholkonsum, R a u c h e n , Tanzen, Duellieren sowie Krawall zum guten Ton gehörten, 1 0 3 wobei Dippel, wie er selbst im zweiten Kapitel der Abfertigung der absurden Prahlerey bekennt, sich von »groben Excessen« stets ferngehalten hat. Alkoholkonsum, R a u c h e n und Tanzen waren Dinge, die im Pietismus als weltlich gebrandmarkt wurden. 1 0 4 Aus der Sicht des späteren Radikalpietisten waren solche normalen studentischen Gesellschaften also »liederlich«. Sie erschienen Dippel nach der H i n w e n d u n g zum Pietismus u m so liederlicher, als dort ein studentisches Ehrgefühl herrschte u n d Duelle ausgetragen wurden, was die Pietisten verwarfen. 1 0 5 Fechten hat Dippel wohl ebenfalls während seines Grundstudiums in Gießen bei einem eigens dazu angestellten Hilfslehrer gelernt. Das Tragen eines Degens war ihm nach dem Abschluss des Pennaljahres erlaubt. Dippel muss sich im Fechten als sehr gewandt erwiesen haben, denn während seines Straßburger Studienjahres sollte ihm wegen seines Mutes, den er dabei an den Tag legte, eine Karriere als Offizier angeboten werden. 1 0 6 Interessant ist das Ziel, das Dippel nach seinem Lebens-Lauff mit der Teiln a h m e an solchen Gesellschaften verband, in zweierlei Hinsicht. Z u m ei-
103 A l k o h o l k o n s u m war damals i m d e u t s c h e n G e l e h r t e n s t a n d weit verbreitet; vgl. BECKER, Das erste halbe J a h r h u n d e r t , 134 f. Z u Dippels S t u d i e n z e i t scheinen die G i e ß e n e r S t u d e n t e n n o c h ausgelassener gewesen zu sein als f r ü h e r , w i e das Verbot des Saufens, d e r V e r m u m m u n g , des Balgens u n d T u m u l t i e r e n s v o m 9. August 1 6 9 3 beweist, das später n o c h m e h r m a l s w i e d e r h o l t w e r d e n musste (HERMAN HAUPT u n d GEORG LEHNERT, C h r o n i k der Universität G i e ß e n , 377). Z u m S t u d e n t e n l e b e n vgl. a u c h BECKER, Das erste halbe J a h r h u n d e r t , 1 7 8 f f . , u n d H . LEX, G i e ß e n e r S t u d e n t e n l e b e n i m 17. J h . 104
Z u r K r i t i k a n ü b e r m ä ß i g e m A l k o h o l k o n s u m , vgl. PHILIPP JAKOB SPENER, Pia
desideria,
2 8 f . Z u m R a u c h e n vgl. Dippels A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t D r . C h r i s t i a n Weissmann ( P s e u d o n y m : W o h l g e m u t h ) in d e n Personalia (III, 147f.). Z u m T a n z e n vgl. d e n Streit z w i s c h e n d e m späteren G i e ß e n e r Professor J o h a n n C h r i s t i a n Lange, d e r m i t G o t t f r i e d A r n o l d z u s a m m e n n a c h G i e ß e n k a m (s.u. S. 186 f.), u n d J o h a n n N i k o l a u s Frey w e g e n des Tanzens. Für d e n P i e tisten Lange war das T a n z e n unsittlich (WILHELM DIEHL, Aus d e n A k t e n des G i e ß e n e r T a n z streits). ios Vgl. SPENER, Pia desideria, 30, w o er R e c h t s p r o z e s s e als I n s t r u m e n t der R a c h e u n d H a b gier verwirft. U m wieviel m e h r mussten Spener die D u e l l e z u w i d e r sein, die ja v o n d e r O b rigkeit v e r b o t e n w a r e n , d e r seiner M e i n u n g n a c h G o t t »ihre scepter u n d regiments-stäbe darzu g e g e b e n / u m b sich ihres gewalts zu seines R e i c h s b e f b r d e r u n g z u g e b r a u c h e n « (a.a.O., 14). 106 S. u. S. 107. Vgl. a u c h die Abfertigung der absurden Prahlerey; III, 551, u n d d e n LebensLauff, I, 381. Vgl. a u c h OTTO BUCHNER, Kleine n e u e Beiträge z u r älteren G e s c h i c h t e d e r H o c h s c h u l e G i e ß e n , 39 f.
71
nen, dass er diese »den Pietisten zu Trutz« besuchte! Daraus kann geschlossen werden, dass sich die Gießener Studentenschaft bis in den äußerlichen Lebensstil hinein gespalten hatte. Pietistische und orthodoxe Studenten unterschieden sich darin, dass die einen zu solchen studentischen Gesellschaften gingen, die die anderen mieden und stattdessen beispielsweise lieber an den Erbauungsstunden des Pietisten May teilnahmen. 107 Durch das Beispiel der pietistischen Studentenschaft und den Einfluss des Pietismus bereits während seines Grundstudiums gefördert, wird es während der ersten Studienjahre Momente gegeben haben, in denen Dippel sein Lebensstil fraglich wurde. 108 Doch dürfen solche Selbstzweifel nicht überschätzt werden, da sie nicht ausreichten, sein Leben nachhaltig zu ändern. Z u m anderen aber wollte sich Dippel durch die Teilnahme an solchen Gesellschaften als rechtschaffener Lutheraner erweisen. Dippel hatte Angst, in irgendeiner Weise mit dem Pietismus identifiziert zu werden. Wenn seine Lebensweise seine orthodoxe Gesinnung zu erweisen hatte, muss er bereits begonnen haben, sich entgegen allem Anschein innerlich von der Orthodoxie zu distanzieren. Doch dem Pietismus wollte er sich nicht öffnen. Dass Dippel sich bereits von seinen orthodoxen Mitstreitern innerlich unterschied, zeigt auch seine Aussage über den Umgang mit seinen Gewissensbissen wegen des Besuchs studentischer Zusammenkünfte. Er wollte Gott alles »durch Beten und Singen abkauffen«, was er aber so heimlich tat, »daß michs vielmehr erschröckte, wo mich einer beym Gebet ertappte, als wann ich auf einer groben Laster That ergriffen war worden so sehr förchtete ich auch nur den N a m e n und das Ansehen der Pietisterey«. 109
Der Pietismus schien Dippel also während seines Grundstudiums noch keine verlockende Alternative zur Orthodoxie zu sein. Mit ihm wollte er vielmehr überhaupt nichts zu tun haben.
Die
Magisterpromotion
Zu Beginn des Jahres 1693 entschloss sich Dippel, nach Zureden von Seiten seiner »Gönner« 110 , zum Magister zu promovieren. Der Magistertitel sollte ihm als Fundament für eine eventuelle wissenschaftliche Laufbahn dienen, »weilen keiner Magistros creiren (machen) könne [,] als der selbst 107 Dippel n e n n t den pietistischen Lebensstil »eingezogenes Leben« (I, 381). »Eingezogenes Leben« bezeichnete nach AUGUST LANGEN (Wortschatz des Pietismus, 155f.) i m Pietismus eine G o t t zugewandte Lebensweise. ios Wegen des Besuchs angeblich liederlicher Gesellschaften will Dippel »unaufhörlich von G o t t in m e i n e m Gewissen gezüchtigt« w o r d e n sein (Lebens-Lauff, I, 381). 109 I, 381. 1,0 I, 381. H i e r ist in erster Linie an Philipp Casimir Schlosser zu denken.
72
einer ist«. 111 Die Magisterpromotion bildete zugleich den Abschluss seines Grundstudiums. Für den Erwerb des Magistertitels musste Dippel zunächst in einer Disputation Thesen verteidigen, die er höchstwahrscheinlich selbst aufgestellt hatte, 1 1 2 und fur die er als T h e m a das Nichts wählte. W i e er dazu kam »de nihilo« zu disputieren, worüber sich auch der ihm freundlich zugetane orthodoxe Professor Philipp Casimir Schlosser wunderte, beschreibt Dippel in seinem Lebens-Lauff ironisch: Als ein völlig hochmütiger Mensch habe er nicht über etwas öffentlich sprechen wollen, worüber bereits ein anderer disputiert hätte. Als er darüber nachdachte, welches T h e m a diesem Anspruch gerecht würde, sei ihm »das bekannte Sprüchwort . . . [eingefallen]: Nihil dicitur, Q u o d non dictum sit prius«. 113 Obwohl das Sprichwort aussagt, dass über nichts gesprochen werden kann, über das nicht schon ein anderer zuvor etwas gesagt hätte, lieferte es Dippel ein Thema, das seinen A n forderungen genügte, denn über das Nichts hatte in Gießen wahrscheinlich noch niemand disputiert. Von den zehn Thesen 1 1 4 behandeln nur die ersten drei das Thema der Disputation, nämlich das Nichts. Anschließend werden noch andere Fragen aus dem Bereich der philosophischen Fakultät (artes liberales) angeschnitten wie Farbenlehre, Kometenentstehung, Ursache von Ebbe und Flut, R e c h t der Notwehr und die Beschaffenheit des Himmels. Insgesamt machen die Thesen einen völlig ungeordneten Eindruck, was sich nur teilweise dadurch erklären lässt, dass sie sich auf verschiedene Wissenschaftsgebiete beziehen. 1 1 5 Möglicherweise imitierte Dippel hier den Stil eines Philosophen, dessen Namen er später in seinen Schriften als Pseudonym gebrauchte: D e mokrit, dessen Sätze in ähnlicher Weise unzusammenhängend wirken. Für eine intensive Beschäftigung mit diesem Philosophen schon während des Grundstudiums spricht die Tatsache, dass Philipp Casimir Schlosser, Dippels wichtigster Lehrer während seiner Studienzeit in Gießen, Professor für Logik und Metaphysik war. Im Sommersemester 1693 war Schlosser in ei-
111
Lebens-Lauff,
1,2
D i e eigenständige Abfassung von T h e s e n durch e i n e n S t u d e n t e n war zur damaligen Z e i t
I, 3 8 2 .
n i c h t selbstverständlich. V i e l f a c h waren die T h e s e n selbst dann häufig von d e m Vorsitzenden Professor g e s c h r i e b e n w o r d e n , w e n n der R e s p o n d e n t die Disputation e i n e r h o c h gestellten Persönlichkeit w i d m e t e o d e r i m Titelblatt als A u t o r g e n a n n t wurde. D o c h die M a r b u r g e r U n i versitätsstatuten, die den G i e ß e n e r n als Vorbild d i e n t e n , verpflichteten zu e i n e m eigenständigen Abfassen von T h e s e n der Inauguraldisputation (EWALD H O R N , D i e D i s p u t a t i o n e n und P r o m o t i o n e n , 5 9 ; vgl. a . a . O . , 55£f. zur Frage nach der Autorenschaft von Disputationsthesen i m A l l g e m e i n e n ) . D a h e r ist a n z u n e h m e n , dass in G i e ß e n e i n e ähnliche Verpflichtung herrschte. 113
I, 3 8 2 .
114
D i e T h e s e n b e f i n d e n sich z u s a m m e n mit einer d e u t s c h e n Ü b e r s e t z u n g in I I I , 6 0 3 - 6 0 7 .
115
D i e T h e s e n zu den späteren D i s p u t a t i o n e n de conversione
facúltales
mentís humanae
secunda
relapsorum
u n d circa
aus den J a h r e n 1 6 9 6 und 1 6 9 7 w i r k e n in sich deutlich geschlossener.
73
ner Vorlesung die »metaphysica generalem« teilweise durchgegangen. 1 1 6 In diesem Zusammenhang ist möglicherweise der Vorsokratiker D e m o k r i t b e handelt worden. Außerdem scheint Dippel die Hauptthese seiner Disputation von diesem ü b e r n o m m e n zu haben. Die Behauptung »Nichts ist etwas«, 117 d . h . es sei nicht gar nichts, k ö n n t e abhängig sein von Demokrits Satz: »Das Nichts existiert ebensogut wie das Etwas«. 118 Aus Dippels zehn Thesen lässt sich die Vielschichtigkeit seiner Interessen ablesen. Philosophische, naturwissenschaftliche, juristische und sogar sozialethische T h e m e n werden angesprochen. Außerdem lässt sich anhand dieser Thesen Dippels scharfer Verstand aufzeigen. Dies gilt vor allem von der Art, wie er das T h e m a »Nichts« behandelt: Er unterscheidet zunächst zwischen dem Nichts als metaphysischer Größe und dem Nichts, das das Gegenteil von Etwas ist, nämlich nur ein sprachlicher Ausdruck dafür, dass irgendwo nicht etwas ist. Die Unterscheidung zwischen dem Nichts als Gegenteil von Etwas, das »nur ein HilfFs-Wort ist«, aber in sich keine Existenz besitzt, u n d d e m »wesentlichen Nichts«, weist bereits darauf hin, dass Dippel über die für die Philosophie des H o c h - u n d Spätmittelalters fundamentale Streitfrage, den Realienstreit, hinausgewachsen ist. Die Anerkennung der Existenz eines metaphysischen Nichts weist zudem in die Philosophie der M o derne. Schließlich schreibt Dippel dem Nichts noch eine dritte Bedeutung zu, die aber innerhalb der drei Thesen, die das Nichts behandeln, etwas u n klar bleibt. M a n k o m m t dieser dritten Bedeutung näher, wenn man die zweite These genau untersucht. Hier schreibt Dippel, dass man »gleichwohl von einem Ding, das bloß möglich ist, sagen [kann]: Es habe schon die N a tur eines würcklichen Dinges an sich«. Hier liegt eine Bedeutung des Nichts vor, die zwischen der des eigentlichen Nichts als metaphysischer G r ö ß e u n d der des Hilfswortes, das an sich keine Existenz besitzt, liegt. D e n n es hat zwar gegenwärtig noch keine Existenz im Sinne von Aktualität, hat aber b e reits doch schon eine Existenz im Sinne von Potentialität. Das Interessante an dieser dritten Bedeutung des Nichts innerhalb der Thesen de nihilo ist, dass Dippel sich bei derselben auf die aristotelische Unterscheidung von Potentialität u n d Aktualität, bzw. δύναμις u n d ενέργεια, einlässt. 119 Dies 116 Vorlesungsverzeichnisse (UAG, Allg 1535). Dass Dippel an diesem Kolleg teilgenommen hat, scheint wegen seiner Kenntnisse von metaphysischen Regeln, deren eine er in seinen Disputationsthesen behandelt, als wahrscheinlich (s.u. S. 75). 117 III, 605. 118 WILHELM NESTLE, Die Vorsokratiker, 168; vgl. zu Demokrit insgesamt a.a.O.,
1 6 7 - 1 8 7 , u n d E . WELLMANN, A r t . » D e m o k r i t o s « , in: P R E 2 , B d . 5 / 1 , 1 3 5 - 1 4 0 . D e r K a t a l o g
der Gießener Universitätsbibliothek des späteren Bibliothekars Boehmius aus dem Jahre 1771 weist drei Schriften Demokrits auf, darunter eine mit dem Erscheinungsjahr 1601. Von daher ist anzunehmen, dass mindestens eine Schrift dieses Vorsokratikers zu Dippels Studienzeit dort vorhanden war. 119 Vgl. dazu vor allem die lateinische 2. These (III, 604), in der zum einen der Begriff potentia auftaucht. Zum anderen wird hier auch eine Unterscheidung zwischen dem existentiellen und essentiellen Nichts getroffen.
74
zeigt, dass Dippel während seines Grundstudiums in Gießen ganz im humanistisch-aristotelischen Geist geprägt wurde, der damals zumindest noch von den Anhängern der Orthodoxie in Gießen vertreten wurde. 1 2 0 Bereits auf dem Pädagog war Dippel im Unterricht mit der Logik von Kaspar Ebel, und damit mit dem aristotelischen System, konfrontiert worden. In Gießen lernte er von Philipp Casimir Schlosser Logik und Metaphysik in ähnlicher Weise. Anhand der zehn Thesen lässt sich außerdem zeigen, wie Dippel bereits während seines Grundstudiums mit Lehrautoritäten umgehen konnte. Er erkennt die metaphysische Regel, ein »Ding, weswegen ein anderes Ding gewisse Eigenschafften erlanget, hat dieselbe EigenschafFten auch an sich, und zwar in einem viel höhern Grad«, zwar prinzipiell an, gesteht aber ihren Folgerungen keine zwingende Kraft zu. Typisch orthodox ist dagegen der Gebrauch der Heiligen Schrift. Hiob 37,18 kann beispielsweise bei der naturwissenschaftlichen Frage nach der Beschaffenheit des Himmels als Beweis herangezogen werden. Die Bibel scheint Dippel in Bezug auf ihre Aussagen über die Natur geradezu die Grundlage fur naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu sein. D o c h neben der Heiligen Schrift kommen in den zehn Thesen schon zwei weitere Quellen theologisch-philosophischer Erkenntnis zu Wort, die später fiir Dippel entscheidend wichtig werden: Vernunft und Erfahrung. Nach der Disputation, die wohl im Sommersemester 1693 stattgefunden hatte, 121 folgte nach einem gewissen zeitlichen Abstand das Examen rigorosum. Hierbei wurden sämtliche Wissensgebiete der philosophischen Fakultät, also auch naturwissenschaftlicher Stoff, geprüft. Dieses Examen fand am 22. Juni unter der Leitung Johann Heinrich Mays statt. Dippel bestand das Examen mit »satis [bene]« 122 gemeinsam mit dem später berühmt gewordenen Orientalisten Georg Christian Bürcklin von Durlach und acht weiteren Kandidaten. 1 2 3 Zwei Tage nach dem Rigorosum hielt Dippel am frühen Nachmittag eine öffentliche R e d e , die eine weitere Voraussetzung zum Erwerb des Magistergrades war und die den Kandidaten als geübten Redner ausweisen sollte. Eine solche Redeübung musste vom Professor für Eloquenz, Hein120 Vgl. ERNST SCHERING, Glessen und Marburg. Universitäts- und Fakultätsgeschichte im Kontext konfessioneller Auseinandersetzungen, 30. Vgl. auch WUNDT, Die deutsche Schulmetaphysik, 48 ff. 1 1 8 - 1 2 6 . 121 D i e Angabe über den in III, 603 ff. abgedruckten Thesen sagt nichts darüber aus, wann die Disputation genau stattfand: »Es sind Anno 1693. gegen Ausgang des Jahrs, auf der U n i versität Glessen ihrer Zehen zugleich Magistri worden, und unter solchen auch unser D i p p e lius«. 1 2 2 Dekanatsbuch der philosophischen Fakultät (UAG, Phil, C 4 , / l ) , fol 175. 1 2 3 Dekanatsbuch der philosophischen Fakultät (UAG, Phil C 4 / 1 ) , fol. 175f. Vgl. auch DIEHL, N e u e Beiträge, 142. Bei der Datierung irrt Diehl allerdings, wenn er sie auf den 7. D e zember ansetzt. Der 7. Dezember ist der Termin des feierlichen Promotionsaktes.
75
rich Phasian, beaufsichtigt werden, der die Rede »des höchst würdigen und gebildeten Kandidaten der Philosophie«, Johann Konrad Dippel, auf den 24. Juni 1693 ankündigte. 124 Phasian zählte zu den orthodoxen Vertretern innerhalb des Lehrkörpers der Universität und hatte neben der dritten theologischen Professur noch die Professuren in Eloquenz und Historie inne. Das Thema der Rede ist die »Calumnia«, die bösartige Verdrehung, die nach dem Einladungsschreiben die Guten ins Verderben stürzt. Inwieweit die von Phasian verfasste Einladung etwas über die verschollene Rede aussagt, ist fraglich. Wahrscheinlich hat dieser seine eigenen Gedanken zu dem Thema niedergeschrieben und geht erst am Ende auf Dippels Rede ein. Danach versuchte Dippel die Verhaltensweisen derjenigen aufzuzeigen, die mit Verdrehungen den Rechtschaffenen ins Unglück stürzen wollen. Zugleich gab er einen Rat, wie man den Pfeilen der »Calumnia« am besten entgeht. Nach erfolgreicher Verteidigung der Disputationsthesen, nach bestandenem Rigorosum und nach der öffentlich gehaltenen Rede wurden alle zehn Kandidaten zur Disputatio universalis zugelassen, bei der Kandidat fur Kandidat einige Thesen, die aber nicht mehr erhalten sind, gegen die Glieder der gesamten Universität verteidigen musste. 125 Damit waren die Prüfungen beendet und alle Voraussetzungen für die Ernennung zum Magister erfüllt. Dippel hatte Glück, dass er nach der Disputatio universalis, die vermutlich im Herbst 1693 stattfand, nicht noch längere Zeit warten musste, bis er gemeinsam mit anderen Kandidaten promoviert wurde. Der dazugehörige feierliche Festakt fand unter dem Vorsitz von Philipp Casimir Schlosser schon am 7. Dezember 1693 statt, 126 obwohl in Gießen nach den Statuten nur einmal im Jahr, nämlich zwei Wochen nach Pfingsten, Magister promoviert wurden. Die Verleihung des akademischen Titels war ein großes Ereignis für die gesamte Universität. Zu dieser Feierlichkeit waren neben dem gesamten Lehrkörper und vielen Studenten auch Honoratioren der Stadt geladen. Höhepunkt der Feier, die von Musik begleitet war 127 und auf der Reden gehalten wurden, war die Verleihung der Magisterwürde. Die Kandidaten wurden ermahnt, in ihrem Eifer nicht nachzulassen, sich des Titels würdig zu erweisen und die Ehre des Landgrafen und seiner Professoren zu mehren. Nachdem die Kandidaten einen Eid abgelegt hatten, kam es endlich zur Verleihung des Magistergrades, die im Namen der Dreifaltigkeit vollzogen wurde. Danach wurde jedem Promovierten ein 124 Multa quiden sunt (*26 u n t e r A 5 6 4 5 5 , fol. 99); Zitat: ebd., aus d e m Lateinischen ü b e r setzt. 125 Yg] z u j e n V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d e n M a g i s t e r p h i l o s o p h i a e u n d zu d e n P r o m o t i o n s b r ä u c h e n BECKER, Das erste h a l b e J a h r h u n d e r t , 159—162. 126 D e k a n a t s b u c h d e r p h i l o s o p h i s c h e n Fakultät ( U A G , P h i l C 4 / 1 ) , fol. 175f: »Die VII D e c e m b r i s P r o m o t i o n i s actus solennis ...«. U n t e r d e n N a m e n d e r P r o m o v e n t e n b e f i n d e t sich a u c h D i p p e l (a.a.O., fol. 176). 127 U A G , Allg 1 5 4 6 .
76
Magisterring angesteckt und ein Doktorhut aufgesetzt und der feierliche Festakt wurde mit einem Ehrenmahl beschlossen. Sämtliche Kosten, von der Musik bis hin zum Wein des Festessens, mussten die Neugraduierten tragen, die auch noch flir ihre dem Anlass entsprechende meist neue Kleidung und den Magisterring aufzukommen hatten. Neben den Ausgaben, die bei der Promotionsfeier entstanden, musste ein Kandidat zumindest den Professor, der ihm den Titel verliehen hatte, und wohl noch andere Hochschullehrer zu einem Imbiss einladen. Hinzu kamen eine Promotionsgebühr, eine Vergütung an den Professor für Eloquenz wegen der unter seiner Aufsicht gehaltenen Redeübung und noch viele weitere Unkosten. Außerdem musste der Druck der Disputationsthesen bezahlt werden, die Dippel allerdings zusammen mit denen der anderen Kandidaten drucken ließ. 128 Die Magisterpromotion kostete Dippel nach eigener Aussage insgesamt fast 200 Gulden. 1 2 9 Obwohl die Kandidaten anlässlich des Erwerbs des Magistergrades durch Gebühren und zahlreiche andere Ausgaben kräftig zur Kasse gebeten wurden, erscheint die Summe von 200 Gulden für die Promotion als auffallend hoch. Das »Verzeichnusz der Unkosten, so auf mein magistrat gangen sind, anno 1593« von Konrad Dieterich weist nur 38 Gulden aus. Wenn Dippel hundert Jahre später das Fünffache ausgegeben hat, lag das wohl nicht allein an einer Teuerung, die seit 1620 eingesetzt hatte. 130 Es ist anzunehmen, dass die Gießener Bürger die Studenten schamlos auszunutzen wussten. Darüber hinaus hängen die hohen Aufwendungen wahrscheinlich mit dem großzügigen Charakter Dippels zusammen, der auch später keine Mühe hatte, Geld auszugeben. Dippels finanzielle Mittel waren durch die hohen Ausgaben nahezu erschöpft, die allein das Erlangen des Magistergrades mit sich gebracht hatte. Trotzdem begann er nach der Magisterpromotion mit dem Studium an der theologischen Fakultät, das er mindestens bis Anfang September 1694 fortsetzte. 131
128 VGL ΠΙ, 603. Zu den Promotionskosten vgl. BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 166-168, und OTTO BUCHNER, AUS Gießens Vergangenheit, 274-278; vgl. außerdem FRITZ HERRMANN, Zwei Promotionskosten-Verzeichnisse aus den Jahren 1593 und 1614. Vgl. ebd. zum Folgenden. Lebens-Lauff, I, 382. Vgl. BECKER, Das erste halbe Jahrhundert, 115. 131 Vgl. das Trauergedicht, das Dippel am 3 1 . 8 . 1 6 9 4 anlässlich der Beerdigung seines früheren Rektors am Darmstädter Pädagogium verfasste (WILHELM DIEHL, Ein Klagelied Johann Konrad Dippels). Es trägt die Unterschrift »M.Johannes Conradus Dippelius, S[sacro] S[anctae] Theol[ogiae] Stud[iosus]« Dippel hat also noch in Gießen mit dem Theologiestudium begonnen. 129
130
77
Der Beginn des
Theologiestudiums
Abgesehen von der bereits erwähnten Aussage Mays, dass Dippel bei ihm kein theologisches Kolleg besucht habe, ist über das in Gießen begonnene Theologiestudium nichts bekannt. Das wenige, was darüber zu sagen ist, kann nur erschlossen werden. Wahrscheinlich hat sich Dippel während des Wintersemesters 1693/1694 intensiv mit Schriften der altkirchlichen Schriftsteller Gennadius Massiliensis und Makarios dem Ägypter 132 auseinander gesetzt. Er konnte nämlich bereits zu Beginn seines Studiums in Straßburg in der Disputation Daß alle erschaffene Geister ihrem Wesen nach, in gewissem Unterscheid materialisch wärenni auf diese und auf Tertulüan zurückgreifen. Dass er Schriften der beiden Erstgenannten wohl nicht erst in Straßburg gelesen hat, zeigt eine Analyse der frühen Bestände der Gießener U n i versitätsbibliothek und der alten Straßburger Bibliotheken. Während in Straßburg keine Schriften des Gennadius und des Makarios nachzuweisen sind, 134 besaß die Bibliothek der Ludoviciana mit hoher Wahrscheinlichkeit die Schriften de Ecclesiasticis dogmatibus135 und Libellus, in quo catalogum illustrium ecclesiae doctorum136 des Gennadius Massiliensis. Beide waren zu B e ginn des 17. Jahrhunderts neu aufgelegt worden und sind mit einer weiteren Schrift des Gennadius im Katalog von 1771 aufgeführt, den der Bibliothekar Boehmius verfasste.137 Da zwischen 1650 und 1771 der Bücherbestand der Gießener Universitätsbibliothek außer durch Schenkungen nur unwesentlich erweitert werden konnte, 138 ist es wahrscheinlich, dass die in Boehmius' Katalog erwähnten Gennadiusschriften bereits zu Dippels Studienzeit hier vorhanden waren, wenn sie nicht durch die einzige bedeutende Schenkung an theologischen Büchern dieser Zeitspanne, nämlich der von Johann Heinrich May, dem gleichnamigen Sohn des bereits mehrfach erwähnten Professors für Theologie und Orientalistik, der Bibliothek zugeführt wurden. 139
132
In Wirklichkeit s t a m m e n die makarianischen H o m i l i e n von S y m e o n von M e s o p o t a -
mien ( H E R M A N N DÖRRIES, S y m e o n von M e s o p o t a m i e n , 7 f . ) . 133
Siehe dazu unten S. 9 8 - 1 0 1 .
134
S. u. S. 1 2 8 f „ A n m . 2 4 8 .
135
Liber
de ecclesiasticis
dogmatibus
veteris cuiusdam
Theologi
Sacra,
hg. v. G . ELMENHORST,
Hamburg 1614. 136
Libellus,
in quo catalogum
illustrium
ecclesiae
doctorum
à D. Hiernonymo
consignatum,
Helm-
sted 1 6 1 2 . 137
U A G , Hs 2 8 l b .
138 VG]
EVA-MARIE
FELSCHOW,
Die
Gießener Universitätsbibliothek,
9-14.
Erst
im
19. J a h r h u n d e r t w u r d e jährlich eine erwähnenswerte S u m m e zur Anschaffung v o n B ü c h e r n bereitgestellt (vgl. EMIL HEUSER, Beiträge zur Geschichte der Universitätsbibliothek Glessen, 38). 139
Z u den S c h e n k u n g e n an die Universitätsbibliothek Gießen nach 1 6 5 0 vgl. H E U S E R ,
Beiträge zur G e s c h i c h t e der Universitätsbibliothek Glessen, 11 ff. D a n a c h gab es neben der mayschen Stiftung n o c h eine S c h e n k u n g an theologischen B ü c h e r n v o n der Familie B a c h m a n n , die aber nur v o n b e s c h e i d e n e m W e r t war und meist aus Predigtkonvoluten bestand.
78
Da über diese Schenkung ein eigener Katalog aufgestellt wurde, 1 4 0 ist wahrscheinlich zu machen, was zum älteren Bestand der Universitätsbibliothek gehörte. Bücher, die im Katalog des Boehmius von 1771 verzeichnet sind und gleichzeitig nicht von May der Universitätsbibliothek gestiftet wurden, gehörten höchstwahrscheinlich bereits zum Grundbestand der Bibliothek während Dippels Studienzeit. Dies trifft auf die beiden oben genannten Gennadiusschriften zu, während die dritte im Katalog des Boehmius erwähnte Schrift erst durch die maysche Stiftung der Gießener Universitätsbibliothek zugeführt wurde. 1 4 1 Mit derselben M e t h o d e lässt sich außerdem wahrscheinlich machen, dass die Homiliae spirituelles, die unter dem N a m e n des Makarios herausgegeben worden sind, in der Gießener Universitätsbibliothek vorhanden waren. 1 4 2 N i c h t so eindeutig lässt sich feststellen, wann Dippel Schriften von Tertullian gelesen hat. Sowohl in Gießen, als auch in Straßburg waren zu seiner Studienzeit etliche Schriften dieses Kirchenvaters vorhanden. Es ist aber anzunehmen, dass Dippel bereits in Gießen mit der Tertullianlektüre b e gann. Die Zeit, in der sich Dippel mit Makarios, Gennadius u n d wohl auch Tertullian auseinander setzte, kann möglicherweise genauer eingegrenzt werden. Heinrich Phasian, der Dippels am 24. Juni 1693 gehaltene R e d e ü b u n g überwacht hatte, las nämlich im Wintersemester 1693/1694 in seiner Funktion als Historiker über die »Scriptores Ecclesiastici«. 143 Es ist gut möglich, dass eine Schrift des früheren Gießener Professors Johann Christoph Meelfuhrer nach damals üblicher Weise die Grundlage für die Vorlesung bildete. Dieser war einer der wenigen Protestanten, der ein patristisches Werk verfasste, 144 in dem Tertullian u n d Makarios in jeweils 140
UAG, Hs 28». Dass der frühere G i e ß e n e r Professor J o h a n n C h r i s t o p h M e e l f u h r e r Gennadius in seiner 1670 erschienenen Schrift Corona centum patrum et doctorum ecclesiae zitiert, macht es n o c h wahrscheinlicher, dass diese Schrift in der zweiten Hälfte des 17. J a h r h u n d e r t s bereits in der G i e ß e n e r Universitätsbibliothek v o r h a n d e n war. Das gleiche gilt für die Tatsache, dass J o h a n n W i l h e l m Petersen, der ebenfalls längere Zeit in G i e ß e n studierte, sich eine Gennadiusschrift w ä h r e n d seiner Tätigkeit als S u p e r i n t e n d e n t kaufte, nämlich die dogmatische Schrift Liber de Ecclesiasticis dogmatibus. Diese Schrift befindet sich h e u t e in der Straßburger Nationalbibliothek. Z u den Vorbesitzern g e h ö r t e der lüneburgische S u p e r i n t e n d e n t Petersen. 142 Homiliae spirituales quinqua ginta de integritate quae decet Christianos, Frankfurt 1594. D i e makarianischen H o m i l i e n werden auch in Meelführers Corona centum patrum et doctorum ecclesiae zitiert. Dies macht ihr Vorhandensein in der Universitätsbibliothek G i e ß e n ebenfalls wahrscheinlich. 143 Vorlesungsverzeichnisse (UAG, Allg 1535). Phasian gehörte der philosophischen Fakultät an, so dass der Besuch dieser Vorlesung streng g e n o m m e n nicht zu Dippels T h e o l o g i e studium gehörte. D o c h hatte die Vorlesung bereits b e g o n n e n , bevor Dippel am 7. D e z e m b e r 1693 z u m Magister promoviert w o r d e n war u n d damit die Voraussetzung für das T h e o l o g i e studium geschaffen hatte. Er hat die Vorlesung w o h l fortgesetzt, da sie inhaltlich für einen T h e o l o g i e s t u d e n t e n von Interesse war. 144 Corona centum patrum et doctorum ecclesiae, G i e ß e n 1670. 141
79
e i n e m eigenen Kapitel gewürdigt w u r d e n . 1 4 5 Gennadius, d e m kein eigener Abschnitt g e w i d m e t ist, wird von Meelfiihrer i m m e r h i n zitiert u n d k a n n darüber hinaus innerhalb der Vorlesung Phasians als Q u e l l e eine R o l l e g e spielt h a b e n . D e n n bei einer der e r w ä h n t e n Schriften des Gennadius h a n delte es sich u m einen Katalog der frühchristlichen Schriftsteller, in d e m auch Makarios e r w ä h n t wird. D i e Kenntnis, die D i p p e l zu B e g i n n seines Straßburger Studienjahres ü b e r Gennadius, Makarios u n d Tertullian zeigt, spricht dafür, dass er sich ü b e r die Vorlesung hinaus mit d e m dogmatischen W e r k Liber de ecclesiasticis dogmatibus des G e n n a d i u s u n d den geistlichen H o milien des Makarios beschäftigt h a b e n muss. Makarios w u r d e i m A b e n d land seit der zweiten Hälfte des 16. J a h r h u n d e r t s b e k a n n t u n d f a n d in der lutherischen T h e o l o g i e wahrscheinlich d u r c h Michael N e a n d e r E i n gang. 1 4 6 Deshalb ist es durchaus möglich, dass sich ein Vertreter der O r t h o doxie mit Makarios innerhalb einer Lehrveranstaltung auseinander setzte. Das S t u d i u m der Schriften der e r w ä h n t e n altkirchlichen A u t o r e n sollte f ü r die theologische E n t w i c k l u n g Dippels von g r o ß e r B e d e u t u n g w e r d e n . Eventuell f ü h r t e ihn die Beschäftigung mit diesen bereits j e t z t zur A b l e h n u n g des in G i e ß e n vermittelten humanistisch-aristotelischen Geistes u n d der darauf a u f b a u e n d e n Metaphysik. D i e theologische Sprengkraft der frühchristlichen A u t o r e n brachte es aber zunächst n o c h nicht fertig, dass sich D i p p e l d e m Pietismus näherte, d e m er n o c h w ä h r e n d seines G i e ß e n e r T h e o l o g i e s t u d i u m s ablehnend g e g e n ü b e r stand. Dies beweist ein Gedicht, das D i p p e l anlässlich des Todes seines e h e maligen Lehrers u n d R e k t o r s des D a r m s t ä d t e r Pädagogiums, J o h a n n O t t o G o r r , verfasste u n d nach damaligem Brauch d e m A n h a n g der g e d r u c k t e n Leichenpredigt beigab. 1 4 7 H i e r interpretiert D i p p e l d e n Tod Gorrs als G o t tes Gericht, der den fürsorglichen H i r t e n u n d treuen K n e c h t , der der H e r d e »Heyl gesucht«, w e g n i m m t . G o r r wird als Vertreter der reinen Lehre, d. h. der O r t h o d o x i e , geschildert, der sich der Wahrheit verpflichtet wusste. G o r r schien D i p p e l der »hart b e t r ä n g t e n [!] Kirch« von G o t t g e schenkt w o r d e n zu sein. D o c h n u n n i m m t G o t t diesen der Stadt Darmstadt weg, so dass dieser nicht m e h r »seh das B ö ß , so uns f ü r A u g e n steht«. Diese B e m e r k u n g e n zielen w o h l auf den Pietismus u n d dessen Kirchenpolitik u n d verdeutlichen Dippels H a l t u n g g e g e n ü b e r d e m Pietismus. E r scheint die A u s w e i t u n g des Pietismus an der G i e ß e n e r Universität u n d in der g e samt« η Landgrafschaft mit Sorge b e o b a c h t e t zu haben, e m p f i n d e t die K i r che als bedrängt u n d die durch die O r t h o d o x i e vertretene reine Lehre in Gefahr.
145
Corona centum patrum
et doctorum ecclesiae, 27—31. 63—65.
Johann Arndt und die makarianischen Homilien, 1 8 8 . 1 9 2 . 1 9 4 . 147 Das Gedicht hat W I L H E L M D I E H L aufgefunden und veröffentlicht (Ein Klagelied Johann Konrad Dippels); es befindet sich auch bei K A R L - L U D W I G V O S S , Christianus D e m o critus, 6—8. 146
80
HANS SCHNEIDER,
Im Laufe des Jahres 1694 müssen Dippels finanzielle Schwierigkeiten i m m e r bedrohlicher g e w o r d e n sein. Bevor er dieser Misere in damals üblicher Weise e n t g e g e n trat, nämlich f u r eine Ubergangszeit als H a u s l e h rer zu arbeiten, versuchte er eine j u n g e Frau aus w o h l h a b e n d e m Hause, möglicherweise eine Professorentochter, zu heiraten. 1 4 8 Eine solche E h e wäre seinem ehrgeizigen Ziel nach einer wissenschaftlichen Laufbahn e n t g e g e n g e k o m m e n , aber aus den Heiratsplänen w u r d e nichts. D e r G r u n d dafür bleibt im D u n k e l n u n d es k a n n nicht entschieden w e r d e n , ob Dippels Plan am W i d e r s t a n d seiner Auserwählten oder an d e m seiner m ö g l i c h e n Schwiegereltern scheiterte, die keinen mittellosen Schwiegersohn h a b e n wollten. W ä h r e n d des ü b e r drei Jahre d a u e r n d e n Studiums in G i e ß e n war D i p p e l in die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der O r t h o d o x i e u n d des Pietismus hineingeraten. H i e r in G i e ß e n hat er sich eindeutig auf die Seite der O r t h o d o x i e geschlagen. D o c h als Beneficarius in einer durch Pietisten g e f ü h r t e n Stipendiatenanstalt k o n n t e er sich den Einflüssen des Pietismus nicht entziehen. A n mindestens f ü n f d u r c h Pietisten geleiteten Lehrveranstaltungen, einer zweisemestrigen öffentlichen Lektion bei May u n d vier einsemestrigen L e k t i o n e n in der Heiligen Schrift, die in der zur pietistischen Ausbildungsstätte u m f u n k t i o n i e r t e n Stipendiatenanstalt a n g e b o t e n w u r d e n , n a h m D i p p e l bereits w ä h r e n d des G r u n d s t u d i u m s teil. D u r c h May, bei d e m er sich in einer Lehrveranstaltung mit R i c h a r d Simons Histoire critique des N e u e n Testaments auseinander gesetzt hatte u n d von d e m er am 22. Juni 1693 i m E x a m e n r i g o r o s u m g e p r ü f t w o r d e n war, w u r d e Dippels w o h l bereits w ä h r e n d der Gymnasialzeit gewecktes I n t e resse a m N e u e n Testament weiter gefördert. Mays pietistisches P r o g r a m m war dazu bestimmt, seine S t u d e n t e n u n d die Stipendiaten zu f u n d i e r t e n E x e g e t e n heranzubilden. A u ß e r d e m hat D i p p e l durch die G i e ß e n e r Pietisten, u n d hier in erster Linie durch May, die Anliegen des Pietismus k e n nengelernt. A u c h w e n n sie i h m in G i e ß e n n o c h nicht einleuchten wollten, so h a b e n sie ihn d o c h innerlich weiter bewegt u n d nicht m e h r losgelassen. Sie bildeten das F u n d a m e n t , auf d e m sich später seine H i n w e n d u n g z u m Pietismus vollziehen k o n n t e . W e n n sich D i p p e l später verhältnismäßig selbständig z u m Pietisten entwickelte, so wird m a n dieser bereits in der G i e ß e n e r Studienzeit erfolgten Beeinflussung durch die n e u e F r ö m m i g keitsbewegung eine wichtige R o l l e zugestehen müssen. I h m war dadurch die pietistische G e d a n k e n w e l t vertraut, auch w e n n er sie zunächst ablehnte.
148 So in Verantwortung gegen einige Personal-Lästerung, I, 673. D i e Angabe i m Lebens-Lauff, er habe n u r einmal, nämlich w ä h r e n d seines zweiten G i e ß e n e r Aufenthalts, vergeblich zu heiraten versucht, ist d e m n a c h unvollständig. Die Tatsache, dass er nicht einmal genug Geld hatte, sich selbst zu versorgen, spricht dafür, dass sich Dippel eine Frau aus w o h l h a b e n d e m Hause ausgesucht hatte.
81
Von den orthodoxen Vertretern des Gießener Lehrkörpers war Philipp Casimir Schlosser Dippels wichtigster Lehrer. Bei ihm hat Dippel sich vermutlich erstmals mit Descartes auseinander gesetzt. Von ihm übernahm er wohl auch die Kritik an diesem Frühaufklärer, die er zeitlebens beibehalten, aber auch durch selbständiges Denken noch verstärken sollte. Durch Schlossers Vermittlung könnte er auch mit dem Vorsokratiker Demokrit in Berührung gekommen sein, wie die erste These seiner Magisterdisputation nahelegt. In seinen späteren Schriften nannte sich Dippel nach diesem Vorsokratiker den christlichen Demokrit. Von den Gießener Orthodoxen erhielt Dippel den für seine Hinwendung zum Pietismus und für seine theologische Entwicklung wichtigsten Anstoß wohl von Heinrich Phasian. In dessen Lehrveranstaltung über die frühchristlichen Schriftsteller lernte er wahrscheinlich die Theologie von Gennadius Massiliensis und von Makarios dem Ägypter sowie möglicherweise die des Tertullian kennen. Vor allem die mystische Theologie des Makarios, aber auch die rigoristische der beiden anderen altkirchlichen Theologen, bereitete für Dippel den Boden für seine Hinwendung zum Pietismus. In einer Lehrveranstaltung eines Vertreters der Orthodoxie konnte sich Dippel wohl bereits mit zentralen Anliegen des Pietismus auseinander setzen, nämlich der mystischen Gottesbeziehung und der Forderung nach einem sittlichen Lebenswandel, ohne dass ihm diese Gedanken als typisch pietistisch erschienen. 149 Dippel hat sich Anliegen der drei Theologen zumindest teilweise zu eigen gemacht. Wahrscheinlich vertrat er dadurch schon als Orthodoxer Ideen, die denen des Pietismus nahe kamen, eingekleidet in das Gewand der Lehren des Makarios, Gennadius und Tertullian. Neben der frühen Beeinflussung durch den Pietismus spielte die Beschäftigung mit den drei altkirchlichen Theologen eine maßgebliche Rolle für Dippels theologische Entwicklung.
149 A n diesem P u n k t wird deutlich, wie problematisch die schematische T r e n n u n g zwischen O r t h o d o x i e u n d Pietismus ist. D e r Pietismus entwickelt sich aus der O r t h o d o x i e u n d etlichen ihrer Vertretern war ein lebendiger Glaube wichtig, so auch Phasian, w i e seine beiden Leichenpredigten v o n 1692 u n d 1693 zeigen: Das seelige Schweigen der Kinder Gottes u n d Desiderium piorum unicum, der glaubigen Kinder Gottes eintziges Verlangen. D i e These, die o r t h o d o x e Frömmigkeit sei tot, ist z u m guten Teil aus der Polemik der Pietisten entstanden.
82
Kapitel 4: Studienzeit in Straßburg
Als Hauslehrer
im
Odenwald
Nach den gescheiterten Heiratsplänen blieb Dippel keine andere Wahl, als sich nach einer Anstellung umzusehen, mit der er zumindest seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Sein Vater drängte ihn, eine Stellung als Hauslehrer anzunehmen, die Dippel auch alsbald fand. Im Spätsommer oder Herbst 1694 1 begann er mit der Tätigkeit als Hauslehrer für zwei Söhne eines wohl hoch gestellten Beamten auf einem Schloss im Odenwald. 2 Da es zu dieser Zeit ein riesiges Uberangebot an Hauslehrern gab, ist es wahrscheinlich, dass Dippel nach damals üblichem Brauch die Hauslehrerstelle vermittelt worden war. 3 Es ist nicht schwer zu erraten, wer ihm diese besorgt haben könnte: Der Vater, der ihm zur Übernahme der Stelle geraten hatte. Von daher erscheint es wahrscheinlich, dass die Adelsfamilie, bei der Dippel angestellt war, Beziehungen zu Nieder-Beerbach oder NiederRamstadt hatte. Entsprechend könnte es sich bei dem Beamten u m Hans Adam von Wallbrunn (geboren 1 6 2 9 ) gehandelt haben, der in dem nur wenige Kilometer von Nieder-Beerbach und Nieder-Ramstadt entfernten Ernsthofen residierte. 4 Die Freiherren von Wallbrunn zu Ernsthofen hatten
' Lebens-Lauff, I, 382. D e r Beginn der Tätigkeit als Hauslehrer muss nach dem am 28. August 1994 erfolgten Tod von Johann O t t o Gorr liegen, da Dippel sich in einem Trauergedicht, das dessen gedruckter Leichenpredigt beigegeben war, als Theologiestudent bezeichnet (S. o. S. 80, Anm. 147). 2 U m welches Schloss es sich hierbei handelte, kann möglicherweise erschlossen werden, wenn man Dippels Hinweise zu R a t e zieht {Lebens-Lauff, I, 382): 1. D i e Angabe, Dippel sei bei einem Beamten angestellt gewesen, der in einem Schloss wohnte, lässt darauf schließen, dass dieser dem Adel, möglicherweise der Reichsritterschaft angehörte, die es im Odenwald gab (VOLKER PRESS, Die Reichsritterschaft im R e i c h der frühen Neuzeit, 103). 2. D e r hohe Beamte hatte zwei Söhne, die noch im Schulalter waren. 3. Das Schloss muss in einem lutherischen Territorium gelegen haben, weil sich im konfessionalistischen Zeitalter kaum j e m a n d einen Hauslehrer genommen hätte, der nicht der eigenen Glaubensrichtung angehörte. D. h. es ist davon auszugehen, dass es im lutherischen westlichen Teil des Odenwalds lag. 3
Vgl. LUDWIG FERTIG, D i e Hofmeister,
4
Vgl. JOHANN
MAXIMILIAN
62-64.
HUMBRACHT, D i e höchste Zierde Teutschlandes,
WILHELM MÜLLER, Hessisches Ortsnamensbuch,
120,
und
177-181.
Leider ist über Hans Adam von Wallbrunn weder in biographischen Lexika noch in den Akten des Darmstädter Staatsarchivs (StADa, E 12, 347—356) etwas in Erfahrung zu bringen. Da aber sein Sohn (Johann) Friedrich Moritz später Oberamtmann in Zwingenberg wurde (MÜLLER, Hessisches Ortsnamensbuch, 180), kann angenommen werden, dass auch der Vater
83
zudem Rechte in Nieder-Beerbach und Nieder-Ramstadt 5 und werden deshalb Dippels Vater gekannt haben, der ja erst in dem einen, dann in dem anderen Ort die Pfarrstelle inne hatte. Eine Hauslehrerstelle war ein zur damaligen Zeit üblicher Berufseinstieg für junge Hochschulabsolventen. Ganze Generationen von Theologiestudenten wurden zunächst Hauslehrer, um dann beruflich aufzusteigen, 6 sahen in ihrer Tätigkeit allerdings nur eine leidige Ubergangsstation, da sie nur wenig Ansehen und meist nur einen geringen Verdienst garantierte. Aber auch aus anderen Gründen war die Zeit als Hauslehrer für die bisherigen Studenten unangenehm. »Es versteht sich fast von selbst, daß die Kandidaten, die sich nach ihrem Studium als Erzieher in einem Haus verdingten, in dem man sich die Privatinformation leisten konnte oder in dem es zum guten Ton gehörte, die Kinder privat unterrichten zu lassen, ihre liebe Not hatten mit der neuen Situation«. Sie waren ja noch »unsicher im Auftreten, unerfahren, was die Gepflogenheiten des Einzelunterrichts betraf schwankend zwischen der Rolle als Gelehrter und Kinderhüter ...«. 7 Von ihnen wurde meist etwas völlig Unmögliches erwartet, indem sie die Kinder der Herrschaft in verschiedenen Fächern unterrichten mussten und ihnen darüber hinaus auch höfische Manieren beizubringen hatten, die Dippel als Sohn eines Pfarrers beispielsweise gar nicht beherrschen konnte. 8 Zudem standen die Hofmeister häufig in einem Spannungsfeld zwischen der Herrschaft und den Dienern, zwischen den Kindern und den Eltern sowie allzu oft zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der beiden Elternteile. 9 Allerdings waren der Beamte und seine Gattin mit Dippels Diensten als Hauslehrer zufrieden und behandelten ihn entsprechend gut. 10 Dippel hätte lieber eine Stelle an einer Hochschule angetreten, doch er musste sich mit dieser bescheidenen Stellung vorerst zufrieden geben. Uber
als Beamter beschäftigt war. Hans Adam von Wallbrunn hatte mit seiner zweiten Frau, die später einen General von Tiirckheim heiratete ( R Ü D I G E R M A C K , Pietismus und Frühaufklärung, 146, Anm. 461), insgesamt sieben Kinder, deren Geburtsdaten fast gänzlich unbekannt sind ( H U M B R A C H T , Die höchste Zierde Teutschlandes, 120, gibt nur das Geburtsjahr von Anna Sophia an: 1667; vgl. ebd. zum Folgenden). Einen gewissen Anhaltspunkt über das Alter dieser sieben Kinder aus zweiter Ehe bekommt man durch die Angabe, dass Hans Adams erste Frau 1664 verstarb. So erscheint es wahrscheinlich, dass Anna Sophia, die 1667 geboren wurde, das älteste Kind aus der zweiten Ehe war. Eine weitere Tochter, Anna Maria Sophia von Wallbrunn, wurde 1701 die zweite Frau des hessen-darmstädtischen Oberhofpredigers Bilefelds ( F R I E D R I C H W I L H E L M S T R I E D E R , GHGSG, Bd. 1, 397, und M A C K , Pietismus und Frühaufklärung, 101). Somit ist es möglich, dass von den übrigen sechs Kindern einige um 1680 geboren sind und zwei der insgesamt vier Söhne 1695 noch im Schulalter waren. 5 MÜLLER, Hessisches Ortsnamensbuch, 177f. 6 L U D W I G F E R T I G , Der evangelische Theologe als Hauslehrer, 196. 7 Vgl. FERTIG, Der evangelische Theologe als Hauslehrer, 198. 8 FERTIG, Der evangelische Theologe als Hauslehrer, 199. 9
10
84
FERTIG, D i e H o f m e i s t e r , 6 6 .
Lebens-Lauff, I, 382.
die akademische Abstinenz tröstete er sich hinweg, indem er in seinen Gedanken das Schloss im Odenwald mit dem Patmos des Johannes verglich. Neben seinem Beruf als Hauslehrer wollte er, wie Johannes dies in Patmos getan haben soll, 11 schriftstellerisch tätig werden. In seinem ersten theologischen Werk wollte Dippel den Pietismus widerlegen, Berühmtheit erlangen und sich den Weg zu einer wissenschaftlichen Laufbahn an der U n i versität ebnen. 1 2 Die antipietistische Streitschrift Dippels behandelte die Frage, inwieweit »der seligmachende Glaube einen Irrthum in der Lehr könne zulassen«. Leider ist sie verschollen, seit Dippel sie auf seiner Reise von Straßburg nach Hessen in einem Gasthof zurück ließ. 13 D o c h wir sind durch Dippels Lebens-Lauff recht gut über den Inhalt des Manuskripts unterrichtet. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass Dippel eine ungewollte Veröffentlichung desselben fürchtete, die für den inzwischen berühmt-berüchtigten R a d i kalpietisten peinlich gewesen wäre. U m dem Aufsehen vorzubeugen, das ein ungenehmigter Druck der Schrift mit sich gebracht hätte, ist der Bericht über die Schrift verhältnismäßig ausfuhrlich und von hohem Q u e l lenwert. 14 Die Abhandlung sollte sich nach Dippels Aussage von der Fülle anderer antipietistischer Bücher in ihrer Methodik unterscheiden. Er wollte nicht von den Bekenntnisschriften ausgehend argumentieren, sondern die pietistischen Anschauungen systemimmanent kritisieren und widerlegen. »Es verdroß m i c h . . . in der S e e l e n , daß unsere reine[n] T h e o l o g i nichts bessers u n d g r ü n d l i c h e r s hätten, die Pietisten zu w i d e r l e g e n , als die S a t z u n g e n d e r V ä t ter[ 1 5 ], die ich d a m a h l s s c h o n v o r u n z u l ä n g l i c h erkannte«,
bekennt Dippel und zeigt damit, dass er sich von der bei den Orthodoxen üblichen Hochschätzung der Bekenntnisschriften bereits in gewisser Weise distanziert hatte. Das ständige Verweisen auf diese kam ihm »allzu pedantisch (Schulsüchtig) vor«. Es zeigte ihm »die g e s u n d e V e r n u n f f t . . . , daß die Pietisten s o w o h l M a c h t u n d R e c h t hätten, die S c h r i f f t e n des H e r r n D o c t o r S p e n e r s z u r R i c h t s c h n u r z u m a c h e n , als u n s e r e T h e o l o g i S y m b o l i c i die F o r m u l a m C o n c o r d i a e « . 1 6
An einem entscheidenden Punkt hatte Dippel damit den Boden der Orthodoxie bereits verlassen. Wer die Bekenntnisschriften nicht mehr als norma
" Apk 1, 9. 12 Lebens-Lauff, I, 382. 13 Lebens-Lauff, I, 390. 14
Vgl. KARL-LUDWIG VOSS, Christianus D e m o c r i t u s ,
9.
Mit diesen sind die Bekenntnisschriften gemeint. 16 Lebens-Lauff, I, 383. Die kritische Aussage über die Bekenntnisschriften erscheint glaubhaft, da sie in Übereinstimmung mit der Methode steht, durch die Dippel den Pietismus zu bekämpfen suchte. 15
85
normata anerkannte, stattdessen aber Vernunft u n d Erfahrung als Erkenntnismittel neben der Heiligen Schrift gebrauchte, wie es Dippel in den T h e sen seiner Disputation de nihilo getan hatte, der ist nur n o c h einen winzigen Punkt davon entfernt, die Orthodoxie völlig zu verlassen. Diese innere Distanz zu den Bekenntnisschriften ist wohl auf die Beeinflussung durch den Pietismus während des Grundstudiums und Dippels Beschäftigung mit den altkirchlichen Schriftstellern Makarios, Gennadius u n d Tertullian zurückzufuhren. Auch w e n n Dippel hier im Odenwald eine Schrift gegen den Pietismus schrieb, hatte er sich in der Frage nach der Verbindlichkeit der Bekenntnisschriften von der Orthodoxie distanziert. Er versuchte in seiner Schrift nachzuweisen, dass die Pietisten in der Rechtfertigungslehre einen grundlegenden theologischen Fehlschluss begingen. Sie behaupteten zwar, »mit den rechtschaffenen Lutheranern im Grund-Artickel von der R e c h t fertigung« übereinzustimmen. D o c h mit ihrer Betonung des rechten Lebens widersprächen sie der lutherischen Rechtfertigungslehre. 1 7 Die Streitschrift, mit der er beweisen wollte, dass der Pietismus den zentralen »Artickel der R e c h t f e r t i g u n g entweder umstosse, oder doch aufs wenigste demselben praejudicirlich (nachtheilig) seye«, schickte Dippel sein e m »gewesenen H e r r n Praeceptori«, mit dem Philipp Casimir Schlosser gemeint ist. 18 Er wollte sich durch diese Schrift, wie er später als Radikalpietist schreibt, in den Augen der O r t h o d o x e n in Gießen »groß ... machen«. 1 9 D.h. die Schrift war als Sprosse an der Leiter gedacht, mit der Dippel eine theologisch-wissenschaftliche Karriere erklimmen wollte. Schlosser war von Dippels Erstlingswerk angetan, riet i h m aber n o c h die Schrift Διασκέψις theologica von Nicolaus Hunnius 2 0 zu lesen und einige von dessen Gedanken in seine antipietistische Streitschrift einzuarbeiten. Dippel folgte tatsächlich dem R a t Schlossers, las die H u n n i u s Schrift »und notierte hier u n d da noch etwas an den R a n d , wo es solte vermehret u n d verbessert werden«. Rückblickend beschreibt er seine M o tivation zu den Ä n d e r u n g e n anhand der Hunniusschrift ironisch: Er habe dies getan, u m »meinen Q u a r k recht zu vergülden, daß es o h n e Anstoß als recht orthodox hätte k ö n n e n passiert werden«. 21
17
Lebens-Lauff, I , 383. Aufgrund der Antwort, die dieser Gießener Professor Dippel erteilt, ergibt sich klar, dass Schlosser, unter dessen Vorsitz Dippel »de nihilo« disputiert hatte, die fragliche Person ist: »... daß er sich jetzt vielmehr erfreue ..., ... als über das N I H I L U M ... meiner Gradual-Disputation« (I, 383). 19 Lebens-Lauff, I , 383. 20 Διασκέψις theologica de fundamentali dissensu doctrinae evangelicae-lutheranae, & calvinianae, seu reformatae, Wittenberg 1626. Dippel bringt nur eine verkürzte Titelangabe: »Diascepsin de Articulis fidei« und den Zusatz, dass diese Schrift gegen die Reformierten gerichtet sei (I, 384). Vgl. zu dieser Schrift JOHANNES KUNZE und L. HELLER, Art. »Nikolaus Hunnius«, in: RE 3 , Bd. 8 , 4 6 1 . 21 Lebens-Lauff, I, 384. 18
86
Spätestens Mitte des Jahres 1695 gab Dippel seine Hauslehrerstelle »nach ... [seines] Hertzens Verlangen« auf. 2 2 Endlich hatte er wieder die Möglichkeit, sich auf eine Universität zu begeben, u m sein Theologiestudium fortzusetzen. D o c h bevor Dippel daran denken konnte, außerhalb der Landesgrenzen zu ziehen, musste er als ehemaliger Stipendiat eine G e nehmigung des Landgrafen einholen. U m diese zu erlangen, war es nötig, ein schriftliches Versprechen abzulegen, »sich auf Erfordern dem Dienste seines Landes wieder zur Verfügung zu stellen«. 23 Zunächst beabsichtigte Dippel, sein Studium in Wittenberg fortzusetzen, der Hochburg des orthodoxen Luthertums. Dieser Ort schien ihm besonders geeignet zu sein, weiter gegen die Pietisten zu arbeiten und sich »um den Cathedram Lutheri ... verdient zu machen«. Z u diesem Z w e c k hatte er sich bereits, wohl von Philipp Casimir Schlosser, ein Empfehlungsschreiben an den früheren Gießener Theologieprofessor Philipp L u d w i g Hanneken ausstellen lassen, in d e m darauf verwiesen war, dass er »noch mit keinem ketzerischen GifFt [des Pietismus] verdorben und angesteckt« sei. 2 4 D o c h die vorgesehene R e i s e nach Wittenberg kam nicht zustande. 2 5 N a c h seinem Lebens-Lauff erschien es Dippel wie ein Wunder, dass er fast auf den Tag genau, als er nach Wittenberg abreisen wollte, »anders Sinnes wurde, und mit einer Baseler-Fuhr gegen Straßburg abmar[s]chirte«. 2 6 Er beurteilte seinen Entschluss, in Straßburg sein Studium fortzusetzen, wohl deshalb als göttliche Fügung, weil er im Rückblick meinte, in Wittenberg kaum zum Pietisten geworden zu sein. Für seine Hinwendung zum Pietismus, dessen war sich Dippel selbst bewusst, war seine Studienzeit in Straßburg von entscheidender Bedeutung. Mit einer »Baseler-Fuhr« zog Dippel nach Straßburg, womit wohl eine »Mitfahrgelegenheit« mit reisenden Kaufleuten gemeint ist. Er war wahrscheinlich bereits vorher aus dem Odenwald nach Gießen zurückgekehrt, denn einer R e i s e g r u p p e von Kaufleuten konnte man sich in der R e g e l nur in Messestädten und an Handelsstraßen anschließen. Durch Gießen verlief die große Handelsstraße, die den N o r d e n mit den Süden Deutschlands ver-
2 2 A n d e r s WILHELM D I E H L , der a n n i m m t , D i p p e l habe m i t s e i n e m S t u d i u m in Straßburg bereits 1 6 9 4 b e g o n n e n ( N e u e Beiträge, 143). D i e s e A n n a h m e ist allerdings falsch, w i e ein B l i c k in die M a t r i k e l der Universität Straßburg beweist (s.u. S. 88). 23
W I L H E L M MARTIN B E C K E R , D a s erste halbe J a h r h u n d e r t ,
183f.
I, 3 8 4 . 25 D i e in der Literatur teilweise vertretene T h e s e (zuerst v o n CHRISTIAN GOTTLIEB ACKERMANN), D i p p e l w ä r e in W i t t e n b e r g g e w e s e n , dort aber v o n H a n n e k e n abgelehnt w o r d e n , erweist sich nach der Q u e l l e n l a g e als unhaltbar. W e d e r berichtet D i p p e l selbst v o n e i n e m solchen Ereignis n o c h ist er in der W i t t e n b e r g e r Universitätsmatrikel e r w ä h n t (vgl. FRITZ JUNTKE, A l b u m A c a d e m i a e Vitebergensis, Teil 2). Stattdessen erscheint es wahrscheinlich, dass d i e » W i t t e n b e r g l e g e n d e « durch eine Fehlinterpretation des Lebens-Lauffs entstanden ist (vgl. I, 3 8 4 ) . 24
26
Lebens-Lauff,
I, 3 8 4 : » G o t t aber schickte es w u n d e r l i c h « .
87
band, 27 außerdem hatte er sich dort höchstwahrscheinlich das nun nicht mehr nötige Empfehlungsschreiben fur Hanneken besorgt. Es konnte recht unangenehm sein, mit einer Gruppe von Kaufleuten zu reisen. Wie sich ein Student beim Ubergang vom Schüler zum Studenten der Deposition als Passagezeremonie zu unterziehen hatte, mussten sich die Reisegefährten der Kaufleute einem ähnlichen Ritus unterwerfen, dem Hänseln. Inzwischen war deren alter Sinn verblasst, nämlich der Aufnahmeritus in eine neue Gemeinschaft. Übrig geblieben war nur noch ein scherzhafter Brauch, der bisweilen fur den Fremden unangenehm werden konnte. Auch Dippel wird sich wohl oder übel dem Brauch des Hänseins unterworfen haben müssen. 28 Er wird froh gewesen sein, als die Reise endlich zu Ende und er in Straßburg angekommen war.
Straßburg
und seine
Universität
Am 2. August 1695 ließ sich Dippel in die Matrikel der Universität Straßburg einschreiben. 29 Der Grund für die Wahl des neuen Studienortes dürfte in erster Linie in dem entschieden lutherischen Charakter der dortigen Hochschule gelegen haben. Die einstige Wirkungsstädte Bucers, der bei den Einigungsverhandlungen in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts, die 1536 zur Wittenberger Konkordie führten, eine vermittelnde Position zwischen Reformierten und Lutheranern eingenommen hatte, 30 wandte sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts dem strengen Luthertum zu. 31 In der Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte die lutherische Orthodoxie an der theologischen Fakultät Straßburgs eine Blüte. Zur gleichen Zeit lehrten dort die drei bedeutenden Theologen Johann Schmidt (1594—1658), Johann Georg Dorsche (1597—1659) und Johann Conrad Dannhauer (1603—1666). Aufgrund der gleichen Vornamen nannte man diese drei Theologen die »Johanneische Trias« in Analogie zu einer ähnlichen Konstellation in Jena zur Zeit Johann Gerhards. »Johanneische Trias - damit war nicht nur an die Namensgleichheit der Jenaer Theologen ... mit den drei Straßburger Theologen gedacht, sondern auch an die glückliche johannei-
27
E R N S T LUDWIG W I L H E L M N E B E L , K u r z e Ü b e r s i c h t e i n e r G e s c h i c h t e d e r U n i v e r s i t ä t
Glessen, 122; vgl. auch ERICH KEYSER, Hessisches Städtebuch, 194. 2 8 Vgl. F. RAUERS, Wie die Kaufleute die Studenten hänselten. 2 9 Matricula facultatis theologiae 1 6 2 1 - 1 7 9 2 (AST, 410) und GUSTAV KNOD, D i e Alten Matrikeln der Universität Straßburg, Bd. 1, 657. 3 0 Vgl. dazu MARTIN GRESCHAT, Martin Bucer, ERNST BIZER, Studien zur Geschichte des Abendmahlsstreits, und WALTER KÖHLER, Zwingli und Luther, B d . 2. Zur weiteren Literatur über Bucer vgl. M . STUPPERICH, Art. »Bucer«, in: T R E , Bd. 7, 2 5 8 - 2 7 0 . 31
PAUL G R Ü N B E R G , S p e n e r , B d . 1, 1 3 5 ; v g l . a u c h W I L H E L M H O R N I N G , H a n d b u c h d e r G e -
schichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 1.
88
sehe Verbindung von Orthodoxie und Frömmigkeit«. 3 2 Zu Dippels Studienzeit waren zwar diese drei namhaften Theologen bereits verstorben, doch ihr Geist wirkte weiterhin nach. Der Theologieprofessor Isaak Faust (1631—1702) war Dannhauerschüler und der berühmteste Theologe während Dippels Studienzeit in Straßburg — Sebastian Schmidt (1617—1696) — war ein Schüler von Johann Schmidt und Johann Georg Dorsche. Neben dem Ansehen der theologischen Fakultät war für viele Studenten der besondere R u f der Stadt Straßburg ausschlaggebend, wenn sie sich fur diesen Studienort entschieden, bot es doch für Geselligkeit und Zerstreuung mehr als andere deutsche Universitätsstädte. Dadurch kamen der »Weltmann, der Galanthomme des 17. Jahrhunderts, ... wie dann auch später im 18. Jahrhundert der Rokokostutzer« voll auf ihre Kosten, 3 3 weshalb Straßburgs vor allem adelige Studenten anzog, wie auch Söhne aus reichen Bürgersfamilien. 3 4 Zwar stammte Dippel aus eher bescheidenen Verhältnissen, doch könnte fur ihn dieser R u f Straßburgs durchaus eine untergeordnete Rolle bei der Wahl eines Studienortes gespielt haben. Denn ein gewisses weltmännisches Auftreten, das seinen Ursprung möglicherweise in seinem Aufenthalt auf dem Schloss im Odenwald hatte, zeichnete ihn in seinem späteren Leben aus. Dennoch ist zu vermuten, dass Dippel Straßburg in erster Linie wegen seines entschieden lutherischen Charakters als Studienort wählte. Denn seine Alternative war die Wittenberger Universität gewesen, die ebenfalls ein Hort des orthodoxen Luthertums war. Bei der Entscheidung zwischen den beiden streng lutherischen Universitäten mag der mit Sebastian Schmidt zusammenhängende R u f Straßburgs als Hochburg der Exegese für Dippel den Ausschlag gegeben haben. Denn aufgrund dieses ausgezeichneten Exegeten wurden gerade solche Theologiestudenten nach Straßburg gezogen, die vor allem an der Auslegung der Schrift interessiert waren. 35 Nach allem, was wir über Dippels Gymnasialzeit und bisheriges Studium wissen, kann die Exegese als ein Hauptschwerpunkt seines bisherigen theologischen Interesses gelten. Im Gegensatz zu Gießen war Straßburg eine Großstadt, die zudem in einem gewissen Grade demokratische Strukturen aufwies. 1602 hatte es
32
JOHANNES WALLMANN, Straßburger lutherische O r t h o d o x i e , 5 6 .
ARTHUR SCHULZE, D i e örtliche u n d soziale H e r k u n f t der Straßburger S t u d e n t e n , 119. B e i d e B e g r i f f e v e r w e n d e t D i p p e l zur Selbstcharakterisierung w ä h r e n d seiner Straßburger Z e i t : » . . . daß ich Profession v o n e i n e m Galant h o m m e . . . machte, u n d [mich] in allen S t ü c k e n ... als e i n e n ansehnlichen Stutzer aufführte« (I, 3 8 6 ) . 3 4 SCHULZE, D i e örtliche u n d soziale H e r k u n f t der Straßburger S t u d e n t e n , 116—131. E i n beträchtlicher Teil der S t u d e n t e n s c h a f t k a m aus d e m H o c h - , Stadt- u n d L a n d a d e l . D a n e b e n g a b es wahrscheinlich einen g r o ß e n Teil v o n Patriziersöhnen, w ä h r e n d aus ländlichen G e g e n den nur w e n i g e an die Universität z o g e n . A r m e S t u d e n t e n stellten eine v e r s c h w i n d e n d e M i n derheit dar (SCHULZE, ebd.). 33
35
Vgl. HORNING, H a n d b u c h der G e s c h i c h t e der evang.-luth. K i r c h e in Straßburg, 11.
89
dort etwa 35 000 Einwohner gegeben, 36 doch war deren Zahl während des Dreißigjährigen Krieges, der hier zwar nicht direkt gewütet hatte, zurückgegangen. Im Jahre 1697, also etwa zu Dippels Studienzeit, wurden 5119 Katholiken und 21362 Protestanten gezählt. 37 Im Vergleich zu der recht zahlreichen Bevölkerung nahm sich die kleine Studentenschaft dürftig aus. Dippel war einer der 50 Studenten, die sich nachweislich im Jahre 1695 in Straßburg inskribierten. Zwischen 1693 und 1696 38 haben sich durchschnittlich sogar noch weniger Studenten pro Jahr eingeschrieben. Nach den Zahlen in der Straßburger Matrikel gab es während Dippels Studienaufenthaltes, wenn man von einer durchschnittlichen Studienzeit von zwei Jahren ausgeht, 39 nicht einmal 70 Studenten. 40 Doch da in allen vier Fakultäten die Dekanate zeitweise unbesetzt waren, muss davon ausgegangen werden, dass das Zahlenmaterial unvollständig ist. So kann die Zahl der Studenten während Dippels Studienzeit auf knapp 100 geschätzt werden. Wenige Jahre zuvor hatte Straßburg noch deutlich mehr Studenten aufzuweisen. 41 Es hatte sich vor allem der Zustrom aus den deutschsprachigen und skandinavischen Ländern reduziert. Kamen früher aus dem Eisass und aus Straßburg zusammen nur etwa 13% der Studenten, so waren es um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert etwa 38%. 42 Von den wenigen Studenten in Straßburg studierten im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts nur ein recht kleiner Teil an der theologischen Fakultät. Ihre Matrikelzahlen dürften in den Jahren zwischen 1693 und 1696 fast vollständig sein, weshalb die Zahl der sich in dieser Fakultät eingeschriebenen Studenten gut auf durchschnittlich etwa sieben Studenten pro Jahr geschätzt werden kann. Wenn wir berücksichtigen, dass das theologische Dekanat lediglich zwischen November 1695 und Mai 1696 vakant war, 43 dürfte die Zahl der Theologiestudenten geringfügig höher gelegen haben. Zu diesen müssen aber außerdem noch Studierende gerechnet werden, die in Straßburg das Grundstudium absolviert hatten und, ohne sich noch einHORNING, Handbuch der Geschichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 5 6 . EMIL VON BORRIES, Geschichte der Stadt Straßburg, 2 1 1 . 3 8 D i e Jahre 1 6 9 3 und 1 6 9 4 hatten in Bezug auf die Studentenzahl bereits A u s w i r k u n g e n auf Dippels Studienaufenthalt in Straßburg. 3 9 Anders als in G i e ß e n scheint die durchschnittliche Studiendauer nur zwei Jahre gedauert zu haben, da R ü c k k e h r e r anders als in G i e ß e n w i e d e r neu immatrikuliert w u r d e n . Trotzdem muss v o n einer mit zwei Jahren überdurchschnittlich langen Studiendauer ausgegangen w e r den, da das C o l l e g i u m W i l h e l m i t a n u m eine R e i h e v o n Studenten lange in Straßburg hielt (s.u. S. 9 5 , A n m . 73). 4 0 Vgl. KNOD, D i e alten Matrikeln der Universität Strassburg, Bd. 1 u n d 2, zum Jahr 1 6 9 5 und zu den Jahrgängen 1 6 9 3 - 1 6 9 6 . 4 1 Vgl. JOHANNES WALLMANN, Spener und die A n f ä n g e des Pietismus, 6 6 . Wallmann geht davon aus, dass es zu Speners Studienzeit m e h r als 300—400 Studenten gab. 4 2 SCHULZE, D i e örtliche und soziale H e r k u n f t der Straßburger Studenten, 7 2 f. 4 3 Vgl. bei KNOD (Die alten Matrikeln der Universität Strassburg Bd. 1) die Matrikel der theologischen Fakultät der Jahre 1 6 9 5 und 1 6 9 6 . 36 37
90
mal in der theologischen Fakultät einschreiben zu müssen, in dieser weiterstudierten. 44 Entsprechend kann die genaue Zahl der Theologiestudenten zu Dippels Studienzeit nur geschätzt werden. Von den etwa zwanzig Philosophiestudenten, die sich jährlich in Straßburg immatrikulierten, dürfte ein recht großer Teil nach dem Grundstudium die Ausbildung beendet, ein Teil auf einer anderen Hochschule das Studium fortgesetzt und ein weiterer Teil in Straßburg eine höhere Fakultät besucht haben. Wir gehen deshalb wohl nicht fehl in der Annahme, dass nur ein geringer Teil der Philosophiestudenten später zur Theologie wechselte. Z u Dippels Studienzeit gab es entsprechend wohl etwa zwanzig Theologiestudenten für die in den beiden Jahren 1695 und 1696 drei bis vier Professoren zuständig waren. Die niedrigen Studentenzahlen in Straßburg hingen mit der politischen Situation der Stadt zusammen. Straßburg hatte 1681 vor den Truppen Ludwigs XIV. kapitulieren müssen und war seitdem von französischen Truppen besetzt. Ludwig X I V . hatte der Stadt zwar bei den Kapitulationsverhandlungen alle alten Privilegien zugestanden, zu denen u.a. die Religionsfreiheit gehörte. Aber von Anfang an waren zwei Bestrebungen für »die französische Politik der Stadt gegenüber ... [bestimmend] : die Förderung der katholischen Kirche und ... die Stärkung des französischen Elements«. 4 5 Zwar wurde Straßburg weiterhin durch die alten Gremien und nicht direkt durch den französischen König regiert, doch bestimmte ein Gesetz von 1687, »daß die Hälfte aller Amter und Ratstellen in der bis 1681 rein protestantischen Stadt in katholischen Händen sein sollte«, 46 wodurch die verhältnismäßig kleine Zahl der Katholiken unterstützt wurde. Zu Dippels Studienzeit war Straßburg durch den Zuzug von Katholiken, vor allem aus Frankreich, geprägt. Außerdem wurde mit allen Mitteln massiv für die katholische Kirche geworben. So sollte beispielsweise ein Ubertritt zum Katholizismus fur die Karriere eines Protestanten sehr hilfreich sein. 47
4 4 In den Matrikeln der Universität Straßburg scheint dies unterschiedlich gehandhabt worden zu sein. War es in früheren Zeiten noch üblich gewesen, dass ein Student nach abgeschlossenem Grundstudium sich in die Matrikel einer der höheren Fakultäten einschrieb, so war dies zu Dippels Studienzeit nicht mehr der Fall. Von allen Straßburger Hochschülern des Jahres 1695, die in der Matrikel der philosophischen Fakultät eingetragen sind (im Jahre 1696 fehlen solche vollständig), findet sich kein einziger, der noch zusätzlich in der Matrikel der theologischen Fakultät verzeichnet ist. Dabei ist von den einheimischen Studenten anzunehmen, dass sie am ehesten in ihrer Heimatstadt weiter studierten. Dieses völlige Fehlen in der M a trikel der theologischen Fakultät lässt darauf schließen, dass das Studium ohne erneute Einschreibung fortgesetzt werden konnte. Vgl. auch WALLMANN (Spener und die Anfänge des Pietismus, 70, Anm. 17), der davon ausgeht, dass die Studentenzahlen in der theologischen Fakultät um einiges höher gelegen haben, als dies aus der Matrikel hervorgeht. 4 5 BORRIES, Geschichte der Stadt Straßburg, 207. Vgl. zur Politik der Stärkung des Katholizismus a.a.O., 208ff. 4 6 BORRIES, Geschichte der Stadt Straßburg, 207. 4 7 JULIUS RATHGEBER, Zur Geschichte der Straßburger Kapitulation, 66.
91
Der Straßburger Universität wurde in den Kapitulationsverhandlungen von Ludwig X I V . eine Sonderstellung zugestanden. Sie unterstand dem Magistrat und war auch in finanzieller Hinsicht von den französischen B e satzern unabhängig, da sie ihre Einkünfte hauptsächlich aus dem St. T h o masstift bezog. W i e in Gießen war die Universität in Straßburg eine eigene Körperschaft, die aber nicht das Privileg einer eigenen Gerichtsbarkeit besaß. D o c h gab es hier zumindest eine eigene akademische Polizei und mit Genehmigung des Ammeisters durften Verhandlungen über geringe Vergehen von dem R e k t o r der Universität entschieden werden. Aufgrund der von Ludwig X I V . zugestandenen Sonderstellung der Universität konnte die theologische Fakultät beispielsweise ihre Arbeit auch nach 1681 ungehindert im lutherischen Geiste fortsetzen. 4 8 Zu Dippels Professoren zählten neben dem hervorragenden Exegeten Sebastian Schmidt, 4 9 der allerdings während Dippels Studienzeit, am 9. Januar 1696 starb, Johann Joachim Zentgraf (1643—1707), Isaak Faust (1631—1702) und Bernhard Wagner. 5 0 Zentgraf, der 1695 von der philosophischen in die theologische Fakultät aufrückte, sollte zum wichtigsten Straßburger Lehrer Dippels werden. Er hatte in Straßburg und Wittenberg studiert und seine ersten Kollegien als Magister in Wittenberg gehalten. 1686 promovierte er zum Doktor der Theologie und wurde 1695 in Straßburg zum ordentlichen Professor an der theologischen Fakultät ernannt. Seine prägendsten Lehrer waren Johann Conrad Dannhauer, Sebastian Schmidt und Balthasar Bebel und der Wittenberger Abraham Calov. Z e n t graf, der sich später als Kirchenpräsident gegen den Pietismus einsetzen sollte, 51 darf als konsequenter Vertreter der lutherischen Orthodoxie gelten. Seinen Schwerpunkt bildete die Systematische Theologie, 5 2 doch scheint er sich auch mit neutestamentlicher Exegese beschäftigt zu haben
4 8 AUGUST SCHRICKER, Zur Geschichte der Universitaet Strassburg, 36. 38; vgl. auch HERMANN LUDWIG, Straßburg. Von der alten und der jungen Hochschule, 152. 4 9 Zu Schmidt vgl. WALLMANN, Spener und die Anfänge des Pietismus, 96f., GRÜNBERG, Spener, Bd. 1, 111, und HORNING, Handbuch der Geschichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 6 f. 11 f. Zu den zahlreichen exegetischen Schriften Schmidts vgl. JOHANN GEORG WALCH, Bibliotheca theologica selecta, Bd. 4, 75f. 407. 454. 467. 648. 671. 682. 691. 712. 727. 845f. u. ö. 5 0 Matricula facultatis theologicae (AST, 409). Vgl. auch Annales des Professeurs, facultas theologica, 3, und JOHANN GEORG HERMANN, Leben Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach weyland hochverdienten SchöfFens und Rathsherrn der Reichs-Stadt Frankfurt am Mayn, Ulm 1753, 20. 51
JOHANN HEINRICH ZEDLER, G V U L , B d . 6 1 , 1 3 3 7 - 1 3 4 2 ; HORNING, H a n d b u c h der G e -
schichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 37. Vgl. auch ZENTGRAF, Historischer Bericht. Zentgraf hat später Dippels Theologie scharf abgelehnt. Vgl. einen undatierten B r i e f an J. H. May (SUB Hamburg, sup. ep. (4°) 16, 2 7 8 - 2 8 0 ) . Leider finden sich in diesem Brief keine Hinweise auf Dippels Studium in Straßburg. 5 2 Vgl. Zentgrafs bei WALCH aufgeführten Schriften (Bibliotheca theologica selecta, Bd. 1, 92. 445. 490; Bd. 2, 455. 509. 1126).
92
und verfasste 1704 einen Kommentar zum Titusbrief. 5 3 Auch Faust kann als orthodoxer Theologe gelten, der selbst in Straßburg studiert und in Dannhauer seinen wichtigsten Lehrer gefunden hatte 5 4 und sich in seinen Schriften mit typischen T h e m e n der lutherischen Orthodoxie beschäftigte. 55 Wagner war als Nachfolger Sebastian Schmidts wie dieser stark an der Exegese interessiert, wie ein Blick auf seine Bibliographie zeigt: 14 seiner bei Zedier aufgeführten 21 Werke behandeln exegetische Themen.56 Das Studium war in Straßburg ähnlich wie in Gießen aufgebaut 57 und wie dort waren die Universitätsstatuten des 17. Jahrhunderts vom Geiste des strengen Luthertums geprägt. So wurden die Professoren unter anderem auf die Confessio Augustana invariata verpflichtet. 5 8 Ein Unterschied bestand in der Vernachlässigung der öffentlichen Vorlesungen durch die Studenten, die es in Gießen zwar ebenfalls gegeben hatte. Aber dort hatte man diesen Missstand früh erkannt und war dagegen angegangen. So war die regelmäßige Teilnahme an den Vorlesungen den Stipendiaten zur Pflicht gemacht worden und die Professoren waren aufgrund einer Instruktion des Landgrafen dazu verpflichtet worden, ihre Vorlesungstätigkeit den Bedürfnissen der Studenten anzupassen. 59 In Straßburg schienen dagegen die Privatkollegien, für die jeder Student dem Professor eine Gebühr zu entrichten hatte, auf Kosten der öffentlichen Vorlesungen zu blühen. Es wurde geklagt, dass die Letzteren häufig vor leeren Bänken stattfanden. 60 Diese Unsitte hatte an nahezu allen deutschen Universitäten dazu geführt, dass die Privatkollegien einen grundlegend anderen Charakter erhalten hatten. Waren sie ursprünglich Repetitorien gewesen, in denen der in den öffentlichen Vorlesungen behandelte Stoff nochmals wiederholt wurde, so war inzwischen die Behandlung des gesamten Lehrstoffs in die Privatkollegien verlegt worden, wodurch sich für die meisten Studenten der Besuch der öffentlichen Vorlesungen erübrigte. 61
53 Commentarius in epistolam Paulli [!] ad Titum, continens eiusdem analysin et exegesin, Straßburg 1704. 5 4 WALLMANN, Straßburger lutherische Orthodoxie, 58; ZEDLER, G V U L , Bd. 9, 334f.; HORNING, Handbuch der Geschichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 33f. 5 5 WALCH, Bibliotheca theologica selecta, Bd. 1, 72f. 78. 85. 94. 97. 99. 134. 5 6 ZEDLER, GVUL, Bd. 52, 641 f. Bei WALCH sind nur zwei Schriften Wagners aufgeführt (Bibliotheca theologica selecta, Bd. 1, 114 und Bd. 3, 124). Vgl. zu Wagner auch HERMANN, Leben Herrn Zacharias Conrad von UfFenbach, 22. Die Lebensdaten Wagners sind in den biographischen Lexika nicht angegeben. 57 Vgl. GRÜNBERG, Spener, Bd. 1, 1 4 - 1 7 . 58
JULIUS RATHGEBER, Statuta Academiae, 1 9 5 f .
224.
Die Gießener Vorlesungsverzeichnisse zeigen, dass die Gießener Professoren bei ihren Vorlesungen den Bedürfnissen der Studenten gerecht zu werden versuchten und kaum mehr über mehrere Semester ein und dasselbe Thema traktierten (UAG, Allg 1535). 6 0 SCHRICKER, Zur Geschichte der Universitaet Strassburg, 37. 59
61
EWALD HORN, K o l l e g u n d H o n o r a r , 2 0 .
93
Nach den Universitätsstatuten bildete die Exegese den Hauptschwerpunkt des Theologiestudiums. Täglich sollten vormittags und nachmittags jeweils zwei Stunden exegetische Vorlesungen gehalten werden. Die Statuten schlagen für die Vormittagsvorlesungen die Evangelien und den Pentateuch, für den Nachmittag die alttestamentlichen Propheten und das paulinische Schrifttum vor. Die biblischen Schriften sollen anhand des hebräischen Alten und des griechischen Neuen Testaments erklärt werden. Allerdings durften die Professoren anstelle exegetischer systematische Vorlesungen halten, von welcher Möglichkeit im 17. Jahrhundert weitgehend Gebrauch gemacht wurde. 62 In Dannhauers umfangreichem Schrifttum beispielsweise wird der Bibeltheologie kaum R a u m gegeben. 6 3 D o c h anders als an anderen Hochschulen nahm die Exegese zumindest zur Zeit Sebastian Schmidts in Straßburg einen recht breiten R a u m ein, weshalb Spener bei seiner Klage über die Vernachlässigung der Bibelwissenschaft auf Straßburg als leuchtende Ausnahme hinweisen konnte. 6 4 Auch bei Schmidts Nachfolger Wagner wird die Exegese einen wichtigen Schwerpunkt gebildet haben, wie seine vorwiegend exegetischen Schriften nahelegen. Die Theologieprofessoren sollten auf die Lebensweise ihrer Studenten Einfluss ausüben. Wenn diese ihr Studium vernachlässigten oder einen unsittlichen Lebenswandel pflegten, sollten sie ermahnt werden. Außerdem waren die Theologieprofessoren verpflichtet, einmal in der Woche die Studenten und älteren Schüler unter Berücksichtigung des Evangelien- oder Episteltextes des nachfolgenden Sonntags zu ermahnen. 6 5 Diese Maßnahmen hatte wohl Erfolg, denn Straßburg galt nach dem Dreißigjährigen Krieg in Bezug auf studentische Sitte als ein Musterbeispiel unter den U n i versitäten in Oberdeutschland. Wohl auch deshalb schickten »Reichsadel und vornehmes Bürgertum ... ihre Söhne nach Straßburg«, dessen Universität als »Prinzenuniversität« galt. 66 Vor der Immatrikulation blieb Dippel als mittlerweile gestandenem M a gister der Philosophie die Zeremonie der Deposition erspart, die er wahrscheinlich noch in Gießen über sich hatte ergehen lassen müssen. 67 Aller-
RATHGEBER, Statuta Academiae, 225. Vgl. auch GRÜNBERG, Spener, Bd. 1, 15f. WALLMANN, Straßburger lutherische Orthodoxie, 66. 6 4 Vgl. WALLMANN, Spener und die Anfänge des Pietismus, 97 f. 6 5 RATHGEBER, Statuta Academiae, 227. 226. 6 6 WALLMANN, Spener und die Anfänge des Pietismus, 66. Beispielsweise besuchten die beiden Prinzen Ludwig und Ludwig Heinrich zu Solms-Rödelheim, bzw. Assenheim (vgl. zu beiden unten S. 261 f.), deren Vormund der Graf Johann Friedrich von Solms-Laubach war, die Straßburger Universität (HERMANN BRÄUNING-OKTAVIO, AUS Briefen Speners, 185. 188. 190). 6 7 Zum Gebrauch der Deposition in Straßburg zu dieser Zeit vgl. HORNING, Handbuch der Geschichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 57, und SCHRICKER, Zur Geschichte der Universitaet Strassburg, 35. 62
63
94
dings musste er fur seine Immatrikulation eine Gebühr bezahlen, die mindestens fünf Schillinge betrug. Uberhaupt zeichnete sich das Studium in Straßburg durch reichliche Abgaben aus 68 und war auch in anderer Hinsicht teuer. Nach der Lebensbeschreibung eines ehemaligen Hochschülers, der kurz vor Dippel in Straßburg studierte, war das Studium hier generell kostspieliger als in anderen Städten. Das lag wohl in erster Linie an den hohen Lebenshaltungskosten, die durch die vielen hier studierenden Adeligen weit nach oben getrieben worden waren. 69 Dippel hielt seine Ausgaben dadurch in Grenzen, dass er zeitweise bei einem Herrn von Landsperg wohnte und dafür dessen Sohn erzog und unterrichtete. 70 In der Erziehung junger Adeliger besaß er durch seine Hauslehrertätigkeit, die er vor der Fortsetzung seines Studiums in Straßburg ausgeübt hatte, eine gewisse Erfahrung. Allerdings hat er später von sich behauptet, für diese Aufgabe nicht die nötige Geduld zu besitzen. 71 Dippel hat die Stellung etwa um die Jahreswende von 1695 auf 1696 angetreten und behielt sie bis Ende Juni 1696. 7 2 Wo er zu Beginn der Straßburger Studienzeit untergekommen war, ist nicht mehr festzustellen. Es kann lediglich ausgeschlossen werden, dass Dippel zuvor im Collegium Wilhelmitanum gewohnt hatte, einem Studienstift das nach 1660 im ehemaligen Dominikanerkloster untergebracht war, da er in der Schülerliste nicht aufgeführt ist. 73
RATHGEBER, Statuta Academiae, 276 f. HERMANN, Leben Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach, 23. Vgl. auch BRÄUNINGOKTAVIO, AUS Briefen Speners, 188. 7 0 AST, 385, Protokoll vom 28. Juni 1696. 68
69
71
I,
160.
AST, 385, Protokoll vom 28. Juni 1696: »... daß M . Dippelius ... seiner freyen condition, welche Er bißhero wegen inspection und information H . von Landsperg jüngeren Sohns genossen, sich enteussern soll ...«. N a c h dem Lebens-Lauff hat Dippel ein halbes Jahr kostenlos in Straßburg gewohnt (I, 386). 1 1 AST, 466. Dieses Studienstift bot armen Theologiestudenten die Möglichkeit, während ihres Studiums zentral zu wohnen. Gute Studienbedingungen waren dort vorhanden, weil die theologischen Hörsäle nicht weit entfernt lagen (ALFRED ERICHSON, Das theologische Studienstift Collegium Wilhelmitanum, 57. 60; GUSTAV ANRICH, Die Universität Straßburg v o m 16. Jahrhundert bis 1918, 185f.; JULIUS RATHGEBER, D i e handschriftlichen Schätze der früheren Straßburger Stadtbibliothek, 5f.). Bei der Aufnahme wurden die Fähigkeiten und die Frömmigkeit der Studenten berücksichtigt (ERICHSON, Collegium Wilhelmitanum, 45). Ähnlich wie in der Gießener Stipendiatenanstalt war auch hier das Leben der Studenten genauestens geregelt. So begann der Tag im Sommer um 5 und im Winter um 6 U h r mit einem Morgengebet und schloss abends mit einem Abendgebet. An diesen Gebeten teilzunehmen, war für j e d e n Beneficarius Pflicht. D e r Studienfortschritt wurde überwacht und zweimal im Jahr wurde eine Prüfung abgehalten. Schließlich gab es sogar Kleidervorschriften, nach denen ein Student nicht allzu modisch gekleidet sein durfte (ERICHSON, Collegium Wilhelmitanum, 72
46-48).
95
Erste
Profilierungsversuche
Dippel war nach Straßburg gekommen, u m sich im Kampf gegen den Pietismus zu profilieren, doch entgegen seinen Erwartungen hörte m a n hier kaum antipietistische Polemik. Das theologische Klima war in der von Frankreich eroberten Stadt nicht durch den Gegensatz von Pietismus u n d O r t h o d o x i e geprägt, sondern durch den zwischen Protestantismus u n d Katholizismus. 74 Straßburg war somit als Erscheinungsort für die im O d e n wald geschriebene antipietistische Streitschrift schlecht geeignet. D o c h Dippel, der »im Krieg wider Pietisten [als] ein M a n n erfunden zu werden« trachtete, machte trotzdem den Versuch, die Schrift Wie weit der seligmachende Glaube einen Irrthum in der Lehr könne zulassen hier zu veröffentlichen. D o c h die kirchenpolitische Situation ließ die Drucklegung seines Werkes nicht zu, 75 da man nicht durch innerprotestantische Streitigkeiten den Katholiken, die durch Ludwig XIV. ohnehin unterstützt wurden, »Ursach zum Lästern geben« wollte. Außerdem, so schreibt Dippel in seinem Lebens-Lauff, hatte »Spener allda viele Freunde u n d Verwandte nach d e m Fleisch«. 76 Aus diesen Angaben kann man allerdings nicht schließen, dass sich der Pietismus in Straßburg auch nur ansatzweise durchgesetzt hatte, 77 sondern nur, dass Spener dort angesehene Verwandte hatte. Dippels Straßburger Lehrer J o h a n n Joachim Zentgraf schrieb 1706 in einem Bericht 7 8 , dass sich der Pietismus erst im Jahre 1700 in Straßburg gezeigt habe, dann allerdings in einer teilweise radikalen Erscheinungsform. 7 9 Die theologi74
Vgl. JOHANN ADAM, Evangelische Kirchengeschichte der Stadt Straßburg, 4 2 2 - 4 4 7 . Lebens-Lauff, I, 384. Wahrscheinlich passierte die Schrift nicht die Zensur. 76 Lebens-Lauff, I, 384. Bei d e n Verwandten dachte Dippel w o h l in erster Linie an Speners Schwiegereltern u n d Verwandte der Eltern. D i e Eltern Speners waren nämlich beide g e b ü r tige Straßburger (JOHANNES WALLMANN, Spener, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. 75
M A R T I N GRESCHAT, B d . 7 , 2 0 6 ; M A R T I N B R E C H T , S p e n e r , s e i n P r o g r a m m u n d d e s s e n A u s -
w i r k u n g e n , 281). A u c h innerhalb der Universität hatte es Verwandte Speners gegeben (WALLMANN, Spener u n d die Anfange des Pietismus, 72), die allerdings vor Dippels Studienbeginn bereits verstorben waren. 77 Die theologische Fakultät war Speners R e f o r m v o r s c h l ä g e n g e g e n ü b e r ablehnend eingestellt (BRECHT, Spener, sein P r o g r a m m u n d dessen Auswirkungen, 313f. 321; vgl. auch WALLMANN, Spener u n d die Anfänge des Pietismus, 192f.). 78 Deß Evangelischen Kirchen-Convents in Straßburg abgenothigter historische Bericht/ von der jüngst daselbs [!] entstandenen pietistischen Brüderschafft/ und philadelphischen Gesellschafft, Straßburg 1706. Als Ergänzung dazu vgl. JOHANN FRIEDRICH HAUG, Zeugnusz der Liebe an die Inwohnere der Stadt Straßburg und Eßlingen. Jener Lutherisch-genannte insonderheit in sich fassend einen kurtzen Historischen Gegen-Bericht/ so viel seine Personen betrifft/ auff des Straßburgischen Kirchen-Convents also genannten abgenöthigten Historischen Bericht von der daselbs entstandenen Pietistischen Brüderschafft und Philadelphischen Gesellschafft/ wobey zugleich auff dessen vornehmste Haupt-Beschuldigungen beyläuffig geantwortet wird/ samt einer Stimme der Warnung und Erweckung/ vor die/ so es bedöffen, o. O. 1708. 79 Vgl. FRIEDHELM ACKVA, D e r Pietismus in Hessen, in der Pfalz, im Elsaß u n d in Baden, 214 ff. Allerdings war der Begriff »Pietismus« damals ein S c h i m p f w o r t , der, wie die pietistischen Streitigkeiten an der G i e ß e n e r Universität gezeigt haben, eher fur radikale Vertreter des Pietismus verwendet wurde.
96
sehe Fakultät war nach Zentgraf bis zum Ende des 17. Jahrhunderts allein der lutherischen O r t h o d o x i e verpflichtet, 8 0 doch trotzdem gab es in Straßburg auch schon während Dippels Studienzeit vereinzelt Vertreter des Pietismus. Z u diesen gehörte der Jurist J o h a n n Schilter (1632—1705), der kurze Zeit nach Dippels Studienbeginn in Straßburg eine Stelle a n g e n o m m e n hatte, die man mit d e m heutigen Amt eines Staatsanwalts vergleichen kann. Z u d e m war er Honorarprofessor u n d ab 1699 odentlicher Professor an der juristischen Fakultät. Schilter war mit Spener befreundet u n d mit Johann Wilhelm Petersen bekannt 8 1 und hatte sich bereits vor seiner Straßburger Zeit intensiv mit d e m Chiliasmus auseinander gesetzt. Petersen zählte ihn in seiner Schrift Nubes Testium Veritatis von 1696 zu den »Zeugen für das künftige Tausendjährige Reich«. 8 2 N e b e n Schilter kann auch der Professor fur Eloquenz, Johann Artopoeus (1626-1702), dem Pietismus zugerechnet werden. 8 3 Anscheinend aber hielten sich die Pietisten in Straßburg Ende des 17. Jahrhunderts zurück u n d traten nicht an die Öffentlichkeit. 8 4 Z u d e m werden Theologiestudenten mit den beiden G e nannten kaum näher in Kontakt g e k o m m e n sein. Eine Beeinflussung durch Schilter ist zudem höchst unwahrscheinlich, da in Dippels Entwicklung zu seiner radikalpietistischen Theologie der Chiliasmus, der von Schilter massiv vertreten wurde, keine Rolle spielen sollte. 85 O b w o h l die Straßburger theologische Fakultät im gesamten 17. Jahrhundert u n d darüber hinaus der lutherischen O r t h o d o x i e verpflichtet war, wird man ihr nicht gerecht, wenn man sie schlechthin im Gegensatz zum Pietismus sieht. Die Straßburger Theologen waren z. T. von Johann Arndts Schriften geprägt, an dessen Frömmigkeit der Pietismus anknüpfte. A u ß e r d e m konnte Spener seine Lehrer Johann Conrad Dannhauer sowie Johann und Sebastian Schmidt als seine geistigen Väter bezeichnen, wenn von ihnen auch nur J o h a n n u n d Sebastian Schmidt als Wegbereiter des Pietismus anzusehen sind. 86 D o c h auch diese haben sich d e m Pietismus ebensowenig
80 ZENTGRAF, Historischer Bericht, 15. N a c h A d a m hat es in Straßburg vor 1700 n u r einen einzigen Fall gegeben, der mit d e m Pietismus in Z u s a m m e n h a n g gebracht w e r d e n kann, n ä m lich 1697, also etwa ein Jahr n a c h d e m Dippel Straßburg w i e d e r verlassen hatte. In diesem Jahr w u r d e ein pietistischer S t u d e n t aus d e m Studienstift C o l l e g i u m W i l h e l m i t a n u m ausgeschlossen (ADAM, Evangelische Kirchengeschichte, 473; ERICHSON, C o l l e g i u m W i l h e l m i t a n u m , 68 f.). 81
V g l . JOHANNES WALLMANN, B u c e r u n d d e r P i e t i s m u s , 7 2 4 f . , u n d EISENHART,
Art.
»Schilter«, in: A D B , Bd. 31, 2 6 6 f. 82 WALLMANN, B u c e r u n d der Pietismus, 725. 83
WALLMANN,
ebd.
84
Vgl. ZENTGRAF, Historischer Bericht, u n d ACKVA, D e r Pietismus in Hessen, in der Pfalz, i m Elsaß u n d in Baden, 2 1 4 - 2 1 6 . 85 In der Orcodoxia Orthodoxorum von 1697 sollte D i p p e l die Versuche, a u f g r u n d d e r J o h a n nes-Apokalypse die Z e i t zu d e u t e n , kritisieren (s.u. S. 181). 86 Vgl. WALLMANN, S p e n e r u n d die A n f ä n g e des Pietismus, 95. Von Speners L e h r e r n war w o h l D a n n h a u e r derjenige, der »die geringsten Spuren einer Vorbereitung des Pietismus e r -
97
angeschlossen wie ihre unmittelbaren Nachfolger. So blieb Speners R e formprogramm, das er in den Pia desiderio, vorgestellt hatte, in Straßburg zumindest im 17. Jahrhundert wirkungslos. »Die theologische Fakultät in Straßburg verhielt sich [sogar] ablehnend gegen Speners Bestrebungen ..., offener Streit mit ihm wurde j e d o c h geflissentlich vermieden«. 8 7 So hat es nicht eine d e m Pietismus freundliche Haltung der Straßburger Theologen Dippel verwehrt, sich im Kampf gegen den Pietismus zu profilieren, sondern das Bewußtsein der dortigen Theologen, dass innerprotestantische Streitigkeiten d e m Vordringen des Katholizismus Vorschub leisten würden. Dippel wollte neben dem Theologiestudium, das er in Straßburg f o r t setzte, zugleich als Privatdozent in der philosophischen Fakultät Privatkollegien halten. Auf diese Weise hätte er sich für eine Professur oder ein anderes angesehenes Amt in seiner Heimat qualifizieren k ö n n e n . A u ß e r d e m konnte man mit den Kolleggeldern, die man von den Besuchern der P r i vatkollegien erhielt, seinen Lebensunterhalt aufbessern. 8 8 U m die Erlaubnis zu erhalten, Privatkollegien zu halten, schrieb er »als ein Libertiner (FreyGeist) in der Philosophie [d.h. als jemand, der sich frei weiß von anerkannten Autoritäten in der Philosophie], eine heterodoxe ... Disputation, deren T h e m a war: D a ß alle erschaffene Geister ihrem Wesen nach, in gewissem Unterschied materialisch wären« u n d bat am 4. September den Dekan der philosophischen Fakultät, seine Disputation halten zu dürfen, wobei er zugleich als Präses u n d als R e s p o n d e n t auftreten wollte. 89 Allerdings wurde Dippels Antrag mit der B e g r ü n d u n g abgelehnt, »weil es etwas neues« sei. 90 Die Kritik an der N e u e r u n g bezog sich in erster Linie auf die in Straßburg nicht übliche Vermengung der Aufgaben des Vorsitzenden und des R e s pondenten. In zweiter Linie wurde Dippels Antrag wohl abgelehnt, weil seine Thesen der herrschenden Philosophie mit ihrer aristotelischen Grundlage 9 1 allzusehr entgegengesetzt waren. Dippel war wegen dieser Ablehnung so empört, dass er »aus Z o r n u n d U n m u t h schier ein Fieber b e k o m m e n hätte«. 92 N a c h seinem Lebens-Lauff will sich Dippel bei der zentralen These, dass auch Geister eine gewisse Materialität besitzen, auf platonische Philosokennen läßt« (WALLMANN, a.a.O., 124). Wallmann plädiert deshalb ebd. dafür, ihn aus der Reihe der Wegbereiter des Pietismus zu streichen. Am eindeutigsten kann bei Johann Schmidt von einem solchen gesprochen werden. 87 ADAM, Evangelische Kirchengeschichte, 473. Vgl. auch BRECHT, Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, 317. 321, HORNING, Handbuch der Geschichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 84f., und GRÜNBERG, Spener, Bd. 1, 109-111. 139. 157f. 88 Dies tat in Straßburg etwa dreißigjahre früher Philipp Jakob Spener (GRÜNBERG, Spener, Bd. 1, 142). Eine gesetzliche Regelung über die Höhe der Kolleggelder gab es im 17. Jahrhundert noch nirgends (HORN, Kolleg und Honorar, 22). 89 Lebens-Lauff, I, 385; AST, 426, Eintrag vom 25. Oktober 1695. 90 AST, 426, Eintrag vom 25. Oktober 1695. 91 Z u m Aristotelismus in Straßburg vgl. GRÜNBERG, Spener, Bd. 1, 15FF. 92 Lebens-Lauff, I, 385.
98
p h e n , sowie auf die altkirchlichen Schriftsteller Gennadius Massiliensis, Makarios den Ägypter 9 3 u n d Tertullian b e r u f e n u n d gegen Aristoteles g e w a n d t h a b e n . Leider sind die Disputationsthesen verschollen; es ist aber wahrscheinlich, dass D i p p e l zumindest die zentralen G e d a n k e n , dieser T h e s e n i m ersten Kapitel des zweiten Teils seines 1704 erschienenen WegWeisers zum verlohrnen Liecht und Recht94 eingearbeitet hat. H i e r begegnet die H a u p t t h e s e der nicht gehaltenen Straßburger Disputation in fast w ö r t licher U b e r e i n s t i m m u n g mit den A n g a b e n des Lebens-Lauffs\ Ferner findet sich in diesem Kapitel die A b l e h n u n g der angeblichen Lehre des Aristoteles, w o n a c h dieser gelehrt h a b e n soll, dass Intelligenzen körperlos seien, gegen die sich D i p p e l schon in seinen Straßburger Disputationsthesen g e w a n d t h a b e n will. U n d a u ß e r d e m stimmt die Schilderung der T h e s e n in Dippels Lebens-Lauff auch in der positiven A u f n a h m e von G e d a n k e n der frühchristlichen Schriftsteller Gennadius, Makarios u n d Tertullian mit d e m e r w ä h n t e n Kapitel des Weg- Weisers zum verlohrnen Liecht und Recht« überein. Das Kapitel der 1704 erschienenen Schrift, in d e m sich die zentrale T h e s e der philosophischen Disputation wiederfindet, trägt die Uberschrift »Vom U r s p r u n g der natürlichen C ö r p e r n « . H i e r setzt sich D i p p e l mit den h e r r s c h e n d e n M e i n u n g e n ü b e r die Weltentstehung ex nihilo u n d ü b e r die T h e s e einer U r m a t e r i e auseinander. Er w e n d e t sich sowohl gegen die a n gebliche M e i n u n g des Aristoteles, dass Intelligenzen körperlos sind, als auch gegen die Lehre des Descartes, dass alle D i n g e e n t w e d e r rein k ö r p e r lich oder rein geistig sind. 9 5 G e g e n den »alte[n] falsche[n] Begriff, von dem Wesen eines unstreblichen [ließ: unsterblichen] Geistes, daß es alle und jede, auch die subtileste Cörperlichkeit ausschliesse«, behauptet Dippel, »daß alle Creaturen, Geistliche und Leibliche, Sichtbare und Unsichtbare ... auf gewisse Art alle geistlich, und auch leiblich sind«.96 W e n n w i r davon ausgehen, dass D i p p e l die zentralen G e d a n k e n des Kapitels »Vom U r s p r u n g der natürlichen C ö r p e r n « , die von der Leiblichkeit der Geister handeln, bereits zu B e g i n n seiner Studienzeit in Straßburg e n t wickelt hat, so ergeben sich Möglichkeiten, seine geistige E n t w i c k l u n g w ä h r e n d der f r ü h e n Studienzeit ansatzweise n a c h z u z e i c h n e n . Z u n ä c h s t
93 Die diesem zugeschriebenen Schriften wurden, wie H E R M A N N D Ö R R I E S (Symeon von Mesopotamien, 7 f.) nachgewiesen hat, in Wirklichkeit von Symeon von Mesopotamien verfasst. 94 I, 931-941. 95 Vgl. dazu W I L H E L M W I N D E L B A N D , Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 347f. Dippel schreibt zu der Substantia Cogitans des Descartes: »daß es alle und jede, auch die subtileste Cörperlichkeit ausschliesse« (I, 936). Vgl. zu der Lehre Descartes', in der die Körperlichkeit gegenüber dem cogitans nur eine geringe Rolle spielt, W O L F G A N G H Ü B E N E R , Art. »Descartes«, in: T R E , Bd. 8, 505-508. 96 I, 936.
99
scheint es wahrscheinlich, dass er schon damals Grundzüge der Lehre des Philosophen Descartes kannte. Dies deckt sich mit unserer früheren Vermutung, dass er mit dieser Philosophie bereits während seines Grundstudiums in Gießen in Berührung kam. Da Dippels Kritik an der cartesianischen Unterscheidung zwischen res externae und res cogitantes 97 eine recht zentrale Lehre in dessen philosophischem System angreift, ist anzunehmen, dass Dippel bereits während der Studienzeit Descartes generell ablehnte. Schwieriger lässt sich Dippels Kritik an Aristoteles in seine theologische Entwicklung einordnen, obwohl sie durch die Erwähnung im Lebens-Lauff mit Sicherheit in die Frühzeit des Straßburger Studienjahres gehört. Z u m einen hat Dippel die aristotelische Lehre wohl missverstanden. D e n n Aristoteles verstand unter Intelligenzen nicht einfach körperlose geistige W e sen. 9 8 Z u m anderen muss mit der Ablehnung einer falsch verstandenen Lehre noch keine Ablehnung des philosophischen Systems des Aristoteles als Ganzem gegeben sein. Dippels Bericht in seinem Lebens-Lauff, er habe in den Straßburger Disputationsthesen als ein »Libertiner . . . in der Philosophie« so heterodoxe Gedanken vertreten, dass ihm die Disputation nicht gestattet wurde, spricht aber dafür, dass er schon im Sommer des Jahres der herrschenden Philosophie, die auf der Grundlage der aristotelischen Logik und Metaphysik aufgebaut war, kritisch gegenüberstand. Der Kern der philosophischen Disputationsthesen war die Ablehnung der üblichen Trennung zwischen Geist und Leib. 9 9 »Selbst die freyen Geister ... sind nicht ihrem Wesen [nach] von aller Materie befreyet, sondern haben einen gewissen geistlichen Leib, der ihr Wesen beschränket«. 100 D a mit lehnt Dippel die verbreitete Lehre ab, dass das Leibliche bloß die Hülle des Geistigen ist, das sich von dieser Hülle wie aus einem Gefängnis zu befreien sucht. Diese Aufwertung des Leiblichen, wonach der Mensch bereits vor dem Sündenfall geist-leiblich bestimmt war, 101 findet sich bei Dippel also schon 1695. Er ist in dieser Lehre wahrscheinlich unabhängig vom Paracelsismus und Hermetismus, denn mit diesen Strömungen, wie auch mit der übrigen Naturphilosophie, hat sich Dippel erst im Zusammenhang mit seinen alchemistischen Versuchen beschäftigt, die er nach den Fata chymica erst frühesten 1698 begann. 1 0 2 Stattdessen war er in seiner Auffassung von den altkirchlichen Theologen Makarios, Gennadius und Tertullian ge-
97
Vgl. dazu WINDELBAND, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 3 4 7 f .
Vgl. dazu WINDELBAND (Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 125), wonach die höchsten Intelligenzen durch Aristoteles mit den Gestirnen identifiziert, d . h . aber körperlich gedacht werden. 98
Vgl. I, 3 8 5 mit I, 9 3 3 , 9 3 4 f . und 9 3 6 - 9 4 0 . I, 9 3 6 f. 101 I, 9 3 7 . 1 0 2 Vor seiner Beschäftigung mit verschiedenen naturphilosophischen Schriften hatte D i p pel die mit der Naturphilosophie verbundene Alchemie nicht ernst g e n o m m e n (I, 9 2 0 f . ) . 99
100
100
prägt. 103 Vor dem H i n t e r g r u n d der Hochschätzung des Leiblichen ist im Ü b r i g e n Dippels medizinisches Interesse u n d seine spätere Tätigkeit als Arzt zu sehen. Er sah sich als Arzt und auch als Verfasser seiner theologischen Schriften als Werkzeug Gottes im Dienste am inneren und äußeren Menschen an.
Orientierungssuche Bis jetzt hatte Straßburg für Dippel nur Fehlschläge geboten. Als Theologe konnte er sich nicht im Streit zwischen Pietismus und O r t h o d o x i e profilieren. An eine Veröffentlichung seiner antipietistischen Schrift, mit der er sich in der akademischen Welt einen N a m e n machen wollte, war nicht zu denken. Außerdem waren ihm die H ä n d e gebunden, philosophische Privatkollegs anzubieten, nachdem die Disputation Daß alle erschaffene Geister ihrem Wesen nach, in gewissem Unterschied materialisch wären aus formalen und wohl auch inhaltlichen Gründen nicht abgehalten werden durfte. E n t täuscht von diesen Fehlschlägen brachte Dippel seine Zeit mit anderen Dingen als der Theologie und der Philosophie zu: »Dann daß ich selbst noch viel Collegia ... hätte hören sollen, ware mir zu verdrießlich ,..«. 104 Er ließ sich von der in Straßburg üblichen laxen Haltung anstecken und b e suchte hier offenbar weniger Lehrveranstaltungen als in Gießen. Es ist aber anzunehmen, dass Dippel zu Beginn seines Straßburger Studienjahres zumindest noch eine Vorlesung bei Sebastian Schmidt hörte, der im Sommersemester 1695 eine Vorlesung anbot, soweit dies sein Gesundheitszustand erlaubte. 105 Dippel hatte ja vermutlich seinetwegen in Straßburg das Studium fortgesetzt. Außerdem stützte er sich in seiner theologischen Disputation de conversione secunda relapsorum, die er im April 1696 hielt, teilweise auf Schmidt, o h n e anzugeben, woher er diese Kenntnisse hatte. Dieser hatte eine neuartige exegetische M e t h o d e entwickelt, die darin bestand, »daß man sich von einem biblischen Buch oder einem Kapitel eine Gesamtübersicht anlegt, von der ausgehend man sich den einzelnen Versen zuwendet, in denen nicht zuerst die einzelnen Worte in ihrer Bedeutung, sondern die Verbindung der Worte untereinander ... zu beachten ist«.106 Im Gegensatz zur üblichen Auslegungsmethode kam es Sebastian Schmidt m e h r auf die Funktion der Worte im Text, als auf deren dogmatisch festgesetzte Bedeutung an. »Faktisch wird damit bei Schmidt der Exeget von der Verpflichtung befreit, sich den Sinn theologischer Termini vom Dogmatiker vorschreiben zu lassen, im Prinzip ist die U n a b h ä n 103
I, 385.
104 Lebens-Lauff, I, 385. Vgl. ebd. zum Folgenden. 105 106
AST, 451, fol. 69. Spener und die Anfange des Pietismus, 98f.
WALLMANN,
101
gigkeit der exegetischen Theologie von der Dogmatik, die man gewöhnlich erst dem Pietismus zuzuschreiben pflegt, bereits von Schmidt verfochten«. 107 Von daher ist es verständlich, dass Schmidt aufgrund seiner Exegese zu neuen Ergebnissen geführt wurde, die sich von der lutherisch-orthodoxen Normalauslegung unterschied. Eine ähnliche Form der Exegese hatte Dippel bereits bei Johann Heinrich May in Gießen kennengelernt. Hier in Straßburg wurde Dippel wohl zu einem Theologen, der eine von der D o g matik unabhängige Exegese betreiben konnte, wie seine um die Jahreswende 1696/1697 entstandene Schrift Axioma Adami veteris zeigt, in der er aufgrund einer eigenständigen Paulusexegese zu einer völlig neuen R e c h t fertigungs- und Erlösungslehre kommen sollte. Sebastian Schmidt und sein Nachfolger Bernhard Wagner haben ihn wohl auf diesem Weg gefördert. Dippel hat sicherlich auch bei Isaak Faust Vorlesungen gehört oder Kollegs besucht. Faust wird als Schüler Johann Conrad Dannhauers dessen Geist unter den Straßburger Theologen des ausgehenden 17. Jahrhunderts am stärksten repräsentiert haben. 1 0 8 Wahrscheinlich hat Dippel bei ihm im Sommersemester 1696 die dannhauersche Hermeneutik gelernt, als dieser über ausgewählte Stellen aus der Heiligen Schrift las. 109 Zumindest hat Dippel nach seinem Lebens-Lauff bereits gegen Ende seines Straßburger Studiums u m das hermeneutische Problem gewusst, dass die Bibel auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert werden kann. 1 1 0 Bei Dannhauers Lehre vom Verstehen von Texten ging es u.a. um »die Beachtung des für den Autor charakteristischen Sprachgebrauchs, die Bedeutung des Skopus eines Textes für seine Interpretation, die Untersuchung des Vorangehenden und Folgenden«. 1 1 1 Die dannhauersche Hermeneutik bildete ein Gegenüber zur schmidtschen Exegese. Sie gaben zusammen Dippel wahrscheinlich das Rüstzeug an die Hand, das herkömmliche Verständnis von Texten hinter sich zu lassen und aufgrund seines neuen Verständnisses harsche Kritik am theologischen System der damaligen Zeit zu üben, wie die erwähnte Schrift Axioma Adami veteris zeigt, die er um die Jahreswende 1696/1697 verfassen sollte. Neben dem Theologiestudium beschäftigte sich Dippel mit der Medizin, 112 die für ihn allerdings zunächst noch eine untergeordnete Rolle spielte, hatte er sich doch in die Matrikel der theologischen Fakultät ein-
107
WALLMANN, e b d .
ios Vgl. dazu Fausts Bibliographie: WALCH, Bibliotheca theologica selecta, Bd. 1, 7 2 f . 78. 85. 94. 97. 99. 134. 109 AST, 451, fol. 70. Faust hat sich mit hermeneutischen Fragen beschäftigt. Seine Schrift über die Unveränderlichkeit der Bibel erschien 1688 in Straßburg (WALCH, Bibliotheca theologica selecta, Bd. 1, 72). 110 Siehe dazu im Einzelnen unten S. 113. 111 C . VON BORMANN, Art. »Hermeneutik I«, in: T R E , Bd. 15, 114; vgl. zu Dannhauers Hermeneutik a. a. O, 112-114, und WALLMANN, Straßburger lutherische Orthodoxie, 61. 1 1 2 Vgl. Lebens-Lauff, I, 386: »... weil ich auch ein Medicus war«.
102
tragen lassen. Darüber hinaus berichtet er im Vorwort seiner medizinischen Doktorarbeit Vitae animalis von 1711, dass er sich erst nach seiner Hinwendung zum Pietismus 113 intensiver mit Naturerforschung und Medizin beschäftigt habe. An der gleichen Stelle schreibt er auch, dass der Beginn dieser Studien vor fast zwölfjahren, also etwa zwischen 1698 und 1700, gelegen habe. An der medizinischen Fakultät Straßburgs lehrten während Dippels Studienzeit Marcus Mappus (1632-1701), Johann Valentin Scheidt (1651-1731) und Johann Böcler (1651-1701). 114 Mappus war ein Anhänger Galens und Hippokrates', 115 Scheidt war ebenfalls von der hippokratischen Medizin geprägt. 116 Die bei Zedier und Jöcher aufgeführten Schriften der drei Straßburger Medizinprofessoren zeigen, dass sie Vertreter der klassischen Medizin waren, von der Heilkunst des Paracelsus scheinen alle drei nicht geprägt worden zu sein. Neben dem Theologiestudium und der Beschäftigung mit der Medizin hielt Dippel selbst ein »Collegium Chiromanticum (... über die Wahrsagerey aus der Hand)«, zu dem er von Freunden überredet worden war. Er bekennt, dass er in dieser Kunst, sowie in der Astrologie in seinen »jungen Jahren schon ziemliche Progressus ... gemacht hatte«.117 Allerdings hatte sich Dippel nur in akademischer Weise mit der Wahrsagerei und der Astrologie beschäftigt. Und dabei wollte er es auch bewenden lassen. Als öffentlich bekannt wurde, dass er sich mit Wahrsagerei beschäftigte, und Unzählige deswegen zu ihm kamen, weigerte er sich, ihre Zukunft zu deuten. Außerdem hielt sich Dippels Interesse an der Wahrsagerei in Grenzen. In seinem Lebens-Lauff bekennt er selbst, er »habe solches Muthmassen nebst andern unnützen Dingen [bloß] par curiosité ... gelernet«. 118 Hier treffen wir auf einen typischen Charakterzug Dippels, der stets offen war für T h e men der entferntesten Wissensgebiete. Dies verlieh seinem Denken eine große Weite, verhinderte allerdings dass er in einigen Gebieten ein vertieftes Verständnis erlangte. U m »die Zeit nicht gar mit Spielen« zuzubringen, begann Dippel regelmäßig zu predigen, 119 womit er bei den Gottesdienstbesuchern Erfolg gehabt zu haben scheint. Er hielt seine Kanzelansprachen »damals schon
113
II, 129f.: »... da sich der gütige Gott über meinen Zustand erbarmet«. Annales des Professeurs, facultas medica, 2; Vgl. auch die Vorlesungsverzeichnisse (AST, 4 5 1 ) . Zu Böcler vgl. C H R I S T I A N G O T T L I E B J Ö C H E R , AGL, Bd. 1 , 1 1 6 5 . 115 ZEDLER, GVUL, Bd. 19, 1155f. Auch die Vorlesungsverzeichnisse zeigen, dass er vor allem Hippokrates verpflichtet war (AST, 451). 116 ZEDLER, GVUL, Bd. 34, 1132f.; vgl. die Vorlesungsverzeichnisse (AST, 451). 1,7 I, 385. Dippel hatte seine astrologischen Kenntnisse wohl in einer Vorlesung des Gießener Mathematikprofessors Balthasar Mentzer erworben (s.o. S. 69). 118 I, 385. 119 In den Straßburger Kirchenarchiven ist nichts darüber zu erfahren, wo Dippel gepredigt hat. 114
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ziemlich frey ... [und sagte] nach ... [seiner] Erkänntniß die Wahrheit«, dass man ihn beinahe für einen Pietisten ansehen konnte. 1 2 0 W i r b e k o m m e n einen ungefähren Eindruck von Dippels Predigttätigkeit in Straßburg, wenn wir zwei gedruckte Predigten untersuchen, die er in den Jahren 1696 u n d 1697 jeweils im Herbst hielt. 121 Sein Predigtstil zeichnete sich äußerlich durch eine schulmäßige Gliederung aus, zudem sind beide in der Gesamtausgabe abgedruckten Predigten recht lang, was aber in der Predigtpraxis des 17. Jahrhunderts nicht außergewöhnlich war. Die Sprache ist sachlich, der Gedankengang wird nicht parallel zum Predigttext entwickelt. Stattdessen wird auf ihn u n d andere Bibelstellen i m m e r wieder punktuell zurückgegriffen, u m eine Behauptung biblisch zu begründen. Da Dippel in seinen kurze Zeit später gehaltenen Predigten jeweils ein T h e m a mit existentieller B e d e u t u n g fur den Gläubigen wählt, ist zu vermuten, dass er wohl schon in Straßburg nicht über lehrmäßige T h e m e n predigte, sondern über solche, die das Christenleben betrafen. Deshalb wäre er nach eigener Aussage fast für einen Pietisten gehalten worden, w e n n er nicht zu Beginn des Straßburger Studienjahres gegen die Pietisten gewettert hätte u n d durch seine Lebensweise den Leuten vor Augen gemalt hätte, dass er noch orthodox war. Dippel behauptet in seinem Lebens-Lauff, »alle Tag ... herrlich u n d in Freuden« gelebt, also einen verschwenderischen Lebensstil gefuhrt zu haben und will außerdem n o c h in viele Duelle verwickelt gewesen sein. 122 D e m R a t der Stadt habe er »als einer von den fertigsten R e n o m m i s t e n (Balger oder Schläger) zu Jena« gegolten. 1 2 3 Dies scheint d a r a u f h i n z u w e i sen, dass Dippel ein überdurchschnittlich ausschweifendes und lasterhaftes Studentenleben führte. D o c h w e n n man hier wieder die Tendenz des Lebens-Lauffs berücksichtigt, war Dippels Studienzeit in Straßburg, mit Ausnahme des für seine Verhältnisse viel zu h o h e n Lebensstandards u n d seiner Fechterei, nicht ganz so ausschweifend. D e n n zum einen schreibt er selbst, dass er »niemals in das viehische Laster der Hurerey gewilliget, ob ich schon gern mit d e m Weibsvolck conversirte«. 124 Z u m anderen berichtet Dippel 120 Lebens-Lauff, I, 3 8 5 f . Vgl. G o t t f r i e d Arnolds Predigtlehre: »Predigte er [d.h. der Prediger] C h r i s t u m besser mit wahrer erkäntniß, so w ü r d e n sie [d.h. die Z u h ö r e r ] auch besser verstand haben u n d gelehret seyn« (Kirchen- und Ketzerhistorie, IV, II, 45). 121 I, 1 - 1 7 u n d I, 1 7 - 3 6 . Vgl. zu d e n Predigten im Einzelnen u n t e n S. 139f. u n d 191— 197. 122 I, 386; vgl. ebd. z u m Folgenden. 123 Z u r B e d e u t u n g eines »Jenaers« vgl. Geistliche Fama 1 (1730), 51: verwilderter Jüngling. In den Ratsprotokollen der Stadt Straßburg findet sich kein Hinweis, dass Dippel besonders aufgefallen war. D a f ü r wird Dippel m e h r f a c h in d e n Universitätsprotokollen e r w ä h n t (AST, 385, u n t e r d e m 11. u n d 15. N o v e m b e r u n d 5. D e z e m b e r 1695, sowie u n t e r d e m 5. u n d 8. Mai u n d 28. Juni 1696; s.u. S. 106 u n d 123). 124 I, 391. Z u m Straßburger Studentenleben in der fraglichen Z e i t gibt HORNING ( H a n d b u c h der Geschichte der evang.-luth. Kirche in Straßburg, 57) an, dass die Studenten in Straßb u r g im Vergleich zu d e n e n anderer H o c h s c h u l e n ein geradezu vorbildliches Leben g e f u h r t
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im Anschluss an die oben geschilderte Kindheitsvision, dass diese »ihn in denen grossesten Versuchungen und unter denen gefährlichsten C o m pagnien allezeit zuvor vor groben Excessen ... erschreckt und bewahret hatte«. 125 U n d schließlich hätte Dippel in seinem Lebens-Lauffaufgrund der dort vorhandenen Schematisierung 1 2 6 sicherlich mehr Details beschrieben, die seinen angeblich ausschweifenden Lebensstil dokumentiert hätten, w e n n es nur solche gegeben hätte. N u r eine einzige Begebenheit, die in der Straßburger Öffentlichkeit einiges Aufsehen verursacht haben muss, schildert er ausfuhrlicher: 1 2 7 Eines Abends wurde Dippel zusammen mit Leuten, die in einen Laden eingedrungen waren u n d die Kaufmannsburschen »attaquirten«, festgen o m m e n , obwohl er gar nichts mit diesem Handgemenge zu tun hatte. Es ist anzunehmen, dass er mit einigen Studienfreunden zu dem Zeitpunkt an dem Laden vorbeiging, als die französische Militärpolizei Zugriff, u m die Übeltäter festzunehmen. Prompt wurde auch er als Tatverdächtiger mit den tatsächlichen Unruhestiftern zusammen ins Wachthaus geschafft. Dippels Freunde wollten diesen Verdacht allerdings nicht auf ihm sitzen lassen und i h m außerdem wohl auch eine Nacht im Gefängnis ersparen. Sie zogen deshalb vor das Wachthaus und machten dort einen solchen Lärm, 1 2 8 »daß die Schildwacht Feuer unter sie gab«. Bevor j e m a n d durch diese W a r n schüsse getroffen wurde, erschien glücklicherweise der Königsleutnant Monsieur de la Batie, 129 einer der höchsten Vertreter der französischen Besatzungsmacht, mit d e m Dippel bekannt war. Auf die Bitte der Studenten, »denen dieser H e r r sehr geneigt war«, ließ er ihn frei. Inzwischen hatten der Lärm von Dippels Studienfreunden u n d die Warnschüsse der Schildwache dafür gesorgt, dass sich eine große M e n g e an Schaulustigen eingef u n d e n hatte. Dippels Freilassung spielte sich also vor einer großen M e n g e ab, in der auch Bekannte aus der Bürgerschaft waren. Die Auseinandersetzung zwischen den Studenten u n d Kaufmannsburschen war so spektakulär, dass sie auch vor die Universitätsleitung gebracht
haben sollen. Darin scheint er von GRÜNBERG (Spener, Bd. 1, 137) abhängig. Vgl. auch WALLMANN, Spener u n d die Anfánge des Pietismus, 66. Andererseits waren auch die Straßburger Studenten keine reinen Musterschüler (vgl. SCHRICKER, Z u r Geschichte der U n i v e r sitaet Strassburg, 36, u n d GRÜNBERG, a.a.O., 18). 125 Abfertigung der absurden Prahierey, III, 552f. 126 S. u. die Quellenkritik im A n h a n g , S. 295 f. 127 I, 3 8 6 f . Vgl. ebd. z u m Folgenden. 128 Sie trieben »Insolentien u n d Desordres«. 129 D e la Batie (1637-1718), der im Lebens-Lauff als Intendant der Stadt u n d in der Abfertigung der absurden Prahierey (III, 551) als Generalleutnant bezeichnet wird, war Königsleutnant. Er hatte seine militärische Karriere in der N o r m a n d i e i n f a n t e r i e b e g o n n e n . Seit der E r o b e r u n g Straßburgs durch die Franzosen hatte er dort verschiedene militärische Ä m t e r inne. Z u nächst war er Platzmajor, zu Dippels Straßburger Studienzeit war er Königsleutnant u n d später sollte er Brigadier werden (KARL ENGEL, Strassburg als Garnisonstadt u n t e r d e m ancien régime, 19. 21).
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wurde. Die Dekane und der Rektor berieten den Fall im November und Dezember 1695 ausfuhrlich, 130 wobei Dippel mehrfach erwähnt und am 15. November sogar angehört wurde. Nach Meinung der Dekane und des Rektors war Dippel nicht gänzlich unbeteiligt, wie dieser in seinem LebensLauff schildert, schien ihnen aber keine allzu ungebührliche Tat begangen zu haben, weshalb er nicht bestraft wurde. Er musste stattdessen, wie andere Studenten auch, der Universitätsleitung ein Memorial einreichen, in dem er vermutlich den Vorfall aus seiner Sicht schildern sollte und versprechen musste, sich in Zukunft an Streitigkeiten zwischen Studenten und Kaufleuten nicht zu beteiligen. Anstelle des geforderten Memorials schrieb Dippel eine »unterthänige Zeug- Klag- und Bittschrift an das Löbl. Collegium Decanale der Universität Straßburg«, in der er sich fur das Degentragen der Studenten einsetzte. 131 Die Universitätsleitung hatte nämlich aufgrund des geschilderten Vorfalls beschlossen, das Tragen des Degens bei Studenten einzuschränken. Der Dekan der theologischen Fakultät, Isaak Faust, hatte zugesagt, »daß die Herren Professores Theologiae ihren Auditoribus, sonderlich denen, die predigen, in Collegijs den degen verbieten wolten«. 132 Die Schmach, die Dippel durch die Festnahme, die Aufsehen erregende Freilassung und die Untersuchung erlitten zu haben glaubte, hielt ihn für längere Zeit davon ab, Predigten zu halten. Erst nach längerer Zeit und »auf eines guten Freundes Zureden« hin, begann er wieder, regelmäßig zu predigen. Bezeichnend ist, was Dippel in seinem Lebens-Lauff über seinen Eindruck bei seiner nächsten Predigt berichtet: »... so dauchte mich ... [der] Predigers Kragen [Teil der Amtstracht eines Pfarrers] ... wäre der Mühlstein, der dem, so Argerniß gibt, sollte am Hals hangen«. 133 Dippel kam sich bei dieser Predigt wie ein Heuchler vor, der durch die Diskrepanz zwischen seiner Verkündigung und seinem Lebensstil die Predigthörer dazu veranlasste, ebenfalls zu sündigen. Möglicherweise ist dieser Eindruck ein wichtiger Punkt in Bezug auf Dippels Hinwendung zum Pietismus. Wie schon in Gießen litt Dippel unter seinem Lebensstil,134 wenn dieser auch nicht gerade exzessiv war. In Straßburg kam noch der Zwiespalt zwischen 130
AST, 385, Protokolle vom 10, 11. und 15. November und 5. Dezember 1695. AST, 385, Protokoll vom 5. Mai 1696. 132 AST, 385, Protokoll vom 10. November 1695. Der Vorschlag Isaak Fausts kann auf zweierlei Weise verstanden werden: Entweder sollten die Theologieprofessoren ihren Hörern generell das Degentragen verbieten oder sie sollten nur das Degentragen in den Kollegien ablehnen. Die erste Verständnismöglichkeit scheint zuzutreffen. 133 I, 387. Vgl. Mk 9, 42 par. 134 Vgl. I, 381 und I, 387. Vgl. auch Dippels Predigt über Phil 3,17-19, die er kurz nach seiner Rückkehr aus Straßburg Ende Oktober 1696 hielt. Hier sprach er u.a. über Menschen, die Jesus Christus nicht in die Gemeinschaft seiner Leiden nachfolgen wollen. Sie hätten zwar in diesem Leben »ihre kurtze Lust«. Diese sei aber »wegen des befleckten und immer unruhigen Gewissens vielmehr eine Pein als eine Freude zu nennen« (I, 13). Hier scheint Dippel auf seine eigene Erfahrung während seiner Studienzeit anzuspielen. 131
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seinem Leben und seinen Predigten hinzu, den Dippel erst kürzlich durch seine Aufsehen erregende Befreiung aus dem Wachthaus öffentlich dokumentiert sah. Die Tatsache, dass er unter seinem Lebensstil, sowie unter dem Zwiespalt zwischen seinem Leben und seinen Predigten litt, zeigt wie unzufrieden Dippel mit seinem Leben war. Er suchte nach einem Ausweg aus dieser Situation. Neben seiner Predigttätigkeit, der Beschäftigung mit der Chiromantie, seinen theologischen und medizinischen Studien und der Hauslehrerstelle, die er um die Jahreswende 1695 auf 1696 antrat, fand Dippel Zeit fur gesellschaftliche Zusammenkünfte, wohl vor allem in seiner Landsmannschaft. In diesen studentischen Zusammenkünften floss recht viel Alkohol. 1 3 5 Außerdem wurde dort die studentische Ehre hochgehalten, weshalb es wohl allenthalben zu Duellen kam. Für einen Studenten konnte es deswegen recht dienlich sein, mit dem Degen gut umgehen zu können, worin Dippel sehr geschickt gewesen sein muss. 136 D e m erwähnten französischen Königsleutnant de la Batie imponierte Dippels Mut in Bezug auf Fechtübungen und Auseinandersetzungen mit dem Degen. Aber auch umgekehrt war Dippel von dem französischen Offizier beeindruckt, der seiner Meinung nach nicht nur ein guter Soldat, sondern auch ein gelehrter Mann war. D e la Batie versuchte, Dippel den Soldatenberuf schmackhaft zu machen. Er versprach ihm eine erfolgreiche Laufbahn in der französischen Armee. Dippel schildert in der Abfertigung der absurden Prahlerey lebhaft, wie er in Straßburg zwischen einer möglichen Karriere in der Kirche und einer im Militär hin- und hergerissen wurde. Wäre nicht der Wunsch seiner Eltern gewesen, ihren Sohn zu einem Pfarrer ausbilden zu lassen, wäre Dippel vielleicht in die französische Armee eingetreten. Aber so glaubte er, dies seinen Eltern nicht antun zu dürfen, zumal er wahrscheinlich zum katholischen Glauben hätte übertreten müssen. So begrub er die Hoffnung auf eine militärische Karriere und konzentrierte sich wieder auf seine Ausbildung zum Pfarrer. 137 In diesen Zusammenhang gehört auch sein Bemühen, sich durch eine theologische Disputation weiter zu qualifizieren. 1 3 8
135 N a c h dem Lebens-Lauff, I, 386, zeichnete sich Dippel hier durch seine großzügige Art aus. Er will für andere Studenten öfters die Zeche gezahlt haben. 136 Lebens-Lauff, I, 386, und Abfertigung der absurden Prahlerey, III, 551. Nach HERMANN (Leben Herrn Zacharias Conrad von UfFenbach, 23) hatte man in Straßburg gute Gelegenheit, sich u.a. auf dem Fechtboden zu üben. Deshalb hatte sich Dippel auch mit allen Mitteln dafür eingesetzt, dass das Degentragen den Theologiestudenten wieder erlaubt würde (AST, 385, Protokolle vom 5. und 8. Mai 1696). 137 III, 551. 1 3 8 Siehe dazu unten S. 1 1 5 - 1 2 4 .
107
Die Hinwendung
zum
Pietismus
Es ist nicht leicht, die chronologische Abfolge der Ereignisse, die sich w ä h rend Dippels Studienjahres in Straßburg ereigneten, zu rekonstruieren. N a c h d e m Lebens-Laujf u n d d e n A k t e n der philosophischen Fakultät g e h ö r e n die missglückten Versuche, die antipietistische Schrift zu v e r ö f f e n t lichen u n d eine Habilitationsdisputation zu halten, n o c h in den S o m m e r 1695. Aber hinsichtlich der Ereignisse, die f ü r Dippels theologische E n t w i c k l u n g entscheidend w e r d e n sollten, berücksichtigen der Lebens-Lauff u n d die biographisch interessanten A n g a b e n in der Abfertigung der absurden Prahlerey die zeitliche R e i h e n f o l g e n u r teilweise. U m diese f ü r die f o l g e n den Ereignisse wahrscheinlich zu m a c h e n , sind w i r auf andere Hinweise angewiesen. F ü r Dippels E n t w i c k l u n g z u m Pietisten ist eine m e r k w ü r d i g e B e g e b e n heit wichtig, die er in der Abfertigung der absurden Prahlerey schildert. 1 3 9 E r war, w o h l in den Weihnachtsferien 1 6 9 5 / 1 6 9 6 , 1 4 0 zu Besuch bei e i n e m Verwandten, der wahrscheinlich als Angestellter eines Adeligen in dessen Schloss w o h n t e . D i p p e l sah durch das Fenster des Z i m m e r s , in d e m er ü b e r n a c h t e n durfte, einen Bettler in den H o f treten. Weil er sich w u n d e r t e , dass die H u n d e nicht anschlugen, ging D i p p e l selbst ebenfalls in den H o f , u m zu erfahren, mit w e l c h e m Trick dieser an den H u n d e n v o r b e i g e k o m m e n war. D e r Bettler k a m D i p p e l m e r k w ü r d i g vor, der i h m statt sich f ü r ein erhaltenes Almosen zu b e d a n k e n ein O r a k e l gab, das i h m n o c h einige J a h r z e h n t e später präsent war: »Du bist... ein Mensch von gutem Gemüthe und Willen, hast auch von G o t t . . . einen guten Verstand bekommen, und bildest dir Wunder ein, wie gelehrt du seyest; aber es wird nicht lange mehr anstehen, so wirst du gantz andere Gedancken von dir selbst und von allen Dingen kriegen, und die Welt wird dir, wie du der Welt, viel zu schaffen machen. Und dieses will Gott so haben«.141 N a c h diesem O r a k e l verschwand der Bettler, d e n außer D i p p e l n i e m a n d , nicht einmal die Wache, gesehen h a b e n soll. Selbst w e n n w i r die w u n d e r s a m e Ü b e r h ö h u n g der Schilderung b e r ü c k sichtigen u n d w e n n wir davon ausgehen, dass das geschilderte Orakel sich i m Laufe der Jahre i m m e r m e h r verdichtete, so h a b e n die W o r t e des B e t t lers, der möglicherweise b l o ß Dippels Gelehrsamkeit in Frage stellte, auf diesen einen g r o ß e n E i n d r u c k gemacht. I m m e r h i n k o n n t e er sich n o c h mit 139
III, 553 f. HO Vgl. z u j e n Ferien RATHGEBER, Statuta Academiae, 278; vgl. damit die Zeitangabe in III, 554: »Ehe ein halbes Jahr vorbey war, stund mir mein so wohl gesetzter Kopff gantz u m gekehrt, und ehe anderthalb Jahre verflossen, kam schon an statt des Supper[inten]denten der Democritus auf seinen Platz«. Im Sommer 1697 erschien die erste Schrift, in der Dippel das Pseudonym Christianus Democritus verwandte (s.u. S. 162, Anm. 121). 141 III, 553f.
108
etwa 6 0 Jahren an diese Begebenheit erinnern. Die Worte des Bettlers trafen einen wunden Punkt bei Dippel: »Mir aber kam ein Grauen an, ... daß er gar nichts von meinen gelehrten Begriffen wolte halten«. Darüber hinaus lösten sie bei ihm massive Zweifel an der lutherischen Orthodoxie aus: »Diese extraordinaire ... Begebenheit ... würckte doch bey mir so viel, daß ich anfienge zu zweifeln, ob die Secte, darinnen ich gebohren, nicht eben so irrig und verwerfflich seyn könte, als alle die übrige, welche diese verwirfFt«.142 In der ersten Zeit seiner Straßburger Studienzeit war Dippel noch gegen den Pietismus öffentlich aufgetreten. Inzwischen hatte er seine Feindschaft gegen die Pietisten beigelegt und war auf deren neue Lehre neugierig. E r nahm sich vor, Speners Schriften zu studieren, wozu er durch Daniel Hartnacks Verteidigung wider die Rettung der Lehre Speners143 veranlasst w o r den war, die dieser wohl noch als R e k t o r in Altona verfasst und dort 1 6 9 0 herausgegeben hatte. Hartnacks Schrift stand nicht gerade im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Pietismus und der Bekanntheitsgrad ihres Verfassers ist gering. 1 4 4 D o c h wird der Streit um Johann Melchior Stenger in Straßburg, dessen früherem Studienort, weithin bekannt gewesen sein. Möglicherweise hat ihm Zentgraf die Schrift empfohlen, der wohl noch aus seiner Wittenberger Zeit über den stengerschen Streit unterrich-
142 III, 5 5 4 . Nach radikalpietistischem Sprachgebrauch wird eine Konfession als Sekte b e zeichnet. 143 Dem Bibiiothecarius der studirenden Jugend angehängte Verteidigung derer, zur Ungebühr und ungleich beygebrachten AUegaten wider die Rettung der Lehre Dr. Phil. Jac. Speners, Altona 1 6 9 0 ; Nachweis bei GRÜNBERG, Spener, B d . 3, Nr. 4 2 6 . Siehe auch UDO STRÄTER, Spener und der »Stengersche Streit«, 4 1 , A n m . 11. D e r 1 6 4 2 geborene Hartnack war als Erfurter Gymnasialrektor schon 1 6 7 0 gegen den Diakon J o h a n n M e l c h i o r Stenger als Gegner aufgetreten. In diesen Streit wurde auch Spener verwickelt, nachdem dieser u.a. in einem Schreiben an den R a t der Stadt Erfurt empfohlen hatte, weitere Schriften Hartnacks gegen Stenger zu unterbinden. Dies muss Hartnack Spener übel g e n o m m e n haben. Als er E n d e 1 6 7 0 Erfurt wegen einer Unterschlagung verlassen musste, publizierte er zwei B ü c h e r gegen Stenger. In einem davon versuchte er mit Spener abzurechnen (STRÄTER, Spener und der »Stengersche Streit«, 6 8 f . ) . Hartnack wurde 1 6 8 0 R e k t o r an der lutherischen Schule in B r e m e n . 1 6 8 2 wurde er R e k t o r in Altona, 1 6 9 0 in Schleswig. Später wurde er Pfarrer im Bramstedt (STRÄTER, a.a.O., v.a. 5 1 . 6 8 f . ; vgl. auch JÖCHER, A G L , B d . 2, 1 3 8 4 - 1 3 8 6 ) . 1 6 9 0 veröffentlichte Hartnack die Schrift Anweisender Bibiiothecarius der studierenden Jugend (Stockholm/Hamburg; GRÜNBERG, Spener, B d . 3, Nr. 4 2 5 ) , in der er Spener auf mehreren Seiten angriff. Spener entgegnete mit der Schrift Abgenötigte Rettung seiner reinen Lehre wider Dan. Hartnacci Beschuldigungen (Frankfurt 1 6 9 0 ; GRÜNBERG, Spener, B d . 3, Nr. 2 8 3 ) . D i e Schrift, die Dippel in die Hände kam, war Hartnacks Antwort auf diese Spenerschrift (vgl. GRÜNBERG, Spener, Bd. 1, 2 4 9 f . , und STRÄTER, Spener und der »Stengersche Streit«, 4 1 , A n m . 11). 144 Ü b e r Hartnack finden sich kaum Lexikonartikel. Er ist weder in der R E 3 , der R G G 3 noch in der T R E aufgeführt.
109
tet war. 1 4 5 Jedenfalls war Dippel im Zusammenhang mit dem stengerschen Streit auf Hartnack gestoßen, 1 4 6 wie sein Verweis auf ein Gutachten der theologischen Fakultät J e n a zu diesem Streit in der Disputation de conversione secunda relapsorum zeigt: »Dnn. T h e o l . Jenenses contra Stenger«. 1 4 7 Dippel ließ sich von Hartnacks Schrift Verteidigung wider die Rettung der Lehre Speners nicht beeindrucken, sah sich im Gegenteil dazu veranlasst, Hartnacks Behauptungen zu überprüfen, indem er Spener im Original las. D a Hartnack Dippels Ansicht nach Spener vor allem »eines Irrthums in dem Artickel der R e c h t f e r t i g u n g überführen« wollte, 1 4 8 studierte er als erstes Speners Evangelische Glaubens-Gerechtigkeit von 1 6 8 4 , wobei ihn dessen Rechtfertigungslehre völlig überzeugte. D e r Vergleich zwischen der Hartnack-Schrift und Speners Evangelischer Glaubens-Gerechtigkeit führte dazu, dass Dippel nicht nur Hartnack, sondern auch die gesamte orthodoxe Streitkultur kritisierte. »Hier fände ich nun allgemach, wie unbillig die Herren Orthodoxi in ihrer Ketzermacherey verfahren; dann ich kunte im geringsten nichts finden, das in dem erwehntem [!] Buch [Speners] wider den Articulum stantis & cadentis Ecclesiae Lutheranae ... und wider die Libros Symbolicos ... definirt wäre gewesen«. 149 N o c h vor kurzem, nämlich kurz nach der Wiederaufnahme des Studiums in Straßburg, hatte Dippel seine eigene antipietistische Schrift veröffentlichen wollen, in der er den Pietisten vorhielt, sich in der Rechtfertigungslehre gegen den lutherischen Standpunkt zu wenden. Diese spielte also bei seiner bisherigen Ablehnung des Pietismus die entscheidende R o l l e . W e n n Dippel sich nun gegen die Schrift Hartnacks wenden konnte, so muss dem ein Wandel in seinem eigenen Rechtfertigungsverständnis vorausgegangen sein. U n d zwar vollzog sich dieser während des Studiums der Evangelischen
145
D i e W i t t e n b e r g e r theologische Fakultät hatte in e i n e m G u t a c h t e n festgestellt, dass in
Stengers Schriften theologische I r r t ü m e r vorlägen (STRÄTER, Spener und der »Stengersche Streit«, 5 2 . 5 7 ) . 146
H a r t n a c k gab 1 6 7 1 die Schrift Stengerismus
condamnatus
oder Stengerisches
gott- und
grund-
heraus, in d e m er verschiedene G u t a c h t e n über Stengers Lehre veröffent-
loses Christenthum
lichte (STRÄTER, a.a.O., 6 7 ) . 147
Johann
§ 1 3 / 2 . Es handelt sich u m Der Melchior
Stengers
Theologischen
... Irriger Lehre, Jena
Facultät
zu Jena
Gründlicher
Bericht
von
1 6 7 2 (STRÄTER, a . a . O . , 7 1 , A n m . 1 7 5 ) .
3 8 7 ; vgl. a u c h GRÜNBERG, Spener, B d . 1, 2 4 9 f .
148
Lebens-Lauffl,
149
I, 3 8 7 . M i t d e m »Articulum stantis & cadentis Ecclesiae Lutheranae« ist die R e c h t f e r t i -
gungslehre g e m e i n t (vgl. T H E O D O R MAHLMANN, Z u r Geschichte der F o r m e l »Articulus stantis et cadentis ecclesiae«, w o er a u f m e h r e r e V o r f o r m e n dieser F o r m e l bei Calov, Heidegger, Hülsemann u . a . aufmerksam m a c h t ) . Sie begegnet erstmals wohl bei Franz Turrettini, bevor sie durch Dippel vermittelt in den allgemeinen theologischen Sprachgebrauch a u f g e n o m m e n w u r d e (DERS., Art. »Articulus stantis et (vel) cadentis ecclesiae«, in: R G G 4 , B d . 1, 7 9 9 f . ) . Es drängt sich die Frage auf, ob es sich bei der Ablehnung der hartnackschen T h e s e n u m eine Projektion späterer Einsichten handeln könnte. D a v o n ist allerdings nicht auszugehen, wenn man bedenkt, dass Dippel die Z e i t in Straßburg in seinem Lebens-Lauff m ö g l i c h beschreibt.
110
so negativ w i e
Glaubens-Gerechtigkeit Speners. 150 Leider kann der genaue Zeitpunkt, wann Dippel mit der Lektüre dieser u n d möglicherweise n o c h anderer Spenerschriften begann, nicht festgestellt werden. Es k o m m t dafür wohl am ehesten der Beginn des Jahres 1696 in Betracht. D e n n Dippels Kanzelerfahrung, in der er sein bisheriges Leben in Frage gestellt sah, dürfte zeitlich vor dem Studium von Schriften Speners gelegen haben. Dippel wird diese Anfechtung erst zu Beginn des Jahres 1696 erlebt haben, da er nach seiner Verhaftung im N o v e m b e r 1695 längere Zeit pausierte, bevor er wieder regelmäßig predigte. Andererseits zeigt sich bereits in Dippels theologischer Disputation aus d e m April 1696, dass er sich Spener angenähert hatte. Dippel begann Spener n u n m e h r u n d m e h r zu achten u n d sah schon bald die Anfeindungen der orthodoxen Theologen gegen diesen als bloße Verleumdungen an. Tatsächlich blieb Spener mit seiner Evangelischen GlaubensGerechtigkeit innerhalb des R a h m e n s der orthodoxen Rechtfertigungslehre. 151 Im besonders umfangreichen siebten Kapitel vertritt er den fur die orthodoxe Lehre zentralen Gedanken, dass die Rechtfertigung nicht durch gute Werke verdient, sondern allein aufgrund des Glaubens geschenkt werden kann. 1 5 2 Weil Dippel nicht einsah, weshalb Speners Lehre angegriffen werden konnte, vermutete er, »unsere reine [n] Theologi würden sich absonderlich wegen des Mannes Frömmigkeit u n d Eyffer vor Gottes Ehr entrüsten«. 153 N e b e n Spenerschriften studierte Dippel wahrscheinlich im S o m m e r semester 1696 innerhalb eines Privatkollegs Zentgrafs auch noch Schriften der Kirchenväter »und sonderlich den Augustinum«. 1 5 4 Das Privatkolleg, das Dippel vermutlich besuchte, war angekündigt als »Theologiam etiam Moralem, ex scripturis divinis docendam, & Antiquitate Ecclesiastica, Haeresiologia potißimum, illustradam, explicare«. 155 Es handelte sich bei den hier bearbeiteten Werken wahrscheinlich u m eine Auswahl von Augustine Schriften gegen Pelagius 156 und u m ebenfalls gegen Häretiker gerichtete Literatur anderer Kirchenväter. Deren Lektüre führte Dippel
150
Vgl. dazu u n t e n , S. 1 3 1 - 1 3 5 . Evangelische Glaubens-Gerechtigkeit, 580. 582. 6 2 4 - 6 2 7 . 6 4 1 - 6 5 0 . Vgl. auch EMANUEL HIRSCH, Geschichte der n e u e r n evangelischen Theologie, Bd. 2, 139f., u n d JOHANNES WALLMANN, W i e d e r g e b u r t u n d E r n e u e r u n g bei Spener, 22—24. 27. 29—31. Dass Spener in dieser Schrift weitgehend auf d e m B o d e n der O r t h o d o x i e bleibt, beweist auch die Tatsache, dass er sich hier gegen die katholische Rechtfertigungslehre des J o h a n n Breving abgrenzt. 152 Evangelische Glaubens-Gerechtigkeit, 8 4 9 - 1 1 2 3 . Das 7. Kapitel trägt die Uberschrift: »Von der rechtfertigung selbst/ sonderlich von dero mittel/ daß sie nicht auß den w e r c k e n / s o n d e r n allein auß d e m glauben geschehe«. 153 Lebens-Lauff, I, 387. 154 Lebens-Lauff, I, 387. 155 AST, 451, fol. 70. 156 D i p p e l spricht in seinem Lebens-Lauff von den »Streit-Schrifften« des Augustin (I, 387). Die antipelagianischen Schriften kannte Dippel bei der Abfassung der im April 1696 verteidigten Disputation de conversione secunda relapsorum. 151
Ill
zu einer E n t d e c k u n g , die f u r seine theologische E n t w i c k l u n g von k a u m zu überschätzender B e d e u t u n g w e r d e n sollte. Er k a m zu der U b e r z e u gung, »daß viel theure Seelen, und Werckzeugen Gottes sich öffters durch die Orthodoxie ... und durch das hohe Kirchenamt ... von der Wahrheit und Gerechtigkeit ab, in Fall-Stricke haben stiirtzen lassen«, und »daß alle Orthodoxie [d.h. jede Theologie, die nur sich selbst im Besitz der reinen Lehre sieht und für die das Leben nur eine untergeordnete Rolle spielt] Thorheit, und ein leeres Pfaffen-Geschwätz oder Wort-Streit sey«.157 In dieser Aussage steckt bereits eine revolutionäre Veränderung in der B e t r a c h t u n g der Kirchengeschichte, die G o t t f r i e d Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie so b e r ü h m t m a c h e n sollte, nämlich dass es vor allem a u ß e r halb derjenigen Kirche, die sich als rechtgläubig durchgesetzt hat, w a h r e C h r i s t e n gibt. 1 5 8 W i e A r n o l d sieht D i p p e l gerade in diesen die wirklich Gläubigen, w ä h r e n d er u n t e r den Vertretern der sogenannten rechtgläubigen Kirche Verführer entdeckt, die die w a h r e n C h r i s t e n häufig von i h r e m rechten W e g abgebracht haben. N a c h seinem Lebens-Lauffwill D i p p e l also bereits i m ersten Halbjahr 1696 zu dieser Ansicht g e k o m m e n sein. Eine genaue U n t e r s u c h u n g zeigt, dass D i p p e l w o h l tatsächlich bereits w ä h r e n d seiner Straßburger Zeit zu einer solchen radikalen Ekklesiologie gelangt ist, u n d dass es sich n i c h t u m eine P r o j e k t i o n von Dippels späteren A n s c h a u u n g e n in eine f r ü h e r e Z e i t seiner Biographie handelt. Z u n ä c h s t w ü r d e eine R ü c k d a t i e r u n g späterer Einsichten in die Studienzeit der T e n denz des Lebens-Lauffs zuwiderlaufen. In dieser autobiographischen Skizze wird nämlich alles, was vor der d u r c h G o t t f r i e d A r n o l d ausgelösten W e n d e geschah, negativ beurteilt. 1 5 9 Z u m anderen fugt sich diese Erkenntnis gut in Dippels theologische E n t w i c k l u n g ein, d e n n er hatte bereits f r ü h e r verm u t e t , dass Spener durch den o r t h o d o x e n T h e o l o g e n H a r t n a c k n u r w e g e n seiner F r ö m m i g k e i t verurteilt w o r d e n war. 1 6 0 In seiner theologischen Disp u t a t i o n de conversione secunda relapsorum v o m 25. April 1696 gesteht D i p p e l bereits der Ethik eine K o n t r o l l f u n k t i o n ü b e r die T h e o l o g i e zu. 1 6 1 So dürfte beispielsweise die G n a d e n l e h r e nicht dazu f u h r e n , dass m a n sich e i n e m ausschweifenden L e b e n hingibt. Von hier aus b e k o m m t Dippels Kritik, dass durch die offizielle Kirche m e h r f a c h teure Seelen von der Wahrheit abgehalten u n d in Fallstricke gestürzt w ü r d e n , bereits d e n Sinn, d e n er kurze Zeit später nach seiner R ü c k k e h r aus Straßburg u m die Jahreswende 1696 auf 1697 vertrat, nämlich die Vertreter der O r t h o d o x i e als V e r f u h -
157
Lebens-Lauff.i I, 387 f. hierzu, W O L F G A N G B I E N E R T , Ketzer oder Wahrheitszeuge. S. u. die Quellenkritik im Anhang, S. 295f. Lebens-Lauff, I, 387. § 17. Vgl. dazu auch unten, S. 121.
ISS V G [ 159 160 161
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rer anzusehen, die die Christen in einer falschen fleischlichen Sicherheit wiegten. 1 6 2 Wahrscheinlich hatte das Studium der erwähnten Schriften des G e n n a dius, Makarios u n d Tertullian Dippels Kirchenkritik zu dieser frühen Zeit ermöglicht. D e r individualistische KirchenbegrifF des Makarios 1 6 3 insbesondere konnte zu einer radikalen Kirchenkritik fuhren. N a c h der Abfertigung der absurden Prahlerey hatte Dippel sich bereits in Straßburg entschieden, alle Konfessionen zu meiden u n d nur n o c h »vor mich selbst ... meine Zuflucht zu Gott [zu] n e h m e n , u n d ihn im Ernst u m seinen heiligen Geist [zu] bitten«. 164 Danach hatte sich Dippel also bereits in Straßburg d e m individualistischen Glaubensverständnis verschrieben, das er später in seinen radikalpietistischen Schriften vertreten sollte. Diese Einsichten bewirkten bei Dippel aber noch nicht sogleich eine völlige H i n w e n d u n g zum Pietismus, sondern führten ihn in eine Zeit der Ungewissheit und Skepsis. Er hatte erkannt, wie willkürlich die Kritik an theologischen Gegnern war, wenn man selbst die Kriterien für deren Beurteilung festlegen konnte. Außerdem erkannte er, dass die biblische B o t schaft von jeder Konfession anders verstanden wurde. Die Bibel war zwar für Dippel weiterhin das Fundament der Theologie, aber er war skeptisch gegenüber ihrer Auslegung. Es scheint Dippel bewusst gewesen zu sein, dass die Bibel kein ausreichendes Fundament für die theologische Erkenntnis ist. D e n n auf diese beriefen sich alle christlichen Theologen gleichermaßen. 1 6 5 Nach seinem Lebens-Lauff will Dippel schon während seiner Zeit als Hauslehrer im Odenwald erkannt haben, dass die lutherischen Bekenntnisschriften, die in der lutherischen O r t h o d o x i e die Funktion eines Auslegungsschlüssels der Schrift besaßen, unzulänglich waren. 1 6 6 N u n radikalisierte sich diese Erkenntnis u n d er konnte argumentieren, wenn jeder die Schrift auf seine Weise auslegte, konnte natürlich auch »ein jeder in seiner Secte [= Kirche] u n d M e y n u n g den Meister« spielen und recht behalten. 1 6 7 Dippel scheint diesen Gedanken weiter verfolgt zu haben u n d ist auf diese Weise wohl zu d e m vorläufigen Ergebnis gekommen, dass es in theologischen Fragen kein festes Fundament gibt. Er hat deshalb gegen Ende seiner Straßburger Studienzeit eine gewisse Beliebigkeit in der Wahl theologischer Positionen gesehen. Diese Einsicht ließ ihn zunächst zu einem Skep-
162 Siehe dazu u n t e n S. 145 f. 163 VGL j a z u HERMANN DÖRRIES, D i e T h e o l o g i e des M a k a r i o s / S y m e o n , 367f. 164 III, 555. 165 Abfertigung der absurden Prahlerey, III, 554: »Entweder ist [die Bibel] ... selbst mit tausenderley I r r t h ü m e r n angefüllt, oder diese Leute müssen nicht im Stande seyn, es zu fassen ...«. A u ß e r d e m erkannte Dippel, dass j e d e Konfession »so w o h l verständige als Sprach-kundige M ä n n e r hätte, die ihre Sache so gut, als die anderen, aus der SchrifFt beweisen u n d s c h m ü c k e n könten« (ebd.). 166 I, 383. 167 Lebens-Lauff, I, 388; siehe ebd. z u m Folgenden.
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tiker werden oder wie er in seinem Lebens-Lauff schreibt, dass er »in keiner M e y n u n g m e h r einige Gewißheit hatte«. A u ß e r d e m wurde er durch die Anfechtung des Atheismus 1 6 8 gequält. Ahnlich wie August H e r m a n n Francke, der in seinem Bekehrungsprozess ebenfalls eine atheistische A n fechtung zu durchleiden hatte, war für Dippel der Atheismus keine »erstrebenswerte Möglichkeit menschlicher Existenz«; 169 stattdessen litt er an der Anfechtung u n d suchte nach einer Möglichkeit, sie zu überwinden. Innerhalb des pietistischen Bekehrungsprozesses spielte die atheistische Anfechtung vielfach eine Rolle und trat beispielsweise bei Francke kurz vor seiner H i n w e n d u n g zum Pietismus auf. Die individuelle Erfahrung der N ä h e Gottes, zu der der Pietismus befähigte, war bei manchen seiner Anhänger das Mittel, mit dem der Atheismus wirksam überwunden werden konnte. Auch bei Dippel ist anzunehmen, dass er vom Unglauben gequält wurde, als er kurz vor seiner endgültigen H i n w e n d u n g zum Pietismus stand. Ein pietistisches Bekehrungserlebnis gab ihm die Möglichkeit, mit dem Verlust eines festen theologischen Fundamentes umzugehen. Statt einer durch die lutherischen Bekenntnisschriften u n d durch die Auslegungstradition vermittelten theologischen Erkenntnis, der er voll Skepsis gegenüberstand, hielt ihm der Pietismus die Möglichkeit einer unmittelbaren Erfahrung bereit. Mitten in der verzweifelten Situation, in der er gequält wurde von dem Bewusstsein, den Boden für Glaube und Theologie unter den Füßen verloren zu haben, fällt der Endpunkt von Dippels allmählicher H i n w e n d u n g zum Pietismus. 170 Danach blieben Dippels Lebensumstände zunächst zwar die alten, doch er litt darunter, dass er nicht die Kraft fand, mit dem gewohnten Lebensstil zu brechen, der ihm nun als Pietist oberflächlich v o r k o m m e n musste. Alte Lebensgewohnheit u n d neue pietistische Gesinnung konnten sich auf D a u e r nicht vertragen. Entsprechend sehnte sich Dippel von Straßburg fort, wo er i m m e r wieder dem aufwendigen Leben verfiel. Seinetwegen war er inzwischen bei einigen Patriziern verschuldet, 1 7 1 was ihn daran h i n -
168 £ ) e r Begriff »Atheismus« hatte im 17. Jahrhundert häufig den Sinn von einer Lehre, die von der offiziellen Kirchenlehre abweicht (vgl. HANS LEUBE, Orthodoxie und Pietismus, 75 f.). In Dippels Lebens-Lauff \\e ff. eine solche B e d e u t u n g allerdings fern. 169 HELMUT OBST, Elemente atheistischer Anfechtung im pietistischen Bekehrungsprozeß, 37. Vgl. ebd., 3 3 - 4 2 z u m Folgenden. Auch andere Pietisten wollen in ihrem Bekehrungsprozess eine massive Anfechtung erlebt haben (vgl. WALTER WENDLAND, Die pietistische Bekehrung, 220-224. 235-237). 170 Dippel will allerdings nach seinem Lebens-Lauff erst über ein Jahr später seine »Bekehrung« zum Pietismus erlebt haben. D o c h es sprechen wichtige Gründe dafür, seine H i n w e n d u n g zum Pietismus bereits im zweiten Halbjahr seines Straßburger Studienaufenthaltes anzusetzen (s.u. 199-202). 171 Vgl. AST, 385, Protokoll vom 28. Juni 1696. Danach schuldete Dippel allein einem H e r r n H ö p f f n e r 60 Gulden. Dippel scheint aber darüber hinaus noch bei weiteren Straßburgern verschuldet gewesen zu sein. Er selbst spricht in seinem Lebens-Lauff von seinen Gläubigern im Plural. Außerdem verbrauchte er in dem einjährigen Aufenthalt nach eigenen Angaben über 300 Reichstaler. Er hatte aber nur etwa 200 Taler von zu Hause erhalten (I, 386).
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derte Straßburg zu verlassen. D e n n o c h bereitete Dippel allmählich seinen Abschied aus der Stadt vor, die ihm nun immer verhasster wurde, nachdem er in ihren M a u e r n eine höchst bedeutsame theologische Entwicklung durchgemacht hatte. Er fing an, sich Gedanken u m eine Anstellung in seiner Heimat zu machen, die ihn in die Lage versetzt hätte, seine Gläubiger in Straßburg zu befriedigen.
Die theologische Disputation
de conversione secunda r e l a p s o r u m
U m in der Heimat eine gehobene Stellung b e k o m m e n zu können, musste Dippel zwei Voraussetzungen erfüllen. Zunächst war es angebracht, den Pietisten in seiner Heimat bekannt zu machen, dass er sich ihnen seit k u r zem zugehörig fühlte. D e n n die Pietisten hatten inzwischen alle einflussreichen Stellen in der Landgrafschaft besetzt. O h n e die Unterstützung des Oberhofpredigers Johann Christoph Bilefeld konnte man zu dieser Zeit schwerlich eine Stelle in Hessen-Darmstadt finden,172 die den Ansprüchen des j u n g e n Magisters Dippel gerecht geworden wäre. D o c h Dippel hängte das Fähnchen nicht einfach nach d e m W i n d , seine pietistische Einstellung war echt. Ferner konnte es nur von Vorteil sein, nachweisen zu können, dass er fleißig studiert hatte. Ein solcher Nachweis konnte am besten durch eine Disputation erbracht werden. Bisher hatte er in Straßburg noch nicht disputiert. Deshalb hielt er es im Frühjahr 1696 für »rathsam ... zu Straßburg eine Theologische Disputation zu halten, und solche ... [seinem] Lands-Fürsten zu dediciren«. 173 Wahrscheinlich war Dippel dem T h e o l o gieprofessor Zentgraf schon früher positiv aufgefallen. In seinem LebensLauff berichtet er, dass dieser i h m gegenüber eine »aufrichtige Liebe« hegte. 1 7 4 U n d auch Dippel schätzte Zentgraf von allen Professoren am meisten. Dieser erklärte sich bereit, mit Dippel als R e s p o n d e n t e n eine theologische Disputation abzuhalten. Eine Diskussion, die Dippel mit einem der Straßburger T h e o g i e professoren, wahrscheinlich mit Isaak Faust, führte, brachte ihn auf ein geeignetes Disputationsthema. Das Gespräch drehte sich u m das rechte Verständnis des f ü n f t e n Artikels der Confessio Augustana, also u m die Frage nach der Vermittlung des Heiligen Geistes durch die Kir-
Dass Straßburger Bürger Studenten Geld liehen, scheint häufig v o r g e k o m m e n zu sein. I m m e r w i e d e r musste das Verbot, Studenten Geld zu leihen, der Bürgerschaft vorgehalten w e r d e n (SCHRICKER, Z u r Geschichte der Universitaet Strassburg, 36). 172 YG] MACK, Pietismus u n d Frühaufklärung, 66. 173 Lebens-Lauffl, 388; vgl. ebd. z u m Folgenden. 174 v g l . den von Z e n t g r a f verfassten Schluss der Disputation de conversione secunda relapsorum, in d e m er von Dippel als »Amico suo perdilecto« spricht.
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che. 1 7 5 D e r f ü n f t e Artikel lehrt über das Predigtamt, die Schrift u n d die Sakramente, dass sie von G o t t gegeben w o r d e n sind, weil er durch sie »als durch Mittel den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo u n d w e n n er will, in denen, so das Evangelium hören, wirket«. 1 7 6 In der Diskussion war wahrscheinlich die Frage strittig, inwiefern die Gnadenmittel f ü r die B e k e h r u n g n o t w e n d i g sind. M e h r erfahren wir leider nicht, doch aufg r u n d des in Dippels Lebens-Lauff gebotenen Zitats des f ü n f t e n Artikels, k ö n n e n Rückschlüsse auf seine Einstellung bei d e m Gespräch gezogen werden: »Der Heilige Geist zündet den Glauben an, w o u n d wann es i h m beliebt, in denen die das Evangelium hören«. 1 7 7 Danach legte Dippel das G e w i c h t auf den zweiten Teil desselben u n d geht daher davon aus, dass der Heilige Geist unabhängig von den Gnadenmitteln u n d d e m Predigtamt den Glauben wecken kann. 1 7 8 Dippels Gesprächspartner vertrat die entgegengesetzte Auffassung. Er wird den f ü n f t e n Artikel der Confessio Augustana in d e m Sinn verstanden haben, dass der Heilige Geist der Vermittlung bedarf. Er legte also das Gewicht auf den ersten Teil des f ü n f t e n Artikels. Das Gespräch brachte Dippel auf den Gedanken, seine geplante theologische Disputation über das T h e m a der B e k e h r u n g der e r n e u t G e fallenen zu halten. Das Disputationswesen in Straßburg 1 7 9 unterschied sich von dem, das Dippel aus Gießen kannte. Öffentliche u n d zugleich ordentliche Disputationen waren dort eher eine Seltenheit. Die Theologieprofessoren waren nur dazu verpflichtet, zwei ordentliche öffentliche Disputationen im Jahr abzuhalten. Die Thesen für eine solche Disputation sollten von d e m j e w e i ligen Theologieprofessor in Absprache mit seinen Kollegen verfasst werden. Gelegentlich wurde es aber auch den Studenten gestattet, z.B. bei einer Inauguraldisputation, eigene Thesen aufzustellen. Diese konnten in einer außerordentlichen Disputation verteidigt werden. Wurden die seltenen ordentlichen Disputationen stets solenn, d. h. feierlich vor der gesam-
175
Faust hatte über den L e h r p u n k t der Gnade Gottes, zu d e m die Frage nach d e m G e schenk des Heiligen Geistes gehört, eine Schrift veröffentlicht (WALCH, Bibliotheca t h e o l o gica selecta, Bd. 1, 94). 176 BSELK, 58. 177 I, 388. 178 H i e r spiegelt sich möglicherweise Dippels eigene E r f a h r u n g wider, die er bei seiner H i n w e n d u n g z u m Pietismus machte (vgl. dazu die Abfertigung der absurden Prahlerey, III, 555). A u c h später sollte Dippel sich stets auf d e n f ü n f t e n Artikel der Confessio Augustana b e r u f e n , w e n n er die U n a b h ä n g i g k e i t des Heiligen Geistes v o m gepredigten W o r t u n d Sakrament vertrat (z.B. I, 49). W e n n Dippel bereits in Straßburg seine auch später vertretene Interpretation von C A 5 angeführt hat, so ist er hier bereits über den in dieser B e z i e h u n g völlig kirchlichen Standpunkt Speners hinausgeschritten. SPENER vertrat in seiner Evangelischen Glaubens-Gerechtigkeit den o r t h o d o x e n Standpunkt, dass Christus als Mittel der Z u e i g n u n g zur Versöhnung das Predigtamt schenkt (663-665). 179
9-11.
116
RATHGEBER, Statuta A d a d e m i a e , 2 2 5 f . ; H O R N , D i e D i s p u t a t i o n e n
und
Promotionen,
ten Universität u n d mit dem dazugehörigen P r u n k abgehalten, so konnten die außerordentlichen auch in einem kleineren R a h m e n veranstaltet werden. N e b e n diesen wenigen öffentlichen Disputationen sollten die Studenten durch private Disputationsübungen in die Disputationstechnik eingeübt werden. D e r Unterschied zwischen den ordentlichen Disputationen, zu denen jeder Professor zweimal jährlich verpflichtet war und die selbstverständlich vor der gesamten Universität stattfanden, und den außerordentlichen und zugleich solennen Disputationen bestand darin, dass »bei den ausserordentlichen ... die Initiative von den Studierenden« ausging. 180 Die genaue Unterscheidung zwischen den einzelnen Disputationsmöglichkeiten kann uns einen wichtigen Hinweis bei der Frage nach der Verfasserschaft der von Dippel verteidigten Abhandlung de conversione secunda relapsorum liefern. D e r Titel 1 8 1 weist die Disputation als eine öffentliche u n d solenne aus, schweigt aber darüber, ob sie eine ordentliche oder außerordentliche Veranstaltung war. Nach dem Lebens-Laujf hat Dippel sich das T h e m a der Disputation selbst ausgesucht. Damit ging wohl auch die Initiative für die Disputation von ihm aus, was dafür spricht, dass es sich u m eine außerordentliche Disputation handelte. Das Titelblatt nennt Dippel darüber hinaus als Autor. Dies will allerdings in der Disputationspraxis des 17. J a h r h u n derts nichts heißen. So mancher Student nannte sich damals auctor, o h n e es in Wirklichkeit zu sein. 182 W i r k ö n n e n dennoch davon ausgehen, dass Dippel die Thesen selbst verfasst hat. D e n n er macht in seinem Lebens-Lauff deutlich, dass er der Autor der Thesen ist. D o r t berichtet er, dass er in dieser Disputation »nicht m e h r der Orthodoxie, sondern ... [seinem] eigenen Begriff nachgienge«. 183 Er will über die O r t h o d o x i e hinaus- und seinem neuen Verständnis nachgegangen sein. Zentgraf hatte deswegen Bedenken, bei der Disputation den Vorsitz zu ü b e r n e h m e n , damit er und Dippel »in keinen Verdacht bey den exteris (Ausländern) fallen möchten«. Mit den »exteris« k ö n n e n auswärtige T h e o logen gemeint sein. Es ist aber auch denkbar, dass an Vertreter der französischen Besatzungsmacht gedacht ist. Bei diesen wollte Zentgraf keinen Verdacht erwecken, als ob er in einer Disputation eine Lehre vertreten ließ, die nicht im Sinne der lutherischen O r t h o d o x i e war. Deshalb riet er D i p 180
HORN, a.a.O., 11.
181
Disputano theologica de conversione secunda relapsorum, an tales ad earn aliquid facere dici poßint [!], & debeant: Quam divina /avente gratta, praeside Dn. Johanne Joachime Zentgravio, SS. Theol. Doct. ejusd. in Alma Argentinensium Profess. P. & Ecclesiast. Patrono, ac praeceptore suo, multis nominibus suspiciendo ac honorando, publico ac solenni eruditorum examini exponet, ad diem 25. [handschrifit. Zusatz] Aprilis: Loco horisque consuetis, M. Johann. Conr. Dippelius, Darmstatto-Hassus, auctor. Argentorati, Typis Storckianis, Anno MDCXCVl. 182 183
HORN, Die Disputationen und Promotionen, 51. I, 388; vgl. ebd. zum Folgenden.
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pel, gleichlautende Stellen aus den Schriften a n e r k a n n t reingläubiger T h e o l o g e n a n z u f ü h r e n . Möglicherweise gab Z e n t g r a f selbst D i p p e l einige Stellen an die H a n d . D i e in der Disputationsvorlage als Belege a n g e f ü h r t e n Schriften o r t h o d o x e r T h e o l o g e n sind J o h a n n B e n e d i k t Carpzovs Isagogen in Libros Ecclesiarum Lutheranarum Symbolicos, J o h a n n C o n r a d D a n n h a u e r s Hodosophia Christiana, J o h a n n Gerhards Commentarius super epístolas Petri duas, J o h a n n H ü l s e m a n n s de Auxiliis Gratiae u n d J o h a n n Musaeus' Dissertation de aeterno electionis decreto. D a n e b e n sind Verweise auf Schriften A b r a h a m Calovs, M a r t i n C h e m n i t z ' , Sebastian Schmidts, sowie auf Augustins Streitschriften gegen Pelagius u n d die N i k o m a c h i s c h e E t h i k des Aristoteles enthalten. 1 8 4 D i e u m die Belege erweiterten T h e s e n ließ D i p p e l mit einer W i d m u n g an seinen Landgrafen Ernst L u d w i g in m e h r e r e n Exemplaren drucken. 1 8 5 A m 25. April war es dann soweit, D i p p e l verteidigte öffentlich u n t e r d e m Vorsitz Zentgrafs die A b h a n d l u n g über die zweite B e k e h r u n g der e r n e u t Gefallenen. 1 8 6 D i e Disputation besitzt n e b e n e i n e m k n a p p e n Vorwort zwei Teile, die jeweils in m e h r e r e Paragraphen unterteilt sind. D e n ersten Teil bildet eine Einleitung in das T h e m a , in der dieses eingegrenzt u n d der Satz, der den Ausgangspunkt der Disputation bildet, einer g e n a u e n begrifflichen Analyse u n t e r z o g e n wird: » H o m o renatus relapsus ... ad sui conversionem aliquid facit«. 187 In den acht Paragraphen der E i n l e i t u n g definiert Dippel, w i e er diesen Satz verstanden wissen m ö c h t e . Z u n ä c h s t hält er fest, dass es u m ein e n schon einmal w i e d e r g e b o r e n e n M e n s c h e n gehe, der aber v o m G l a u b e n a b g e k o m m e n sei, sich willentlich v o n Christus getrennt u n d sich damit in den ursprünglichen Stand des Z o r n s versetzt habe. 1 8 8 D e r w i e d e r Gefallene unterscheide sich v o n e i n e m H e i d e n dadurch, dass er v o m Heiligen Geist stets z u m E m p f a n g der G n a d e eingeladen werde, i n d e m dieser an dessen f r ü h e r e r w o r b e n e Kenntnisse anknüpfe. 1 8 9 Allerdings r ä u m t D i p p e l ein, dass es u n t e r den e r n e u t Gefallenen auch solche gebe, bei d e n e n die S ü n d e alles ausgetilgt habe, w o r a n der Heilige Geist a n k n ü p fen könne. 1 9 0 184 Vgl. die A b h a n d l u n g de conversione secunda relapsorum mit I, 388 f. Es existieren zwei unterschiedliche D r u c k e m i t minimalen U n t e r s c h i e d e n (zwei u n w e sentlichen Ergänzungen im Schlussparagraphen u n d anderen Seitenumbrüchen). D e r erste w u r d e kurz vor der Disputation, der N a c h d r u c k (vorhanden im StADa, E 6B, 2 6 / 1 ) spätestens A n f a n g O k t o b e r von Bonaventura de Launoy in O f f e n b a c h gedruckt, wie das Schlusssignet — Vogel i m B l u m e n k o r b - beweist. 186 Im zweiten D r u c k wird als D a t u m »Ad d i e m 25. Aprilis« angegeben. I m ersten D r u c k (Straßburger Nationalbibliothek) blieb das Tagesdatum offen u n d w u r d e handschriftlich ergänzt. 187 D e r e r n e u t gefallene w i e d e r G e b o r e n e tut etwas zu seiner B e k e h r u n g (Einleitung, § 2). 188 Einleitung, § 3. 189 Einleitung, § 3. 190 Einleitung, § 4. 185
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In der Disputation geht es also nicht generell um die Bekehrung, sondern nur um den Sonderfall einer zweiten Bekehrung. Diese unterscheide sich nämlich von der ersten, die sich Dippel punktuell vorstellt, dadurch, dass sie sich schrittweise vollziehe. 191 Was aber kann der Gefallene zu seiner erneuten Bekehrung tun und in welchem Verhältniss stehen göttliches und menschliches Handeln? In der Einleitung wird noch keine Antwort auf diese Frage gegeben. Stattdessen untersucht Dippel akribisch, welche unterschiedlichen Bedeutungen der Ausdruck »etwas tun« haben kann. Er will ihn in dem umfassenden Sinn verstanden wissen, nach dem er auch Unterlassungen bezeichnet. 192 Dadurch eröffnet sich fur ihn die Möglichkeit, das Tun als Unterlassung des gegen den Heiligen Geist gerichteten Widerstandes zu verstehen. Noch in der Einleitung grenzt sich Dippel von der katholischen Vorstellung ab, nach der es ein »positive se praeparare, ac idoneum reddere se ad sui conversionem« im Sinne eines »habitus virtutis« und »meritum de congruo« 193 gebe, durch das der Heilige Geist einen Anknüpfungspunkt für die Bekehrung habe. Stattdessen will Dippel das Tun des zu Bekehrenden als eine Handlung verstanden wissen, in der er mit dem Heiligen Geist im Akt der Bekehrung kooperiert: »Spiritui Sancto in actu conversionis cooperari tanquam causam sociam«.194 Nach der Einleitung entfaltet Dippel in den 19 Paragraphen 195 des Hauptteils das Thema. Für das Verständnis der Disputation bildet der Begriff der »non-repugnantia« einen Schlüssel. Dieser durchzieht die gesamte Darstellung und gibt Dippel die Möglichkeit, äußerlich an der protestantischen Position festzuhalten, nach der nicht der Mensch, sondern Gott die Bekehrung wirkt. Zugleich kann er aber durch die Betonung der Notwendigkeit der »non-repugnantia« die Bekehrung auch vom Handeln des zu Bekehrenden abhängig machen. Dippel kennt verschiedene Ursachen für das Tun des Menschen. So gibt es Handlungen, deren Ursache der freie Wille das Menschen ist. Dies ist immer dann der Fall, wenn es sich um etwas handelt, das nicht in Bezug auf das Heil des Menschen steht. Dippel zählt dazu auch den Gottesdienstbesuch und die Bibellektüre. Es gibt aber auch Handlungen, die zunächst wie die Tat des Menschen erscheinen, deren Ursache aber in Wirklichkeit der Heilige Geist ist. Dies ist bei der Bekehrung des Menschen der Fall. Das Nicht-Widerstand-Leisten des Menschen ist für Dippel etwas, das genau 191
Einleitung, § 6. Einleitung, § 7. 193 Dieser Begriff gehört zur katholischen Rechtfertigungslehre vom 13. Jahrhundert an (WILHELM D A N T I N E , Das Dogma im tridentinischen Katholizismus, 458f.; E R D M A N N 192
SCHOTT, A r t . »Verdienst IV«, in: R G G 3 , B d . 6, 1 2 6 7 f . ) . 194
Einleitung, § 8. In beiden Auflagen der Disputation gibt es jeweils zweimal die § § 1 2 und 13. Zur U n terscheidung werden sie als § 12/1 usw. zitiert. 195
119
zwischen beidem liegt. Es ist eine Handlung, die bereits für das Heil des Menschen von Bedeutung ist, weil der Heilige Geist ohne diese »nonrepugnantia« die Bekehrung nicht wirken kann. Und doch ist sie nicht die alleinige Bedingung für die Bekehrung, die ja des Heiligen Geistes bedarf. Ist diese »non-repugnantia« nun eine Tat des Menschen oder der zuvorkommenden Gnade des Heiligen Geistes? U m diese Frage zu beantworten, entwirft Dippel eine Theorie, in der er den Widerstand gegen den Heiligen Geist noch einmal unterteilt. So unterscheidet er zwischem einem natürlichen und einem bösartigen Widerstand. Mit dem natürlichen Widerstand bezeichnet er das, was sonst mit Erbsünde bezeichnet wird, d.h. die Unfähigkeit des natürlichen Menschen zum geistlich Guten. Von diesem natürlichen ist der bösartige Widerstand zu unterscheiden, für die der Mensch, anders als für den in seiner Natur angelegten Widerstand, selbst verantwortlich ist. Weil der bösartige Widerstand in der Freiheit des Menschen liegt, könne er ihn, zumindest wenn er noch einen rudimentären Glauben besitzt, von sich aus unterlassen, während er der zuvorkommenden Gnade des Heiligen Geistes bedürfe, um den natürlichen Widerstand punktuell aufgeben zu können. 196 Die Beseitigung des bösartigen Widerstands ist damit eine vom Menschen zu leistende Voraussetzung für seine Bekehrung. Nach dem Rückfall des Gläubigen entwickelt dieser allmählich einen bösartigen Widerstand. Er bleibt allerdings zunächst offen für das Wirken des Heiligen Geistes. Denn noch besitze der erneut gefallene Mensch eine historische Kenntnis vom Gegenstand des Glaubens (»notitia«) und manchmal sogar noch ein gewisses Maß an Zustimmung zu demselben (»assensus«). Solange der Wiedergefallene diesen rudimentären Glauben besitzt, habe er noch die Möglichkeit, den bösartigen Wiederstand zu lassen.197 Erst wenn der erneut Gefallene fortwährend sündigt, mache er sich zu einem habituellen Sünder, dem die Sünde gleichsam zur zweiten Natur werde. Dieser könne von sich aus das Sündigen nicht mehr lassen.198 Im Gegensatz zu denen, die noch einen gewissen historischen Glauben haben, brauchen diejenigen, die auf habituelle Weise Sünder sind, die zuvorkommende Gnade des Heiligen Geistes, um den bösartigen Widerstand aufge-
196
§§ 3-5. § 8. Es ist interessant, dass Dippel, der sich an der orthodoxen Terminologie vom Glauben orientiert (vgl. R E I N H A R D S L E N C Z K A , Art. »Glaube«, in: T R E , Bd. 13, 332f.), den wirklichen Glauben auf die vertrauensvolle Hingabe an Gott (»fiducia«) beschränkt. Dieser enge Glaubensbegriff ist typisch für den Pietismus (vgl. A U G U S T L A N G E N , Der Wortschatz des deutschen Pietismus, 262). In seinen späteren Schriften machte Dippel der Sache nach die gleiche Unterscheidung, wenn er zwischen wahrem Glauben und totem Scheinglauben u n terschied. 198 § 7. Aufgrund der getroffenen Unterscheidung zwischen natürlichem und bösartigem Widerstand ist hier diejenige Sünde gemeint, die zum natürlichen Sünder-Sein hinzukommt. 1,7
120
ben zu können. 1 9 9 Die Möglichkeit, die bösartige »repugnantia« aufzugeben, ist somit nicht allen gegeben, sondern nur denjenigen Wiedergefallenen, die ein Stück von dem früheren Glauben behalten haben. Die hartnäckigen Sünder aber haben diese Möglichkeit verspielt. Damit zeigt sich bei Dippel ein gewisser Moralismus, der auch später seine Schriften teilweise durchzieht. Im Folgenden bezieht Dippel einen dogmatischen Standpunkt zwischen der Lehre des Pelagius, nach der der Mensch aus eigenen Kräften sein Heil verdienen kann, und der der doppelten Prädestination. Beide Lehren seien in ihrer Einseitigkeit falsch. Gegen die calvinistische Lehre von der absoluten Erwählung vor dem Sündenfall (Supralapsarismus 200 ) wendet Dippel ein, dass ein Gott, der die Menschen von Ewigkeit her in Erwählte und Verworfene scheide und die Bekehrung nicht zumindest teilweise vom Menschen abhängig mache, ein manichäistischer Gott sei. 201 N u n präzisiert Dippel in der Auseinandersetzung mit den Calvinisten seine Vorstellung von der zuvorkommenden Gnade, die aber nicht unwiderstehlich sei. 202 U n d dies bedeutet, dass auch der habituelle Sünder, der zur Aufgabe seines bösartigen Widerstandes der zuvorkommenden Gnade bedarf, etwas zu seiner Bekehrung tun muss. Wenn er sich nämlich der zuvorkommenden Gnade entzieht, sei es ihm zuzurechnen. Wenn er sich ihr öffnet, sei dies aufgrund der zuvorkommenden Gnade möglich. 2 0 3 Sich dieser nicht zu widersetzen und zu tun, wozu er von sich aus fähig ist, mache den Menschen dafür offen, dass Gott ihn mit neuer Gnade beschenkt. Nachdem Dippel die calvinistische Lehre von der doppelten Prädestination verworfen hatte, wendet er sich gegen den Pelagianismus und Semipelagianismus. 204 In diesem Zusammenhang untersucht er das Problem, dass einige Bibelstellen auf den ersten Blick die menschliche Möglichkeit der Bekehrung nahezulegen scheinen. Doch Dippel versucht anhand von anderen Bibelstellen zu zeigen, dass aus biblischer Sicht weder das eine noch das andere Extrem stimmen kann. 2 0 5 Z u m Schluss fasst Dippel die wesentlichen Gedanken seiner Thesen zusammen und bringt sie auf den Punkt. Der »homo peccator« könne im Hinblick auf das Heil nichts aus sich heraus tun oder wollen, 2 0 6 bevor er die zuvorkommende Gnade erlangt habe. Wenn er diese aber empfangen habe, besitze er auch die Kräfte, das Heil zu wollen und zu wünschen und sei nicht passiv den zum Heil führenden Mitteln ausgesetzt. Ergreife er aber §§ 8 und 11. 200
V g l . E R N S T KAHLER, A r t . » P r ä d e s t i n a t i o n III«, in: R G G \ B d . 5, 4 8 7 .
201
§§ 9 und 10. § 12/1; vgl. auch § 7. §§ 12/1 und 1 3 / 1 . §§ 14 und 15. § 16. § 17: »nil ex se & facere & velie«.
202 203 204 205 206
121
diese Möglichkeit nicht und verachte damit in freier Entscheidung die göttlichen Wohltaten, könne er weder durch den gerechten Gott noch durch den entschuldigt werden, der sich auf Dippels Thesen eingelassen habe. Insgesamt geht die Disputation kaum über den Standpunkt der lutherischen Orthodoxie hinaus207. Etliche Aussagen waren mit Belegen anerkannter orthodoxer Schriftsteller versehen. Dennoch will Dippel nach seinem Lebens-Lauff die Thesen geschrieben haben, nachdem er der Orthodoxie den Rücken zugekehrt hatte.208 Dieser Widerspruch lässt sich daher erklären, dass Dippel die Thesen auf die Bitte Zentgrafs überarbeitete. Dadurch verloren sie weitgehend ihren für orthodoxe Ohren anstößigen Charakter, der Ζentgraf ursprünglich Bedenken tragen ließ, bei dieser Disputation den Vorsitz zu übernehmen. Dippel gab mehrere Exemplare der Abhandlung dem Straßburger Magister Johann Friedrich Ruopp mit, der über Darmstadt nach Leipzig reisen wollte. 209 Außerdem sollte Ruopp mehrere Briefe nach Darmstadt mitnehmen. Zum einen ließ Dippel ein Exemplar an seinen Landesfürsten Ernst Ludwig schicken, dem die Disputation gewidmet war. Wahrscheinlich bemühte er sich in einem Begleitschreiben um eine Anstellung in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt. Außerdem hat er in einem Brief seinen Vater um Geld gebeten. 210 Dies hatte Dippel auch dringend nötig, denn er war tief verschuldet. Zudem verschlimmerte sich seine finanzielle Situation, als er Ende Juni seine Stelle als Erzieher bei den Landspergs verlor, bei 207 Vgl. dazu WALLMANN, Spener und die Anfange des Pietismus, 172: Dannhauer hat in seiner Schrift Hodomoria Spiritus Calviniani gegen die reformierte Perseveranzlehre mehrfach die Möglichkeit des Glaubensverlustes und die erneute Wiedergeburt gelehrt. A m R a n d e sei erwähnt, dass Spener i m Oktober 1663 im R a h m e n seiner Promotion »Lectiones cursoriae« über Gal 4, 19 halten musste, in denen er das Problem der erneuten Wiedergeburt behandeln musste. Leider sind die Ausführungen Speners nicht mehr erhalten. Nach WALLMANN (Spener und die Anfänge des Pietismus, 171-175) hat Spener aber Dannhauers Lehre von der W i e d e r holbarkeit der Wiedergeburt genutzt, u m die Wiedergeburtslehre Theophil Großgebauers zu widerlegen, der lediglich wenige Getaufte als wahrhaft wieder geboren ansah. Spener konnte dem Letzteren zwar in der Analyse zustimmen, dass nur wenige die Wiedergeburt besitzen, behauptete aber mit Dannhauer, dass sie diese durch die Taufe besessen, inzwischen aber verloren hatten. I, 388. R u o p p (1672-1708) hatte 1689 in Straßburg mit dem Studium begonnen. Er setzte sein Theologiestudium nun in Jena fort, statt w i e ursprünglich geplant nach Leipzig zu reisen. In Jena wandte er sich bald dem Pietismus zu. Nach seiner R ü c k k e h r wurde er Pfarrer i m straßburgischen Ort Goxweiler (Gottesweiler). Er war ab 1700 einer der eifrigsten Vertreter des Pietismus in Straßburg, was schließlich 1705 zu seiner Amtsenthebung führte (vgl. ZENTGRAF, Historischer Bericht, 2 0 3 - 2 0 5 . 210. 244f. 251 ff., und ADAM, Evangelische Kirchengeschichte, 476f.). Zu R u o p p , der auch als Liederdichter (EG 390) bekannt ist, vgl. ACKVA, Der Pietismus 208
209
i n H e s s e n , in d e r P f a l z , i m E l s a ß u n d i n B a d e n , 2 1 5 f . , JOHANN FRIEDRICH JOHANNSEN, H i s -
torisch-biographische Nachrichten von ältern und neuern Liederverfassern, 225, und WALTER ELLER, Art. »Ruopp«, in: Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch, Bd. 2. 210 AST, 385, Protokoll vom 28. Juni 1696.
122
denen er bisher umsonst leben durfte. 2 1 1 R u o p p unterließ es allerdings, die Disputationsthesen u n d die Briefe bei den Adressaten abzugeben, obwohl er durch Darmstadt reiste u n d sich nach Dippels Angehörigen erkundigte. Dippel »wartete derohalben lange Zeit vergebens auf eine favorable (günstige) Antwort«. D u r c h die lange Zeit, die ein Brief wegen des Pfálzer E r b folgekrieges von Straßburg nach Darmstadt oder zurück brauchte, verzögerte sich Dippels Abreise aus Straßburg noch zusätzlich. D e n n o h n e die Zusage einer Stellung, mit der er seine Gläubiger beruhigen konnte, wollte Dippel die Stadt nicht verlassen. 212 Ein tragisches Ereignis brachte Dippel allerdings dazu, seine Pläne zu ändern u n d fluchtartig die Heimreise anzutreten. Als in einer Gesellschaft ein Mitglied von Dippels Landsmannschaft tödlich verwundet worden war, wurde unter allen Anwesenden auch Dippel verdächtigt, die Tat begangen zu haben. Da er zudem h o h e Schulden hatte, sahen zumindest seine Gläubiger die Gefahr, dass er flüchten könnte. Einer derselben, ein H e r r H ö p f f ner, dem Dippel 60 Gulden schuldete, wurde beim Universitätsrektor Scheid am 28. Juni vorstellig. 213 N a c h d e m Dippel eine vom R e k t o r festgesetzte Frist zur Tilgung seiner Schuld versäumt hatte, konnte HöpfFner durchsetzen, dass ihm gegen Ende Juli Hausarrest erteilt wurde. Z u d e m sollten Soldaten Dippels Z i m m e r bewachen. U m dieser unwürdigen Behandlung zu entgehen, versteckte sich Dippel einige Tage bei einem Freund. Mitglieder aus seiner Landsmannschaft organisierten schließlich die Flucht aus Straßburg, indem sie ihn Anfang August 1696 in einer Kutsche an der Wache vorbei aus der Stadt schmuggelten. Seine Sachen musste Dippel allerdings teilweise in Straßburg zurücklassen. Das Straßburger Studienjahr war für Dippel eine Zeit, in der wichtige Weichen für sein Leben gestellt wurden. Das bereits in Gießen begonnene Studium der altkirchlichen Schriftsteller Gennadius, Makarios und m ö g licherweise Tertullian führte in Straßburg zu einer allmählichen Abkehr von der Orthodoxie. Durch deren Schriften hatte sich Dippel mit Fragen auseinander gesetzt, die teilweise auch für den Pietismus zentral waren. Durch die Exegese Sebastian Schmidts u n d die H e r m e n e u t i k Johann C o n rad Dannhauers, die sich Dippel in Straßburg bei Isaak Faust angeeignet haben könnte, erwarb er sich eine Methode, die orthodoxe Systematik aufgrund einer eigenständigen Exegese zu kritisieren. Von größter Bedeutung sollten Dippels Spenerstudien für seine theologische Entwicklung werden. Gerade Speners Rechtfertigungslehre ü b e r zeugte ihn. Auf der Basis von dessen Evangelischer Glaubens-Gerechtigkeit baute Dippel etwa ein halbes Jahr nach seiner Flucht aus Straßburg seine effektive Rechtfertigungslehre auf, die für ihn z u m Ausgangspunkt seiner 211 212 213
AST, 385, Protokoll vom 28. Juni 1696. Lebens-Lauff, I, 389. AST, 385, Protokoll vom 28. Juni 1696. Vgl. ebd. zum Folgenden.
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radikalen Kritik an der Orthodoxie und dem verfassten Kirchentum werden sollte. Dippels allmähliche Entwicklung zum Pietisten fand in Straßburg einen vorläufigen Endpunkt, nachdem er eine schwere innerliche Krise durchgestanden hatte, die sich schließlich zu einer atheistischen Anfechtung verdichtet hatte. D o c h mit der Hinwendung zum Pietismus war Dippels theologische Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Es sollte noch etwa eineinhalb Jahre dauern, bis er den Höhepunkt seiner Theologie erreichte. Von Dippel als einem zunächst kirchlichen Pietisten zu sprechen, der sich dann allmählich zu einem Radikalpietisten entwickelte, scheint verfehlt. Eine solche schematische Darstellung nimmt nicht zur Kenntnis, dass er bereits in Straßburg Ansätze einer radikalen Kirchenkritik kannte. Die orthodoxe Polemik gegen Spener und das Studium altkirchlicher Streitschriften hatten ihn bereits hier daran zweifeln lassen, dass sich nur bei den j e weils Rechtgläubigen die Wahrheit durchgesetzt hatte. Von Anfang an besaß damit Dippels Pietismus eine gewisse Radikalität, die sich allerdings bis zur Abfassung des Papismus Protestantium vapulans noch deutlich steigern sollte.
Dippel
und die frühchristlichen Gennadius und
Schriftsteller Tertullian
Makarios,
Dippel befasste sich, wie wir gesehen haben, wohl gegen Ende seiner Gießener Studienzeit mit der Theologie des Makarios und Gennadius und möglicherweise auch der des Tertullian. Zu Beginn seines Straßburger Aufenthalts konnte er sich auf sie in den Thesen seiner geplanten philosophischen Habilitationsdisputation Daß alle erschaffene Geister ihrem Wesen nach, in gewissem Unterschied materialisch wären berufen. Alle drei, vor allem aber Makarios, der Kirchenvater des Pietismus, dürften — wie im Folgenden zu zeigen ist — fur Dippels theologische Entwicklung von recht großer Bedeutung gewesen sein. Gennadius, von dem angenommen wird, dass er Presbyter in Marseille war und dessen Wirksamkeit etwa in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts lag, 2 1 4 spielte durch seinen 477 oder 478 veröffentlichten Schriftstellerkatalog 2 1 5 für die Geschichtsschreibung der alten Kirche stets eine große Rolle.
ALFRED FEDER, D e r Semipelagianismus im Schriftstellerkatalog des Gennadius, 4 8 3 - 4 8 9 . W i e oben, S. 7 8 , A n m . 136. ALFRED FEDER weist nach, dass die in der Forschung übliche M e i n u n g , der Schriftstellerkatalog k ö n n e nicht vor 4 9 2 veröffentlicht worden sein, auf einem Irrtum beruht. D e n n die Spätdatierung gründe sich auf das Schlusskapitel der Schrift, das allgemein nicht Gennadius zugeschrieben wird (Die Entstehung und Veröffentlichung des gennadianischen Schriftstellerkatalogs, 2 2 1 . 2 3 2 . 3 8 1 - 3 8 4 ) . 214 215
124
In diesem finden sich n e b e n biographischen Angaben solche ü b e r Schriften von T h e o l o g e n aus d e m 4. u n d 5. J a h r h u n d e r t , von d e n e n Gennadius fast i m m e r genaue Kenntnisse besaß. 2 1 6 Allerdings ist der Schriftstellerkatalog eine einseitige Quelle, insofern Gennadius darin die Vertreter des S e m i p e lagianismus auf günstige Weise, diejenigen der damals als rechtgläubig anerk a n n t e n Gnadenlehre aber negativ darstellt. 217 D i e einzige A u s n a h m e bildet Augustin, dessen W ü r d i g u n g auf den ersten Blick positiv erscheint. So k o n n t e Gennadius in der Forschung teilweise als dessen geistiger Schüler angesehen werden. 2 1 8 D o c h die scheinbar positive B e u r t e i l u n g Augustins ist von der Absicht getragen, dessen B e d e u t u n g herunterzuspielen. B e z e i c h n e n d f ü r den theologischen S t a n d p u n k t des Presbyters von Marseille ist, dass er von der Fülle an Augustinschriften n u r drei erwähnt, die alle nichts über dessen antipelagianische Gnadenlehre aussagen. 2 1 9 Zeigt sich bereits i m Schriftstellerkatalog die semipelagianische Position des Gennadius, so tritt diese eindeutig in seiner zweiten H a u p t s c h r i f t Liber de ecclesiasticis dogmatibus220 hervor, in der auf systematische Weise die Glaubenslehre entfaltet wird. 2 2 1 Allerdings w u r d e sie i m Abschnitt ü b e r die Glaubenslehre verändert u n d erweitert, weshalb sie n e b e n Gennadius auch Augustin u n d Isidor von Sevillia zugesprochen w e r d e n konnte. 2 2 2 M ö g licherweise hat sie die theologischen E n t w ü r f e der f r ü h e n Scholastik b e einflusst, 2 2 3 ist aber seit der Hochscholastik w o h l z u n e h m e n d in Vergessenheit geraten u n d hat im Protestantismus n u r eine äußerst geringe R o l l e gespielt. Z u m i n d e s t ist von der R e f o r m a t i o n bis ins 19. J a h r h u n d e r t hinein n u r eine einzige Edition dieser Gennadiusschrift von 1614 bekannt, 2 2 4 die auch in der alten G i e ß e n e r Universitätsbibliothek v o r h a n d e n war.
2,6
Vgl. JÜLICHER, Art. »Gennadius von Massilia«, in: P R E 2 , Bd. 7 / 1 , 1171. Vgl. dazu die Nachweise von FEDER (Der Semipelagianismus im Schriftstellerkatalog des Gennadius) u n d OTTO BARDENHEWER (Geschichte der altkirchlichen Literatur, Bd. 4, 595). Vgl. auch JOHANN. HUEMER, Studien zu den ältesten christlich-lateinischen Literarhistorikern, 148. 218 Beispielsweise A. GRILLMEIER, Patristische Vorbilder frühscholastischer Systematik, 398. 219 FEDER, D e r Semipelagianismus im Schriftstellerkatalog des Gennadius, 500. 22l > W i e oben, S. 78, A n m . 135. 217
A b g e d r u c k t b e i F R A N Z O E H L E R , C o r p o r i s H a e r e s e o l o g i c i , B d . 1, 3 3 3 - 4 0 0 ; v g l . a u c h
CUTH-
BERT H . TURNER, T h e Liber ecclesiasticorum d o g m a t u m , in: J T h S 7, 78—99 u n d J T h S 8, 103-114. 221 Vgl. z u m Aufbau der Gennadiusschrift GRILLMEIER, Patristische Vorbilder frühscholastischer Systematik, 399. 222 v g l . BARDENHEWER, Geschichte der altkirchlichen Literartur, 596, u n d TURNER, T h e liber ecclesiasticorum d o g m a t u m , in: J T h S 7, 7 8 f . 223 GRILLMEIER, Patristische Vorbilder frühscholastischer Systematik, 3 9 8 - 4 0 5 . 224 Liber de ecclesiasticis dogmatibus veteris cuiusdam Theologi Sacra, hg. v. G. ELMENHORST, H a m b u r g 1614. Vgl. TURNER, T h e liber ecclesiasticorum d o g m a t u m , in: J T h S 7, 7 9 f . D i e Gnadenlehre des Gennadius war in dieser Edition verändert wiedergegeben. D o c h der Herausgeber Elmenhorst hatte bereits auf diese Entstellung hingewiesen (BARDENHEWER, G e schichte der altkirchlichen Literatur, 596).
125
W i e diese einzige Edition zeigt, ist der Liber de ecclesiasticis dogmatibus des Gennadius im Altprotestantismus und im Pietismus wohl weitgehend unbekannt geblieben, 225 er wird für Dippel allerdings eine größere R o l l e gespielt haben als der Schriftstellerkatalog. Die Tatsache, dass Johann W i l helm Petersen diese Schrift ebenfalls besaß, 226 ist ein kleiner Hinweis darauf, dass sie für den Radikalpietismus wichtig gewesen sein kann, worüber in der Forschung bisher allerdings noch nichts bekannt ist. Anders steht es mit dem zweiten für Dippels theologische Entwicklung bedeutenden frühchristlichen Schriftsteller. Die 50 geistlichen H o m i lien 227 , die Dippel wahrscheinlich schon gegen Ende seines Grundstudiums und zu Beginn seines Theologiestudiums gelesen hat, wurden traditionell Makarios dem Ägypter zugesprochen. In der Forschung des 20. Jahrhunderts wurde diese Auffassung allerdings bestritten. Zunächst erkannte P. L. Villecourt, dass die Homilien dem heterodoxen messalianischen Schrifttum zuzurechnen sind. 228 Etwa zwanzig Jahre später konnte H e r mann Dörries wahrscheinlich machen, dass die Homilien und andere makarianische Schriften von Symeon von Mesopotamien stammen. 229 Trotz ihres häretischen Charakters kommt den makarianischen Schriften von der Zeit der alten Kirche bis heute eine große Bedeutung zu. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts müssen sie bereits eine solche Beliebtheit besessen und eine solche Verbreitung gefunden haben, dass sie die Verurteilung des Messalianismus durch die Synoden von Side (ca. 390) und von Ephesos (431) und die anschließende Verfolgung der messalianischen Gemeinschaften überstehen konnten. 2 3 0 Makariosschriften spielten im arabischen Sprachraum, 231 in der griechisch orthodoxen Kirche 2 3 2 und später auch im slawischen Gebiet 2 3 3 eine
2 2 5 Gennadius spielt in der kirchengeschichtlichen, insbesondere in der protestantischen Forschung nur eine geringe Rolle. Von den im Literaturverzeichnis bei CHARLES PIETRI erwähnten 15 Titeln (Art. »Gennadius von Marseille«, in: T R E , Bd. 12, 3 7 8 ) sind nahezu alle kurze Abhandlungen oder Lexikonartikel. Es existiert nur eine einzige Monographie über Gennadius (BRUNO CZAPLA, Gennadius als Literarhistoriker). 226 Vgl j a s Exemplar in der Straßburger Nationalbibliothek, zu dessen Vorbesitzern Johann Wilhelm Petersen gehörte, der, wie ein Zusatz hinter seinem N a m e n verrät, dies B u c h während seiner Zeit als »Lüneburg. Superintend[ent]« ( 1 6 8 8 - 1 6 9 2 ) erworben hat.
W i e oben, S. 79, Anm. 142. La date et l'origine des »Homélies spirituelles« attribuées à Macaire, 250—258. 2 2 9 Symeon von Mesopotamien, 7 f . ; vgl. auch WERNER STROTHMANN, Die arabische M a kariustradition, 23—35. Da für Dippel der Verfasser noch nicht fraglich war, wird im Folgenden Makarios als Verfasser angegeben, ohne dass damit die neueren Forschungsergebnisse in Frage gestellt werden. 230 VGL HEINZ BERTHOLD, Die frühe christliche Literatur als Quelle für die Sozialgeschichte, 4 7 . 227
228
STROTHMANN, Die arabische Makariustradition, 3—7. GILLES QUISPEL, Makarius, das Thomasevangelium und das Lied von der Perle, 2. 2 3 3 R . A. KLOSTERMANN, Die slavische Uberlieferung der Makariusschriften. Klostermann kann neben recht umfangreichen handschriftlichen Uberlieferungen insgesamt 11 Auflagen 231
232
126
Rolle. Für uns ist von Interesse, welche Bedeutung dem makarianischen Schrifttum in Westeuropa und speziell im Protestantismus zukommt. Im 16. Jahrhundert beginnt die westeuropäische Wirkungsgeschichte der 50 geistlichen Homilien, der einzigen Makariosschrift, die über Jahrhunderte hier bekannt war. Die erste griechische Ausgabe besorgte Johannes Picus im Jahre 1559 in Paris und ließ ihr im gleichen Jahr eine lateinische Ubersetzung folgen, die bereits 1562 neu aufgelegt wurde. 1589 wurden die Homilien in dieser lateinischen Ubersetzung in eine große patristische Quellensammlung aufgenommen, die 1618 und 1677 jeweils neu aufgelegt wurde und auch später noch neue Auflagen erlebte. 1594 gab Palthenius die erste protestantische Ausgabe heraus, die auch in der Gießener Universitätsbibliothek vorhanden war. Sie bot neben dem griechischen Text eine lateinische Übersetzung. Im 17. Jahrhundert kam es zu weiteren Editionen. Zunächst wurde 1622 eine Neuauflage der griechischen Pariser Ausgabe von 1559 herausgegeben, drei Jahre später folgte die zweite Auflage der Paltheniusausgabe und 1684 erschienen die Homilien erneut in einer patristischen Quellensammlung. 1698 gab Johann Georg Pritius in Leipzig einen griechisch-lateinischen Text heraus, der 1702 bereits seine zweite Auflage erlebte. 1714 wurde die lateinische Ausgabe des Pritius separat gedruckt. Nachdem die Homilien bereits 1580 in einer holländischen Ausgabe vorlagen, gab es 1619 die erste deutsche Ubersetzung. 1696 brachte Gottfried Arnold eine weitere deutsche Ubersetzung der Homilien heraus, die 1702 und 1716 in zweiter und dritter Auflage erschien. Die Wirkungsmächtigkeit der makarianischen Homilien wird schließlich durch die Ubersetzungen ins Englische von 1721 und 1819 2 3 4 dokumentiert. 2 3 5 Die Wirkungsgeschichte der Homilien lässt sich bei wichtigen Persönlichkeiten der Kirchengeschichte nachweisen, die zum näheren oder weiteren Umfeld des Pietismus gehören. Von daher kann man Makarios durchaus als den Heiligen des Pietismus bezeichnen. 236 Uber die Makarios-Rezeption im Protestantismus des 16. Jahrhunderts ist bisher wenig bekannt. Hans Schneider hat auf Michael Neander hingewiesen, bei dem sich erstmals im Protestantismus die Kenntnis der makarianischen Homilien nachweisen
bzw. Übersetzungen des makarianischen Schrifttums zwischen dem 17. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts belegen (a.a.O., 55f.). 2 3 4 Diese Übersetzung besorgte John Wesley. 235
M A T T H I A S K R O E G E R , i n : D i e 5 0 g e i s t l i c h e n H o m i l i e n d e s M a k a r i o s , h g . v. H E R M A N N
DÖRRIES, ERICH KLOSTERMANN u n d MATTHIAS KROEGER, X L I I - X L V I ; U D O SCHULZE, D a s
Verhältnis der »geistlichen Homilien« des Ps.-Makarios zu den übrigen Schriften Symeons von Mesopotamien, 12-15; HANS SCHNEIDER, Johann Arndt und die makarianischen H o m i lien, 188-191; DÖRRIES, Symeon von Mesopotamien, l f . ; ERNST BENZ, D i e protestantische Thebais, 9. D i e Aufzählung der Homilienausgaben bei BENZ (ebd.) weist etliche Lücken und Fehler auf, wie SCHNEIDER (Johann Arndt und die makarianischen Homilien) gezeigt hat. 2 3 6 QUISPEL, Makarius, das Thomasevangelium und das Lied von der Perle, 1.
127
lässt. 237 Auch Johann Arndt scheint zum Teil von Makarios beeinflusst worden sein, soll sogar die geistlichen Homilien teilweise auswendig gekannt haben. 2 3 8 In neuester Zeit hat Burkhard Weber nachgewiesen, dass auch Spener Makarios kannte und von ihm, allerdings in eher unbedeutender Weise, geprägt worden sein könnte. 2 3 9 Weiter lassen sich Einflüsse der makarianischen Homilien bei Balthasar Köpke (1646—1711) 2 4 0 , Pierre Poiret ( 1 6 4 6 - 1 7 1 9 ) 2 4 1 , Johann Georg Pritius ( 1 6 6 2 - 1 7 3 2 ) 2 4 2 , Gottfried Arnold 2 4 3 , Johann Albrecht Bengel ( 1 6 8 7 - 1 7 5 2 ) 2 4 4 , Friedrich Christoph Oetinger ( 1 7 0 2 - 1 7 8 2 ) 2 4 5 und John Wesley 246 ( 1 7 0 3 - 1 7 9 1 ) nachweisen. B e i der Kernthese der nicht mehr erhaltenen Straßburger Disputation, dass alle erschaffenen Geister auf eine gewisse Weise materiell seien, stützte sich Dippel nach den Aussagen in seinem Lebens-Lauff auf die altkirchlichen Schriftsteller Tertullian, Makarios und Gennadius von Marseille. Am weitesten geht in dieser Hinsicht Tertullian und spricht in seiner Schrift de resurrectione carnis nicht nur von der Auferstehung des irdischen Leibes, sondern sogar an anderer Stelle von der Körperlichkeit Gottes, auch wenn er dabei nur das wirkliche Sein Gottes aussagen will. 2 4 7 Dippel ist dieser extremen Lehre Tertullians nicht gefolgt, wie er im Übrigen auch von Tertullian weniger beeinflusst zu sein scheint als von Makarios und Gennadius. 248 Makarios konnte geistigen Wesen eine gewisse Körperlichkeit zu-
J o h a n n Arndt und die makarianischen H o m i l i e n , 192—194. 238 VGL SCHNEIDER, J o h a n n Arndt und die makarianischen H o m i l i e n , 1 9 4 - 1 9 9 . Schneider k o m m t in B e z u g auf den Einfluss der geistlichen H o m i l i e n auf Arndt zu einer differenzierteren B e w e r t u n g als die bisherige Forschung (z.B. BENZ, D i e protestantische Thebais, 9 f . ) . D a nach kannte dieser zwar die geistlichen Homilien teilweise auswendig, doch war fur ihn M a karios nur einer von anderen Mystikern, die er positiv bewertete und ist nur in einzelnen Punkten von diesem beeinflusst (a.a.O., 2 1 4 - 2 2 0 ) . 237
239
Z u r Wirkungsgeschichte des Makarios bei Philipp J a c o b Spener.
240
BENZ, D i e protestantische Thebais,
241
BENZ, D i e protestantische Thebais,
26-28.
242
BENZ, D i e protestantische Thebais,
29—31.
243
HERMANN
31-33.
148-193.
209-213;
BENZ, D i e protestantische Thebais, 11—25. DÖRRIES hat in Arnolds Schrift Wahre 1 5 5 Makarioszitate gezählt (a.a.O., 2 0 9 ) .
Abbildung
244 245 246
DÖRRIES, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold,
WEBER, Z u r Wirkungsgeschichte des Makarios bei Philipp J a c o b Spener, 2 2 4 f . WEBER, Z u r Wirkungsgeschichte des Makarios bei Philipp J a c o b Spener, 2 2 3 . BENZ, D i e protestantische Thebais,
117-129.
Vgl. N . BONWETSCH, Art. »Tertullianus«, in: R E 3 , B d . 19, 5 4 5 und 5 4 7 . Vgl. auch den Weg- Weiser zum verlohnen Liecht und Recht, I, 9 3 7 . 247
2 4 8 Insgesamt scheint Dippel von Tertullian i m Vergleich zu Makarios und Gennadius am wenigsten beeinflusst zu sein. E r hat dessen Schriften möglicherweise auch n o c h nicht w ä h rend seiner G i e ß e n e r Studienzeit gelesen, sondern erst in Straßburg. Es lässt sich zwar nicht gänzlich ausschließen, dass Dippel Schriften von Gennadius und Makarios auch in Straßburg gelesen hat, doch gibt es keinen Nachweis, dass die dortigen Bibliotheken Schriften der letztgenannten Schriftsteller besaßen. In der Nachfolgerin der früheren Universitätsbibliothek (Vgl. C . SCHMIDT, Z u r Geschichte der ältesten Bibiotheken, 163—198), der B i b l i o t h è q u e du Séminaire protestant, sind heute keine Schriften von Makarios oder Gennadius vorhanden.
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sprechen 2 4 9 und Gennadius lehrte die Materialität der Seele, 2 5 0 w o m i t beide der Hauptthese von Dippels nicht gehaltener Disputation nahe k o m men. Wahrscheinlich wurde D i p p e l über die Lehre von der Körperlichkeit geistiger Wesen hinaus von diesen drei altkirchlichen T h e o l o g e n beeinflusst, mit denen er sich wohl bereits gegen E n d e seines Grundstudiums in Gießen auseinander gesetzt hat. D e m T h e m a der Disputation entsprechend beschränkte er sich hier aber auf die A u f n a h m e der Lehre von der M a t e rialität der Seele, die alle drei Kirchenväter mit kleineren A b w e i c h u n g e n vertreten haben. Alle drei altkirchlichen Schriftsteller vertraten eine rigoristische T h e o logie und standen mit der Kirchenlehre ihrer Zeit in Konflikt. In erster Linie gilt dies für Tertullian, der einen steten K a m p f g e g e n alles weltliche Wesen führte, was ihn letztlich d e m Montanismus zuführte. 2 5 1 Aber auch auf Gennadius, der in der Forschung meist d e m Semipelagianismus zugeordnet wird, 2 5 2 und auf Makarios, d e m Synergismus vorgeworfen werden kann, 2 5 3 trifft dies zu. Für den Letztgenannten muss sich der Christ, u m den Heiligen Geist zu empfangen, vorbereiten, i n d e m er sich z u m G u t e n A u c h der deutsche Katalog der Straßburger Nationalbibliothek, der bei einigen B ü c h e r n das Akzessionsdatum angibt, dürfte B e s t ä n d e einer früheren Straßburger Bibliothek von b e achtlichem U m f a n g auffuhren. Aber auch dieser alte Katalog lässt nicht darauf schließen, dass in dieser Bibliothek zu Dippels Studienzeit Schriften des M a k a r i o s o d e r G e n n a d i u s vorhanden waren. B e i der Schrift de ecclesiasticis dogmatibus des Gennadius, bei der das Akzessionsdatum nicht m e h r zu lesen ist, kann a u f g r u n d des Vorbesitzers J o h a n n W i l h e l m Petersen geschlossen werden, dass sie zu Dippels Studienzeit n o c h nicht zu einer Straßburger Bibliothek gehört haben kann. D e r Zusatz hinter dessen N a m e n »Lüneburg. Superintend.« zeigt, dass Petersen das B u c h zumindest vor 1692 in seine Bibliothek a u f g e n o m m e n haben muss. Z u Dippels S t u dienzeit gab es d e m n a c h keine Schriften des Gennadius u n d M a k a r i o s in der Universitätsbibliothek und der Vorgängerin der heutigen Nationalbibliothek. M ö g l i c h e r w e i s e war in der Straßburger Stadtbibliothek die L a g e anders. D o c h ihre B e s t ä n d e k ö n n e n heute nicht m e h r überprüft werden, da sie 1870 durch einen Brand vernichtet wurden. Kataloge aus d e m 17. u n d 18. Jahrhundert fehlen ganz. D e r einzige Katalog, der Auskunft über die Bestände der Stadtbibliothek g e b e n könnte, der von Prof. J u n g 1 8 4 2 fertiggestellt wurde, ist nur n o c h zu ein e m geringen Teil vorhanden. Für unsere Frage ist er leider o h n e B e d e u t u n g (JULIUS RATHGEBER, D i e handschriftlichen Schätze der früheren Straßburger Stadtbibliothek, 7—14. Z u der Z e r s t ö r u n g der alten Stadtbibliothek vgl. ALFRED E . HOCHE, Straßburg u n d seine Universität, 4 9 f.). 2 4 9 Vgl. H 7, 7. 2 5 0 Z . B . in de ecclesiasticis dogmatibus·, vgl. G . KRÜGER, Art. »Gennadius von Massilia«, in: R E 3 , B d . 16, 514. Vgl. dazu auch CZAPLA, G e n n a d i u s als Literarhistoriker, 203. 2 5 1 HANS VON CAMPENHAUSEN, Tertullian, 1 1 3 - 1 1 6 ; BONWETSCH, Art. »Tertullianus«, in: R E 3 , B d . 19, 540. 2 5 2 FEDER hat ausführlich nachgewiesen, dass Gennadius in seinem Schriftstellerkatalog die Vertreter des Semipelagianismus bevorzugt behandelt, während er die Vertreter der gültigen Kirchenlehre vernachlässigt (Der Semipelagianismus im Schriftstellerkatalog des Gennadius). Vgl. auch KRÜGER, Art. »Gennadius von Massilia«, in R E 3 , B d . 16, 514, PIETRI, Art. » G e n nadius von Marseille«, in: T R £ , B d . 12, 3 7 7 f . , und CZAPLA, Gennadius als Literarhistoriker, 197. 253
O T M A R H E S S E , A r t . » M a k a r i u s « , in: T R E , B d . 2 1 , 7 3 4 .
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zwingt. 2 5 4 Vermutlich w a r e n Makarios u n d Gennadius f u r Dippels allmähliche Distanzierung von der o r t h o d o x e n T h e o l o g i e u n d b e g i n n e n d e Ö f f n u n g f ü r pietistische G e d a n k e n von maßgeblicher B e d e u t u n g . Z u m i n d e s t neigte er ihren synergistischen K o n z e p t i o n e n w ä h r e n d seines Straßburger Studienaufenthaltes teilweise zu. In seiner Disputation de conversione secunda relapsorum v o m April 1696 sah er i m Semipelagianismus richtige Ansätze, 2 5 5 auch w e n n er ihn t r o t z d e m kritisieren konnte. 2 5 6 G e g e n ü b e r seinen semipelagianischen Vorbildern besaß er ein geschärftes Problembewusstsein, so dass bei i h m die menschliche Entscheidungsfähigkeit in B e z u g auf das Heil a b h ä n g i g blieb von der göttlichen Gnade. D e r Einfluss von Makarios u n d Gennadius ist w o h l n o c h w ä h r e n d D i p pels radikalpietistischer Zeit wirksam, zumindest lassen sich etliche U b e r e i n s t i m m u n g e n zwischen ihrer u n d seiner Lehre aufzeigen. Beispielsweise b e r u h e n die Schriften des Makarios auf einer »>Erfahrungs