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German Pages 216 Year 1955
![Jesus der Herr - Die Herrschervollmacht Jesu und die Gottesoffenbarung in Christus [4 ed.]](https://ebin.pub/img/200x200/jesus-der-herr-die-herrschervollmacht-jesu-und-die-gottesoffenbarung-in-christus-4nbsped.jpg)
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Der evangelifche Glaube und das Denken der Gegenwart Grundzüge einer hriftlichen Lebensanfhauung
Von D.Dr. Karl Heim Profeffor an der Univerfität Tübingen
Zweiter Band:
Jeſus der Herr
Im Furche⸗Verlag / Hamburg
Jeſus der Herr Die Herrſchervollmacht Jeſu und die Gottesoffenbarung in Chriſtus
Von
Karl Heim
Sm Furche-Verlag / Hamburg
Vierte neu durchgesehene Auflage (11. bis 13. Tausend) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1955 by
FURCHE-VERLAG H. Rennebach KG, Hamburg
Gesamtherstellung: J. J. Augustin, Glückstadt
Vorwort zur vierten Auflage
Die Darftellung des Chriftusglaubens, dem der vorliegende zweite Band des Geſamtwerkes „Der evangelifche Glaube und das Denken der Gegenwart” gilt, wendet fich an alle, die heute von der Frage bewegt find: Iſt Jeſus Chriftus nur eine große Perfönlichkeit der Vergangenheit oder ift er der lebendige Herr, der ung auch in den brennenden Fragen der Gegenwart mit Vollmacht fagen kann, was wir tun follen? Dies Buch ift alfo nicht eine Glaubenslehre im Sinne der theologischen Fachwiflenfchaft, fondern es fucht das Entweder: Dder deutlich zu machen, vor das ung Jefus der Herr ftellt und das darin befteht, daß wir entweder ihm unfer ganzes Leben anvertrauen oder ihn leidenfchaftlich ablehnen müffen. Iſt alfo Chriftus der ewig Lebendige, der unferer Verteidigungskünfte gar nicht bedarf, weil er felbit die Schlacht lenkt und feine Sache durch alle Sahrhune derte hindurch zum Sieg führt, ganz unabhängig davon, ob wir ihn anerkennen oder ihn ablehnen? Wir ftehen heute an einem Wendepunkt. Albert Einftein, der mit
der fühlen Objektivität des großen Phyſikers den Gang der Weltlage beobachtet und weiß, in welchem Tempo die technische Vollendung der Wafferftoff- Atombombe im Bereich der maßgebenden Groß:
mächte fortfchreitet, fagt, daß wir nicht ahnen, wie furchtbar wenig Zeit uns noch verbleibt, bis die legten Entfcheidungen über das Schiefal diefer unferer Welt gefallen fein werden. In diefer Situation,
in der die Weltlage ihrem Endziel zudrängt, ftehen wir mit ganzer Dringlichkeit vor der Frage, ob der Mann recht hat, der einft mit dem gewaltigen Anfpruch auftrat, der von Gott berufene Vollender des Schickſals unferer Welt zu fein, oder ob er in einer religiöfen Illu— fion lebte. Solange die gefchichtliche Entwicklung ihr leßtes Ziel noch nicht erreicht hat, kann die Frage nur im Glauben beantwortet wer: den, und der Glaube bedeutet immer einen perfünlichen Einfaß des
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6
Vorwort
einzelnen Menfchen, diesfeits und jenfeits des Cifernen Vorhanges, diesfeits und jenfeits der Kontinente und der Weltmeere. Uber diefer
Einfab des Glaubens wird getragen von der Erfahrung einer „Wolfe von Zeugen”, die in diefem Glauben gelebt haben und geftorben find. Möchte diefes Buch auch in der neuen Auflage die Aufgabe erfüllen,
insbefondere den Menfchen, die Durch Schwere Schieffale gegangen find und in der Angſt vor noch Schwererem leben, die Gemwißheit zu
ftärfen, daß unfer Weg als Chriften in den Übergang hineingeftellt ift zwiſchen dem, was vergeht und dem, was in Ewigkeit bleibt, „daß uns werde klein das Kleine
und das Große groß erfcheine”. Meinem Freund, Profeffor D. Otto Schmiß, möchte ich an diefer Stelle meinen herzlichen Dank dafür ausfprechen, daß er mir bei der Bearbeitung diefer Neuauflage wefentlich geholfen und fie ganz nach meinem Sinn zum Abſchluß geführt hat.
Tübingen, im März 1955
Karl Heim
In halt J. Der „unbekannte Gott“, die negative Vorausſetzung fuͤr das Verſtaͤndnis der Herrſchervollmacht des Chriſtus 1. Das allgemeinmenſchliche Beduͤrfnis nach einem Fundament des Denkens und des Handelns ...... Der Säfularismus als radikale Gottlojigfeit: die die Geifter ſcheidende Frage der Gegenwart 11 — Iſt der Gottesglaube für ung Menjchen unvermeidlich? — ———— und Evangelium als die beiden Möglichkeiten der Wertesung
15
2. Die Unmöglichkeit, das Bedürfnis nach einem Le— bensfundament aus eigener Kraft zu ftillen...... Der Unterjchied zwiſchen den beiden möglichen VBertrauenshaltungen 18 — Warum trägt jede Autorität Die Frage nad) ihrer Legitimation in ſich? 20 — Was heißt PBolarität? 21 — Wolarität und Indifferenzzuftand (Beijpiele: Ruhe⸗Bewegung, Farbe-Gegenfarbe, Klang-Stille) 23 — Das Urgejeh der doppelten Polarität 24 — Rolarität und die Grundformen unjeres Dajeins (Raum-Zeit) 27 — Es gibt nirgends etwas, das durch ſich ſelbſt ist, was es ift 29
3. Der Grund, warum es unmöglich tft, das Lebens: TEREREERE TEN TEE TE Die Frage nad) dem Wohin und Woher unjeres Seins 31 — Bon den Ver-
ſuchen, durch eine Setzung im Denken dem Relativismus der Polarität zu entgehen 32 — Die religiöje Begriffsvperwirrung in der Gegenwart33 —
Bom Sinn des Urjeins 34 — Der unlösbare Widerftreit zwifchen Urjein und
Wirklichleit 36 —
Die Löſung ſolchen Widerftreites 37
4 Die Unerlennbarkeit Ödttes nn... 0..n.nar essen Die ziwei Möglichkeiten unjerer Zeit, zur Gotteserfenntnis zu gelangen: Das Weltbild Spenglers und Jünger 40 — Im Gegenjab dazu: Gott als die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten 41 — Die Erfennbarfeit Gottes ausgebeutet nad) diejen beiden Möglichkeiten 44 — Die einzige Vorausjegung für das Hören auf die Ehriftusbotichaft 50
II. Die Herrfchervollmacht des Chriftus 5. Selbftführung oder Führung durch einen andern... Das ganz Andere in dem Bekenntnis der erften Chriften: „Herr ift Jeſus“ 52 — Die innere Haltung und die Auswirkung beim Sichführenlaffen 54 — Bon den die Geldftführung beftimmenden Werten und Beifpiele für fie (Zebensregeln, Zufunft3programme) 56— Die Sinndeutung einer Führung durch Chriftus als durch ein lebendiges Du 58
8
Inhalt
6. Das urchriftliche Bekenntnis: „Herr ift Jefus“....
60
Führung im biblifchen Sinn Tann nur von einer einzigen Stelle ausgehen 61 — Sie fordert als Führer ein gegenwärtige Du 62 — Der Sinn des Befenntnifjes: „Herr ift Jeſus“ 63 — Führung durch Chriſtus: Einbildung oder erfahrene Wirflichfeit? 73 — Die beftimmende Kraft einer Führung auf die Bildung einer Weltanſchauung 74
7 + Der Mahrheitsfern des idealiftifehen Glaubens an die Möglichkeit der Selbftführung..............- ;
75
Das Argernis an der Chriftusbotichaft beginnt mit der Zumutung, unjere Selbitbeftimmung aufzugeben 75 — Der deutiche Idealismus, insbejondere Fichte, in Abwehr diefer Zumutung 76 — Das Allgemein-Menjchliche in diefer Haltung Fichtes und die pofitive Bedeutung des deutſchen Idealis— mus
78
8. Das Scheitern des Idealismus an der Wirklichkeit
80
Gottesbemwußtfein al3 Teil unjeres Selbſtbewußtſeins in Gegenüberjtellung mit der Wirklichfeit 80 — Folgen der Verborgenheit Gottes: Nächitenferne, das Hamlet-Schiefal 81 — Der Grund unferes Bedürfnifjes nad) Ethif 84 — Weitere Folgen der Gottesferne: Unjchlüffigfeit im Handeln, Willensſchwäche, Energielofigfeit 85 — Vom Leiden und dem Grund des Leidens 86 — Die Leidenserfahrung (erläutert Durch den Buddhismus, Fichte, Luther) als Ausdrud der Gottesferne 87 — Das Grauen vor dem Tod und die Dagegen angewandten Beruhigungsmittel (des Materialismus, der indiſchen Rückkehr ins Alleben) als Ausdrud der Gottesferne 90 — Die Urjadhe für die Gottblindheit ift für ven Gottblinden undurchſchaubar 93
III. Die Urſchuld als der tieffte Grund, Führers bedürfen
warum
9. Die fatanifche Macht im Weltbild Jeſu
mir eines ...........
94
Gottentfremdung: Schidjal oder Schuld? 95 — Gott al Urwirkflichfeit und Autorität, die feiner Legitimation bedarf 97 — Unjer Unvermögen, die Frage nad) Schidjal oder Schuld zu beantworten, darum Verzicht auf Frageftellung oder Unterwerfung unter die Macht Gottes 98 — Das Leben Jeſu— — Chriſti mit dem Todfeind Gottes und deſſen ſataniſche Gegen—
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102
Drei Ausfagen über das Wejen des Dämonifchen 102 — Das Verhältnis des fatanischen Willens zu unjerem Willen 103 — Der diaboliihe Wille: ein Wille, der in mir will und in allem will, was lebt 104 — Warum die Menſchen Gott ablehnen 108
11. Der Widerftreit zwifchen dem Ödttlichen und dem Statfhenn INIR.. DU SP RB;
109
Der Teufel: ein Werkzeug Gottes 110 — Der Teufel: eine Macht, die Gott entthronen will 113
12. Die beiden unvereinbaren Gefamtbilder, von denen Der Öottesglaube lebt.......22.2...... — Unſere Gottesferne iſt unſere eigene Schuld 114 — Unſer gottfeindlicher Wille, ein übermenſchlicher allgegenwärtiger Wille, der Gottes Stelle einnehmen will 117 — Die Dynamik echten Glaubens im Widerſtreit zwiſchen der Allwirkſamkeit Gottes und dem Angriff auf die Wirklichkeit Gottes 119 — „Glaube“ im Gegenjag zu „Schauen“ 122
114
Inhalt
123
13. Urſchuld und . Kann der Menjch für etwas ſchuldig geſprochen werden, wofür er ſich nie entichieben hat? 123 — Das Schuldbewußtjein al3 Urerlebnis 124 — Die Schuld, unter der der Menich jteht, ehe bewußte Überlegung eintritt 126 — Muß der Träger von Schuld und Verantwortung eine Einzelperjon jein? Die Realität der alles erfüllenden teuflifchen Macht 132
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133
Unjere Gottesferne im Verhältnis zur polaren Dafeinsform der Erfahrungswelt 133 — Die Welt, eine heilige Schöpfung aus Gottes Hand? Oder: Das Todesſchickſal der organiſchen Welt — eine Folge unſerer Schuld? 134 — Einzelentwicklung dieſer beiden Anſchauungen 136 — Das göttliche Ja zu der polaren Dajeinsform der Welt 141
15. Der Widerftreit zwifchen den beiden Gefamtwelt: bild ILDEFIE
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143
Die Alleinwirkſamkeit Gottes als die. eine Möglichkeit für die Geftalt der Welt 143 — Die zweite Möglichkeit: Das Weltbild des Kampfes 146 — Die göttliche Löſung diejes Widerftreites 148
IV Die Gottesoffenbarung in Chriftus 16. Die unbegreifliche Tatſache
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151
Zuſammenfaſſender Rüdblid auf die bisherigen Darlegungen 151 — Kann
in einer in allem bedingten Welt eine unbedingte Führung ſich finden? 154 rag Tatbeitand des Neuen Tejtaments: Das Schweigen Gottes hat ein Ende 158
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159
Die allgemeine Ausfage: Die Botichaft Gottes in der Form des Redens und Hören3 160 — Da3 Sprechen im Verkehr von Menfch zu Menjc 163 — Das Sprechen Gottes al3 die Deutung der wortlojen Machtentfaltung Gottes 165
18. Der Gegenfaß zwifchen Gottes Reden und Gottes Kaweigenden Danbeln —
168
Die Botſchaft vom Wort Gottes iſt dem Nihilismus und Pantheismus unerihließbar 168 — Die Haltung der altteftamentlihen Gläubigen dem Gotteswort gegenüber 170 — Das neuteftamentliche Zeugnis vom Reden Gottes 172 — Der Heilige Geijt al der Ermöglihungsgrund für Die Begegnung mit dem Wort 174 — Die Ausjage vom Reben Gottes führt zur trinita» riſchen Formel 177
burh ben Sohn na 19 « Bsithatgerebet Der Inhalt des Redens Gottes 177 — Das Reben Gottes in einem perjönlihen Du 178 — Die Abwehr des Menjchen gegen Gottes Reden, insbe— fondere bei Hegel 179 — Das Hören auf Gottes Reden verzichtet auf I eigene Konftruftion 181 — Gelbftändige Führertwahl bedeutet Selbſtfüh— rung 182
20. Das Zeugnis von der Erriuen. ar ae 4
Gottesoffenbarung in Alan Dar aan
Gott redet nicht in einem E3, jondern in einem Du 184 — Das Hören der Worte eines Du ald Gebot 187 — Der Kontakt zwiſchen Jeſus als dem Führer und Dem Hörer des Wortes 188 — Jeſu Biel ein Widerſpruch gegen jedes Ziel jeder anderen gejchichtlichen Perſönlichkeit 189
177
Inhalt
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21. Unfere Öleichzeitigfeit mit Chriftus Bft heute noch perjönlihe Nachfolge Jeſu möglich? 191 —
Von der Not-
mendigfeit der Du-Beziehung zu Jeſus 192 — Das Pneuma als das bleibende Medium der Du-Beziehung zwiſchen Gott und Menjchheit 195 — Chriftus: das Gotteswort jelber 196 — Der Einklang der gegenwärtigen Weijungen Jeſu mit den Befehlen des hiſtoriſchen Jeſus 198
22
+
Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Chriſtus— offenbarung auch für das heutige Geſchlecht. . . . .. Die Grundanfchauung des Alten und des Neuen Teftament3 von der Notmenbigfeit des Gottestvortes 199 — Das Irrige des Glaubens der Auffläzung an den Bater-Öott 201 — „Wer mich jieht, der jieht den Vater“ (Foh. 14, 8f.) 202 — Jeſus, nicht ein Vergangener, jondern ein Gegenwärtiger, der in unjere Lage hineinjpricht 203
199
I. Ser „unbefannte Gott“,
die negative Boransjegung für das Verſtändnis der Herrſchervollmacht des Christus I: Das allgemeinmenfchliche Bedürfnis nach einem Fundament des Denkens und des Handelns
Im erften Band diefes Werkes wurde die Frage zum Bemwußtfein gebracht, um die es in allen Weltanfchauungskämpfen der heutigen Zeit und auch in allen Eirchlichen Kämpfen zuleßt geht. Das ift zus nächft noch nicht die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?, aljo die Frage, an der in der Reformationszeit der Eonfeffionelle Gegenfaß aufbrach. Der dogmatiſche Kampf der Konfeffionen, der einft zu furchtbaren Kriegen geführt hat, ift heute ftark zurückgetreten. Es ift auch nicht die Frage, über die im 18, Jahrhundert, zum Beifpiel anläßlich des Erdbebens von Liſſabon, ein Streitgefpräch zwiſchen den führenden Geiſtern entitand, nämlich die Frage, ob es einen Gott gibt, der die Welt regiert, oder ob das MWeltgefchehen dem blinden Zufall überlaffen ift. Erdbeben, Bulfanausbrüche, Grubenungluͤcks⸗ fälle, Überfehwemmungen, Hungerkataftrophen, durch die Hundert: taufende von Menfchen vernichtet werden, nimmt das heutige Gefchlecht — zumal nach den Ungeheuerlichkeiten des zweiten Welt: frieges und der Angft, in die die ganze Menfchheit durch die Atom: bombenverfuche verfeßt wurde, wie etwas Gelbftverftändliches
und Alltägliches hin, ohne daß eine weltanfchauliche Ausfprache das durch entfteht. Die Frage, an der fich heute die Geifter fcheiden, ift
viel radifaler. Es tft die Vorfrage, an der e8 fich entjcheidet, ob der ganze Streit uͤber religiöfe Fragen und die Denfarbeit der Theo— Yogie aller Richtungen noch einen ernfthaften Sinn hat, ob Luthers
Sorge um einen gnädigen Gott und die Diskuſſion des 18. Jahre hunderts iiber die Beweisbarkeit feines Dafeins nicht völlig gegen—
12
I. Der „unbekannte
Gott“
ftandslos war, weil von vornherein fetfteht, daß mit dem Wort Gott nie etwas anderes gemeint fein kann als eine relative Größe diefer Welt, die die Menfchen zum Ausgangspunkt ihres Denkens und Handelns machen, alfo etwa bei einem krankhaften Menjchen der verdrängte Komplex, der vom Unterbewußtfein her fein Handeln Yeitet, bei einem normalen Menfchen irgendeine große Sache, für die er glüht, etwa die Ehre feines Stammes oder das ritterliche Ideal feiner Vorfahren oder der Ruf des alten Gefchäfts, das er von feinen Vätern ererbt hat, alfo immer etwas Bedingtes und Begrenztes, das der Erfahrungsmelt angehört. Die Geifteshaltung, die fich heute in zunehmendem Maße verbreitet, ift nicht etwa Die Gottesleugnung des 19. Jahrhunderts, fondern eine viel tiefere Gottlofigkeit, nämlich das, was wir heute Säkularismus nennen, alfo der Geifteszuftand, für den die Frage nach Gott und feinem Dafein überhaupt Feine Frage mehr ift, fondern der Yusdruc eines Lebensgefühls, das endgültig der Vergangenheit angehört und deflen ganze innere Problematik für uns heutige Menfchen gegen=
ſtandslos geworden ift. Mer noch im alten Gottesglauben aufgewachfen ift, der hält es zunächlt für überflüffig, fich mit diefer radikalen Gottlofigkeit überhaupt auseinanderzufeßen. Er fagt: Es hat doch feinen Sinn, mit Menschen, die fo tief geſunken find, überhaupt noch über Gott zu Sprechen; denn ihnen fehlt eben ein ganzer Sinn, fie können einem leid tun, aber wir müffen fie fich ſelbſt irberlaffen. Darauf ift nun aber nach dem ſchon im erften Band Gefagten zu erwidern:
Mir Gottesgläubigen verfennen unfere Lage vollftändig, wenn wir meinen, die Yuseinanderfegung mit dem Nihilismus fei nur ein Kampf mit einem Gegner, der außerhalb der Kirchenmauern fteht, wir könnten alfo die Auseinanderfegung mit ihm denen überlaffen, die fich Dazu berufen fühlen, die Grundlagen des Glaubens auch
noch diefen radifalften Gegnern gegenüber zu verteidigen. Nein, der Säkularismus ift nicht bloß ein Feind, der außerhalb der Kir chenmauern fteht. Wir tragen ihn in uns felber. Wenn wir ehrlich gegen ung jelber find, müflen wir uns fagen: Sooft etwas zwiſchen Gott und uns tritt, fo daß wir aus feiner Gemeinfchaft heraus:
1. Das allgemeinmenschliche Bedürfnis nach einem Fundament des Denkens 13
fallen, jooft wir einen Fall tun und uns gegen Gottes Willen an der Welt beraufchen, ift uns Gott nicht bloß Feine gegenwärtige Wirklichkeit mehr, nein, wir haben auch die Stelle aus den Augen verloren, wo er für uns zugänglich gewefen war, Wir miüffen, wie ſchon die Beter des Alten Teftaments fagten, das Antliß Gottes immer erſt wieder fuchen. Der in fich unendliche innerweltliche Zu: jammenhang, in dem nirgends Raum für Gott zu fein fcheint, der auch den Gottesgedanken vollftändig verdeckt, hat uns wieder um:
fangen und in feinen Bann gezogen. Der Säkularismus, das heißt die radikale Gottlofigkeit, der auch die Frage nach Gott abhanden gekommen ift, ift alfo ein Geifteszuftand, den wir felbft nur allzu gut fennen und in den wir felber immer wieder zurückfallen. Das fommt uns heute, da diefe Stimmung befonders fpürbar in der Luft Tiegt, ftärfer zum Bewußtfein als in den Zeiten, in denen der Gottes: glaube noch als eine Sache des gefunden Menfchenveritandes galt. So fcehmerzlich die Entdedung der tiefen Gottlofigkeit ift, die wir nicht nur um uns fehen, fondern auch in uns felbft finden, fo hat diefe Entdefung doch auch einen großen Vorteil, Diefer traurige Tat— beftand verhilft ung zu einer Elareren Erkenntnis deffen, was mit dem Wort Gott gemeint ift. Unter dem Einfluß des Nationalismus und des Idealismus ift die Anſchauung entitanden, das Gottes— bemwußtfein gehöre notwendig zu unferem Selbitbewußtfein, der Gottesgedanfe fei innerhalb der ung gegebenen Erfahrungsmwelt uns vermeidlich, die Gottlofigfeit Eönne alfo immer nur entweder eine Selbfttäufchung fein oder eine Unehrlichkeit gegen uns felbft. Wenn uns aber einmal unfere tiefe Gottlofigkeit aufgegangen ift, verftehen wir ganz gut, wie es zu jener optimiftifchen Beurteilung unferer Lage kommen Eonnte, aber wir fehen auch mit erfchreckender Deutlichkeit, daß fie auf einer verhängnisvollen Vermwechflung beruht. Wie fommt e8 zu der Meinung, der Gottesgedanfe fei für ung Menfchen unvermeidlich? Sie beruht auf einer Grundtatfache, Die allerdings zu unferer Eriftenz gehört. Unfer Dafein ift, wie ſchon
Luther Far erkannt hat, nicht ein Ruhezuftand, fondern ein Werden, eine ruhelofe Aktivität. Esgenügt, wenn wir in diefem Zufammenz
14
I. Der „unbekannte
Gott“
bang einige Äußerungen Luthers heranziehen, die Herbert Voßberg in feiner Schrift „Luthers Kritik aller Religion” (Leipzig und Erlan— gen 1922) zufammengeftelft hat. Luther fagt, daß „das menfchliche Mefen und Natur feinen Augenblick mag fein ohne Tun oder Laſſen, Leiden oder Flichen (denn das Leben ruget nimmer wie wir fehen) ...“. Wir muͤſſen alfo nicht nur Eörperlich, folange wir leben, fortwährend irgendeine Bewegung ausführen, fondern auch unfer Geift ift ruhelos: „Si igitur hominem voles vere definire, ex hoc loco definitionem sume, quod sit animal rationale, habens cor fingens“ (Wenn du alfo den Menfchen wahrhaft definieren willft, fo nimm die Definition
aus diefem Grundfaß, daß er ein vernünftiges Wefen ift, das ein Herz hat, das Vorftellungen bildet). Der Menfch hat alfo nach Luther eine ratio non otiosa sed semper aliquid fingens (eine Vernunft,
die nicht müßig geht, fondern fortwährend irgendeine Vorftellung bildet). Nun Eönnen wir weder vorftellen noch denken ohne daß wir dabei jeden Augenblic irgendeine legte machen, die wir als feititehend behandeln. Wenn wir zu einer Tat faffen wollen, müffen wir irgendeinen
noch handeln, Vorausſetzung den Entfchluß Wert oder ein
Lebensziel als gültig vorausfegen, Durch das unfer Handeln feine Sanktion empfängt. Wenn wir denken und rechnen wollen, müffen wir irgendwelche logifchen und mathematifchen Grundfäße als Grund⸗ Yagen vorausfeßen und als feititehend annehmen. Immer müffen wir alfo ein Fundament haben, auf das wir unfer Haus bauen koͤn— nen. Ohne feftliegende Grundlage fönnen wir nichts bauen. Das Sehen diefer Vorausfegung, die jede theoretifche oder praf-
tifche Aktion trägt und ermöglicht, koͤnnen wir „Vertrauen“ nennen. Denn die Geltung der Vorausfeßung, die wir dabei machen, ruht nicht mehr auf einem Beweis. Sie ift vielmehr die Grundlage, die ſchon feftliegen muß, wenn ein Beweisverfahren in Gang kommen fol. Wenn wir aber etwas, deffen Geltung wir nicht mehr beweifen können, troßdem als feftftehend behandeln, darauf bauen und damit rechnen, koͤnnen wir das einen Vertrauensaft nennen, Wir halten ung Dabei an ein Geländer, ohne vorher feftitellen zu können, ob es nicht brechen wird, Wir treten auf eine Eisdecke, ohne vorher ficher:
ftellen zu Eönnen, ob fie trägt. Die Gegebenheit, von der wir dabei
1. Das allgemein menschliche Bedürfnis nach einem Fundament des Denkens 15
ausgehen, ift aljo ein Vertrauensgegenftand, mag es ein konkreter Inhalt fein, wie unfer Reichtum, unfere Körperkraft, die Fortfchritte unferer Technik, oder etwas Abftraftes, etwa ein Geltungswert, ein mathematifches Axiom, mit dem wir bei unferem Beweisverfahren ein=
jeßen. Wie wir fahen, ift es unmöglich, ohne eine Vorausfeßung, die ſelbſt nicht mehr bewiefen werden kann, zu denken, zu leben, zu rechnen oder zu handeln, aljo irgendeine der ruhelofen Bewegungen auszu— führen, die nach Luther zu unferer Eriftenz gehören. Wir koͤnnen mit: hin fagen: Jedes lebendige Ich ſetzt fortwährend auf irgend etwas fein Vertrauen, Nennen wir jenen Vertrauensgegenftand Gott, indem wir das Wort Gott hier im weiteften Sinne gebrauchen, fo koͤnnen wir mit Luther fagen: „Des Menfchen Herz muß einen Gott haben, das ift, etwas, Darauf er feinen Troft feßet, darauf er fich verläßt, damit es feine Freude und Spiel hat.” Luther denkt dabei zunächft nicht an einen abftraften Gegenftand, wie eine Idee oder ein Ariom, fondern in erfter Linie an materielle Güter, Geld, Reichtum, Körper:
Eraft, oder auch an fittliche Werte wie Gerechtigkeit, Weisheit. Uber er fügt jedesmal, wenn er darüber redet, noch einen Yusdrucd von ganz unbeftimmter Allgemeinheit hinzu, wie: „vel alia quaecunque“, Das
zeigt, daß er hier alles mit einjchließen will, was irgendwo und irgendwann und in irgendeinem Sinne Vertrauensgegenftand für einen Menfchen fein kann. Wir können alfo, wenn wir das Wort Gott mit Luther in diefem ganz allgemeinen Sinne nehmen, fagen: „Wor⸗ auf du nun, fage ich, dein Herz hängeft und verläffeft, das ift eigent-
Yich dein Gott,” Wir Eönnen diefe Notwendigkeit, auf irgend etwas zu bauen, fich an irgend etwas zu halten, irgendeine Vorausfeßung als feftftehend anzufehen, wenn wir wollen, als allgemeine religiöfe Anlage bezeichnen. Nur müffen wir uns dabei Flar fein: Wir ge:
brauchen hier das Wort religiöfe Anlage in einem fo allgemeinen Sinn, daß dabei das ernfte Entweder-Oder verfchleiert wird, das
ung fofort zum Bemwußtfein fommt, wenn wir im praftifchen Leben als verantwortliche Menfchen
einen folchen Vertrauensakt
voll
ziehen. Sobald ich im Vertrauen auf einen folchen Geltungsmwert handle, merke ich, daß hier zwei Möglichkeiten vorhanden find. Entweder ich
16
I. Der „unbekannte
Gott“
muß diefen Wert durch meinen Vertrauensaft felbit in Geltung
feßen und in Geltung erhalten, oder diefer Wert iſt völlig unabhängig
von allem menfchlichen Vertrauen da als der tragende Ermoͤglichungs⸗
grund des Vertrauens, das ich zu ihm falle. Luther druͤckt dieſen
Gegenſatz ſo aus, daß er ſagt: Das, worauf ich mich verlaſſe, iſt
entweder Gott oder ein Abgott. Das, worauf ich traue, iſt entweder ein ſelbſtgewaͤhlter Glaubensgegenſtand, wie das nach Luther bei allen
Heiden der Fall iſt, oder ich habe den Grund gefunden, der voͤllig unabhaͤngig von allem meinem Waͤhlen und Schaffen meinen Anker
ewig haͤlt. Nach Luther gilt von allen Vertrauensgegenſtaͤnden, die außerhalb der Offenbarung ſtehen, daß die Menſchen „eigentlich ihren eigen erdichten Duͤnkel und Traum von Gott zum Abgott machen und ſich auf eitel nichts verlaſſen“. Nur auf Grund der Selbfterfchliegung Gottes „Eommt Gott zu fein Ehren, daß er allein unfer Stärd, Troß, Freude, unfer Gulden und Thaler fei und wir mit ganzem Herzen alle Zuverficht, Troß, Freude auf ihn allein fegen... Solches heißt Gott recht ehren und ihn zu feiner Chr und Majeftät kommen laffen, daß man fage: Lieber Herrgott, was wir haben, ift alles Dein; wir haben es ja nit gemacht.“ Es gibt demnach zwei Arten von Vertrauensaften, die beide religiös ausgedrückt werden Fünnen und die doch beide einen ganz entgegen= gefeßten Charakter tragen. Im erften Fall wird das Vertrauens— objeft dadurch in Kraft gefeßt und in Geltung erhalten, daß eine Schar von Vertrauenden da ift, von deren Hingabe der Inhalt
des Vertrauens getragen wird. Im andern Falle ift das Dafein und der Wert des Vertrauensgegenitandes unabhängig von allen menschlichen Aktionen und Seelenzuftänden, Der Vertrauensgegenftand bleibt alfo in Kraft, wenn von der Flamme unferer Begeiftes
rung und Hingabe nur noch ein Afchenhaufen übriggeblieben iſt. Diefer Vertrauensgegenftand behält auch dann feinen Glanz, wenn wir ſelbſt zu Feinem Vertrauensakt mehr imftande find. In diefen beiden Fällen fönnen wir von Vertrauen fprechen, und doch hat
das Vertrauen in beiden Fällen ein entgegengefeßtes Vorzeichen. Im eriten Falle Eoftet das Vertrauen Anftrengung, Haltung, Kraft und Glut der Seele, Man erkennt die Menfchen, die in diefem Ver:
1. Das allgemeinmenschliche Bedürfnis nach einem Fundament des Denkens 17
trauen leben, an dem Pathos, mit dem fie von dem fprechen, was ihnen das Heiligite ift, an dem „Bruftton der Überzeugung”, der einen etwas verframpften Seelenzuftand verrät, Im zweiten Fall ift das Vertrauen gerade umgekehrt ein anftrengungslofes Ausruhen, ein Getragenmwerden von Adlers Flügeln, ein Aufgenommenfein von ewigen Armen. Wir können die erfte Art des Vertrauens ein aktives Vertrauen nennen, weil es nıfe im Schwung einer großen Aktion da ift. Die zweite Urt des Vertrauens können wir als ein paffives Vertrauen bezeichnen, weil wir dabei im legten Grunde rein paffiv und empfan⸗ gend find. Das aktive Vertrauen gehört für Luther zum Gefeßeswerf, das paffive Vertrauen ift nur durch das Evangelium möglich. Zu unferer menjchlichen Eriftenz gehört es, daß wir nicht bloß dann Zaten tun und Opfer bringen können, wenn uns das paffive Ver: trauen zuteil geworden tft, bei dem wir völlig entfpannt find und jede Verframpfung aufhört. Wir fönnen auch für eine Sache leben, leiden und fterben, die uns nicht trägt, fondern die wir nur im Zuftand
der glühenden Begeilterung und des aktiven Vertrauens fefthalten können. In Zeiten des großen Erfolgs und des fiegreichen Aufftiegs
einer Bewegung laffen fich die beiden Arten von Vertrauenshaltung von außen gefehen oft kaum unterfcheiden. Die Menfchen des aktiven
und des paffiven Vertrauens bringen mit der gleichen Selbftverftändlichkeit das Opfer ihres Lebens. Sobald aber ein ſchwerer Rückfchlag kommt und von uns verlangt wird, für eine Sache, die menfchlich gefehen hoffnungslos ift, ein fcheinbar finnlofes Opfer zu bringen und ruhmlos und vergeffen auf verlorenem Poften zu fterben, tritt der Gegenfaß der beiden Arten von Menjchen mit erſchreckender Deutlichkeit zutage, Ein Vertrauen, das nur im Schwung der fieghaften Hoffnung möglich ift, bricht in diefer Lage zufammen, weil
ihm die Nahrung fehlt. Nur wer eine legte Bindung hat, die ihn unabhängig von allen eigenen Anftrengungen trägt, kann ohne Lohn und Erfolg mit Freuden das Opfer feiner Eriftenz bringen.
2 Heim, Jeſus der Herr
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I. Der „unbekannte
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2. Die Unmöglichkeit, das Bedürfnis nach einem Lebens: fundament aus eigener Kraft zu ftillen Für das Verftändnis der biblifchen Chriftusbotfchaft ift es von entfcheidender Bedeutung, daß uns zunächft der Unterfchted dieſer beiden Vertrauenshaltungen deutlich wird. In dem Gegenſatz zwifchen diefen beiden Arten des Vertrauens ift nach Luther das
ganze religioſe Schickſal der Menfchheit befchloffen. Wir müffen darum verfuchen, dieſem Gegenfaß bis in feine leßten Wurzeln nachzugehen, Mir greifen deshalb auf das zurüc, was im Schluß: fapitel des erften Bandes darüber ausgeführt werden mußte. Wir haben uns dort deutlich gemacht, wo der tote Punkt liegt, über den wir mit der fäfularen Geifteshaltung nicht hinwegkommen koͤnnen,
und was es darum bedeutet, wenn der Gottesgedanfe diefen toten Punkt in unferem Denken und Leben überwindet. Wir haben zu
dieſem Zweck die beiden zentralen Fragen herausgegriffen, vor denen wir bei jeder theoretifchen Erkenntnis und bei jeder praftifchen Lebensentfcheidung immer wieder ftehen, die Frage nach dem Warum der Faufalen Welterflärung und die Frage nach dem Woher der legten Sanktion unferes Handelns. Es genügt vollftändig, wenn
uns der tote Punkt, über den wir aus eigener Kraft nicht hinwegfommen Eönnen, zunächft einmal an diefen beiden Grundbeziehungen unferer Eriftenz deutlich geworden ift. Wir wiflen dann ohne weiteres, daß wir damit vor einem Geſetz unferes Dafeins ftehen, das allen
Beziehungen, in denen wir leben und denken, ohne Ausnahme ihr gemeinfames Gepräge gibt. Mir fahen: Die Warumfrage und die Frage nach dem Woher der Autorität Eommt nirgends zur Ruhe. Denn jeder „Urzuftand“, auf den die Welterflärung zurückgeht, und jede leßte Inftanz, auf die die -
Kegitimation des Handelns zurücgeführt wird, trägt immer wieder die Frage in fih: Warum ift diefer Urzuftand da? Woher hat die legte Inftanz ihre Autorität? Wir werden alfo beidemal auf unend— liche Reihen geführt, Man Eönnte vielleicht denken: Das kommt von der befonderen Struktur des Kaufalitätsprinzips oder der Art her, wie eine Autorität fanktioniert wird, Aber eine einfache Über:
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legung zeigt, daß der Gegenfaß, auf den wir hier geftoßen find, ohne Ausnahme alle Beziehungen umfaßt, in denen wir ftehen. In welcher Beziehung wir ung auch bewegen mögen, wir führen jedesmal eine Bewegung aus, die wir nicht aufhalten und ftilfftellen Fönnen. Wir durchlaufen jedesmal eine Reihe, die wir nicht abfchließen koͤnnen. Alles, was wir meffen, mag es nun die Länge einer Straße oder der Kubifinhalt einer Flüffigkeit oder das Gewicht eines Metalle oder die Wärme eines Raumes fein, meffen wir immer an irgend: einem Maßſtab. Diefer muß aber felber wieder an einem anderen Maßſtab gemeffen fein und fo fort. Natürlich müffen wir bei diefem Meßverfahren, bei dem wir eine Größe an der anderen meflen, irgendwo Haltmachen, Wir müffen irgendein Meßinftrument als Urmaß anerkennen, das wir felbft nicht mehr an etwas anderem meffen, fondern als feititehende Größe behandeln. Uber wir wiffen, daß wir dabei willfürlich an einer beftimmten Stelle haltgemacht haben, Ebenfo ruht jeder logische und mathematifche Beweis auf Grundfäßen, die felbit nicht mehr bewiefen, fondern als „evident” angefehen werden, und auf Grund deren dann alles andere bewiefen wird. Wir find uns dabei bewußt, daß wir diefe Grundfäße ohne Beweis als gültig vorausfegen müffen, weil ohne fie überhaupt Fein Bemweisverfahren zuftande fommen fönnte, Die Frage nach dem
Rechtsgrund der Gültigkeit diefer Vorausfegungen und Maßſtaͤbe fönnen wir aber damit nicht zum Schweigen bringen. Sie bleibt immer lebendig und treibt uns zu immer neuen Verfuchen, hinter die legten Axiome mit unferem Denken zurücdzugehen. Schon Un: felm fuchte diefen Zatbeftand, der ihm für feinen Gottesbeweis unbequem war, dadurch zu befeitigen, daß er kurzerhand jeden für verrückt erklärte, der behauptete, die Reihe, auf die wir bei diefem Ruͤckgang von einem Glied zum anderen geführt werden, ſei unab— fchließbar. Er fagt Mon. 10: „Si enim huiusmodi graduum distinetio sic est infinita, ut nullus ibi sit gradus superior, quo superior alius non invenitur, ad hoc ratio deducitur, ut ipsarum multitudo naturarum nullo fine claudatur, Hoc autem nemo non putat
absurdum, nisi qui nimis est absurdus‘“ (Denn wenn eine derartige Unterfcheidung von Graden fo unendlich ift, daß es Dabei feine 2%
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I. Der „unbekannte
Gott“
höhere Stufe gibt, ohne daß eine andere Stufe gefunden wird, Die noch höher ift als fie, fo wird die Vernunft dahin geführt, daß die Menge der Naturen durch Fein Ende abgefchloffen wird. Das hält
aber nur der nicht für verrückt, der felber allzu verrückt ift) (vgl. Ernit Haenchen, „Wort und Geift”, Feftgabe für Karl Heim, ©. 189).
Ahnlich fagt Schlatter: „Oder erhalten wir fo vielleicht eine un— endliche Reihe, und brauchen für die Urfache wieder eine Urfache, für Gott wieder einen Gott, der ihn fehaffe, und fo ins Unendliche? Diefer Gedanke war das Kind einer ſchwaͤrmenden ‚reinen‘ Ver: nunft, die ohne Erfahrung denken wollte” („Das hriftliche Dogma“, ©, 29f.). Man Eann ein folches Urteil fällen. Troßdem bringt es niemand fertig, auch Anfelm und Schlatter nicht, fich irgendeinen Er:
klaͤrungsgrund als Endglied der Reihe oder als tragende Voraus: feßung eines Beweisverfahrens vorzuftellen, ohne daß ihm dabei fo: fort die Frage Eommt: Woher kommt diefe legte Urfache? Warum gilt diefe letzte Vorausſetzung? Wir können diefe Frage fofort niederfchlagen, nachdem fie aufgetaucht ift, indem wir fie eine Verrücktheit oder eine Schwärmerei nennen. Troßdem ift diefe Frage da. Sie iſt ſchon geftellt, ehe wir fie auf diefe gewaltfame Weife wieder zum Schweigen bringen. Wir koͤnnen diefer Frage nicht entrinnen, auch wenn wir verfuchen, fie ins Irrenhaus zu verweifen, um uns ihrer
zu erwehren, weil es uns unangenehm ift, ung mit ihr auseinander: fegen zu müffen. Wenn wir das nicht zugeben, fo „Ichwärmen“ wir. Denn wir feßen uns über das Grundgefeß unferes Wahr: nehmens und Vorftellens hinweg, das es uns ein für allemal unmöglich macht, ung das Anfangsglied einer Reihe vorzuftellen. Woher kommt es, daß jene Frage unvermeidlich und unentrinnbar ift? Warum weiſt jede Urfache, aus der wir die Welt erklären wollen, immer notwendig hinter fich zurück auf eine weiter zurückliegende Urfache? Warum trägt jede Autorität die Frage nach ihrer eigenen Legitimation in fich? Warum feßt jeder Maßſtab, an dem wir irgend
etwas meffen, immer einen anderen Mafftab voraus, an dem er jelbft gemeffen wird? Warum wird die Reflerion in allen diefen Sällen unaufhaltfam weitergetrieben? Wir koͤnnen das nicht erflären,
aber wir koͤnnen die Tatfache, vor der wir hier ftehen, auf ein ganz
2. Ein Lebensfundament läßt sich nicht aus eigner Kraft finden
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allgemeines Gejeß zurücführen, das die ganze Struftur der IchDu⸗Es-⸗Welt umfaßt, in die wir hineingeftellt find. Es ift dag Gefet
der Polarität, dem alle Unterfcheidungen unterliegen, die wir innerhalb diefer Welt vornehmen müffen, ſowohl die inhaltlichen als die dimenfionalen Unterfcheidungen, von denen im erften Bande die Rede war. Was heißt Polarität? Um diefes Geſetz der Polarität zu verftehen, deſſen zentrale Bedeutung für unfer ganzes Wirflichkeitsverftändnis
ſchon Schelling und Schleiermacher deutlich erkannt haben, müffen wir etwas weiter ausholen. Was Polarität heißt, fönnen wir ung am ſchnellſten anfchaulich machen, wenn wir von einer Unterfcheidung ausgehen, die wir jeden Augenblic? erleben, nämlich der Unterfcheiz dung von Ruhe und Bewegung. Schon die klaſſiſche Phyſik war auf das Gefeß der Relativität der Bewegung geführt worden, wie es Leibniz formuliert Hat: Ruhe und gleichmäßige Bewegung find phyſikaliſch betrachtet dasſelbe. Ein Körper ift nur in Bewegung im
Verhältnis zu einem anderen Körper, der ruht, oder im Verhältnis zu dem Rubheftand, in dem er felbit vorher gewefen ift. Umgekehrt, ein Körper ruht nur im Verhältnis zu einem anderen Körper, der fich relativ zu ihm bewegt, der alfo feine Entfernung von ihm ändert.
Angenommen, alle Körper im Weltall würden im gleichen Abftand voneinander bleiben, alfo ihre gegenfeitige Entfernung nicht ver: ändern, fo könnte man mit demfelben Recht von diefen Körpern fagen: „fie ruhen“, wie: „fie find in einer gleichmäßigen Bewegung”.
Man könnte ihnen, wenn man fie als bewegt annimmt, jede beliebige Gefchwindigfeit, alfo auch eine unendliche, zufchreiben. Den Zuftand, in dem fich die Entfernungen aller Punkte voneinander gleich bleiben, könnten wir alfo einen Indifferenzzuftand zwifchen Ruhe und Bewer gung nennen, das heißt einen Zuftand, in dem der Gegenfaß zwifchen Ruhe und Bewegung noch gar nicht da wäre, Ruhe und Bewegung ftünden miteinander im Gleichgewicht. In dieſem Gleichgewichts⸗
zuftand wäre abfolute Ruhe gleich beliebig fchnelle Bewegung. Gehen wir von diefem Indifferenzzuftand aus, fo ift von ihm aus geſehen dag ganze Auftreten des Gegenfages zwifchen Ruhe und Bewegung eine Aufhebung des urfprünglichen Indifferenzzuftandes, der noch
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Diesfeits des Gegenfaßes zwifchen Ruhe und Bewegung liegt, eine Störung des urfprünglichen Gleichgewichts zwifchen Ruhe und Bewegung. Diefe Störung befteht darin, daß Ruhe und Bewegung als Gegenfäße auseinandertreten. Beide, Ruhe und Bewegung, fönnen dann nur in einem polaren Verhältnis zueinander ftehen; Bewegung gibt eg mithin nur, wenn auch Ruhe da ift, und Ruhe gibt es nur, wenn auch Bewegung da ift. Beide bedingen einander gegen= feitig. Der urfprüngliche Indifferenzzuftand wird nur dann aufgehoben, wenn Ruhe und Bewegung, die in ihm identifch waren, als polare Gegenfäße auseinandertreten. Die Volarität weiſt auf den Indifferenzzuftand zurüd, in dem die Gegenfäge eine Einheit bildeten. Betrachten wir den Übergang aus dem Indifferenzzuftand in den Gegenſatz, fo fehen wir, daß dabei zwei polare Verhältniffe entftehen, die untereinander zufammen: hängen, die aber deutlich unterfchieden werden müffen: ı) Ruhe und Bewegung Eonftituieren fich gegenfeitig, der Ruhezuftand tft nur da, wenn auch der Bewegungszuftand da ift, und umgekehrt. 2) Das ganze Verhältnis zwifchen Ruhe und Bewegung ift als polares Verhältnis nur da, weil der urfprüngliche Indifferenzzuftand als Ausgangspunkt im Hintergrund fteht. Diefer Indifferenzzuftand braucht nicht als ein Zuftand angefehen zu werden, der irgend einmal wirklich da war. Es genügt, daß er denkbar ift. Der Gegenfaß zwifchen Ruhe und Bewegung erfcheint dann als Aufhebung diefes Indiffe— venzzuftandes. Es ift darum jederzeit denkbar, daß diefer Gegenfat wieder in den Indifferenzzuftand zurückkehrt. Der Unterfchied zwifchen Nuhe und Bewegung tft alfo deshalb polar, weil wir ihn auffaffen können als aus dem Urgrund eines Oleichgewichtszuftandes hervor-
gegangen, mithin als Spaltung oder Differenzierung einer Ureinheit. Das polare Verhältnis, das wir ung damit veranschaulicht haben, bedeutet alfo nicht, daß die beiden Gegebenheiten, die in diefem Ver: hältnis ftehen, im Kaufalzufammenhang, etwa in Wechfelwirfung miteinander ftehen. Es bedeutet auch nicht, daß fie fich Logifch bedingen
wie Grund und Folge. Die Polarität fteht noch diesfeits aller kauſalen und logifchen Beziehungen. Sie ift das Urverhältnis, an dem alle innerweltlichen Verhältniffe gleichermaßen teilhaben. Es ift darum
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aus feinem diefer befonderen Verhältniffe ableitbar oder aus ihm zu
erklären. Es ift sui generis, Wenn wir uns an dem elementaren Beifpiel von Ruhe und Bewe:
gung den Örundfaß der doppelten Polarität Elargemacht haben, dann ahnen wir fofort, daß alle innerweltlichen Unterfcheidungen unter
diefem Gegenfaß ftehen. Alle Gegenfäße find nur Variationen iiber
diefes Thema, das wir überall heraushören, fobald wir eg einmal in uns aufgenommen haben. Was von Ruhe und Bewegung gilt, das gilt genau fo von der Farbe. Jede Farbe bedarf der Gegenfarbe, um als bejtimmte Farbe zu erfcheinen. Das Farbenfpektrum entfteht Dadurch, daß durch Brechung des farblofen Lichts immer alle Regen:
bogenfarben zugleich entitehen, die als Glieder einer Skala einander bedingen. Wir haben alfo wieder die doppelte Polarität: ı) die Gegen: fäglichkeit zwifchen einer Farbe und der Gegenfarbe, durch deren Mit: Dafein fie bedingt ift, 2) das polare Verhältnis zwifchen allen Farben: gegenfägen und dem Licht, alfo dem Indifferenzzuſtand, aus dem die Sarbengegenfäge entitehen und in den fie jederzeit wieder zuriick fehren koͤnnen. Diefer Indifferenzzuftand bedingt das Dafein der Sarbengegenfäge. Was von den Farben gefagt werden muß, gilt auch vom Licht, aus dem die Farben entitehen. Diefes Licht ift nur da Durch den Gegenfaß zum Schatten, alfo auf dem Hintergrund eines Sleichgewichtszuftandes, in dem Urlicht und Urnacht miteinander identifch find. Und was von Farbe und Licht gefagt werden
muß, das gilt auch vom Klang. Ein Ton ift nur da durch ein Ton: intervall, Dadurch, daß ein Unterfchied von Tonftärfe und Tonhöhe auftritt. Hinter allen Klangunterfchieden fteht als Gleichgewichts:
zuftand der Urflang, der zugleich das Urfchmweigen ift, das, was die Alten die Harmonie der Sphären genannt haben. Alle Unterfcheidungen, von denen wir eben gefprochen haben, Ruhe und Bewegung, Farbe und Gegenfarbe, Licht und Schatten, Klang und Stille, find nach unferer heutigen Forfehung auf energetifche Unterfchiede zurückführbar, leßtlich auf elektrifche Vorgänge. Denn nicht nur das Licht, fondern auch der Stoff der fich bewegenden
Körper, alfo der materiellen Dinge, die man früher als etwas in fich felbft Ruhendes angefehen hatte, hat fich heute aufgelöft in eleftrifche
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I. Der „unbekannie
Gott“
Ladungen, die keinen Träger mehr haben und aus deren ruhelofen Bewegungen das befteht, was wir als Körper wahrnehmen. Nach welchen Gefeßen und in welchen Bahnen diefe Urbeftandteile der
materiellen Welt fich bewegen, auf diefe Frage gibt uns die heutige Atomforſchung Feine einheitliche Antwort. Uber daß es Vorgänge eleftrifcher Art find, aus denen die chemifchen Urelemente, alfo alle Beitandteile der materiellen Welt zufammengefeßt find, dariiber
herrſcht weitgehende Übereinftimmung. Nun ift aber jede energetifche Wirkung, auch jede eleftrifche Ladung
oder Feldftärfe, immer nur da, wenn ein „Energiegefälle” da tft, wie Sadi Carnot fagte, alfo ein elektrifcher Zuftand, der fich vom „eleftrifchen Potential” der Umgebung unterfcheidet. Nur wenn zwiſchen Gemitterwolfe und Erde eine Spannung entfteht, wenn alfo ein Unterfehied der Ladungen da ift, fo fpringen die freien Elektronen zur Erde über, um einen Ausgleich herzuftellen, und es entftehen die beglei= tenden Licht: und Kinallerfcheinungen. Energetifche Umfäge entitehen demnach nur dadurch, daß energetifche Unterfchiede da find, die die Tendenz haben, fich auszugleichen. Dadurch werden dann neue energetifche Unterfchiede hervorgerufen, Das wird uns anfchaulich, wenn wir einen Stein in einen Teich werfen. Die Wellenkreife, in denen fich die Bewegung fortpflanzt, entjtehen aus dem Beltreben, den Gegenfaß auszugleichen, der an der Stelle, wo der Stein hineinfiel, das Gleichgewicht der ruhenden Wafferoberfläche geftört hatte. Wenn wir alfo den Urvorgang betrachten, durch den alle Weltkörper
jeden Augenblick neu werden und neue Weltereigniffe entftehen, haben wir auch hier dasſelbe Urgefeß der doppelten Polarität vor uns: ı) Me Kraftwirfungen find nur da, wenn ein Gegenfaß zwifchen zwei energetifchen Zuftänden entftanden ift. Kraft ift nur vorhanden als Überwindung von Widerftand, als Kampf mit etwas anderem, das fchmächer ift und an deffen Überwindung die Kraft gemeffen werden kann. Ohne Gegentraft gibt es Feine Kraft. 2) Die Spannung zwifchen zwei energetifchen Zuftänden, durch die allein irgend etwas in der Welt gefchieht, ift die Aufhebung des energetifchen Gleich: gewichts, in dem fich alles im Urzuftand befindet.
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Man fpricht von Diefem Gleichgewichtszuftand gewöhnlich als von dem Endzuftand, dem alles zuftrebt, in dem die Energiegefälle, die die Welt am Leben erhalten, fich in zunehmendem Maße ausgleichen
und zuleßt auch der Gegenſatz zwifchen Wärme und Kälte, in den alle energetifchen Unterfchiede übergegangen find, fich durch Zerffreuung aller vorhandenen Wärme im Weltraum ausgleicht. Das ift der jogenannte „Eistod“ der Welt. Wir koͤnnen diefen Weltftilfftand ebenfogut an den Weltanfang feßen und alle Weltgebilde und Welt: ereigniffe als eine Störung diefes Urgleichgewichtszuftandes be: trachten. In diefem Gleichgewichtszuftand ift dann unendliche Ener: gie gleich völlige Energielofigkeit, unendliche Hitze gleich unendliche Kälte, Urlicht gleich Urnacht, Leben gleich Tod. Alle energetifchen Gefchehniffe, alle Urfachen und Wirkungen, durch die das Gefchehen fich fortpflanzt, alfo alle innermeltlichen Kaufalzufammenhänge, find mithin nur da auf dem Hintergrund diefes Gleichgewichtszuftandes. Wir koͤnnen fie entitanden denken als eine unerflärliche Unter: brechung dieſes Urzuftandes, aus dem das Gefchehen entfteht und dem es wie einer verlorenen Heimat wieder zuftrebt. Der polare Charakter aller Unterfcheidungen innerhalb unferer Erfahrungsmwelt, den wir uns an diefen Beifpielen veranfchaulicht haben, wird uns im praftifchen Xeben am deutlichiten fühlbar an der Tatfache, von der ſowohl Pascal wie Schopenhauer bei der Begründung ihrer peffimiftifchen Beurteilung der menfchlichen Lage ausgegangen find: Alles Glüd, das es für uns in diefer Welt gibt, ift nur da durch den Gegenfaß zu dem Leid des ungeftillten Ver: langens, von dem es ung zu erlöfen verfpricht. Die Freude währt alfo nur fo lange, als der polare Gegenfaß zu dem Leid noch gefühlt wird, von dem fie uns befreit hat. Der Trunf erquidt uns nur fo lange, als wir noch den Durft fühlen. Die Ruhe ift nur ſuͤß
unmittelbar nach der anftrengenden Arbeit. Ift das Verlangen ges ftilft, das erfehnte Ziel erreicht und der unbefriedigte Zuftand aus der Erinnerung verfchwunden, fchlägt die Befriedigung fofort in Langeweile und Überdruß um. Eine Sache begeiftert uns darum nur fo lange, als fie noch im Kampf mit unbefiegten Gegnern fteht, folange fich alfo an der Überwindung diefer Gegner Die Sieges-
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freude immer neu entzünden kann. Ift das Ziel erreicht, um das man fo heiß gekämpft hat, liegen alle Feinde am Boden und ift der erjehnte ungeftörte Friedenszuſtand endlich da, wird auch die herrlichite Sache in £urzer Zeit langweilig. Mein Wollen und Fühlen kann darum immer nur durch etwas angeregt werden, was ich noch nicht habe, was alfo erit als verlockendes Ziel vor mir liegt, oder Durch etwas, was mir foeben zuteil wurde, was alfo noch den Reiz der Neuheit hat. Was nicht mehr neu ift, das feffelt mich Schon nicht mehr. Mein Verlangen geht ſchon wieder dariiber hinaus. Das ſehen wir ſowohl an unferm Wollen wie an unferm Gefühlsleben. Jedes Ziel, das meinem Willen vorfchwebt, mag es ein großes Dermögen fein oder ein Eigenheim oder eine geficherte Stellung oder der Völkerfriede oder die Elaffenlofe Gefellfchaft, erfcheint mir nur fo lange wirklich erftrebenswert, als es noch ein Zufunftsbild ift, das ich mir in leuchtenden Farben ausmalen fann. Kaum ift das Ziel erreicht, fo fange ich auch ſchon an, der Sache überdrüffig zu werden. Der Wille kann dabei nicht zur Ruhe kommen. Das Erreichte dient nur zum Yusgangspunft für ein ferneres Ziel, das fofort dahinter auftaucht, Der Wille verlangt zwar fortwährend nach etwas, worin er Erfüllung finden und ausruhen koͤnnte. Hat er es gefunden, offenbart fich darin nach Pascal nur immer von neuem der Abgrund der inneren Leere und tödlichen Langeweile. „Die Ruhe wird unerträglich, und der Kampf, die Jagd, das Spiel beginnt von neuem. Diefes Oſzillieren zwifchen Ruhe und Unruhe iſt die Grundver: faſſung unferes menschlichen Lebens.” Jedes Ziel wird, fobald es erreicht ift, für unfern Willen nur Unfaspunft für eine neue, fernere Zielfeßung. Unfer Freudenbedürfnis, unfer Gluͤckshunger fchwelgt immer nur in fommenden Freuden, in der Erwartung eines uner: hörten Gluͤcks. Kommen die erwarteten Genüffe wirklich zu uns, tritt nach kurzem Freudenraufch die Enttäufchung ein. Wir find nicht befriedigt. Es wiederholt fich das gleiche; unfer Freudendurft geht auch über das Erreichte wieder hinaus und eilt neuen Freuden entgegen, die erft in der Zukunft liegen. So tft nach Schopenhauer unfer Dafein eine unabläffige Pendelbewegung zwifchen zwei Gefühlszuftänden, Schmerz und Langeweile, Schmerz, folange wir das
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Erſehnte noch nicht haben, fondern nur ſchmerzlich danach verlangen, — Langeweile, Ekel und Überdruf, fobald wir es erreicht haben und es den Reiz der Neuheit verloren hat. Nun erft, nachdem wir uns das Gefeß der VPolarität an den In: halten der gegenftändlichen Welt, an Körperbewegungen, Klängen, Kraftentladungen, und zuleßt am Gegenfaß von Freude und Leid an— fchaufich gemacht haben, können wir e8 auch in den Grundformen unferes ganzen Dafeins entdecken, nämlich in der Struftur der Zeitz ftrecke, des Körperraums und in derdimenfionalen Beziehung zwifchen Räumen, die im erften Band befprochen wurden. Die Zeitftrede ent= fteht ja, wie dort gezeigt wurde, dadurch, daß der nicht mehr weiter erElärliche Gegenfaß auftritt zwifchen dem Gefchehen, das Gegenwart ift, und dem Gefchehen, das der Vergangenheit angehört. Gegen: wart und Vergangenheit bedingen einander. Denn Gegenwart gibt
es nur im Verhältnis zur Vergangenheit, auf die vom gegenwärtigen Augenblick aus zuruͤckgeſchaut wird. Der Vorzug, den ein aktuelles Ereignis dadurch hat, daß es Gegenwart ift, ift alfo nur möglich auf der Folie von anderen Gefchehniflen, die dazu verurteilt find, nicht
mehr gegenwärtig, fondern vergangen zu fein. Dasfelbe müfjen wir umgekehrt von der Vergangenheit jagen. Vergangenheit gibt es nur im Verhältnis zur Gegenwart. Denn alles, was gemwefen ift, muß ein= mal Gegenwart gemwefen fein. Meil Gegenwart und Vergangenheit einander gegenfeitig bedingen, darum kann eine Zeititrede, etwa die Stunde unferes Lebens, die wir jeßt gerade zubringen, nur dadurch beginnen, daß der Zeitpunft, mit dem fie anfängt, immer zugleich der Endpunkt einer Zeitſtrecke ift, die diefer Stunde vorausgeht, die alfo im Verhältnis zu ihr Vergangen: heit ift. Eine Zeitſtrecke kommt mithin immer nur dadurch zuftande, daß fie fich gegen eine frühere Zeititrecde abgrenzt. Darum tft ein Anfangspunft des ganzen Zeitftroms fchlechterdings unvorftellbar. An diefer Polarität der Zeitftrecde nimmt auch der Kauſalzuſam— menhang teil, Wenn wir eine Wirkung auf eine Urfache zurückführen, erklären wir Damit ein gegenwärtiges Ereignis aus einem verganz genen Ereignis. Die Urfache ift ja immer früher als die Wirkung. Wenn alfo Fein Anfangspunft der Zeitftrecfe vorftellbar ift, der nicht
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der Endpunkt einer vorausgehenden Zeitftrede ift, können wir uns auch Feine Urfache vorftellen, die nicht felbft wieder die Wirkung einer sorausgehenden Urfache wäre. Auch diefes polare Verhältnis zwifchen dem, was ift, und dem, mas war, koͤnnen wir auffaffen als Die Aufhebung eines Gleichgewichtszuftandes, in dem beide Pole noch nicht auseinandergetreten find. Das führt uns auf den Gedanken, den die Myſtiker immer wieder
ausgefprochen haben, daß es einen Urzuftand gibt, in dem Fein Ereignis einen zeitlichen Vorzug vor einem anderen Ereignis hat, alfo einen zeitlichen Indifferenzzuftand, in dem alles Gegenwart ift, „nunc aeternum‘“, und alles Vergangenheit, in dem alfo Vergangen heit und Gegenwart in einer höheren Einheit zufammenfallen. Ebenfo ift es mit dem Raum. Ein Raumabfchnitt, mag es nun eine
räumliche Strede fein, wie ein Schienenftrang oder ein Land oder ein Zimmer, entfteht immer nur dadurch, daß diefer Abfchnitt um geben ift von einem anderen Raumgebiet, von dem er fich abgrenst.
Jede Grenze auf der Erdoberfläche, bei der ein neues Land beginnt, ift immer eine Grenze, an der ein anderes Land aufhört. Jedes Hier ift nur dadurch ein Hier, daß es ein Dort gibt, zu dem es im Gegenfaß fteht, Auch der Raum mit feinem Gegenfaß zwifchen verfchiedenen Orten kann als Aufhebung eines Imdifferenzzuftandes betrachtet werden, in dem es weder ein Hier noch ein Dort gibt, in dem vielmehr alle Orte in einem allumfaffenden, allgegenwärtigen Hier zufammen: fallen. Mas von der Zeitſtrecke und dem Körperraum gilt, das gilt aber auch von den legten und umfaffendften Grundformen unferer Eriftenz, die im erften Band befprochen wurden, nämlich von den dimenfionalen
Verhältniffen zwifchen Räumen, wobei wir das Wort Raum in dem allgemeinen Sinne gebrauchen, wie es im erften Band definiert wurde, Ich bin nur Ich Durch den Gegenftandsraum, der mir gegenüberfteht und von dem ich mich wie von einer Folie abheben muß, um meiner jelbft als eines erfennenden und wollenden Ich bewußt zu werden, Uber auch der Es-Raum ift nur Gegenftandsraum als Objekt für ein anfchauendes Ich. Diefes polare Verhältnis des Zufammen= Dafeins und Einandergegenfeitige-Bedingens von Ich und Gegen
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ftand ift, wie ſchon im erften Band gezeigt wurde, nicht ein Faufales Verhältnis. Das Ich bringt die Welt nicht hervor, und die Welt bringt das Ich nicht hervor. Es ift auch nicht das Logifche Verhältnis von Grund und Folge. Subjekt und Objekt ftehen vielmehr zueinander in der Urbeziehung der Polarität, die noch diegfeits aller Faufalen und logiſchen Verhältniffe fteht und aus feinem diefer befonderen Ver— hältniffe abgeleitet werden Eann. Diefe polare Urbeziehung befteht aber nicht nur zwifchen Ich und Es, fondern auch zwifchen Ich und Du. Ich bin nur Ich im Verhältnis zum Du, das mir begegnet. „Ich bin nur durch Dich.” Mein Gegenftandsraum
befteht nur durch den
Gegenjaß zu deinem Gegenftandsraum. Diefe polaren Verhältniffe koͤnnen wir mit der indifchen Myſtik auffaffen als die Aufhebung eines Indifferenzzuftandes, in dem der Unterfchied zwifchen Ich und Es, Ich und Du in eine lebte Ureinheit zurückgenommen ift, in der nach der indifchen Lehre die „Drei Gegen— fäße” von Erfenner, Erfanntem und Erfenntnisaft aufgehoben find (R. Otto „Weſt-⸗Oſtliche Myſtik“, ©, 7). Es war notwendig, in diefer Ausführlichkeit dem durchgängigen Prinzip der Polarität nachzugehen, das allen innerweltlichen Bezie— hungen, in denen wir ftehen, allen Unterfcheidungen, die wir vor— nehmen, fo verfchieden fie fonft fein mögen, ihr gemeinfames Gepräge
gibt. Es gibt nirgends, weder in der Wirklichkeit noch in unferen Gedanken, etwas, das durch fich felbit ift, was es ift. Alles, was wir wahrnehmen und vorftellen Eönnen, ift fowohl in feinem Dafein wie in feinem Sofein — in feiner quantitativen und qualitativen Befchaffenheit — dadurch bedingt und beftimmt, daß etwas anderes da ift, das ihm als Gegenpol gegenüberfteht. Wir können demnach zwar den Saß ausfprechen und niederfchreiben: Es gibt etwas, das durch fich felbft ift, was es ift (‚id quod per se est id quod est“,
Anfelm, Mon. 10, „id quod nulla alia re eget ad existendum“, Spinoza). Aber niemand von uns kann fich unter den Worten, die wir da ausfprechen und niederfchreiben, irgend etwas vorftellen. Denn bei allem, was wir ung vorftellen können, mag es nun ein förperliches Ding fein oder ein Ereignis, eine Farbe oder ein Klang, ein Inhalt
oder ein Raum, haben wir immer die Umgebung, von der es fich
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ahbebt, das Korrelat, dem es entfpricht und das fein Dafein und Sofein bedingt, ſchon ftilffchweigend mitgedacht. Ein Gebilde, das feines andern zu feiner Eriftenz bedarf, ift mithin für jeden von uns ein fehlechterdings unvollziehbarer Gedanke. Fichte hat darum vollftändig recht, wenn er fagt: „Eine Schöpfung läßt fich gar nicht ordentlich denken, — das, was man wirklich denken heißt, — und es hat noch nie irgendein Menfch fie alfo gedacht“ (Band ı diefes Werkes 3. Aufl., ©. 49). Denn ein Anfangsglied des ganzen KRaufalgufammenhangs, das durch fich felbft da ift und alles andere hervorbringt, koͤnnen wir ung nicht vorftellen. Wenn wir das Wort „Schöpfer“ ausfprechen, ftellen wir ung immer ein menfchliches Mefen vor, das aus einem gegebenen Stoff ein Gebilde ſchafft, alfo einen Handwerker oder einen Baumeifter oder einen Künftler, der fein Merk hervorbringt. Das Schaffen und Bilden, zu dem ein menfchliches Subjekt imftande ift, ift immer nur dadurch möglich, daß diefes Subjekt felbft mit allen fchöpferifchen Kräften, die in ihm liegen, das Erzeugnis feiner Familie, feines Volks und feiner befonderen Xebensverhältniffe ift. Er ift alfo durch eine Menge weiter zurücliegender Urfachen hervorgebracht. Ein Mensch kann demnach immer nur dadurch Anfangspunft einer Kaufalreihe fein, daß er immer zugleich Endpunft eines vorausgehenden Kaufalzufammenhanges ift. Ein Schöpfer, bei dem das nicht der Fall iſt, ift für uns fchlechterdings unvorftellbar. Die Wahrheit, die im Schöpfungsgedanfen enthalten ift und von der fpäter gefprochen werden muß, überfteigt alle unfere menfchlichen Begriffe. Sie ift höher als alle Vernunft. Das kommt von der Polari— tat aller Unterfcheidungen, die unfer Denken vollzieht. Diefe Polarität aller unferer Unterfcheidungen, die wir vollziehen, ift der Grund, warum alle Beziehungen, in denen wir ftehen, unabfchließbare Reihen find, innerhalb deren wir unaufhaltfam vorwärts oder ruͤckwaͤrts ſchreiten müffen. Das hat nichts mit einem fchwärmerifchen Unend— lichkeitsgedanken zu tun. Wir önnen die Frage dabei noch offenlaffen,
ob die Reihen, in denen wir uns bewegen, unendlich find. Wir wiffen nur, daß fie unabfchließbar find. Wir haben nicht die Möglichkeit, die Zeitſtrecke oder die Reihe der Urfachen und Wirkungen an irgendeiner
3. Der Grund, warum es unmöglich ist, das Lebensfundament selbst zu legen 31
Stelle abzufchließen und einen Anfangspunkt oder Endpunkt zu jeßen. Denn nach dem Gefeß der Polarität muß jeder Anfangspunft der Endpunkt einer vorausgegangenen Reihe und jeder Endpunft der Unfangspunft einer neuen Reihe fein. 3. Der Grund, warum es unmöglich ift, das Lebens: fundament felbft zu legen Nachdem wir uns das Strufturgefeß unferer Eriftenz und unferer ganzen Erfahrung in feiner ganzen Unentrinnbarkeit zum Bewußt— fein gebracht haben, wird erft deutlich, daß wir auf eine unuͤberſchreit— bare Grenze ftoßen, wenn wir Gott faffen und uns feiner bemächtigen wollen. Wir können zunächit nur fo viel einfehen: Wenn Gott ift, dann muß fich das darin ausdrücen, daß die ruhelofe Bewegung, mit der wir nach einer letzten Welturfache und einer legten Sanftion unferes Handelns fuchen, unbegreiflicherweife zur Ruhe fommt, daß wir vor einer Macht jtehen, vor der die Frage verftummt, warum fie da ift und woher fie das Recht hat, uns zu beſtimmen. Diefes Zur: Ruhe-Kommen der Warumfrage, diefes wunderbare Stillgeftellt: werden der Frage nach dem Woher der unbedingten Bindung darf aber nicht ein Gemwaltaft fein, durch den die Frage niedergefchlagen und zum Schweigen gebracht wird. Es darf nicht ein Befehl fein, den wir ung ſelbſt gegeben haben, an diefer Stelle haltzumachen, oder eine Verabredung, die wir gemeinfam treffen, hinter diefen Punkt nicht mehr zurüczufragen und zurüczudenfen. Mit alledem wäre die Frage gerade nicht zur Ruhe gefommen. Sie wäre nur durch ein sacrificium intellectus verdrängt. Soll die Frage nach der Welturfache und nach dem Woher der Autorität wirklich ftill werden, ift das nur auf eine Weiſe möglich, namlich dadurch, daß der Grund der ruhelofen Bewegung befeitigt wird, das, was die Frage nach dem Warum und Woher immer in Bewegung erhält. Diefer Grund ift, wie wir fahen,
das Gefeß der Polarität, unter dem alles fteht, was innerhalb der Erfahrungswelt gegeben ift. Unfere Frage kann alfo nur zur Ruhe fommen in einem Sein, das nicht unter dem Gefeß der Polarität
fteht, von dem man alfo wirklich fagen kann, daß, wie Anfelm fagt,
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I. Der „unbekannte Gott“
darüber hinaus nichts Größeres mehr gedacht werden kann. Diejes Sein ift aber fir unfer polares Denken ein fchlechterdings unvoll= ziehbarer Gedanke, Sobald wir verfuchen, uns diefes Sein vorzu:
ftelfen, entfteht vor unferem inneren Auge eben gerade nicht ein Gebilde, hinter dag wir nicht mehr zuruͤckdenken Fönnen, fondern im beiten Falle ein Gebilde, hinter das wir nicht mehr zurückdenfen wollen. Wir halten durch eigene Anftrengung oder gemeinfame Ver: abredung unfer Denken bei diefem Bild gewaltfam feit, obwohl unfer Denken darüber hinausftrebt. Was wir auf diefe Weife gewinnen, ift immer nur das, was Luther ein jelbitgefchaffenes Gebilde (fig: mentum) nennt, ein Gott, den „fie fich felbit bilden und formen“
(deus, quem ipsi sibi fingunt et formant), ein „Ubgott ihres eigenen Herzens” (idolum cordis sui). Zuther nennt diefen Verſuch, fich durch eine Anftrengung ein Lebensfundament zu ſchaffen, cognitio dei legalis, Es tft die MWerfgerechtigkeit des natürlichen Menfchen, der fich „vermiffet Gott den Himmel abzuzwingen” (Voßberg a. a. O, S. 20ff.). So entſtehen nicht nur die polytheiſtiſchen Goͤttervorſtellungen, an die Luther zunaͤchſt dachte. Wir muͤſſen vielmehr auch den unbewegten Beweger des Ariſtoteles dazu rechnen und das wahrhaft Seiende Platos, vor allem aber die philofophifchen Begriffe des Abfoluten und
Unbedingten in allen ihren Anwendungen und Abwandlungen, alfo das abſolute Ich, den abfoluten Geift, die abfolute Vernunft. Alle diefe Gedanken find Verfuche des Menfchen, durch eine Setzung des Denkens der ruhelofen Bewegung Einhalt zu tun und dem Relativis-
mus zu entgehen, zu dem uns der polare Charakter aller der Verhältniffe führt, die wir felbit denken fünnen. Es find Erampfhafte An: firengungen unferes Ich, über den eigenen Schatten zu fpringen und fich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Diefe Denkgebilde geben uns darum im praftifchen Leben nicht den geringften Halt. Denn wir müffen fie immer felbft fefthalten, wenn wir uns daran halten wollen. Wir kommen dabei über den innerweltlichen Bereich um feinen Schritt hinaus, auch wenn wir das Wort Gott oder das Abfolute und Unbedingte dabei in den Mund nehmen. Auch wenn wir eine folche Idee, wie fie unfer Denken fegen kann, vergöttern und
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bereit find, dafür zu Teiden und zu fterben, fo ift das alles doch immer noch eine rein innerweltliche Angelegenheit. Vieleicht ift darin noch nicht einmal die Frage nach Gott enthalten. Denn folange wir verfuchen, ung mit etwas zu behelfen, das wir felbft feßen und felbft bejchaffen können, find wir der ſchweren Auseinanderfeßung mit der Gottesfrage gerade aus dem Wege gegangen. Die religiöfe Begriffsverwirrung, die fich heute fo verheerend aus: wirkt, tft gerade dadurch entftanden, daß die beiden Dinge, die unfer deutfcher Reformator einander jo Elar entgegengefeßt hat, fortwaͤh— rend miteinander verwechfelt und mit denfelben Worten bezeichnet werden. Auf der einen Seite der Akt, zu dem wir alle ohne weiteres imftande find, ja der für jeden von uns eine biologifche Notwendig: feit ift, der Akt, in dem wir irgendeinen felbftgefeßten Ausgangspunft unferes Denkens und Handelns aus eigener Kraft verabfolutieren, und auf der anderen Seite die Haltung, in der wir alle eigenen Anftrengungen und Verſuche, uns felbit ein Lebensfundament zu fchaffen, aufgegeben haben und durch einen rein paffiven Empfang einen Grund gefunden haben, in dem wir unfere Eriftenz verankern Eönnen. Wenn wir über diefe zweite Möglichkeit, die außerhalb unferes menfchlichen Zugriffs liegt, überhaupt fprechen wollen, Eönnen wir Dabei nur zum Ausdrud bringen, daß dieſe zweite Möglichkeit für unfer Denken unerreichbar ift, wenn nicht etwas gefchieht, was unfer ganzes polares Denken aus den Angeln hebt. Denn wenn e8 eine Berankerungsmöglichkeit für unfer Dafein gibt, die wir nicht zu fegen und zu halten brauchen, fondern die uns hält, dann bedeutet Das, wenn wir es zunächft einmal in ganz allgemeinen und abftraften Morten umfchreiben follen: Es gibt ein Sein, das nicht polar ift, das alfo nicht durch irgend etwas anderes bedingt ift, das ihm gegemüberfteht. Nur ein folches Sein kann die unaufhaltfame Bewegung zum Stiffftand bringen, in der wir begriffen find. Wenn wir fagen, Gott
fei das Sein, das außerhalb der Volarität Iteht, fo Haben wir damit noch keinerlei pofitive Yusfagen über ihn gemacht, und wir haben uns auch auf Feine Spekulation über Gott eingelaffen. Wir haben nur
fire Gott das verneint, was zum Weſen alles Seins gehört, das uns zugänglich ift. Wir Haben alfo die Grenze angedeutet, die alles ung er— 3 Heim, Jeſus der Herr
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I. Der „unbekannte
Gott“
reichbare Sein von Gott fcheidet. Die indifche Weisheit nennt Gott den, „vor dem die Worte fehren um und die Gedanken, ohne ihn zu finden“. In unferer deutfchen Sprache deuten wir auf dieſes nichts polare Sein hin, indem wir irgendein Wort nehmen, das eine inner= weltliche Beziehung ausdrückt, und dann diefes Wort mit der under finierbaren VBorfilbe „Ur“ verbinden. Wir fprechen vom Urfein, vom Urfprung, vom Uranfang, vom Urwert, vom Urmillen, von der Urfraft, vom Ur-Du, Wir meinen damit ein Sein, aus dem alles ift, was ift, und hinter das man doch nicht noch einmal zurückgehen kann, wie das bei allen polaren Unterfcheidungen und Gegebenheiten der Fall ift. Gibt es aber diefes für ung unvorftellbare und undenfbare Urfein, das Durch fich felber ift und in fich felbft ruht, dann ergibt fich daraus eine notwendige Konfequenz, die wir ziehen muͤſſen, auch wenn ihr Ausgangspunft für ung ein unvollziehbarer Gedanfe bleibt. Derfuchen wir zunächft, ohne einen Blie auf die vorftellbare WirkYichfeit aus Diefem Anſatzpunkt die Folgerungen zu ziehen, die daraus gezogen werden müffen. Dieſes Urfein, das durch fich ſelbſt ift, kann die Welt, deren Zeile wir find, nicht neben fich oder außer fich oder fich gegenüber haben. Denn fonft entftünde gerade zmwifchen ihm und
der Welt ein polares Verhältnis. Gott wäre der Gegenpol zur Welt, fein Dafein und Sofein wäre durch die Welt bedingt. Wenn Gott alfo außerhalb aller VPolarität ſtehen fol, muß er alles, was ift, in fich tragen. Die ganze Wirklichkeit muß ihr Dafein in ihm haben. Überall da, wo auf eine Weife, die wir nicht begreifen koͤnnen, der echte Gottesgedanfe in der Gefchichte auftrat, da war fofort auch der
andere Gedanke da: Gott trägt die ganze Wirklichkeit in fich. Gott ift allgegenwärtig in allen Dingen, im kleinſten Atom, an allen Orten und zu allen Zeiten. Alles Gefchehen ift fein Schaffen. Gott muß fein „alles in allem” (1. Kor. 15, 28).
Alle diefe Ausfagen find nur ein anderer Ausdrud dafür, daß
Gottes Sein außer aller Polarität fteht. Nur der, der alles, was ift, in fich trägt, kann der Grund fein, in dem unfer Sein in jeder Bezie: hung verankert ift. Denn nur der, in dem alles ift, ift die Wirklichkeit, aus der weder Ich noch Du noch irgend etwas jemals herausfallen
3. Der Grund, warum es unmöglich ist, das Lebensfundament selbst zu legen 35
kann. Gäbe e8 irgend etwas, das nicht in Gott wäre, dann wäre Gott
nicht Gott, fondern ein Gegenftand neben anderen Gegenftänden, eine Kraft neben anderen Kräften, ein Raum neben anderen Räumen,
etwas, Das an dem polaren Spannungsverhältnis teilnähme, das
aller Weltwirklichkeit ihren Charakter gibt. Wenn es irgend etwas
gäbe, was neben oder außerhalb von Gott ftünde, dann wäre Die Gefamtwirklichkeit, die uns umfängt, aus zwei Teilen zuſammen— gefeßt, aus Gott und aus den anderen Dingen und Wefen, die neben
und außer Gott da find. Dann wäre ich alfo nicht fehon damit, daß ich bin, in feiner Gegenwart und in feinem Machtbereich, ich koͤnnte auch außer ihm fein und aus ihm herausfallen. Ich müßte alfo felbft etwas tun und mich anftrengen, um in Gott zu bleiben, Ich müßte mich mit eigener Kraft bei ihm fefthalten. Schauen wir zurüc, fo hat fich gezeigt: Nur wenn es ein Sein gibt, das nicht unter dem Bann der Polarität fteht, nur dann gibt e8 etwas, in dem unfer Suchen nach einer Ießten Legitimation unferes Handelns und nach einer legten Vorausfeßung unferes Denkens wirklich zur Ruhe Fommt. Daraus folgt noch eine Ießte Konfequenz. Wenn Gott ift, fo hat alles, was ift, Ich und Du und alle Wefen und alles, was gegenftändlich um uns her ift, fofern es in Gott ift, göttliches Wefen, alfo ein überpolares Urfein, denn Gott ift ja das Sein, das durch fich felbft ift, das allumfaflende Sein, außerhalb deffen nichts fein kann. Alles, was in Gott ift, muß teil: haben an feinem Wefen. Denn gäbe es ein anderes, nichtgöttliches
Sein, das außerhalb des göttlichen Seins ftände, fo wäre dieſes ein Gegenpol zum göttlichen Sein. Dadurch würde das göttliche Sein felbft polar. Es hätte ein Korrelat, durch das es in feinem Dafein und Sofein mitbedingt wäre. Das mwiderfpricht der Vorausſetzung, aus der wir hier die Folgerungen gezogen haben. Mir haben das alles ohne Rücficht auf unfere Wahrnehmung und auf das, was wir vorftellen und denken fönnen, aus dem Gab
gefolgert, den wir denfend gar nicht vollziehen können, daß e8 ein Sein gibt, das nicht wie alle Gegebenheiten, die ung zugänglich find, durch etwas anderes, was außer ihm fteht, bedingt und beftimmt ift. Betrachten wir nun im Lichte diefer Folgerung die Wirklichkeit,
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I. Der „unbekannte Gott“
wie fie in ung und um ung gegeben ift, fo fehen wir fofort, daß fie zu der Ausſage, die hier gemacht werden mußte, im Widerftreit fteht. Die Wirklichkeit, deren Teile wir find, befteht nur aus polaren Ver: hältniffen. Die leßten Fundamente und Vertrauensgegenftände, Die in ihr erreichbar find, koͤnnen wir nur als folche fefthalten, indem wir aus eigener Kraft den Entfchluß faffen und ihn anderen fuggerieren, daß hinter fie nicht zuruͤckgegangen werden darf, So defretierte in der Hitlerzeit etwa Alfred Rofenberg im „Mythus des zwanzigften Sahrhunderts” (©. 83): „die innere Stimme fordert heute, daß der Mythos des Blutes... ganz allein und Eompromißlos dag ganze Leben durchziehen, tragen und beftimmen muß”, „er duldet feinen anderen Höchftwert mehr neben fich.” Nur in diefem Ton des Forderns und Nichtduldens Eönnen wir innerhalb der uns erreichbaren Wirklichkeit etwas zum Range eines Höchitwertes erheben. Das entfpricht dem polaren Charakter unferer Erfahrung und unferes gefamten Denkens, aus dem wir nicht heraustreten fönnen. Damit ftehen wir vor einem unlösbaren Widerftreit zwifchen dem, was über das Urfein gefagt werden muß, wenn wir überhaupt eine Yusfage darüber machen wollen, und der Grundform der ganzen Wirklichkeit, die uns zugänglich ift. Diefer Widerftreit läßt fich nicht Dadurch zum Ausdruck bringen, daß wir die ftärfiten Gegenfäße zufammenfuchen, die unfere Sprache auszudrücden vermag, und daß wir dann dieſe Gegenfäße in den Superlativ feßen und fie ing Unend⸗ liche fteigern und in diefer hoͤchſten Steigerung auf das Verhältnis zwifchen Gott und Welt anwenden, daß wir etwa fagen: „Gott thront in einer für uns unerreichbaren Höhe, er ift droben im Himmel, wir aber find unten auf der Erde” oder: „Zwifchen Schöpfer und Gefchöpf ift ein unendlicher qualitativer Unterfchied.” Damit find die beiden
Seinsweiſen, das Überpolare göttliche Urfein und das ung zugängliche polare Sein, zwar einander entgegengefeßt, aber fie erfcheinen doch immer noch als irgendwie miteinander vereinbar, Sie koͤnnen immer noch, wenn auch) in einem unendlichen Abftand voneinander,
zufammen eriftieren, etwa fo, wie zwei Sterne, die fechzig Milfionen Lichtjahre voneinander entfernt find, doch immer noch im felben Weltraum zufammen da fein önnen, oder fo, wie zwei Flächen, die
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jenfrecht aufeinander ftehen, doch immer noch im felben Körperraum zufammen fein Fünnen. Diefe Koeriftenz ift aber nach dem oben Gefagten zwifchen dem göttlichen Sein und dem weltlichen Sein eben gerade nicht möglich. Der Widerftreit, auf den wir geführt wurden, fcheint das ganze Zufammenfein und Zufammeneriftieren von beiden unmöglich zu machen. Wir koͤnnen das Verhältnis, das hier befteht, mit unferem Denken nur in einem Entweder-Oder ausdruͤcken. Entweder die Melt it „alles in allem”, oder Gott ift „alles in allem“, Entweder die Welt iſt „alles in allem“, das heißt, es gibt nur polare Verhältniffe, und auch das, was die Menfchen von altersher Gott genannt haben, kann nichts anderes fein als ein Gegenftand unter Gegenftänden oder ein Raum unter Räumen, Oder aber Gott ift alles in allem, dann ift alles, was in der Welt ift, in Gott, alles Weltgefchehen ift Gottes Handeln,
die ganze Wirklichkeit ift alfo ihrem wahren Wefen nach überpolares Urfein und Urgefchehen.
Diefes radikale, unlösbare und unerflärliche Entweder-Öder, in dem hier zwei einander theoretifch ausfchließende Gefamtausfagen über die ganze Wirklichkeit ftehen, ift, wie wir am Schluß des erften
Bandes fahen, das dritte und legte Verhältnis, in das wir mit unferer ganzen Eriftenz geftellt find, wenn Gott ift. Diefes dritte Verhältnis ift unvergleichlich mit den beiden innerweltlichen Beziehungen, in denen wir ftehen, alfo ſowohl mit der inhaltlichen wie mit der dimen= fionalen Grenze. Wo echter Gottesglaube da war — auf eine Weife, über die erft fpäter gefprochen werden kann — da wurde auch fofort das unlösbare Entweder-Oder empfunden, auf das der Gottesgedanke führt. Die Menfchen, die von Gott ergriffen waren, mußten vom erften Augenblick an: Wenn Gott ift, fo befinden wir uns mit unferer ganzen Welterfahrung und Selbitbeurteilung im Widerftreit mit ihm. Denn wenn Gott Gott ift, dann muß er alles in allem fein.
Die Welt befteht aber aus lauter polaren Spannungsverhältniffen, Alfo ift Gott nicht alles in allem. Diefer Widerfpruch ift nur auf eine Weife auszuhalten, nämlich in der Gemwißheit, daß eine Löfung des Widerftreites fommt, auf die alles hindrängt und der alle Glaubenden entgegenharren. Die „Es⸗
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I. Der „unbekannte
Gott“
chatologie”, ohne die Fein echter Gottesglaube möglich ift, iſt der elementare Ausdruck dafür, daß zwifchen dem Sein Gottes und dem Sein der Welt, wie wir fie um uns fehen, ein Entweder-Oder beiteht, das gelöft werden muß, wenn wir nicht daran zugrunde gehen follen. Gott muß das polare Sein diefer Welt aufheben in fein Urſein, dann wird „Gott fein alles in allem“.
Ohne diefe brennende Enderwartung kann der echte Gottesgedanfe nicht leben. Die Echtheit des Gottesglaubeng zeigt fich gerade daran, daß jeder andere Ausgleich, jede andere Löfung des Miderftreits als
unreiner Kompromiß abgelehnt wird. „Es komme die Gnade, und es vergehe die Welt”, hieß es in der urchriftlichen Ubendmahlsliturgie.
Nur wenn der echte Gottesglaube wieder in irgendeine Form der Verabfolutierung des Bedingten abglitt, erlofch auch die brennende Zufunftserwartung, und man begann, fich wieder in der Welt einzus richten. 4 Die Unerfennbarfeit Gottes
Das Entweder-Dder, das zwifchen jenen beiden Standpunften befteht, zeigt fich am deutlichiten, wenn wir die Frage aufwerfen, von der aus der Einſatz der „Chriftusbotfchaft” allein verftändlich werden
kann, nämlich die Frage, wie es mit der Möglichkeit fteht, um Gott zu wiffen, Gott zu faffen und mit ihm in Verbindung zu Eommen. Iſt die Welt alles in allem, gibt es alfo nur Bedingtheiten, dann fann auch das, was wir Gott nennen, nur etwas Bedingtes fein, Das wir Durch eigene Setzung zum Höchftwert erheben, neben dem wir feinen andern dulden wollen. Diefes felbitgefeßte Vertrauens» objeft ift dann für unfer Erkennen ohne weiteres zugänglich, fei es durch einen Ruͤckſchluß aus diefer Welt auf den „Weltbaumeifter“ oder durch ein Poftulat aus der Handlung, in der wir begriffen find, auf den hoͤchſten Sinn diefer Handlung. Iſt aber Gott alles in allem, gibt es aljo ein allerfüllendes Sein, das wir nicht zum Höchitwert erhoben haben, fondern das durch fich felbit der Wert ift, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, dann tft diefes Sein für unfer polares Denken und Erkennen unerreichbar. Mit anderen
4. Die
Unerkennbarkeit
Gottes
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Worten: Wir können Gott nicht fchauen. Gottes Wefen ift unferen Augen nicht bloß in dem Sinn verborgen und unfichtbar, wie der glühende Kern unferes Planeten unferen Augen verborgen ift oder wie uns an den tiefften Stellen des Stillen Ozeans, die Fein Taucher mehr erreichen kann, der Meeresgrund ein verborgenes Geheimnis bleibt. Das wäre ja nur eine relative Verborgenheit. Es wäre denkbar, daß fie einmal durch technifche Fortfchritte überwunden werden könnte, Gott ift uns aber auf eine abfolute Weife verborgen und unanfchaulich. Alles, was wir wahrnehmen, vorftellen und denken können, das liegt damit innerhalb der unabfchließbaren Reihen, in die wir wie in ein unendliches Gefängnis eingefchloffen find. Wenn wir die polaren Gebilde betrachten, die wir uns vorftellen önnen, fchauen wir damit alfo in eine Gott entgegengefekte Richtung. Denn Gott fteht außerhalb und oberhalb aller Polaritäten. Wir können ung „fein Bildnis noch irgendein Gleichnis“ von ihm machen. Unfere Vernunft ift alfo zwar, wie Luther jagt, in allen anderen Dingen „ein großes Licht”, für das wir gar nicht dankbar genug fein Eönnen. Uber fie ift blind, wenn es gilt, Gottes Sein und damit auch unfer eigenes wahres Wefen und den wahren Sinn der Welt zu erkennen. „Es mag die Vernunft ihr Licht hoch heben und rühmen, auch Flug damit fein in weltlichen, vergänglichen Sachen; aber fie Eletter bei Leibe damit nicht hinauf in Himmel, oder man nehme fie zu Rat in diefer Sachen, fo die Selig: feit belanget. Denn da ift die Welt und Vernunft gar ftarblind, bleibt auch in Finfternis, leuchtet und fcheinet in Ewigkeit nicht“, „alfo fpielt auch die Vernunft der blinden Kuhe mit Gott, und tut eitel Fehlgriffe, und fchlägt immer nebenhin, daß fie das Gott heißt, das nicht Gott ift; und wiederumb nicht Gott heißt, das Gott ift,
wilchs fie keins tät, wo fie nicht wußte, daß Gott wäre, und wußte eben, wilches oder was Gott wäre. Darum plumpt fie jo herein und
gibt den Namen und gottlich Chre und heißet Gott, was fie dunkt, daß Gott fei: und trifft alfo nimmermehr den rechten Gott, fondern alle Wege den Teufel oder ihr eigen Dunkel, den der Teufel regieret” (Vofberg, ©. Zıff.). Erft hinterher, wenn fich uns auf eine Weife, die alles Denken uͤberſteigt, das Sein Gottes erfchloffen hat, erkennen
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I. Der „unbekannte
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wir ruͤckſchauend in diefen Sehlgriffen der blind tappenden Vernunft Fehlgriffe eines Geiftes, der zur Gottesgemeinfchafft beftimmt ift. Mir fehen dann: Solange diefer Geift Gott felbit nicht gefunden hat,
muß er in ruhelofer Bewegung fich felbit ein Vertrauensobjeft fchaffen, poftulieren und fingieren, und er fucht e8 in einer Gott ent: gegengefeßten Richtung. So kommt es zur Vergötterung der Kreatur. So fah ſchon Luther deutlich die Unfähigkeit des Menfchen zur wahren Gottegerfenntnis, obwohl man damals noch faft allgemein annahm, das Dafein Gottes und feine wichtigften Eigenfchaften feten unferer Vernunft durch Schlüffe aus der Natur zugänglich, und auch Luther felbit gelegentlich mit diefer Möglichkeit rechnete. Heute im Zeitalter des Säkularismus ift die Lage viel einfacher und Flarer geworden. Überall da, wo der Geift der modernen Natur: wiffenfchaft und Technik hinkommt, verfchwinden die mythologifchen Vorſtellungen von Göttern und Dämonen ganz von felbft, die für das primitive Denken die Naturvorgänge als Wirkungen von Göttern und unfichtbaren Geiſtern erfcheinen laſſen. Es bleiben nur die fichtbaren und greifbaren Realitäten übrig, die phyſikaliſchen Energien, mit denen man Mafchinen treiben und produftive Arbeit leiften kann, und die Triebe und Inftinkte, von denen die organifche Welt Yebt. Der Wirklichkeitsfinn des heutigen Gefchlechts lehnt Eultifche Feiern und mythologifche Dichtungen ab. Man will Taten fehen und Wirk: lichkeiten erfahren, die einen praftifchen und greifbaren Wert haben. Fur ein folches Zeitalter gibt es nur noch zwei Möglichkeiten. Die erite Möglichkeit ift das Weltbild, wie es Oswald Spengler oder Ernft Jünger uns vor Augen geftellt Haben. Die ganze Wirklichkeit
it ein Kriegszuftand, in welchem bedingte Mächte ihre Kräfte mit: einander meſſen. Spenglers realpolitifche Darftelfung der Weltlage,
in die er fich geftellt fah, beruht auf der Vorausfeßung, daß „die bewegenden Mächte der Zukunft Feine anderen find als die der
Vergangenheit: der Wille der Stärferen, die gefunden Inftinkte, die Raffe, der Wille zu Befiß und Macht, darüber Hin ſchwanken wir: fungslos die Träume, die immer Träume bleiben werden: Gerechtigfeit, Gluͤck und Frieden“, Leben heißt danach, fich mit feiner ganzen Eriftenz in voller Hingabe für eine diefer kaͤmpfenden Mächte einfegen,
4. Die Unerkennbarkeit Gottes
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mag diefe Macht nun das Sowjetſyſtem fein oder eine nationale Bewegung oder irgendeine andere kaͤmpfende Macht, die den Ießten Einſatz von uns verlangt. Wer noch Eultifche oder mythologifche Bedürfniffe hat, der kann diefen Einfaß, den der unerbittliche Gang der Dinge verlangt, religiös unterbauen oder theologifch untermauern. Man kann etwa diefen mitletdslofen Exiſtenzkampf, in dem jeder auf feine Kraft angemiefen ift, auf einen „Schöpfer“ zurückführen, der von Anfang an die Welt als Arena eingerichtet hat, in der Menfchen und Völker im kriege— rifchen Machtkampf die Klingen miteinander Ereuzen follen. Diefer religiöfe und theologifche Unterbau mag noch für die Menfchen der älteren Generation ein Herzensbedürfnis fein und ihren metaphy— fifchen Neigungen entgegenfommen; aber für den Mann der Wirflichkeit, den großen Staatsmann oder Wirtfchaftsführer der Gegen wart ift diefer Unterbau bedeutungslos. Die Verteilung der Kräfte, auf die er feine Berechnungen aufbaut, bleibt genau diefelbe, ob wir diefe religiöfe Untermauerung vornehmen oder ob wir fie fortlaffen. Der Realpolitiker behandelt alſo die Gedanken, die fich die Menfchen über Gott machen, als eine belanglofe Angelegenheit. Er Yäßt fie beftehen, wie man unfchädliche Dinge beftehen läßt, folange fie die Kreife der hohen Politik nicht ſtoͤren. „Seder foll nach feiner Fagon felig werden.” Der Machtpolitifer befaßt fih nur dann noch mit Religion, wenn es notwendig wird, fie in ihre Schranken zu weiſen, weil fich irgendein Bolksglaube nicht geräufchlos in den Macht: fampf einfchalten will wie ein Schwungrad, das in einer großen Mafchine angebracht wird, um ihren Gang zu befchleunigen. Wenn der Gottesglaube vielmehr wagt, aus feiner Bedeutungslofigfeit herauszutreten und ftörend einzugreifen, miffen Maßnahmen gegen ihn ergriffen werden. Uber die Art, wie das gefchieht, zeigt, Daß man diefen Glauben nicht ernft nimmt. Man hält es nicht für der Mühe wert, auf die tieferen Urfachen einzugehen, die zu der Störung geführt haben, fondern man behandelt diefe nur wie einen kleinen Putſch, gegen den man die Polizei ausſchickt, um die Ruheftörer zu zerftreuen.
Das ift die eine Möglichkeit, die es in der heutigen Lage gibt.
Diefer fteht die andere Möglichkeit gegenüber. Gott ift die Macht,
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I. Der „unbekannte
Gott“
mit der wir es bei allem menfchlichen Zun, auch bei jeder Staats» aftion und bei jedem Wirtfchaftsunternehmen, zuleßt ganz allein zu tun haben. Denn wenn Gott ift, dann ift er der, ohne den nichts ift, was ift. Er ift in jeder Tat nicht bloß eine Kraft unter andern Kräften, ein Faktor neben andern Faktoren, die im polaren Ver: haͤltnis zu ihm ftehen. Nein, er ift die Wirklichkeit der Wirklichkeiten, das in jedem Atom wie in jeder Planetenbewegung allgegenmwärtige Urfein, das außerhalb aller polaren Verhältniffe fteht. Gott fteht alfo einerfeits ganz innerhalb des Machtkampfes, den wir Fampfen, als der, der alles in allem wirft, und er fteht Doch andererfeits ganz außerhalb des Machtkampfes als die Urmacht, auf die geftüßt man an jeder Stelle alles aus den Ungeln heben Fann. Es gibt alfo für uns als verantwortlich Handelnde Menfchen der Mirflichkeit in jeder Lage immer nur zwei Möglichkeiten. Entweder: Gott ift wider uns; wir find von Gott verlaffen, dann treten wir mit allem, was wir unternehmen, in Widerfpruch mit unferer eigenen wahren Beltimmung und bauen, was wir bauen, auf Sand. Wenn die Gewäffer fommen und die Sturmmwinde wehen und ftoßen an das Haus, fällt es und tut einen großen Fall (Mtth. 7, 27). Oder: Gott ift mit uns. Dann ftehen wir auf einem Grund, der ohne unfer Zutun gelegt ift, zu deffen Sicherung wir nicht das geringfte beizutragen
brauchen. Diefes Fundament trägt uns genau fo, wenn wir im Null: punft unferer Eriftenz find, wie wenn wir von einer Woge der Begeifterung und des Sieges emporgetragen werden. Ift Gott für uns, fo haben wir etwas, das bleibt, wenn unfer ganzes Dafein innerhalb der Welt des Machtkampfes in nichts 'verfinkt. Auf Gott geftüst fonnen wir der ganzen Welt troßen. Er ift der „Fels“, die „feite Burg”, auf die wir ung zurückziehen koͤnnen, wenn alles gegen uns ſteht und wenn alles verfagt, was ung die Welt geben kann. Wenn wir fterben, fallen wir in diefem Nullpunkt unferes Dafeins nicht in das Nichts, jondern in Gottes Schoß. Wenn wir in der Welt völlig verarmen, fo fünnen wir reich fein in Gott. Wenn wir in einer hoff: nungslofen Lage find unter dem furchtbarften Druck, gefchändet und zerfchlagen, einen martervollen Tod vor Augen, fo wie die Menfchen, die im „Zotenhaus“ in Sibirien zu lebenslänglicher Zwangsarbeit
4. Die
Unerkennbarkeit
Gottes
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verurteilt waren, dann fönnen wir mitten im hoffnungslofen Leid glücklich fein in Gott. Wenn wir ganz fchwach find, jeder Förperlichen und feelifchen Energie beraubt, fo kann Gott unfere Stärfe fein, Mit Gott fünnen wir über die Mauer fpringen. „Der Beter bewegt den Arm, der das Weltall bewegt” (Monod). Wer auch nur Glauben hat
wie ein Senfkorn, alfo nur ein Minimum echten Gottesglaubeng, der fann nach jenem Wort Jefu fehon mit diefem Minimum von Gottes: glauben Berge verfeßen. Iſt Gott für uns, dann allein hat unfer Wille eine unbedingte Bindung, deren Macht allen Einflüffen diefer Welt abfolut überlegen ift. Mir fönnen uns ja niemals felbit unbedingt binden. Jede Ver: pflichtung, die wir uns felbit auferlegen, jedes Gebot, das wir uns ſelbſt geben, kann im Eritifchen Augenblick verfagen, wenn das Opfer unferer ganzen Eriftenz von uns verlangt wird. Denn jedes Gebot,
das wir uns felbit gegeben haben, das koͤnnen wir auch felbft wieder zurücknehmen. Jede Verpflichtung, die wir felbit in Kraft gefekt haben, Eönnen wir felbit wieder außer Kraft feßen. Sobald die felbftgewählte Pflicht uns felbit zu vernichten droht, legt fich uns der Gedanke nahe, ob wir unfern Entfchluß nicht wieder rückgängig machen follen. Nur Gott kann uns eine Verpflichtung auferlegen, die wir nicht mehr ruͤckgaͤngig machen koͤnnen. Denn Gott fteht außer: halb des Kampfes, den wir um unfere Exiſtenz kämpfen. Nießfche fagt mit Recht: „Naivität, als ob Moral übrigbliebe, wenn der fanftionierende Gott fehlt! Das ‚Senfeits‘ abjolut notwendig, wenn der Glaube an Moral aufrecht erhalten werden foll.”
Das ift ein Wort, das für jeden Staatsmann wichtig tft. Nur Gott kann unferen Willen unabhängig machen von jedem irdifchen Lohn und Erfolg und uns inftandfegen, auch für eine Sache, die auf Diefer Melt hoffnungslos untergeht, ohne YAusficht auf Ruhm und ner: fennung als „unbekannte Soldaten” mit Freuden das Leben zu laffen. Das alles ift nur möglich, wenn Gott tatfächlich das Urfein ift, mit dem wir es an jeder Stelle der Wirklichkeit zuleßt ganz allein zu tun haben und das doch diesfeits aller Spannungsverhältniffe
fteht, die den Machtkämpfen diefer Welt ihr Gepräge geben. Denn daß Gott uns gerade dann auffängt und trägt, wenn Die Lage
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hoffnungslos ift und wir mit aller unferer eigenen Energie am Ende find, das ift nur dann möglich, wenn Gott die außerhalb aller ener: getifchen Spannungen und Machtkämpfe der Welt ftehende Urmacht ift, die jeder irdifchen Gewalt von vornherein überlegen ift. Iſt das der Fall, dann ift Gott nicht nur für den einfachen Mann im Volk, fondern auch für den Staatsmann, Heerführer und Großinduftriellen die Macht, mit der er bei allen feinen Unternehmungen und Maß: nahmen als mit dem entfcheidenden Faktor rechnen muß. Die fpätrömifchen Kaifer haben fich troß ihrer alten politifchen Erfahrung ſchwer verrechnet, als fie meinten, fie fönnten die junge Bewegung von Gottesgläubigen, die aus der Hefe des Volkes kam und ihre Staatspolitif ftörte, durch einige Gewaltmaßnahmen Furzerhand niederfchlagen. Sie hatten bei ihrer Staatspolitif nicht mit Gott gerechnet und waren nun erftaunt, als hier eine Macht vor ihnen ftand, die fchwache Jungfrauen und Kinder befähigte, in der Arena mutig den Löwen entgegenzugehen, eine Macht, die fich ftärker erwies als alle Gemwaltmittel, die der römische Staat aufbot, um fie zu unterdrüden.
Damit haben wir uns die beiden Standpunkte vor Augen geftellt, die e8 in der Gottesfrage gibt und die fich heute, im Zeitalter des Säfularismus, immer deutlicher gegeneinander abgrenzen, den einen Standpunft, für den der legte Sinn unferes Dafeins nur der per: fünliche und völfifche Machtkampf ift, für den darum alle religiöfen Ideologien gegenftandslos geworden find, und den andern Stande
punkt, für den Gott die Urmacht ift, mit der wir es bei jeder Lebens: entfcheidung zulegt allein zu tun haben und auf die geftüßt wir allein mit leßtem Einfaß kämpfen koͤnnen. Nun erft, nachdem wir diefe beiden Möglichkeiten einander gegen übergeftellt Haben, können wir die Frage beantworten, wiees, von beiden Standpunften aus betrachtet, mit der Erfennbarkeit Gottes fteht. Die Antwort ergibt fich aus dem bisher Befprochenen von felbft. Ein Gott, der nur ein religiöfer Ausdrud für das ift, worauf wir auch ohne ihn unfer Vertrauen gefeßt haben, ift ohne weiteres zugänglich. Mir wiſſen, was Gott ift und was wir in feinem Namen tun follen, nämlich genau das, was wir auch ohne ihn tun, wenn wir in dem
4. Die Unerkennbarkeit Gottes
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Kampf, den wir kämpfen, unfern Mann ftellen wollen. Diefer Gott ftört unfere Kreife nicht. Er wird ung nie unbequem, weil er ja nur das bejaht und noch einmal unterftreicht, was ung auch ohne ihn am
Herzen liegt. Wir find diefes Gottes ficher, und wir haben ihm gegen: über nie das unfichere Gefühl, daß wir ihn eigentlich erſt fragen follten, ob er mit dem Gebrauch, den wir von ihm machen, auch einveritanden ift oder ob wir ihn vielleicht mißverftanden haben.
Diefer ſaͤkulare Gottesgedanfe hat den großen Vorzug, daß er ohne weiteres erreichbar und ohne Schwierigkeit mit dem in Einklang zu bringen ift, was uns auch ohne ihn das wichtigfte iſt. Diefer Vor— zug tft indes durch den Nachteil erfauft, daß der Gott, deffen wir uns fo leicht verfichern Eönnen, für unfer praftifches Leben bedeutungslos
iſt. Er bleibt nur bei uns, folange wir von den Wogen der Begeifterung und des Selbftvertrauens getragen werden. Uber er ift ein Fels, auf dem wir ftehen fönnen, wenn alles um uns und in ung wanft und weicht. Anders fteht es mit dem Gott, der die Wirklichkeit der Wirk⸗ lichkeiten ift, die uns auch im Nullpunkt unferer Eriftenz zu tragen vermag. Un ihn koͤnnen wir uns halten, auch wenn wir an uns felbit verzweifeln müffen. Dafür müffen wir aber in der Frage der Erfenn barkeit diefes Gottes eine Notlage auf uns nehmen, die fo ſchwer ift, daß nur Menschen fie auf fich zu nehmen bereit find, die wiffen, daß
fie verzweifeln müffen, wenn fie nicht mit Gott in Verbindung fommen. Wir koͤnnen den Gott, der ein Ankergrund unferer Seele und eine ewige Bindung unferes Willens ift, nicht Schauen. Unfer ganzes Wahrnehmen, Vorſtellen und Denken bewegt fich ja in polaren Verhältniffen. Es hat alfo zu dem Urfein, das uns trägt, feinen Zugang. Denn diefes fteht jenfeits aller Polarität, Was mir mit unferem Erkennen erfaffen Eönnen, ift immer nur ein Doppeltes. 1) Wir können dem zeitlichen und Faufalen Ruͤckgang vom Gegen: wärtigen auf Vergangenes, von der Wirkung auf ihre Urfachen, von der Handlung auf ihren Bemweggrund an irgendeiner Stelle Halt gebieten und an diefe Halteftelle ein Phantafiegebilde feßen, das wir als Anfangsglied der Reihe betrachten und zum Vertrauensobjekt erheben. Damit fuchen wir nach Gott. Denn wir fuchen nach einer Stelle, wo die Warumfrage und die Frage nach dem Woher aller
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I. Der „unbekannte
Gott“
unferer fittlichen Bindungen zur Ruhe fommt. Auf diefe Weife finden wir Gott nicht. Wir kommen auf diefem Wege nach Luther nicht zu
Gott, fondern zu einem Abgott, den wir felbit fingieren müffen. 2) Wir fönnen aber noch etwas Zweites tun, wozu wir aus eigener Kraft imftande find, und das ift auf allen Höhepunften der Reli gionsgefchichte immer wieder gefchehen. Wir fönnen mit unferem Denken und Fühlen in den Indifferenzzuftand zurückehren, zu dem alfe Weltgegenfäße, wie wir fahen, in einem polaren Verhältnis ftehen. Der Menfch verfucht Ruhe zu finden, indem er fich in den Gleichgewichtszuſtand verfenkt, der den Hintergrund aller polaren Gegenfäße bildet, in die wir hineingeftellt find. Um elementarften druͤckt das die indifche Weisheit aus, wenn fie fagt: Gott ift netineti, das bedeutet: er ift nicht das und nicht das, er iſt nicht fo und nicht fo, Er ift das Sein, in dem alle polaren Weltgegenfäße miteinander identisch find und ineinander überfchlagen. Rudolf Otto hat in feinem Buch „Meftöftliche Myſtik“ gezeigt, daß Sankara, Meifter Eckehart und Fichte diefen Indifferenzzuftand in ganz wunderbarer Übereinftimmung, oft mit denfelben Bildern, befchrieben haben, obwohl fie ganz unabhängig voneinander waren. Offenbar wirkt fich hier ein allgemeinmenfchliches Bedürfnis aus, das zu allen Zeiten und in allen Kulturen, am ftärfiten vielleicht in der arifchen Raffe, fühlbar wird. Bei der Befchreibung des Zuftandes, der Dabei als Ziel vor Augen fteht, wird immer wieder das Verhältnis zum Vergleich herangezogen, in dem das indifferente Urlicht zu den Farben fteht. „So wie ſchon das finnliche Auge ein Prisma ift, in welchem der an fich durchaus fich gleiche reine und farblofe Äther auf den Oberflächen der Dinge in mannigfaltige Farben fich bricht... ., fo auch in Sachen der geiftigen Welt” (©. 313). „Diefes Seyn ift einfach, fich felbft gleich, unwandelbar und unveränderlich: es ift in
ihm fein Entftehen noch Untergehen, Fein Wandel und Spiel der Geftaltungen, fondern immer nur das gleiche ruhige Seyn und Beftehen” (©. 307). Aber nicht nur die inhaltlichen Gegenfäße der darben und Klänge find in Gott aufgehoben, fondern auch die letzten dimenfionalen Verhältniffe zwifchen Ich und Es. Das ewig Eine jteht jenfeits der „Drei Gegenfäge” von Erfenner, Erfanntem und
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Gottes
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Erfenntnisaft (©. 7). Nach Dadjnavalfya Fann man von Gott weder ausfagen, er fei feiend, noch auch, er fei nicht feiend, und genau ent: Iprechend jagt Eckehart: „Spriche ich ouch: got ift ein wefen, ez ift niht wär: er ift ein überfwebende wefen und ein überwefende nihtheit” (Ausg. Pfeiffer, ©. 316-319). Bon der Verſenkung in den Indifferenzzuftand jenfeits aller inhalt: lichen und dimenfionalen Gegenfäße gehen gewaltige Wirkungen aus. Diefe Verſenkung ift ein altbewährtes Mittel, um das feelifche Gleichgewicht in jeder Lage wiederherzuftellen. Das zeigt die Yoga— Übung, die feit Iahrtaufenden in den indif chen, chinefifchen und japanifchen Klöftern geübt und immer mehr vervollfommnet worden ift. Man hat von alters her geglaubt, durch den Rückgang in den In: differenzzuftand fei es den Menfchen tatfächlich gelungen, den Bann der Vielheitsmwelt zu durchbrechen und in eine Sphäre unterzutauchen, die jenfeits des Ganzen liegt. Aber wenn das richtig ift, was oben über den Gleichgewichtszuftand gejagt wurde, it das eben gerade nicht der Fall. Durch jene Rückkehr in den Öleichgewichtszuftand haben wir zwar die erfte Polarität der inhaltlichen und dimenfionalen Verhältniffe hinter uns gelaflen. Uber wir find damit nicht über die polare Welt überhaupt hinaus: gekommen, fondern haben uns nur von der erften auf die zweite
Polarität zurückgezogen, die dieſe Welt in fich trägt, nämlich auf das polare Verhältnis, in dem jede Unterfcheidung, die es innerhalb der Erfahrungsmelt gibt, zu ihrer Aufhebung im Indifferenzpunft fteht. Auch bier ftehen wir vor zwei Elementen, die einander gegen feitig bedingen, von denen alfo das eine nicht dafein kann, ohne daß auch das andere da ift. Der Gleichgewichtszuftand ift ung nur gegeben als Hintergrund und Vorausfegung für feine Differenzierung in die
Meltgegenfäße; und diefe fegen wiederum den Indifferenzzuftand mindeftens als denfbar voraus. Der Verfuch des Menfchen, in diefem Gleichgewichtszuftand zur Ruhe zu Fommen, ift darum genau jo wie die Seßung eines Anfangsgliedes der Relationgreihe eine gewaltfame Anftrengung, durch die wir vergeblich verfuchen, uns aus eigener Kraft aus der Lage zu befreien, in der wir gefangen find. Durch lange Anftrengungen und qualvolle Ererzitien fteigert man fich in
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I. Der „unbekannte
Gott“
einer aufs höchfte getriebenen Autofuggeftion in den Gedanken hinein, der Indifferenzzuftand fei tatfächlich erreicht, der ruhelofe Prozeß, in welchem wir fortwährend zwifchen der Einheit und der Vielheit hin und her gehen müffen, fei zum Stillftand gekommen. In Wahrheit fteht der Prozeß aber nie ftill, Solange wir leben, find wir gezwungen, aus dem Gleichgewichtszuftand immer wieder in die Weltgegenfäße zuruͤckzukehren. Was der Myſtiker durch lange Übung erreicht, ift nur
die Fähigkeit, länger als ein anderer Menfch im Indifferenzzuftand zu verweilen. Die Anftrengungen, die der Menfch macht, auch dieſe letzte Polaritaͤt zuuͤberwinden und einen bewußten Schlafzuftand zu erreichen, in dem der Wille zum Leben aufhört, verdienen die höchfte Bewun— derung. Es ift das gemwaltigite Kapitel der menfchlichen Religions: gefchichte. Dennoch ift das Ganze - vom Standpunkt Luthers aus gefehen - genau fo wie die Schaffung eines Abgottes Durch gemalt: fame Stilfftellung des Nelationsprozeffes ein eigenes Werk des Menfchen, ein verframpfter Verfuch, über den eigenen Schatten zu fpringen. Damit find die beiden Möglichkeiten erfchöpft, Die uns Menfchen offenftehen, um eine Antwort auf die Frage nach dem Weſen Gottes zu erreichen. In diefen beiden Möglichkeiten tft die ganze außer: biblifche Religionsgefchichte zufammengefaßt. Uberje ernfter wir die beiden Wege zu Ende gehen, um fo'deutlicher merfen wir, daß wir hier vor einer unitberfchreitbaren Grenze Itehen. Das Urfein, das wir erfaffen möchten, Tiegt nicht bloß jenfeits aller inhaltlichen und dimenfionalen Gegenfäße, fondern — diefe Erkenntnis ift von ent: fcheidender Wichtigkeit — es liegt auch jenfeits der zweiten Polarität,
die zwifchen allen Weltgegenfäßen und den Indifferenzzuftand befteht, in dem die Gegenfäße aufgehoben find. Wenn wir in die Region vordringen wollen, die nicht nur hinter der erften, fondern auch jenfeits der zweiten Polarität fteht, ftehen wir vor dem unlösbaren Widerftreit zwifchen zwei Ausfagen, die wir beide machen müffen und die doch für unfern „euflidifchen Verftand“
(Doftojewffi), für unfer polares Erfenntnisvermögen, ſchlechter— dings unvereinbar find. 1) Gott ift alles in allem, „von ihm und durch
4. Die Unerkennbarkeit
Gottes
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ihn und zu ihm find alle Dinge”. 2) Gott fteht jenfeits aller polaren Verhältniffe, aus denen für unfere Erfahrung und unfer Denken die ganze Wirklichkeit befteht. Wir Eönnen ihn alfo weder innerhalb der innerweltlichen Relationsreihen durch ein Schlußverfahren erreichen noch auch durch Rückkehr aus den Weltgegenfäßen in ihren Indifferenzzuſtand. Wenn dieſer unfaßbare Gott die letzte Wirklichkeit iſt, dann ſind alle Dinge und Geſchehniſſe, wie Luther ſagt, Gottes „Larven und Mummereien“. Wenn wir alſo Gottes Sein nicht faſſen koͤnnen, fo it uns damit auch der Zugang zum innerften Wefen der Melt und zum legten Sinn der Weltereigniffe verfchloffen. Wir Fönnen immer nur die negative Ausfage machen, daß das Wefen der Dinge etwas tft, das weder im erften noch im zweiten Sinn des Wortes polaren Charakter hat. Aber das überpolare Geheimnis, von dem unfere eigene
Eriftenz, das Dafein unferer Mitwefen und die ganze Natur erfüllt ift, Ttegt jenfeits unferes Faffungsvermögens. Wir ahnen zwar Gott in allem. Wir wiflen, daß, wenn Gott ift, das ganze Weltgefchehen Gottes Schaffen iſt; doch aus dem polaren Oberflächenbild, das wir von Gottes Schöpfung haben, Eünnen wir ihren Sinn nicht ableiten,
Wir fönnen darum auch zu Feiner Gewißheit darüber gelangen, welchen Weg wir einfchlagen follen, in welcher der vielen möglichen Lebensrichtungen wir gehen follen, um der Schöpfungsordnung Gottes gemäß zu leben und unfere Beftimmung zu erfüllen. Es iſt
für uns natürlich eine Kleinigkeit, auf eigene Fauft über den Sinn der Schöpfung zu philofophieren und von unferem Oberflächeneine druck aus geiftvolle und tieffinnige Vermutungen darüber aufzu: stellen. Uber alle diefe Entwürfe fcheitern immer wieder an der Wirf-
lichkeit. So geht es uns etwa, wenn wir den Sinn der Schöpfungs: ordnung in der Schaffung einer hohen Menfchheitskultur fehen und nun eine Maffenkataftrophe erleben, durch die der unbegreifliche Schöpfer feine eigene Schöpfung wieder zerftört und die unentbehrYichften Menfchen, die er hat werden laffen, in einem Augenblick wieder dahinrafft und die herrlichſten Kulturwerke, an denen er die Menfchheit Jahrhunderte bauen ließ, in einer Nacht in Schutt und Afche begräbt, ohne daß irgendein pofitiver Gewinn dieſes Zerſtoͤ— 4 Heim, Jeſus der Herr
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Gott“
rungswerfes erfichtlich ift. Es ift, als zerfchlüge Gott immer wieder alle unfere Verfuche, feinem gewaltigen Schaffen und Vernichten irgendeinen Sinn abzugemwinnen, wie ein Lehrer ein Konzept, das ihm der Schüler vorgelegt hat, zerreißt und ihm vor die Fuße wirft. Das Wiffen um die unüberfchreitbaren Grenzen, in die wir nach allem Gefagten mit unferem Nachdenken über die leßte Lebensfrage eingefchloffen find, das Herausgemworfenfein aus der fchwärmerifchen
Zuverficht, mit der wir ung pofitive oder negative Gedanken über den Sinn der Welt gemacht haben, ift die einzige Vorbedingung, die erfüllt fein muß, wenn wir in der Lage fein follen, auf die Chriftusbotfchaft zu hören. Wir find damit noch nicht Glaubende geworden, aber unfer Ohr ift für die Botfchaft geöffnet. Wir find in der Haltung, die Jeſus meint, wenn er fagt: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Solange jene negative VBorausfeßung noch nicht erfüllt ift, erfcheint uns die Botfchaft des Neuen Teftaments als eine Antwort auf eine Frage, die für ung gar Feine Frage ift, alfo als eine „Zorheit“, als etwas, auf das zu hören fich iiberhaupt nicht lohnt. Es handelt fich hier nur um eine negative Vorbedingung. Aber nicht einmal diefe koͤnnen wir ſelbſt herbeiführen. Wir Eönnen nicht
felbft aus der fäfularen Haltung heraustreten, in der wir gefangen find. Wenn wir aus diefem Zuftand herausgeworfen werden, ift etwas mit ung gefchehen, das wir, wenn wir Dogmatifch fprechen wollen, ſchon als eine Offenbarung im allgemeinen Sinne des Wor⸗ tes (revelatio generalis) bezeichnen müffen. Es ift das Aufgefchloffen: werden der Frage, auf die wir felbit Feine Antwort finden Eönnen, auf die nur Gott felbft antworten kann, wenn es überhaupt eine Antwort auf diefe Frage gibt. Hat uns Gott mit einer Antwort auf diefe leßte Lebensfrage befchenkt und fehauen wir von da auf unfer bisheriges Leben zuriick, wird uns Elar, daß fehon das Erwachen der Srage, auf die wir eine Antwort befommen haben, eine Wirkung des Geiftes Gottes ift, und zwar auch dann, wenn das Erwachen diefer Trage zunächft in den Atheismus hineingeführt hat, weil dabei alle
Göttervorftellungen und Gottesgedanken zufammengebrochen find, die wir von anderen uͤberkommen oder uns felbft zurechtgemacht haben.
4. Die
Unerkennbarkeit
Gottes
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Dieſes Herausgeworfenwerden aus der Sicherheit, mit der wir bis dahin Gott verneint oder vorfchnell bejaht haben, Fann durch
alles ausgelöft werden, was unfer Leben mit fich bringt. Ein Menfch wie Tolftoi Fann im Mittag feines Lebens auf der Höhe des Ruhmes und des Erfolges bei Förperlicher Gefundheit und geiftiger Rüftigkeit von der unlösbaren Frage überfallen werden: Wozu das alles und was dann? Die Frage Fann auch unter einem betäubenden Schickfalsfchlag erwachen, der ung alles nimmt, was unjerm Leben Sinn gegeben hat. Die Ewigkeitsfrage Fann wie bei Pascal durch philofophifche Reflerion über das Unendlichfeitsproblem ausgelöft werden oder im praftifchen Lebenskampf auf dem Schlacht: feld eines Weltkrieges. Sie kann in der Sphäre einer hochentwicelten Religion wie Iflam oder Buddhismus entftehen, fie kann aber auch mitten in einer atheiftifchen Haltung wie eine plößliche Kataftrophe ausbrechen. Immer wenn die große Unficherheit über einen Menfchen fonımt, wenn die Grundlagen fchwanfen, auf denen er fein big: heriges Leben aufgebaut hat, ift er imftande, auf die Botſchaft des Chriftus wenigftens einmal zu hören. Denn diefe Botfchaft wendet
fih an Menfchen, die willen, daß fie fich in der letzten Lebensfrage, in der Frage nach dem Schöpfer, der unferem Leben die Richtung gibt, nicht felber führen koͤnnen.
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II. Die Herrſchervollmacht des Chriſtus 5. Selbftführung
oder Führung
durch einen andern
Um das Wefen des Chriftentums zu verftehen, müffen wir von einer Tatfache ausgeben, die wir auch dann als hiftorifches Faktum anerkennen müffen, wenn wir fie nicht begreifen oder wenn wir fie als eines der verhängnisvollften Ereigniffe der Gefchichte Europas anfehen. Das Chriftentum ift dadurch entitanden, daß eine Eleine, aber allmählich wachfende Schar von Menfchen zu der Gewißheit Fam: Es gibt einen Weg, auf dem wir aus allen unbeftimmten Gottes—
ahnungen und aus der laftenden Ungemwißheit über das Weltgeheim⸗ nis herausfommen fünnen. Diefer Weg befteht nicht darin, daß wir uns durch Schlüffe aus Natur und Gefchichte eine Vorftellung vom Mefen Gottes zu bilden fuchen oder durch myſtiſche Verſenkung in den Indifferenzzuftand in Gott untertauchen. Der Weg zur Gewißheit um Gottes Wefen und Wollen beiteht vielmehr darin, daß wir ein
für allemal aufhören, uns in diefer Frage felbft zu führen, daß wir uns vielmehr mit allen unferen Gedanken über die legte Lebensfrage und mit allen Lebensentfcheidungen, die fich daraus ergeben, ent: fchloffen unter die Führung eines Mannes ftellen, den Gott für uns alle, die wir nach feinem Auftreten leben, zum „Herrn“ beftimmt hat, Diefer Mann ift Jeſus von Nazareth. Wenn wir nicht an die Sprache und Ausdrucksweiſe des Neuen Teftaments von Jugend auf gewöhnt wären, wenn wir diefes Buch
vielmehr neu entdeden würden, würde uns ftärker, als dag jeßt der Fall ift, die Tatfache auffallen, die der neuteftamentlichen Literatur
troß aller Verfchiedenheit der Lehrtypen ein gemeinfames Gepräge gibt, nämlich die Tatfache, daß hier Menfchen zu uns fprechen, die
2. Selbstführung oder Führung durch einen andern
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auf ihr Selbftbeitimmungsrecht verzichtet und ihr Leben in die Hand eines andern gelegt haben, von dem fie auch nach feinem Tod über:
zeugt find, daß er bei ihnen fein wird alle Tage bis an der Melt Ende, Wir koͤnnen dabei die religionsgefchichtliche Frage vorläufig noch beifeite laſſen, wie e8 zu der Formel „Herr ift Jeſus“ (vUproc ’Inoods
1. Kor, 12, 3) gefommen ift, in der die junge Chriftengemeinde unter dem Einfluß der Ummelt und der Septuaginta offenbar fehon fruͤh das Verhältnis ausdrücte, in dem fie zu ihrem Meifter ſtand. Es fommt uns zunächft nur darauf an, die innere Haltung ins Auge zu faffen, die zu dieſem Bekenntnis geführt hat. Die Menfchen, die im Neuen Teſtament zu uns reden, wiffen fich von einer beftimme
ten Zeit ihres Lebens an von jenem andern gerufen, Er hat fie auf: gefordert, ihr ganzes Leben lang hinter ihm herzugehen und in die Fußſpuren zu treten, die er hinterlaffen hat. Wenn fie deshalb verfolgt
werden, fo leiden und fterben fie nicht auf eigene Verantwortung, fondern tragen ihm ihr Kreuz nach, Es find Leute, „die dem Lamme nachfolgen, wohin es auch immer gehen mag” (Dffenb. Joh. 14, 4: oUror ol &roAoudodvres T@ Apvim Örov Av öonayn), Wenn fie eine ander grüßen oder fich freuen, jo tun fie es „in ihm”. Wenn fie einander beleidigt haben und fich wieder ausfühnen, verzeihen fie einander „vor dem Angeficht Chrifti” (2. Kor. 2, 10). Sie wiſſen fich
als Glieder an feinem Leibe, Ihre Bewegungen find aljo jo von ihm geleitet, wie die Handbewegungen oder die Schritte, die ein Menfchen: förper macht, vom Willen diefes Menfchen geleitet find. Ste fterben „mit ihm” und werden „mit ihm“ wieder lebendig gemacht, um dann „bei ihm” zu fein allezeit. Wenn diefes Geleitetwerden durch einen andern, von dem die eriten Chriften fprechen, fich wirklich auf die ganze menfchliche Eriftenz erftreckt, kann es fich nicht bloß auf das Wollen und Handeln be fchränfen. Esmuß auch die andere Seite des menschlichen Dafeins mitumfaffen, nämlich das Erkennen. Die Männer, die im Neuen
Teftament zu ung reden, haben darum offenbar auch ihr ganzes Gedankenleben in die Hand diefes andern gelegt. Die Fragen nach dem Sinn der Schöpfung und nach dem Urgrund und Endziel des Weltgeſchehens werden nicht dadurch gelöft, daß man darüber
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II. Die Herrschervollmacht des Christus
fpefuliert und fich eigene Gedanken darüber macht. Soweit dieſe Veßten Fragen der Erkenntnis überhaupt beantwortet werden können, erhalten fie ihre Antwort dadurch, daß es innerhalb des vom Geift Chrifti geleiteten „Chriftusleibs”, den die Gemeinde darftellt, nach 1. Kor. 12, 8 auch „Wort der Weisheit” (Aöyos ig ooplas) und „Wort der Erkenntnis” (Aöyos this Yvacswz;) gibt als pneumatifches Geſchenk, das Feiner fich felbit erwerben fann. Wenn Paulus Rom, 11 den Plan der Völfergefchichte durchfchaut, teilt er das, was ihm hier aufgegangen ift, der Gemeinde als ein „Geheimnis“ (nuornprov®.25) mit, das ihm erfchloffen wurde, Der Prolog des Johannesevangeliums und die erften Kapitel des Ephefer- und Kolofferbriefs find Beifpiele eines unter der Erleuchtung Chrifti ftehenden philofophifchen Denkens. Was diefen Männern Über den legten Sinn von Natur und Geschichte aufgegangen ift, hat Chriftus ihnen erfchloffen. Was er ihnen verborgen hat, weil fie es „noch nicht tragen“ koͤnnen, in das wollen fie auch nicht eigenmächtig eindringen. Che wir darüber |prechen, was der andere uns zu fagen hat, in deflen Hand diefe Menfchen ihr Denken und Wollen gelegt haben, und wie fich feine Führung auf allen Lebensgebieten auswirkt, was fie für die theologifche Erkenntnis bedeutet und wie fich von da aus die Sinnfrage, die Schuldfrage und die Frage nach der Weltzufunft löfen, müffen wir die Grundhaltung felbft ins Auge faffen, die damit als Schlüffel zur Löfung aller Fragen bezeichnet ift und die darin beiteht, daß wir bei allen unferen Lebensfunftionen die Führung
einem andern in die Hand gegeben haben. Luther hat im Kleinen Katechismus bei der Erflärung des zweiten Glaubensartifels in dem gewaltigen Saß, den man fchon den ſchoͤn— ften deutfchen Sag genannt hat, alles, was über die Welterlöfung
und Weltvollendung durch Chriftus gefagt ift, als einen einzigen großen Relativfaß der einen Yusfage untergeordnet, deren bloße Entfaltung er fein will: „Daß Jeſus Chriftus ... fei mein Herr.”
Was Luther Damit meint, wird deutlich, wenn er in anderem Zuſam⸗ menhang jagt: „Chriftus ift mein unmittelbarer Bifchof, Abt, Prior, Herr, Vater und Meifter; einen andern Fenne ich nicht.” Die Haltung, die damit gemeint ift, das Stehen unter der Führung
5. Selbstführung oder Führung durch einen andern
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eines andern, fteht offenbar im Gegenfaß zu der andern Grundhaltung, in der wir uns alle von Natur befinden und die faft allen außer: chriftlichen Lebensanfchauungen gemeinfam ift, der Haltung, in der wir uns felbit führen. Wenn ich mich felbft führe, fo bedeutet das nicht, daß ich den Inhalt, der mein Wollen trägt, felbft hervorgebracht habe, Es ift ſehr wohl möglich, daß ich das, was meinen Lebensinhalt ausmacht, etwa die Volfsgemeinfchaft, für die ich Yebe, oder den Kulturfortichritt, an dem ich mitarbeite, oder was es fonft fein mag, nicht ſelbſt gefchaffen habe. Er kann mir fehon mit meiner Geburt als Gefchent in die Wiege gelegt fein. Aber für die Führung meines Lebens kommt es nicht darauf an, wo der Inhalt herfommt, der mein Wollen beftimmt, ob ich ihn felbft ent— worfen und ausgedacht oder von anderswoher empfangen habe, Die Trage ift nur Die, von welcher Stelle aus diefer Wert in Geltung gefeßt wird, Denn daraus, daß ich etwas von meinen Vätern ererbt oder als Beitandteil meines Wefens empfangen habe, folgt noch nicht, daß es die Grundlage für alle meine Entfchlüffe bilden müßte. Ich könnte auch die fchwere Aufgabe haben, allem abzufagen, was ich Habe, mich unter taufend Schmerzen loszureißen von dem Mutterboden, aus dem ich herausgewachfen bin und in dem ich mit allen Fafern wurzle, um mich in eine andere Welt verpflanzen zu laſſen. Wenn ich das
nicht für notwendig halte, fondern im Gegenteil meine Wurzeln fo tief wie möglich in diefen Mutterboden einſenke, um Kraft daraus zu ziehen, ift mir diefe Haltung nicht einfach dadurch vorgezeichnet, daß ich mich fchon im Beſitz diefer Werte vorgefunden habe, Denn nun entfteht erft die Frage: Soll ich diefen Werten abfagen, fie wie Paulus „für Schaden und für Kot achten”? Oder follen fie für alle Zukunft in Geltung bleiben? Die Stelle, von der aus dieſe Frage entfchieden wird, ift die Stelle, von der aus ich geführt werde und nach der ich ausfchaue, wenn fich
mir Merte anbieten, die die Richtung meines Lebens beftimmen wollen. Hier find nur zwei Möglichkeiten vorhanden. Entweder ich führe mich felbft. Ich denke auf eigene Fauft und wähle die Werte felbft, die für meine Zufunft richtunggebend fein follen, Oder ich werde von einem andern geführt.
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
Wir faffen zunächft die erfte und nächftliegende Möglichkeit ins Auge. Solange ich mich felbft führe, können die Werte, die dabei in Geltung gefeßt werden, ganz verfchiedener Art fein. Es kann an und für fich alles Fundament meines Lebens werden, wortiber ich felbft verfügen kann, mag ich es felbft gefchaffen oder von anderwärts empfangen haben. Nur eins ift ausgefchloffen. Das tft eben das andere Ich, zu dem ich in Du-Beziehung ftehe. Denn ein Du ift
die einzige Wirklichkeit, die ich niemals beſitzen kann. Ich Fann zwar von einem Gedanken, den ein anderer ausgefprochen hat, von einem Gebot, das er gegeben hat, von einem Programm, das er aufgeftellt hat, Beſitz ergreifen und es fiir mich felbft in Geltung feßen. Aber ihn felbft kann ich niemals in Beſitz nehmen. Zu ihm ſelbſt habe ich immer nur fo weit Zutritt, als er fich mir erfchließt. Solange ich mich felbft führe, kann ich alfo alles zur Grundlage meines Lebens machen, nur nicht ein anderes Ich. Das, wovon ich lebe, muß Daher außerhalb der Du⸗Beziehung liegen,
Innerhalb der damit gefteckten Grenze gibt es aber eine ganze Menge von Möglichkeiten. Ich erwähne nur die wichtigften. Die Grundlage, die mein Leben trägt, kann die ganze objektive Wirklich: feit fein. Ich vertiefe mich in die Lebensordönungen und Entwiclungs: gefeße, von denen der bisherige Weltlauf beherrfcht war. Ich vertraue mich dem mächtigen Strom der Wirklichkeit an und laſſe mich von ihm tragen. Ich mache feinen Verfuch, gegen den Strom zu ſchwim⸗ men. Die Stoifer nannten das secundum naturam vivere, Sie dachten Dabei an die fich immer gleichbleibenden Grundgefeße der Naturordnung. Im 19, Jahrhundert wurde für weite Kreife nicht die ruhende Naturorönung, fondern die bewegte, fich fortentwickelnde
Wirklichkeit die Lebensgrundlage. Man wollte mitarbeiten am Welt: aufftieg und Kulturfortfchritt der Menfchheit. Dadurch wurde die objeftive Wirklichkeit, der man fich anvertraute, aus einem Mechanis: mus, der fich nach unabänderlichen Gefeßen bewegt, ein Organis— mus, der fich weiterentwickelt und unbegrenzte Möglichkeiten in fich trägt. Mag ich mich einer ruhenden oder einer bewegten Wirklichkeit Hinz geben — folange ich mich von der Wirklichkeit tragen laſſe, ohne
5. Selbsiführung oder Führung durch einen andern
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überhaupt zu fragen, was mir das Necht gibt, mich ihr gläubig anzuvertrauen, führe ich mich felbft. Denn diefe Hingabe an die Grundorönungen des bisherigen Weltlaufs ift ja nicht die einzige Möglichkeit, die es für mich gibt. Ich könnte mich auch gegen diefe Ordnungen auflehnen. Wenn ich das nicht tue, fo bin ich dazu nicht durch die Verhältniffe gezwungen worden, fondern ich bin es felbft, der den Akt der vertrauensvollen Hingabe an die Wirklichkeit voll: zogen bat und immer aufs neue vollzieht. Ich muß mich felbft ent:
weder durch einen bewußten Entfchluß oder aus unbewußter ftarfer Vitalität heraus immer aufs neue für diefe reftlofe Bejahung der Mirklichkeit in ihrer bisherigen Geftalt entfchieden haben.
Eine zweite Form der Selbjtführung befteht darin, daß wir eine Lebensregel haben, etwa ein ausführliches gefchriebenes Gefeß, eine Klofterregel oder einen Rechtskodex, der unfer ganzes Leben ordnet und umfpannt. Ein folches Gefeß wird in den meiften Fällen nicht in Vorfägen beitehen, die wir felbit gefaßt haben, fondern das Gebot eines andern fein. Troßdem fommen wir Dabei nicht unter die Fuͤh— rung eines andern. Denn das Gebot läßt fich Ioslöfen von der Du: Beziehung zum Gefeßgeber. Ich kann nach einem Gefeß leben, ohne überhaupt zu wiffen, wer es erlaffen hat, Es hat fich vom Gefeßgeber gelöft und ift zu einer felbftändigen, in fich ruhenden Größe geworden, die ich in meinem eigenen Befiß haben fann, ohne von jemand ab-
haͤngig zu fein. Eine weitere Form der Selbftführung befteht darin, daß ich ein Zufunftsprogramm habe, an deffen Verwirklichung ich mitarbeite, oder eine Idee, die mich leitet, ein Ideal, das mir vor Augen ſchwebt, einen abitraften Wert oder eine Wertffala, an der ich mich orientiere. Yuch bei den Ideen und Weltreformprogrammen waren e8 immer beftimmte Verfönlichkeiten, die fie zuerft gefchaut, eindrucksvoll ver treten und in fich verförpert haben. Ihre Geltung tft indes unabhän: gig von diefen Menfchen, wie die Geltung der euklidifchen Geometrie davon unabhängig ift, wer ihrerfter Entdecker war. Ich Bann von dieſen Gedanken Ieben, ohne in eine Du-Beziehung zu kommen, wie ich uͤber eine Bruͤcke gehen kann, ohne zu wiffen, wer fie erbaut hat. Bei allen diefen Formen der Selbftführung fann eine große ges
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
fehichtliche Perfönlichkeit eine wichtige Rolle fpielen. Sie kann der
Prophet fein, der das Zufunftsprogramm zum erftenmal gefchaut hat. Sie kann der Kopernifus oder Euklid fein, dem wir diefe Wahr: heit verdanken. Sie kann auch die foßratifche Hebammenfunft aus: gebt und die fchlummernde Erinnerung ans Tageslicht des Be— wußtfeins gehoben haben. Troßdem gleicht der Wert, den ich einem folchen Entdecker oder Propheten verdanfe, nicht einem Planeten,
der fein Licht jeden Augenblick neu von der Sonne empfängt, der fofort erlöfchen würde, wenn die Sonne nicht gegenwärtig wäre oder ihren Schein verloren hätte, Diefer Wert gleicht vielmehr einem Firftern, der mit eigenem Licht leuchtet. Er bedarf Feines Du, von dem er feine Leuchtkraft empfängt. Zu allen diefen Formen der Selbitführung, fo reich und mannig=
faltig fie fein mögen, fteht die Haltung im Gegenfaß, die nach dem Zeugnis des Neuen Teftaments allein imftande ift, ung von dem Nihilismus zu retten, in dem alle Verfuche enden müffen, die wir Menfchen gemacht haben, uns felbit zu führen. Wenn ich mich nicht mehr felbit fteure, wenn mein Schieffal in der Hand eines andern
ruht, der mein Herr ift, können dabei, objeftiv betrachtet, alfo von außen gefehen, weithin ähnliche Entfcheidungen fallen wie bei der
entgegengefeßten Haltung der Selbitführung. Es Eönnen diefelben Gebote und Werte und Leitgedanfen in Kraft treten, Werte wie etwa die Naturordnung oder das Volfstum oder der Gedanke der Bruder: ſchaft zwifchen allen Menfchen. Aber die Stelle, die diefe Werte in Geltung feßt, ift eine andere geworden. Ich habe es nicht mehr in meiner Gewalt, ob diefe Werte immer newin Kraft treten. Ich lebe
in der Gegenwart eines andern. Vor ihm find gleichfam jeden Augen⸗ blick alle Werte auf die Waage gelegt. Er beftimmt immer aufs neue das Gewicht, das fie für mich haben follen. Er kann, wenn er will,
eine jo unbeftrittene und anerkannte Eriftenzgrundlage wie den Familienzuſammenhang fouverän außer Kraft feßen und fagen: „So jemand zu mir fommt und haft nicht feinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schweitern, auch dazu fein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger fein“ (Luk. 14, 26). Er kann dem, der ihm nach: folgen will, verbieten, feinen Vater zu begraben,
5. Selbstführung oder Führung durch einen andern
59
Die neue Lebensgrundlage, auf die wir geftellt find, wenn wir die Selbitführung aufgegeben haben und unter die Gewalt eines andern gekommen find, drückt Paulus prägnant aus, wenn er fagt, er fei Evvonos Xprorod geworden (1. Kor. 9, 21). An die Stelle der altteftamentlichen Thora, die er bisher als Lebensregel befaß, ift jeßt eine lebendige Norm, Chriftus, getreten. Diefe Abhängigkeit von einem lebendigen Ich an Stelle einer
verfügbaren Lebensregel ift im Johannesevangelium gemeint, wenn Chriſtus unter den vielen Ich-Worten auch den für die erften Hörer befonders ſchwer verftändlichen Sat ausfpricht: „Ich bin der Weg.” An der Stelle, wo beim gewöhnlichen Menfchen der Lebensweg fteht, die vorgezeichnete Richtung, die in irgendwelchen Regeln, Zielfeßun: gen oder Idealen zufammengefaßt ift, an diefer Stelle fteht jeßt etwas ganz anderes, nämlich ein Ich, das von uns fordert, ihm zu folgen, wo immer es mit uns hingeht. Chriftus will nicht bloß der fein, der die Straße anlegt und die Brücke baut, er ift felbft die Straße
und die Brücke, Er ift der Meg. Immer wenn die neuteftamentlichen Zeugen von der Herrfchaft Chrifti fprechen, die fie als etwas Neues und Unerhörtes erfahren, wird der Gegenfaß deutlich, in dem dieſes perfönliche Geführtwerden zu jeder andern Art von Führung fteht, von der fie herfommen, Diefes Geführtwerden ſchließt alle andern Arten der Lebensgeftaltung aus. Hier ift kein Sowohl -Alsauch möglich, fondern nur ein Entweder-
Dder. Wenn Paulus die große Verwandlung fehildert, die er unter dem Einfluß Sefu erlebt hat, fpricht er es in den ftärkften Worten aus, die ihm Überhaupt zu Gebote ftehen, wie wertlos ihm jeßt alles gewor⸗ den ift, was ihm bisher Gewinn war, feit ihm das „Sein in Chrifto“ als die neue große Möglichkeit für uns Menfchen aufgegangen ift. Befchneidung, Raffenreinheit, Stammeserbe, Pharifäismus, tadelloſe Gefeßeserfüllung, „alles“, fagt er „habe ich um des Chriftus willen für Schaden geachtet und achte noch alles für Schaden, um der Überfchwenglichkeit der Erfenntnis Chrifti Jefu willen, meines Herrn, um des willen ich alles für Schaden erachtete und halte es für Kot, auf
daß ich Chriftum gewinne und in ihm erfunden werde” (Phil. 3,7 ff.)Diefer ausfchließlihe Gegenfaß zwifchen dem Geführtwerden
60
II. Die Herrschervollmachi
des Christus
durch Chriftus und allen bisherigen Werten und Lebensnormen beruht nicht auf dem inhaltlichen Unterfchied zwifchen den Taten, die beidemal gefchehen, Chriftus kann etwas befehlen, das die reine Erfüllung altteftamentlicher Vorfchriften ift. Er kann, wie in der Chefcheidungsfrage, auf eine Urordnung der Schöpfung zurückgehen. Troßdem hat die Handlung einen völlig anderen Gehalt, wenn fie um feinetwillen gefchieht, als wenn wir damit ein Gebot oder eine Ordnung um ihrer felbit willen befolgen wollen. Daß die Führung durch Chriftus mit jeder anderen Führung une vereinbar ift, beruht auch nicht darauf, daß die Selbitführung Frei: heit und Selbftverantwortung wäre, die Führung durch Chriftus dagegen fElavifche Unfelbitändigkeit, Kadavergehorfam, Imwangs: arbeit und Aufgabe der eigenen Verfönlichkeit. Wohl kann fich Paulus immer wieder einen Sklaven Chrifti nennen, um an diefem Ichlagenden Beifpiel aus der antiken Gefellfchaftsorönung die Ab— hängigfeit zu veranfchaulichen, in der er vor ihm fteht. Uber eben— fooft ift für ihn der Dienit Chrifti — im Gegenfaß zur Sklaverei des Geſetzes, der Sünde und des eigenen Ich — die große Befreiung des Menfchen aus allen Zwangsverhältniffen, die Erlöfung zu einem Leben aus innerfter Freiwilligkeit heraus. „Wo der Geift des Herrn it, da iſt Freiheit” (2. Kor, 3, 17). In feinem Dienft erhalten wir Einblick in „das vollfommene Gefeß der Freiheit” (Jak. ı, 25). Denn - darüber wird fpäter noch deutlicher gefprochen werden muͤſſen - in Chriftus erfchließt fich uns der verhuͤllte Sinn der
Schöpfung. Seine Befehle find darum Feine Vergewaltigung, die von außen her über ung kommt. Wenn Chriftus zu uns kommt, fo
fommt er vielmehr „in fein Eigentum“ (Joh. ı, 11). Unter feinen Worten wird uns unfere eigene uns felbft verborgene wahre Natur enthüllt. 6. Das urdhriftliche Bekenntnis: „Herr ift Sefus“ Daß der Dienft Chrifti jede andere Führung in der leßten Lebens:
frage ausschließt, das kommt alfo weder vom inhaltlichen Gegenfaß zwifchen feinen Weifungen und allen anderen Lebensprogrammen
6. Das urchristliche Bekenntnis: „Herr ist Jesus“
61
noch vom Gegenfaß zwiſchen Freiheit und Zwang. Es beruht einfach auf dem Wefen der Führung. Denn welche religionsgefchichtlichen
Wurzeln auch immer der neuteftamentliche Begriff der Führerfchaft oder der „Herrichaft” Haben mag, auf alle Fälle gehört es zum Weſen der Herrfchaft oder Führergewalt, daß die Führung immer nur von einer Stelle ausgehen kann, niemals von zwei oder mehreren Stellen zugleich, Das tft in dem Jeſuswort von der Unmöglichkeit eines doppelten Dienftes unzmweideutig ausgedrückt: „Niemand kann zwei Herren dienen, entweder wird er den einen haffen und den andern Vie: ben; oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten“ (Mtth. 6, 24). Der König einer Eonftitutionellen Monarchie oder eines parlamentarifch regierten Landes, der die Gegenzeichnung eines Minifteriums oder die Zuftimmung eines Parlaments braucht, um einen Befehl zu erlaffen, ift alfo fein „Herr“ in dem antiken Vollfinn des Wortes, den Jeſus hier vorausfeßt. Denn bei diefen neugeitlichen Verfaffungs: formen geht die Führung nicht von einer Stelle aus, fondern von mehreren Stellen zugleich. Iſt Jeſus für ung der Herr in dem eindeutigen Sinne des Worts, in dem er felbit das Wort in der Bergpredigt gebraucht, kann feine Herrſchervollmacht nicht als zweite Inftanz zu einer eriten Inftanz
binzutreten, die uns unabhängig von ihm Weifungen gibt. Denn dann wirrde die Führung nicht von einer Stelle, fondern von zwei Stellen ausgehen, die in einem Xdditionsverhältnis zueinander ftünden. Wenn daher Sefus unfer Herr ift, fo muß er erft jede Norm, die ohne ihn da tft, und jeden Wert, der ohne ihn gilt, für uns in Geltung feßen. Wir fönnen nicht etwa von einer Naturorönung ausgehen, Die unabhängig von ihm für uns bindend ift, und dann hinterher die Wei: fung Jeſu als Ergänzung und Beftätigung zu dem hinzutreten laflen, was wir ohne ihn aus der „Schöpfungsordnung” wiſſen. Damit verfuchen wir, zwei Herren zu dienen, und haben aufgehört, Jefus als Herren anzuerkennen. Denn wenn er der Herr ift, hat er allein dariiber zu entfcheiden, welche Naturordnungen wirklich „Schöpfungsordnungen‘ find, Mir koͤnnen uns auch nicht unabhängig von Jefus ein Bild von
62
II. Die Herrschervollmacht
des Christus
der Struftur der menfchlichen Eriftenz machen und von dort feine Reifungen interpretieren. Denn wenn er der Herr ift, kann nur er uns unfer wahres Wefen auffchließen. Mir fönnen auch nicht zunächft die ganze Weltgefchichte bis zum Auftreten Jefu oder einen Teil derfelben — etwa die Gefchichte Ifraels und das Alte Teftament als Urkunde dieſer Gefchichte — als Gottesoffenbarung anerkennen und dann zu Chriftus kommen und in ihm den fehen, der die Offenbarungs⸗ gefchichte vollendet und vertieft. Damit find wir zwar offenbarungs= gläubig, aber wir haben Jefus nicht als den Herrn anerkannt, ſon— dern den unmöglichen Verfuch gemacht, zwei Herren zu dienen. Denn wenn Sefus der Herr ift, kann ein bisheriges Stück Gefchichte oder
eine vor feinem Auftreten vorhandene Urkunde nicht unabhängig von ihm Offenbarungswert erhalten. Sie kann für uns, die wir Chriftus
angehören, nur durch ihn in Geltung gefeßt werden. Denn die Führung fann immer nur von einer Stelle ausgehen, nie von zwei Stellen zugleich. Damit hängt eine zweite Eigentünmlichkeit der Führerfchaft zuſam— men, die ebenso felbitverftändlich ift wie die erfte, von der wir eben gefprochen haben. Ich kann nur von jemand geführt werden, der mit
mir gleichzeitig ift. Nur ein Gegenwärtiger kann mir befehlen. Von einem Vergangenen kann ich Gebote, Lebensregeln, Programme, Werte, Zielfeßungen übernehmen, mir aneignen und für mich in Geltung ſetzen. Wenn ich das tue, werde ich nicht von ihm geführt, jondern ich führe mich felbit. Denn alles, was ich von einer VPerfönlich-
feit der Vergangenheit übernehme, mag es ein alter Befiß fein oder ein Grundfaß oder ein Lebensprogramm, iſt ein Es, das ich „erfahre und gebrauche”, das ich alfo in meiner Gewalt habe. Solange ich es aber nur mit Gegebenheiten zu tun habe, zu denen ich im Ich-Es— Verhältnis ftehe, verfüge ich noch uͤber mich felbft. Ich habe mein
Leben noch nicht in die Hand eines andern gelegt, der über mich ver:
fügt. Das iſt nur innerhalb der Ich-Du-Beziehung möglich. Diefe feßt Gfeichzeitigkeit voraus. Wenn das richtig ift, dann kann das Bekennt—
nis „Herr iſt Jefus“ überhaupt nicht in überzeitlicher Allgemeinheit ausgefprochen werden, fondern immer nur von Menfchen, die in
6. Das urchristliche
Bekenntnis:
„Herr
ist Jesus“
63
einer beftimmten Zeit leben und überzeugt find, daß Jeſus mit ihnen in diefer Zeit lebt und als Gleichzeitiger mit ihnen fpricht. Der
Hebräerbrief unterfcheidet darum deutlich die gegenwärtige Zeit, in der Gott durch Chriftus als den von ihm bevollmächtigten Herrn zu ung ſpricht, die heute leben, von der früheren Zeit, in der Gott zu fruͤ— heren Gefchlechtern durch andere gefprochen hat, die damals lebten. „Nachdem Gott einftmals auf vielfache und vielartige Weife zu den
Vätern geredet hat durch die Propheten, hat er im letzten Teil diefer
Tage zu ung geredet durch den Sohn“ (Hebr. 1, 1). Wenn wir alfo Jefus als unfern Herrn anerkennen, befteht für ung durchaus die Möglichkeit, daß vor dem Auftreten Jeſu Menfchen lebten, die unter andern Führern ftanden, die mit ihnen ebenfo gleich: zeitig waren, wie Jeſus mit uns gleichzeitig ift. Aber was vor der Erfcheinung Chrifti möglich war, das ift für ung, die wir in der Chriftuszeit leben, nicht mehr möglich. Zu uns fpricht Gott „Durch den Sohn“. Die Worte, die die Propheten zu den „Vätern“ fprachen,
werden für uns nur dadurch in Geltung gefeßt, daß der gegenwärtige Chriftus uns „die Schriften öffnet” (Luk. 24, 32). Denn Führung gibt es nur, wenn der Führer und die Geführten einander auf der Ebene der Gegenwart begegnen, und das befagt: im Verhältnis der Sleichzeitigkeit zueinander ftehen. Wir fehen, daß zum Weſen der Führerfchaft zwei Eigentümlichfeiten gehören, die fich fehon aus dem einfachen Wortfinn des Begriffs „Herr“ ergeben: ı) Die Führung fann immer nur von einer Stelle ausgehen, nie von mehreren Stellen zugleich. 2) Der Führer muß
ein gegenmwärtiges Du fein, das im Gleichzeitigfeitsverhältnig zu den Geführten fteht. Diefes Ergebnis wird durch die Unterfuchungen beftätigt, die in der leßten Zeit über die Herkunft des urchriftlichen Bekenntniffes „Herr ift Jeſus“ angeftellt worden find. Der Sinn des Bekenntniffes „Herr ift Jeſus“ ift feit Bouffets Werk „Kurios Chriftos” Gegenftand einer lebhaften Ausiprache geweſen,
in die Deißmann, Kattenbufch, Böhlig, Althaus und Werner Soerfter eingegriffen haben (leßterer durch feine eingehende Studie „Herr ift Jeſus“, Neuteftamentliche Forfchungen, herausgegeben von Dtto Schmig, 2. Reihe Heft 1. Vgl. auch den Artikel xupros von Werner
64
II. Die Herrschervollmacht
Soerfter im „Theologifchen herausgegeben von Gerhard man fehon heute mit allem bei Markus auch nur einmal Sprophönikerin, läßt fich die
des Christus
Wörterbuch zum Neuen Teſtament“, Kittel, Bd. IV 1038 ff). So viel wird Vorbehalt fagen dürfen: Wenn Jeſus Herr genannt wird, und zwar von der Behauptung Bouffets doch nicht halten,
dieſe Bezeichnung fei erft in der helleniftifchen Gemeinde in Antiochien
aufgefommen und es koͤnne damit von vornherein. nur ein göttliches Mefen gemeint fein, das der Mittelpunkt eines Kultvereins war und über das fich dann eine Kultlegende bildete, Das aramäifche Maran— atha, das bei Paulus ı. Kor. 16, 22 und dann in der griechifchen
Überfeßung Zpyov xUpıe (Komm „Herr!) Offenb. 22,20 und der Ausdruck „Bruder des Herrn” weiſen deutlich antiochenifche Gemeinde zurück nach Serufalem. In den £ulten, fo im Mithrags, Serapis= und Ifis-Dienft, fommt
vorkommt, hinter die Mopfterien: der Name zwar vor, aber nicht fo häufig und ausschließlich, wie man es erwarten follte. Wo er vorkommt, Scheint er, wie die anschauliche Schilde= rung des Apulejus in den Metamorphofen zeigt, den einfachen Sinn zu haben, daß das göttliche Wefen den Myſten in feinen Dienft ruft und diefer ihm in allem gehorchen muß. Im elften Buch der Metamorphojen hören wir immer wieder von imperia, nutus, monitum, jussus, obsequium, servitium, iugum, Der Myfte hat einen ſchweren Dienft auf fich genommen, der hauptfächlich im Meiden gewiffer Speifen und in fonftiger Enthaltfamfeit befteht und im Gehorfam gegenüber dem Befehl der Göttin, die fich Durch Träume und durch
Prieftermund Fundgibt. Die nächftliegende Parallele zur Anwendung des Wortes Herr auf Jeſus fcheint der römifche Kaiferkult zu fein, weil bier nicht eine Gottheit im Sinne der Mofterienreligionen, fondern ein gefchichtlicher
Menfch Herr genannt wird, Uber es ift ftarf beftritten, daß das Wort Kyrios oder dominus, wenn es auf den römifchen Kaifer angewandt wird, dieſen als ein göttliches Weſen bezeichnen will. Sueton berichtet von YAuguftus, er habe den Titel Kyrios ausdrücklich abgelehnt, weil er feine Untertanen nicht als Sklaven hinftellen wollte. Den Kaifer dominus zu nennen, erfcheint dem freien römifchen Buͤrger als nied⸗ rige Schmeichelei, die eines Römers unwuͤrdig ift. Der offizielle
6. Das urchristliche Bekenntnis: „Herr ist Jesus“
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Kaiferkult gilt nicht dem Kyrios, fondern dem Sebaftos. Wenn Chriften wegen Verweigerung des Kaiferkultes hingerichtet wurden, geſchah das nicht, weil fie dem Kaifer den Titel „Herr“ verweigert hätten. Als fich der Mundſchenk Neros zu Jeſus befehrte und vom Kaifer gefragt wurde: „Patroklos, auch du Fämpfft jeßt für jenen
König?”, da antwortete er: „Ja, Herr Kaiſer“ (vor xUpıe Kaioap). Nicht der Kyriostitel war alfo den Chriften anftößig - diefen Eonnten fie unbefangen in einem rein profanen Sinn gebrauchen -, fondern nur das Opfer, das dem Kaifer dargebracht werden mußte, Daß Auguftus nach Sueton die Anrede „Herr“ als eines freien Roͤmers unwuͤrdig ablehnte, daraus geht deutlich hervor, daß der antife Menfch zu des Auguftus Zeit bei dem Wort „Herr“ immer zu:
nächit an das Verhältnis zum Sklaven dachte, der das Eigentum des Herrn ift. Der profane Gebrauch des Wortes in der damaligen Zeit weift mithin in diefelbe Richtung wie der Gebrauch des Wortes in den Gleichniſſen der Evangelien. Kyrios bedeutet dort und hier einen unumfchränkten Eigentümer von Sachen, von Tieren und von Men: fchen, die feine Sklaven find. Es bedeutet in erfter Linie einen Haus: herren, der Gefinde hat. Dem entipricht es, wenn Jeſus (Luk. 6, 46) fagt: „Was nennt ihr mich Kyrios und tut nicht, was ich fage?” Der Ungehorfam fteht alfo im Widerfpruch mit dem Begriff des „Herrn“, deffen Eigentum der Sklave ift, dem er bedingungslofen Gehorfam
fchuldig ift. Ephefer 6, zff. wird zunächft den Sklaven gejagt, daß fie ihren Herren gehorchen follen, dann den Herren, daß auch fie wie ihre Sklaven einen Heren haben, dem fie denfelben Gehorfam ſchuldig find, den fie von ihren Sklaven erwarten. Der Ausdruck Kyrios wird darum von Paulus befonders gern gebraucht, wenn er von Befehlen fpricht, die der Herr erlaffen hat, fo 1. Kor. 7, 10. 12, 25 in der Ehe⸗
frage und 1. Kor. 9, 14 in der Frage, ob die Zeugen des Evangeliums ihren Lebensunterhalt felbft verdienen follen.
Dem entfpricht es, daß man die Botfchaft der Apoftel von der „Herrfchaft” Jeſu nach Apgfch. 17, 7 dahin mißverftehen konnte, als wollten fie fagen, ein anderer als der römische Cäfar fei der König,
dem alle Welt gehorchen müffe, nämlich Jeſus. 5 Heim, Jeſus der Herr
66
“II. Die Herrschervollmacht
des Christus
Bon da aus muß auch der Zufammenhang mit dem altteftament: lichen Jahwe-Namen verftanden werden, auf den Bornhäufer das entfcheidende Gewicht legt, wenn er fagt: „Die ganz ſelbſtverſtaͤnd⸗
liche, von ihm nirgends erft noch befonders begründete Übertragung von altteftamentlichen Stellen, die von Jahwe handeln, auf Jeſus beweift eg, daß dies der Sinn von ’Inooös xboroc ift” (8. Bornhäufer „zum Vetrusbefenntnis und zur Hohenpriefterfrage”, ©. 80). Wenn
mit dem Worte Kyrios VBollmachten auf Jeſus übertragen werden, die Jahwe im Alten Zeftament hat, kann das fchon nach dem bisher Gefagten nur bedeuten: Gott hat Jefus die unumſchraͤnkte Herrſcher⸗ vollmacht verliehen, die ihm ſelbſt zufteht, fo daß ihm alle Menfchen unbedingten Gehorfam fchuldig find. Diefer Gedanke wird 1. Kor. 15, 25 ff. ausdrücklich ausgefprochen. Es heißt dort: „Gott hat ihm alles unterworfen.” Das war nicht von Anfang an jo und wird auch nicht immer fo bleiben. Uber für eine beftimmte Zeit hat Gott ihm die höchfte Befehlsgewalt übertragen. In diefer Zeit ſoll das Ziel erreicht
werden, das dem gegenwärtigen Von geſteckt ift, daß ihm alfe Knie fich beugen und alle Zungen befennen follen, daß er der Herr ift. Nach Ablauf diefer Zeit fol er die Herrfchaft Gott zurückgeben. Mir mögen alfo den Kyrioskult aus den Mofterienreligionen er: klaͤren oder die römifche Kaiferverehrung als Parallele heranziehen oder auf den Sprachgebrauch der Septuaginta zurückgehen, die den
Jahwe-Namen mit xbpros wiedergibt, alle diefe Erklärungen weifen immer nur in die eine Richtung: Der Kyrios ift der Befiger und Gebieter, der eine unumfchränkte Befehlsvollmacht über diejenigen hat, die im Dienftverhältnis zu ihm ftehen. Diefe „Herrfchaft” kann
nur einer ausüben, nie zwei zugleich, weil fie einen Totalitätsanfpruch in fich ſchließt, und diefer eine muß ein Gegenwärtiger fein, weil das Dienftverhältnis eine Du=-Beziehung vorausfeßt. Fuͤr das Verftändnis deffen, was die Urgemeinde unter der Herr ſchaft Jeſu verftand, find wir heute mehr als frühere Gefchlechter oorbereitet durch das Erlebnis der dämonifchen Verzerrung echter Sührerfchaft, das wir auf nationalem und politifchem Gebiete gemacht haben. Was wir hier erfuhren und noch in furchtbarer Erinnerung haben, war auch feinem Anfpruch nach Feineswegs
6. Das urchristliche
Bekenntnis:
„Herr
ist Jesus“
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Sührerfchaft in dem unfere ganze Eriftenz umfaffenden Vollfinn, wie er in dem neuteftamentlichen Wort „Kyrios“ enthalten ift. Troßdem ift unfer Gefchlecht reifer für das BVerftändnis der Grundhaltung des Urchriftentums als die Zeit der Aufklärung und des deutfchen Sdealismus, weil es auf einem Gebiet, das Taufenden von Mens fchen wieder einen Lebensinhalt zu geben fchien, an der Geftalt eines unheimlichen Verführers einen negativen Anfchauungsunterricht darüber erhalten hat, was Führerfchaft heißt und daß wir der Führer fchaft bedürfen, weil wir nicht imftande find, uns felbft zu führen. Hier zeigte fich, wenn auch in einer entfeßlichen Karikatur, der aus:
ſchließliche Gegenjaß, in dem das Stehen unter der Führung zu jeder anderen Lebensgeitaltung fteht, bei der wir ung an einem unperfönlichen Wert orientieren. Denn die unerhörte Suggeftivfraft diefer perfönlichen Führerfchaft hing aufs engfte damit zufammen, daß wir feit dem Ende des erften Weltkrieges in eine Krifis aller unper: fönlichen Werte, Ideen und Weltanfchauungen geraten waren, wie fie in der Geiftesgefchichte noch nie dageweſen ift. Se £ataftrophaler der Kursſturz aller diefer Werte war, um fo ftärfer wurde das Bedürfnis nach dem wirklichen Führer, um fo mehr Eonnte der Sinn gefchärft werden für die Eigenart diefer neuen unmittelbaren Bin= dung, der gegenüber für Paulus nach Phil. 3 alle Lebenswerte, die ihm geleuchtet Haben, in Schatten verfinfen. Es ift erfchütternd, wie Edwin Erich Dwinger in dem Kriegs— buch „Zwifchen Weiß und Rot“ die innere Kataftrophe fchildert, in der unter dem Schickſal der Zeit nach dem erften Weltkrieg die Ideen ftarben, von denen man bisher gelebt hatte, fo daß ein Vakuum entftand. Während des hoffnungslofen Ruͤckzugs der deutſchen Kriegsgefangenen über die afiatifchen Steppen reitet der Berliner Artift an den Fähnrich heran: „Sagen Sie, Fähnrich, wiflen Sie noch, was
unfer Bockhorn, unfer guter Doktor, in Totzkoje am Heiligen Abend zu ung fagte? Er hielt doch eine Eleine Rede, ich weiß nur mehr, daß
fie fchön war, und wenn Sie mir...?” — „Doc, Hatſchek, das fann ich fchon! Er fagte dies: Ein Menſch, der nicht fähig ift, fich für eine Idee zu opfern, gleich welcher Art, ift im höheren Sinne noch fein
Menfch, Fam über die Tierftufe nicht hinaus. Wir tun hier das, was 5*
68
II. Die Herrschervollmacht
des Christus
erft den Menfchen ausmacht — leiden für eine Idee...” — „Ja“, fagte Hatſcheck dann, „er hatte recht, unfer Doktor Bockhorn! Das mals verftand ich es ja noch nicht, war es mir etwas zu hoch, fozu= fagen... Worte, dachte ich, fehöne Worte — ein neues Hemd wäre
praftifcher! Uber jeßt begreife ich es, wiffen Sie..., ja, es war leicht damals, eben darum, weil wir das hatten, was er fagte — eine Idee oder fo was ... Heute ift es viel fehmwerer, denn heute haben wir nichts mehr ... nichts, woran man fich halten kann! Und darum möchte ich fragen: Können Sie uns nicht fo etwas geben, wie Bock
horn fagte? Eine Idee oder fo was Ähnliches, fo was, wiffen Sie, bei dem e8 einem leichter wird, für das man dies hier alles beffer tragen könnte...?” — Er fpricht dann davon, daß es das Furcht: barfte ift, was es für einen Menfchen gibt, zu leiden ohne irgendeinen Sinn. Wenn wir feine Ideen mehr haben, für die wir leiden koͤnnen, das verzehnfacht unfere Qualen, Der Faͤhnrich befinnt fich, was er
fagen Fönnte, um feinem Gefährten die Lage etwas zu erleichtern, und kommt fchließlich auf die Idee: Wir leiden hier, damit nicht andere Menfchen in fpäteren Zeiten noch einmal fo furchtbar leiden muͤſſen. Uber er fühlt, daß diefer Gedanke nicht ausreicht, um die ungeheure Belaftung zu tragen, unter der feine Kameraden leben. Er empfindet das Vakuum, das entfteht, nachdem die lebten Ideen verblaßt find, von denen man in der Zeit des erſten Weltkrieges gelebt hatte. In den leeren Raum, der nach dem Ende des Krieges durch das Erföfchen der ganzen Ideenmwelt der Aufklärung, der franzöfifchen Revolution und des deutfchen Idealismus entftanden war, trat der neue Inhalt hinein, der als unfichtbarer Machtfaktor an die Stelle
alfer Ideen und Lebensprogramme treten follte: das Erlebnis der Sührerfchaft. Die großen Bewegungen wurden feitdem alle nicht mehr von Ideen getragen, fie Eriftalfifierten fich um irgendeinen Mann mit Führerqualitäten wie Lenin, Gandhi oder Muffolini. Was den Führer zum Führer machte, war nicht mehr das blaue Blut, die Eönigliche Herkunft, die glänzende Hofhaltung. Es war auch nicht ein Titel, ein Rang oder eine Beamtenftellung. Es wurde auch nicht durch Geld oder Verbindung mit der Hochfinang erworben. Was
' 6. Das urchristliche
Bekenntnis: „Herr ist Jesus“
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Millionen in Bewegung feßte, fo daß fie zufammenftrömten, fobald der Führer ſprach, was Taufende aufrief, daß fie fich ihm bedingungs— 108 zur Verfügung ftellten, war nichts, was fich von feiner Perſon Iosföfen ließ. Es war nur er felbft, „il Duce”, „der Führer”. Was ihn zum Führer machte, war nicht das Programm, das er durchzus führen verfprach, nicht die Weltanfchauung oder die Ethik, die er vertrat. Auch das ließe fich ja von ihm ſelbſt Ioslöfen. Die wahre Führerfchaft hängt nur an der Perfon des Führers. Wo echte Füh: rung vorliegt, haben fich ihm die Geführten bedingungslos ange: fchloffen. Sie haben ein grenzenlofes Vertrauen zu ihm gefaßt. Sie verlangen nicht von ihm, daß er fich auf ein Zufunftsprogramm feftlegt. Sie brauchen fein Kommando nur für die heutige Stunde, Sie brauchen noch nicht zu wiffen, was morgen gefchehen ſoll. Sie find ein für allemal in den „Zeuerring feiner Führerfchaft hineinge= fprungen”, haben fich auf Tod und Leben an ihn gebunden und ftehen zu feiner Verfügung. Er trägt ihr Schickſal in feinen Händen. Die Frage war nur, ob fich diefes Erlebnis der Führerfchaft, das der ganzen Zeit nach dem erſten Meltkriege das Gepräge gab und
dem gegenüber alle alten Ideen und Normen in Schatten zu verfinfen fchienen, fich als Wahrheit erwies oder als eine Maſſen— fuggeftion. Inzwifchen haben wir — wir fagten es fchon — einen Verführer von ungewöhnlichem Format erlebt, in dem Millionen son Menfchen die Erfüllung ihrer verborgenen Sehnfucht nach echter Führerfchaft gefunden zu haben wähnten. Heute wiffen wir Chriften
jedenfalls alle, daß das Ganze eine fatanifche Verführung größten Stiles war. Wir wiffen heute, daß auch auf politifchem Gebiet Fein Menſch die Vollmacht hat, die totale Führung über ein ganzes Volk oder auch die ganze Menfchheit in feiner Hand zu vereinigen. Jeder Berfuch, der in diefer Richtung gemacht wird, muß die Menfchen, die fich ihm unterwerfen, ihrer Perfönlichkeit und damit ihrer Menſchenwuͤrde berauben. Er führt nicht nur auf die Dauer zur politiſchen Kataftrophe, fondern bereitet auch dem Antichriftentum den Weg. Gerade weil wir diefe Tatfache am eigenen Leibe erfahren haben, find
wir vielleicht reifer als frühere Gefchlechter für das Verftändnis
deffen, was die Urgemeinde unter Herrfchaft Chrifti verftand, Am
70
II. Die Herrschervollmacht
des Christus
negativen Zerrbild einer fatanifchen Führerfchaft Fönnen wir das Weſen der echten Führerfchaft, wie fie uns im Neuen Teftament in den Yusfagen des Paulus über den boroc und Die xUpror entgegentritt, beffer als frühere Generationen erkennen. Zur Chriftusherrichaft verhält fich diefer religiögpolitifche Führerkult der jüngften Ver: gangenheit ähnlich, wie fich zum Chriftusglauben der Urgemeinde der heidnifche Kyrioskult verhielt, der in der Zeit der urchriftlichen Meltmiffion in mannigfacher Geftalt durch alle Länder um das Mittelmeer ging, als Verehrung von Heilgöttern wie Asklepios und Serapis und dann wieder als Menfchenvergötterung und Cäfarenkult, wie er fehon in jenem Paͤan anflingt, mit dem der fiegreiche Demetrios Poliorketes in Athen begrüßt wird: „Du bift der Kyrios!“ Paulus hat diefen Herrenkfultus ganz bewußt als Ausdrucdsmittel benußt für das Verftändnis der Herrfchaft Chrifti, wenn er 1. Kor, 8, Sff. fagt: „Denn wenn es fogenannte Götter gibt im Himmel und auf Erden, wie e8 ja viele Götter und Herren (Kyrioi) gibt, fo gibt es doch für uns nur einen Gott, den Vater... und nur einen Herrn
(Kyrios), Sefus Chriftus... .* Der Kultus der „Herren“ hat alfo eine eigene Kategorie gefchaffen, die Kategorie des Kyrios. Und diefe Kategorie findet in Chriftus ihre
Erfüllung. Es kann nur einen wahren Führer geben. Das Geheimnis feiner Führerfchaft kann in feiner Tiefe nur durch die Hingabe an ihn
erfahren werden. Dennoch kann die negative Erfahrung, die wir durch Falfche Führer gemacht haben, uns das Verftändnis deflen nahebringen, was das Neue Teſtament über die Führervollmacht Jeſu bezeugt. Weil es fich hier um das Letzte und Abfolute handelt, ftehen wir, wenn wir von der Kategorie der Führung fprechen, an einem Abgrund, über dem wir uns nur an Jeſus als dem einen wahren Führer fefthalten Eönnen, oder wir ftürgen rettungslos in die Tiefe. Wenn wir Chriftus in diefem Sinne als den König aller Könige und den Heren aller Herrn begrüßen, wird damit die Kate— gorie des Kyrios nicht nur mit einem neuen Inhalt erfüllt, fondern feine formale Struktur macht eine fundamentale Änderung durch. Denn an die Stelle einer Führung, die nur ein Teilgebiet unferes
6. Das urchristliche
Bekenntnis: „Herr ist Jesus“
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Dafeins umfaßt, tritt hier die echte Führung, die unfere ganze Eriftenz umfpannt, nicht nur das Schieffal unferes Körpers, fondern auch unfer ganzes Wollen und Erkennen, nicht nur unfer Leben bis zum Tode, fondern unfer ganzes kommendes Schieffal bis in alle Ewig⸗ keit. Wo echte Fuͤhrerſchaft vorliegt, gibt esnichts mehr in meinem Leben, „das mir ſelber gehoͤrt“ und das ich fuͤr mich ſelbſt behalten kann. Allſeitig iſt die Fuͤhrerſchaft Chriſti deshalb, weil ſie nicht wie alle Fuͤhrerſchaft, die wir ſonſt kennen, auf die vorletzten Dinge geht, ſondern auf die letzte Frage, die das Ganze des Seins umfaßt, auf die Frage: Iſt unſer Sein ins Nichts hineingehalten? Oder heißt Daſein vor Gott ſtehen? Iſt alles, was wir arbeiten und dulden, nur ein Spiel um Nichtigkeiten, muͤſſen wir uns alſo an den unausdenkbar fchweren Gedanken gewöhnen, daß das Meer von Leiden, von denen das Menfchenleben erfüllt ift, ein finnlofes Leiden ift, ein Leiden für nichts? Oder gibt es — um es mit Formulierungen einer vergangenen Zeit zu jagen - eine legte „Veranferungsmöglichkeit” für alles, was wir fchaffen und aushalten, die „Das Fundament jedes Xebenswerfes”, der „Sarant jedes Treufchwurs“ ift, „Starkjtrom aus der Ewigkeit”, „Druck aus den Tiefen einer Welt, die wirklicher als die unfrige it”?
(Hans Michael Miller: „Glaube und Macht”, 1932, ©. 7ff.) In diefem Kampf um die legte Verankerungsmöglichkeit koͤnnen wir uns, fo fagt der chriftliche Glaube, nicht felber führen. Wir find aber nicht allein gelaffen. Es ift ung ein Führer geſchenkt. „Ein Kind ift uns geboren, ein Sohn ift ung gegeben, und die Herrfchaft ift auf feiner Schulter“. In feine Hand dürfen wir unfer letztes Schickſal legen. Er trägt es in feinen Händen, Diefe Tatfache ift der Kern der chriftlichen Botfchaft. Von diefer Tatfache und von nichts anderem
zeugt das Neue Teftament. Wenn Jeſus als „der Herr” bezeugt wird, fo gibt es Diefem Zeugnis gegenüber nur zwei Möglichkeiten. Entweder diefes Zeugnis beruht auf einem Irrtum. Jefus von Nazareth war zwar eine bedeutende Verfönlichkeit, die von einem Heinen Kreis von Anhängern ſchwaͤr— merifch verehrt wurde, Aber wenn ihm eine weltumfpannende Führer: vollmacht zugefchrieben wurde, war das eine ſchwaͤrmeriſche Ver:
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
irrung, die wie eine Epidemie um fich griff und der viele wertvolle Menschen zum Opfer gefallen find. Ift Jeſus nicht imftande, jeden heutigen Menfchen, auch jeden deutfchen Menfchen, der fich ihm
anvertraut, tatfächlich zu führen, fo dürfen wir den Wahn, den die Apoftel in der Welt verbreitet Haben, nicht mit wohlmollender Neus tralität behandeln, fondern müffen ihn mit allen ung zu Gebote ftehenden Mitteln befämpfen. Dder der Anfpruch Jeſu beruht auf Wahrheit, Wenn wir vor ihm ftehen, ftehen wir vor unferem von Gott beftimmten Führer in der leßten Lebensfrage, Dann bauen wir, wie Jeſus felbft jagt (Mtth. 7, 24ff.), unfer ganzes Leben, auch unfere ganze Staats= und Wirtfchaftsordnung auf Sand, wenn wir fie nicht auf fein Führerwort aufbauen. Denn dann kann nur der Gott, in deffen Vollmacht Chriftus uns Befehle gibt, uns die ewige Bindung geben, ohne die Volk, Heer und Beamtenfchaft im Eritifchen Augenblick verfagen, wenn fie fich ohne Ausficht auf Lohn und Erfolg für eine hoffnungslofe Sache opfern follen. In dem preußifchen Volk zur Zeit Friedrichs des Großen war noch fo viel von Diefen legten Bindungen vorhanden, daß der König ohne Schaden für den Staat jeden getroft feiner Überzeugung uͤberlaſſen und ihn nach feiner Facon felig werden laſſen Eonnte. Heute, wo alle Fundamente der Volksfittlichkeit, etwa auf dem Gebiet der Ehe und der gefchlechtlichen Sittlichkeit, weithin relativiert und unterhöhlt find, ift es ganz unmöglich, die Führung des Menfchen in der legten Lebens: frage als eine belanglofe Angelegenheit zu behandeln und dem Individualismus des einzelnen zu überlaffen. . Mir koͤnnen natürlich die Chriftusbotfchaft der Apoftel als einen gefährlichen Wahn ablehnen und uns unabhängig von Jeſus unfere
eigene Meinung über den Sinn des Lebens bilden. Uber wenn es wahr ift, daß Chriftus von Gott die „Herrſchaft“ über die ganze Menfchheit übertragen ift, dann koͤnnen wir nur unter feiner Führung
das richtige Verftändnis gewinnen nicht nur für die Fragen unferes perfönlichen Lebens fondern auch für die Aufgaben, vor die wir als Volfsgemeinfchaft nach dem Zufammenbruch geftellt find. Es geht alfo beim Chriftuszeugnis des Neuen Teftaments nicht
6. Das urchristliche
Bekenntnis:
„Herr
ist Jesus“
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um einen Lehrſatz oder um einen Dogmen= und Kirchenftreit, den das Volk nicht verfteht, fondern um die ganz einfache unmittelbar prak⸗ tifche Frage: Ift das, was die erften Chriften über die univerfale Sührerkraft des unfichtbaren Chriftus gefagt haben, eine Einbildung
verzückter und lebensfremder Schwärmer? Oder ift e8 genau fo als Wirklichkeit erfahrbar, wie die Führerfraft von Menfchen immer wieder als unleugbare Realität erlebt worden ift? Kommt unter der Fuͤh— rung Jeſu wirklich die tiefe Ruhe und Sicherheit und die alle Kräfte auslöfende Lebensfreude über uns, die uns dann umfängt, wenn wir unfer ganzes Schickſal in die Hände eines anderen gelegt haben, der die Fönigliche Vollmacht hat, ung wirklich zu führen? Diefe Frage läßt fich nicht mehr auf wiffenfchaftlichem Wege durch Gründe und Gegengründe entfcheiden, wie man über die Wahrheit eines Lehrfaßes entfcheidet, fondern nur in Lebenslagen, in denen alles auf dem Spiel fteht, „im legten Kampf” (in ultimo agone), wie die Reformatoren fagten, praftifch erproben. Vom theoretifchen Standpunkt aus läßt fich überhaupt nicht darüber fprechen. Denn wenn jemand mit einem Herrichaftsanfpruch auftritt, der nicht nur auf unfer Handeln, fondern auf unfere ganze Eriftenz geht, müffen wir auch mit unferem Denken unter feiner Autorität ftehen und auch unfere Erfenntnis unter feine Zeitung ftellen; oder wenn wir unter einer andern Führung, etwa unter unferer eigenen, ftehen, dann müffen wir uns nicht nur mit unferem Handeln, fondern auch mit unferem Denken gegen diefen Herrfchaftsanfpruch aufbaumen und empoͤren. Einen „Herrn“ im Vollſinn des Worts fönnen wir nach
dem oben angeführten Jefuswort aus der Bergpredigt nur entweder „lieben“ oder „haſſen“, wir Fönnen ihm nur entweder „anhangen‘ oder ihn „verachten“.
Daraus ergibt fich eine wichtige Folgerung für den Verfuch, den wir hier unternommen haben, den Inhalt des Chriftusglaubens denfend zu entfalten und darzuftellen, Wenn es wahr ift, was das
Neue Teftament fagt, daß ung im Ringen um die Frage aller Fragen ein Herr gefchenkt ift, der mit Recht von fich fagen kann: „Ohne mich fönnt ihr nichts tun“, dann können wir aus dieſer Führerfchaft auch dann nicht heraustreten, wenn wir den Inhalt des chriftlichen Glau=
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II. Die Herrschervollmacht des Christus
bens denfend entfalten. Denn wenn wir unter der Leitung eines an— dern ftehen, fteht nicht nur unfer Handeln unter der Führung, fondern auch unfer Denken und Wiſſen. Es ift vom Führer abhängig, ob wir uͤberhaupt vom Urfprung und Ziel des Gefamtgefchehens etwas wiffen fönnen und wieviel wir davon wiſſen follen. Wenn eine Truppe in die Schlacht zieht, kann es der Heerführer unter Umftänden für richtig halten, der Mannfchaft nur einen begrenzten Teil des ganzen Feldzugsplans mitzuteilen. Ste braucht davon nur fo viel zu erfahren, als notwendig ift, daß fie ihre nächte Marfchroute Eennt. Es Fann vorkommen, daß die Heeregleitung die Truppe über Die Yeßten Urfachen und den lebten Sinn des ganzen Krieges nur fo weit aufflärt, als notwendig ift, damit die Truppe den Mut nicht verliert und den Glauben feithalten kann, daß fie für die gerechte Sache
fampft. Ihr mehr zu fagen, wäre vielleicht für den YAugenbli für fie gar nicht gut. Der Führer kann zur Truppe fprechen: „Ich habe
euch noch viel zu fagen, aber ihr koͤnnt es jeßt nicht tragen.” Er fagt ihr nur fo viel, als fie für den Augenbli braucht. Alles andere kann fie fpäter erfahren, wenn die Spannung vorüber und die Zeit gefommen tft, Rüdfchau zu halten und uͤber das Erlebte ruhig im Zufammenhang nachzudenken. Jetzt gilt es nicht zu theoretifieren, fondern auszuhalten und mit leßtem Cinfaß zu Fämpfen. Wenn wir unfer Leben unter der Herrfchaft eines andern führen, haben wir auch unfer Wiffen über die legten Dinge in feine Hand gelegt. Dadurch wird es uns von vornherein unmöglich, zunächit einmal von Chriftus abzufehen und uns unabhängig von ihm und feiner Weifung über Schöpfung und Weltgrönung eine philofophifche
und theologifche Überzeugung zu bilden. Wir dürfen ung nicht ohne ihn ein Syſtem der Weltanfchauung zurechtmachen, um ihm dann erft hinterher innerhalb des fo gewonnenen Gefamtbildes einen Ehren: plaß anzumeifen. Wir dürfen nicht, wie eg immer wieder in der Theologie verfucht worden ift, zunächft aus fremdem Material einen Zempel bauen, um dann hinterher Chriftus in einer Nifche diefes Tempels als Götterbild auf einen goldenen Thron zu feßen. Damit wären wir aus feiner Führung herausgetreten, Wir hätten uns im entfcheidenden Punkte felbft geführt. Wenn unfer Bekenntnis zu ihm
‘7. Der
Wahrheitskern
des idealistischen
Glaubens
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nicht bloß ein „Herr⸗Herr“-Sagen fein foll, wenn wir praftifch Ernit damit machen wollen, dürfen wir darum auch beim Nachdenken über Urgrund und Ziel des Lebens nicht ohne ihn beginnen, um dann von irgendeinem außer ihm liegenden Punkt aus zu ihm zu gelangen, Seine Herrfchaft muß vielmehr der Ausgangspunkt aller unferer Gedanken über die legten Dinge fein. Alles, was wir tiber den Sinn der Welt zu fagen haben, muß fich uns einerfeits daraus ergeben, daß wir Überhaupt der Führerfchaft bedürfen, und andererfeits aus der Tatſache, daß er und Fein anderer der Führer ift. Alle Auffchlüffe, die wir über den Sinn der Welt und des Lebens gewinnen können, find für ung alfo nicht Dadurch erreichbar, daß wir ung eigene Gedanken über das Weſen Gottes und feine Schöpfungsordnungen machen, jondern nur Dadurch, daß wir vom Tatbeitand der Herrichaft Jeſu ausgehen und dann darüber nachdenken, was fich aus diefem ZTatbeitand für das Verftändnis der Welt und des menschlichen Dafeins ergibt. Unfer Denken kann alfo immer nur nachzeichnen, was uns durch die Wirklichkeit vorgegeben ift. Wenn wir das verfuchen, müffen wir zuerit die Tatfache für fich ins Yuge fafjen, daß uns überhaupt ein Herr gegeben ift, und uns fragen, was diefe Tatfache für das Verftändnis unferer menschlichen Lage bedeu— tet. Dann erſt koͤnnen wir diefen Herrn in feiner Eonfreten Wirklich: feit betrachten und hören, was er uns zu jagen bat.
7. Der Wahrheitsfern des idealiftifehen Glaubens
an die
Möglichkeit der Selbitführung Wenn uns ein Herr gegeben ift, ohne den wir „nichts tun können“,
dann Viegt darin, daß wir einen Führer nötig haben, wenn wir unfere legte Beftimmung erfüllen follen. Denn fonft wäre ung fein Führer
gegeben. Warum ift das notwendig? Warum fünnen wir nicht Durch Selbftführung zum Ziel kommen? Den legten Grund diefer Not: wendigfeit ann uns nur Jefus felbft durch feine Worte und Taten erfchließen. Davon foll dann im nächften Abſchnitt die Rede fein; in dieſem Abfchnitt wollen wir uns deutlich machen, was fich für eine Antwort auf diefe Frage zunächft einmal aus der allgemeinen Tat:
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II. Die Herrschervollmacht des Christus
fache ergibt, daß uns überhaupt ein Führer gegeben ift. Wenn wir nicht unter dem Einfluß der chriftlichen Gemeinde von Kindheit an davon gehört hätten, daß wir eines Herrn, eines Hauptes, eines Heilandes, eines ewigen Hohenpriefters bedürfen, um uns im Leben zu= rechtzufinden, wenn wir diefe Botfchaft zum erftenmal hören würden, dann wuͤrden wir eg — noch ganz abgefehen von allem andern, was gegen diefe Botfchaft einzumenden ift, — als eine ungeheuerliche Zumutung empfinden, als einen Angriff auf das Selbftbeftimmungs: recht des Menfchen, daß wir in der entfcheidenden Frage unferes Lebens die Zügel der Regierung aus der Hand geben follen, um fie einem andern zu uͤberlaſſen. Das Ürgernis, das die Chriftushotfchaft
für jeden Menfchen enthält, liegt nicht erft im Kreuz. Es beginnt nicht erſt dann, wenn wir fehen, daß der Führer, dem wir nachfolgen folfen, im Miderftreit zu allen menfchlichen Ehrbegriffen und Macht: inftinkten fich wehrlos hinrichten läßt, ohne vor der Welt rehabilitiert zu werden. An diefer Tatfache kommt dag Ärgernis des Chriftentums
allerdings zum legten und ftärfften Ausdruck, Uber es ſetzt fchon viel früher ein. Es liegt ſchon darin, daß uns überhaupt zugemutet wird, unfere Selbftbeftimmung aufzugeben und unter die Herrichaft eines andern zu treten.
Es ift fehr begreiflich, daß der deutſche Idealismus, vor allem unter der Führung Fichtes, Das als einen Angriff auf das heiligfte Vorrecht des Geiftes empfand. In der fechiten Vorlefung der „Ans weifung zum feligen Leben” fagt Fichte: „Der dem Chriftentum aus: fehließend eigene und nur für die Schüler desfelben geltende Stand» punft fieht auf das Mittel des Werdeng und ehrt hierüber alfo: Sefus von Nazareth fei eben fchlechthin von und durch fich, durch fein bloßes Dafein, Natur, Inftinkt, ohne befonnene Kunft, ohne Anwei—
fung, die vollfommene finnliche Darftellung des ewigen Wortes, fo wie es vor ihm fchlechthin niemand gewefen; alle diejenigen aber, welche feine Jünger würden, feien es eben darum, weil fie feiner bedürften, noch nicht, fondern follten es erft Durch ihn werden. Das joeben Far Ausgefprochene ift das charakteriftifche Dogma des Chriz ftentums als einer Zeiterfcheinung.” Diefes Dogma hat alfo Feine bleibende Bedeutung. In Wahrheit ift „in jedem ohne Ausnahme, der
7. Der Wahrheitskern des idealistischen Glaubens
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feine Einheit mit Gott lebendig einfieht, und der wirklich und in der Tat fein ganzes individuelles Leben an das göttliche Leben in ihm
bingibt, das ewige Wort ohne Rückhalt und Abbruch ganz auf diefelbe Weife wie in Jeſu Chriſto, Fleifch, ein perfönlich finnliches und
menfchliches Daſein“. Wir brauchen alfo die Mittlerfchaft Jeſu dazu nicht, wenn es auch Hiftorifch gefehen „unmiderfprechlich wahr“ fein mag, daß wir heutigen Europäer infolge unferes gefchichtlichen Zufammenhangs mit dem Chriftentum „nur durch ihn, vermittels feiner, dazu gefommen“ find. „Falls Iefus in die Welt zuruͤckkehren könnte, fo ift es zu erwarten, daß er vollfommen zufrieden fein wuͤrde, wenn er nur wirklich das Chriftentum in den Gemütern der Menfchen herrſchend fände, ob man nun fein Verdienft dabei preifete oder es überginge.“ „Ift nur jemand wirklich mit Gott vereinigt und in ihm eingefehrt, fo ift e8 ganz gleichgültig, auf welchen Wege er dazu
gekommen; und es wäre eine fehr unnuͤtze und verkehrte Befchäfti gung, anftatt in der Sache zu leben, immer nur das Andenken des Weges fich zu wiederholen.” Daß „der deutfche Mann“ Luther, „der durch Das Ewige begeiftert wurde”, doch immer noch des Mittlers Chriftus zu bedürfen glaubte, um feines Heils gewiß zu fein, das ift nach Fichte die Schranke in feiner Geifteshaltung. Er hatte darin Die
Seelenangſt des Mittelalters noch nicht ganz überwunden. Man muß befennen, „Daß in der Angſt jenes Zeitalters um das Heil der Seelen eine Dunkelheit und Unklarheit blieb, indem es nicht darum zu tun war, den äußeren Vermittler zwifchen Gott und den Menfchen nur
zu verändern, fondern gar Feines aͤußern Mittlers zu bedürfen, und das Band des Zufammenhangs in fich felber zu finden”. Der deutfche Idealismus, deſſen Wortführer Fichte in dieſem Punkte war, hat alfo die Mittlerfchaft Chrifti entweder in ſcharfem Proteft zuruͤckgewieſen oder als Erdenreft des hiſtoriſchen Chriften: tums empfunden, den man tragen und gefchichtlich verftehen muͤſſe. Fichtes „Philofophie der Freiheit” hat nicht bloß zeitgefchichtliche Bedeutung gehabt. Sie findet nicht nur im deutfchen Menfchen der
Gegenwart, fondern zu allen Zeiten in jedem Menfchen einen leben⸗ digen Widerhall. Denn es wird hier etwas UllgemeinMenfchliches ausgefprochen. Jeder unverbildete und unverbogene Menfch lehnt
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
fich unwillkuͤrlich auf gegen den Verſuch, ihm in der entjcheidenden
Frage feines Lebens die Selbftändigfeit zu nehmen. Es mag fein, daß wir in vorleßten Fragen die Autorität von Sachverftändigen und Fachleuten nicht entbehren können. Aber in der Zentralfrage unferes Seins wollen wir das Heft in der Hand behalten. Warum dag fo ift, wird ung fofort deutlich, wenn wir ung zum Bewußtfein
bringen, um was es bei Diefer zentralen Trage des Lebens geht, wie tief darum unfere Abhängigkeit wird, wenn wir im Suchen nach einer Antwort auf diefe Frage unfer Schickſal aus der Hand legen. Es geht ja bei diefer Frage, wie wir im erften Abfchnitt fahen, um die letzte Sanktion unferer ganzen Lebensarbeit, und es geht um die letzte Wirklichkeit, an die wir uns auch in der verzweifeltiten Lage immer noch halten koͤnnen. Es ift fehr ſchwer zu ertragen, an Diefer
zentralen Stelle unferer Eriftenz, in der alles verankert ift, auf fremde Hilfe angewiefen zu fein. Wenn wir eine mathematifche Formel aus Mangel an Borbildung nicht nachrechnen koͤnnen, fondern auf die Autorität eines Mathematikers hin übernehmen muͤſſen,
ift dieſe Abhängigkeit noch zu ertragen, weil die Formel für ung nur theoretifchen Wert hat. Veinlicher ift es uns fchon, wenn wir beieiner ärztlichen Diagnofe, an der für ung Tod und Leben hängt, uns auf eine medizinifche Autorität verlaffen müffen, deren Gutachten wir nicht nachprüfen koͤnnen. Die Abhängigkeit von fremder Hilfe ift uns alfo um fo fehmerzlicher, je lebensmwichtiger die Frage ift, für
deren Löfung wir der Hilfe bedürfen. Die Abhängigkeit muß an der Stelle am fchmerzlichften werden, an der für uns alles auf dem Spiel
fteht. Wir müffen uns darum mit ganzer Seele gegen den Gedanken wehren, daß die Realität, der gegenüber alles andere zur Bedeutungs: Yofigfeit herabſinkt, ung nicht fchon durch unfere Eriftenz unmittelbar
zugänglich fein fol, Die Abhängigkeit, die ung hier droht, ift tiefer und für den natürlichen Menfchen furchtbarer als jede andere Abhaͤn— gigfeit, die es für ung geben kann, etwa die Abhängigkeit des Arbeit: nehmers vom Xrbeitgeber oder des Sklaven von feinem Herrn. Die große pofitive Bedeutung des deutfchen Idealismus für die Gottesfrage beiteht eben darin, daß er den heißen Wunfch jedes Menfchen zum Ausdruck gebracht hat, in der zentralen Frage feines
7. Der
Wahrheitskern
des idealistischen Glaubens
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Lebens von niemand abhängig zu fein und fein Schickſal felbft bez ſtimmen zu Eönnen. Das wäre dann der Fall, wenn ung die Wirkfich-
feit, die die letzte Sanktion unferes Handelns und der Ankergrund unferes Glaubens ift, mit unferer Exiſtenz unmittelbar erfchloffen
wäre, wenn alſo Schleiermacher recht hätte, wenn er fagt : „Wir koͤnnen fagen, daß mit unferem Bewußtfein uns auch das Gottes gegeben it als Beltandteil unferes Selbſtbewußtſeins.“ Wenn das richtig wäre, fo ftünde mir der Weg zum Abfoluten innerhalb der mir
gegebenen Welt unmittelbar offen. Damit daß ich bin und mich als Mitte des Univerfums vorfinde, wäre mir der Zugang zu Gott auf: geichloffen, und zwar nicht bloß als Frage, die einer Antwort harrt, fondern als beantwortete Frage. Ich fände mich in Gott genau fo vor, wie ich mich als Raumweſen in der Tiefendimenfion vorfinde. Wo ich gehe und ftehe, in der daͤmmrigen Küchenftube einer Keller wohnung oder auf einem Schneegipfel mit Fernficht über blaue Seen und Firne, immer ift mir die Tiefendimenfion nicht bloß erfchloffen als eine Richtung, aus der etwas empfangen werden Fünnte, fondern fie ift mit überreichen, unerfchöpflichem Inhalt erfüllt, Ich brauche
nur hineinzugreifen. Genau fo, das ift der Glaube des Idealismus, ift das Wiffen um Gottes Wefen und Wollen ein Zeil meines Selbitbewußtſeins. Ich brauche nur in die Tiefen meines Selbft hineinzu=
tauchen, fo bin ich in Gott. So follte und müßte es allerdings fein. Aber diefer heiße Wunfch ift unerfüllbar. Der Idealismus weckt die
Erinnerung an ein verlorenes Paradies in uns auf, in dem wir, wie wir wohl ahnen, unferer urfprünglichen Beſtimmung nach fein follten, von dem wir aber jeßt ausgefchloffen find. Der Idealismus gleicht dem Heimatlied, das Blondel vor dem Gefängnis des Königs Richard Lömwenherz fingt, um den gefangenen König an das Gitter des Kerfers zu Ioden. Aber dem König fommt dabei nur um fo fchmerzlicher zum Bewußtfein, daß er fern von der Heimat in der Gefangenschaft ſchmachtet.
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II. Die Herrschervollmacht
8. Das Scheitern des Idealismus
des Christus
an der Wirklichkeit
Warum wir von der Heimat ausgefchloffen find, warum Die idea= Yiftifche Auffaffung unferer age ein Idealbild ift, das im Gegenfaß zur Wirklichkeit fteht, das koͤnnen wir nicht felbft ergründen. Nur der kann uns diefe Frage beantworten, der allein die Vollmacht hat, das Rätfel des menfchlichen Dafeins zu löfen. Uber die Tatfache, daß uns das Abfolute nicht fo erfchloffen ift, wie es nach der idealiftifchen Vorausfeßung fein müßte, das koͤnnen wir jedem zum Bewußtſein
bringen, bei dem die Frage nach Gott erwacht ift. Wir muͤſſen uns nur Elarmachen, wie das menfchliche Leben ausfehen müßte, wenn das Gottesbewußtſein wirklich ein Teil unferes Selbitbewußtjeins
wäre, und wir muͤſſen dann unfere wirkliche Lage damit vergleichen. Nehmen wir an, die Wirklichkeit der Wirklichkeiten fei uns fo unmittelbar erfchloffen, wie ung, wenn wir in eine Landfchaft hin— aussehen, die Tiefendimenfion in ihrer ganzen Weite und Fülle auf: gefchloflen ift, fo Eönnte nicht nur Fein Zweifel an Gott entitehen,
feine Gottlofenpropaganda, Fein Atheismus, nein, es Eönnte nicht einmal jemand auf den Gedanken kommen, einen Öottesbeweis zu
erfinnen, fo wenig, wie wir auf den Gedanken kommen, unfere eigene Eriftenz zu beweifen. Der Zweifel an der Wirflichkeit Gottes wäre genau fo undenkbar wie der Zweifel am Dafein eines Ge:
jichtsbildes, das vor mir auftaucht. Auch wenn es möglich wäre, das Dafein Gottes zwingend zu beweifen, zeigt fchon die Tatfache, daß wir überhaupt auf den Gedanken kommen, folche Beweife zu erfinnen, daß wir im Zuſtand der Öottesfernefind. Bedenken wirdoch,was dag bedeu:
tet +Die abfolute Wirklichkeit, der gegenüber jede andere Realität bedeu⸗ tungslos ift, das Urfein, dem alles, was ift, feine Wirklichkeit allein verdankt, ift fo verborgen, daß die Frage entftehen kann, ob es über: haupt eriftiert. Die Seinsmacht der Urwirklichkeit wird fortwährend in Schatten geftellt durch die aufdringliche, alle unfere Sinne betörende und beraufchende Sichtbarkeit und Greifbarkeit der Dinge und Mefen, die doch alle nur ein Dafein zweiter Hand haben, weil fie ihr Sein vom Urfein Gottes doch nur zu Lehen nehmen und ihm gegen: über ein Schattendafein führen. Die gefchaffene Welt hat alfo die
8. Das
Scheitern des Idealismus
an der Wirklichkeit
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Urrealität, von der fiejeden Augenblick Lebt, verdrängt, zugedeckt und in Schatten geftellt. Das ift doch ein widerfpruchsvoller Zuftand, der
jedem, der von der Wirklichkeit Gottes überzeugt ift, ein Rätfel auf: gibt. Das Nätfel wird noch fehwerer, wenn wir uns die weiteren Folgen vergegenwärtigen, die aus der Verborgenheit Gottes ent: ftanden find,
Wäre ung, wie der Idealismus glaubt, mit unferer Eriftenz das Abſolute erfchloffen, jo müßten uns damit auch die anderen Wefen, zu denen wir in der Du-Beziehung ftehen koͤnnen, unmittelbar auf: gefchloffen fein. Denn auch jeder andere würde ja dann genau wie ich felbft mit feinem Sein unmittelbar in Gott ruhen und in ihm feinen unverrücbaren Schwerpunft haben. Auch jedem andern wäre die Gotteswirflichkeit genau fo aufgefchloffen wie feine eigene Exi— jtenz. Damit wären wir einander auch gegenfeitig im Kern unferes Weſens erfchloffen. Seder würde vom andern unmittelbar wiffen, was ihm das allein Wertvolle ift und wo der „ewige Magnet” ift, von dem er allein angezogen wird. Daß wir einander fremd fein koͤnnen, daß es überhaupt vorfommen kann, daß ich den andern nicht verftehe und nicht weiß, was er will, das ift ein Zeichen, daß uns Gott nicht erfchloffen tft. Die „Nächitenferne” ift nur eine Folge der Oottesferne. Die Nächftenferne ift aber der Grund aller tragifchen Mißverftänd: niffe zwifchen Ich und Du, der Grund der Roheit und Grauſamkeit, mit der wir einander im mitleidlofen Kampf des Lebens gegenfeitig verwunden und mißhandeln. Wenn jeder wüßte, wie es im Innern des andern ausfieht, wären wir dazu gar nicht imftande. Dazu kommt ein weiterer Umftand, der unfern gottlofen Zuftand zeigt. Wenn ung Gott ſchon mit unferer Eriftenz aufgefchloffen wäre, dann müßten wir jeden Augenblick nicht bloß Gottes gewiß fein, fondern auch aus Gott heraus handeln. Denn alles, was gefchieht, geht aus Gott, dem Urquell des Seins, hervor. Für das Abſolute
kann es aber keine Hemmung geben. Es kann auf keinen Widerſtand
ſtoßen. Es iſt ja alles von ihm geſetzt. Alſo kann das Geſchehen nur eine Richtung haben. Unſer Handeln muͤßte ein Teil des Geſchehens
ſein, das aus dem Urſprung hervorquillt. Wir muͤßten gotterfuͤllt handeln (EyOeoi), als Organe und Werkzeuge des Abſoluten. Es
6 Heim, Jeſus der Herr
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II. Die Herrschervollmacht des Christus
könnte für ung feine Wahl geben, ob unfer Handeln im Einklang mit dem Xbfoluten ftehen foll oder nicht. Denn irgend etwas anderes fäme iiberhaupt nicht in Frage, Es wäre alfo Feine Unfchlüffigkeit möglich, fein Schwanken. Unfer Wilfe müßte reftlog von einem Ziel erfüllt fein. Wir müßten uns abfolut zum Abſoluten verhalten. Fichte hat vollftändig recht, wenn er den normalen Zuftand (gegen Ende der zehnten Vorlefung der „Anweiſung zum feligen Leben”) befchreibt: „Der Religiöfe ift der Möglichkeit des Zweifels und der Ungewißheit auf ewig entnommen. In jedem Augenblide weiß er
beftimmt, was er will und wollen fol; denn ihm ftrömt die innerfte Murzel feines Lebens, fein Wille, unverkennbar ewig fort unmittelbar
aus der Gottheit; ihr Wink ift untrüglich, und für das, was ihr Wink fei, hat er einen untrüglichen Blick. In jedem Augenblicke weiß er beftimmt, daß er in alle Ewigkeit wiffen wird, was er wolle und folle, daß in alle Ewigkeit die in ihm aufgebrochene Quelle der göttlichen Liebe nicht verfiegen, fondern unfehlbar ihn feithalten und ihn ewig
fortleiten werde. Sie ift die Wurzel feiner Eriftenz; fie ift ihm nun einmal klar aufgegangen, und fein Auge ift mit inniger Liebe auf fie geheftet; wie fönnte jene vertrocknen, wie koͤnnte dieſes woanders hin fih wenden!” Daß wir in einem gottlofen Zuftand find, das zeigt fich alfo nicht bloß darin, daß wir das, was uns als Gottes Wille erfcheint, nicht von ganzer Seele tun und wir uns nicht mit reinem Herzen und ungeteiltem Willen Hingeben. Nein, ſchon das ift abnorm, daß wir nicht ohne weiteres wiffen, was Gott in diefem Augenblic von uns fordert, daß es nicht felbitverftandlich ift, was in diefer Situation das unbedingt Richtige ift. Es ift ein Ausdruck unferer Gottesferne, daß überhaupt die Frage entfteht, was wir tun follen, daß überhaupt eine Entfcheidung für Gottes Willen nötig ift. Denn eine Entſcheidung feßt immer voraus, daß wir am Scheidewege ftehen, daß es noch eine andere Möglichkeit gibt und daß wir uns bewußt find, daß wir auch anders handeln koͤnnten. Die Frage, was wir tun follen, ift der Ausdruck der Unfchlüffigkeit, die Shafefpeare in der Geftalt des Hamlet fo erfchütternd dargeftellt hat. Das Hamlet:Schickfal, das unfer Handeln fortwährend hemmt und uns hindert, fichere und gewiſſe Schritte zu tun, ift etwas All:
8. Das Scheitern des Idealismus an der Wirklichkeit
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gemeinmenfchliches. Gewiß gibt es Fälle, in denen fich das, was
gefchehen foll, unmittelbar aus der Situation ergibt. Das Vaterland ift von Feinden überfallen. Wir eilen zu den Waffen, um Haus und Herd zu ſchuͤtzen. Ein Kind ift mitten auf einer verfehrsreichen Straße hingefallen, Wir fpringen zu, um es aufzuheben. Die Flammen fchlagen nachts aus einem Haus. Wir eilen zum Feuermelder. Uber diefe Fälle, in denen die Laft der Reflexion über das, was gefchehen
joll, von uns abfällt, in denen es nur eine einzige Möglichkeit gibt, für die wir uns einfeßen müffen, find in unferem Leben nicht die Regel, fondern eine feltene Ausnahme, Das fieht man daran, daß wir diefe Fälle troß der Aufregung und Lebensgefahr, die fie meiftens mit fich bringen, immer als eine große Befreiung empfinden. Im YAuguft 1914 wurde eine ganze Menge von Menfchen, die nicht mußten, was fie mit ihrem Leben anfangen follten, und infolgedeffen unter depreffiven Gemütszuftänden litten, mit einem Schlage gefund, Die Mobilmachung hatte fie in die Kaferne gerufen und unter eine eiferne Befehlsgewalt geftellt, die ihnen jede Stunde vorfchrieb, was fie machen mußten. Der drücdende Alp der ungelöften Trage, wie fie die nächfte Stunde ausfüllen follten, war von ihnen gewichen. Sie atmeten wieder frei. In folchen Fällen erleben wir mitten in der höchiten Not und Aufregung etwas von jenem Urzuftand des Men fchen, wie er, wenn auch in ganz anderer Form, über Dichter und
Künftler in großen Augenblicken der Infpiration kommt. Es ift der Urzuftand, in dem es noch feine Wahl gibt, in dem wir noch diesſeits jeder Entfcheidung ftehen. Diefe Fälle, in denen wir gleichfam in heflfeherifcher Sicherheit auf dem fchmalen Grat zmwifchen zwei Abgruͤnden entlanggehen, find außerordentlich felten. Sie kommen im allgemeinen nur in hochdramatifchen Augenblicken der Gefchichte vor, in weltgefchichtlichen Stunden. Sobald wieder Ruhe herrfeht und wir in den normalen Zuftand zurückgekehrt find, kommt die alte Unfchlüffigkeit wieder
über ung, die Angſt, ob wir auf dem rechten Wege find, ob es nicht ganz verkehrt ift, was wir machen, das unfichere Gefühl, im Nebel zu wandern. Nur weil diefe hamletartige Unfchlüffigfeit unfer durch⸗ fehnittlicher Zuftand ift, haben wir Menfchen ein Bedürfnis, welches 6*
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
das inftinftfichere Tier in diefer Urt nicht zu kennen ſcheint, namlich das Bedürfnis nach Ethik, nach Gefeßen, Geboten, Ordnungen, Normen, Wertformeln, Idealen, Vorbildern, kurz nach irgend etwas, das uns den Weg in die dunkle Zukunft hinein wenigftens ein Stüd weit erhellt und vorzeichnet. Diefes Beduͤrfnis würde gar nicht entftanden fein, wenn wir in dem Urzuftand bleiben könnten, den wir in jenen feltenen Augen— blicken des wahllofen Handelns erleben. Schon das Bedürfnis nach Ethik ift alfo verglichen mit dem, was wir in jenen großen Stunden als ferne Möglichkeit ahnen, etwas Abnormes, ein Abfall. Darum
ift auch alles, was zur Stillung diefes Bedürfniffes gefchieht, immer nur ein Notbehelf oder ein ungenügender Erfaß für das, was mir eigentlich nötig hätten, nämlich die Infpiration des Augenblicks. Keine auch noch fo fpezialifierte Ethik oder Kaſuiſtik kann mir jemals die Laſt der Ungewißheit über das, was ich in dieſem Augenblick tun
foll, wirklich abnehmen, Das zeigt die ganze Gefchichte der Gewiſſen— Eonflikte und jede Gewiffensberatung im Beichtſtuhl. Warum ift das unmöglich? Keine Situation, in der ich handeln
foll, gleicht wirklich bis ing einzelne irgendeiner früheren Lage, ſo— wenig ein Blatt am Baum einem andern Blatt oder eine Mufchel, die das Meer ans Ufer fpült, einer andern Mufchel abfolut gleicht.
Sede Lage ift gegenüber allen bisherigen neu. Es gibt alfo feinen genauen Präzedenzfall dafür, Eine Regel kann aber immer nur viele Fälle zufammenfaffen, die einigermaßen ähnlich gelagert find, und eine allgemeine Richtung angeben, die in folchen Fällen befolgt werden foll. Aber weil jede Situation neu ift, fo kann mich feine auch noch fo genaue Kafuiftif von der Ungewißheit befreien, ob ich wirklich richtig gehandelt habe.
Jeremia 31, Z1ff. wird ein neuer Bund zwifchen Gott und Volk verheißen, in dem jede fittliche und religiöfe Belehrung überflüffig werden ſoll. „Ich lege mein Gefeß in ihr Inneres und fehreibe es ihnen ins Herz. .., fürderhin follen fie nicht mehr einer den andern oder ein Bruder den andern alfo belehren: Erkennt Jahwe! Denn fie werden
mich allefamt erkennen, vom Kleinften bis zum Größten.“ Gemefjen an dem neuen Zuftand, in dem fich die Beftimmung des Menfchen
8. Das Scheitern des Idealismus
an der Wirklichkeit
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erft erfüllen foll, erfcheint hier jede Ethik, jedes Gefeß, das der Menfch von außen durch einen andern empfängt, fo vollfommen es auch fein mag, immer als etwas Minderwertiges, als Ausdruck der Gottes:
ferne, als ein nur vorläufiger und ungenuͤgender Erfaß für die unmittelbare Leitung, unter der wir eigentlich ftehen follten. Die
unfichtbare Wand, die uns von Gott feheidet, zeigt fich alfo nicht erſt darin, daß wir das Gebot übertreten und unfähig find, es von ganzer Seele zu erfüllen, nein, fchon die Tatfache ift abnorm, daß wir überhaupt eines Gebotes bedürfen. Luther ſprach es in der Römerbriefvorlefung 1515/16 aus, daß ſchon die befehlende Form unrein tft, in der uns der Mille des Abſo— luten im Gefeß gegenübertritt. Er follte nicht ein Sollen fein, ein Befehl, der ung in die Entfcheidung ftellt. Was unfere Beftimmung ift, follte überhaupt nicht als Befehl von außen an ung herantreten, fondern unfer Innerftes ganz erfüllen. Daß das, was ich tun foll,
mir von außen gejagt wird, kann nur daher kommen, weil ich felbft meiner Beitimmung nicht unbedingt und ohne weiteres ficher bin. Nur weil ich fortwährend in Gefahr bin, meinen Weg zu verlieren,
muͤſſen Wegzeiger aufgerichtet werden, die mir die Richtung zeigen, Truͤge ich in mir felber einen ficheren Kompaß, fo würde ich gar nicht
auf den Gedanken kommen, zu Sternbildern emporzufchauen, die mir die Fahrtrichtung weifen follen. Aber ich bin in dem abnormen Zuftand, den Fichte meint, wenn erfagt: „Unfelig macht der Zweifel, der uns hierhin reißet und dorthin, die Ungewißheit, welche eine undurchdringliche Nacht, in der unfer Fuß feinen ficheren Pfad findet, vor uns her verbreitet.” Mit der Unfchlüffigkeit über das, was in dieſem Augenblicke das richtige ift, hängt etwas Weiteres zufammen, nämlich die Willens: Schwäche und Energielofigfeit, die uns hemmt, unferen Willen fo einzufeßen und durchzuführen, wie wir follten. Sobald der lähmende Zweifel über die Richtigkeit meines Entfchluffes bis auf den legten
Reft verfchwunden ift, fobald ich von ganzer Seele weiß: „Gott will e8”, durchftrömt mich eine unbegrenzte Kraft, den hohen Auftrag zu erfüllen. Ich lebe aus dem Abfoluten. Der Glaube erwacht in mir, daß der Macht, in deren Auftrag ich ftehe, nichts widerftehen kann.
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II. Die Herrschervollmacht des Christus
Ars die Juͤnger tiber den Feigenbaum erftaunt waren, der auf Befehl Sefu verdorst war, fprach Jeſus die unglaublichen Worte aus: „Wahrlich ich fage euch: Wer zu diefem Berge fpräche: Hebe dich und wirf dich ing Meer! und zmeifelte nicht in feinem Herzen, jondern glaubte, daß es gefchehen würde, was er fagt, dem wird es zuteil werden” (Mrf, 11, 23).
Als die Junger den Dämon nicht austreiben Eonnten, gab Jeſus durchaus nicht zu, Daß es eben ganz befonders fchwere Kranfheitsfälle gebe, die aller Menfchenhilfe unuͤberwindliche Schranken entgegenfeßen, bei denen wir uns einfach in das Unabänderliche zu fügen haben. Nach Jeſu Wort hat die Niederlage der Jünger auch in dieſem fchmwerften Fall nur einen Grund. Yuf die Frage: Warum fonnten wir ihn nicht austreiben? antwortet Sefus (Mtth. 17, 20): „Um eures Unglaubens willen. Denn ich fage euch: So ihr Glauben habt wie ein
Senfkorn, fo mögt ihr fagen zu diefem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin! fo wird er fich heben; und euch wird nichts unmöglich fein.“
Jeſus ift alfo der Überzeugung: Das einzige, was ung hindert, alle MWiderftände zu befiegen, die unferem Willen in den Weg treten, und unerhörte Machttaten zu tun, ift das „Zweifeln in unferm Herzen”, Die zitternde Unficherheit Darüber, ob es wirklich das Richtige ift, was
wir tun wollen. Sobald bald wir mit abfoluter was wir wollen, würde dann unmittelbar aus
die Ungewißheit von uns gewichen wäre, fo= Sicherheit wüßten, daß Gott wirklich will, uns nichts unmöglich fein. Denn wir lebten dem Urfprung heraus, von dem alle Dinge
find. Wir Hätten alfo unmittelbaren Anteil an dem unendlichen Energieftrom, aus dem nicht nur wir felbft, fondern auch alle Raturgebilde um uns her immer aufs neue hervorgehen. Daß wir fchwach find und fo oft an Hinderniffen fcheitern, das kommt alfo nur von unferer Gottesferne, die uns hindert, fichere Schritte zu tun. Das führt ung auf eine weitere Folge unferes gottlofen Zuftandes. Das ift das Leiden, von dem unfer Xeben begleitet ift. Schleiermacher fagt in der „Olaubenslehre” in der Einleitung des Lehrſtuͤcks vom Übel über den Gegenfaß zwifchen Welt und Menfch: „Solange jeder Augenblick menfchlicher Selbfttätigkeit nur ein Produkt in die ur: Iprüngliche Vollkommenheit des Menfchen gewefen wäre, mithin
8. Das Scheitern des Idealismus an der Wirklichkeit
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jeder Durch das Gottesbewußtfein beftimmt und alles Sinnliche und
Leibliche nur hierauf bezogen, fo lange Eonnte jener Gegenfaß nicht als Lebenshemmung in das Gefamtbewußtfein aufgenommen wer:
den, weil durch denfelben die Tätigkeit des Gottesbewußtſeins auf
feine Weife gehemmt, fondern nur die Refultate derfelben anders geftaltet werden könnten, Dies gilt felbft von dem natürlichen Tode und den ihm als Krankheit und Schwäche vorangehenden Leiblichen Lebenshemmungen, indem, was dem leitenden und beftimmenden höheren Bemwußtfein nicht mehr dienen kann, auch nicht gewollt wird.” Diefer Sag enthält eine wichtige Erkenntnis, von der wir aus⸗ gehen müflen, wenn wir verftehen wollen, was leiden heißt und was der eigentliche Grund unferes Leidens ift. Leiden oder Schmerz ift feine gegenftändliche Erſcheinung, die fich objektiv beobachten und meffen ließe, wie fich ein Naturereignis, etwa ein chemifcher Prozeß oder eine eleftrifche Entladung, beobachten und meſſen läßt. Wenn wir imftande wären, das Weltgefchehen rein gegenftändlich zu betrachten und uns felbit dabei auszufchalten, würden wir von Schmerz und Leid in diefer Welt nicht das geringfte bemerken, auch nicht in einer Folterfammer des Mittelalters oder auf einem Schlachtfeld voll von ftöhnenden Verwundeten. Daß hier gelitten wird, das wiffen wir nicht Durch objektive Betrachtung. Wir wiffen es nur von ung felbft, und zwar dadurch, daß uns die verzerrten Gefichter und herzzerreißenden Töne an Augenblicke in unferem eigenen Zeben erinnern, in denen wir ähnliche Bewegungen machten und ähnliche Laute ausftießen. Der Schmerz ift eben etwas,
das wir uns nie gegenüberftellen koͤnnen, das vielmehr feinen Ort nur in ung felber hat. Er ift das, was eintritt, wenn mein Wille auf Miderftand ftößt und mit etwas anderem Eollidiert, das meinen Lebenswillen hemmt und niederhält. Nach der dynamischen Welt: auffaffung, die wir vertreten, kann das andere, das mich quält und fchmerzt, nie ein toter Gegenftand, alfo etwas fchon Gemwordenes fein.
Es ift vielmehr etwas Lebendiges, nämlich das Werden eines Gegen: ftandes, das mit dem Werden in Konflikt fommt, an dem ich mit meiner eigenen Eriftenz beteiligt bin. Auch wenn ich unter einem Zus ftand leide, der, wie man fich gewöhnlich ausdruͤckt, immergleich bleibt,
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
etwa unter einer Kette, die mich an einen Zelfen fchmiedet, oder einer
Kerfermaner, die mir den Ausweg aus der engen Zelle fperrt, ift das, worunter ich leide, genau genommen nicht die Feffel oder die Mauer als gemwordener Gegenftand. Wogegen ich mich auflehne, ift die unfichtbare Macht, die dieſe einengenden Gegenftände ohne Rücficht auf meinen Proteft von Augenblic zu Augenblick forterhält und neu erftehen Yäßt. Ich rüttle an meinen Ketten, Ich renne verzweifelt mit dem Kopf gegen die Wand, Uber das andere, gegen das ich an— kaͤmpfe, ift ftärfer als ich, es gibt den Eifenringen und Steinguadern immer aufs neue die Kraft, meinen Rud und Stoß auszuhalten, jo
daß ich immer aufs neue in ohnmächtiger Wut refignieren muß. Der Schmerz ift das, was entfteht, wenn ein heißer, vergeblicher Kampf bin und her wogt zwifchen meinem Lebenswillen und der Macht, die ihn erwürgen will. Das gilt genau fo vom geiftigen Schmerz, etwa der Trauer über den Untergang des DBaterlandes, wie von einem förperlichen Schmerz, wie Rheumatismus oder Zahnweh. Wenn der Schmerz immer daraus entfteht, daß wir mit einer hemmenden Gewalt Fämpfen, wovon hängt dann die Stärke des Schmerzes ab? Nicht von dem Ereignis als folchem, das unferen Lebenswillen hemmt, fondern von dem Verhältnis, in dem diefes Ereignis zu unferm Willen Steht. Je tiefer diefer Widerftreit ift, um fo größer der Schmerz. Der Schmerz würde alfo auf einen Nullpunkt herabfinfen, wenn eg mir gelingen wuͤrde, den Widerftand aufzugeben, den ich der hemmenden Gewalt entgegenfeße. Diefe Zatfache führt uns zu unferem Ausgangspunkt zurüd,
nämlich zur religiöfen Bedeutung der Leidenserfahrung, die in dem angeführten Sage Schleiermachers zum Ausdrud kommt. Wenn Gott Wirklichkeit ift, ift er, wie wir fahen, der Schöpfer, der Ur— Iprung von allem, was gefchieht. Ich als fein Gefchöpf müßte in
meinem Wollen eins fein mit dem, was Gott will, Mein Wilfe dürfte dem, was mir widerfährt, Feinerlei Widerftand entgegenfeßen. Denn es kommt ja alles von Gott, Wäre, wie Schleiermacher fagt, jeder Lebensaugenblick „Durch dag Gottesbewußtfein beftimmt und alles Sinnliche und Leibliche nur hierauf bezogen“, fo könnte fein Ereignis „als Lebenshemmung in das Gefamtbewußtfein aufgenommen wer:
8. Das
Scheitern
des Idealismus
an der Wirklichkeit
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den“, alfo Leiden verurfachen. Mit dem Widerſtand gegen die Hem: mung wäre auch der Schmerz aufgehoben. - Diefer Gedanke ift in allen höheren Religionen und Weltanfchau: ungen troß aller Unterfchiede in merkwuͤrdiger Übereinftimmung aus: gefprochen worden. Der Buddhismus ift ein Verfuch, den Schmerz dadurch zu ftillen, daß man die Flamme des Lebenswillens fo weit als möglich Herunterfchraubt. Denn diefer ift eg, der durch feinen Widerftand gegen die vernichtende Gewalt den Schmerz hervorruft. Man nähert fich dem Zuftand eines Leichnams, der gegen den Schmerz immun geworden tft, weil fein Lebenswille erlofchen ift, fo daß er auf feinen Reiz mehr reagiert. Von völlig anderen Vorausfeßungen aus fommt Fichte in der zehnten Vorlefung der „Anweifung zum feligen eben“ auf denfelben Gedanken: „Den Religiöfen”, fagt er, „befrem: det nichts, was irgend um ihn herum vorgeht. Ob er es begreife oder
nicht; daß es in der Welt Gottes ift, und daß in dieſer nichts fein kann, das nicht zum Guten abzwecke, weiß er ficher ...,er hat nie etwas fich zu verfagen oder fich nach etwas zu fehnen denn er befißt immer und ewig die ganze Fülle alles deffen, das er zu faffen vermag. Für ihn ift Arbeit und Anſtrengung verfehwunden; feine ganze Erfcheinung fließt Tieblich und leicht aus, aus feinem Innern, und löfet fich ab von ihm ohne Mühe,” Auch Luther, der wieder von ganz andern Vorausfegungen ausgeht als Fichte, hat gefagt: Wenn ich
Gott wirklich von ganzem Herzen liebe, alfo nur will, was Gott will, fo fann mich Gott in die Hölle ſchicken, ich bin mitten in der Hölle fogleich felig. Meine Unfeligkeit kommt nur daher, weil mein Wille nicht im Einklang fteht mit Gottes Willen, weil ich immer noch nach
meinem eigenen Glüc trachte, alfo nicht einfach will, was Gott will, Wenn das richtig tft, was hier von ganz entgegengefeßten Lebensanfchauungen aus in merfwürdiger Übereinftimmung ausgefprochen
wird, folgt daraus: Schon die Tatfache, daß wir überhaupt leiden, daß es Schmerz in der Welt gibt, einerlei was e8 tft, worunter wir feiden, ift ein Ausdruck der Gottentfremdung, ein Zeichen dafür, Daß wir nicht fo bei Gott find und aus ihm heraus leben, wie das nach der idealiftifchen Vorausfeßung fein müßte, Wir machen bei jedem ſchweren Schickfal die Erfahrung: Je mehr wir ung der Haltung
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
nähern, in der wir von ganzem Herzen ja fagen auch zum unerträge Yichften Schifal und „nichts anders haben wollen” (Johannes Muͤller), um fo erträglicher wird alles, um fo mehr nähern wir uns dem urfprünglichen Verhältnis zu Gott, aus dem wir herausgefallen find. Aber die Annäherung an diefen Zuftand gelingt immer nur ein Stück weit. Wir erreichen diefen Zuftand nie wirklich. Das zeigt ung unferen gottlofen Zuftand. Dies führt uns zu dem letzten Zatbeftand, an dem wir fehen, daß wir im Zuftand der Gottesferne leben. Das ift das unübermwindliche Grauen vor dem Tode, Die Art, wie wir dem Tod entgegengehen, ift die entfcheidende Probe darauf, ob ung das Sein in Gott ſchon mit unferer Eriftenz unmittelbar erfchloffen ift. Wenn das Gottes:
bewußtfein zu unferem Selbftbewußtfein gehört, kann es ung gleichgültig fein, was der Tod überhaupt ift und was im Tod aus unferer bisherigen Dafeinsform wird. Das Sein in Gott, das wir fchon jeßt durch unfere Eriftenz haben, ann ja durch nichts zerftört werden, was ung bevorfteht. Denn es iſt Teilnahme an der Ewigkeit Gottes. „Ewig fein in jedem Augenblid, das ift die Unsterblichkeit der Reli— gion” (Schleiermacher). Da uns diefe Ewigkeit nicht geraubt werden kann, fo kann uns alles übrige gleichgültig fein, was im Tode mit ung gefchieht. Zur Todesfurcht ift nicht der geringfte Anlaß. Wovor follten wir ung denn fürchten! Todesangft follte uns etwas fchlechterdings Unverftändliches fein. Wie fteht es in Wirklichkeit? Alle Anfchauungen und Theorien, die die Menfchen über den Tod und das, was darauf folgt, erfonnen haben, find aus dem Bedürfnis entitanden, das Grauen zu bannen, das uns angefichts des unbekannten X befchleicht, das im Tode auf uns zufommt, die Angſt zu verfcheuchen, die uns dieſes Ereignis einflößt, das uns immer näher ruͤckt und das wir Doch nicht durch: ſchauen koͤnnen. Am einfachiten ift das Beruhigungsmittel des Materialismus, Mit dem Zerfall des materiellen Gehirns muß auch
das Bemwußtfein erlöfchen, wie die Lampe erlifcht, wenn Fein Ol mehr da ift. Was uns bevorfteht, ift alfo das, was fich heute Taufende von Menfchen wünfchen: Lethe, traumlofer Schlaf. Aber wenn ein über: zeugter Materialift fich das Leben nehmen will, um fich von den qual:
8. Das Scheitern des Idealismus
an der Wirklichkeit
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vollen Erinnerungen zu befreien, die ihn verfolgen, ſo fuͤhlt er deutlich, wie unſicher dieſe ganze Rechnung iſt. Daß das Bewußtſein mit der Zerſtoͤrung des Körpers erliſcht, dag ſchließen wir nur aus dem Außen⸗ bild, das wir vom Tode haben, wenn wir andere ſterben ſehen. Aber
was der Sterbende ſelber erlebt, bleibt uns voͤllig verborgen. Wir ſehen ja nicht in ihn hinein. Die materialiſtiſche Deutung des Todes iſt alſo nur ein Selbſtberuhigungsmittel des Menſchen, das ſeine
Todesangſt verraͤt. Was von dem negativen Beruhigungsverſuch des Materialismus geſagt werden muß, das gilt ebenſo von den poſitiven Verſuchen, die gemacht worden find, um die Vernichtungsangſt zu bannen. Beſon⸗ ders beruhigend fcheint zunächit die aus Indien ftammende Vor: ftellung zu fein: Ich gebe im Tode nur mein Cinzeldafein auf, das mir ja oft genug eine Laft ift, und kehre ins Alleben zurück, um in ihm weiterzueriftieren. Vertrauter ift uns Europäern der Platonifche Unfterblichkeitsgedanfe. Im Tode wird nur die vergängliche Leibes⸗ hütte, der Kerker der Seele, abgebrochen. Mir felbft gefchieht überhaupt nichts. Ich bleibe, was ich bin, und werde nur in höhere Regionen entrückt. Auch diefen Theorien iiber das Wefen des Todes merkt man es fofort an, daß fie zu dem praftifchen Zweck erdacht find, uns angefichts des Todes eine gute Suggeftion zu geben, die uns das Sterben erleichtern foll, indem fie uns von der Vernichtungsangft befreit. Diefer Zweck wird nur fehr unvollfommen erreicht, Wenn wir auch ganz abfehen von den Einwänden, die die heutige Phyſiologie und Gehirnpathologie gegen die Vorftellung eines leiblofen Geiftes erhebt, weiß jeder, der einmal in einer fchweren Krankheit in die
Nähe des Todes gekommen ift, aus eigener Erfahrung: Der Tod zerbricht nicht bloß die äußere Schale unferes menfchlichen Wefens,
um den unvergänglichen Kern freizulegen; der Angriff des Todes richtet fich vielmehr gegen mein innerftes Selbft, gegen den Kern meiner Perfönlichkeit. Wir bleiben alfo nach allen negativen und pofitiven Gedanken, die fich die Menfchen iiber den Tod gemacht haben, angefichts des Öterbens in der Ungewißheit, die in Hamlets Monolog gefchildert iſt: „Sein oder Nichtfein, das ift jeßt Die Frage.” Zwifchen diefen beiden
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II. Die Herrschervollmacht
des Christus
Möglichkeiten werden wir hin und her geworfen. Geht es im Tode ing Nichts hinein, in ein „Schlafen“? Oder fteht Hinter diefem Nichts ein neues unbekanntes Etwas: „vielleicht auch Traumen?”
Diefe Ungewißheit felbft ift indes nicht ein Zeichen dafür, daß wir im Zuftand der Gottesferne leben, fondern das Grauen, mit dem uns diefe Ungewißheit erfüllt, Wenn wir fo in Gott wären, wie mir im Raum find, wenn uns Gottes Gegenwart fo erfchloffen wäre, wie ung die räumlichen Dimenfionen erfchloffen find, dann dürfte uns das ungewiſſe Schieffal, das uns im Tode bedroht, überhaupt nicht . berühren, Die Ewigkeit, die wir in Gott haben, ift ja völlig unabhaͤn⸗
gig von allem, was mit dem vergänglichen Teil unferes Wefens gefchehen kann. Daß wir uns alle von Natur vor dem Tode fürchten, das zeigt, daß etwas zwifchen Gott und uns fteht. Wir fünnen diefe Todesfurcht durch alle möglichen Mittel betäuben und unterdrücken. Wenn wir in Stunden der Todesgefahr Platos „Phaͤdon“ leſen und uns den Tod des Sofrates vor Augen ftellen, werden wir in der Tat dem Tod gegenüber ruhiger. Vor allem wird die Todesangft durch Handeln niedergehalten, durch Teilnahme an einer großen Aktion, die alle Kräfte in Anfpruch nimmt. „Seder, der den Krieg oder große Gefahren mitgemacht hat, weiß, daß in den geiteigerten Augenblicken der Todesnähe ein raufchartiger Leichtfinn eintreten kann, der die Melt entwirflicht und damit die Furcht aufhebt” (Fr. Werfel). Aber die Urt, wie wir in allen diefen Fällen die Todesfurcht bezwingen fönnen, zeigt deutlich, Daß die Furchtlofigkeit dem Tod gegenüber bei ung Menfchen nie von Natur da ift, fondern daß wir fie immer nur erreichen können, indem wir den Zuftand, der von Natur da ift, ing Unterbewußtfein verdrängen. Von unferem urfprünglichen Zu: ftand gilt nach wie vor, was der Hebräerbrief von den Menfchen im vorchriftlichen Stadium fagt, daß fie „Durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte fein mußten“ (Hebr. 2, 15). Schauen wir noch einmal zurück, fo hat fich eine ganze Reihe von
charakteriftifchen Grundzuͤgen herausgeftellt, die unferm Dafein das Gepräge der Gottesferne geben: die Bezweifelbarfeit Gottes, alfo die Möglichkeit, die Realität, die alles trägt, in Frage zu ftellen, die „Nächftenferne”, die Unfchlüffigfeit unferer Entfcheidungen, alfo das
8. Das
Scheitern
des Idealismus
an der Wirklichkeit
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Bedürfnis nach ethifchen Normen, diefem ungenuͤgenden Erſatz für
die Infpiration des Augenblicks, die Willensſchwaͤche, die damit zufammenhängt, das Leiden unter dem Leben und das Grauen vor dem Tod. Das find lauter Zeichen dafiir, daß wir nicht indem Zuftande find, den der Idealismus mit Recht als den Normalzuftand des Men ſchen darftellt, Es find lauter Tatfachen, die es jedem Menfchen, in dem die Gottesfrage erwacht ift, zum Bewußtfein bringen, daß uns Gott nicht ſchon durch unfere Eriftenz erfchloffen ift, fo daß wir imftande wären, uns in der zentralen Xebensfrage felbit zu führen. Wir fehen daraus: Wenn es überhaupt möglich fein fol, den Zugang zu Gott zu finden, fo kann das nur auf eine Weife gefchehen, gegen die fich nicht nur der arifche Mensch, fondern jeder Menfch von Natur mit allen Kräften auflehnt, nämlich dadurch, daß wir in der wichtig: ften Frage unferes Lebens unfere Selbitbeftimmung aufgeben und uns von einem andern führen laffen, der dazu die Vollmacht hat. Woher kommt diefe abnorme Lage, aus der wir nur Durch ein fo außerordentliches Mittel befreit werden können? Auf dieſe Trage
können wir durch unfer eigenes Denken feine Antwort geben. Denn folange wir gottblind find, koͤnnen wir die Urfache diefer Gottblindheit nicht dDurchfchauen. Denn wenn wir die Urfache unferes abnormen Zuftandes Eennen würden, wäre wenigitens die Möglichkeit für uns vorhanden, uns felbft aus ihm zu befreien. Wir wären dann nicht wirklich gottblind. Den tiefften Grund unferer Blindheit koͤnnen wir mithin erft erfennen, wenn wir ung dem unterftellen, der die Voll: macht bat, uns in der leßten Lebensfrage zu führen. Über den wahren Grund unferes abnormen Zuftandes fönnen wir jedoch erft im folgenden Abſchnitt fprechen. Denn in diefem wollen wir erft den Führer felbft in feiner konkreten Wirklichkeit ing Auge
faffen und hören, was er uns darüber gejagt und Durch feine ganze Haltung der Welt gegenüber zum Ausdrud gebracht hat, Im bis: herigen haben wir uns nur das vergegenwärtigt, was ſchon mit der allgemeinen Tatfache gegeben ift, daß ung überhaupt ein Führer
geſchenkt ift.
III, Die Urſchuld als der tiefjte Grund, warum wir eines Führers bedürfen 9. Die fatanifche Macht im Weltbild Jefu
Mir haben uns in den erften Abſchnitten, die Die negative Vor: bereitung für das urchriftliche Bekenntnis bildeten, deutlich zu machen gefucht, daß die Urwirklichkeit, die uns allein ein unerfchütterliches
Lebensfundament zu geben vermag, für unfere menfchliche Erfenntnis unfaßbar ift. Sie ift überpolar,; unfer ganzes Wahrnehmen, Borftellen und Denken bewegt fich aber in polaren Berhältniffen. Unfer Erkennen fann darum nur immer zwei Bewegungen ausführen. Entweder wir feßen ein Anfangsglied der Reihe feit und machen Diefes zu einem Abgott, den wir ung felbft zurechtgemacht haben; oder wir fehren in den Indifferenzzuftand zurück, Beide Bewegungen führen nicht über die polaren Verhältniffe hinaus. Wir haben uns dann im letzten Abfchnitt mit dem idealiftifchen Glauben an die
Möglichkeit der Selbftführung auseinandergefeßt und dabei an den einfachen Tatbeftänden des alltäglichen Lebens aufgezeigt: Die leßte Wirklichkeit, die uns trägt, ift uns nicht fo erfchloffen, wie uns unfere eigene Eriftenz oder die Dimenfionen des’ Raumes erfchloffen find. Mir leben im Zuftand der Gottesferne.
Beides gehört zufammen, die Gottblindheit unferes Erfenntnisvermögens und die praftifche Erfahrung der Gottesferne. Das find nur zwei Seiten derfelben Sache, Wir haben die Schranke unferer Erkenntnis und die Erfahrung der Oottesferne zunächft nur als einen Tatbeſtand feftgeftellt, der uns zeigt, daß wir uns in der Yeßten Srage nicht felbit führen Fönnen. Diefer Tatbeftand ift fo abnorm, daß fich ung die Frage unausmweichlich aufdrängt: Warum ift es fo? Die Frage entfteht in ihrer ganzen Dringlichkeit, fobald wir in der
9. Die satanische
Macht
im Weltbild Jesu
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Gegenwart Gottes ftehen. Wir können den Eindruck, daß Gott gegenwärtig ift, nicht felbft herbeiführen. Nur Gott felbft kann ung unter den Eindruck feiner unmittelbaren Gegenwart ftellen. Es ift feine Sache, ob und wie er das tun will. Aber fobald wir unter den Eindruck der Wirklichkeit Gottes gekommen find und auch nur etwas davon
erfahren, was für eine Ruhe über uns kommt, wenn wir von Gott getragen werden, erjchrecken wir über unfern gottlofen Zuftand und fragen: Wie ift es möglich, daß wir, denen etwas fo Großes offenfteht, in Gottblinöheit und Gottesferne dahinleben? Die Frage erhält eine ganz beftimmte Form dadurch, daß fie in Gottes Gegenwart geftellt wird. Denn in dem Augenblick, da wir vor Gott treten, entfteht eine neue Kategorie, die gar nicht da wäre, wenn e8 feine legte unbedingte Wirklichkeit gäbe, nämlich die Kategorie des Sittlichen, der Pflicht und der höchften Verantwortung. Sobald diefe Kategorie da ift, muß die Frage fo geftellt werden: Ift der gottent= fremdete Zuftand, in dem wir leben, etwas, wofür wir Feine Ver: antwortung tragen, alfo ein Schiefal, ein Verhängnis, eine Konftitution, in der wir uns vorfinden? Oder ift diefer Zuftand verschuldet? Sind wir dafür verantwortlich, daß wir in diefem Zuftand find? Ehe wir nach einer Antwort auf diefe Frage fuchen, müffen wir ung deutlich machen, warum die Frage diefe Zufpigung erhält. Es
ift die bleibende Bedeutung Kants für die Ethik, daß er uns gezeigt hat: Das Sittliche ift erft dann als eigene Kategorie entdeckt und
herausgelöft aus allen VBermifchungen mit dem Ungenehmen, Schoͤ⸗ nen und Erfolgreichen, es gibt erft dann Schuld und Verantwortung im eigentlichen Sinn, wenn es ein Gebot gibt, das unbedingte Gel: tung hat, das alfo eine Sanftion in fich trägt, die felbit Feiner höheren Sanktion mehr bedarf, eine Autorität, die Feine höhere Inftanz mehr braucht, durch Die fie autorifiert wird. Wenn es Feine Stelle gibt, von der eine unbedingte Befehlsvollmacht ausgeht, wenn alfo die Frage nach dem Recht unferes Handelns auf eine unabfchließbare Reihe
führt, dann Fann die Frage, was gut und böfe ift, immer nur dadurch
entfchieden werden, daß wir ung felbft etwas feßen oder wählen, nach deffen Legitimation wir nicht mehr fragen wollen, einen Maßſtab,
den wir felbft als letztes Kriterium feftfegen. Diefer Maßftab, den
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
wir felbft wählen, kann nur entweder das fein, was ung glücklich
macht, oder das, was wir fchön finden, oder das, was Erfolg in der Melt hat und ung dadurch in feinen Bann zwingt. Damit ift aber Die Kategorie des Sittlichen überhaupt noch nicht entſtanden. Alle Mari men und Prinzipien, nach denen wir ung richten, Eönnen ja, wie Kant fagt, bloße Ratfchläge der Klugheit oder technifche Regeln fein, Die wir uns auf Grund eigener oder fremder Lebenserfahrung angeeignet oder zurechtgelegt haben. Solche Grundfäße unterfcheiden fich in nichts von hygieniſchen
Katfchlägen oder Verhaltungsmaßregeln, die uns der Arzt gibt, um ung zu fagen, wie wir uns vor Erfältung ſchuͤtzen Fönnen, oder von Regeln, die ein Techniker oder Ingenieur beachten muß, wenn er ein haltbares Gebäude oder eine fichere Schwebebahn im Hochgebirge anlegen will, Alle medizinifchen und technifchen Regeln haben eben nur bedingte Geltung, Sie wollen mir feine unbedingte Verpflichtung auflegen. Sie wollen mir immer nur fagen: Wenn du gefund bleiben willft, fo folge der ärztlichen Verordnung ;wenn du deine Gefundheit ruinieren willft, kannſt du diefe Ratfchläge auch in den Wind fchlagen.
Wenn du eine Gebirgsbahn bauen willft, die gegen Unfälle gefchüst ift, benüße das befte Material und mache dir die Erfahrungen zunuße, die man beim Bau der neueften Schwebebahnen gefammelt hat; wenn dir aber die Sicherheit der Paffagiere gleichgültig ift, fo kannſt du auch mit einem fchlechteren Material und nach einem älteren Syſtem bauen. Ob ich mich gefund erhalten oder ob ich mich ruinieren
foll, ob mir die Sicherheit des Publitums oder die Sparfamfeit höher ftehen foll, auf diefe Frage geben mir alle Klugheitsregeln und tech: nischen Ratfchläge Feine Antwort. Sie enthalten alle einen unbedingten Befehl. Sie liegen darum alle außerhalb des fittlichen Gebiets. Sie erreichen die Kategorie des Ethifchen noch nicht. Wir koͤnnen
allerdings, wenn wir wollen, den Begriff der Sitlichfeit auch dahin erweitern, Daß alles darunter fällt, was Gegenftand irgendeiner Mertempfindung fein kann. Solange wir aber das Sittliche als eine befondere Sphäre von den übrigen Wertgebieten trennen wollen, folange wir unterfcheiden wollen zwifchen dem, was Gewiffenspflicht it, und dem, was bloß Spaß macht, was nur Sache des Geſchmacks
9. Die satanische Macht im Weltbild Jesu
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oder der Mode tft, müffen wir fagen: Sittlich ift ein Grundfaß, ein Wert, ein Trieb, ein vorbildficher Menfch nur dann, wenn er mir eine unbedingte Verantwortung auferlegt, die nicht nach meinen Win: ſchen fragt, fondern unter allen Umftänden gilt und an feine Bedin:
gung gebunden ift. Von Sittlichkeit im eigentlichen Sinne des Worte kann daher nur dann gefprochen werden, wenn es eine Inftanz gibt, die das Recht, ung zu befehlen, in fich felber trägt. Diefe letzte Autori—
tät, die felbft Feiner Legitimation mehr bedarf, von der aber jeder Befehl autorifiert fein muß, wenn er unbedingte Geltung haben foll, nennen wir Gott. Wenn ung Gott als die Urwirklichkeit aufgegangen ift, ftehen wir bei allem, was wir denfen und tun, vor ihm, dem wir uns felbft ganz fchuldig find und dem wir darum unbedingt verantwortlich find. Dadurch entfteht bei allem, was um uns und in ung gefchieht, die Srage, ob es ein Schickſal ift, für das wir überhaupt Feine Verant: wortung tragen, weil es ohne unfer Zutun über uns gefommen ift, oder ob wir Gott dafür verantwortlich find. Diefe Frage wird am dringlichiten, wenn uns in der Gegenwart Gottes zum Bewußtfein fommt, daß wir in einem gottentfremdeten Zuftand leben und darum in der Möglichkeit des Zweifels an Gott, in Schwäche, Unfchlüffigfeit und Todesfurcht. Iſt diefer Zuftand Schickſal oder ift er Schuld? Bin ich unschuldig an ihm, oder bin ich für ihn verantwortlich? Das tft das Entweder-Oder, vor dem wir ftehen. An der Entfcheidung diefes Entweder-Oder hängt für uns alles. Gegenüber diefer einen Hauptfrage werden alle andern Fragen, die noch geftellt werden fönnen, zu untergeordneten Nebenfragen. Wenn wir unfern gottentfremdeten Zuftand als Schieffal hinnehmen dürfen,
für dag wir feine Verantwortung tragen, dann hat die weitere Frage nur theoretifches Intereffe für uns, wie wir ung diefes Schiefal, unter dem wir ftehen, philofophifch und theologifch zurechtlegen und wie wir e8 weltanfchaulich ausdrücken follen. Wir koͤnnen fagen:Unfere Gott: blindheit, unfer Leiden und unfere Unfchlüffigfeit gehören einfach zu unferer menfchlichen Konftitution. Denn unfer Geift ift in einen materiellen Körper eingefchloffen, der ihn wie ein fchwerer Ballaft niederzieht und feinen Ydlerflug zu Gott hemmt. Oder wir fagen: Heim, Jeſus der Herr
98 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
Unfere Seele hat nicht bloß das Vernunftvermögen, fondern auch Die Sinnlichkeit, die fie beraufcht und in die Gottesferne hineinzieht. Oder wir faffen unfere Lage fo auf, wie der Brahmanismus fie anfieht. Wir find vom Schleier der Maya umfangen, der uns vor:
täufcht, wir ſeien Einzelweſen, die fich in Gier und Haß gegeneinander behaupten muͤſſen, während wir in Wahrheit eins find mit Atman und Brahman, Oder wir befchreiben unfere Lage in der Form der deutfchen fpefulativen Philofophie und fagen: Es ift unfer Schickſal, daß wir an einem Weltprozeß teilhaben, der fich nach der Dialeftifchen Regel vollzieht: Eine Bejahung kann immer nur zuftandefommen durch Verneinung einer Verneinung. Der Geift muß fich felbft ent: fremdet werden, um fich felbft zu finden. Affe diefe fo verfchiedenartigen Erklärungen unferes abnormen Zuftandes find nur Variationen über ein Thema. Man kann fie alle als mannigfaltige Abwandlungen des Saßes auffaflen, mit dem fich in der biblifchen Sündenfallgefchichte Adam Gott gegenüber entfcehuldigt: „Das Weib, das du mir zugefellt haft, gab mir von dem Baum, und ich aß” (1. Mofe 3, 12). Wir koͤnnen diefen Saß variieren:
Der materielle Körper, den du mir gegeben haft, hat mich dir entfrem= det, und ich verfank in Gottesferne. Die Sinnlichkeit, die du meiner
Vernunft zugefellt haft, gab mir von dem verbotenen Baum, und ich aß. Die Taͤuſchung meiner Einzeleriftenz hat mich geblendet, und ich verlor die Einheit mit dem Allfein. Die dialektifche Spannung des Weltprozeſſes, aus dem du mich haft hervorgehen laſſen, enthielt als notwendige Antithefis die Gottentfremdung.
Unfere Lage ift dann eine völlig andere und wir find mit einem Schlag aus allen diefen philofophifchen und theologifchen Betrachtungen herausgeworfen und auf eine ganz andere Ebene geftellt, wenn dag Abgefchnittenfein von unferem Urfprung nicht ein Schickſal ift, das wir mutig oder refigniert auf ung zu nehmen haben, fondern eine Schuld, für die wir zur Rechenfchaft gezogen find. Mie ift nun die Frage zu beantworten, ob es fich hier um ein Schickſal oder eine Schuld handelt? Wir koͤnnen diefe Frage nicht jelbft entfcheiden. Denn Gott ift für unfer polares Wahrnehmen, Vorftellen und Denken unfaßbar. Er kann niemals unfer Denkobjekt
9. Die satanische
Macht
im Weltbild Jesu
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werden, Wir fönnen uns darum auch das Verhältnis, in dem unfer ganzes Sein zu Gott fteht, nicht mehr als Gegenftand unferes Den: tens gegenüberftellen und feine Herkunft und Entftehungsurfache unterfuchen. Wenn wir das verfuchen, überfchreiten wir die Grenze, die ung gefteckt ift. Es gibt darum für uns nur zwei Möglichkeiten : Entweder wir geben entfchloffen alle Verfuche auf, an diefer Stelle mit unjerem Denken weiter vorzudringen, Oder es gibt eine Macht, die dort,wo wir uns felbft nicht mehr führen fönnen, die Führung unferes Denkens und Wollens übernimmt, Nach dem Glauben der Chriftusgemeinde ift uns ein Führer gegeben, der uns über unfer Verhältnis zu Gott fo viel erfchließt, als er für gut Hält, damit wir nicht irregehen. Nach dem Bericht der Evangelien haben fchon die
erften Jünger, wenn fie auf eine dringende Xebensfrage feine Antwort fanden, ihren Meifter umringt und ihm dieſe Frage vorgelegt, zum Beilpiel die Frage: „Wann kommt das Königreich Gottes?’ In diefem Sinne richten wir an Jefus die Frage: Warum find wir Gott fo fern, dem Gott, der uns doch näher ift, als wir ung felber find? Iſt das ein Schickfal, das wir hinnehmen müffen, oder ift das eine Schuld? Sefus hat auf diefe Frage nirgends direft geantwortet. Uber feine Entfcheidung ergibt fich aus der Urt, wie er feine ganze Lebensaufgabe auffaßte, Er unterfcheidet fich darin deutlich von Buddha und den anderen Führern der indifchen Religion. Iefus wollte den Menfchen nicht wie Buddha einen Ausweg aus dem Leide zeigen, eine Infel, wohin man fich aus dem Ozean des Weltleids retten kann. Er kam nicht fo, wie der Führer einer Rettungskolonne in eine Gegend kommt, die von einem fchweren Schickfal, etwa einer Mißernte oder Hunger⸗ fataftrophe, betroffen worden ift. Jeſus kaͤmpft nicht gegen ein Schick⸗
fal, das die Menfchen befallen hat. Er kaͤmpft gegen einen Willen, der fich gegen Gott aufgelehnt hat. Nachdem in der Taufe der Geift
über Jefus gefommen war, begann er feine Xebensarbeit damit, daß er den Kampf gegen den Satan aufnahm, Diefer verfuchte, das
Feuer, dag Chriftus auf Erden anzuͤnden follte, fchon im Keim zu erfticten, ehe es um fich greifen konnte. Der Teufel wollte ihn ver: führen, durch Wunderfräfte und Machttaten die Volksmenge zu 7*
100 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
begeiftern und einen Maffenerfolg zu erzielen. Dadurch wäre eine irdifche Machtbewegung entitanden, die nach Eurzem Auffchwung zufammengebrochen wäre. Jeſus hätte die göttliche Vollmacht ver— Yoren, In heißem Kampfe wirft er den Verfucher nieder. Der Bericht
darüber fchließt bei Lukas (4, 13) mit den Worten: „Und als der Teufel die ganze Verfuchung vollendet hatte, ftand er von ihm ab eine Zeitlang.” Die Verfuchungsgefchichte ift alfo nur die erſte gewon— nene Schlacht eines langen Krieges. Das ganze Leben Jeſu ift ein Kampf mit dem Todfeind Gottes. Das Ziel diefes Kampfes ift, in das „Haus des Starken” einzudringen, ihn zu übermwältigen, zu feffeln und ihm dann feinen Raub abzunehmen (Mrk. 3, 27).
Der Satan weiß, daß ein Stärferer über ihn gekommen ift, der feiner Herrfchaft ein Ende machen will. Er feßt fich darum mit allen
Waffen, die ihm zu Gebote ftehen, gegen ihn zur Wehr, Kaum ift
Jeſus als Saͤmann ausgegangen, zu fäen feinen Samen, „ſogleich kommt der Satan und nimmt das Wort weg, das in Die Herzen aus: geftreut ift” (Mrk. 4, 15). Wo Jefus den Menfchen helfen will, ftehen die Dämonen gegen ihn auf. Sie erkennen ihn als ihren überlegenen Gegner und ftoßen Läfterungen aus. In der gefrümmten Frau fieht Jeſus eine Kriegsgefangene des Satans. Diefer hat „eine Tochter Abrahams“, alfo einen Menfchen, der an der Gottesverheifung teil hatte, „gebunden achtzehn Jahre” (Luk. 13, 16). Immer näher rückt dann die furchtbare Stunde, da der Feind zum legten Schlag ausholt und alle feine Streitkräfte zufammenzieht, um Jeſus zur Entfcheis dungsſchlacht herauszufordern. Der Feind dringt felbft in den engften Süngerkreis ein: „Satanas hat euer begehrt, um euch zu fichten wie den Weizen”, fagt Jefus zu den Seinen (Luk. 22, 31). Der Satan hat von Judas Befiß genommen: „Nachdem er von dem Biffen genom: men hatte, fuhr der Satan in ihn” (Joh. 13, 27). Und als nun die
Stunde gekommen war, da es den Führern Ifraels gelungen war, die Militärmacht Roms gegen ihn aufzubieten, als Jeſus umringt war von der Tempelwache, die von den Prieftern und Ülteften geführt wurde, fprach er die inhaltsfchweren Worte: „Dies ift eure Stunde
und die Macht der Finfternis” (Luk. 22, 53). Das ZTodesleiden, in das er hineingeht, ift alfo nicht ein Berufs:
9. Die satanische
Macht
im Weltbild Jesu
101
leiden, das ihm menſchliche Mißverſtaͤndniſſe und Widerſtaͤnde bereiz tet haben, Es ift auch nicht ein Kampf zwifchen Ideen, etwa zwifchen der politifchenationalen und einer reinsreligiöfen Meffiasidee, Es iſt vielmehr nach Jeſu eigener Ausſage die letzte furchtbare Entſchei⸗ dungsſchlacht des ſein ganzes Leben ausfuͤllenden Krieges gegen die ſataniſche Macht, die Gott entthronen will. Schon dieſer Tatſachen— befund, der in allen Quellen des Lebens Jeſu uͤbereinſtimmend berichtet wird, zeigt Deutlich: Der Gedanke, daß eine widergättliche Macht da iſt, um die der Kampf geht, läßt fich nicht als unmwefentliche zeit: bedingte Vorftellung aus dem Bewußtfein Jeſu ausfchalten. Es ift vielmehr feine Grundüberzeugung, die feine ganze Lebensarbeit von Anfang an bis zum ſchrecklichen Ende zu einem heißen Ringen mit einem unfichtbaren Gegner macht. Der Kampf in Gethfemane und alles, was darauf folgt, laßt fich nur von da aus begreifen, Was folgt daraus für unfere Frage? Es ift ſchon rein religions— gefchichtlich betrachtet Höchit auffallend, daß in einer Religion, die ganz erfüllt und beherrfcht war von dem Glauben an den einen Gott, den Vater, der die Lilien Eleidet und die Vögel fpeift, die duͤſtere Vor: ftellung einer fatanifchen Macht Raum gefunden hat. In der poly: damoniftifchen Religion ift der Gedanke felbftverftändlich, daß die Welt nicht bloß von Lichtgottheiten, fondern auch von finfteren Dämonen bevölfert ift, Die mit ihren ZTeufelsfragen die Menfchen erſchrecken. Sollte diefer ganze Teufelsfpuf nicht in dem Augenblick ein Ende haben, da der Ein-Gott-Glaube, wie ihn Mofe vertritt, fiegreich wie die Sonne über die Nebelwolken aller heiönifchen Dämonen: vorftellungen emporfteigt? „Höre, Ifrael, der Herr unfer Gott ift ein einiger Gott.” „Der Herr ift Gott und feiner mehr,” „Ihr follt Feine andern Götter neben mir haben,” Mas bedeutet es, wenn in einer Weltanschauung, die ganz getragen ift von dem Glauben an den einen Schöpfer Himmels und der Erden, das Wort „Satan“ auftritt? Ift das ein Rückfall in die uͤberwundene Religionsftufe des Polytheismus, ein Fleck auf dem reinen Bild des Vaterglaubens Jeſu? Das wäre bei Jefus, bei dem der Glaube an die Alleinherrfchaft Gottes alles erfüllt, eine ganz unbegreifliche Inkonfequenz. Außerdem müffen wir ung darüber Flar fein: Die
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Wirklichkeit des Satans nimmt in der Lebensanfchauung Jeſu eine zentrale Stellung ein. Sie ift wefentlich für die Art, wie er feine Heilandsaufgabe auffaßt. Wenn wir fie als zeitgefchichtlich bedingte Vorſtellung, alfo als ſubjektive Täufchung ablehnen, erſchuͤttern wir
die ganze Führerautorität, die Jeſus in der leßten Frage für uns hat.
10. Das Wefen des Satanifchen
Mas bedeutet es, wenn der mit der Wirklichkeit des Satans ges rechnet hat, der doch wußte, daß alles, was gefchteht, nach des Vaters Willen gefchieht, und daß ohne ihn fein Haar von unferem Haupte faͤllt? Wenn von einer diabolifchen Gewalt gefprochen wird, ift damit unter allen Umftänden ein Dreifaches gemeint: 1. Mas eine Störung in das Verhältnis zwifchen Schöpfer und
Schöpfung hineinbringt, das tft nicht eine unperfünliche Kraft, nicht ein Mangel, eine Schwäche, eine Unvollkommenheit, die zum Schiefal von uns endlichen Wefen gehört, fondern ein Wille, Das Satanifche ift nicht eine Negation, fondern etwas hoͤchſt Pofitives. Der Satan it ein feindlicher Wille, der fich gegen Gott auflehnt. 2. Dazu fommt das zweite, das fofort mitgedacht ift, wenn das
Wort Satan auftaucht. Der Wille, der fich gegen Gott erhebt, ift nicht ein begrenzter Menfchenwille, für deifen Auflehnung es irgendeine Erklärung oder Entfehuldigung gibt. Wenn fich ein fehwacher Menfchenwille gegen Gott empört, kann das feinen Grund darin haben, daß eine mangelnde Gotteserfenntnis dahinterfteht. Der Menfch verſteht Gottes Führung nicht und kann darum beim beiten Willen den Zweifel an Gott nicht überwinden, Oder der Menfchen: wilfe ift zu Schwach, um den Verfuchungen zu widerftehen, die ihn von Gott ablenken, Die Welt ift fo fchön und bezaubernd, daß er der Ver—
ſuchung erliegt. In allen diefen Fällen hat der Kampf gegen Gott immer irgendeinen Grund, der nicht im Wefen Gottes felber Tiegt. Die Auflehnung gegen Gott erklärt fich aus einem Mißverftändnis Öottes oder aus der Zaubermacht der Welt, die ung umfangen hält. Anders iſt es mit dem fatanifchen Gegenwillen: er ift durch nichts begründet oder entfchuldigt, weder durch Willensfchwäche noch durch
10. Das
Wesen
des Satanischen
103
mangelnde Erfenntnis. Es ift der reine Gotteshaß. Der Teufel weiß, wer Gott ift und was Gott will. Gerade diefen Gott in feiner gött: lichen Majeftät haßt er von ganzer Seele, Gerade diefen Gott will er ver: nichten. „Wie wollen nicht, daß diefer über ung herrfche” (Luf.ıg, 14).
3. Das wichtigfte ift num aber das dritte, Ein Wille, der den Unter: gang Gottes will, kann nicht eine Macht fein, die nur als Glied in der Reihe der einander bedingenden und begrenzenden Gegenftände, Räume und Machtfaktoren diefer Welt fteht. Denn Gott fteht alg die Urmwirklichkeit außerhalb und oberhalb aller polaren Gegenfäßeder Erfahrungswelt. Nur darum können wir auf ihn geftüßt der ganzen Welt trogen. Es ift undenkbar, daß eine Energie, die felbft polar und begrenzt ift, fich gegen die allgegenwärtige, überpolare Urwirklichkeit auflehnt. Eine Macht, die den Vernichtungskrieg gegen Gott führen will, maßt fich damit an, an die Stelle zu treten, an der Gott fteht. Sie will Gott entthronen und felbft Gott fein, So wird der Satan im Neuen Teftament der „Gott diefes Aons“ genannt (2. Kor. 4, 4). Diefe Ausfagen ftellen uns vor eine abgrundtiefe, fchwere und unfaßbare Wahrheit. Wenn wir verfuchen, fie auszudenken, ſtuͤrmt eine Fülle von Fragen auf uns ein, Wie kann in Gottes Reich eine
Gegenmacht gegen Gott auftreten? Wo bleibt da die Alleinherrfchaft Gottes? Entfteht da nicht ein unerträglicher Dualismus zwifchen zwei Göttern? Wir wollen diefe Frage hier noch zurücitellen. Denn wir find in diefem Zufammenhang auf die Wirklichkeit des Satans nur durch die eine Frage geführt worden, ob die Gottesferne, in der wir leben, Schiefal oder Schuld ift. Wir wollen darum hier nur davon fprechen, was fich für unfer Verhältnis zu Gott aus der Tat— fache ergibt, daß wir mit der Wirklichkeit einer fatanifchen Gegenmacht rechnen müffen. Wir müffen darum die Frage fo ftellen: Wenn es eine fatanifche Macht gibt, in welchem Verhältnis fteht dann der fatanifche Wille zu unferem Willen? Wir fahen: Die teuflifche Macht tritt auf diefelbe Ebene, auf der
Gott fteht. Um die Urt zu verftehen, wie fich der fatanifche Wille zu unferem eigenen Willen verhält, muͤſſen wir zunächft darauf achten, wie Gott unferen Willen bewegt, was für ein Verhältnis zwifchen
Gottes Willen und unferem Willen entfteht, wenn wir in göttlicher
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Bollmacht handeln. Wer nur einmal in feinem Leben in der Gewiß⸗ heit gehandelt oder geredet hat: „Gott will es“, der weiß: Gottes Wille verhält fich Dabei nicht fo zu unferem Willen, wie fich auf der innerweltlichen Ebene andere Willen zu meinem eigenen Willen ver: halten. Gott zwingt und Enechtet nicht von außen, er übt feinen Druck
auf mich aus, wie das bei allen Willensmächten der Fall ift, die im polaren Spannungsverhältnis zu mir ftehen. Wenn ich in göttlicher Legitimation handle, handle ich vielmehr in innerfter Freiwilligkeit. Servitium dei est summa libertas. Mein Wille ruht in Gottes Auf:
trag wie in feinem Urelement. Ulle Berframpfungen und Zwangs— verhältniffe Löfen fich, fobald das heilige Müffen über mich gekommen iſt. Das kommt daher, weil Gott die überpolare Urmwirklichkeit ift, in der ich mit meinem wahren Sein bin. Wenn es unbegreiflicherweife eine fatanifche Macht gibt, die als Gegenfpieler Gottes auftritt und verfucht, Gott auf derfelben Ebene des überpolaren Seins entgegenzutreten, maßt fich diefe Macht dass
felbe an, was Gott zukommt. Sie dringt in das Verhältnis ein, in dem Gottes Wille zu meinem Willen fteht, wenn ich aus Gott heraus handle, Auch der diaboliſche Wille ift darum nicht eine Macht, die mich von außen zwingt, fondern ein Wille, der von meinem Innerften
Befiß nimmt, ein Wille, der in mir will, Wenn das der Fall ift, dann kann ich die Schuld an meiner Gottes— feindfchaft nicht auf den Satan abwälzen und fagen: Er hat mich dazu gezwungen. Das wäre möglich, wenn der Satan ein Macht: faftor innerhalb diefer Welt wäre und mich als fremde Gewalt von außen beeinflußte wie ein Mitmenfch, der einen Druck auf mich aus: übt, Uber der fatanifche Wille iſt ja auf überpolare Weife gegenwärtig. Eriſt nicht ein fremder Wille, Er will in meinem Innerſten. Was ich aus ihm heraus tue, ift alfo meine eigenfte Schuld. Ich kann fie auf
niemand und nichts abwälzen, dag außer mir ift. Damit haben wir uns die drei Wahrheiten vergegenwärtigt, die damit gegeben find, wenn wir Chriftus glauben, daß es eine fatanifche Macht gibt. Faſſen wir diefe drei Wahrheiten zufammen, fo haben wir damit die Antwort auf die Frage, ob Die Gottesferne, in der wir leben, Schickſal oder Schuld ift. Jeder von uns muß dann fagen : Daß
10. Das
Wesen
des Satanischen
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ich von Gott gefchteden bin und darum gottblind, unfchlüffig in meinen Entfcheidungen, leidend unter dem Leben und furchtfam vor dem Tode, das darf ich auf nichts zuruͤckfuͤhren, was paffio über mich gekommen ift, etwa auf meine menfchliche Konftitution, auf meine Leiblichkeit und Sinnlichkeit, auf die Endlichfeit und Zeitlichfeit meines Dafeins, auf den Exiſtenzkampf, in dem ich ſtehe. Das alles entfchuldigt mich nicht. Denn wenn ich fo in Gemeinfchaft mit Gott ftünde, wie ich follte, dann fönnte fich Gott mir fo erfchließen, daß ich ihn zu erkennen vermöchte, Dann würde mein Leib ein Tempel feines Geiftes fein, dann wäre die Zeitform, in der ich lebe, Feine Not mehr, jondern eine Gnade, Dann würde ich fo in Gottes Willen ruhen, son dem alles fommt, was mir begegnet, daß das Leid des Lebens aufgehoben wäre in Dank, Meine Gottesferne kann daher ihren Grund
in nichts haben, was außerhalb meines Willens liegt. Es gibt dafür fchlechterdings Feine Erklärung und Entfchuldigung. Daß ich von Gott gefchteden bin, tft meine eigene Schuld, eine tiefe und unendliche Schuld. Sie ift zurückzuführen auf einen fatanifchen Willen, der in mir will und der fich gegen Gott auflehnt. Das fommt mir zum Bemwußtfein, fobald ich in der Gegenwart Gottes ftehe. Solange das nicht der Fall ift, merfe ich nichts davon und kann mir meinen Mangel an Gewißheit irgendwie philofophifch oder theologifch zurechtlegen. Uber ſobald ich vor Gott felbit ftehe, fpüre ich, daß fich eine Feindfchaft gegen ihn in mir regt, für die es
fchlechterdings Feine Entfchuldigung gibt. Wenn diefe Empörung gegen Gott überhaupt irgendwo da ift, kann fie nicht auf eine einzelne Stelle in der Welt befchränft fein, Denn fie geht ja gegen Gott. Sie geht darum aufs Ganze, Ein Wille zur Vernichtung Gottes ift
Empörung auf der ganzen Linie. Es wird mir darum in der Gegenwart Gottes, wenn ich zu ihm bete oder von ihm einen Yuftrag empfange, fofort deutlich: Der widergöttliche Wille, der mich vor Gott unrein macht, will nicht bloß in mir, er will in allem, was lebt, Jeſajas fpricht es in der Gegenwart Gottes aus: „Ich bin unreiner Kippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen” (Jeſ. 6, 5). Der Pfalmift betet: „Herr, gehe nicht ing Gericht mit Deinem Knecht, denn vor dir ift Fein Lebendiger gerecht” (Pf. 143, 2). Paulus fagt, daß wir
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„Feinde Gottes” find, folange wir nicht durch ein wunderbares Eins greifen Gottes mit ihm verfähnt find (Rom, 5, 10). Feindfchaft bedeutet immer Todfeindſchaft. Der Feind will den vernichten, den er befämpft. Wenn wir Feinde Gottes find, fo find wir an einer Empörung beteiligt, die Gott vernichten will. Das alles find feine dogmatifchen Ausfagen, die fpekulativ erdacht find. Sie brechen vielmehr im Gebet mit elementarer Gewalt aus dem Menfchen hervor, der die Nähe Gottes fühlt. Daß es fich um eine
Gefamtbewegung gegen Gott handelt, das nimmt mir meine per= fönfiche Schuld nicht im geringften ab, fondern macht diefe nur noch
fchwerer. Denn diefer Wille, der in allem will, ift ja nicht der Wille eines fremden Wefens, unter deſſen Gegendruc ich ftehe, Er hat viel= mehr eine uͤberpolare Gegenwart. Während er in allem will, ift er
zugleich gang und gar mein eigener innerfter Wille, für den ich die volle Verantwortung trage. Mit dem allem haben wir nur das entfaltet, was in der Yusfage Sefu enthalten ift, daß es eine fatanifche Macht gibt, die fich gegen Gottes Mleinherrfchaft empört. Wir haben noch feinen Verſuch gemacht, in die fchwere Wahrheit, die damit ausgefprochen ift, mit vollem Verftändnis einzudringen und auf die Fragen einzugehen, die auftauchen, wenn wir verfuchen, diefe Wahrheit zu Ende zu den= fen. Uber auch wenn wir die Ausſagen Jeſu über den Satan zunächit nur einmal als Tatbeſtand aus den neuteftamentlichen Quellen er—
heben, geht uns auf, von was für einer ungeheuren Tragweite es für unfere ganze Weltauffaffung ift, ob wirin diefem entfcheidenden Punkt der Führung Iefu folgen oder ob wir fie ablehnen. Das ift nicht bloß eine theologifche Frage; an diefer Frage bricht pielmehr ein leßter Gegenfaß zwifchen zwei Lebensauffaffungen auf, der fich auf allen Lebensgebieten zeigt und vor dem wir immer wieder ftehen, wenn wir auf politifchem, wirtfchaftlichem oder Eirchlichem Gebiet Entfcheidungen zu treffen haben. Lehnen wir das Satanifche ab, rechnen wir alſo nicht damit, daß es in ung und um uns eine damonifche Oppofition gegen Gott gibt, dann kann es immer nur auf einem Mißverftändnis beruhen, wenn Menfchen das Heilige in den Schmuß ziehen und gegen Reinheit und Wahrheit impfen. Das
10. Das Wesen des Satanischen
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kann dann immer nur daher kommen, weil ihnen das Ideal nur in
einer Entftellung vor Augen getreten ift, die ihren gefunden Lebens: inftinft abſtoßen mußte, Die bolfchewiftifche Gottlofenpropaganda erklärt fich dann nur daraus, daß der Gottesglaube der unterdruͤckten Arbeiterfchaft als ein Mittel der Kapitaliftenflaffe erfcheinen muß, die ausgebeuteten Arbeiter auf ein vermeintliches Jenſeits zu ver: teöften. Die Gottlofenbewegung richtet fich alfo in Wahrheit nicht gegen Gott, jondern gegen den fcheinheiligen Mißbrauch des Gottes: namens, der fchon den altteftamentlichen Propheten ein Greuel war. Mir müffen dann überzeugt fein, alle Menfchen wuͤrden fich Gott fofort mit Freuden hingeben und für Reinheit und Wahrheit glühen, wenn ihnen Gott nur in reinen und leuchtenden Farben vor Augen geitellt wirrde ohne Entſtellung durch die geſchmackloſen und fana— tischen Menfchen, die fich auf Erden als die Vertreter der Sache Gottes auffpielen. Wenn alfo Völker einander zerfleifchen und Einzelmenfchen ein= ander ausbeuten und mit Haß und Verleumdung verfolgen, muß hier ein unfeliger Irrtum vorliegen. Die Menfchen haben noch nicht eingejehen, daß fie fich mit dem allem nur felbft Schaden. Wir können darum nur eins tun, um dem Schaden abzuhelfen: Wir müffen die Menfchen aufklären. Wir müffen durch eine durchgreifende Volks— erziehung und geeignete Belehrung den Schutt der Irrtiimer weg: räumen, die durch falfche Erziehung, demagogiſche Verhegung und priefterlichen Fanatismus entitanden find. Dann wird ganz von felbit die reine Flamme des Glaubens und der Kiebe in allen Menfchen emporfchlagen. Die Völker werden ihre Schwerter zu Pflugicharen umfchmieden, Der Klaffenhaß und die Ausbeutung werden aufhören, und die Menfchen werden einander als Brüder in die Urme eilen.
Völlig anders wird unfere Beurteilung des Lebens und unfere Deutung der Gefchichte, wenn Jeſus recht hat, wenn wir alfo mit der Wirklichkeit der fatanifchen Macht rechnen müffen. Dann ift die ganze Weltbeurteilung der Aufklärung das Weltbild einer anima candida, die die Welt noch mit Kinderaugen anfieht und noch feine
Ahnung von der Wirklichkeit hat, weil fie noch nie in ihre Abgründe geblickt Hat, Erſt wenn wir mit der Realität der fatanifchen Macht
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
rechnen, find wir aus dem Kinderglauben erwacht und ftehen auf dem Boden der Wirklichkeit, Erft dann befommt unfer Gebet den
heißen Ernft und die Dringlichkeit, die das Gethfemanegebet Jeſu hatte und die Gebete Luthers in feinen fchwerften Tagen. Wir fehen dann mit erſchreckender Deutlichkeit: Daß die Gottesbotfchaft Durch fragmürdige Zeugen, fanatifche Propheten und verlogene Prieiter entftellt und durch Verquickung mit ruͤckſtaͤndigen Wirtfchaftsordnungen fompromittiert wird, das ift nicht der wahre Grund, warum die Menfchen Gott ablehnen. Das ift vielmehr nur ein höchft willfommener Vorwand, nach dem die Gegner gierig greifen, um ihren Angriff gegen Gott durch wirkſame Schlagworte zu tarnen und fich den Mantel der Kultur und fozialen Gerechtigkeit umzuhängen. Es ift ein fchwerer Irrtum, wenn wir glauben, die Menfchen würden
fich in Haufen zu Gott befehren, wenn alle Anftöße befeitigt wären, die durch die menfchlichen Vertreter der Sache Gottes entitanden find, wenn nur febitlofe Gottesboten wie der heilige Franz in völliger Armut und tätiger Liebe die Länder durchzoͤgen. Ganz im Gegenteil. Se reiner und felbftlofer die Wahrheitszeugen auftreten, um fo flärfer flammt der Gotteshaß empor. Als Jeſus helfend und heilend durchs Land zog, brachen überall die Dämonen gegen ihn los und fließen Gottesläfterungen aus. Gerade ihn, der nichts für fich felbft fuchte, fonnte die Welt nicht ertragen. Die fatanifche Gegenmacht ruhte nicht, bis fie ihn ans Kreuz gefchlagen hatte. Die erften Chriften, deren arme Gemeinden noch durch Feinerlei Verbindung mit dem Kapitalismus oder einer herrfchfüchtigen Priefterkafte befleckt waren,
wurden von der damaligen Welt am ftärkften gehaßt und als odium generis humani aus der Gefellfchaft ausgeftoßen. Man hat diefe Heinen Kreife von Gottesgläubigen nicht bloß in überlegener Ruhe als Eindliche Schwärmer belächelt und nicht bloß dafür geforgt, daß der fchwärmerifche Wahn die öffentliche Ordnung nicht ftörte. Nein, man haßte dieſe Findlichen Menfchen mit fatanifchem Haß und erſann immer graufamere Qualen, um fie zu zermürben und zum Abfall zu bringen, Chriftenmädchen wurden vor der Marter im Zirfus den Prätorianern preisgegeben, Wie fatanifch ift das! Erſt wenn wir mit der Wirklichkeit der diabolifchen Macht rechnen,
11. Der Widerstreit zwischen dem Göttlichen und dem Satanischen
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gehen uns die Augen auf für die dunklen Zufammenhänge zwifchen Mafchinenzeitalter, Kapitalismus, Wohnungselend, Fabrikarbeit von Müttern, Alkoholismus, Proftitution und verheerenden Gefchlechtse krankheiten. Wir ahnen, woher es kommt, daß gerade die Gifte, die ung am ficherften ruinieren, wie Opium, Morphium und Alkohol, mit dämonifcher Suͤßigkeit unfere Sinne umfchmeicheln und ung mit Sirenengefang an fich locken, um uns ins Verderben zu ziehen. Durch
die konkrete Erfahrung, die Gottesftreiter wie Luther mit der Welt gemacht haben, wurden fie auf den peffimiftifchen Eindruck geführt, der in Luthers Schriften immer wieder durchbricht. Es genügt hier, auf das Material hinzumeifen, das in dem Buch von Harmannus Obendief „Der Teufel bei Martin Luther” zufammen geftellt ift. Luther fagt: „Man wende es hin und her, fo ift er der Welt Furſte. Wers nicht weiß, der verfuch’s ;ich Hab etwas davon erfahren: Niemand aber wird mir gläuben, bis ers auch erfahre” (Erl. Ausg. 30, 20). „Der Teuffel ift herr jnn der Welt, und ich habe es felbes nie Eoennen glauben, das der Teuffel folt Herr und Gott der Welt fein, bis ichs nu mals zimlich erfaren, das es auch ein artickel des glaubens fey: Princeps mundi, Deus huius seculi? (MW, U. 50, 473). „Wyr find hie ons teuffels reych, nicht anders, denn wenn eyn pylger ynn eyn herberg kemme, da er wufte, das fie alle ym haufe rember waren, wenn er dahyn fomen muefte, wuerde er fich dennoch rueften und auffs beft, als er Euend, verfehen und nicht viel fchlaffen. Alſo find wor HBund auff erden, da der boefe geyſt eyn furft ift, und hatt der menfchen bergen ynn ſeyner gewallt, thut durch fie was er will”
(W. A. 12, 394). „Ich ftelle feft, daß die ganze Welt vom Satan befeflen ift” (W. U. 43, 123). 11. Der Widerftreit zwifchen dem Göttlichen und dem Satanifchen
Wenn wir unter der Führung Jeſu mit der Wirklichkeit des Sata— nifchen rechnen, müffen wir ung von vornherein daruͤber klar fein, daß damit eine Wahrheit ausgefprochen ift, die fir unfere Erkenntnis einen unlösbaren Widerfpruch bedeutet. Diefer Widerfpruch ift nicht
110 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
theologifch konſtruiert. Jede der beiden Ausſagen, Die hier aufeinanderftoßen, ergibt fich vielmehr mit derfelben Notwendigkeit, jobald wir verfuchen, in der Gegenwart Gottes zu leben. Das muß zunächft im einzelnen gezeigt werden, 1. Es gehört zum Wefen Gottes, daß Gott alles in allem wirft. Pur wenn das der Fall ift, ift Gott unfer letzter Halt, die Macht, aus deren Hand wir alles nehmen dürfen, Wenn es irgend etwas gibt, in dem Gott nicht der Wirkende ift, etwas, was außerhalb feines Machtbereiches fteht, ift damit die Gottheit Gottes aufgehoben. Gott ift in den Bereich der polaren Verhältniffe hereingezogen, in dem fich unfer menfchlicher Lebenskampf abfpielt. Gott ift zu einem inner= weltlichen Machtfaftor geworden, der mit anderen Mächten in Kon— kurrenz tritt. Wenn wir darum betend vor Gott ftehen, fönnen wir den Gedanken, daß es einen Satan gibt, nicht faffen und ertragen, ohne daß wir mit Luther die andere Ausſage machen: Gott als der Allgegenwärtige ift „felbft im Teufel gegenwärtig” (Obendief, ©. 45). Der Teufel ift nur „Gottes Teufel’, alfo ein Werkzeug Gottes. Luther laͤßt Gott zu ihm fprechen: „Zeufel, du bift wohl ein Mörder und Böfewicht, aber ich will dein brauchen, wozu ich will; du follft nur mein Hippen fein, die Welt, und was an dir hanget, foll mein Dungemift fein zu meinem lieben Weingarten, daß er deito beſſer werde... ich will und muß euch haben zu meinem Werkzeug an dem Weinſtock, daß er gearbeitet und zugericht werde: Darumb fchneidet, hauet und hadet nur getroft; aber nicht weiter, denn ich will” (Obendief, ©, 49). Die Grundüberzeugung darf alfo nicht erfchüttert werden, auf der unfer ganzes Oottvertrauen ruht, daß Gott „alle Dinge tue”. Alle Kreaturen find Gottes Larven und Mummene ſchanz, fie find Masten, unter denen er fich verbirgt. „Er ift allenthalben gegenwärtig, im Tod, in der Hellen, mitten unter den Feinden ja auch in ihrem Herzen. Denn er hat es alles gemacht und regiert e8 auch alles. Daß es muß tun, was er will,“ Luther geht der letzten Konfequenz nicht aus dem Weg, die daraus folgt: Gott ift auch im
Teufel gegenwärtig, und zwar nicht bloß als Zufchauer, fondern als Handelnder. Denn fobald Gott irgendwo nicht der Handelnde
ift, fondern nur der Zufchauer, ift er entthront: Quando deus omnia
11. Der Widerstreit zwischen dem Göttlichen und dem Satanischen
III
movet et agit, necessario movet etiam et agit in Satana et in ımplo,
:
Wenn wir das nicht im Glauben jagen Fönnen, ift unfer Gott: vertrauen in feinen Grundfeften erfehtittert. Denn wenn Gott einen Rivalen hat, der ihm die Herrfchaft über die Welt ftreitig macht, gibt es überhaupt feinen Gott, Die Welt ift dann ein Schlachtfeld, auf dem zwei relative und begrenzte Gewalten ihre Kräfte meffen oder zwei Heerführer ihre Truppen gegeneinander marfchieren laſſen. Gott fteht dann felbftin der Arena, in der der Kampf der Völker und der Menfchen
hin und her wogt. Er ift nicht mehr der „Lenker der Schlachten“, der über den kaͤmpfenden Parteien fteht. Erift nicht mehr der Herr der Welt, fondern wie Wlerander oder Napoleon ein Welteroberer, für den es immer noch uneroberte Länder und unbefiegte Feinde gibt. Wenn es fo ſteht, ift Gott nicht der, zu dem wir Zuflucht haben koͤnnen in allen Nöten, wie Luther in der Erklärung des Erften Gebotes fagt. Er muß fich ja jelbft feiner Feinde erwehren, um nicht unterzugehen, An der Wahrheit, daß Gott „alle Dinge tue”, daß wir ihn für
alles, was gefchieht, Toben und ihm dafür danken dürfen, darf alfo nichts abgebrochen werden. Sonft verliert der Gottesglaube feine
ganze Kraft. Sonft haben wir es nicht in allem, was ung widerfährt, mit Gott zu tun. Als nach der Empörung Abſaloms in Simei vom Gefchlecht Sauls der alte Haß und Rachedurft feiner Sippe gegen David hervorbrach und er den vertriebenen König in wilder Schaden freude mit Steinen bewarf und verfluchte: „Hinaus mit dir, du Bluthund!”, fagte David: „Laßt ihn fluchen, der Herr hat es ihn
geheißen” (2. Sam. 16, ı1). David fagte nicht: Gott hat es zugelaffen, daß der Feind feinen Zorn an mir ausläßt, fo wie die Polizei bei einem Straßenauflauf eine Weile mit verfchränften Armen zufieht, wie zwei Menfchenhaufen mit Knütteln aufeinander losfchlagen, und
erft eingreift, wenn Fenfterfcheiben eingefchlagen werden, Wenn Gott in diefer Weife zufieht, während die Menfchen ihren Haß an mir auslaffen, und fich nur vorbehält, im Notfall dazmwifchenzufahren und polizeilich einzugreifen, dann habe ich es unter den Steinwürfen der Gegner nicht mit Gott zu tun, fondern bin der Wut der Men: fchen preisgegeben. Gott kann zwar eine Macht fein, die ftärfer iſt
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
als die Menfchen ;aber er ift doch nur eine bedingte und begrenzte Macht neben anderen Mächten. Ich habe es dann nicht mit ihm allein zu
tun. Gott ift nur dann mein Gott, wenn alles, was mir zuftößt, wirklich von ihm kommt. Nur wenn das der Fall ift, kann ich unter
den gemeinften Flüchen und Verleumdungen des Gegners, der feine Schadenfreude und Rachfucht an mir ausläßt, mit David jagen: „Laßt ihn fluchen, der Herr hat es ihn geheißen.” Hiob erhält die Botfchaft, die Sabäer, Diefes gemeine Raubgeſin— del, hätten einen Überfall auf feine friedlich weidenden Herden ges macht, Rinder und Efelinnen geraubt und feine Knechte mit dem Schwert gefchlagen: „Da ftand Hiob auf, zerriß fein Gewand und fagte: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn fei gelobt!” (Hiob ı, 10f.) Es heißt nicht: Der Herr hat es gefchehen Yaffen, er hat es nicht verhindert, daß die Räuberbande ihrer Raubgier und Mordluft die Zügel fchießen ließ, Gott hat vom Himmel her zugefehen, wie das gefchah, obwohl er mit Bliß und Donnerfchlag hätte dazwifchenfahren Eönnen. In diefem Falle hätte es Hiob unter dem vernichtenden Schlag, der ihn traf, nicht wirklich mit Gott zu tun gehabt, fondern mit einer menschlichen Gemeinheit,
die nur unter Gottes Zulaffung ftand. Er kann den furchtbaren Stoß nur aushalten, wenn er wirklich fagen Darf: Der Herr hat es genome men. Gott war der Nehmende, Die Räuber und Mörder waren bei ihrem feigen Überfall die Hände Gottes, durch die er Hiob das nahm, was er ihm nehmen wollte. In demfelben Sinne fagt Jefus in der Stunde, da der Satan in Judas gefahren war und die bewaffnete Schar unter Führung des Verräters ihn von allen Seiten eingefchloffen hatte: „Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?” (Joh. 18, ı1.) Der Vater hat alfo nicht bloß zugelaffen, daß die finftere Macht ihre Wut an ihm austobte, der Vater hat ihm den Kelch gegeben. Der Vater war dabei von Anfang bis zu Ende der Gebende und Handelnde. Wer in ſchwerſter Lage, Eörperlich gebrochen, von Menfchen ver:
leumdet und entehrt, einem qualvollen Sterben preisgegeben, es lernen muß, Glauben zu halten, der weiß: Es kommt bier wirklich alles darauf an, ob es reftlos ohne jede Einfchränfung wahr ift, daß
11. Der Widersireit zwischen dem Göttlichen und dem Satanischen
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alles von Gott fommt und daß Gott auch im Satanifchen wirkt, fo Daß wir es auch im Kampf mit der teuflifchen Macht allein mit ihm zu tun haben. Denn das ift in dieſer Lage ja immer die fchwere Ans fechtung, die Luther nur allzu genau Fannte, daß uns der Gedanfe kommt: Gott hat fich von mir zurückgezogen; ich fpüre nichts mehr von feiner Gegenwart und bin der Macht der Finfternis fchußlos
preisgegeben. Sobald diefer Eindruck entfteht, verlieren wir unfern legten Halt und brechen zufammen, Es kommt alfo darauf an, daß wir es fefthalten: Gott, der alles in allem wirft, wirft auch im Satan. 2. Aus demfelben Grunde müffen wir, weil wir fonft Gott verlieren, und mit derfelben Deutlichkeit dag zweite jagen, das für unfer menfch-
liches Denken dem erften widerfpricht, was oben gejagt werden mußte, Sobald wir nur die eine Ausſage machen, der Teufel ſei ein untergeordnetes Gefchöpf, ein Unterbeamter im Hofitaat Gottes wie Goethes Mephifto, nur ein harmlofes Werkzeug des einen Gottes, der alles in allem wirkt, haben wir den Ernft unferer Lage verfannt und das Bild der Wirklichkeit, in der wir ftehen, nach unfern eignen Wuͤnſchen verzeichnet, Die Verfuchung Iefu und fein Kampf in Gethfemane wären nur ein Kampf gegen Windmühlen gewefen, ein Scheingefecht mit einem machtlofen Gegner, den ein Mann, hinter dem Gott fteht, als Feind überhaupt nicht ernft nehmen koͤnnte, wenn wir nicht fagen müßten :In diefem Augenblick ftand die Sache Gottes wirklich auf dem Spiel; dem, der die Sache Gottes führte, trat ein Todfeind gegenüber, den er in höchftem Maße ernſt nahm, Wir müffen alfo den furchtbaren Satz ausfprechen, ob wir ihn faſſen koͤnnen oder nicht: Es ift eine finftere Macht da, die Gott entthronen will, und es ift nicht felbftverftändlich, daß diefe Macht überwunden wird, Alle Gotteszeugen, die ihr Leben für Gott einfeßten, haben um diefe un= heimliche Tatfache gewußt. Sie fpüren den unfichtbaren Feind in fich felbft und fühlen fich bei den entfcheidenden Schritten ihres Lebens
von ihm verfolgt. Paulus weiß fih von einem Boten des Satans mit Fäuften gefchlagen (2. Kor. 12,7). Er empfindet alfo die körperlichen Anfech-
tungen, die ihn bei der Ausuͤbung feines Apoftelamts hindern, als
8 Heim, Jejus der Herr
114 II. "Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
Geißelhiebe des Teufels. Er will dem Mann in Korinth, der ihn ſchwer beleidigt hat, vergeben, „damit wir nicht vom Satan uͤber⸗ vorteilt werden, denn wir kennen ſeine Anſchlaͤge wohl“ (2. Kor. 2, 11). Er uͤbergibt den Blutſchaͤnder dem Satan (1. Kor. 5, 5). Er hat ein ftarfes Verlangen, feine Gemeinde in Theffalonich wiederzufehen, und verfucht zweimal hintereinander, fie zu befuchen. „Uber der Satan hat ung gehindert“ (1. Theſſ. 2, 18). Dasfelbe Bewußtfein, daß ihn der Satan immer wieder an der Ausführung des göttlichen Auftrags hindern wollte, hat auch Luther gehabt.
12. Die beiden unvereinbaren Gefamtbilder, von denen der Gottesglaube lebt Affe Gottegzeugen haben es gewußt: Für das, was zwifchen Gott und ung fteht, für den gottfeindlichen Willen in ung allen, darf nicht Gott verantwortlich gemacht werden. Er darf auf nichts zurückgeführt werden, was von Gott Eommt, weder auf unfere menschliche Konfti= tution noch auf die Dafeinsform der Welt noch auf das dialeftifche Verhältnis zwifchen Zeit und Ewigkeit. Es ift ganz allein unfere eigene unentfchulöbare Verſchuldung. Aber weil fich diefer Mille
gegen Gott auflehnt, kann er nicht bloß ein begrenzter Menfchenwille fein. In ihm will vielmehr eine Macht, die auf diefelbe Ebene treten will, auf der Gott fteht. Wir müffen uns deutlich machen, warum fich die beiden Aus— jagen, die damit gemacht find, notwendig ergeben, jobald wir nicht theologifche Betrachtungen über das Wefen Gottes anftellen, fondern unter der Führung Chrifti in der Gegenwart Gottes verantwortlich zu handeln haben. a) Zunächft handelt es fich um die Ausfage, daß unfere Gottes= ferne unfere eigene Schuld ift, für die wir felbft Gott gegenüber
allein die Verantwortung tragen. Immer wieder ift in der Geiſtes— gefchichte der Verfuch gemacht worden, das Satanifche auszufchalten
und die Schuld an der gottfeindlichen Bewegung der Kreatur auf Gott ſelbſt abzumälzen. So fchon in der fogenannten fupralapfarifchen
Prädeftinationslehre der altreformierten Dogmatik, nach der Gott
12. Die beiden unvereinbaren Gesamitbilder, von denen der Gottesglaube lebt
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den Fall der Kreatur geſetzt hat, um fich felbft dadurch zu verherrlichen. Aber noch geiftuoller und bezaubernder tritt diefer Gedanke in der deuftfchen ſpekulativen Philofophie auf. Gott feßt feinen eigenen Gegenfaß aus fich heraus, um ihn in höherer Form wieder zuruͤck— zunehmen. Oder in Schleiermachers Formulierung: Das Boͤſe ift im menschlichen Gejfamtleben als Durchgangspunft zum Guten gefeßt („Glaubenslehre“ $ 83). Als mweitverbreitete Stimmung bricht in der neueren Dichtung immer wieder diefe romantifche Verherrlichung des Dämonifchen durch, fo in dem befannten Gedicht von Richard Deh—
mel „Drei Ringe“. Die drei Ringe erinnern den Dichter an drei gebrochene Schwuͤre: „Ach! Immer die Treue treumwillig verfprochen,
und immer treumillig die Treue gebrochen. So hat es das Leben, das Leben gewollt.“ „Die Freiheit verfchworen, die Freiheit verloren.
So hat es die Liebe, die Liebe gewollt.“ „Raum! Raum! brich Bahnen; wilde Bruft! Sch fuͤhl's und ftaune jede Nacht,
daß nicht bloß eine Sonne lacht; das Leben tft des Lebens Luft!
Hinein, hinein mit blinden Händen, du haft noch nie das Ziel gewußt; zehntaufend Sterne, aller Enden, zehntaufend Sonnen ftehn und fpenden uns ihre Strahlen in die Bruſt!“
Hier wird dag „Leben“, die „Liebe“, der Sonnenreichtum der Welt für die gebrochenen Schwuͤre verantwortlich gemacht. Damit wird die Schuld auf den Schöpfer abgewälzt, der ung in diefe Welt
voll Sonnen
hineingeftellt hat. Gott erhält „Diabofifche Züge”
(Schlatter). Was das praktifch bedeutet, merken wir fofort, wenn wir in einer gefährlichen fittlichen Verfuchung ftehen, bei der uns
die Begierden in die Tiefe ziehen wie Schlingpflangen den Schwim⸗ mer, fo daß wir uns nur mit Einfaß unferer ganzen Willenskraft 8*
116 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
tiber Waffer halten Eönnen. Wir ſpuͤren die Gefahr, die entfteht, wenn ung in diefer Lage der Gedanke nahetritt: Um den ganzen Reichtum der Schöpfungsmwelt Gottes auszufchöpfen, muß ich mich auch in die Nacht und die Abgründe des Lebens hineinſtuͤrzen; denn Gott felbft Hat diefen Gegenpol feines Wefens gefeßt als notwendigen Durchgangspunft zur Vollendung feiner Schöpfung. Eritis sicut Deus, „Ihr werdet fein wie Gott und wiſſen, was gut und böfe
ift“ (1. Mofe 3, 5). Sobald uns diefer Gedanke beraufcht, ift unfer Kampfwille gebrochen. Diefer Gedanke wirft wie eine Schuͤtzen— grabenverbrüderung mitten in der Schlacht. Denn wozu follen wir Opfer bringen, auf Freuden verzichten und unfer Leben einfeßen, um einen Gegner zu vernichten, der doch ein göttliches Dafeinsrecht hat, weil er notwendig ift, um den Reichtum Gottes zur Entfaltung zu bringen? Wir fühlen deutlich: Diefer verlockende Gedanke ftellt den ganzen Ernft der Sittlichkeit in Frage. Die Heiligkeit jeder Pflicht und Verantwortung fteht auf dem Spiel. Denn der lehte Einſatz unferes Willens im Kampf gegen das Böfe ift nur möglich, wenn es etwas gibt, das unbedingt zu befämpfen und zu überwinden ift,
etwas, wofür es fchlechterdings feine Entfchuldigung gibt. Das ift nur dann der Fall, wenn Gott und Satan einander als abfolute und unverföhnliche Gegner gegenüberftehen, zwifchen denen es feinen Zufammenhang, feinen Pakt und feine Vermittlung gibt. Im erften Auffaß feines Lutherbuchs („Was verftand Luther unter Religion?”), in dem Karl Holl die leßten Tiefen von Luthers Gottes: glauben aufzudecken fucht, ftrauchelt er einen Augenbli und fragt fich, ob Luther nicht doch das Göttliche mit dem Satanifchen in einer höheren Gefamtanfchauung hätte zufammenfaffen follen. Holl fagt, e8 hätte nahegelegen, beim Böfen zu folgern: Gott muß das Böfe
hervorbringen, um damit das Bemwußtfein des Guten, das Gewiffen der Menfchheit, zu erwecken. Diefe Folgerung wirklich gezogen hat Schleiermacher im $ 83 feiner „Glaubenslehre“ („Das Boͤſe ift im
menfchlichen Gefamtleben als Durchgangspunft zum Guten gefeßt”).
Aber Hol ift ein zu gewiffenhafter Hiftoriker, um nicht fofort hinzu— zufügen: Diefen Schluß zu ziehen, hat Luther nicht über fich gebracht. Er fürchtete offenbar, daß mit folchem Zugeftändnis alfe fittlichen
12. Die beiden unvereinbaren Gesamtbilder, von denen der Gottesglaube lebt I 17
Begriffe ihre Strenge verlören. Es ift indes nicht bloß, wie Holl es
Darftellt, eine gewiffe Bangigfeit, die Luther abhielt, hier die bequeme Formel anzuwenden: Das Gute ift das opus proprium dei, das Boͤſe das opus alienum dei. Luther hätte ja diefe bequeme Formel zur Hand gehabt, aber er hat fie nicht bloß aus einer gewiffen Scheu
aus dem Spiel gelaffen; nein, hier ging es um etwas Größeres, Es fand hier alles auf dem Spiel. Es kam darauf an, daß hier Fein Harmonifierungsverfuch unternommen wurde, Sonft wäre alles verlorengegangen, was Luther errungen hatte. Hier liegt die Hoch— ſpannung der ganzen Lutherifchen Theologie, Jeder Verfuch, nach der einen oder anderen Seite hin der Antinomie etwas abzubrechen, hätte dem Ganzen die Wucht der Lebenswahrheit genommen.
b) Wenn wir in der Gegenwart Gottes iiber das Mefen Gottes nachdenken, fo ergibt fich ebenfo unvermeidlich die zweite Ausſage,
daß der gottfeindliche Wille, der in uns lebt, nicht ein begrenzter Menfchenwille ift, fondern ein uͤbermenſchlicher allgegenmwärtiger Wille, der an die Stelle treten will, an der Gott fteht. Woher kommt e8, daß die Yuflehnung gegen Gott, auch wenn fie von einem fchwachen Menfchenwillen ausgeht, fofort übermenfchliche Ausmaße und dämonifchen Charakter annimmt und auf die Vernichtung Gottes ausgeht? Diefer Gedanke würde nicht entitehen, wenn das Wefen, gegen das
wir uns auflehnen, ein bedingtes und begrenztes Wefen wäre, Wenn wir es mit einem bedingten Wefen, etwa mit einem Mitmenfchen, zu tun haben, bedeutet e8 Eeinen Angriff auf die Eriftenz diefes Mit: gefchöpfs, wenn fein Einfluß auf mich begrenzt ift, wenn ich ihm gegenüber in wichtigen Angelegenheiten meines Lebens meine Selb: ftändigkeit behaupte, Bon einem menfchlichen Du kann ich ausge: fchloffen fein, ohne daß dadurch das Dafein diefes Du in Frage
geftellt wäre, Unders liegt die Sache, wenn ich zu Gott in einem gebrochenen Verhältnis ftehe. Denn Gott ift eben nur Gott, wenn
alfes, was ift, jeden Augenblick durch ihn bedingt ift und in ihm ruht. „Bon ihm und durch ihn und zu ihm find alle Dinge,” Wenn im Gefamtbereich des Seins auch nur an einer Stelle etwas ift, Das fich ihm entzieht, ift dadurch nicht nur eine Fleine Störung eingetreten,
118 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers
bedürfen
die weiter nichts zu Jagen hat und das Verhältnis zwifchen Gott und
Melt iiberhaupt nicht berührt, wie ein Eleiner Putfch in einer Provinz⸗ ftadt, der von der Polizei fofort aufgelöft wird, die Stellung der Zentralregierung nicht im geringften zu erfehlittern vermag. Weil es fich Hier nicht um eine menfchliche Obrigkeit, Sondern um Gott han— delt, Yiegt der Fall viel ernfter. Die Gottheit befteht, wie fchon Anfelm
ganz richtig formuliert hat, darin, daß alles, was außer Gott da ift, für Gott da ift. Wenn alfo nur an einer Stelle im Gefamtbereich des Seins etwas auftritt, das nicht für Gott da ift, fondern außerhalb Gottes fteht, ift damit fofort die Kabinettsfrage geftellt. Die Gottheit Gottes ift in Gefahr. Denn wenn irgend etwas der Ulleinherrfchaft Gottes entzogen ift, ift Gott zu einer relativen Macht degradiert, die auf einer Linie fteht mit den Übrigen Machtfaktoren diefer Welt, die einander gegenfeitig bedingen und begrenzen. Die Macht Gottes mag Dabei ftärfer fein als die übrigen Kräfte, die mit ihm Eonkurrieren. Dennoch ift fie, fobald auch nur an einer Stelle ihre Einflußfphäre
begrenzt ift, auf die Stufe einer relativen Weltmacht herabgefunfen, und die Gottheit ift aufgehoben. Daß wir nur den Gott nennen, durch den jeden Augenblick alle Dinge find, das ift nicht etwa nur eine dogmatiſche Begriffskonftruftion. Es ift vielmehr die Vorausſetzung, unter der wir allein in jeder Lebenslage Gott anrufen können. Denn nur dann können wir beten, wenn wir unfer ganzes Lebensſchickſal aus feiner Hand nehmen und jagen fönnen: „Es kann mir nichts gefchehen, als was Gott hat erſehen und was mir heilfam iſt.“ Wenn Gottes Alleinwirkſamkeit
irgendeine Schranke hat, alfo durch innerweltliche Faktoren begrenzt iſt, iſt unſer Lebensfchiefal nicht mehr eine Führung Gottes. Es haben dann vielmehr eine ganze Menge von Faktoren zufammen: gewirkt, um diefes Schiekfal zu geftalten, eine unüberfehbare Menge von Natureinflüffen und Menfchenplänen, bei deren Auswirkung und Ausführung Gott nur dazmwifchengegriffen hat. Wenn im Gefamtbereich des Seins irgend etwas gefchieht, das nicht bis auf den legten Reft von Gott kommt, ift Gott nicht mehr „Das, dazu man fich verfehen foll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten”, Was folgt daraus fir unfere Lage? Wenn fich irgendwo im weiten
12. Die beiden unvereinbaren Gesamtbilder, von denen der Gottesglaube lebt
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Umkreis der Schöpfung ein Wefen Gott entzieht und in Gottesferne dahinlebt, fo ift das nicht eine harmlofe Angelegenheit, fondern — das
kommt uns in der Gegenwart Gottes fofort zum Bewußtſein — es iſt ein Angriff auf die Wirklichkeit Gottes. Es ift, wie Anfelm fagt:
Wenn irgendwo im Weltall jemand auch nur einen Blick irgendwohin wirft, der im Widerfpruch mit Gottes Willen fteht, fo ift damit die Gottheit Gottes auf der ganzen Linie in Frage geftellt. Es ift damit Gott eine Macht entgegengetreten, die ihn nicht bloß begrenzen und befchränfen, fondern die ihn entthronen will, Das ift die fatanifche Mazeftät der Sünde. Darum fenkt fich, fobald wir unter die Gewalt einer unreinen Gier Eommen, eine Nacht auf uns herab, in der wir Gott überhaupt nicht mehr fehen. Das erfahren wir um fo deutlicher, je näher uns Gott vorher gewefen ift. Wem Gott noch nie in feinem Leben als
unentrinnbare Wirklichkeit begegnet ift, der muß natürlich alles, was hier über den fatanifchen Hintergrund jeder Eleinften Auflehnung gegen ihn gejagt worden ift, als phantaftifche Mythologie ablehnen. Faffen wir alles Gefagte zufammen, fo hat fich herausgeftellt: Sobald wir nicht bloß iiber das Weſen Gottes nachdenken, ſondern aus dem Gottesglauben heraus leben, gehen aus diefem Glauben immer gleichzeitig zwei Gefamtbilder hervor, die unfere Erkenntnis fchlechterdings nicht in Einklang miteinander bringen kann. Wir wollen das eine Bild, das vor unfern Augen entfteht, das Gefamtbild der Alleinwirffamfeit Gottes nennen. In ihm wirkt Gott alles in allem, der Teufel ift nur „Gottes Teufel” ; das andere Bild nennen wir im Gegenfaß dazu das Gefamtbild des Kampfes. In ihm feßt fich Gott mit einer Gegenmacht auseinander, die ihm auf der Ebene des uͤberpolaren Dafeins als Todfeind entgegentritt. Und nun zeigt
fich der echte, tiefe, im Feuer der Anfechtung erprobte Gottesglaube gerade darin, daß beide Gefamtbilder gleich ungebrochen da find, daß fein Verfuch gemacht wird, fie miteinander in Einklang zu bringen, ja, daß jede uͤbergreifende Gefamtanfchauung inſtinktiv als eine gefährliche Verfuchung zuruͤckgewieſen wird, Wenn fonft einem Menfchen nachgewiefen wird, daß feine Aus⸗ fagen im Widerfpruch zueinander ftehen, tut er alles, um diefen MWiderfpruch auszugleichen. Denn ein Menfch ift widerlegt, fobald
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
er davon uͤberfuͤhrt werden kann, daß er fich felbft widerjprochen hat. Das ift die tödlichfte Waffe im Geiftesfampf, wenn ich dem Gegner nachweifen kann, daß er fich in einen Widerfpruch verwickelt hat und heute dag Gegenteil von dem fagt, was er geftern gefagt hat. Der Angegriffene verfucht alles, um fich aus dieſer gefährlichen Schlinge zu ziehen und den Widerfpruch aufzulöfen, der in feiner Anfchauung enthalten fein ſoll. Hier aber haben wir die entgegengefeßte Haltung. Der echte Gottesglaube hält den Widerfpruch aus, der entiteht, wenn er feinen Inhalt in menfchlichen Worten und Gedanken ausjprechen will. Er zerbricht nicht an diefem Widerſtreit. Er weiß, daß er ihn nicht felbft Töfen darf, Nur Gott kann ihn loͤſen, und er wird es tun, wenn der Glaube in Schauen verwandelt wird, Nur in dieſer escha= tologifchen Gemwißheit läßt fich der MWiderfpruch ertragen. Es muß darum jeder Verfuch abgewehrt werden, den Widerfpruch auf menfchYiche Weife auszugleichen. Nur folange die Hochfpannung des Wider: ftreits da ift, deffen Löfung in brennendem Verlangen von Gott er= wartet wird, hat der Gottesglaube feine weltüberwindende Gewalt. Seine Dynamik geht fofort verloren, fobald verfucht wird, das eine der beiden widerftreitenden Gefamtbilder zu ifolieren und dem andern überzuordnen oder die beiden widerftreitenden Bilder in einer uͤber⸗ greifenden Geſamtſchau dialektifch zuſammenzufaſſen. Sfolieren wir nämlich das Gefamtbild der Alleinwirkſamkeit Got:
tes, fprechen wir nur vom Vater, der die Xilien Fleidet und die Vögel verforgt und alles zum Beten feiner Kinder lenkt, machen wir den Teufel zu einem harmlofen Kobold, der im Vaterhauſe Gottes Handlangerdienfte tut, fo empfindet ein Mann, der „in diefer unerz bittlich eifigen Welt“ den Kampf auf Tod und Leben kaͤmpft, daß diefer heitere Optimismus der Wirklichkeit widerfpricht, in der er ſelbſt fteht. Er kann mit diefem Weltbild nichts anfangen. Er empfin= det es wie einen Hohn auf feine Lage, Es erfcheint ihm wie das Welt: bild von Sonntagskindern, die an der Sonnenfeite des Lebens gebo— ren find, Er kann nur ein Wirklichkeitsbild faffen, in das die daͤmo— nifchen Mächte als ernftzunehmende Wirklichkeiten aufgenommen find, Ifolteren wir umgefehrt das Gefamtbild des Kampfes zwifchen
der göttlichen und der dämonifchen Gewalt, ohne daß das Gefamtbild
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der Alleinwirkfamkeit Gottes ihm das Gleichgewicht hält, verlieren wir den Halt, den wir gerade im heißeften Lebensfampf am not: wendigiten brauchen, den Punkt außerhalb, von dem aus die ganze Melt der Polaritäten aus den Angeln gehoben werden kann, Es fommt alfo darauf an, daß die beiden einander widerfprechenden Geſamtbilder ungebrochen nebeneinander feftgehalten werden wie zwei Zentnergewichte, die auf zwei Waagfchalen liegen und einander
die Waage halten. Daß wir an einem Miderfpruch nicht zerbrechen, fondern von ihm leben, daß die beiden mwiderfprechenden Säße einander nicht gegen: feitig vernichten wie zwei Bahnzüge, die mit Volldampf aufeinander: ftoßen, das ift nur in einer Haltung möglich, zu der wir aus eigener Kraft nicht imftande find, deren Möglichkeit wir mit unferem Denken nicht mehr begreifen können. Wenn wir diefe Haltung befchreiben wollen, muͤſſen wir deutlich unterfcheiden zwiſchen dem gedanklichen
Ausdrud, auf den wir geführt werden, wenn wir diefe Haltung begrifflich darftellen, und der Sache felbft, von der wir hier reden, nämlich der Beziehung, in die wir dabei mit unferer ganzen Eriftenz hineintreten. Wir fahen fchon bei der Befchreibung der „Räume“ im erften Band: Das Stehen in einer Beziehung, zum Beifpiel im dreidimenfionalen Körperraum, ift etwas anderes als der Verfuch, den wir machen müffen, das Verhältnis zu formulieren, in dem die dritte Dimenfion zur zweidimenfionalen Fläche und zur eindimenfionalen Zeitſtrecke fteht. Wir können im Körperraum ftehen, ohne daß wir über ihn reflektieren und ohne daß wir fähig find, das Wunder, das wir erleben, wenn wir als Blindgeborene fehend werden, in Worte und Begriffe
zu faffen. So ift e8 auch mit dem Stehen in der lebten Beziehung, das beides zugleich ift, Ruhen in Gott, der alles in allem wirft, und Mitkaͤmpfen in dem Kampf zwifchen Gott und Satan. Das Stehen in diefer Doppelbeziehung ift ein Sein, deffen Realität unabhängig davon da ift, ob wir imftande find, es ohne Widerfpruch begrifflich auszudrücken oder nicht. Die Menfchen, die mit der Wirklichkeit Gottes rechneten, haben darum immer das Bedürfnis gehabt, für das Stehen in diefer unbe⸗
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
greiflichen Beziehung ein befonderes Wort zu prägen, das nur an diefer Stelle Anwendung findet als das Grundmwort, in dem alles befchloffen ift, was wir über die legten Dinge fagen können, Das ift das Wort „Slaube” im Gegenfaß zum „Schauen”, in dem alles
zufammengefaßt ift, was im Rahmen der polaren Verhältniffe diefer Melt erfahren und vorgeftellt werden kann. Die sola fides der deut⸗ fchen Reformation bedeutet ihrem urfprünglichen Sinn nach weder ein Fürwahrhalten noch ein Vertrauen, überhaupt feine Seelentätigfeit, die Gegenftand der pfychologifchen Erforfchung fein Eönnte, fondern etwas viel Fundamentaleres, das vor allen Erfenntnis= und
Willensfunktionen fteht. Es bedeutet, Daß wir mit unferer ganzen Eriftenz in einer Beziehung ftehen, die noch tiefer Liegt als alle unfere Seelentätigkeiten, in der die Gewißheit um die Geltung der legten Dorausfeßungen unferes Denkens und Handelns verankert ift, aus der darum unfere tiefften Erfenntniffe und Willensentfchlüffe heraus: wachfen, wie ein meitverzweigter Baum aus einem unfichtbaren Wurzelftock herauswächft, der unter der Erdoberfläche lebt.
Wenn wir die Urbeziehung, in die wir im Glauben hineingeftellt find, mit unferem Denken verftehen und anfchauen wollen, ift es, wie wenn wir verfuchen, mit unferem Auge in das Urlicht der Sonne hineinzufehen. Wir erblinden daran. Wenn unfer Denken die Urbe: ziehung begrifflich faflen will, zerbricht es daran. Es bricht in die zwei unvereinbaren Gefamtbilder auseinander, das moniftifche Ge= famtbild der Alleinwirkſamkeit Gottes und das dualiftifche Gefamt: bild des Kampfes von zwei miteinander ringenden Gewalten. Das Stehen in der Urbeziehung ift die unbegreifliche Gewißheit, daß die beiden Bilder, die fir unfer Denken auseinanderbrechen, dennoch eine unzertrennliche Cinheit miteinander bilden, ohne daß unfer „euklidiſcher Verſtand“ begreifen Eönnte, wie das möglich ift. Es ift Klar, daß wir diefe Gewißheit weder mit unferer Erfahrung erreichen noch mit unſerem Verftand erdenken können, Nur Gott felbft Fann fie fchenken. Als Glaubender weiß ich mich von Gott über dem Xbgrund des Gotteshaſſes gehalten, der in mir und um mich ift. Gott trägt mich von Stunde zu Stunde wie auf Adlerflügeln über die unergründlichen Ziefen der dämonifchen Welt und meines eigenen
13. Urschuld und Einzelverfehlung
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Gott widerftrebenden Herzens. Ich weiß, wenn ich auch nicht begreifen Tann, wie das möglich ift: Nichts kann mich feheiden von der Liebe
Gottes, niemand kann mich aus feiner Hand reißen, obwohl fich die ſtaͤrkſten Gewalten der Welt verfchworen haben, mich von Gott zu trennen.
13. Urſchuld und Einzelverfehlung
Wir müffen uns Elar darüber geworden fein, daß die Urbeziehung, die die Einheit diefer unendlichen Spannung ift, höher ift als alle
unfere Vernunft, daß unfer Erkennen erblindet, wenn es in Diefes Geheimnis hineinfchauen will. Nur dann Eönnen wir die Stellung zu den befonderen Fragen gewinnen, die auftauchen, wenn von einer Urfchuld gefprochen wird, die auf uns allen Yaftet und auf die der Zuftand der Gottesferne zurückgeführt werden foll, in dem wir leben. Man fragt zunächlt — diefe Frage ift befonders nach dem Erfcheinen von Karl Holls Lutherbuch lebhaft befprochen worden -: Wie ann ich für etwas verantwortlich gemacht werden, was Doch nicht auf einer Willensentfcheidung beruht, die ich mit Bewußtfein vollzogen habe, bei der mir alfo deutlich bewußt war, daß ich ebenfogut im: ftande gewefen wäre, mich für das Gegenteil zu entfcheiden? Daß mir Gott feine unbezweifelbare Wirklichkeit ift und daß ich nicht fo
aus Gott heraus lebe, daß ich nicht den Rückweg zu ihm im Gebet immer wieder zu fuchen brauchte, das ift ja nicht ein Zuftand, in den ich erft durch einen bewußten Abfall Hineingeraten wäre ; ich habe gar Feine Erinnerung daran, daß ich einmal in einem anderen Zus ftand gewefen wäre. Wir haben alle den Eindrud, daß wir fehon mit dem Erwachen unferes Bewußtfeins in diefer Gottesferne gelebt haben.
Kann ich für etwas ſchuldig gefprochen werden, wofür ich mich Doch nie mit klarem Bemwußtfein entfchieden habe? Kann denn eine innere
Haltung, die ich nicht bewußt gewählt habe, mehr fein als ein Schick: fal, ein Verhängnis, eine Krankheit? Kann fie eine Schuld genannt werden? Um eine Antwort auf diefe Frage zu geben, müffen wir ung daran erinnern: Die fittlichen Kategorien der Schuld und Verantwortung
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
gehören, wie wir früher fahen, in die Sphäre der Urbeziehung. Denn wir koͤnnen nur einer Macht gegeniiber fehuldig werden, Die eine unbedingte Forderung an uns ftellen darf. Ift die Urbeziehung dem Zugriff unferer Erkenntnis entzogen, fo gilt dasfelbe von der Schuld und Verantwortung. Das Schuldbemwußtfein ift ein Urerlebnis, hin= ter das wir nicht mehr denfend zuruͤckgehen können. Wir koͤnnen nicht iiber unfer Gewiffen verfügen. Wir haben es nicht in unferer Gewalt, ob ung etwas als Schuld auf das Gewiſſen fällt oder ob wir ein gutes Gewiffen dabei haben. Wenn uns eine Sache Gemwifjensnot bereitet, Fönnen wir das Schuldbewußtfein, das fich wie eine Laft auf unfer Gewiſſen legt, durch Eeinerlei Reflerion befeitigen. Weder fönnen wir felbft die Laft durch einen Willensentfchluß oder durch eine Vernunftüberlegung abfchütteln, noch Fann uns ein anderer Menfch, etwa ein Priefter oder ein Nervenarzt, davon entlaften. Umgekehrt, wenn wir bei einer Tat ein ganz ruhiges Gewiſſen haben, können wir uns weder felbft durch Autofuggeftion in ein Sünden bewußtfein hineinfteigern, noch Eönnen die bitterften Vorwürfe ande⸗ rer Menfchen oder die ſchwerſten Strafurteile des hoͤchſten menſch— Yichen Gerichtshofes ein Schulöbemwußtfein in ung erzeugen.
Mir Haben mithin weder die Entftehung noch die Befeitigung des Schulöbemußtfeins in unferer Gewalt. Wir fönnen darum auch nicht mit unferem Denken auf Grund unferer bisherigen Erfahrung ein
für allemal feftftellen, was für Bedingungen erfüllt fein müffen und wie der Fall gelagert fein muß, wenn Schulöbewußtfein erwachen fol. Damit Hätten wir dem Gang der Dinge vorgegriffen und ver: fucht, für alle Zukunft eine Regel aufzuftellen, nach der allein Schuld⸗ bewußtſein entftehen kann, Dazu haben wir Fein Recht, Wir Eönnen immer nur zweierlei tun. Wir Finnen erftens warten, was auf die
fem Gebiet, über das wir nicht verfügen koͤnnen, mit uns gefchieht. Und wir Eönnen zweitens hinterher, wenn wir Schulderfahrungen gemacht haben, diefe Gemiffenserlebniffe in Erfahrungsfäßen zu: fammenfaffen. Menn wir behaupten, wir Eönnten nur für etwas verantwortlich gemacht werden, für das wir ung bewußt entfchieden haben, kann diefe Behauptung immer nur den Wert eines Erfahrungsfaßes haben,
13. Urschuld und Einzelverfehlung
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in dem wir die Erlebniffe zufammenfaffen, die wir innerhalb eines begrenzten Beobachtungsfeldes gemacht haben. Wir denken dabei an Fälle in unferm Leben, in denen fich eine befonders ſchwere Gewiſſenslaſt auf uns legte, weil wir mit offenen Augen in unfer Verderben rannten mit dem Haren Bewußtfein, daß der Fehler ebenfogut hätte vermieden werden können. Solche Fälle find ficher vorgekommen, und wir haben fie in befonders frifcher Erinnerung. Aber wir Haben darum Fein Recht, daraus den Schluß zu ziehen, daß nur in diefen Fällen Schuldbewußtfein erwachen könne, Wenn auch nur ein einziger Fall vorkommt, auf den der Schuldbegriff nicht zutrifft, den wir uns an Hand diefer eflatanten Fälle zurechtgemacht haben, hat fich gezeigt, daß unfer Schulöbegriff zu eng gefaßt war. Schon Luther und Melanchthon haben auf eine Tatfache hinge— wiejen, die feither immer wieder von Menfchen aus ihrer Erfahrung heraus beftätigt worden ift. Was uns aufs Gemwiffen fällt, wenn wir vor Gottes Angeſicht ftehen, das find gar nicht in erfter Linie die Entfcheidungen in unferm Leben, die wir nach ruhiger und ernfter
Überlegung aller entgegengefeßten Möglichkeiten im helfen Licht unſe— res Bewußtfeins getroffen haben. Bei diefen Bemwußtfeinsentfcheiz dungen treten im allgemeinen alle ethifchen Hemmungen und „Dreffate” (Künfel) in Kraft, die wir unferer fittlichen Erziehung verdans fen. Diefe legen unferen ftarken Naturtrieben Zügel an und fehügen uns vor Entgleifungen. In unferem Gemiffen machen ung darum die Regungen viel mehr zu fchaffen, bei denen diefe Hemmungen ausgefchaltet find. Das find die Regungen, die ganz unmwillfürlich auftreten, noch ehe eine ethifche Überlegung einfeßen kann. Einige Beifpiele aus dem Leben: Ich befomme die Nachricht, mein Geſchaͤftskonkurrent und langjähriger Nebenbuhler habe einen Auto⸗ unfall erlitten und liege im Krankenhaus ſchwer darnieder. Die erfte Regung ift Schadenfreude, Sofort hinterher feßt die fittliche Befin= nung ein. Die anerzogenen Hemmungen werden eingefchaltet, Ich fehäme mich meiner gemeinen Empfindung. Ich habe herzliches Mit: leid mit dem Mann und erfundige mich in aufrichtiger Teilnahme bei feinen Angehörigen nach feinem Befinden, Ein zweites Beifpiel.
Ein bochbegabter junger Menfch, der mich durch feine Erfolge immer
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
wieder in Schatten geftellt hat, hat auf Grund feiner Leiftungen eine
Stelfe befommen, die ihn mit einem Schlage berühmt macht. Das erfte, was fich bei diefer Nachricht in mir regt, ift Neid. Sofort hinter⸗
her tritt meine gute fittliche Erziehung in Kraft. Es reut mich, daß ich einer fo gemeinen Empfindung Raum gegeben habe, Mein befferes Ich befommt die Oberhand. Ich gönne meinem jungen Freund diefen
Erfolg und beeile mich, ihm von ganzem Herzen dazu zu gratulieren. In diefen beiden Fällen handelt es fich um Regungen, die noch dies— feits jeder bewußten Entfcheidung ftehen. Sie brechen ganz unmills kuͤrlich inmir hervor, ehe der bewußte Wille in Kraft tritt.
Jun entfteht die Frage: Können wir darum, weil hier Fein bewuß— ter Willensentfchluß vorliegt, jede Verantwortung für dieſe ſchmut— zigen Negungen von Schadenfreude, Neid, Haß und Wut ablehnen? Sind wir an ihnen unfcehuldig? Stehen wir ihnen genau fo gegenüber wie einer Krankheit oder einem Förperlichen Schmerz, der ung ohne unfer Zutun überfällt, fo daß wir ung feinen Vorwurf darüber machen können? Das bringen wir offenbar nicht fertig. Im Gegenteil. Gerade
diefer ganz inftinktiven unwillfürlichen Regungen von gemeinem Ge= fchäftsneid, Brotneid, Kinftlerneid, von unverhohlener, beinahe fadiftifcher Schadenfreude über das Elend eines Menfchen, die in den erften noch unbewachten Augenblicken in mir hervorbrechen, fchäme ich mich noch mehr als der falfchen Entfcheidungen, die ich bei klarer Überlegung getroffen habe. Ich erfchrecke über die abgrundtiefe Gemeinheit, die fich in diefen Regungen offenbart und deren ich mich gar nicht für fähig gehalten hätte, Ich bin aber nicht imftande, die dunklen Ins ftinfte, unter deren Macht ich ftehe, nur als ein Schickfal gleichgültig
hinzunehmen. Ich weiß nur allzu genau, daß es innerfte Regungen meines eigenen Herzens find. Ich fühle mich dadurch. befleckt. Ich
bereue fie, wie man eine Schuld bereut, Fuͤr jeden, der diefe Tatfache aus eigener Erfahrung zugibt, ift damit die Behauptung ein für allemal widerlegt, wir könnten uns nur für etwas fehuldig fühlen, für das wir ung mit vollem Bewußt⸗
fein entfchieden haben, Es hat fich gezeigt: Wohl fteht im alltäglichen Leben die Verantwortung für bewußte Entfcheidungen im Vorder:
grund und behält nach wie vor ihre große Bedeutung. Aber das
13. Urschuld und Einzelverfehlung
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Schulöbewußtfein ift etwas viel Umfaffenderes und Undurchfchaus bareres, als wir zunächft gedacht hatten. Unterhalb des Schuldgefühls, das gleichfam vor unferen Augen im Tageslicht unferes Bewußtſeins
zuftande kommt, gibt es eine Schuld, die den nächtlichen Tiefen unferes Wefens angehört und nur in befonderen Augenblicken an die Oberfläche des Tagesbewußtfeins emporfteigt. Diefe Schuld liegt in
den inftinktiven Trieben und Regungen, die wie dunkle unterirdifche Ströme in mir raufchen. Wenn es auch nur in einigen Fällen im all— täglichen Leben vorkommt, daß wir uns fir Triebregungen fchuldig fühlen, die nicht durch bewußte Entfcheidungen entftanden find, ift damit fchon erwieſen, daß wir den Begriff der Schuld viel zu flach und rationaliftifch gefaßt haben, wenn wir ihn auf die Fälle befchränz
fen wollen, da wir wie Herkules am Scheidewege vor der Wahl zwifchen verfchiedenen Möglichkeiten ftehen. Es gibt vielmehr eine Schuld, unter deren Gewalt wir fchon ftehen, ehe die bewußte Übers legung eingefeßt hat. Wenn wir das aus eigener Erfahrung zugeben müffen, dann können wir uns auch durch einen theoretifchen Einwand mehr dagegen fchüt:
zen, wenn uns in der Gegenwart Gottes der heimliche Gotteshaß zum Bemwußtfein kommt, die prometheifche Auflehnung gegen die Übermacht des Schöpfers, in der wir ſchon ftehen, feit wir leben und denfen fönnen, und wenn fich ung dieſe verborgene Feindfchaft unfes res Herzens gegen Gott nicht als Schiekfal, fondern als Schuld auf die Seele legt. Ja wir müffen noch einen Schritt weitergehen und ſagen: Wenn bei der Begegnung mit Gott das tiefere Schuldbewußtz fein in ung erwacht, das Bemwußtfein um unfere „verborgenen Fehle“ (Pf. 19, 13), dann treten von dort her auch die bewußten Fehlentſchei—
dungen in ein neues Licht. Daß ich überhaupt dazu fähig bin, einem Far erfannten Gotteswillen gegenüber ungehorfam zu fein, das tft an fich etwas völlig Unbegreifliches. Es ift nur möglich, weil eine
verborgene Gottesfeinödfchaft in mir lebt, aus der die bewußten Entfcheidungen wie aus einer Wurzel herausmwachfen. „Ein fauler
Baum bringt arge Früchte” (Mtth. 7, 17). Die bewußten Entfcheidun= gen find nur die Auslöfungsurfachen, Durch die die feindfelige Haltung aftualifiert wird, die als verborgene Potenz in uns lebt. Die bewußten
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
Berfehlungen find mithin nur die ſekundaͤren Ausftrahlungen der primären Urfehuld, in der wir uns Gott gegenüber befinden; und es ift eine fehr oberflächliche Selbfterfenntnis, wenn wir nur für Die Fruͤchte des „faulen Baums“ die Verantwortung übernehmen wollen, aber für das Dafein des Baums, aus dem diefe Früchte fortwährend herausmwachfen, jede Verantwortung ablehnen.
Das führt ung auf den zweiten Einwand, der Dagegen erhoben wird, wenn wir den tiefften Grund unferer Gottesferne in der Wirk⸗ Yichfeit einer fatanifchen Macht fehen. Man fragt: Gehört es nicht
zum Wefen der Schuld und Verantwortung, daß der Träger der Schuld, das Subjekt der Verantwortung, eine Einzelperfon ift? Ift das überhaupt denkbar, daß ich die Schuld einer fatanifchen Macht zufchreibe, die Gott auf der ganzen Linie entgegentritt, und fie zugleich als Einzelperfon auf mich nehme? Auch diefen Einwand fönnen wir nur erheben, folange uns nicht aufgegangen ift, daß Schuld und
Verantwortung Beziehungen find, deren Herkunft wir nie vollftändig durchfchauen Eönnen, weil fie der überpolaren Sphäre angehören. Mir fahen im erften Band: Schon innerhalb der Erfahrungsmelt, die ung unmittelbar zugänglich ift, bleibt das nichtgegenftändliche
Ich, die erfennende und wollende Perfönlichkeit, undurchfchaubar und unobjektivierbar. Wir Finnen darum mit Hilfe unferer gegenftändYichen Erkenntnis auch nicht entfcheiden, welche Beziehungen zwifchen Sch und Du möglich find. Die Grenze zwifchen Ich und Du, die dimenfionale Einheit und Verfchiedenheit zwifchen beiden, laſſen fich in unferem gegenftändlichen Denken nur parador ausdrüden (I. Bd., ©, 160 der 3. Aufl.). Schon Dadurch werden wir über die naive Vorz ftellung hinausgeführt, daß die Einzelperfonen wie Leuchtförper im dunklen Weltraum nebeneinander ftehen oder wie Zimmer in einem Gebäude durch Wände gegeneinander abgefchloffen find, daß fie immer nur nebeneinander, aber niemals ineinander fein Eönnen. Diefe undurchfchaubaren Beziehungen zwifchen Ich und Du treten in ein ganz neues Licht, fobald die Urbeziehung in Sicht kommt, in der die polare Welt zum überpolaren Urfein Gottes fteht. Nur wenn
Gott ung begegnet, finden wir uns felbft, wie es im Gleichnis vom verlorenen Sohn beim Wendepunkt der Gefchichte heißt: „Da kam
13. Urschuld und Einzelverfehlung
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er in fich ſelbſt hinein” (eisexurövd22AHov, Luk, 15, 17). Vor Gottes Angeficht kommen wir zur Selbfterfenntnis und geben die Flucht vor ung ſelbſt auf, Nur wenn wir vor Gott ftehen als ihm verantwort: liche Träger von Schuld, geht uns in feiner Gegenwart auf, in wel: chem Verhältnis wir zueinander ftehen und was für eine Verant:
wortung wir füreinander tragen. In Gottes Gegenwart wird uns auch, wie wir früher fahen, deutlich: Der Wille, der fich in uns gegen Gott empört, will ſelbſt Gott fein und die Stelle einnehmen, wo Gott fteht, „Wenn Gott
wäre, wer ertrüge es, nicht Gott zu fein!” (Nietzſche). Diefer Wille, der Gott entthronen will, um fich felbit an feine Stelle zu feßen, will
jo von ung Befiß nehmen, wie Gott von uns Befig nimmt, Er will, daß wir fo in ihm find, wie wir in Gott fein follen. Wenn ich in Gott bin und in feinem Auftrag aus Gott heraus rede und handle, findet
unbegreiflicherweife beides ftatt: Gott trägt die Verantwortung für das, was ich tue, und für alle Folgen, die daraus erwachſen; und ich felbft bin unter diefem Auftrag zu einem verantwortlichen Ich gewor⸗ den, das vor Gott jteht und in voller Freiheit in feinem Willen ruht. Es find alfo zwei verantwortliche Stellen da, und doch Liegen dieſe
beiden verantwortlichen Stellen nicht bloß außereinander, ſondern zugleich ganz ineinander, Das ift eine Beziehung, die innerhalb der polaren Weltverhältniffe ganz undenkbar wäre. Sie ift aber innerhalb der Urbeziehung möglich. Dasfelbe gilt von dem Verhältnis zwifchen mir und der fatanifchen Macht, die mich in die Auflehnung gegen Gott hineinzieht. Wir fprechen von fatanifcher Befeffenheit. Damit meinen wir die paradore Tatfache, daß wir auch hier beides fagen müffen: ı. Es find zwei verantwortliche Stellen da. 2. Uber beide Stellen liegen innerhalb der Urbeziehung ineinander. Ich muß alfo immer zuerft befennen: Ich bin der allein Schuldige, der verlorene Sohn, der ohne jeden
erfichtlichen Grund das Vaterhaus verläßt und in die Fremde zieht. Ich muß zugleich das andere fagen: Der fatanifche Empörungswille iſt ſchuld, der nicht nur in mir, fondern zugleich in Millionen anderer Weſen will und den wahnfinnigen Verfuch macht, Gott von feinem Thron zu ftoßen, Wenn ich über die Oberfläche eines Lotosteiches 9 Heim, Jeſus der Herr
130 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines F\ ührers bedürfen
hinfehe, fehe ich einzelne Blätter, die in Zwifchenräumen fcheinbar unabhängig voneinander auf dem dunklen Waffer liegen. Könnte ich in die Tiefe blicken, wuͤrde ich fehen, Daß alle diefe Blätter durch lange dinne Stiele mit einer gemeinfamen Wurzel organifch verbunden find, die in der dunklen Tiefe auf dem Grund des Teiche aus dem Boden herausmwächft. Mit dem bisher Gefagten haben wir das entfaltet, was in der Tatfache enthalten ift, daß Chriftus mit einer fatanifchen Macht
rechnet, daß er fich berufen weiß, „Die Werke des Teufels zu zerftören”. Daß diefe Macht da ift, die Gott den Kampf angefagt hat, das ift die Veßte Urfache des gottfernen Zuftandes, in dem wir uns befinden. Das ift der Grund, warum wir das Bedürfnis haben, durch Gebet und Verſenkung Gott zu fuchen und uns mit andern Menfchen zu einer Gemeinde zufammenzufchließen, die in befonderen Zeiten und in Eultifchen Räumen zuſammenkommt, um in die Stille zu gehen und
eine Begegnung mit Gott zu fuchen, Wir würden gar nicht auf den Gedanken kommen, folche Veranftaltungen zu treffen, wenn wir fo bei Gott wären, wie e8 fein müßte, wenn Gott die „Luft“ ift, „die alles füillet, drin wir immer fchweben”. In den Schlußkapiteln der Offenbarung Sohannis, wo der End» zuftand befchrieben ift, den der Seher fehaut, verfchwindet darum der Tempel und alles, was damit zufammenhängt, weil das normale Verhältnis zwifchen Gott und Kreatur wiederhergeftellt ift. „Denn ich fah Feinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott, ift
ihr Tempel” (Offenb, 21, 22). Tempel, Kirchen, Gebetsräume, Eultifche Einrichtungen, Feierftunden, wie fie allen menfchlichen Reli— gionen, den arifchen wie den femitifchen, gemeinfam find, find alfo der Ausdruck unferer Gottesferne, ein Zeichen dafür, daß eine Macht da ift, die ung von Gott weg in die Tiefe der Gottverlaffenheit Hinz unterzieht, jo daß wir ung immer aufs neue emporfchwingen und befondere Anftrengungen machen müffen, um nicht aus der Gemein: ſchaft mit Gott immer wieder herauszufallen. Wir gleichen einem
Flugzeug, das fortwährend durch feine eigene Schwere in die Tiefe gezogen wird. Es bedarf darum eines ununterbrochen arbeitenden Motors, um fich in Schwung und in der Höhe zu halten.
13. Urschuld und Einzelverfehlung
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Die Schwerkraft, die uns von Gott weg in die Tiefe zieht, hat ihren Grund nicht in irgendwelchen Verhältniffen, fir die wir Feine
Verantwortung tragen. Der einzige Grund, den e8 dafür gibt, ift der rebellifche, gottfeindliche Wille, der im tiefften Grunde unferes eigenen Weſens lebt und für den es feinerlei Entfehuldigung gibt. Diefe
Empörung gegen Gott macht fich um fo ftärfer bemerkbar, je näher uns Gott rückt, je mehr wir unter feine Gewalt kommen. Wir fühlen ihn befonders ftarf, wenn Gott ein ſchweres Schickſal auf ung legen will, wenn Gott will, daß wir abnehmen und fterben follen, damit andere auf unfere Koften emporfteigen und leben. Wir wollen uns nicht darunter beugen. Wir ftemmen uns mit aller Macht dem Willen Gottes entgegen. Der Empörungsmille regt fich auch dann, wenn uns Gott einen fchweren Auftrag gibt, der uns die ganze Verfügung über unfer Leben nimmt. In feinem erfchütternden Selbftbefenntnis erzahlt der Prophet Jeremia, wie er nach Empfang des göttlichen Auf: trags fofort dagegen rebellierte und wünfchte, Gott möchte überhaupt nicht eriftieren. „Da fprach ich: Ich will feiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in feinem Namen reden” (Jerem. 20, 9). Ob Jeſus recht hat, ob dieſer unbegründbare, unentfchulöbare, fatanifche Empörungsmille gegen Gott da ift oder ob das nur eine krankhafte Einbildung ift, die wir vielleicht aus phyſiſcher Baftardierung erklären fönnen, darüber läßt fich nicht mehr mit theoretifchen
Gründen und Gegengründen ftreiten. Denn die Wirklichkeit des Satanifchen läßt fich nur im Schuldbewußtſein erfahren, das in der Gegenwart Gottes über ung kommt. Diefes Schulderlebnis hat, wie wir fahen, feine Wurzeln in den unergründlichen Tiefen unferes
Weſens. Wir Eönnen nicht darüber verfügen. Wir koͤnnen es mit Berftandesgründen weder herbeiführen noch beeinfluffen noch befei=
tigen. Es gibt alfo nur zwei Möglichkeiten, Entweder wir erflären, daß uns von diefem Gott feindlichen Willen in unferer bisherigen Lebens⸗ erfahrung, Gott fei Dank, können wir dafür nur froh jenem difteren Phantom, Jeſus, Paulus und Luther
noch nichts befannt geworden ift. Dann und dankbar fein und brauchen ung von von dem das Leben von Männern wie uͤberſchattet war, Die Harmonie unferer
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
Weltanſchauung nicht weiter ftören zu laſſen. Oder wir kennen jenes Schuldbewußtfein aus Erfahrung. Wir müffen allen unferen welt: anſchaulichen Einwänden zum Zroß diefen unheimlichen Tatbeſtand zugeben, weil wir in unferem Gemiffen davon überführt find. Dann müffen wir auch alle Konfequenzen daraus ziehen. Die Wirklichkeit des Satanifchen darf dann nicht bloß, wie es in den theologifchen
Buͤchern meiftens gefchieht, irgendwo am Rand unferes Weltbildes erfcheinen als ein leichter Schatten, der nur den Sonnenglanz noch
ftärfer zur Wirkung bringt, der auf dem Ganzen liegt, der aber für das Verftändnis unferer Xebenslage Feine ernfthafte Bedeutung hat. Wenn die teuflifche Macht eine Realität ift, dann gibt eg fein Lebens⸗ gebiet, für deffen Verftändnis diefe Tatfache nicht von entfcheidender Bedeutung ift. Mir bekommen dann auch von allen politifchen und wirtfchaftlichen
Verhältniffen nur ein ganz einfeitiges und oberflächliches Bild, wenn wir diefen entfcheidenden Faktor außer acht laffen. Rechnen wir aber mit ihm, fo haben wir es überall, wo wir gehen und ftehen, wo wir Ichaffen und leiden und an Menfchen arbeiten, nicht nur mit Gott,
fondern immer zugleich mit diefer finfteren Gegenmacht zutun. Wenn der Riefenfchatten des Satanifchen auf der ganzen Wirklichkeit Liegt, dann dürfen wir auch, wenn wir als Theologen eine Glaubenslehre entwerfen wollen, nicht mit der Sünde des Einzelmenfchen einfeßen oder mit dem Todesſturz der Menfchheit in einen gefallenen Zuftand, der fich in prometheifchen Troß und titanifcher Selbftüberhebung, in unausrottbarer Selbfthilfe und Selbftbehauptungsdrang, in Völker: friegen und wirtfchaftlicher Ausbeutung der Schwachen durch die Starken furchtbar auswirkt, Dann gibt es vielmehr nur einen ein: jigen Grund für den erlöfungsbedärftigen Zuftand der Welt. Das iſt das unerflärliche Dafein der Macht, die den Untergang Gottes will. Alle die Dinge, die uns unglücklich, friedlos, hart, graufam, rücfichtslos und gottlos machen, koͤnnen dann nur die Zweige fein, die aus diefer einen bitteren Wurzel herauswachfen, die Teile einer ungeheuren in fich zufammenhängenden Kampffront, deren Bewe— gungen planmäßig immer nur von einer einzigen verborgenen Stelle aus geleitet werden. Wenn es Welterlöfung gibt, kann es bei diefer
14. Urschuld und Weltgestalt
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Erloͤſung zulegt nicht um den einzelnen Menfchen gehen, fondern nur um die Srage, ob es einen Sieg ber die Macht der Finfternis gibt, bei dem der Gegner wirklich auf die Anie gezwungen wird, fo daß dann alle Folgen des Kampfzuftandes aufhören. 14. Urſchuld und Weltgeftalt Um uns die Grundtatfache, die nach allem Bisherigen den Schlüffel
zum bibliſchen Weltverftändnis bildet, in ihrer zentralen Bedeutung deutlich zu machen, müffen wir noch auf eine Frage eingehen, von der unfere Stellung der Welt gegenüber abhängt. Wie verhält fich die Urfchuld, an der wir teilhaben, zur Geftalt der Welt, in der wir Yeben? Genauer gefragt: Wie verhält fich die unentfchuldbare Gottesferne, in der wir ftehen, zur polaren Dafeinsform der Erfahrungsmelt,
deren Teile wir find? Können wir zu der Welt, in die wir hineingeftellt find, ein unbedingtes und uneingefchränktes Ja fagen? Können wir die Wirklichkeit, mit der wir täglich umgehen, dankbar bejahen, den Erdboden, in den wir das Samenkorn einfenken, damit er ung Brot gibt, das Metall, das wir aus den Bergen herausfchürfen, um e8 zu Mafchinen umzufchmelgen, mit denen wir die Erde beherrfchen, das
Kind in der Wiege, das wir pflegen und betreuen, weil e8 die Zukunft unferes Stammes in fich trägt? Haben wir diefen Wirklichkeiten der Melt gegenüber ein uneingefchränftes Ja? Oder haben wir ihnen gegenüber nur eine gebrochene Haltung, ein Sa, dem ein Nein gegen= überfteht, ein Ja, das durch ein Nein hindurchgegangen ift? Immer wieder wird ung heute gefagt: Nur aus dem ungebrochenen Ja zu
dieſer Erde kommt die reftlofe Hingabe an die großen Aufgaben, in die ung unfer Erdendafein Kineinftellt. In Zeiten, da diefe Yufgaben
das Opfer des Lebens verlangen, kommt alles Darauf an, daß wir dieſes Ja ohne jeden Hintergedanken ausfprechen können, Sonft machen wir auch bei unferer Opferbereitfchaft einen ftilfen Vorbehalt, der unfere Hingabe lähmt. Die Antwort auf die Frage, vor der wir hier ftehen, hängt wefentlich davon ab, ob Die Urſchuld, an der wir teilhaben, auch auf die Welt: geftalt einen Schatten wirft oder ob die Urſchuld und die Grund:
134 III. Die Urschuld als dertiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
ordnungen diefer Welt in feinem unmittelbaren Zufammenhang miteinander ftehen. Im Kampf um diefe Frage ftehen einander zwei Standpunkte gegenüber. Die einen jagen: Die Welt ift rein und gut aus Gottes Schöpferhand hervorgegangen. Wenn wir mit unferer Geburt in diefe Welt hineingetreten find, ftehen wir alfo auf heiligem
Boden. Heilig find die Naturgefeße der organifchen Welt, heilig ift die Gemeinfchaft der Gefchlechter, wenn fie das Gebot der Fruchtbarfeit erfuͤllen. Heilig ift der Machtkampf, in dem Sippen, Stämme und Völker ihre Kräfte aneinander mefjen, damit das Schwache, Feige und Entartete zugrunde gehe und das Starke und Gefunde zum Sieg komme, Heilig ift der Tod, in dem wir, wenn unfere Zeit erfüllt ift, unfer Leben dem Schöpfer zuruͤckgeben, der es ung gefchenft hat. Heilig ift das Urgefeß der Zeit, nach dem alle Dinge in ewigen Mechfel fteigen und fallen, blühen und mwelfen. Gewiß kommen menfchliche Fehler und Sünden vor, Uber diefe Kleinen Verirrungen einzelner Fönnen die großen Kreife der Schöpfungsordnung Gottes nicht flören, fowenig Kinder, die am Ufer eines Fluffes fpielen und Steinchen hineinwerfen, die das Waſſer trüben, den Strom in feiner Richtung aufhalten oder ablenken können, Der andere, dem entgegengefeßte Standpunkt laͤßt ſich am ein— fachften in den Worten des NRömerbriefes ausdrüden, wenn mir diefe Worte zunächft ohne weitere Ausdeutung fo nehmen, wie fie Daftehen: „Der Tod ift der Suͤnde Sold“ (Rom. 6,23). „Durch einen Menschen ift die Suͤnde in die Welt gekommen und durch die Sünde
der Tod, und fo ift der Tod zu allen Menfchen hindurchgedrungen auf Grund davon, daß fie alle gefündigt haben“ (Roͤm. 5, 12). Hier wird von Paulus die Grundordnung herausgegriffen, die der Weltgeftalt, in der wir leben, ihr Gepräge gibt, nämlich das allgemeine Todes: Ichiekfal der organischen Welt, und dann wird ein Zufammenhang
bergeftellt zwifchen diefer Ordnung des Sterbens und der Schuld, an der wir alle teilhaben. Ahnlich wird fchon im 90. Pfalm die ganze
Ordnung des Bluͤhens und Welkens, das ftromgleiche Dahinfahren, das unjerem zeitlichen Dafein feine Geftalt gibt, mit der Schuld in Beziehung gefeßt, die wir Gott gegenüber auf dem Gemiffen haben. „Das macht dein Zorn, daß wir fo vergehen, und dein Grimm, daf mir
14. Urschuld und Weligestalt
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fo plöglich dahin müffen. Du haft unfere Verſchuldungen vor dich geftellt, unfere verborgenen Stunden in dag Licht deines Angefichts, Darum fahren alle unfere Tage dahin durch deinen Zorn. Wir bringen unfere Jahre zu wie ein Gefchwäß (oder: wie einen Seufzer)” (Pf. 90, 7: 9). Das Sterben und Dahinmüffen ift ja nur die andere Seite des Geborenwerdens. Der Tod beforgt die Aufräumungsarbeit, damit auf dem begrenzten Raum diefer Welt Plab gefchaffen wird für das nachwachfende Gefchlecht der Neugeborenen, Fortpflanzung und Tod gehören unzertrennlich zufammen. Das wird uns anfchaus lich, wenn wir fehen, daß bei der Eintagsfliege der Hochzeitsflug zugleich der Todesflug ift, und daß nach der Begattung der Bienenfönigin die Drohne tot zu Boden ſinkt. Wir koͤnnen alfo den Tod nicht aus der organifchen Lebensentwiclung herausnehmen, ohne
daß damit die ganze Struktur des organifchen Xebens aufgehoben wird, Wir Fönnen noch weitergehen und fagen: Im Tode erleben wir Menfchen nach Palm go nur in befonders eindrüclicher Form die
Grundform der ganzen Zeitlichkeit, das unaufhaltfame Fortgeriffenwerden vom Zeitftrom, das zum Wefen der ganzen Erfahrungsmelt gehört. Wenn gefagt wird: „Der Tod ift der Sünde Sold“, ift damit nicht bloß ein einzelner Zug im Weltbild, fondern die ganze Dafeins: form der Welt mit der Schuld in unmittelbaren Zufammenhang gebracht, Wenn wir auf diefem Standpunft ftehen, fönnen wir darum die Welt, in der wir leben und fchaffen, nicht mehr wie im erften Falle
als heiligen und jungfräulichen Boden anfehen, der rein aus Gottes Schöpfungshand hervorgegangen ift. Es ift vielmehr immer fchon der Schatten der Schuld auf diefe Welt gefallen und hat ihre Dafeingform und alle ihre Lebensorönungen mitbeftimmt. Wir können alfo fein uneingefchränftes Ja mehr zu dieſer Welt fagen.
Das find die beiden Standpunkte, die gerade auch im Ringen mit dem nationalfozialiftifchen Verftändnis von Blut und Boden in
einen immer fchärferen Gegenfaß gegeneinander getreten find. Wir müffen darum der Frage mit aller Gewiflenhaftigkeit nachgehen: Wie müffen wir uns im Kampf zwifchen diefen beiden Anfchauungen
entfcheiden, wenn wir die Richtung einhalten wollen, die uns Jeſus
136 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
weift? Wenn wir die Frage im Sinne Jefu beantworten wollen, muß beides zur Geltung kommen: 1. Der Urſchuld unferer Gottfeindfchaft darf nichts von ihrem fatanifchen Charakter genommen werden. Sie muß unentjchulöbar bleiben, fie darf aus nichts erklärt werden, das außer ihr felbit liegt. 2. Es darf nichts gefchehen, um den Widerftreit der beiden Geſamt— ausfagen, der nur im Glauben zu ertragen ift, durch irgendeine fonthetifche Anſchauung untereinander auszugleichen, den Widerftreit
der beiden Gefamtbilder, der notwendig entfteht, wenn wir die WirfYichfeit des Satanifchen ausdruͤcken wollen, ohne die Wirklichkeit Gottes Darüber zu verlieren, Wir müffen immer auf der einen Seite fagen: „Der Teufel ift Gottes Teufel.” Gott ift auch im Satan der Alleinwirkſame. Auf der andern Seite aber: Für die Empörung gegen Gott trägt Gott felbft Feinerlei Verantwortung, die Schuld
Yiegt allein in ung, in den Wefen, in denen der gottfeindliche Wille lebt. Wir wollen verfuchen, jeden Diefer beiden Grundgedanken voll zur Geltung zu bringen. 1. Die Schuld, die wir Gott gegenüber haben, ift nur dann Schuld, wenn wir fie in feiner Weife aus den Weltverhältniffen, in die wir hineingeboren find, oder aus dem Milieu, in dem wir aufgewachfen find, erklären und entfchuldigen können. Diefe Entfchuldigung ift fofort da, wenn die biologifche Struktur unferes organifchen Dafeins
oder die zeitliche Grundform der Wirklichkeit, der wir angehören, an fich unrein ift. Denn dann find wir ſchon damit befchmußt, daß unfere Füße auf den Boden diefer Erde treten und daß wir mit unfern Händen den Stoff diefer Erde anfaflen, um „das Werk unferer Hände” Daraus zu formen. Damit wäre ung die Schuld an unferer Gottesferne abgenommen. Wir wären durch die Verhältniffe ent: fehuldigt, in die wir ohne unfer Zutun hineingeboren find und die ung verunreinigen, fobald wir mit ihnen in Berührung kommen. Die Urfehuld der Gottesfeindfchaft bleibt nur dann in ihrer ganzen Unentfchulöbarkeit ftehen, wenn wir fagen müffen: Lebensverhaͤlt— niffe, Dafeinsformen, biologifche Ordnungen Eönnen nie an fich
14. Urschuld und Weligestalt
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unrein fein. Sie können nie als folche eine Schuld in fich tragen. Die Schuld kann immer nur in mir felbft liegen, der ich in diefen Verhaͤlt⸗ niffen ſtehe. Schuld ift nie etwas, was aus den Verhältniffen fommt, fondern immer nur etwas, was zwiſchen Gott und mir fteht, Liegt die Schuld nur in der Sphäre der Urbeziehung zwifchen Schöpfer und Geſchoͤpf, dann ift die Wirklichkeit, wenn wir fie abgefehen von diefer Urbeziehung für fich betrachten, rein und ſchuldlos. Wir duͤrfen alfo die ganz uneingefchränkte Yusfage machen: „Alle Kreatur Gottes ift gut, und nichts ift verwerflich” (1. Tim. 4, 4); „alles ift erlaubt“ (1. Kor, 6, 12); „alles ift euer“ (1. Kor. 3, 21). Wir müffen den tiefen Sinn diefer fchrankenlofen Ausfagen des Paulus zunächft einmal für fich betrachten und zu Ende denken, obwohl fie bei Paulus nur Vorderfaß find für einen Nachfaß, in dem die Bindung des Jüngers an Chriftus zur Geltung fommt („Ihr
aber gehört dem Chriftus“). Über die Weifungen, die Jeſus feiner Süngergemeinde gibt, können wir in einem fpäteren Zufammenhang fprechen, wenn uns die Frage befchäftigt, was Jeſus feiner Gemeinde für eine fittliche Aufgabe zuweift. Wir fprechen mithin vorerft nur von dem Inhalt des Vorderfages, mit dem der Apoſtel einfekt. Was ift der Sinn der univerfalen YAusfage, die dieſer Vorderfag in fich fchließt? Verfuchen wir ihn zu entfalten! Wenn mich irgend etwas von Gott abzieht, was zu dieſer gefchaffenen Welt gehört,
etwa die fchöne Menfchengeftalt, die mich in erotifche Begeifterung verfeßt, oder der Reichtum, an dem mein Herz hängt, die Weltmacht, von der ich mich beraufchen laſſe, fo ift in allen diefen Fällen das, was mich von Gott fcheidet, in Wirklichkeit nicht diefer Gegenftand oder
diefer Weltinhalt felbft. Was mich innerlich verunreinigt, kann immer nur der gottfeindliche Wille meines eigenen Herzens fein, der unab⸗ hängig von den Weltverhälniffen da ift, in denen ich ſtehe. Das meint Sefug, wenn er in feiner Rede iiber das jüdifche Reinheitsgeſetz
fagt: „Nicht das, was von außen in den Mund hineingeht, verun⸗ reinigt den Menfchen, fondern das, was aus dem Munde herausgeht,. das macht den Menfchen gemein” (Mtth. 15, 11). Der mwidergött-
liche Hang, der aus dem Herzen kommt, fucht alles, was mir Gott fchen?t, als Werkzeug der dämonifchen Auflehnung gegen Gott zu miß⸗
138 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
brauchen. Wäre diefe gottfeindliche Bewegung meines Herzens aus:
gefchaltet, wären wir fo, wie Gott will, daß wir fein müßten, dann wuͤrde alles, was ung jeßt verunreinigt, feinen daͤmoniſchen Charafter verlieren und reine Schöpfung Gottes für uns fein. Der Satz gilt alfo in vollem Umfang: „Dem Keinen ift alles rein.” Wenn wir wirklich in Gott bleiben und Gott in uns — vorausgefeßt, daß wir dazu imftande find — dann haben wir „Die Unfchuld der Sinne”, Der Geſchlechtsakt als folcher ift rein und heilig. Auch das fchmußigjte Buch, das ſchmutzigſte Thenterftück oder Filmdrama würden ung nicht verunreinigen können, wenn wir noch ganz bei Gott wären. Denn die Unreinheit Bann nie in dem Gegenftand als ſolchem liegen, fie liegt immer nur in uns, genauer gejagt in dem Verhältnis, in dem wir zu Gott ftehen, während wir mit dem betreffenden Welt: inhalt umgehen. Unrein werden wir immer nur durch das, was zwifchen Gott und ung vor fich geht, während wir das Buch lefen oder das Bild fehen oder das Theaterſtuͤck vor uns über die Bühne geht. Wenn unfer Herz bei Gott ift, während wir den Gegenftand be: trachten, fönnen wir ihn mit reinen Kinderaugen anfehen. Dann
fteht alles, was wir erleben, tun und leiden, im Lichte der Gottes⸗ gemeinfchaft. Unter diefer Vorausfeßung, und nur unter diefer Vor:
ausfeßung, die in der Welt, wie fie nun einmal ift, niemals außer in dem fündlofen Leben Iefu Wirklichkeit geworden ift, können wir folgende Yusfagen machen: Die Zeit ift Ausdruck der Güte, Geduld und Langmut Gottes, der uns Raum gibt zur Buße. Daß die Zeit: richtung nicht umkehrbar ift, ift ein Ausöruc für den Ernft Gottes und mahnt ung, die Zeit auszufaufen. Daß wir dahinfahren wie ein Strom und wie ein Gras find, das frühe blühet und bald welf wird,
das tft eine Ordnung, die wir dankbar bejahen. Denn es geht uns nur um Gott, Wir vergehen gern, damit Gott der bleibt, der allein Unfterblichkeit hat. Darum fagen wir mit Freuden von allen Dingen diefer Welt, die uns eine kurze Zeit lang erfreuen: „Sie werden alle
veralten wie ein Kleid; du aber bleibft, der du bift, und deine Jahre nehmen fein Ende” (Pf. 102, 27f.). Nach 1. Kor. 15 hat der Schöpfer jedem Gefchöpf die Keiblichkeit gegeben, die er ihm geben wollte, „Nicht jedes Fleifch ift dasſelbe
14. Urschuld und Weligestalt
139
Fleiſch“, aber von jeder Leiblichkeit gilt das Grundgefeß der göttlichen
Schöpfungsordnung: „Es wird gefät in Vergänglichkeit” (1. Kor. 15, 42). Darum gilt wenn wir in der Verbundenheit mit Chriftus ftehen, auch dem Tode unfer dankbares Ja. „Wenn wir fterben, fo
fterben wir dem Herrn“ (Röm. 14, 8). Wir geben dem Schöpfer dankbar die Eriftenz zurücd, die er uns für eine von ihm beftimmte Zeit anvertraut hat. Paulus fagt im Blick auf den Tod, den er im Dienft der Gemeinde zu leiden hat: „Und wenn ich als Tranfopfer ausgegoffen werde über dem Opfergottesdienft eures Glaubens, fo freue ich mich und freue mich mit euch allen. Darüber follt ihr euch auch freuen, und ihr follt euch mit mir freuen” (Phil. 2, 17f.). Das Sterben wird jo zum Gottesdienft, zu einem Akt der Hingabe an den Schöpfer. Im Sterben wird die Opferfchale ausgegoffen. Wir fterben
Gott. Gott nimmt das Leben, das er uns gegeben hat, als unfer Dankopfer wieder zurücd, Wir geben mit Freuden den Pat frei, auf
dem wir geftanden und gewirkt haben, damit Raum wird für andere, die Gott zu Größerem beftimmt hat als uns. Nur folange wir in eigenfüchtiger Lebensgier der Begrenzung widerftreben, die Gott mit unferer Eriftenz vornimmt, wenn wir ung alfo gegen Gott auflehnen, wird der Tod der König der Schreden. Wenn aber unfer Geift in
Gottes Willen ruht, begrüßen wir den Tod als willkommene Eins fchränfung unferes Eigenfeing, durch die Raum wird für die Neu: fchöpfung Gottes, ohne daß der Tod damit das legte Wort behält und — von der anderen Seite gefehen - in diefer Welt der Sünde und des Todes aufhört, „der lebte Feind“ zu fein. Wenn wir den Tod in diefem Sinne als göttliche Schöpfungs: ordnung betrachten, haben wir auch das Grundgefeß des organifchen Lebens als Gottes Seßung bejaht, nach dem Leben nur gedeihen kann, indem Leben getötet wird. Im Gefchlechtsakt zeugen wir Leben und
erfiillen damit das Gebot des Schöpfers: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde” (1. Mofe ı, 28). Da aber Lebeweſen in diefer zeitlichen Welt nur wachen Eönnen, indem fie andere Lebewefen verdrängen und töten, ift im Gebot der Fruchtbarkeit auch die Notz wendigfeit des Tötens mitgefeßt. Wie der Zeugungsakt heilig ift, wenn wir dabei in der Gemeinfchaft mit Gott bleiben, muß e8 darum
140 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
auch möglich fein, mit reinem Herzen zu töten — immer vorausgefeßt, daß wir iiberhaupt imftande find, bei Gott zu bleiben und ihn über alle Dinge zu lieben. Röm. 13, 6 werden die Träger der Richtergewalt Priefter Gottes (Asıroupyot) genannt, Vorher ift von ihnen aus: driichlich gefagt, Daß fie das Schwert tragen, alfo Hinrichtungen vor= nehmen (V. 4). Es wird demnach als möglich vorausgefeßt, daß Menfchen in priefterlicher Haltung andere Menfchen töten koͤnnen, ohne daß fie dabei aus der Gemeinfchaft mit Gott herausfallen.
Wenn mit unreinem Herzen getötet wird, in Rachgier, Haß und Wut, kommt das alfo nicht daher, weil Töten an fich unrein wäre. Töten müßte genau fo Gottesdienft fein Eönnen, wie das Sterben
und Fallen deffen, der getötet wird, Gottesdienft fein kann, Wenn das nicht der Fall ift, kann das immer nur daher kommen, weil der, der das Schwert führt, während des Tötens aus der Gemeinschaft mit Gott heraustritt und den Dämonen des Haffes zum Opfer
fällt. Menn ein Mensch alfo wirklich in der Gemeinfchaft mit Gott
bleibt, für die er beftimmt ift, kann er in der Tat, wie Walter Kuͤnneth in feiner Lehre von der Suͤnde im Unfchluß an Kierkegaard fagt, zu einer allfeitigen Weltbejahung Eommen: „Dann verrichte er... . feine Arbeit, froh feiner Arbeit, liebe fein Weib, froh feines Weibes, erziehe fich feine Kinder zur Freude, liebe feine Mitmenfchen und freue fich feines Lebens.” „Der Vogel auf dem Zweig, die Lilie auf der Wiefe, der Hirfch im Walde, der Fifch im Meere, zahllofe Scharen froher
Menfchen jubeln: Gott ift die Liebe. Aber gleichfam tragend wie die Baßpartie Elingt unter allen diefen Sopranen das De Profundis von den Geopferten her: Gott ift die Liebe,’ Wenn Zeitlichkeit, Gefchlechtsleben, Exiſtenzkampf, Tötenmüffen, Sterben und Geopfertwerden Ordnungen find, in denen wir Gottes Walten erkennen, ift damit, tiefer gefehen, die ganze polare Form der Erfahrungsmelt, in der wir leben, unter das göttliche Sa geftellt. Denn die Zeitform ift, wie im erften Bande gezeigt wurde, das polare Entweder-Oder-Verhältnis zwifchen Werden und Gewordene
fein, zwifchen dem nichtgegenftändlichen Gefamtzuftand des Sekt, in dem alles noch unentfchieden ift, und dem entfchiedenen unver—
14. Urschuld und Weligestalt
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aͤnderlichen Geſamtzuſtand der Objektivitaͤt, in den alles Geſchehen im ſteten Wechſel übergeht. Wenn ich bei Gott bin, iſt dieſer Entſcheidungs— charakter meiner Eriftenz die herrliche Möglichkeit, mich von Augen: blick zu Augenblick neu für Gott zu entfcheiden. Die Ordnung des Eriftenzkampfes, des Tötens und Sterbenmiüffens ift der Ausdrud für das polare Verhältnis zwifchen Ich und Du, von dem im erften Bande gejprochen wurde, Denn die DusBeziehung ift die Yogifch unlösbare Hochipannung, die durch das EntwedersÖder:Verhältnis zwifchen zwei einander ausfchließenden Anfprichen entfteht. Zum MWefen des Ich gehört die Einzahl. Du und ich muͤſſen beide auf die gleiche Stelle Anspruch machen, von der aus alles andere zum Nicht-Ich wird. Diefe Polarität drückt fich in dem befannten biolo⸗ gifchen Tatbeftand aus: In jedem organifchen Gebilde Yebt der
Drang, fich unbegrenzt auszubreiten und ins Unendliche fortzus pflanzen. Und doch bleibt der Lebensprozeh nur fo lange im ang, als diefer unendliche Drang durch andere Organismen gehemmt wird, die ihm Widerftand entgegenfeßen, weil fie denfelben unendlichen Drang in fich tragen, wie das Feuer nur fo lange brennt, als noch unverbranntes Brennmaterial vorhanden ift, das erft verzehrt werden muß, Solange Leben da ift, muß diefe polare Spannung zwifchen den Lebensanfprichen verfchiedener Lebeweſen da fein. Die ganze Gefchichte des organifchen Lebens und auch die Gefchichte der Staaten und Völker wird nur durch diefen unbegrenzten, aber Doch immer ge: hemmten Macht: und Welteroberungstrieb in Bewegung erhalten. Das Leben würde fofort ftilfftehen, wenn diefer unbegrenzte Trieb aufhörte
oder wenn Fein Widerftand mehr da wäre, den er zu uͤberwinden hätte, Wenn alfo Exiſtenzkampf, Töten und Sterben für den, der in Gott bleibt, heilige Schöpfungsordnungen find, fo liegt damit das göttliche Sa auf der polaren Dafeinsform, in der wir ftehen, auf dem Verhältnis der Inhalte und auf der Beziehung der Räume, deren Struktur wir im erften Bande befprochen haben. 2. Diefe Heiligkeit der Schöpfung und aller ihrer Ordnungen tritt ‚demnach nur für den in Kraft, der in der Gemeinfchaft mit Gott fteht. Je mehr wir uns dem Zuftande der Gottesliebe nähern, um fo mehr fällt der Schleier von unferen Augen, und die Herrlichkeit
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
der Schöpfungsordnung geht uns auf, Je mehr wir uns von dieſem Zuftand entfernen und den Zufammenhang mit Gott verlieren, um fo mehr umflort fich unfer Blick, und ein trübes und zerriffenes Bild der Welt fteht vor unferen Augen, Wir fehen organifche Gebilde in finnlofem Lebensdrang ins Unendliche ftreben und einander unter furchtbaren Qualen gegenfeitig zerfleifchen.
Man Eönnte daraus die Folgerung ziehen: Alſo liegt es doch nur an unferem trüben Yuge, daß wir die Welt Gottes nicht in ihrem reinen Glanz zu fehen vermögen. Die Schöpfung felbft bleibt davon unberuͤhrt. Bon der Schöpfung, wie fie an fich ift, gilt nach wie vor, was am Schluß des göttlichen Schöpfungsberichtes fteht: „Und Gott fah an alles, was er gemacht hatte; und fiehe da, es war fehr gut“
(1. Mofe 1, 31). Diefe Folgerung dürften wir nur dann ziehen, wenn die Matonifche Anſchauung recht hätte, nach der Ich und Welt unabhängig voneinander eriftieren. Das Ich hält fich nach Plato nur vorübergehend in der Welt wie in einer Gaftherberge auf, um fie dann wieder zu verlaffen und fich in eine höhere Region emporzu=
ſchwingen. Das Schickfal der Welt kann mir darum zuletzt gleichgültig fein, wenn ich nur meine Seele in ein befferes Senfeits gerettet habe, Wenn es fo ftünde, koͤnnten das Ich und die Welt, die ihm vor Augen fteht, auseinandergenommen werden, wie man einen Tiſch und die Lampe, die darauf fteht, auseinandernehmen kann. Am Tifch ändert fich nichts, ob die Lampe heller oder trirber brennt. So wäre
die Welt gleich rein und wertvoll, wenn auch die dunklen Augen des fündigen Menfchen fie nur in trüben Lichte zu fehen vermöchten. Diefe Anfchauung wird unhaltbar, wenn das Verhältnis zwifchen Sch und Welt ein anderes ift, als in der Matonifchen Philofophie vorausgeſetzt wird, Wenn die dynamifche Weltanfchauung richtig ift,
die im erſten Band entwickelt wurde, gehören Ich und Welt zu einer ungertrennlichen Einheit zufammen. Ich und Es ift dasfelbe Ver— hältnis von der anderen Seite betrachtet wie Werden und Geworden:
fein. Als wollendes und erfennendes Ich gehöre ich alfo ganz und gar mit hinein in den Werdezuftand der Welt. Ich kann mich nicht durch einen Tellfprung aus der Welt herausretten und die Welt hin= ter mir ins Nichts hinabſtoßen. Mein Schiefal und das Weltfchiekfal
15. Der Widerstreit zwischen den beiden Gesamtweltbildern
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gehören zufammen. Es gibt weder eine ichlofe Welt noch ein weltlofes Ih. Dafein ift immer „in der Welt fein’ (Heidegger). Wenn aber Ich und Welt eine unzertrennliche Einheit miteinander bilden, dann
ift damit die Welt in den unlösbaren Widerftreit hineingezogen, der darin gegeben ift, daß wir an einer fatanifchen Empörung gegen Gott beteiligt find. Der Schatten der Urſchuld, die zwifchen Ich und Gott fteht, fällt auch auf die Welt und alle ihre Ordnungen. 15. Der Widerftreit zwifchen den beiden Gefamtweltbildern
Inwiefern wirft die Urfchuld, die uns von Gott fcheidet, einen Schatten auch auf die Welt, an deren Geftaltung wir mitbeteiligt find? Wenn wir unter der Führung Jeſu mit der Wirklichkeit des Satanifchen rechnen müffen, entfteht dadurch eine Hochfpannung zwifchen zwei Gefamtbildern, die für unfer Denken unvereinbar find und nur für den Glauben eine unbegreifliche Einheit bilden, zwifchen dem Gefamtbild der Aleinwirkfamkeit Gottes und dem Gefamtbild
des Kampfes, in dem fich Gott mit einer Gegenmacht auseinander: feßt. Diefer Widerftreit gilt zunächft für die Urbeziehung zwifchen Gott und Ich. Was ergibt fich daraus fir die Welt, die unter unferer
verantwortlichen Miteinwirkung jeden Augenblick neu aus dem uns entfchiedenen in den entfchiedenen Zuftand tritt? Auch hier muß ein Miderftreit zwifchen zwei unvereinbaren Gefamtbildern entftehen. Diefe Welt trägt in ihrer jeßigen Geftalt zwei Möglichkeiten in fich, die einander widerfprechen und die doch beide da find, Die erfte Möglichkeit entfpricht dem Gefamtbild der Alleinwirkſamkeit Gottes.
Diefe erfte Möglichkeit tritt in Kraft, wenn das Ich, das mitten in der Welt fteht, zugleich ganz in Gott ruht. Für diefes in Gott ruhende Ich ift alles, auch das Gefchlechtsleben, der Kampf, den die Gefchöpfe
auf Tod und Leben miteinander Fämpfen, das Töten und dag Öterbenmüffen, ein Walten Gottes, der alles in allem wirft. Aber nun ruht unfer Wille nicht fo in Gottes Willen, wie das der Fall fein ſollte. Wir koͤnnen das natürlich immer nur als Tatfache ausiprechen und erwarten, daß jeder, der ehrlich gegen fich felber ift, diefe Tatfache
144 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers
bedürfen
zugibt. Wir koͤnnen diefe Ausfage nicht unter Beweis ftellen. Dazu müßten wir eine Umfrage veranftalten bei allen Menfchen, die je gelebt haben und noch leben werden. Obwohl fich ein folcher Beweis nicht erbringen läßt, machen wir diefe Ausſage troßdem in der ganz beftimmten Erwartung, daß ihr alle zuftimmen, die ihr eigenes Herz kennen. Keiner von uns Menfchen ift fo nahe bei Gott, daß er die Alleinwirkſamkeit Gottes in allem, was ift und gefchieht, wirklich faffen könnte. Wir Eönnen wohl in Worten von ihr ſprechen; aber die Haltung der Welt gegenüber, die fich aus diefer Yusfage ergeben wirrde, koͤnnen wir, wenn nicht ein Wunder mit uns gefchieht, immer nur für Augenblicke einnehmen. Bir Fönnen fie gerade in den kriti⸗ fchen Lagen nicht wirklich feithalten, in denen es fich zeigen müßte, ob wir wirklich imftande find, Gott von ganzem Herzen für alles zu loben, was er tut. In normalen Zeiten, in denen Luft und Schmerz, Gluͤck und Leid
unferes Lebens in mäßigen Grenzen bleiben, find wir vielleicht imftande, unfer Lebensfchieffal ganz aus Gottes Hand zu nehmen.
Ob der Dank, den wir in diefen Fällen Gott gegenüber aussprechen, wirklich echt ift, ob wir wirklich nur wollen, was Gott will, das kann fich erft dann zeigen, wenn die Fälle eintreten, die das Neue Teftament als Prüfungen bezeichnet, in denen der Glaube wie Gold durchs Teuer auf feine Echtheit geprüft wird. Das ift dann der Fall, wenn das Map von Gluͤck und Leid nach oben oder unten überfchritten wird,
wenn entweder das Gluͤck, das uns in den Schoß fällt, die Macht, die wir in unferer Hand vereinigen, ein Übermafß erreicht, das unfer inneres Gleichgewicht fört, oder wenn das Leid, das uns nieder
jchmettert, das Opfer, das von uns verlangt wird, fo finnlos erfcheint, daß es uns fchlechterdings unmöglich ift, es mit Gottes Liebe in Einklang zu bringen, In diefen beiden Fällen ift es ung ganz Plar, daß uns auch ein Iberftrömendes Gluͤck nicht einen Augenblick in Verſuchung bringen dürfte, von einem felbftifchen Gluͤcks und Macht: rauſch befeffen zu werden und darüber Gott zu verlieren. Wir follten jo mit Gott verbunden fein, daß wir auch unter einem Schieffals-
Ichlag, in dem wir fchlechterdings feinen Sinn zu finden vermögen, von ganzem Herzen nach dem Wort Kierfegaards das De Profundis der
15. Der Widerstreit zwischen den beiden Gesamtweltbildern
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Geopferten anftimmen können: Gott ift die Liebe, Aber wir müffen ehrlich geftehen: Wenn unfer Gottvertrauen auf diefe fchwerften Proben geftellt wird, werden wir in den meiften Fällen im erften
Augenbli aus der Stellung herausgeworfen, die wir hätten halten
jollen, und wir finden uns erft zurück, wenn wir unfere verfprengten Truppen wieder fammeln und verfuchen, die verlorene Feftung zuriick: zuerobern. Luther fagt in feiner derben deutfchen Ehrlichkeit: Im Ehebett fann man nicht beten! Wenn der Raufch der erotifchen Freude einen gewiffen Höhepunkt erreicht, verlieren wir ſchwachen Menfchen die Verbindung mit Gott, nicht weil es an fich unmöglich wäre, auch auf den Gipfelpunften des Gluͤcks felig in Gott zu ruhen, fondern weil unfere Gebetskraft einfach verfagt. Ebenfo ift es im umgekehrten Falle, Wenn wir nach einem ſchweren Grubenunglüc in der Leichen: halle ftehen, wo Hunderte von braven Bergleuten aufgebahrt find, während man das herzzerreißende Jammern der Frauen und Kinder hört, die ihrer Ernährer beraubt find, dann ift die erfte Wirkung, die das bei den Betroffenen auslöft, Verzweiflung, Empörung und Hader mit dem Schiefal. Erft nach einiger Zeit richtet fich vielleicht das niedergejchlagene Gottvertrauen langfam wieder auf, und wir können fagen: „Dennoch bleibe ich ftets an dir.” Denken wir etwa, um irgendein Beifpiel aus dem Leben herauszus greifen, an das Unglüd, das fich vor einigen Jahren in einer mitteldeutfchen Stadt zutrug. Vier Urbeiterkinder, Mädchen zwifchen acht und neun Jahren, die auf dem Bodenraum fpielten, erftickten alle miteinander in einem großen Koffer, den fie als Puppenftube benußt hatten, weil der ſchwere Dedel des Koffers in das Schloß fiel, nach: dem fie fich hineingefeßt hatten. Als man den Koffer öffnete, ftellte der Arzt feit, daß die Kleinen hätten gerettet werden können, wenn
man zehn Minuten früher gekommen wäre, Es ift möglich, daß die Mütter diefer Kinder fchließlich einfehen lernten, das Gefeß der Schwere, nach dem der Dedel in diefem unglüdlichen Augenblick
zufallen mußte, fei eine heilige Schöpfungsordnung Gottes, ohne Die die Welt gar nicht beftehen koͤnne, und das Ungluͤck, das ihnen ihre Kinder nahm, fei eine Prüfung Gottes, durch die er fie läutern wollte, 10 Heim, Jeſus der Herr
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Aber unter dem erften betäubenden Schlag ift Feiner von ung, den fo etwas trifft, fofort zu diefer Haltung imftande. Solange wir uns theoretifch mit dem Fall befchäftigen, ift es uns klar, unfer Wille folfte fo in Gottes Willen ruhen, daß wir einen folchen Schlag, der unfer Lebensgluͤck zertruͤmmert, ftill und Eindlich ohne jede Abwehr: bewegung in der Gewißheit hinnehmen, daß er von dem fommt, der uns liebt, Uber wenn die Sache praftifch wird und der Schlag uns wirklich trifft, find wir im erften Yugenbli aus unferer Vertrauens: haltung herausgemworfen, und wir ballen die Fauft in wilder Empö= rung gegen die Macht, die unfer Leben vernichtet. Es zeigt fich in allen derartigen Fällen: Die Brüde, die uns zu
Gott hinuͤberfuͤhrt, halt nur fo lange, als fie nicht zu ſtark belaftet wird, Sobald ein allzu ſchwerer Bahnzug darüberfährt, alfo ein Übergewicht von Luft oder Leid da ift, bricht die Bruͤcke zuſammen. Wenn wir aber die Probe fo fchlecht beftehen, in der nach dem Neuen ZTeftament unfer Glaube wie Gold durchs Feuer auf feine Echtheit geprüft wird, dann entfteht der Verdacht, das Lob Gottes und der Dank für feine Schöpfungsordnungen, zu dem wir in den ruhigen Zeiten normaler Belaftung imftande find, komme vielleicht nur daher, weil Gottes Fügung in feinem allzu ftarfen Widerfpruch zu dem fteht, was wir felbft winfchen und bedürfen.
Wir fehen: Die Welt in ihrer jeßigen Geftalt trägt allerdings die erfte Möglichkeit in fich, die dem Gefamtbild der Aleinwirkfamkeit Gottes entpricht. Sie kann als heilige Schöpfungsordnung Gottes erfahren werden. Da aber ein gottfeindlicher Wille in uns Liegt, wiffen wir zwar um diefe erfte Möglichkeit; aber fie bleibt uns uner=
reichbar. Solange das reine Verhältnis zu Gott nicht wiederhergeftellt ift, tft bei ung immer zunächft die zweite Möglichkeit in Kraft, die dem Weltbild des Kampfes entfpricht. Diefelben Grundorönungen, die,
mit dem reinen Auge des Öottvertrauens gefehen, heilige Gottesordnungen find, werden, wenn wir fie mit dem trüben Auge des gottentfremdeten Menfchen betrachten, dämonifche Mächte und Werk-
zeuge der Empörung gegen Gott. Das polare Verhältnis zwifchen Ich und Du, durch das mir
immer nur meine Welt direft zugänglich ift, während mir die Melt
15. Der Widerstreit zwischen den beiden Gesamtweltbildern
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des anderen verfchloffen bleibt, ift fiir den gottverbundenen Menfchen die große Möglichkeit der Liebe, in der er fich felbft, den er fieht, für den andern hingibt, den er nicht fieht. Für den gottentfremdeten Menfchen aber ift dasfelbe Verhältnis zwifchen Ich und Du die große Verfuchung, zu jagen: „Jeder ift fich felbft der Nächte!” „Sol ich meines Bruders Hüter fein?” und wie der Priefter und Levit an der Not des ewig andern kalt und mitleidlos vorüberzugehen. Der Ent: ſcheidungscharakter unferes Handelns, der fich aus der Zeitform unferer Eriftenz ergibt, ift für den ungeteilt auf Gott gerichteten Willen die herrliche Möglichkeit, fich von Augenbli zu Augenblick freiwillig für Gott zu entfcheiden. Im Zuftand der Gottesferne aber iſt die Entfcheidungsmöglichkeit, die ich als Subjekt habe, die große Verſuchung dazu, daß ich mich als Ich, das auf feine Freiheit ftolz ift, in prometheifchen Trotz und dämonifcher Autonomie Gott ent= gegenfeße. Die Weltfreude, die mich in normalem Zuftand zum Dank gegen Gott ftimmt, wird im Zuftand der Gottesferne zur unerfättlichen Gier, die mich von Gott abzieht. Leid und Todesſchickſal aber löfen Angft und Verzweiflung und Hader mit Gott aus,
Wenn wir uns in diefer Sicht das Verhältnis zwifchen Gott und Welt vorftellen, entiteht daraus das Gefamtbild des Kampfes, dem nicht mehr durch das Gefamtbild der Alleinwirkſamkeit Gottes die
Waage gehalten wird. Denn wir können ung von diefem Standpunft aus nur einen Gott denken, der fich mit dämonifchen Gegenmächten, Die fich gegen ihn auflehnen, kaͤmpfend auseinanderfeßt. Gottes Welt: regierung beiteht dann darin, daß er diefe feindlichen Mächte zuläßt
und fie in überlegener Regierungsmeisheit dazu benußt, um uns, „die Schwachen Empörer” (Doſtojewſkij), in Schranken zu halten. Er
läßt es zu, daß der Machtraufch, die daͤmoniſche Geldgier und die erotifche Leidenfchaft in uns erwachen, um in diefer heißen Glut unferen Charakter zu ftählen und uns auf die Probe zu fellen, ob wir
uns Enechten laffen und in der Sflaverei unferer Triebe zugrunde gehen oder ob wir den Kampf um unfere Selbftbeherrfchung fiegreich
beftehen. Der Tod, vor dem wir als gottferne Wefen Ungft haben, tft die Geißel, die Gott über ung ſchwingt, fein Gericht über unfere Schuld, In der Welt des gottfernen Menfchen gilt in der Tat der 10*
148 III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
Saß: „Der Tod ift der Suͤnde Sold.” „Das macht dein Zorn, daß wir fo vergehen.” Es entftehen mithin zwei Gefamtbilder der Wirklichkeit, die wir mit unferem Denken nicht mehr in Einklang bringen können und die wir doch beide gleich ernft nehmen muͤſſen, wenn wir der wirklichen Befchaffenheit der Welt, in der wir ftehen, gerecht werden wollen. Bei Paulus ftehen beide Bilder unvermittelt nebeneinander. ı. Kor.
15, 35 ff. ift die Vergänglichkeit die Ordnung des Schöpfers für den jeßigen Von. Röm, 5 und 6 dagegen ift der Tod und die Vergänglichkeit die Reaktion von Gottes Zorn auf die Urfchuld des Menfchen. Die beiden Standpunkte, die im heutigen Weltanfchauungsfampf einander gegenüberftehen, der Standpunkt der uneingefchränften Weltbefahung und der andere Standpunkt, bei dem das Ja zur Welt durch ein Nein gebrochen ift, find demnach nach der Bibel nicht etwa zwei Anfchauungen, zwifchen denen wir uns entfcheiden müffen. Sie find vielmehr paradorerweife beide zugleich wahr und drücken beide in ihrem Gegenfaß die wirkliche Sachlage aus, Denn diefe hat ihre
Eigentümlichkeit darin, daß fie nicht in einem Gefamtbild ausge: drückt werden kann, fondern immer nur in zwei entgegengefeßten Bildern, die einander das Gleichgewicht halten. Wir haben uns fehon früher deutlich gemacht: Der Miderftreit zwifchen der polaren Welt und der uͤberpolaren Wirklichkeit des all: gegenwärtigen Gottes kann nur ertragen werden in der Gemwißheit, daß die Hochfpannung, die wir nicht Löfen können, von Gott gelöft werden wird. Ale echten Gottesgläubigen Eonnten darum das Leben nur aushalten in der brennenden Erwartung eines Endzuftandes, in dem Gott den Widerftreit Löft, in dem Gott alfo „alles in allem“ fein wird. Dem entfpricht es, daß Jeſus nach dem Lufasbericht im Streit: geipräch mit den Sadduzäern deutlich fagt: Wenn die Königsherr ſchaft Gottes in Kraft anbricht, dann werden die zufammenhängens den Örundorönungen der polaren Welt, Gefchlechtlichkeit und Tod, beide aufhören. „Die Söhne diefes Aons heiraten und laſſen fich heiraten. Die aber, die gewürdigt werden, an jenem Von und an der Auferftehung von den Toten teilzunehmen, werden weder heiraten noch fich heiraten laſſen. Denn fie können auch nicht fterben. Denn
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fie find engelgleich und Söhne Gottes, indem fie Söhne der Auf: erftehung find“ (Luk, 20, 34ff.). Wenn alfo Gott fein wird alfes in allem, werden die beiden Dinge nicht mehr fein, die am ftärfften die doppelte Möglichkeit in fich tragen, Ordnungen Gottes und daͤmo⸗— nifche Werkzeuge des Satans zu fein, das Übermaf der Freude, das die Gefchlechtlichkeit erzeugt und das die gottentfremdeten Menfchen mit einem felbftifchen Raufch erfüllt, und das Übermaf des Todes: leides, das die gottferne Menfchheit mit Angft erfüllt und an Gott
verzweifeln läßt. Wenn Gott fein wird alles in allem, dann wird dieſer Widerftreit der beiden Gefamtbilder aufgehoben fein. An die Stelle der Weltgeftalt, die zwei widerfprechende Möglichkeiten in fich
trägt, wird eine neue Weltgeftalt treten, in der nur eine Möglichkeit da iſt. Wenn wir mit brennender Erwartung nach der Weltverwandlung ausfchauen, entiteht unmwillfürlich die Frage: Entfpricht dem Ende, das Jeſus verheißt, ein Anfang, zu dem diefes Ende zurückkehrt? Ift das Ende die Miederherftellung eines Urzuftandes, der vorher da war?
Iſt die Welt alfo in den gegenwärtigen Zuftand durch einen Urfall hineingeraten, aus dem fie fich wieder erheben muß, um in den reinen Urzuftand zurückzufehren? Sefus hat nach der Überlieferung, die wir
von ihm haben, über diefe Frage Feine ausdrückliche Ausfage gemacht. Yuch das Alte Teftament, an das Jeſus in feiner Unfchauung fo oft anknuͤpft, erzählt wohl von der fatanifchen Verführung, durch die
die erften Menfchen in Sünde fielen, und von ihrer Yustreibung aus dem Paradies. Aber es gibt uns fein anfchauliches Bild von der
Verwandlung der ganzen Weltgeftalt, die durch den Fall des Menfehen herbeigeführt worden ift. Jedoch wenn der Ungehorfam der erften Menfchen das Todesſchickſal zur Folge hat (1. Mofes 2,17) und der 90. Pfalm in den Verſen 7ff. die Vergänglichkeit des Menfchen
als Ausdruck des Zornesgerichtes Gottes über unfere Sünde bezeugt, fo liegt das deutlich in der Linie des Spätjudentums und des Römer: briefs des Paulus, wo der Tod als der „Sold der Sünde” (6, 23; vgl. 8, 20) und damit als göttliche Strafe erfcheint, die über die Menfchheit verhängt wurde. Auch die Dämonenaustreibungen Jeſu
laſſen das eine klar erkennen, daß die ſataniſche Macht der letzte
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III. Die Urschuld als der tiefste Grund, warum wir eines Führers bedürfen
Grund der Schuld ift und daß die Welt ihren Endzuftand darum noch nicht erreicht hat, weil diefe Macht noch nicht überwunden ift. Freilich,
erft wenn der Endfieg errungen ift, werden wir ganz reif fein für die legte Erkenntnis diefes Geheimniffes. Bis dahin erkennen wir Diefe Zufammenhänge immer nur „bruchftirefweife” (1. Kor. 13, 12). Dann
erft werden uns die Augen über Urfprung und Sinn der Schöpfung
Gottes völlig aufgehen.
IV. Die Gottesoffenbarung in Chriftus 16. Die unbegreifliche Tatfache
Stehen wir einen Augenblic ſtill, um ung über das Ergebnis Flar zu werden, zu dem wir in den bisherigen Abfchnitten gefommen find, und über die Aufgabe, die noch vor uns fteht. Wir fahen zunächit: Das Verftändnis deffen, was die Chriftug: gemeinde über ihren Meifter bezeugt, hängt davon ab, ob wir aus eigener Erfahrung zugeben, daß wir nicht imftande find, die letzte Wirklichkeit, die allein unferer Seele Halt, unferem Denken Ruhe und unjerem Handeln feine Legitimation geben Eann, felbft zu feßen, zu wählen, zu erdenfen oder aus der erfahrbaren Wirklichkeit zu erfchließen. Solange wir mit dem Eonfequenten Idealismus glauben, daß uns das Abfolute und damit die Gewißheit der rechten Lebens: entjcheidung und der Sieg Über Leid und Tod fehon mit unferer Eriftenz unmittelbar erfchloffen fei, ift uns die Haltung der neuteftamentlichen Gemeinde mit ihrem entfchloffenen Verzicht auf Selbft: führung unbegreiflich. Es ift dann beffer, wenn wir uns mit dem Glauben diefer Gemeinde zunächft überhaupt nicht befaffen. Denn wir können diefen Glauben nur mißverftehen, weil ung die allgemein menfchliche Notlage, der Chriftus abzuhelfen gekommen ift, noch nicht
zum Bemwußtfein kam. „Die Gefunden bedürfen des Arztes nicht” (Mrk. 2, 17). Die Botfchaft, daß Gott uns einen Führer gegeben hat, an den wir uns in der leßten Lebensfrage halten können, geht immer nur den engeren Kreis der Menfchen an, denen unter fchmerzlichen
Erfahrungen die Einficht aufgegangen ift: Wir fönnen mit unferem Denken und Wollen den Bann der polaren Verhältniffe, in die wir eingefchloffen find, nicht durchbrechen. Wir können wohl die hohen Worte ausfprechen, die den Erönenden Abſchluß aller menfchlichen
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Philofophie bilden: „das Abfolute‘, „das Unbedingte”, „der Ur: fprung”. Aber diefe Worte find fir unfer Denken nur Grenzbegriffe
oder Symbole für eine ungelöfte Frage und ein ungeftilltes Bedürfnis, jedoch Feine Realitäten, an die wir uns halten können. Von diefen Morten geht darum Feine Kraft im Leben und fein Zroft im Tode aus.
Dem polaren Charakter unferer Erkenntnis entjpricht die Gottesferne, die auf unferer ganzen Eriftenz laftet, die unbegreifliche Un— ficherheit und Unfaßbarkeit der allgegenwärtigen leßten Realität, das allgemein menfchliche Bedürfnis, durch Gebet und Konzentrationgübungen und E£ultifche Veranftaltungen den verlorenen Heimweg zum Abfoluten zu fuchen, die hamletartige Unfchlüffigkeit, unter der wir bei unferen alltäglichen Entfcheidungen leiden, die Ungft vor dem Meltleid und das Erfehredien vor dem Tod, Wen diefer fchmerzliche Zuftand nicht aus eigener Erfahrung befannt ift, bei dem ift der Boden noch nicht vorhanden, in den der Same des Chriftuszeugniffes fallen kann. Er gehört noch zu den „Gefunden“, die des Arztes nicht bedürfen. Sobald uns indes die abnorme Lage des Menjchen zum Bewußt— fein gefommen ift, gibt es für uns nur zwei Möglichkeiten. Die erfte Möglichkeit ift die, daß wir die Lage als hoffnungslos anfehen. Wir warten dann auf feine Hilfe mehr, fondern richten uns innerhalb unferer menfchlichen Möglichkeiten ein, Wir erheben entweder eine
gegebene Wirklichkeit innerhalb diefer polaren Welt durch eigene Wahl und Seßung in den Rang des Xbfoluten, weil wir ohne ein Urdatum, hinter das wir nicht zurückfragen dürfen, nun einmal nicht leben und arbeiten können, weder als einzelne noch als Volksgemein— fchaft. Oder wir tun das Iweite, was uns innerhalb unferer polaren Erfahrungsmelt möglich ift: Wir fehlagen den Weg der Myſtik ein und fuchen Ruhe im Indifferengpunft, der jenfeits aller polaren Gegenfäge fteht. Solange wir einen diefer beiden Wege einfchlagen, bfeiben wir innerhalb der Grenzen, die uns durch die Grundform der Welt beftimmt find, über die wir felbft verfürgen koͤnnen.
Es gibt jedoch noch eine zweite Möglichkeit. Das ift der Glaube, daß es jenfeits von allem, was wir felbft erdenfen oder erfchließen Eönnen,
16. Die unbegreifliche Tatsache
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eine Führung gibt, die uns den Zugang zur letzten Wirklichkeit aufIchließt, eine Macht, die uns aus der Notlage befreit, in der wir immer nur die beiden oben genannten Wege einfchlagen Fönnen. Wenn die neuteftamentliche Gemeinde recht hat, daß uns ein Führer gefchenkt ift, der Vollmacht hat, dann ift das Dafein diefer einzigartigen Geftalt inmitten der rätfelhaften Welt die Foftbare Schatzkammer und der lebendige Quell, aus dem wir alles fchöpfen muͤſſen, was mir über die leßte Lebensfrage wiffen koͤnnen. Auch wenn das nur Bruchftücde find, die unfer Bedürfnis nach einer geichloffenen Gefamtanfchauung Feineswegs befriedigen, fondern viele Fragen unbeantwortet laffen, die unfere Wißbegierde ftellt, ift die Sammlung diefer Fragmente troßdem viel wichtiger und wert: voller als die geiſtvollſten und glänzenöften Gedankenſyſteme, die wir ung jelbit ausgedacht haben. Genau fo wie ung, wenn wir etwa uͤber die Erftbeiteigung eines Berggipfels Befcheid wiſſen möchten, der unvollfommene und Iücenhafte Bericht eines einfachen Bergführers, der bei der Expedition nicht mitabgeftürzt ift, unendlich viel wertuoller ift als die hinreißende Darftellung eines großen Dichters, der fich das Ubenteuer nur mit feiner dichterifchen Phantafie ausgemalt hat. Denn e8 fommt ung bei diefer Lebensfrage nicht auf ein gefchloffenes Syſtem an oder auf ein äfthetifch befriedigendes Gefamtbild. Dazu
iſt diefe Frage, an der unfer ewiges Schickfal hängt, zu ernft. Es kommt uns einzig und allein darauf an, ob das wenige, das wir vielleicht dariiber wiſſen Eönnen, wirklich von der Stelle kommt, die nicht bloß wie alle menschlichen Denker und Dichter Vermutungen
über die leßten Dinge ausfprechen kann, fondern die die Vollmacht Gottes hat, uns über die legten Dinge Auffchluß zu geben. Wir haben es in unfern bisherigen Ausführungen gewagt, ung auf den Boden des Vertrauens zu ftellen, daß Gott in der Tat die Führung der Menfchheit in der legten Lebensfrage in die Hand des einen gelegt hat, der ung im Neuen Teftament vor Yugen tritt. Wir Haben darum alle eigenen Gedanken zurücgeftellt und unfere ganze Aufmerkſam⸗ feit auf die koſtbare und unergründliche Wirklichkeit gerichtet, die im Chriftus der Evangelien vor ung fteht. Wir find auch in unferem Denken unter feine Führung getreten und haben ung immer nur die
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
eine Aufgabe geftellt, ven Inhalt diefer unergründlichen Wirklichkeit auszufchöpfen. Wir haben uns mit den Fragen, die wir auf dem
Herzen haben, immer nur an die eine Stelle gewandt, von der wir gültige Auffchlüffe erwarten. Wir find dabei von außen nach innen
gegangen. Wir haben uns zunächft die allgemeine Frage geftellt: Was bedeutet die Tatfache, daß uns Überhaupt ein Führer gefchenkt tft, noch ganz abgefehen davon, wer der Führer ift und was er ung jagt, für das Verftändnis unferer ganzen menfchlichen Lage? Es bedeutet, wie wir fahen, daß alle unfere Verfuche, uns in der leßten Frage felbft zu führen, vergeblich find, daß wir alfo im Zuftand der Gottesferne leben. Daraus ergab fich von felbft die zweite Frage: Was ift
der tiefite Grund diefer Gottesferne? Die Antwort, die ung Jeſus auf diefe Frage gab, lag in der Tatfache, daß er bei feinem ganzen Lebensgang mit einem unfichtbaren Feind rechnete, der gegen Gott auf den Plan tritt. Damit, daß diefer gottfeindliche Gefamtmwille da
ift, ift in alles, was wir über Gott fagen koͤnnen, ein Widerftreit hineingetragen, den wir mit unferm Denken nicht mehr löfen fönnen. Aus den Antworten, die wir auf diefe beiden erften Fragen erhalten haben, wird noch eine dritte grundfäßliche Frage geboren, über die wir noch fprechen müffen, ehe wir uns in die Eonfrete Inhaltsfülle der ChHriftusgeftalt verfenken Eönnen. Wir müffen fragen: Wenn die Wirklichkeit, deren Zeile wir find, eine doppelte Möglichkeit in fich trägt, alfo immer zugleich in der Allgegenwart Gottes fteht und in der verfchuldeten Gottesferne, wie ift es dann überhaupt möglich, daß mitten in diefer polaren Erfahrungswelt eine Stelle da fein foll,
wo wir Auffchluß und Weifungen über;die unbedingte Wirklichkeit empfangen können? Wie kann innerhalb der Welt, in der fich alles
Gegebene gegenfeitig bedingt, irgendwo eine unbedingte Führung in Kraft treten? Beides fcheint doch in MWiderfpruch miteinander zu ftehen, der Glaube an eine Führergeftalt, die mitten in diefer Welt fteht und unbedingte Vollmacht hat, und das, was uns über die
Geftalt diefer Welt aufgeht, wenn wir uns unter feine Führung ftellen. Es hat feinen Sinn, wenn wir durch eigenes Nachdenken eine Antwort auf die Trage fuchen, wenn wir etwa ausgehen vom dialek⸗
16. Die unbegreifliche Tatsache
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tiſchen Verhältnis zwifchen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwifchen dem Abfoluten und dem Relativen, zwifchen Emwigfeit und Zeit und ung Gedanken darüber machen, wie durch eine Verendlichung des Unendlichen, eine Relativierung des Abfoluten, ein Zeitwerden der Emigfeit der Widerftreit zwifchen dem Göttlichen und Dämo: nifchen gelöft werden könnte. Alle diefe tieffinnigen Spekulationen führen ung feinen Schritt über das polare Denken hinaus, zu dem wir allein imftande find, Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, den Bann der Polarität zu durchbrechen, kann das nur eine Möglich: feit fein, die von unferer ganzen Erfahrungsform aus gefehen eine Möglichkeit ift, die wir nicht mehr erdenken, fondern nur als Tatſache hinnehmen fünnen. Die Frage, wie innerhalb der Welt der Bedingt: heiten, in der wir leben, eine unbedingte Führervollmacht in Kraft treten kann, fönnen wir darum nur beantworten, wenn wir den unerfchöpflichen Tatbeitand ſelbſt ins Auge faffen, der uns umfängt, wenn wir das Neue Teftament lefen.
Die Sammlung von Berichten, Briefen und Weisfagungen, die wir im Neuen Teftament vor uns haben, ift nicht ein philofophifcher Traktat wie die Meditationen Mark Aurels, auch nicht eine Zuſam—
menftellung von Moralfprüchen wie die Gefpräche von Kung Futſe (£un yuͤ); es find auch nicht Heiligenlegenden zur Veranfchaulichung eines beftimmten Frömmigkeitsideals, wie wir fie in der buddhiſti— fchen Literatur haben. Diefe Sammlung ift vielmehr von Anfang bis zu Ende der Niederfchlag der inneren Erregung, die ein unglaubliches Gefchehnis hervorgerufen hat. Das Marfusevangelium, das nach Anſicht vieler Forfcher der ältefte Bericht ift, den wir haben und den wir nach der Überlieferung dem Dolmetfcher des Petrus verdanken, in deffen Elternhaus fich ein Zeil der Ereigniffe abgefpielt hat, Tieft fich noch heute wie der Enappe Bericht eines Boten, der ein Ereignis, das ihn aufs ftärffte erregt hat, ohne Kommentar und Reflerion mitteilt, indem er mit dem charakteriftifchen ebIbs (alsbald) von einem Punkt zum andern dem furchtbaren Ende feines Berichtes zueilt. Schon der Vorläufer, der das Kommende ankfündigt, der Elia, der gefandt ift, „ehe denn da komme der große und fchredliche
Tag Jahwes“ (Maleachi 3, 23), fpricht in der vifionären Erregung,
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
die eine Kataftrophe auslöft, die ihre Schatten vorausmwirft: „Es tft Schon die Art dem Baum an die Wurzel gelegt.” Es kommt alfo ein Ereignis, unter deffen wuchtigen Arthieben die Eichen niederftürzgen werden, „Ihr Dtterngezlichte, wer hat denn euch gewiefen, daß ihr dem kommenden Zorn entrinnen werdet? Sehet zu, tut rechtfchaffene
Früchte der Umkehr” (Mtth. 3, 7f.). Und nun, da das Ereignis felbit naht, geht die Kunde wie ein Lauffeuer von einem zum andern, Daß es da ift, was man jahrhundertelang erwartet hatte, Andreas „findet zuerft feinen Bruder Simon und fpricht zu ihm: Wir haben den
Meffias gefunden”. Philippus findet Nathanael und fpricht zu ihm: „Wir haben den gefunden, von welchem Mofes im Geſetz und Die Propheten gefchrieben haben, Jeſum, Joſephs Sohn von Nazareth”
(Soh. 1,41. 45). Auch die ganze Urt, wie die Evangelien, die als neue eigene Litera= turgattung aus diefer mit Furcht gemifchten Freude über ein uner= hörtes Gefchehen hervorgegangen find, von dem Ereignis felbit fprechen, ift nicht die Berichterftattung des Gefchichtsfchreibers, der fchon den Hiftorifchen Abftand vom Ereignis hat und nun beftrebt ift, ein photographifch genaues und chronologifch einwandfreie Bild von dem herzuftellen, was fich zugetragen hat, um es in die Tafeln der Gefchichte einzutragen. Es ift vielmehr die Art, wie ein Bote den Menfchen, deren Schifal an diefem Ereignis hängt, das Gefchehene
mitteilt. So erzählt etwa ein Schiffbrüchiger, der ans Land gerettet ift, den Angehörigen der Schiffsmannfchaft von dem Sturm, in dem das Schiff untergegangen ift. Es kommt ihm in diefem Augenblick nicht darauf an, Die aufregenden Bilder in epifcher Breite auszumalen. Dazu ift jeßt Feine Zeit. Es gilt, nur die Dinge zu fagen, die für die Menfchen, in deren Leben das Ereignis fo ftarf eingreift, die wefentlichen Ereigniffe find, diefe aber fo deutlich, daß fie Hlar vor Augen ftehen. Darum nehmen die leßten Tage im Leben Jeſu, in denen die
ſchweren Entfcheidungen fallen, einen verhältnismäßig viel breiteren Raum ein als alles Vorausgehende. Mir haben über die Entftehung des vielleicht Älteften Evangeliums bei Clemens Aerandrinus (Hypotyp.) eine Notiz, die fo ftarf zu den traditionellen Vorftellungen im Widerfpruch fteht, daß ihr wohl eine
16. Die unbegreifliche Tatsache
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richtige Erinnerung zugrunde liegen kann. Es heißt dort, Zuhörer des Petrus hätten den Marfus gebeten, weil er fich der Erzählung des Petrus noch genauer erinnerte, feine Erinnerungen aufzufchreiben und ihnen die Aufzeichnungen zu übergeben. „Als Petrus dies erfah: ven, hat er e8 öffentlich weder verhindert noch auch begäinftigt.” Dem Selfenapoftel, auf den Jefus feine Gemeinde bauen wollte, lag alfo, wenn diefer Bericht zutrifft, gar nicht viel daran, daß die Erinnerun—
gen an die großen Ereigniffe Schriftlich niedergelegt wurden. Vielleicht glaubte er, das Weltende fei fo nahe, daß es fich nicht mehr verlohne, Buͤcher zu Schreiben. Wenn es fich um philofophifche Grundfäße oder um Moralfprüche gehandelt hätte, wäre eine Kodifizierung von ent:
fcheidender Wichtigkeit gewefen. Hier aber kam alles darauf an, ein Ereignis in lebendiger Erinnerung zu halten, Und Petrus fchien es wichtiger, wenn das durch das lebendige Wort der Yugenzeugen gefchah als Durch eine Niederfchrift.
Aus alledem fieht man: Es geht den Zeugen, die hier erzählen und berichten, nicht darum, die Lefer von einer allgemeinen Wahrheit oder von der Geltung einer Moral zu überführen. Sie wollen nicht, wie die Erzähler der buddhiftifchen Legenden, die „heilige Wahrheit vom Leiden und von der Aufhebung des Leidens” an Beifpielen aus dem Leben eines Meifters veranfchaulichen. Sie wollen von einem Geſcheh⸗
nis zeugen, das nur an diefer einen Stelle der Zeit eingetreten ift und das ganze Geficht der Erde, das ganze Verhältnis zwifchen Zeit und Ewigkeit ein für allemal verändert hat. Die Einmaligkeit, die diefem Ereignis für die ganze Welt zukommt, wird im Hebräerbrief verglichen mit der Cinmaligfeit, die der Tod für das Dafein des einzelnen Menfchen hat. „Und wie den Menfchen gefeßt ift, einmal zu fterben, darnach aber das Gericht, jo ift auch der Chriftus einmal geopfert” (Hebr. 9, 27f.). Dreimal fommt in diefen und den vorausgehenden Verſen zur Kennzeichnung des Gefchehniffes das Wort irad (einmal) vor. Dasselbe ift 1. Petr. 3, 18 gemeint, wenn es heißt: „Chriftus hat einmal für unfere Sünde
gelitten,” und Röm. 6, 10: „Was er geftorben ift, dag ift er der Sünde geftorben, ein für allemal” (Eganad).
Worin diefes einmalige Ereignis befteht, das nach allen diefen
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Zeugen eine die Weltlage ein für allemal verwandelnde Zatfache ift, das können wir nur allmählich und fehrittweife erfaflen, indem wir
dabei von außen nach innen gehen, vom allgemeinften Sinn des Ereigniffes zu feiner innerften Bedeutung. Das Ereignis wird zur nächft mit der allgemeinen Ausſage angekündigt: „Die Königsherr= fchaft Gottes ift nahegeruͤckt“ (Merk, ı, 15). Vorher fah der aus dem Waſſer fteigende Chriftus „Die Himmel aufgefpalten (oxılouevoug zods odpavobc, Merk. ı, 10). Die lang verfchloffene Sphäre der Tranſzendenz hat fich geöffnet. Das Schweigen Gottes, das ſchwer und Yaftend wie ein bleierner Himmel feit dem Verftummen der Veßten Propheten über den Sahrhunderten lag, hat ein Ende gefunden. Nun ift „Die Zeit erfüllt, die Stunde gekommen”. Was hier gefchehen ift, wird im Neuen Teftament ein Befchenktwerden genannt, für das man nie genug danken kann (yapıs, XapıcdNvar), oder auch eine Rettung (sornpia), alfo ein Aufgenommenwerden der fchiffbrüchigen Menfchen, die fonft rettungslos in der Tiefe verfunfen wären, in ein Nettungsboot.
Alle diefe Worte haben nur einen Sinn, wenn wir ung immer, auch wenn uns das Nettungsboot bereits aufgenommen hat, der andern. furchtbaren Möglichkeit bewußt find, die genau ebenfogut hätte ein= treten koͤnnen, ja die unendlich viel wahrfcheinlicher geweſen wäre, Der Himmel hätte auch verfchloffen bleiben können. Wir hätten am unerfüllten Vakuum der ungelöften Frage zugrunde gehen koͤnnen. Nur wenn auf uns genau wie auf dem Kreis der Menfchen, die damals „auf den Troft Israels warteten”, die Laſt des göttlichen Schweigens gelegen hat, das fein Menfch brechen kann, Eönnen wir das, was Die Zeugen berichten, jo hören, wie e8 allein gehört werden: kann, nämlich „mit Furcht und großer Freude”, in der Haltung von.
Menfchen, deren Leben daran hängt, ob das alles nur ein Traum ift, ob die Menfchheit auch hier wieder, wie es bei Abgeſtuͤrzten in ihren.
Sieberdelirien vorkommt, nur das Schlagen ihres eigenen Herzens. mit dem Nahen einer Rettungskolonne verwechfelt hat oder ob das. wirklich da ift, zu deffen Herbeiführung die vereinte Sehnfucht aller
Menfchen nicht das geringfte hatte beitragen können, das Ereignis der Ereigniffe, das Nahen des Königreichs der Himmel,
17. Gott hat geredet
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Wir heutigen Menfchen find der Lage, in der die erften Boten die
Kunde vom Tag des Meſſias aufnahmen, vielleicht wieder näher als die Menfchen irgendeines der dazwifchenliegenden Jahrhunderte, „34 Feiner anderen Zeit verfpürte die Welt in fich felber folch gähnende
Leere, jolch einen Abgrund, darin alles verfinken muß. Es find die gleichen Geburtswehen wie damals, die fo urplößlich auftreten; es
iſt Die gleiche, von niemand vernommene Stimme des Predigers in der Wüfte: ‚VBereitet dem Herren den Weg!‘ Die gleiche Art Yiegt an der Wurzel des Baumes; die gleichen unfichtbaren Fallftricke bedecken die Welt; es ift der gleiche Dieb, der da Fommt in der Nacht - das
Süngfte Gericht; es ift das gleiche am gewitterfchwarzen und immer dunfleren und drohenderen Himmel mit der gleichen Glut aufgezeichnete Wort: ‚Das Ende‘” (Mereſchkowſkij).
17. Gott hat geredet Mit dem bisher Gefagten haben wir nur den Äufßerften Kreis umjchrieben, innerhalb deffen das Ereignis liegt, das es zu faflen gilt. Die leßte Frage hat eine Antwort gefunden. Das Königreich der Himmel, die Sphäre, die in der andern, für uns unerreichbaren Richtung liegt, ift fpürbar nahe an unfere gottlofe Wirklichkeit heran gerückt. Aber wie ift das gefchehen? Worin beftand das einmalige Ereignis, durch das die Zeit erfüllt war? Wenn wir ein Ereignis erfaffen wollen, müffen wir alle VBerfuche aufgeben, das, was tat= fächlich gefchehen ift, mit Hilfe unferer eigenen Gedanken und Be: griffe zu erdenfen oder vorauszufonftruieren. Sobald wir etwa aus einem allgemeinen Prinzip heraus, das wir fehon mitbringen, dedu= zieren wollen, was gefchehen fein muß, find wir nicht mehr imftande, das Ereignis felbit in feiner Neuheit und Unerfindlichkeit zu ſehen. Unfer Nachdenken kann alfo immer erft dann einfeßen, wenn wir die Botfchaft von dem Ereignis fchon vernommen haben, Unfer Denken ann erft hinterher nachzeichnen, was ung zunächft auf eine unerfind⸗ bare Weife gefchenkt ift. Hören wir auf dag, was die Boten erzählen, fo ift das Erfte und
Alfgemeinfte, was fie über das Gefchehene fagen, was die Zeit mit
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
ewigem Inhalt erfüllt: Gott hat gefprochen. „Nachdem er einft
mannigfach und auf mancherlei Weife zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat er am Ende diefer Tage zu uns geredet im Sohn“ (Hebr. ı, 1). Damit foll nicht bloß gefagt fein, daß diefes Ereignis
auch noch von Worten, alfo von Belehrungen, Ermahnungen und Berfindigungen, begleitet war. Nein, das ganze Ereignis muß dahin zufammengefaßt werden, daß in ihm felber Gott das Wort nahm, daß alfo Gottes Wort in ihm Fleifch geworden ift. Sehen wir zunächit noch davon ab, welchen Inhalt die Rede Gottes hatte, bleiben wir bei
der allgemeinen Ausfage ftehen: Das die Zeit mit Ewigkeit füllende Ereignis vollzog fich in der Form des Sprechens, alfo in der Form, die wir im Verkehr zwifchen Ich und Du Reden und Hören nennen. Berfuchen wir denkend nachzuzeichnen, was damit gejagt ift. Wenn wir ung auf Grund der Ahnung, die in der Frage nach dem unbekannten Gott enthalten ift, eigene Gedanken darüber machen wollten, was gefchehen müßte, wenn Gott aus der Verborgenheit hervortreten und fichtbar werden follte, koͤnnten wir uns das nach
allem, was in den legten Kapiteln ausgeführt wurde, nur fo vor= ftellen : Der ganze jeßige Weltzuftand müßte aufgehoben werden. Denn diefer Weltzuftand trägt ja immer die doppelte Möglichkeit in fich. Er kann immer beides fein, eine Schöpfung Gottes und ein Werkzeug der fatanifchen Empörung gegen Gott. Er kann als Alleinwirkſam⸗ feit Gottes erfahren werden und Doch auf der andern Seite als Kampf: plaß Eonkurrierender Mächte. Soll alfo das Abfolute aus feiner Unfichtbarfeit und Unfaßbarkeit hervortreten, fo feheint das nur auf
eine Weife möglich zu fein: Die ganze erfte Schöpfungswelt, in der wir leben und deren Geftalt durch das Dafein des fatanifchen Gegenwillens mitbeftimmt ift, muß aufgehoben werden. Der Satanismus
muß vernichtet werden, und aus den Flammen, in denen der Satan untergeht, muß eine reine Schöpfung hervorfteigen, in der „Gott alles in allem“ ift (1. Kor. 15, 28), ein neuer Gefamtzuftand, von dem es heißen kann: „Nun ift das Heil und die Kraft und die Königs: herrfchaft unferes Gottes geworden” (Offenb. 12, 10), Nun wird Gott felbft die Sonne, alfo der Lichtquell, von dem aus alles durch: ſtrahlt und durchleuchtet wird (Offenb. 21, 23; 22, 5). Diefe Auf:
17. Gott hat geredet
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hebung der erften Weltgeftalt durch eine neue Schöpfung, auf der der Schatten des Satanifchen nicht mehr Liegt, wäre nach unfern menfch:
lichen Gedanken die einzige Möglichkeit, wie Gott in Erfcheinung treten könnte, Aber von diefer Möglichkeit Sprechen die neuteſtament— lichen Zeugen erſt an zweiter Stelle. Das erfte, von dem fie berichten, it etwas ganz anderes, etwas, auf das Fein menfchlicher Gedanke
gekommen wäre: Gott hat diefe Welt, deren Fürft der Satan ift, nicht vernichtet. Er ijt mit ihr in Verbindung getreten, und zwar in der Form, die wir im Verkehr zwifchen Menfch und Menfch „Sprechen” nennen. Gott hat geredet. Was bedeutet das?
Solange uns das Wefen der Tranfzendenz noch nicht aufgegangen it, folange wir uns alfo das Senfeits noch in vorfopernifanifcher Weiſe irgendwie räumlich vorftellen, als ein über dem abgegrenzten Weltraum liegendes höheres Stockwerk, können wir uns einen Ver: fehr zwifchen Gott und ung immer nur fo denken, daß die Decke des unteren Raums, in dem wir leben, fich plößlich öffnet und Durch die Sffnung aus der oberen Welt in die untere etwas herabfommt. Der Himmel wird zerriffen. Wir fehen den „Himmel offen“. Ein Licht: ftrahl bricht als Oberlicht durchs zerriffene Gewoͤlk, oder ein Wefen aus der Überwelt fteigt herab und verwandelt fich in ein irdifches Mefen, etwa in eine Tiergeftalt, wie es in den Metamorphofen Ovids geschildert ift, oder diefes Wefen geht wie Odin der Wanderer mit dem MWolkenhut in der germanifchen Sage in Menfchengeftalt auf Erden umber.
Alle diefe Vorftellungen find mit einem Schlag unmöglich gewor⸗ den und können höchitens noch als unzulängliche Gleichniſſe gebraucht werden, fobald wir eingefehen haben: Das Diesfeits, in das wir eine gefchloffen find, ift eine luͤckenloſe, in fich gefchloffene Unendlichkeit.
Eine Dedenöffnung, ein Fenfter oder ein Tor, das aus diefem Raum hinaus in einen andern Raum hineinführen fönnte, ift ein unvoll:
ziehbarer Gedanke, Alles, was in der Sphäre der Diesfeitigfeit auftritt, ift eben damit ein Zeil diefer in fich gefchloffenen Unendlichkeit gewor⸗ den. Ift es dann Überhaupt denkbar, ift es nicht von vornherein aus⸗ geſchloſſen, daß fich innerhalb diefer innerweltlichen Unendlichkeit
etwas Fundtut, was nicht von diefer Welt ift? 11 Heim, Jejusder Herr
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Die Apoftel Jeſu Chrifti bezeugen, daß Gott unbegreiflicherweife eine folche Möglichkeit gefeßt hat. Und fie geben uns auch einen
Anhaltspunkt zum Verftändnis diefer göttlichen Seßung. Sie ver= gleichen diefe mit der Art, wie innerhalb der polaren Welt eine Begeg⸗ nung zwifchen zwei in fich unendlichen Räumen zuftande kommt, genauer gefagt mit der Form, in der Ich und Du einander begegnen, wenn fie miteinander fprechen. Es ift von vornherein Elar, daß damit das Wunder, von dem die Upoftel zeugen, nicht etwa erklärt oder für unfer menfchliches Denken begreiflich gemacht fein kann. Denn es handelt fich ja hier um eine Beziehung zwifchen der Welt der Bedingt: heiten, die wir allein verftehen Fönnen, und dem unbedingten über: polaren Urfein, das uns verfchloffen ift. Da das Wefen diefer Urwirk— lichkeit felbft für unfer Erkennen unerforfchlich und unergründlich
ift, ift ung auch jede Beziehung unbegreiflich, in die die Urwirklichkeit zur Erfahrungswelt treten kann. Alles, was ung über diefe Beziehung gefagt wird, das Fann darum von vornherein immer nur fo gemeint fein, daß hier ein Geheimnis, das unfer Denken überfteigt, in einer Form ausgedrüct wird, die unferem menschlichen Faffungsvermögen angepaßt ift. Um fo Eoftbarer ift jede Andeutung, die uns die Männer dariiber gemacht haben, die von Chriftus felbft dazu bevollmächtigt waren, Wir müflen das, was fie ung darüber fagen, voll auswerten und nach allen Seiten hin ausfchöpfen. Mas bedeutet es, wenn die Augenzeugen der Erlöfungstatfache fagen, diefes Ereignis fei nicht etwa bloß von Gottesmworten begleitet geweſen, nein, e8 fei feinem ganzen Inhalt nach mit allem, was es in fich fchloß, „das Gotteswort”, die Form, in der Gott redet, wenn zum Beifpiel der Seher der Offenbarung die Chriftusgeftalt fchaut mit Augen wie Flammen, ummallt von einem mit Blut befprengten Gewand, „fein Name aber heißt das Wort Gottes“ (Offenb. 19, ı2f.)? Um auszufchöpfen, was damit gemeint ift, müffen wir ung daran erinnern, was nach den Ausführungen des erften Bandes Sprechen heißt. Faſſen wir das, was dort über das Wefen des Wortes gefagt werden mußte, noch einmal kurz zuſammen. 1. Das Wort ift feinem eigentlichen Wefen nach nicht ein Gegen: ſtand, fondern ein Akt, nämlich der Akt, der fich vollzieht, wenn ich
17. Gott hat geredet
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höre, was Du ſagſt, oder wenn du hörft, was ich fage. Als gegenſtaͤnd⸗ liche Erfcheinung unterfcheidet fich das Wort nicht von Geräufchen, die an mein Obr fehlagen. Nur im Akt des fich für mich diefer eine Klang als etwas Befonderes artiges aus dem Meer von Klängen heraus, die mich und wird zum Wort,
den Übrigen Hörens hebt und Einzige umraufchen,
2. Das Befondere am Wortklang, das, was ihn von allen übrigen Klängen unterfcheidet, befteht darin, daß es beim Hören diefes Klan— ges zu einer Begegnung zwifchen dir und mir kommt. Ich höre das Wort, das du fprichft. Ich fpreche das Wort, das du hört. Wir begegnen einander, weil ich weiß: Derfelbe Akt ift für dich ein Sprechen, der für mich ein Hören ift. Im Sprechen und Hören ift alfo etwas da, das dir und mir, deiner Bewußtfeinswelt und meiner Bewußtſeinswelt, gemeinfam ift, obwohl diefe beiden Welten eins ander völlig unzugänglich find. Ich kann nicht in dich Hineinfehen und du nicht in mich. Nur darum bedarf es zwifchen uns des Wortes, Wenn wir einander erfchloffen wären, wonach alle Liebenden fich fehnen, dann würde das Wort zwifchen uns fofort aufhören. Wir würden einander fchweigend offenftehen. Alles Reden wäre über:
flüffig geworden. Das Wort Schafft alfo einen Identitätspunft zwifchen zwei Be: mwußtfeinsräumen, die außereinander find, die einander auch unter dem Sprechen völlig fremd und jenfeitig bleiben. Diefe Einheit innerhalb eines unaufhebbaren Gegenfates nannten wir im erften
Band eine Begegnung zwifchen in fich unendlichen Räumen im Unterfchied von der Berührung, die zwifchen begrenzten Inhalten möglich ift, etwa zmwifchen den ſchwarzen und weißen Feldern auf einem Schachbrett oder zwifchen Zimmern in einem Haufe, die nebeneinander liegen. Zwei Inhalte, die einander berühren, fchränfen ein:
ander ein, Zwei Räume, die einander begegnen, behalten dabet ihre Unendlichkeit. Sie gehen durcheinander hindurch. So fehneiden fich zwei unendliche Linien in einem Punkt. Zwei unendliche Flächen
bilden miteinander eine Schnittlinie, So bleiben auch zwei Bewußt— feinsräume in fich gefchloffene Unendlichkeiten, während im Wort ein Einheitspunkt zwiſchen ihnen entiteht. 11*
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
3. Diefe Begegnung zwifchen zwei Räumen, die einander jenfeitig bleiben, Fann nur ftattfinden — das ift das dritte, was für das Wefen des Wortes wichtig ift —, wenn ein umfaffender Raum da tft, dem die beiden Räume eine und untergeordnet find. Linien koͤnnen fich nur innerhalb einer Fläche fchneiden. Flächen können nur innerhalb des Körperraumes eine Bruchlinie miteinander bilden. Hier tritt alſo das dimenfionale Teilverhältnis zwiſchen unendlichen Räumen in Kraft, das wohl zu unterfcheiden ift von dem inhaltlichen Teilvers
hältnis, in dem begrenzte Gegenftände zueinander ftehen Fönnen, etwa die Backfteine einer Mauer oder die Töne einer Melodie, Eine Begegnung kann alfo nicht ftattfinden zwifchen dem umfaffenden Raum und den untergeordneten Räumen, die feine Glieder find, etwa zwifchen dem Körperraum und einem Flächenraum, der einen Teil desfelben bildet. Eine Begegnung ift immer nur möglich zwifchen zwei Räumen, die einander Eoordiniert find, weil fie beide zufammen Stieder des umfaffenden Raumes find, innerhalb deffen fie einander begegnen, alfo etwa zwifchen Linie und Linie, Fläche und Fläche. So fönnen auch Du und ich einander im Wort nur begegnen, indem wir beide auf diefelbe Ebene treten, genauer ausgedrückt, indem wir einander als Glieder eines umfafjenden Raumes foordiniert find, innerhalb deffen die Begegnung ftattfindet. Wir haben den Raum, in dem du und ich einander begegnen, den Präfenzraum genannt. Den Raum, dem dein Gegenftandsraum und mein Gegenſtands—
raum eingeordnet find, nannten wir den Weltraum. 4. Mit dem allem haben wir nur von dem gefprochen, was das
Wort mit allen anderen Begegnungen zwifchen Räumen gemeinfam hat, Was ift aber das Befondere, was das Wort von allen anderen Begegnungen unterfcheidet? Im Sprechen begegnet mir ein Du. Nun erlebe ich das Dafein des anderen, der mit mir redet, nicht bloß im Wort. Die erfte und elementarfte Beziehung zwifchen mir und dem mir „ewig fremden” andern befteht darin, daß ich bei meinem Ver: ſuch, die Wirklichkeit zu geftalten, auf einen Gegenmillen ftoße, der mir in den Weg tritt und die Welt anders geftalten will, und daß ich weiß: Das Handeln dieſes andern ift mein Leiden, in meiner Paffion ſpuͤre ich feine Aktion. Ich erlebe alfo das Dafein des andern als die
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fchweigende Gegenwart eines dynamiſchen Miderftandes, der mir
unbegreiflich ift, weil er meiner Willensentfcheidung widerfpricht.
Das Dafein diefer ftummen Gegenmacht ift die Vorausf etzung dafür, daß es zwifchen ung zum Sprechen kommen kann. Das Wort, das du fagft, bricht den Bann deines fchweigenden Handelns. Es deutet mir dein ftummes Handeln. Es fagt mir, was du damit meinft, welches Ziel dir dabei vorſchwebt. Es wendet fich an meinen Willen und ſucht mich dazu zu bewegen, mich für dasfelbe Ziel zu entfcheiden, das du verfolgft. Es fucht meinen widerftrebenden Willen in die Richtung deines Handelns hineinzuziehen. Da deine und meine Eriftenz in fortwährenden meltgeftaltenden Entfcheidungen befteht, kann es zwifchen dir und mir Fein wirkliches Sprechen geben, in dem nicht um eine fommende Weltgeftalt gerungen wird. Es gibt fein Wort, in dem e8 nicht Direkt oder indirekt um ganz konkrete praftifche Lebens:
entfcheidungen geht. Damit haben wir uns in den Hauptzügen deutlich gemacht, was im Verkehr zwifchen Menfch und Menfch das Sprechen bedeutet.
Nun können wir ermeffen, was es heißt, wenn die Apoſtel bezeugen: Gott hat geredet. Es gibt nicht bloß die wortlofe Gegenwart deffen, der alles bedingt, die Schöpfermwirkfamkeit, die wir an jeder Stelle der Welt fpüren „in Zebensgluten, im Zatenfturm”, in der Meeres:
brandung und im Völferringen. Gott ift an einer beitimmten Stelle noch auf eine zweite, völlig andere Weife da, nämlich als der, der uns den Sinn diefer ganzen wortlofen Machtentfaltung deutet. Gott redet. Was bedeutet das?
Um diefe Frage zu beantworten, müffen wir alles das auswerten, was nach dem eben Gefagten zum Wefen des Sprechens gehört. Wir bringen dabei zunächft die drei erften Merkmale zur Geltung, die nach dem Gefagten das Wefen des Sprechens ausmachen. In einem fpäteren Abfchnitt gehen wir dann noch auf das vierte Merkmal ein, Wenn Gott mit uns fpricht, bringt er uns ſchon damit, daß er in
diefer Form mit ung verkehrt, in demütigender Weife zum Bewußt— fein, daß wir in einem gottlofen Zuftand find. Denn er fommt fo zu ung, wie zwei Räume einander begegnen, von denen einer dem andern verfchloffen ift. Er kommt indirekt, „von außen“, an uns
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
heran, das heißt von außerhalb des Raums, in den wir eingefchloffen find, wie einer, der von außen an meine Kerferwand Flopft und mich gerade Dadurch fchmerzlich daran erinnert, daß ich in Gefangenfchaft bin. Wenn Gott von außen an uns heranfommt, läßt er uns dadurch fühlen, daß wir außerhalb von ihm find. Die Anrede Gottes tft alfo nicht bloß Gnade und unbegreifliches Geſchenk, jondern als folche auch Gericht. Darum lehnt fich der natürliche Menfch unmwillfürlich auf gegen
das Wort Gottes, nicht bloß gegen feinen anftößigen Inhalt, fondern fchon gegen die Form der Anrede als folche. Wir Haben die Empfin= dung, daß diefe Art der Selbfterfchließung dem wahren Verhältnis, mie e8 zwifchen Gott und uns fein follte, nicht entipricht. Solange
ung die Gottlofigkeit, in der wir leben, noch nicht zum Bemwußtfein gekommen ift, folange wir mit dem myſtiſchen Idealismus glauben, wir ſeien fchon im Normalzuftand, der Zugang zu Gott ſei uns fchon unmittelbar erfchloffen, erfeheint es uns wie eine Verlegung unferer Menfchenwürde, ja wie eine Verkennung des innerften Wefens der Religion, wenn gefagt wird, Gott trete in Befehlen und Kundgebuns gen wie eine fremde Autorität an uns heran. „Ich Fann das Wort fo hoch unmöglich ſchaͤtzen“ (Fauft). Für die Gemeinfchaft, in der wir mit Gott ftehen follten, erfcheint uns das Wort viel zu mittelbar. Es fcheint das unmittelbare Verhältnis zu zerftören. Es fchafft zwi: fehen Gott und uns eine aus Worten wie aus Steinquadern aufge: baute Mauer. „Web, zwifchen ung fteht Wort, Maffe und Mauer aus dichtem Ort. Ich kann nicht zu Gott durch das Wort. Fort aus dem Wort! Fort aus dem hallenden Haus!” (Franz Werfel). Daß wir das Wort als Verbindungsbrücde zwifchen Gott und uns inftinktio ablehnen, das fommt nicht bloß daher, weil wir wie Fauft
in Marthens Garten an die Stelle der bewußten geiftigen Gemein: Schaft, in die Gott mit uns treten will, einen untergeiftigen Raufch: zuftand feßen wollen oder weil wir die ganze Ich-Du-Beziehung zwifchen Gott und uns ausfchalten möchten, um uns felbft auszu= löfchen, Gewiß lehnen alle myftifchen Identitätsreligionen, weil fie die DusBeziehung aufheben wollen, eben damit auch das Wort als Offenbarungsorgan ab. So fehaltet der Zen Buddhismus in Japan
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alles Gefchriebene aus der Religion aus. Die Heilige Schrift ift nur „das Fenſter, Durch das wir die große Landfchaft der geiftigen Natur betrachten“. Aber auch dort, wo die Du-Beziehung zwifchen Gott und Menfch in voller Geltung fteht, wo jede myftifche Verſchmelzung mit der Gottheit als Heidentum abgelehnt wird, wie im altifraelitifchen Prophetismus, ift noch ein deutliches Gefühl dafuͤr vorhanden, daß
die Belehrung durchs Wort, wie fie in der jeßigen Welt möglich ift, immer ein unvollfommener Zuftand bleibt, der auf einer höheren Stufe überwunden werden müßte. So wird im Buch Jeremia ein
neuer Bund erwartet, in dem alle Belehrung von außen wegfällt, weil eine unmittelbare Beziehung zwifchen Gott und Menfch beftehen wird: „Fuͤrderhin follen fie nicht mehr einer den andern oder ein Bruder den andern alſo belehren: Erfennet Jahwe! Denn fie werden mich allefamt erkennen, vom Eleinften bis zum größten” (Jerem. 31, 33f.). Gerade wo fich zwei Menfchen fo nahe ftehen, wie es auf Erden überhaupt möglich ift, geht ihnen die Ahnung auf, daß es eine Gemeinfchaft zwifchen Ich und Du geben müßte, bei der wir auch des Mortes nicht mehr bedürften, um einander zu verftehen und im vollen Einverftändnis miteinander zu handeln. Der Ablehnung aller Wortreligion und Buchreligion Liegt alfo das richtige Gefühl zugrunde: Damit, daß Gott die irdifche Mitteilungs⸗ form des Wortes wählt, ift die unmittelbare Beziehung ausgefchloffen, in der wir zu ihm ftehen würden, wenn wir nicht gott=
entfremdet wären. Gottes Wefen und Wollen müßte uns fo direkt zugänglich fein, wie ung Körperwefen der Körperraum aufgefchloffen ift, in den wir unmittelbar hineinfchauen. Statt defjen ftehen mir Gott fo gegenüber, wie unfer Körperraum einem total anderen Raum
gegenüberfteht, der innerhalb unferes Raumes unfichtbar und un= vorftellbar bleibt. Wir koͤnnen Gottes Sein nur faffen, foweit es aus feinem uns unbegreiflichen Wefen in die Sprache unferer Eriftenzform überfeßt wird. Viel größer noch als das Gericht, das in der Mitteilungsform des Wortes enthalten ift, ift das unfaßbare Gefchent, das ung damit in
den Schoß fällt, daß Gott mit einer Welt, die er vernichten müßte, in eine fo nahe Berührung tritt, wie fie innerhalb des Raums nur
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
zwifchen Eoordinierten Teilräumen eines umfafjenden Raums vor: handen ift. Indem Gott fpricht, wird er, wie das Evangelium fagt, unfer Bruder, Er tritt mit uns auf diefelbe Ebene. Betrachten wir diefe pofitive Seite des „Deus dixit“, indem wir noch einen Augen bli vom Inhalt des Gotteswortes abfehen, von dem fpäter eingehend gefprochen werden muß, und nur die Form des Sprechens ins Yuge faflen. Wenden wir das, was oben über das Wefen des Sprechens überhaupt gefagt werden mußte, auf das Sprechen Gottes an. Das Sprechen befteht darin, daß fich aus der Fülle der Klänge und Geräufche, die an unfer Ohr fehlagen, ein Tonbild heraushebt als das Zeichen, Durch das der andere mit mir Verbindung fucht und fich an meinen Willen wendet. Der andere, der hier redet, bleibt mir feinem Wefen nach verfchloffen. Uber ich weiß: Die Abgrenzung
dieſes Tonbezirks von den umgebenden Klängen und Geräufchen rührt von ihm her. Denn es gehört zum Weſen des Wortes, daß ich das Wort nicht felbft fprechen Eann. Der andere muß das loͤſende Wort fprechen. Er muß der Redende fein.
18. Der Gegenfaß zwifchen Gottes Reden und Gottes fchweigendem Handeln Für die biblifche Botfchaft, daß Gott geredet hat, find wir erſt dann offen, wenn wir zunächft den grundfäßlichen Unterfchied ver: ftanden haben, der zwifchen den beiden Arten befteht, in denen ein
Du mir nahetreten kann, dem Reden und dem fehmweigenden Handeln, alfo zwifchen dem deutenden Wort und dem wortlofen Töten, dem ſtummen Händedrud, der fchweigenden Umarmung. Bon da aus muͤſſen wir die Grenzlinie fehen, die in der Bibel gezogen wird zwi⸗
Ichen der einen Stelle, wo Gott redet, und dem gefamten übrigen Weltgefchehen, in dem er fchmweigend handelt. Alles Sprechen ſetzt voraus, Daß Schweigen geherrfcht hat. Das Wort hebt fich nur ab
von der dunklen Folie des Schweigens. Wenn feine Stille da ift, kann fich der Redner überhaupt nicht verftändlich machen. Seine Worte gehen im Lärm unter. Für die Botfchaft vom Wort Gottes haben darum alle die Lebensanfchauungen von vornherein Fein Ver:
18. Der Gegensatz zwischen Gottes Reden und Gottes schweigendem Handeln 169
ftändnis, die den Unterfchied zwifchen diefen beiden Arten der Gegen: wart Gottes, zwifchen Schweigen und Reden, nicht anerkennen, die der Anficht find, Gott fei entweder überall unerreichbar fern oder er ſei uͤberall auf diefelbe Weife nah und fühlbar. Für den Nihilismus, fuͤr den das Abſolute ein unvollziehbarer Gedanke iſt, iſt natuͤrlich auch der Gedanke eines redenden Gottes Mythologie, „Gott“ iſt das Ichweigende Nichts, die gähnende Leere, die unlösbare Frage, die hinter allem fteht. Ebenfo unempfänglich find wir für die Kunde, daß Gott geredet hat, wenn wir zwar den troftlofen Gedanken ab: lehnen, Gott fei das fehweigende Nichts, wenn wir ftatt deffen meinen, Gott tue fich immer und überall in derfelben Weife Fund, er rede zu ung genau fo im Erwachen des Lebens und in der Not des Sterbens wie in den prophetifchen Worten der religiöfen Führer. Auch diefe Anſchauung kennt nur eine überall gleiche Kundgebung Gottes. Sie kennt den Unterfchied nicht, Durch den fich das Wort Teuchtend vom Hintergrund des Schweigens abhebt. Diefe Ineinsfeßung von Handeln und Reden, dieſes Ineinander: fließen von Sprechen und Schweigen Gottes haben wir nicht nur im myſtiſchen Pantheismus, für den alles, was gefchieht, eine Welle im Meer Gottes ift, fondern auch dort, wo man zwar an den jenfei: tigen Schöpfer glaubt, aber annimmt, wir könnten Sinn und Ziel feiner Schöpfung aus den Ordnungen der Natur und dem Aufbau der menfchlichen Gemeinfchaft ohne weiteres erfchließen. Wenn das möglich ift, dann ift fchon die Schöpfungsordnung das aufgefchlagene Buch Gottes, in dem wir lefen koͤnnen, was Gott von uns fordert und weſſen wir uns von ihm zu verfehen haben. Wenn Gott es für nötig hält, uns noch einen weiteren Auffchluß zu geben, kann diefer dann nur entweder dag wiederholen, was er fchon in der Schoͤpfungs⸗
ordnung unzweideutig gefagt hat, oder eine Betätigung und Ergänzung diefer Mitteilung fein. Da wir aus dem Buch der Natur fchon über alles Wefentliche unterrichtet find, fünnen wir auf das, was
Gott noch hinzufügt, nicht mehr unvoreingenommen hören. Gott kann fich ja niemals widerfprechen. Aus dem, was religiöfe Pro= pheten fagen, brauchen wir alfo nur das herauszuhören, was zu dem
Bilde paßt, das wir uns auf Grund der Schöpfungsordnung, wie wir
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
fie verftehen, iiber Gottes Dafein und Willen zurechtgelegt haben. Mir Haben fchon einen Maßftab in der Hand, um zu entfcheiden, was Gott gefagt haben kann und was er auf feinen Fall gefagt haben darf, Seine „Gebote“ dürfen nur ein Kommentar zur Schöpfungsordnung fein, Prophetenmworte und heilige Bücher koͤnnen, wie das im Vedantismus und Buddhismus der Fall ift, immer nur das in Haffifcher Form ausfprechen, was im Herzen jedes Menfchen lebt, der mit offenen Augen durch die Welt geht. In völlig anderer Haltung ftanden fehon die Menfchen des Alten Teftaments den Gottesworten gegenüber, die ihnen zuteil wurden. Stärfer als wir alle ftanden fie unter dem niederfchmetternden Ein= druck des majeftätifchen Handelns Gottes in Natur und Gefchichte.
In Bliß und Donner, im Schneefall und Plaßregen, im Wiehern der Roſſe und im Gewimmel der Meerungeheuer der Tiefe fpürte der
Dichter von Hiob Z7ff. den Allgewaltigen, der in allem lebt und dem wir Menfchen nicht widerftehen können. Durch alle dieſe uͤber⸗ wältigenden Eindrücke von der göttlichen Allmacht und Majeftät war für die Beter des Alten Teftaments die Frage nur noch brennender
und unlösbarer geworden, auf die wir eine Antwort haben müffen, wenn wir nicht vergehen wollen, die Frage, wie diefer Ullgemwaltige, den wir in Sturm und Wetter fpüren, zu uns fteht und was er von uns will, Der göttlichen Antwort auf diefe Frage wagten die Menfchen des Alten Teftaments nicht durch voreilige Schlüffe aus Natur und Meltgefchehen, wie wir es verftehen können, vorzugreifen. Sie wuß⸗ ten: Diefe Antwort können wir nicht aus der Natur ablefen. Wir können fie nur durch ein Gotteswort erhalten, das über alle Natur: eindrücke hHinausgreift und aus dem diefe erft ihre Deutung befommen. Wenn diefe Antwort Gottes, die wir fehlechterdings nicht felbft finden fönnen, Diefes von ung Menfchen unausdenkbare Gebot des Schöp: fers uns nicht von oben her gefchenkt wird als „die Leuchte auf unferem Wege” (Pf. 119, 105), gehen wir im Dunkeln, Umgeben von
der orientalifchen Natur, inmitten eines Weltgefchehens von größtem Ausmaß, in dem Weltreiche aufftiegen und verfanken, riefen diefe Beter wie aus tiefem Dunkel heraus: „Gott ſchweige mir nicht, auf
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daß nicht, wo du ſchweigſt, ich gleich werde denen, die in die Grube fahren” (Pf. 28, 1). „Wenn dein Gebot nicht mein Troft gewefen wäre, fo wäre ich vergangen in meinem Elend“ (Pf. 119, 92). Immer wieder entftand mitten in Zeiten gewaltigen Gefcheheng der Hunger nach einem Wort Gottes, den Amos meint, wenn er fagt: „Fuͤrwahr, e8 jollen Tage kommen, ift der Spruch des Heren Jahwe, da will ich einen Hunger in das Land fenden, nicht einen Hunger nach Brot und nicht einen Durft nach Waffer, jondern (einen Hunger), die Worte Jahwes zu hören, daß fie von einem Meere zum andern wanfen und von Norden nach Often umherfchweifen follen, um das Wort Jahwes zu fuchen” (Umos 8, ııf.). Mir können diefes Wort Gottes nur finden, wenn e8 für uns das Brot ift, ohne das wir verhungern müffen, wenn wir in der großen Bereitſchaft ftehen, felbft auf das, wozu die Natur ung treibt, zu verzichten, um Gott zu gehorchen. Als Abraham befohlen wurde, feinen einzigen Sohn zu töten, auf dem die Zukunft feines ganzen Stammes ruhte, wandte er nicht ein: So etwas kann der Schöpfer nicht verlangen, nach feiner eigenen Schöpfungsordnung find doch Eltern und Kinder füreinander gefchaffen. Auch das vierte Gebot des
Defalogs, das Eltern und Kinder miteinander verbindet, und das fünfte Gebot, das das Leben fchüßt, werden nicht aus dem Naturgefeß abgeleitet, nach welchem die Kinder nur durch die Eltern da find und allem Lebendigen der Selbiterhaltungstrieb eingepflanzt ift. Die Gottesgebote find nicht deshalb bindend, weil fie Naturordnuns
gen bejahen, fondern weil es Worte Gottes find, der uns allein den wahren Sinn der Natur auffchließen kann, Worte des Schöpfers, dem wir ebenfo gehorchen müßten, wenn er uns gebieten würde, Bater und Mutter zu haffen oder den eigenen Sohn zu töten.
Wir fehen aus alledem: Die Kunde, daß Gott geredet hat, muß von allen Lebensanfchauungen von vornherein als Torheit abgelehnt werden, für die der Unterfchted nicht befteht, den die Bibel zwifchen Gottes Handeln und Gottes Reden macht, alfo nicht nur vom Pantheismus, fondern auch von jeder andern Religion, nach der
Gottes Wefen und Willen immer und überall erfchloffen ift, fei es, daß uns Gott in unferm Ich unmittelbar gegeben ift, wie der Idealismus
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IV. Die Gotiesoffenbarung in Christus
glaubt, oder daß wir ihn aus dem uns umgebenden Weltgefchehen erfchließen koͤnnen. Der Hunger nach dem Wort ift nur bei den Men— fehen da, die eingefehen haben, daß alles, was in ung und um ung ift, die Frage nicht Löfen, fondern immer nur ftellen kann, die ihre Antwort nur dann findet, wenn es ein Wort gibt, „Das durch den Mund Gottes geht.” An diefem Punkt feheiden fich alfo zwei Arten von Menfchen von= einander. Auf der einen Seite ftehen alle die Menfchen, die des Wortes nicht bedürfen, um Gewißheit über die legte Frage zu erhalten. Sie
fönnen dabei eine ganz Eonfervative Stellung zu den biblifchen Berichten einnehmen. Sie koͤnnen fogar der orthodoren Überzeugung fein, die Bibel fei ein infpiriertes Buch, Trotzdem ift die Wahrheit deflen, wovon die Xpoftel zeugen, für fie genau fo wenig eine Exiſtenz⸗ frage wie für die Idealiften oder die Buddhiften. Die Bibel ift für fie nur die Beftätigung und Veranfchaulichung von Wahrheiten, die wir auch wiffen Fönnten, wenn nie eine Bibel gefchrieben worden wäre. Auf der andern Seite ftehen die Menfchen, denen das Wort die Speife ift, ohne die fie verhungern müffen, für die alles, was in ihnen und um fie herum vor fich geht, ein Schiffalsbuch mit fieben Siegeln
bleibt, das Fein Menfch zu öffnen vermag, wenn es nicht von dem einen geöffnet wird, deffen Name ift „das Wort Gottes”, Diefe Menfchen Eönnen vielleicht von jedem orthodoren Bibelglauben weit entfernt, ja von fchweren Zweifeln angefochten fein, ob nicht vielleicht der Infpirationsglaube der Propheten auf Selbfttäufehung beruht
und nur aus dem heißen, aber unerfüllbaren Verlangen des Men: ſchen nach einem erlöfenden Gotteswort entitanden ift. Aber fie
wiffen beffer als jene Infpirationsgläubigen, daß es für ung Men— Sehen nur diefes Entweder-Oder gibt: Entweder wir leben von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht, oder wir muͤſſen verhungern. Alles, was im folgenden über das neuteftamentliche Zeugnis gefagt werden muß, ift nur für Diefe zweite Urt von Menfchen verftändlich. Fuͤr alle andern ift e8 eine Torheit, eine Antwort auf eine Frage, Die gar nicht eriftiert, Nur wenn wir uns nicht mehr darüber täufchen,
daß e8 nur jene beiden Möglichkeiten für uns gibt, weifen wir die
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unglaubliche Kunde nicht von vornherein als eine Unmöglichkeit ab, daß Gott felbft die Abgrenzung vorgenommen hat, die in allen außer: biblifchen Lebensanfchauungen verwifcht wurde, die Abgrenzung zwifchen feinem fehmweigenden Handeln und feinem Sprechen. Nun fommt alles darauf an, daß uns Die Augen aufgehen für die Grenzen, durch Die hier ein bejtimmter Inhalt aus feiner Umgebung herauss gehoben wird. Was bedeutet es, wenn Gott in unferer Welt nicht
bloß als Handelnder, fondern auch als NRedender gegenwärtig ift? Wir müffen dabei immer von dem ausgehen, was Sprechen über: haupt heißt, e8 dann von unfern menfchlichen Verbältniffen über:
tragen auf das mit allen menfchlichen Beziehungen unvergleichliche Verhältnis zu Gott. Wir fahen: Sprechen ift die Form, in der ein Wefen fich im Raum des andern Fundgibt, ohne daß dabei das Abgefchloffenfein beider Räume gegeneinander auch nur einen Augenblic aufhört. Die Unnah⸗ barkeit des Du, die Schon dem menfchlichen Sprechen fein Gepräge gibt, nimmt einen abfoluten Charakter an, wenn es fich um Gottes Sprechen handelt. Denn Gottes Wefen bleibt uns nicht bloß fremd und undurchfchaubar wie ein menfchliches Du, das ung verborgen
iſt. Unfer Verhältnis zu Gott ift nicht bloß Trennung, fondern Gegen faß. Wir find ja Glieder einer Welt, die von Gott gefchaffen ift, in der aber ein fatanifcher Gegenwille gegen Gott lebt, der Gott auf der
ganzen Linie entgegentritt, um ihn zu vernichten. Das Verhältnis zwifchen Gott und Welt ift darum nach dem Sohannesevangelium der Kampf zwifchen Licht und Finfternis. Das Licht will die Finfternis überwinden. Die Finfternis aber will das Licht verfchlingen. „Das Licht feheint in der Finfternis, und die Finfternis hat es nicht begriffen“ (Ioh. 1, 5). In der Gegenwart Gottes fühlen wir, daß die beiden innerweltlichen Möglichkeiten, die uns offenftehen, wenn wir eine Antwort auf die leßte Frage fuchen, der Pantheismus ſowohl wie die Vergötterung einer relativen Größe,
immer nur zwei entgegengefeßte Formen der Abgoͤtterei find, zwei Richtungen, die wir einfchlagen, um Gott zu entthronen. Wenn Gott fich ung, die wir ung fchon mit unferer ganzen Dafeinsform in einer
ihm entgegengefeßten Bewegung befinden, in der indireften Form
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
des Wortes naht, alfo in einer Form, in der er felbft verborgen bleibt, fo ift dag eine gnädige Schonung. Denn Gottes unmittelbare Gegen⸗ wart wuͤrden wir nicht ertragen. Sie würde uns töten. „Mein Anger ficht folft du nicht fehen; denn kein Menfch wird leben, der mich fiehet” (2. Mofe 33, 20. 23). „Der Herr, dein Gott, ift ein verzehrendes Feuer” (2. Mofe 4, 24; Hebr. 12, 29). Das fleifchgemordene Wort, das die Mittelbarkeit zwifchen Gott und uns herftellt, ift darum nach Melanchthon eine Deckung oder Befchattung, ein umbraculum amplectens nos et tegens nostras sordes (Engelland: „Melanchthon“, ©. 499 und 318). Nach dem oben Gefagten gehört es außerdem zum Weſen des
Sprechens, daß fich zwei Räume begegnen, die einander als Glieder desfelben übergeordneten Raums Eoordiniert find, alfo etwa ein menfchliches Ich, dem auf derfelben Ebene diefes Weltraums
ein
menfchliches Du begegnet, Wenn alfo Gott, der Allbedingende, zu ung redet, fo hat er fich damit ſelbſt entäußert. Er hat Knechtsgeftalt angenommen und ift relativ geworden. Er hat fein Wefen in die Sprache der ihm entgegengefeßten Kreatürlichkeit überfeßt. Er hat fich, wie Bezzel es ausdrückt, zu uns „hinabgedemütigt” und ift in den Zuftand der condescendentia getreten. Er hat fich felbft hinge— geben in einen feinem Wefen widerfprechenden Zuftand hinein, Wir ahnen fchon, daß diefe Hingabe zu einem ſchweren Zufammenftoß führen muß. Zwei Räume, die auf gleicher Stufe ftehen, Eönnen fich, wie wir jahen, nur ſchneiden innerhalb eines übergreifenden Raumes, der beide umfaßt, alfo die Linien nur innerhalb der Fläche, die Flaͤchen nur innerhalb des Körperraumes, Ich und Du in einem übergreifenden Medium, innerhalb deffen die Begegnung zuftande kommt und das wir den Weltraum genannt haben. Wenn fich alfo Gott felbft ent: aͤußert und uns als redendes Du auf gleicher Stufe gegenübertritt, müffen wir ein übergreifendes Medium vorausfeßen, innerhalb deffen die Begegnung ftattfindet und das diefe Begegnung möglich macht. Diefes Medium, auf Grund deffen der Schnittpunkt zwifchen der gött: lichen und der Ereatürlichen Sphäre zuftande kommt, nennt die Bibel den Heiligen Geift, Er ift der Ermöglichungsgrund der Begegnung, die
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durch das Wort vermittelt ift. Durch ihn allein wird alfo die Stelle in:
nerhalb der Ereatürlichen Welt, wo Gott redet, vom übrigen Welt: inhalt abgegrenzt. Durch ihn kommt die Scheidelinie zuftande, auf deren Verftändnis hier alles ankommt, die Linie, die Gottes Reden von Gottes Schweigen unterfcheidet, Durch ihn erhält eine Stelle
der zeitlichen Welt den Akzent der Ewigkeit. Die Abgrenzung, die hier entiteht, kann nur immer von zwei Seiten betrachtet werden, von Gottes Seite und von unferer Seite, Denn
wenn Gott redet, ift es Gott, der einen Inhalt unferer Welt von feiner Umgebung abfondert und ihn ins Licht der Ewigkeit rückt. Und doch findet die Abgrenzung immer zugleich innerhalb unferes Dafeinsraums ftatt. Denn ein Reden fommt nur zuftande, wenn ein Hörer da ift, der es aufnimmt. Ein Wort, das ungehört verhallt, ift über: haupt fein Wort, fondern ein leerer Schall. Denn das Wort ift feinem eigentlichen Wefen nach nicht ein Gegenftand, fondern ein Akt, in dem gejprochen und gehört wird. Wenn alfo Gott fpricht, muß die
Grenzlinie, die einen Inhalt, durch den Gott redet, von allen übrigen fcheidet, von denen wahrgenommen werden, an Die fich Gottes Wort richtet. Nach der Schrift Hat darum der Geift Gottes, der Ermöglichungs: grund der Begegnung zwifchen Gott und der Kreatur, immer zwei Funktionen zugleich, die aber zwei Seiten eines und desfelben göttlichen Aktes find. Der Geift Gottes fucht einerfeits von Gott her das freatürliche Organ aus, durch das Gott redet. Das ift die göttliche
„Auswahl“, die als die eine alles beherrfchende Kategorie das ganze biblifche Denken beftimmt. Menfchen, durch die Gott redet, haben das Bemwußtfein, daß fie im Widerfpruch zu allen ihren eigenen Wuͤnſchen und Neigungen durch ein unentrinnbares Schickſal ſchon vom Mutterleibe an ausgefondert find, um im Namen Gottes etwas zu fagen. Der Geift Gottes hat fie gezeichnet, wie der Förfter mit einem Beilhieb einen Baum im Walde zeichnet, der gefällt werden fol, Die zweite Funktion des Geiftes, die nur die andere Seite der einen göttlichen Tat ift, befteht darin, daß die Grenzlinie, die Durch die fouveräne Auswahl Gottes entfteht, denen fichtbar gemacht wird,
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
mit denen Gott in Verbindung treten will. Der Inhalt, der hier abgegrenzt wird, liegt ja genau wie jeder andere, den wir wahrnehmen Fönnen, innerhalb des Weltraums, in den wir eingefchloffen find. Er fteht im raumzeitlichen Kaufalzufammenhang der innermeltlichen Erfahrung. Niemand kann den ewigen Akzent fehen, der auf diefer einen Stelle der Zeit liegt, „ohne durch den Heiligen Geiſt“. Wem nicht der Geift die Augen öffnet, wen „Die Augen gehalten find“, der vermag an diefer Stelle nichts zu fehen, was aus dem Rahmen des Ganzen herausfällt. Die Erfeheinung fteht für ihn im relativen Zufammenhang mit allen übrigen Ereigniffen.
Die Grenzlinie, die entfteht, wird alfo von Gott her gezogen in einer Weife, die der ganzen Zeitlichfeit entgegengefeßt ift. Sie hat darum nichts mit irgendeiner innerweltlichen Unterfcheidung zu tun, die jedermann fichtbar wäre, Sie ift Fein Machtunterfchied und Fein Afthetifcher Unterfchied. Sie befteht nicht im Gegenfaß zwifchen Machtentfaltung und Schwäche, zwifchen Heldentum und Alltäglichfeit, zwifchen genialen Perfünlichkeiten und unbedeutenden Menfchen. Die göttliche Auswahl fest fich fouverän über alle dieſe irdiſchen
Größenmaßftäbe und Größenunterfchiede hinweg. Die Linie, die Gott hier zieht, durch die auf eine Stelle das ewige Licht fällt, im Gegenſatz zur ganzen Schattenmwelt der Zeitlichkeit, ift ung darum nur fichtbar, wenn Gott felbft uns die Augen dafür öffnet. Dann aber leuchtet fie jo unverkennbar, daß alle andern Unterfchiede ihr gegenüber unwe— fentlich werden. Wenn uns der Geift die Augen öffnet, daß wir einen Weltinhalt wie durch einen Scheinwerfer von oben beleuchtet im Licht der Ewige feit fehen, erfahren wir dabei ganz real, daß uns eine umfaffende
Sphäre umfängt als das Medium, in dem die Begegnung zwifchen Gott und uns ftattfindet, als ein Raum höherer Ordnung, der uns
trägt und umfchließt. Ich werde unter dem Hören des Wortes zurück gerufen in meinen Urfprung, in den Zuftand, in dem ich ſchon immer fein follte und in dem ich wäre, wenn die Gottentfremdung mein Dafein nicht geftört hätte, Ich wäre dann in Gott geblieben wie in
einem Raum, in dem man geborgen ift und aus dem man nicht mehr
herausfallen kann. Unter dem Hören des Worts werde ich in dieſes
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Sein in Gott zurückgerufen als in das verlorene Paradies, in dem ich nun wieder Kebensrecht bekomme. Mir jehen alfo: Obwohl wir im bisherigen nichts fiber den Inhalt gejagt haben, der fich für den, dem die Augen aufgegangen find, als Gottes Wort von feiner Umgebung abhebt, obwohl wir ung in rein formalen Beſtimmungen ohne Blut und Leben bewegt haben, führt uns doch fchon die rein formale Ausfage, daß Gott überhaupt geredet bat, zur trinitarifchen Formel. Die Art und Weife, wie das ewige Sein Gottes in die Sprache der Zeitlichkeit überfeßt wird, enthält immer ein Dreifaches in unzertrennlicher Einheit in ſich: 1. das
unfaßbare Sein Gottes felbit; 2. den Weltinhalt, den Gott, indem er fich ſelbſt entäußert, als fein Wort innerhalb der Welt abgrenzt; 3. den übergreifenden Ermöglichungsgrund der Begegnung, den Geift, das Medium, den Raum, innerhalb deflen die Abgrenzung ftattfindet. Geift und Wort gehören dabei ungertrennlich zufammen. Die Schwärmer aller Zeiten fuchten das Mittel des Wortes zu überfpringen, das die Mittelbarfeit zwifchen Gott und uns fchafft,
und Gott gegenüber zur Unmittelbarkeit durchzuftoßen. Das ift ein titanifcher Verfuch, die Schranfe niederzulegen, die ung durch unfer
gottentfremdetes Dafein geſetzt ift, alfo das Tor des verlorenen Paradiefes wieder aufzubrechen, vor dem der Cherub mit dem bloßen, hauenden Schwert fteht. Aber Gemeinfchaft mit Gott gibt es für ung
nicht unabhängig und außerhalb des in Chriftus verförperten Wortes, durch das er mit uns redet. Das Medium des Geiftes, das die Ge: meinfchaft zwifchen Gott und uns herftellt, kann nur in Kraft treten, wenn fich ein Inhalt diefer unferer Welt als Wort abgrenzt, in dem Gott mit uns in Gemeinschaft tritt. Wie das Wort nicht ohne Geift fihtbar werden kann, fo kann der Geift nicht ohne Wort die Verbine dung der beiden Welten heritellen. 19. Gott hat geredet durch den Sohn
Wir haben das Ereignis, das nach dem Zeugnis des Neuen Teſta⸗ ments wichtiger ift als alle übrigen Weltereigniffe zufammengenom: men, im bisherigen zunächft nach feinem allgemeinften Umriß bezeich12 Heim, Jeſus der Herr
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
net als die Stelle, wo Gott aus feinem fehweigenden Handeln herausgetreten ift und geredet hat. Nun müffen wir den Kreis etwas enger ziehen und den Inhalt felbft ins Auge faſſen, dem diefe einzigartige Bedeutung zufommt. Wir fahen fchon bei der formalen Befinnung über die allgemeine
Form der Wortmitteilung: Die Grenzlinie, die das Wort aus feiner Umgebung beraushebt, kann nur vom Sprechenden felbft gezogen und fichtbar gemacht werden, Nur wenn mir der Geift das Ohr
öffnet, höre ich aus allen übrigen Stimmen, die mich umfchwirren, die Silberftimme des Hirten heraus, die mich dorthin zurüdruft, wo mein Urfprung ift. Ohne die Wirkung des Geiftes fehlt mir das
Unterfcheidungsvermögen, und die Hirtenftimme geht im Meer der übrigen Klänge unter, Wenn nur der Geift die Stelle fichtbar machen fan, wo Gott redet, ift jeder Verſuch, mit Hilfe irgendeines heu— riftifchen Prinzips, über das ich felbft verfüge, Diefe Stelle ausfindig zu machen, nicht nur ein vergebliches Unterfangen, vielmehr zeigt ſchon das Unternehmen eines derartigen Verfuchs, Daß ich die Lage
verfenne, in der ich Gott gegenüber bin. Sobald ich aus irgendeinem allgemeinen Prinzip, das zu meinem geiftigen Befiß gehört, ableiten will, wo und wie Gott gefprochen haben muß, habe ich vergeffen, daß ich in dem gottlofen Zuftand bin, in dem ich aus mir felbit heraus über die Entfcheidungen, die Gott trifft, nichts wiffen kann, daß ich
alſo das, was er will, nur erfahren kann, wenn er felbit das Wort ergreift. Es gehört zum Wefen des Wortes, daß der Redende allein der Aktive und Gebende ift, der Hörende aber nur das paſſive und empfangende Gefäß. \ Mir dürfen es darum immer nur ohne jede Erflärung und Begrüns dung im Erzählungsftil der Apoftel als Tatfache ausfprechen: Gott Hat geredet im gefchichtlichen Auftreten eines Menfchen, der mitten im Sandhaufen der Billionen von Menfchen fteht, die uͤber diefe
Erde gegangen find. Gott ift mit uns in Verbindung getreten in einem lebendigen Du, das mitten in der Reihe der übrigen Du fteht, dag aber Durch eine unfichtbare Grenzlinie von allen übrigen abge— fondert ift als der eine, der Vollmacht hat. Diefe Tatfache war durchaus nicht vorauszufehen. Es ift nicht fo,
19. Gott hat geredet durch den Sohn
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daß fich Gott ung Menfchen nur durch einen Iebendigen Menfchen verftändlich machen konnte und nicht durch eine tote Gefeßtafel oder auf irgendeine andere Weife, Über die Möglichkeiten Gottes, fich mit uns zu verfländigen, haben wir nicht zu befinden. Erſt hinterher, nachdem Gott uns vor die vollendete Tatfache geftellt hat, koͤnnen wir uns Gedanken darüber machen. Diefe Gedanken fönnen nicht darin beitehen, daß wir das letzte
Warum diefer Tatfache ergründen. Wir koͤnnen immer nur die vollendete Zatjache in Gedanken nachzeichnen und uns ihre Tragweite verdeutlichen. Somenig wir die Tatfache, daß Gott durch eine menfch-
liche Perfon zu uns reden mußte, aus einem allgemeinen Prinzip ableiten können, ebenfomwenig können wir aus irgendwelchen allge: meinen VBorausfeßungen deduzieren, durch welche menfchliche Perfon Gottreden konnte, auf welche Geftalt der Gefchichte der unfichtbare Af-
zent fallen follte. Wenn wir die Untwort vernehmen wollen, die Önttauf Diefe Frage gegeben hat, an der unfer ganzes Schieffal hängt, Eommt
alles darauf an, daß wir diefer Antwort gegenüber ganz und gar Hörende werden und dem Redenden in feiner Weife ins Wort fallen. Nur in diefer Haltung fönnen wir vernehmen, was der Geift fagt, wenn er herabfommt und diefen einen als Organ der Selbfterfchlie= Bung Gottes von allen übrigen Menfchen mit den Worten abfondert: „Dies ift mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den follt ihr Hören!” Der natürliche Menfch nimmt fchon am Reden Gottes als ſolchem Anftoß, weil ihm diefes Ungefprochenwerden von außen in demüti= gender Weife feinen gottlofen Zuftand zum Bemwußtfein bringt. Uber nachdem Gott gefprochen hat, tritt die Abwehrhaltung des Menfchen
gegenüber dem Wort Gottes in ein zweites Stadium ein, Wenn ein Organismus einen Fremdförper, etwa einen Granatfplitter, der in ihn eingedrungen ift, nicht mehr ausftoßen kann, verfucht er ihn Dadurch unfchädlich zu machen, daß er ihn einfapfelt und ihn auf diefe Weife zum Beftanöteil feiner felbft macht. So fuchen wir Die göttliche Entfcheidung, die eine beftimmte Perfon zu ihrem Organ
erforen hat, da wir fie nicht mehr ruͤckgaͤngig machen können, wenig: ftens dadurch unwirffam zu machen, daß mir verfuchen, fie aus den 12*
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IV. Die Gottesoffenbarung
in Christus
Porausfeßungen unferes eigenen Denkens als eine Notwendigkeit abzuleiten. So find wir von dem peinlichen Gefühl befreit, daß wir
der letzten Frage gegenüber zur Paffivität verurteilt find. Wir haben uns der göttlichen Löfung felbft bemächtigt und können uns dem ftolgen Bewußtfein hingeben, fie wenigftens mit unferem Denfen felber hervorgebracht zu haben. Am glänzendften hat das Hegel in feinen Vorlefungen über die Philoſophie der Religion getan. Er fuchte zunächit zu beweifen, daß das Abſolute fich nicht in einer Vielheit, fondern nur in einem Individuum infarnieren mußte, das durch den Tod zur YAuferftehung gelangte, „In dem Tod Chrifti ift für das wahrhafte Bewußtfein
des Geiſtes die Endlichkeit des Menfchen getötet worden.” (Hegel, Ausgabe Laſſon, Bd. XIV, ©, 173.) „Die Unmittelbarfeit der jeienden Einzelheit ift aufgehoben, und diefes gefchieht durch den Tod; der Tod Ehrifti ift aber der Tod diefes Todes, die Negation der Negation” (©. 167). Die ſpekulative Konftruftion drang noch tiefer in die Einzelheiten
des Creigniffes ein. Der Tod Jeſu muß „die Außerfte Spike der Endlichkeit“ fein. Dazu genügt nicht, daß er nur ein Sterben überhaupt ift. „Er ift außerdem, daß er natürlicher Tod ift, auch noch der Tod eines Miffetäters, der entehrendfte Tod am Kreuz” (©. 161). Auch das ift denfnotwendig. Denn das „objektive“ Sein des Men chen, fein Dafein in der Vorftellung, ift das, was er bei andern gilt, alfo feine Ehre, Wenn fomit die ganze Endlichkeit des Men: ſchen negiert werden foll, um in der Negation erhalten zu werden, genügt dazu nicht der natürliche Tod. Es mußte ein Tod fein, der auch die Geltung bei andern vernichtete, alfo „Der Tod eines Miſſe— täterg, der entehrendfte Tod am Kreuz... das Kreuz entfpricht un: ferm Galgen” (©. 161).
Diefe ganze Beweisführung, deren Einzelheiten in dieſem Zufam: menhang unwichtig find, ift ein typiſches Beiſpiel dafür, wie der Menſch den vernichtenden Stoß pariert, den die unbegreifliche Loͤſung Gottes feinem Selbftbewußtfein verfeßt, indem er ihm durch einen geſchickten dialektifchen Seitenfprung ausweicht. Es hat Gott gefallen, durch einen ſchmachvoll Hingerichteten mit uns zu fprechen, deffen
19. Gott hat geredet durch den Sohn
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Lebensgang Celfus in die vielfagenden Worte faßt: „Ein jämmer: licher Tod beendete ein verächtliches Leben.” Der Menfch aber läßt fich Dadurch nicht aus der Faffung bringen. Er ift fofort wieder Herr der Lage, Er fagt: Diefen Ausgang hätte ich vorausfagen koͤnnen. Er ergibt fich aus der Dialektik, die im Weſen des Geiftes Tiegt. „Beift ift nur Geift als dies Negative des Negativen, welches das Negative alſo in fich enthält.” „Was uns alfo dies Leben Chrifti zur Vorftellung bringt, und zwar für das empirifche, allgemeine und unmittelbare Bemwußtfein, ift diefer Prozeß der Natur des Geiftes, Gott in menschlicher Geftalt. Diefer (Prozeß) ift in feiner Entwicklung der Fortgang der göttlichen Idee zur höchiten Entzweiung, zum Gegenteil des Schmerzes des Todes, welcher felbit die abfolute Umkehrung, die höchite Liebe, in fich felbit das Negative des Nega—
tiven, die abfolute Verfühnung tft, das Aufheben des Gegenfakes der Menfchen gegen Gott, und das Ende vorhanden als Auflöfung in die Herrlichkeit, die gefeierte Aufnahme des Menfchlichen in die göttliche Idee it. Jenes Erfte, Gott in menfchlicher Geftalt, ift er reell in diefem Prozeß, der die Trennung der göttlichen Idee und ihre Wiedervereinigung, erft ihre Vollendung als Wahrheit zeigt. Dies ift das Ganze der Gefchichte.” (©. 163.) Wenn wir irgendeinen derartigen Verfuch unternehmen, die Ent: feheidung, die Gott getroffen hat, hinterher aus dem dialeftifchen Verhältnis zwiſchen Zeit und Ewigkeit, wie wir e8 verftehen, abzu=
Yeiten, haben wir damit gezeigt, daß wir Die Lage, in der wir Gott gegenüber find, mißverftanden haben. Wir find aus der Haltung herausgetreten, in der wir allein imftande find, zu vernehmen, was
Gott fagen will. Wir wiffen dann noch nicht, heißt, auf jede eigene Konftruftion verzichten, diefen Gedankfengebilden, die unfer Sehorgan über ausfchalten, immer nur einen gemalten im Bereich unferer eigenen Möglichkeiten und
daß Hören eben gerade Wir erhalten mit allen der Wirklichkeit gegen= Chriftus. Wir bleiben denfen ung das Offen-
barungsorgan Gottes entweder als Idealbild menfchlicher Größe und Heldenfraft oder als dasfelbe Idealbild mit negativem Vorz zeichen, alfo als „die Spiße der Endlichfeit”, als den Tiefpunkt
menfchlicher Armut, Niedrigkeit, Schmach und Entehrung.
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Für den wirklichen Jeſus aus Nazareth trifft auch dieſes zweite negative Bild durchaus nicht ohne weiteres zu. Man wird auf Grund der gefchichtlichen Nachrichten fagen dürfen: „Die Familie Jefu muß wohlhabend geweſen fein. Jeſu Neffen haben als Landarbeiter in Nazareth ihren eigenen Grund und Boden bebaut; bei der Seltenheit des Beſitzwechſels damals wird er vom Großvater her ererbt geweſen fein. Daneben hatte Iofeph feinen Beruf als Texrav, was mit ‚Zimmermann‘ nicht richtig überfeßt ift, vielmehr einen Baumeifter bezeichnet, der Häufer, Burgen, Tempel, Schiffe und dergleichen baut... Bei dem Holghandel in Paläftina war allerdings die Holz⸗ befchaffung und =bearbeitung der wichtigfte Teil des Baugefchäftes. Es erforderte an fich fehon einen wohlhabenden Wann, weil der Er: werb eines Bauholzvorrates und deffen Heranführung Eoftfpielig war. In feiner Handwerfsftätte hat Joſeph aber auch Pflüge, Waffen, Soche und derartiges Yandwirtfchaftliches Gerät hergeftellt, fo daß das Ganze ein bedeutender Betrieb gewefen fein muß, in welchen Jeſus in feiner Jugend und auch noch als Mann tätig war.” („Das Evans gelion nach Markos“ von F. Frh. v. Edelsheim, 1931) Der Wirklich-
feit Sefu gegenüber ift alfo alles wertlos, was wir aus dem Begriff der Abſolutheit und Nelativität, der Unendlichkeit und Endlichkeit, und aus dem Verhältnis zwifchen beiden deduzieren Eönnen.
Ein weiteres Mißverftändnis unferer Situation ift es, wenn wir meinen, wir Eönnten auf Grund eines inneren Gefühls unter den vielen religiöfen Führern, die fich uns anbieten, den einen wählen, der unferm wirklichen Bedürfnis entfpricht. Denn wenn es in der
Frage, um die es hier geht, uͤberhaupt einen Sinn haben foll, eine Führerwahl vorzunehmen, müßten wir einen Inftinkt haben, der uns inftandfeßt, unter den vielen religiöfen Propheten, die fich anbieten, den einen herauszufinden, der in der rechten Richtung führt, fo, wie ein Tier auf der Weide mit ficherem Inftinkt die Giftpflangen meidet, die ihm gefährlich find, und die Kräuter herausfindet, die ihm zur Nahrung dienen. Um eine Wahl vorzunehmen, mag es fich dabei um die Wahl eines Freundes oder eines politifchen Führers handeln, muͤſſen wir immer ſchon einen Wertmaßftab, eine Gefchmadsrichtung oder einen leitenden Gefichtspunft haben, der es uns ermöglicht,
19. Gott hat geredet durch den Sohn
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unter den Perfönlichkeiten, die in Trage kommen, der einen vor allen übrigen den Vorzug zu geben. Wenn wir für die Löfung der leßten Frage einen folchen Maßſtab ‚ hätten, nach dem wir entfcheiden koͤnnten, wer der wahre Führer iſt, koͤnnten wir uns aber ſelbſt fuͤhren. Wir beduͤrften keiner beſonderen Selbſterſchließung Gottes mehr. Selbſtaͤndige Fuͤhrerwahl iſt nur eine andere Form der Selbſtfuͤhrung. Die Loͤſung der Ewigkeitsfrage waͤre uns ſchon mit dem erſchloſſen, was zu unſerer natürlichen Aus— rüftung gehört. Gott hätte uns dann ſchon durch die Schöpfung den
ficheren Inftinft mit auf den Lebensweg gegeben, der ung befähigte, ung zurechtzufinden. Gott brauchte alfo nicht über fein fehmweigendes Schaffen hinauszugehen und das Wort zu ergreifen, Wir brauchen aber Chriftus gerade deshalb als das Perfon gewordene Gotteswort, weil wir die Fähigkeit zur Führerwahl eben gerade nicht haben. Es ift darum ein Mifiverftändnis der Bedeutung Jeſu, wenn wir ihm im Pantheon der religiöfen Führer der Menfchheit neben Buddha, Konfuzius, Laotſe, Plato und andern einen Platz anweifen und mei: nen, wir fönnten uns die Lebensprogramme jener Führer zur Unficht kommen laffen und dann das auswählen, was uns zufagt. Jeſus will gar nicht in das Pantheon der Geiftesheroen aufgenommen fein. Seine Sendung beginnt erft dort, wo alle diefe Führer verfagt haben und verfagen mußten. Der Sinn feines Auftrages wird uns erft fichtbar, wenn wir eingefehen haben: Alles, was die Menfchheit unter der Führung diefer Geifter auf eigene Fauft zur Löfung der Sinnfrage unternommen hat, vermag uns aus der Unficherheit nicht zu befreien. Die Programme der großen Führer, Buddhas DVerneinung des Lebenswillens, Nießfches öynamifcher Lebensraufch und dann wieder die nüchterne Zuchtordnung des Konfuzius, zeigen gerade durch ihre Gegenfäßlichkeit, daß wir Menfchen immer nur taftende Verſuche machen Fönnen, einen Yusweg aus dem dunklen Gefängnis zu fin den, in das wir eingefchloffen find. Die Uneinigfeit der Führer unter einander beftätigt das Urteil, das fchon der Prolog des Johannes: evangeliums über den Gefamtzuftand der Menfchheit fällt, wenn er von der Finfternis redet, in die erft dann ein Licht fällt, wenn Gott anfängt zu fprechen (30h. 1, 4).
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
20, Das Zeugnis von der Öottesoffenbarung in Chriſtus Das bisher Befprochene hat ung zunächft die negative Tatfache | zum Bewußtfein gebracht, daß wir von Natur Feinerlei Kriterien in uns tragen, um zu erkennen, ob und wo und wie Gott zu uns geredet hat. Wenn Gott zu uns redet, muß er ung felbft die Augen öffnen, daß wir die Stelle fehen, wo er fich ung erfchließt. „Gott kann nur durch Gott erkannt werden” (Emil Brunner, „Der Mittler”). Von Diefer Rede Gottes koͤnnen wir nur als Menfchen fprechen, denen Gott die Augen aufgetan hat, daß fie diefe Stelle fehen. In diefem Sinn bezeugen wir mit den Apoſteln zunächft die grundlegende Tat— fache: Gott hat nicht Durch ein Es mit ung geredet, fondern durch ein Du. Damit ift ung ſchon die ganze Art vorgezeichnet, wie wir allein vom Worte Gottes zeugen fünnen. Wäre das Organ, durch das Gott mit ung redet, ein Es, alfo etwas, das ung gegenftändlich gegenüberfteht, fei es eine Naturerfcheinung oder eine Gefeßestafel oder ein Rechtsbuch oder ein allgemeiner Grundfaß, dann wäre die Aufgabe des Verkündigers, zwifchen uns und diefem Es das Ich-Es-Verhaͤltnis herzuftellen, alfo den Inhalt mit photographifcher Treue in feiner gegenftändlichen Objektivität zur Unfchauung zu bringen, wie man etwa im verdunfelten Raum eines archänlogifchen Hörfaals das Lichtbild einer antiken Qempelruine in fo feharfer Beleuchtung an die Wand wirft, daß jedes Kapitell und jedes Ornament mit plaſtiſcher Deutlichkeit dem Be— trachter gegenuͤbertritt. Voͤllig anders iſt die Aufgabe des Zeugen, wenn es nicht ein Es, ſondern ein Du iſt, indem Gott redet. Wie im erſten Band gezeigt wurde, iſt ſchon die Art, wie uns ein Du begegnet, etwas anderes als die Urt, wie uns ein Gegenſtand gegenuͤbertritt. Der Gegenſatz zwi— ſchen beiden ift allerdings nur von einer dynamischen Weltauffaffung aus verftändlich. Nach diefer ift alles, was ift, nicht durch fich felbft konſtant. Es wird vielmehr jeden Augenblick neu aus dem Nichts
geboren. Was dauert, bleibt nur dadurch am Leben, daß eine Kraft da ift, Die es den Mächten zum Troß, die es befeitigen wollen, von
20. Das Zeugnis von der Gottesoffenbarung
in Christus
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Augenblick zu Augenblick neu feßt. In diefem Prozeß des Weltwerdens, in dem jeden Augenblick neu über die Fommende Weltgeftalt entfchieden wird, fpielen nun das Es und das Du eine entgegen: gejeßte Rolle. Das Es ift die Welt im Stadium des Vollendetfeins. Nur in diefem Stadium
kann fie in Zufchauerhaltung betrachtet
werden. Das Du dagegen begegnet mir im Kampf um die werdende Weltgeftalt, und zwar je nachdem als Gegner oder als Bundes: genoffe oder in irgendeiner anderen Rolle, die auf einem Schlachtfeld möglich ift, auf dem um eine neue Welt gerungen wird. Was das Du ift, läßt fich darum in gegenftändlicher Form überhaupt nicht mehr ausdrücken. Nur die negative Tatfache ift deutlich: Das Du hat eine
Bedeutung, die nicht objektiv feftgeftellt, fondern nur vom Kämpfer wahrgenommen werden kann. Auch die Worte, die der andere fpricht, haben zwar als Worte, die bereits gefprochen find, wenn ich fie höre, den Es-Charakter der objektiven Gegebenheit. Aber ich höre fie nur dann als Worte eines Du, wenn ich fie nicht bloß als objektive
Gegebenheiten aufnehme, fie alfo etwa regiftriere als Spezialfälle grammatifcher Regeln oder etymologifcher Gefeße oder aufnehme als Beichreibungen eines Sachverhalts, der mir erpliziert werden foll, wie das dem griechifchehelleniftifchen Sinn des Wortes Logos ent: Ipricht (Bultmann, „Glaube und Verftehen”, ©. 274ff.). Ich höre fie nur als Worte eines Du, wenn ich in ihnen den heißen Atem der Schlacht fühle, wenn fie mir alfo der Niederfchlag eines Willens find, der im Ringen um die Weltgeftaltung mitfämpft und der fich nun an mich nicht als Zufchauer wendet, fondern fo, wie man fich an einen Menfchen wendet, der zum Mitkämpfer berufen ift. Wenn ich diefe Worte als Worte eines Du höre, dann weiß ich, daß das Wefen, das hier redet, fich in diefen Worten keineswegs erfchöpft. So wichtig beftimmte Worte oder Handlungen für das Verftändnis des Reden⸗ den fein mögen, fo find fie doch immer nur einzelne blißartige Ent: ladungen einer Macht, die hinter diefen Worten fteht. Der Nedende felbft fteht Hinter diefen Niederfchlägen feines Willens als die leben=
dige Quelle, aus der noch viele andere Worte und Taten hervorgehen können, Wenn dies das Wefen des Du im Gegenfaß zum Es ift und wenn
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
es Gott gefallen hat, durch ein Du mit uns zu reden, fönnen wir von dem, der das fleifchgewordene Gotteswort tft, nicht Dadurch zeugen, daß wir in der Haltung des Hiftorikers feine objektive Erfcheinung befchreiben,. Dadurch hätten wir ihn nur als Es behandelt. Die Hörig-
feit, in der wir einem Du gegenüberftehen, durch das Gott zu uns redet, Yäßt fich auch nicht Durch eine begeifterte Schilderung aus— druͤcken, wie fie ein Dichter von feinen Helden gibt. Wenn wir als Mefen, die verantwortlich an der Weltgeftaltung mitwirken, ein Du als Du ernft nehmen, fo tft das nach allem, was früher über die Du— Beziehung gefagt wurde, nur auf eine Weife möglich. Wir muͤſſen feine Worte hören als Gebote, die uns zu einer beftimmten Haltung in der gegenwärtigen Lage auffordern. Das Wort Gebot ift Hier in einem weiteren Sinn genommen. Ein Gebot Liegt nicht bloß dann vor, wenn Worte die Form des Befehls haben und mit einem „Du follft” beginnen, das mich entweder auf: fordert, aktiv zum Sturmangriff vorzugehen oder paffiv in Deckung zu bleiben. Auch ein Gerichtswort, das eine bereits vollgogene Hand: Yung verurteilt, höre ich, wenn ich den Richter als Du ernft nehme, als ein Gebot, das mich auffordert, die ftrafbare Handlung künftig zu unterlaffen und den Schaden nach Möglichkeit wiedergutzumachen. Auch eine VBerheißung, die eine herrliche Zukunft prophezeit, höre ich, wenn ich den Propheten als Du ernit nehme, als das Gebot: Wirf dein Vertrauen nicht weg, das eine große Belohnung hat! In allen diefen Fällen ift alfo nur dann die Du-Beziehung wirklich hergeftellt, wenn ich aus dem Wort des andern den Befehl heraus:
höre, der fuͤr meine gegenwärtige Lage gilt, Einem Befehl kann ich nicht in neutraler Betrachtung gegenübertreten. Neutralität, auch wenn fie in die Form eines begeifternden Zeitungsberichts oder einer feinen pfychologifchen Einfühlung gekleidet ift, bedeutet einem Bez fehl gegenüber Ungehorfam. Alle echten Führer haben darum eine ausgefprochene Abneigung gegen den Weihrauch der Bewunderung und die begeifterten Ovationen gehabt. Sie empfanden das als eine
beſonders gefährliche Form, dem aus dem Wege zu gehen, auf das e8 allein anfam, dem Gehorfam der Tat, „Was nennt ihr mich Meifter und Herr und tut nicht, was ich euch fage?” (Luk, 6, 46.)
20. Das Zeugnis von der Gottesoffenbarung in Christus
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Sobald ich alfo die Worte eines Du als Gebote höre, gibt es einem Du gegenüber nur zwei Möglichkeiten: Gehorfam oder Auflehnung. Daraus ergibt fich: Wenn Gott durch eine menfchliche Perfon zu ung fommt, von der er fagt: „Dies ift mein lieber Sohn, den follt ihr hören!”, Eönnen wir von diefer Tatfache nur in einer Form zeugen, nämlich dadurch, daß wir felbft ihm gegenüber in Gehorfamsitellung treten, alſo in die Haltung der rüchaltlofen Hingabe, und daß wir aus diefer Haltung heraus mit allem Nachdrud auf den einen hin— zeigen als auf den, unter defjen Führung wir allein auf dem Wege zu Gott find, fo, wie fchon die Taufitimme auf ihn hinwies und wie
der Vorläufer Johannes auf ihn hinzeigte mit den Worten: „Dies ift das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt” (Joh. ı, 29). Alle Erzählungen und Schilderungen find dabei nur Mittel zum Zweck diefes Hinzeigens. Über diefes Hinweifen kann das Zeugnis ftreng genommen nicht hinausgehen, wenn der eine, auf den wir hinweifen, wirklich der ift, der Vollmacht hat, jeden Menfchen zum Ziel feiner Beftimmung zu führen. Denn wenn er wirklich der Herr über alle Menfchen ift, ſetzt feine Führung fofort ein, fobald der Menfch, der auf ihn hingewiefen worden tft, mit ihm in Kontakt gekommen ift und die Bereitfchaft bat, auf ihn zu hören, fobald alfo die Du-Beziehung ihm gegenüber wirklich in Kraft getreten ift. Eine Du-Beziehung ift ja zunächft nicht eine Beziehung zwifchen Führer und Maffe, fondern zwifchen einem Ich und einem Du, alfo eine Beziehung zwifchen zweien. Jeder, der
in die Nachfolge Chrifti berufen wird, muß drum gleichfam einzeln vom Führer durch einen befonderen Handfchlag in Pflicht genommen werden. Nur dadurch, daß jeder der Gerufenen ein eigenes Verhältnis zu ihm hat, von dem nur er felbft weiß, entiteht das einzigartige Gebilde des „Leibes Chrifti”, von dem das Neue Teftament fpricht. Jedes Glied des Leibes fteht ja im unmittelbaren Verhältnis zu der
Seele, die den Leib beherrfcht und die an jeder Stelle des Leibes gegen— wärtig ift. Dadurch werden alle im Verhältnis zueinander Glieder (1. Kor. 12). Dabei kann dann einer in das Leben des andern nicht
dadurch eingreifen, daß er ihm feine eigenen Gedanken mitteilt, fondern nur dadurch, daß er dem andern gegenüber Organ des
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Führers wird und ihm feinen Auftrag oder feine Verheißung aus—
richtet. Der Befehl oder die Verheißung, die mir ein anderer im Namen des Führers mitteilt, hat aber nur dann Vollmacht, wenn im felben Augenblick, da ich das Befehls- oder Verheißungswort höre, das mir ein Bruder fagt, der unmittelbare Kontakt mit dem Führer felber hergeftellt ift, fo daß ich das Wort des Jüngers unmit— telbar als Wort des Meifters höre,
Das Zeugnis von Chriftus, das innerhalb der Gemeinde laut wird, geht alfo auch dann, wenn es aus Erzählungen von Jeſu Worten und Taten befteht, leßtlich nicht Darauf aus, die gefchichtliche Geftalt Sefu zu fehildern. Es will immer nur den Hörer in perfönlichen
Kontakt mit ihm felber bringen, damit feine Führung ihm gegenüber in Kraft treten kann. Nach dem Bericht der Evangelien geht ſchon Jeſus felbft nicht in erfter Linie darauf aus, den Menfchen, die ihm
zuhören, eine Lehre oder Weltanfchauung zu geben. Er will fie viel= mehr in ein perfönliches Verhältnis zu fich felber bringen, das darin befteht, daß fie auf ihn als auf den von Gott bevollmächtigten Führer hören,
Der Kontakt mit ihm, um den e$ geht, befteht darin, daß er für fie der wird, um deflentwillen fie das tun und leiden, was fie tun und leiden follen, deffen Befehl alfo Eeiner höheren Legitimation bedarf, weil er im Namen des Abfoluten gegeben ift. „Selig feid ihr, jo fie euch fchmähen oder verfolgen und euch alles Schlechte andichten um meinetwillen. $reuet euch und frohlocet, denn euer Lohn ift groß in den Himmeln” (Mtth. 5, ııf.). „Wer fein Leben verliert um meinetwillen und des Evangeliums willen, der wird es erretten“ (Merk, 8, 35). „Denn wer fich meiner und meiner Worte fehämt unter dieſem ehebrecherifchen und fündigen Gefchlecht, deffen wird fich auch der Menfchenfohn fehämen in der Herrlichkeit feines Vaters und
feiner heiligen Engel” (Mrk. 8, 38). „In dem Mahl, das uns als wunderbare Speifung überliefert ift, teilt er jedem Speife von feiner Hand aus. Es handelt fich um ein Kultmahl im Hinbli auf das meffianifche Mahl... Es ift Jefus nur darum zu tun, daß jeder von feiner Hand etwas von ihm geweihte Speife empfängt und dadurch in Mahlgemeinfchaft mit ihm tritt” (Albert Schweißer, „Die Myftif
20. Das Zeugnis von der Gotiesoffenbarung in Christus
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des Apoftels Paulus”). Wer ein Kind aufnimmt in feinem Namen, nimmt ihn auf. Am Gerichtstag werden Menfchen vom Menfchen: fohn als Gerechte und Teilnehmer des Reiches erffärt werden „mit der Begründung, daß fie ihn gefpeift hätten, als er hungerte, ihn
getränft hätten, als er dürftete, ihn beherbergt hätten, als er fremd war, ihn befleidet hätten, als er bloß war, ihn befucht hätten, als er frank war, zu ihm gefommen wären, als er gefangenlag. Auf ihr erftauntes Fragen, wann fie ihm folches erwiefen hätten, erfahren fie, Daß fie es einem der Geringiten antaten, der fein Bruder war, und es damit ihm felbit angetan hatten” (Schweißer). Der menfchlich betrachtet fo tragische Verlauf des Lebens Jeſu
fommt eben daher, weil er fich fo verhalten muß, daß ihm die Men: fchen immer nur um feiner felbit willen, um der in ihm liegenden göttlichen Vollmacht willen nachfolgen Eünnen und nicht aus irgend einem anderen rein menfchlichen Motiv heraus. Er muß darum immer gegen zwei Fronten Fämpfen, gegen feine Feinde und gegen die, Die ihn aus einem falfchen Grunde verehren. Er muß alle die Menſchen zurücftoßen oder enttäufchen, die fich für ihn begeiftern wollen, weil er ihnen irgendeinen menschlichen Wunfch erfüllt. Das Volk jauchzt ihm wegen feiner Heilwunder zu und läuft ihm in Scharen nach. Es wäre ihm eine Kleinigkeit gewefen, die Maffen vollftändig in feine Hand zu befommen und als allverehrter Volks⸗ führer und politifcher Meffias auf den Schild gehoben zu werden. Wenn er nur einen Fleinen Kompromiß nach diefer Seite hin gemacht hätte, hätte er fofort populär fein Eönnen. Er aber jagt: „Diefes ehebrecherifche Gefchlecht fordert ein Zeichen, aber es foll ihm fein Zeichen gegeben werden” (Mtth. 16, 4). Als fie ihn nach dem Spei— fungswunder hafchen und zum Könige machen wollen, entweicht er nach dem Bericht des Johannesevangeliums auf den Berg, er felbit
alfein, und fagt nachher, als er wieder unter das Volk getreten ift: „Wahrlich, wahrlich, ich fage euch, ihr fucht mich nicht, weil ihr Zeichen gefehen habt, fondern weil ihr von den Broten gegeffen habt
und gefättigt wurdet. Wirkt nicht Speife, die vergehet, fondern die Speife, die in das ewige Leben hinein bleibt, welche der Sohn des
Menfchen euch geben wird” (Joh. 6, 26f.).
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Sefus handelte alfo politifch betrachtet im höchiten Maße unklug.
Gr laͤßt alle Chancen unbenüßt vorübergehen. Er verfäumt alle Gelegenheiten, zur Macht zu gelangen. Jeden Nimbus, der fih um ihn bildet, fucht er fofort wieder zu zerftreuen. Selbft feine Heilwun— der verbietet er mweiterzuerzählen. Nur einmal nimmt er eine Yuldiz gung an, und diefe befteht in der Salbung zu feinem bald bevorſtehen⸗
den Begräbnis. Selbft im Süngerfreis läßt er Feine fchwärmerifche Verehrung auffommen. Infolgedeffen verläuft die Gefchichte feiner Wirkſamkeit in einer Richtung, die der Richtung entgegengefeßt ift, die wir bei andern gefchichtlichen Perfönlichkeiten beobachten, Andere haben mit einem Eleinen Verehrerkreis begonnen. Ihre Unhängerfchaft hat fich dann ftetig vermehrt, und zuleßt haben fie die Welt mit ihrem Ruhm er= füllt. Es ift die Entwiclung, die Goethe in „Mahomets Gefang” veranfchaulicht: Der Bergquell tritt als Fluß in die Ebene und
ſchwillt zuleßt zum mächtigen Strom an, der ins Weltmeer aus mündet. Sefu Lebensgang verläuft gerade umgekehrt. Um Anfang ift e8 eine Volksbewegung. Dann kehren ihm immer mehr feiner
Anhänger enttäufcht und geärgert den Rüden, und es heißt: „Bon da an gingen viele feinerSänger J hinter fich” (Joh. 6, 66). „Hier ift
das Geheimnis der Leiden: Jenes ‚Wollt ihr auch weggehen?‘ Elingt fo leidend: Soll ich denn, der ich Fam, um alle zu retten — foll es dahin kommen, daß e8 feinen gibt, für den ich Rettung werde? Mit offenen Armen daftehen und alle fliehen geärgert” (Kierfegaard, „Ein— übung im Chriftentum”). Vor der Leidensnacht muß er zum engften Kreis feiner Sünger fagen: „In diefer Nacht werdet ihr euch alle an mir ärgern” (Mtth. 26, 31). Diefer ganze Verlauf des Lebens Jeſu iftnur verftändlich, weil er ein Ziel hat, das dem Ziel jeder andern gefchichtlichen Perfönlichkeit
entgegengefeßt ift. Was er wollte, war nicht Macht und Einfluß, er wollte weder eine Parteiorganifation fchaffen noch einen Orden grüne den, noch eine philofophifche Schule ins Leben rufen. Sein Auftrag, der ihm nach der Taufe in der Verfuchung ein für allemal klar gewor:
den war, beftand darin, fo zu leben, daß es ihm gegenüber nur zwei Möglichkeiten gab, Die eine ift, daß wir uns an ihm ärgern und ung
21. Unsere Gleichzeitigkeit mit Christus
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enttäufcht von ihm abwenden, weil er fich für feinen unferer Zwecke gebrauchen laͤßt. Die andere Moͤglichkeit iſt, daß wir ihn auch im Tiefpunkt ſeiner Ohnmacht nur um ſeiner ſelbſt willen lieben und ihm ſein Kreuz nachtragen. Wenn ihm die ganze Welt zugejauchzt haͤtte, weil er ihren Wuͤnſchen nach Macht und Brot eine wenn auch noch ſo kleine Konzeſſion gemacht hätte, wäre das in den Augen der Ewigkeit nur eine Nieder: lage gewefen, Wenn er aber einfam und von allen mifverftanden firbt, um nachher von einigen galiläifchen Fifchern und Zölfnern
geliebt zu werden, ift das vor der Welt ein fchmähliches Fiasko, wie
Celfus jagt, „ein verächtliches Leben, das mit einem fchmählichen Tode endet”, aber vor Gott ein herrlicher Sieg. Wenn es Jefus nicht auch immer wieder ausdrücklich gefagt hätte, jo würde fchon fein ganzes Lebensfchidfal zeigen, daß fein Ziel nicht darin beitand, Anhänger für eine Sittenlehre oder für eine Philoſophie zu werben, fondern Menfchen, und wären e8 auch nur ganz verfchmwindend wenige, dahin zu bringen, daß fie um feinetwillen alles verlaffen und ihm nachfolgen: bedingungslos auf fich nehmen, was er ihnen beftehlt.
21. Unfere Gleichzeitigfeit mit Chriftus Wenn Iefus nach dem Bericht der Evangelien die Menfchen der damaligen Zeit in feine perfönliche Nachfolge berief, entfteht für uns, die wir durch faſt zweitaufend Jahre von der Zeit Jeſu getrennt find, die Frage: Kann die perfönliche Nachfolge, zu der Jeſus die Menfchen bringen wollte, nicht doch bloß für die Menfchen in Frage kommen, die mit ihm zufammen gelebt haben? Die perfünliche Nachfolge feßt Doch immer eine Du-Beziehung voraus. Ift diefe nicht für alle Spaͤ⸗ teren, die nicht „mit ihm gegeffen und getrunken haben”, ihm gegen über von vornherein ausgefchloffen? An diefer Frage hängt die ganze
Gegenwartsbedeutung Iefu. Bultmann, dem wir in anderer Hinficht wertvolle Erfenntniffe für das Verftändnis des neuteftamentlichen Chriftusglaubens verdanken,
grenzt fich in diefer Frage deutlich gegen Emanuel Hirfch und andere
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
ab, indem er fagt: „In welchem Sinn kann er uns denn ‚perjönlich ganz nahe fein, fo daß es zur lebendigen Zwieſprache Eommt?‘ Es ift doch Flar, daß er nicht in dem Sinne ein Du fein fann, wie ein Mensch, mit dem wir im heutigen Leben verbunden find?” („Olaube und Verſtehen“ ©. 97) „Ja gegenüber diefen Verfuchen, fich ‚in das Herz des Gefreuzigten zu verfenken‘, muß man doch offen jagen: Es ift nicht zu fehen, was der hiftorifche Jeſus, der feinen Todesweg in gehorfamer Liebe geht, im mindeften voraus hat vor allen denen, die z. B. im Weltfriege diefen Weg in gehorfamer Liebe gegangen find und deren Weg uns nicht nur wegen feiner größeren Unfchaulichkeit viel mehr fagt, fondern vor allem, weil wir mit ihnen als einem le= bendigen Du verbunden waren. Solche Erfahrungen an einer Perfon der Vergangenheit machen wollen, feheint mir künftlich und führt zur Sentimentalität” (©. 96). Nun darf aber nach Bultmann an die Stelle der nach feiner Mei— nung unmöglichen DusBeziehung zu Jeſus nicht etwa die Vergegen⸗ wärtigung des gefchichtlichen Jefusbildes treten, die phantafievolle Befchäftigung mit dem Bilde des Gefreuzigten, der überwältigende Eindruck? feiner Hiftorifchen Perfünlichkeit, wie das in der Leben-Jeſu— Theologie älteren Stils üblich war, Denn Bultmann fieht richtig,
daß damit Jefus gegenüber nur ein Es-Verhaͤltnis hergeftellt wäre. Wir hätten ung dabei nur mit „Chriftus nach dem Fleifch“ befchäftigt, fo, wie er der „Sphäre des weltlich VBorhandenen“ angehört. (©. 258).
Das wäre nicht der Glaubensgehorfam, den wir dem Wort Gottes fchuldig find.
Iſt aber Chriſtus gegenüber nicht nur die Du-Beziehung unmöglich, fondern auch das E8-Verhältnis ausgefchaltet, fo kann unfer Glau— bensgehorfam ihn felbit überhaupt nicht mehr zum Inhalt haben. Er kann nur die Unterwerfung unter das fein, was Gott in Chriftus getan hat. Die Heilstat Gottes befteht darin, daß er „Gottes Wort
it, daß in der Predigt diefes Wortes die Stunde der Entfcheidung da ift, daß wer ihn hört, den Vater hört, wer ihn ſchaut, den Vater
Schaut, wer ihn ehrt, den Vater ehrt”. (©. 267). Aber num gehört es eben, wie Bultmann felbft in dem Auffag „Über den Begriff des Wortes Gottes im Neuen Teſtament“ aus⸗
21. Unsere Gleichzeitigkeit mit Christus
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führt, zum Wefen des Wortes im biblifchen Sinn, daß es mir nicht einen Sachverhalt erpliziert, fondern daß es ein Gebot an mich ift. Ein Gebot muß aber immer einen konkreten Inhalt haben. Es muf mich zu einem beſtimmten Verhalten in meiner jeßigen Situation auf: fordern. Wenn alſo Jefus das Perfon gewordene Gotteswort ift, auf
das ich in meiner jeßigen Lage fo hören kann, daß ich in ihm den Vater höre, genügt es nicht, wenn mir die Erinnerung an ihn nur den Ernft meiner Verantwortung Gott gegenüber im allgemeinen zum Bewußtſein bringt. Zur Stärkung meines Verantwortungs: gefühls würde zur Not auch der Gedanke an den Tod oder die Erinne:
rung an große Vorbilder wie Sofrates oder Konfuzius genügen. Wenn das Unbegreifliche gefchieht, daß Gott mir in Chriſtus wirklich fein Wort fchenft, daß er in meine jeßige Lage hineinfpricht, muß diefes Wort wirklich das fein, was man zwifchen Menfch und Menfch unter einem Wort verfteht, nämlich eine Aufforderung zu einem beftimmten Verhalten. Nur einer folchen Aufforderung gegenüber it Gehorfam möglich und im Weigerungsfalle Ungehorfam und Gericht. „Der Knecht, der feines Herrn Willen weiß, wird viele ÖStreiche leiden muͤſſen“ (Luk. 12, 47). Das führt uns zu der unvermeidlichen Folgerung: Das fleifche gewordene Wort Gottes kann Jeſus nur dann fein, wenn auch für uns heutige Menfchen, die nicht auf der Erde mit ihm zufammen
gelebt haben, ihm gegenüber eine Du-Beziehung möglich ift. Das mag uns unbegreiflich erfcheinen und allen Vorftellungen wider: fprechen, die wir von der Beziehung haben, die zwifchen Menfchen möglich ift, die nicht Zeitgenoffen find. Aber wir dürfen ung nicht darüber täufchen: Entweder es tft tatfächlich für uns möglich, in das Verhältnis der Gleichzeitigkeit mit Chriftus zu fommen, in dem die erfte Gemeinde mit ihm ftand, alfo im Namen Gottes von ihm berufen, geführt und beauftragt zu werden; oder das, was die Chriften aller Sahrhunderte ber ihr Verhältnis zu Chriftus gefagt haben, war Selbfttäufchung, Autofuggeftion, fehwärmerifcher Umgang mit einem Toten, fentimentaler Verkehr mit einem Phantafiegebilde. Dann ift
unfere Lage Gott gegenüber nicht wefentlich anders geworden, als fie vor dem Kommen Chriſti war. Wir find nach wie vor ohne wirfe 13 Heim, Jeſus der Herr
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Yiche Führung. Es kann Fein Zweifel darüber fein, daß die ganze
neuteftamentliche Verkuͤndigung von dem Glauben getragen ift: Das Pneuma, die Gotteskraft, die die Verbindung zwifchen Gott und uns in Chriftus hergeftelt hat, erhält auch nach feinem Tode den leben= digen Verkehr zwifchen ihm und der Gemeinde aufrecht. Nach den Abſchiedsreden des Sohannesevangeliums tritt das Pneuma nach Jeſu Tod als das führende Organ an feine Stelle, Es erinnert die Jünger an alfes, was er gefagt hat, und leitet fie auch in Fragen, über die Chriftug mit den Seinen nie gefprochen hat, in alle Wahrheit. „Ich habe euch noch viel zu fagen, aber ihr Eünnt es jeßt noch nicht tragen. Wenn aber jener Eommt, der Geift der Wahrheit, jo wird er euch den Meg weifen in alle Wahrheit hinein. Denn nicht wird er von fich felbft fprechen, fondern was er hört, wird er reden, und das Kommende wird er euch ankündigen, Jener wird mich verherrlichen, weil er aus dem Meinen nehmen wird und es euch verkuͤndigen. Alles, was der
Vater hat, ift mein; darum fage ich, daß er aus dem Meinigen neh:
men wird und e8 euch verfündigen” (Joh. 16, 12-15). Auch Paulus beruft fich dort, wo für die Führung der Gemeinde in der Ehefrage Fein hiftorifches Jeſuswort mehr vorliegt, auf Die pneumatifche Führung, die ihn ermächtigt, im Namen Chrifti fehr
beftimmte Weifungen zu geben (1. Kor. 7, 25 und 40). Ja, er führt über feine Krankheit, die ihn in feinem Beruf hindert, nach dem Bericht von 2. Kor. 12, 8ff. ein fürmliches Iwiegefpräch mit dem
Kyrios und empfängt dabei als Gebot der Stunde die fehr beftimmte Weifung: „ES genügt dir meine Gnade, denn die Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung” (2. Kor. 12, 9). Sn der Apokalypſe erhalten die ſieben Gemeinden Sendfchreiben,
die fich alle als Worte des unfichtbar gegenwärtigen Chriftus eins führen, der in die beftimmte gefchichtliche Xage der Gemeinde hinein= |pricht, und die mit den Worten fchließen: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geift den Gemeinden fagt” (Offenb. 2f.). Die Urgemeinde lebte alfo von dem Glauben: Gott hat Chriftus durch den Geift ein für allemal dazu bevollmächtigt, die lebendige Verbindung zwifchen Gott und uns herzuftellen. Seit Chriftus gefom: men ift, ift mithin in der Gefchichte des Verhältniffes zwifchen Gott
21. Unsere Gleichzeitigkeit mit Christus
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und Welt eine entfcheidende Wendung eingetreten. Seitdem hat der Geift für ung alle, die wir nach diefem Wendepunkt leben, diefe eine Perſon gleichfam zum Brennpunft gemacht, in dem fich alle Strahlen jammeln. Er ift fortan das bleibende Medium der Du-Beziehung zwifchen Gott und Menfchheit. Die wenigen, die als Augenz und Ohrenzeugen mit ihm zufammen gelebt haben, haben zwar einen
relativen, aber feinen abfoluten Vorzug vor allen Spätergeborenen. Sie find nur die Erftlinge einer wachfenden Gemeinde, die alle in derjelben Weife Glieder feines pneumatifchen Leibes werden, in der eine dauernde Verbindung zwifchen Chriftus und jedem einzelnen beſteht.
Wir koͤnnen dieſen Glauben, von dem die erſten Gemeinden getra⸗ gen waren, nicht als einen Mythos beifeite fchieben, der nur das zeit⸗ gefchichtliche Gewand war für den Eindruck, den fie von diefer einzige artigen Perfönlichkeit empfangen haben. Mit diefem Glauben fteht und fällt vielmehr die ganze urchriftliche Verkündigung. Nur wenn er auf Wahrheit beruht, hat fich mit der Erfcheinung Jeſu das Ver—
hältnis zwifchen Gott und Menfchheit grundlegend geändert. Es ift eine Tür aufgegangen, die nicht mehr zugefchloffen werden kann. Bor diefer Zeit hat es zwar immer wieder Worte Gottes gegeben. „Vielfach und vielartig hat einſt Gott zu den Vätern in den Pro— pheten gefprochen” (Hebr. ı, 1). Uber diefe prophetifchen Träger des Wortes waren immer nur für eine beitimmte gefchichtliche Lage mit Gottesworten beauftragt. Das Wort Gottes „Fam zu ihnen”, wie e8 im Alten Teftament immer wieder heißt, um dann wieder von ihnen zu gehen. Das Gotteswort war alfo von dem menfchlichen Gefäß losloͤsbar, das zu feiner Verkündigung berufen war. Es hatte ein vom Träger unabhängiges, objeftives Eigenſein. Jetzt trat eine grunde Vegende Underung ein. Eine Perfon wurde zum perfonifizierten Gottes⸗ wort erforen. Sie war nicht bloß Träger eines Gottesmwortes, das fie weiterzugeben hatte. Sie war das Gotteswort felber. Chriftus war der, von dem gefagt werden Eonnte: „Sein Name wurde genannt
das Wort Gottes” (Dffenb. 19, 13). Damit war eine neue Lage entſtanden. Wir fünnen es uns am einfachften mit dem Gleichnis veranfchaulichen, das Jeſus felbit nach 13*
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
dem Sohannesevangelium (4, 13ff.) gebraucht, um das Neue auszu= drircken, das ung mit feinem Kommen geſchenkt ift. Vorher glich das Reden Gottes den vereinzelten Regengüflen. Das Waſſer, das dabei
niederging, wurde in Zifternen gefammelt und fo noch einige Zeit aufbewahrt, bis e8 verbraucht oder verdunftet war. Jetzt aber war an die Stelle der Zifternen, in denen man die Refte einftiger Plaßregen miühfem aufbewahrt hatte, ein lebendiger Brunnen getreten, eine Perfon, aus der das Gotteswort wie aus unerfchöpflichen Tiefen hervorquoll. Wenn wir mit diefer lebendigen Quelle in Verbindung gekommen find, brauchen wir nicht mehr zu dürften. Gott ſchweigt uns nicht mehr. „Die Zeit der Unmwiffenheit” (Apgſch. 17, 30) it
vorüber. Das „Abba, Vater”, der Urfaut der Seele, der durch Die Gottentfremdung verfchüttet war, wird wieder laut (Roͤm. 8, 15). Innerhalb der pneumatifchen Gemeinde, diefer zum Leib erweiterten Ehriftusperfönlichkeit, find wir nicht mehr auf unfere eigene Ent= ſcheidung geftellt. Es gibt eine Führung, auf die wir vertrauen dürfen.
Es gibt alfo eine Stelle, an die wir ung wenden Fönnen, einen Ort, zu dem wir hingehen Eönnen, um das Gotteswort für unfere Lage zu empfangen. Dann treten deutlich die zwei Zeiten auseinander, Die Hebr. ı voneinander unterfchieden werden: die Zeit, Die jeßt abgefchloffen ift, in der ©ott vielfach und vielartig, alfo an vielen einzelnen Stellen, zu den Vätern durch die Propheten geredet hat, und die Zeit, in der wir jeßt ftehen, von der es heißt: „Am Ende diefer Tage hat er zu uns geredet im Sohn..., der alle Dinge trägt mit feinem Macht: wort. .., der fich gefeßt hat zur Rechten der Majeftät in der Höhe“ (Hebr. 1, 1-3). Damit ift die Art, wie Gott in der nun abgefchloffenen
Meltperiode zu den Vätern geredet hat, in Feiner Weife entwertet. Es war fuͤr die Zeit, für die es galt, das Höchfte, was uͤberhaupt möglich war, Es bleibt für diefe Zeit in voller Geltung. Aber wir koͤnnen das Rad der Zeit nicht mehr zuruͤckdrehen. Wir haben, auch
wenn uns das noch gar nicht zum Bewußtfein gekommen ift, das Schiefal, nach dem Ende der erften Weltzeit, alfo als Kinder der Endzeit oder der Chriftuszeit, geboren zu fein. Wir dürfen darum das,
was für die Väter galt, nicht mehr unmittelbar auf ung übertragen. Denn e8 gehört zum Wefen eines Wortes, einer Anrede, daß fie nur
21. Unsere Gleichzeitigkeit mit Christus
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denen gilt, an die fie gerichtet ift. Ein Wort, das für die Väter das Gotteswort war, kann es alfo unter Umftänden für uns nicht mehr fein, weil Gott zu uns in einer neuen Sprache redet. Nur wenn es nicht eine fchwärmerifche Anmaßung, fondern Wahr: heit ift, daß Die neuteftamentliche Chriftusgemeinde das lebendige Gotteswort in ihrer Mitte hat als eine Perfon, an die fie fich wenden ann, wird die ganze Verkündigung des Neuen Teftaments verftänd: lich. Hätte fie nur einen Propheten gehabt, alfo einen der vorüber: gehenden Träger des Wortes, deffen Rolle mit feinem Tod erlofchen gemwefen wäre, fo hätte fie ihre ganze Arbeit darauf Eonzentrieren müffen, von den Eoftbaren Worten des Meifters mit vielem Fleiß ſoviel als möglich zu fammeln, aufzubewahren und zu wiederholen, wie man im Orient nach einem erquicenden Regenguß foviel als möglich von den niedergegangenen Waffermaffen in der Zifterne aufbewahrt. Statt deffen treten nicht bloß im Marfusevangelium, fon= dern auch bei Paulus, obwohl er die überlieferten Herrenworte kennt, die Sprüche Jeſu auffallend in den Hintergrund, Auch der Verfaffer des Sohannesveangeliums fcheint von Worten und Zeichen Iefu
noch vieles zu wiffen, das er aber, um nicht zu weitläufig zu werden, gar nicht mitteilt. „Noch viele andere Zeichen tat Sefus vor feinen Süngern, die nicht in diefem Buche befchrieben find“ (Joh. 20, 30). „Es gibt aber auch noch vieles andere, was Jeſus tat; wenn es im einzelnen befchrieben würde, fo würde die Welt die gefchriebenen Buͤcher wohl nicht faffen“ (Joh. 21, 25).
Diefe Sorglofigkeit im Verſchweigen und Wiedergeben der Worte und Taten des Einzigartigen erklärt fich nur daraus, daß die Boten überzeugt waren, daß fie nicht von einem Xoten, fondern von einem
Lebendigen redeten. Wenn wir von Worten und Taten einer Perfon erzählen, die noch lebt und handelt, kann diefe Erzählung immer nur den Sinn haben, die Menfchen, denen wir berichten, zu dieſem Leben⸗ digen hinzuführen. Wir geben ihnen einige Elaffifche Proben, die befonders charakteriftifch find, um fie zu veranlaffen, zu ihm felbft zu gehen und ihn felbft zu hören, Wir laffen fie einen Trunk aus der
Heilquelle tun, um ihnen Mut zu machen, felbft zur Quelle zu gehen. So heißt es am Schluß des Johannesevangeliums : „Diefe Zeichen” —
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Die nur eine begrenzte Auswahl aus der Fülle von Chriftustaten darftelfen — „find gefchrieben, damit ihr glaubt, daß Jefus ift der Chri= ftus, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend das Leben habt in feinem Namen“ (Joh. 20, 31). Menn die Lefer in die Stellung des Glaubensgehorfams Chriftus gegentiber hineingeführt find, dann ift der Zweck der Berichterftattung erfüllt, Sie find felbft an der Quelle, Chriftus kann das begonnene Zwiegefpräch mit ihnen felbft fortfeßen und wird alles übrige tun, was notwendig ift, daß fie das Leben haben. Das Chriftuszeugnis der Apoftel ift alfo bis in die Form ihrer Erzählung und Bericht: erftattung hinein getragen von dem grenzenlofen Vertrauen auf die übermächtige Wirklichkeit des Geiftes, der, feit er auf Chriftus ruht, jeden, der die Bereitfchaft dazu hat, in eine tatfächliche Verbindung mit ihm zu bringen vermag und ihm die Ohren auffchließt für das, was der Geift der Gemeinde fagt. Die Zeugen waren felfenfeit davon überzeugt, daß Menfchen, die bereit find, fich von Chriftus leiten zu laffen, auch wirklich unter die reale Führung des lebendigen Herrn kommen. Bei diefer Führung mußten felbftverftändlich die überlieferten Herrenworte den feitYiegenden Ausgangspunkt bilden. Denn der Heilige Geift kann fich nicht felbft widersprechen. Wenn uns der Geift unter die Leitung Chriſti geftellt hat, fo Fann das, was uns Chriftus jeßt zu fagen hat, nur die geradlinige Fortfeßung deffen fein, was er feiner Gemeinde während feines Erdenlebens befohlen hat. Die gegenwärtigen Weiz jungen Jeſu muͤſſen mit den Befehlen des Hiftorifchen Jeſus uͤberein⸗ ftimmen, wenn echte Führung vorliegen fol. Diefe Auffaffung ift befonders deutlich zu erkennen an der Art,wiePaulus ı. Kor. 7 zur
Chefrage Stellung nimmt. Er geht zunächft von den überlieferten Herrnfprüchen aus, die nicht ruͤckgaͤngig gemacht werden koͤnnen. Dann fügt er das, was ihm felbft unter der Leitung des Geiftes auf: gegangen ift, als Fortfeßung und ergänzenden Kommentar zu den Herrnworten hinzu. Solange wir außerhalb der Chriftengemeinde ftehen, müffen wir gegenüber dem Glauben der Apoſtel an die Führung durch Chriftus not: wendig einen ffeptifchen Zufchauerftandpunft einnehmen und fagen:
22. Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Christusoffenbarung
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Die Apoftel und Die von ihnen gegründeten Gemeinden find einer Selbfttäufchung zum Opfer gefallen. Was fie alg Eingebung des lebendigen Herren anfahen, können doch nur ſchwaͤrmeriſche Einbil: dungen und unterbewußte Wunfchkomplere gewefen fein. Das abs fchreckende Beifpiel der fchwärmerifchen Bewegungen aller Zeiten muß ohnehin jeden Kenner der Religionsgefchichte davor warnen, auf „Stimmen” und „Führungen“ allzuviel Wert zu legen. Uber gerade wenn wir uns auf dDiefen ffeptifchen Zufchauerftandpunft ftellen, berührt es uns um fo merfwürdiger, daß ein Mann wie Paulus durch die traurigen Erfahrungen, die er mit den Schwärmern in feinen Gemeinden fortwährend machte, nicht einen Augenblick in feinem Vertrauen auf die Wirklichkeit der prneumatifchen Führung durch Chriftus erfchüttert wurde. Wie leicht hätte er fich den Kampf gegen die Schwärmer in Korinth machen koͤnnen, wenn er jede Gei— ftesleitung von vornherein als Erankhafte Verirrung abgelehnt hätte! Aber alle unechten Nachahmungen der Infpiration machten ihn nicht irre in dem Glauben, daß es eine echte Führung tatfächlich gibt. 22. Die Möglichkeit und Notwendigkeit
der
Chriftusoffenbarung auch für das heutige Geſchlecht Daß die Urgemeinde nicht bloß von der einmaligen Weihnachts: tatfache der Menfchwerdung lebte, fondern von der dauernden Fuͤh— rung durch Chriftus, das hat allerdings nur dann praftifche Bedeu⸗
tung fr uns, wenn wir die Grundanfchauung über die Notwendigkeit des Gotteswortes teilen, die dem Alten und Neuen Teftament ges meinfam ift. Sowohl die Väter, zu denen Gott geredet hat (vgl. Hebr. 1, 1), wie die Apoftel wiffen, daß wir in der ganzen Zeit bis zur Aufhebung der jeßigen Weltgeftalt zwar das ſchweigende Schaffen und die ftumme Machtentfaltung des allgewaltigen Öottes überwältigend ſpuͤren, daß uns aber die Deutung dieſes Handelns und der direkte Zugang zu Gott verfchloffen ift. Gott wohnt für uns in einem unzugänglichen Licht. Darum find wir ganz auf das Wort angewiefen, das Gott allein fprechen kann und ohne das uns das Natur- und Weltgefchehen ein Buch mit fieben Siegen bleibt.
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
An diefem Gefamtzuftand hat fich mit dem Kommen Jeju nicht das geringfte geändert. Die Erfcheinung Chrifti hat alfo durchaus nicht die Bedeutung, die man ihr vielfach zugefchrieben hat, daß feitdem das Weltgeheimnis gelöft fei und der Himmel offen ftehe, fo daß wir nicht mehr auf den Inftanzenweg angewiefen wären, der über das Wort führt, weil wir einen unmittelbaren Zugang zum Herzen des Vaters hätten. Das wäre ein fchwärmerifcher Verfuch, das Weltende vorauszudatieren, die Schranke der jeßigen Weltgeftalt zu durch—
brechen und ung Gott gegenüber die Unmittelbarfeit anzumaßen, die uns töten würde, Weil fich in diefer Beziehung zwifchen Gott und ung nichts geändert hat, darum find wir bis zum Ende der jeßigen Welt: form für den Verkehr mit dem Vater ganz auf den Sohn angemwiefen.
Nach 1. Kor. 15, 24f. gibt der Sohn erft am Ende das Königreich an den Vater zuruͤck, damit Gott alles in allem fei. Bis dahin brauchen
wir feine Vermittlung. Unfer Weg zu Gott führt immer über ihn. Unfer Gebet zum Vater ift immer ein Gebet im Namen Jeſu, auch wenn das nicht ausdriiclich gefagt wird. Wir Fönnen nur in Gott fein, indem wir in Chriftus bleiben. Nur der Geift, der ung mit dem Sohn in Verbindung hält, gibt Zeugnis unferm Geift, daß wir Gottes Kinder find (Roͤm. 8, 16). Ohne den Geift des Sohnes wäre das „Abba, Vater“ nicht möglich. Es ift ein gefährlicher Wahn, zu meinen, Sefus habe durch fein Kommen uns den unmittelbaren Zugang zu Gott erfchloffen, Jeſus habe das MWelträtfel auf eine höchft einfache und optimiftifche Weife
gelöft, er habe ung gezeigt, Daß droben überm Sternenzelt ein guter Bater wohnt. Die Meinung, diefe Vorftellung vom guten Vater: Gott fei das Ehriftentum, hat fehon in der Zeit des Weltkrieges die wertvollften Männer dem kirchlichen Chriftentum entfremdet. Wer den zweiten Weltkrieg erlebt hat, dem ift diefer oberflächliche Lebens glaube ein für allemal zerbrochen. Wenn das die Botfchaft Iefu
wäre, müßten wir allerdings mit Dwinger fagen: „Nein, eg muß ein neuer Gott Eommen! Denn dies ift ficher: Der liebe, gute, alte Gott ift tot — er fiel im Kriege, wie vieles andere .. . und hierin Liegt auch meine Antwort: Ich habe diefen neuen ſchon gefunden! Ach, er ift viel gewaltiger als der unferes guten Pfarrers ... denn ich fand
22. Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Christusoffenbarung
ihn in furchtbaren Stunden im Lager Toßkoje, unfer Pfarrer aber zeigt immer noch das, was - Schule lernte, was uns Yängft ftarb, irgendwo Typhustoten, unter Ratten...” Demgegenüber
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auf dem Ruͤckzug er auf der Priefterim Schnee liegt, bei gilt es, „den neuen
Gott zu zeigen” ..., der „ein Gott ift, der all dem Furchtbaren ſtand⸗ hält, was im legten Jahrzehnt über die Menfchheit Fam... ., ach, er ift ja fo viel herrlicher, der neue Gott ..., fo viel wuͤrdiger fuͤr uns — und ihn“ (Edwin Erich Diwinger: „Wir rufen Deutfchland”, ©. 129). Hätte Jefus feiner Juͤngergemeinde diefen optimiftifchen Glauben
an den Vater-Gott der Aufklärung mit auf den Lebensweg gegeben, fo wäre diefer Vater-Gott vermutlich nicht erft in den Furchtbarfeiten des erften oder in den Bombennächten des zweiten Weltkrieges gefallen, fondern Schon viel früher, nämlich damals, als die erften Chriften als Fadeln in den Gärten Neros brannten und Chriftenmädchen vor
der Marter im Zirfus den Prätorianern preisgegeben wurden, ohne daß himmlifche Mächte eingriffen, um diefe Scheußlichkeiten zu verhindern. Diefe Qualen haben aber den Glauben der eriten Chriften an den Vater, den Jeſus ihnen gezeigt hatte, Feinen Augenblick erfchüttert. Das furchtbare Martyrium, das über die Gemeinde herein=
brach, kam den Süngern feineswegs unerwartet, wie es hätte fein muͤſſen, wenn fie in einem optimiftifchen Vaterglauben erzogen wor: den wären. Der Meifter hatte fie auf das alles vorbereitet. Der Märtyrertod war für fie eine „Zaufe”, in der fie in die engfte Gemein Schaft mit ihrem Meifter kamen. Sie durften mit Chriftus fterben, um mit ihm wieder aufzuftehen. Daraus geht deutlich hervor, daß der Bater, zu dem Jeſus felbft am Kreuz hängend gebetet hatte und zu dem feine Sünger in feinem Namen beteten, für fie von Anfang an etwas völlig anderes gewefen war als „der alte Vater Sechziger", den Ihfens „Brand“ verhöhnt, wenn er jagt:
Dein Gott ift alt — und grau. Sparfam gelodt nach Greifenart, wie Silber oder Eis den Bart, harmlos, wiewohl noch fo reſpekt⸗
einflößend, daß er Kinder ſchreckt.
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Ob du ihn noch mit filznen Schuhen verfehen haft, mag auf fich beruhen; doch willft du, daß er ganz echt fei, fo füg’ noch Brill’ und Schlafmüß bei!
Mas das Wort Vater im Sinne Jeſu bedeutet, das können wir nach dem Sohannesevangelium überhaupt nur faffen, wenn mwir auf die einzige Stelle blicken, wo diefer Vater aus der Verborgenheit feines fchweigenden Handelns hervortritt. Auf die Bitte „Zeige uns den Bater, fo genügt ung!” gibt Jeſus feine beruhigende Erklärung über die väterlichen Eigenfchaften Gottes. Er läßt die Jünger auch feine Bifionen erleben, in denen Gott aus feiner Unfichtbarfeit heraus⸗
tritt, um fich den Süngern zu zeigen. Er antwortet nur: „Wer mich fieht, der fieht den Vater“ (Joh. 14, 8f.). Wenn wir alfo nach einer Deutung des dunklen Rätfels fuchen, das uns der Machtkampf der Weltgefchichte mit feinem bunten Wech: fel von herrlichen Siegen und fehredlichen Niederlagen aufgibt, hält uns Gott nur das Bild des einen vor Augen, der im Kampf mit allen
Mächten der Finfternis, gehaßt und mißhandelt, am Kreuz für feine Mörder betete und zuletzt ausrief: „Vater, in deine Hände befehle ich
meinen Geift!” Diefes Bild wird uns vor die Seele gejtellt mit der Unterfchrift: „Wer mich fieht, der fieht den Vater.” Hier ift die Stelle, von der aus allein das ewige Licht in das Dunkel der Zeit hereinfällt. An diefen einen werden wir verwiefen als an den, der allein den für uns verborgenen Vater kennt. „Niemand kennt den Vater denn nur der Sohn, und wen es der Sohn will offenbaren” (Mtth. 11, 27). Mir Eennen alfo den Vater nicht. Wir koͤnnen nur das von feinem
Weſen fallen, was uns der Sohn enthüllt. Was wir im jeßigen Weltzuftand, in dem wir nie hinter die Kuliffen fehen koͤnnen, über den Sinn des Ganzen willen koͤnnen, das fönnen wir nur durch ihn erfah⸗ ren. Er ift in der legten Frage unfer allfeitiger Führer. Auf ihn find wir angewiefen in der Frage der Weltzufunft, der Schuld und der Sittlichkeit, der Macht und der Wahrheit.
Die Art, wie Gott mit ung, den Menfchen der Chriftuszeit, verfährt, ift demuͤtigend für unfern Stolz; aber fie führt ung zum Ziel, wenn
22. Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Christusoffenbarung
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wir ung Darunter beugen. Gott macht es mit uns, wie man zuweilen mit Menfchen verfährt, die zum erften Male in einer ihnen völlig unbekannten Stadt anfommen. Sie wünfchen, daf man ihnen einen Stadtplan in die Hand gibt, der ihnen eine are Überficht über alle Straßen und Plaͤtze, Hochbahnen und Untergrundbahnen gewährt. Mit diefem Plan ausgerüftet möchten fie felbftändige Streifzüge durch die Stadt unternehmen. Diefer Wunfch wird ihnen aber verfagt. Statt deffen wird ihnen ein Führer gegeben und ihnen gefagt: Ihr müßt immer hinter diefem Mann hergeben. Er wird euch den Weg zeigen, ihr dürft euch nicht von ihm entfernen, fonft feid ihr wie Schafe, die feinen Hirten haben. Diefes Verfahren Gottes ift eine ſchwere Enttäufchung für unfere Wißbegierde und unfern Drang nach fpefulativer MWeltbeherrfchung. Es bringt uns unfern gottentfrem: deten Zuftand in peinlicher Weife zum Bemwußtfein. Aber es nuͤtzt uns nichts, wenn wir dagegen proteftieren. Denn wir haben Fein Recht, in die Entfcheidungen einzugreifen, die Gott über uns getroffen hat. Wenn Gott uns ftatt eines philofophifchen Syſtems oder einer Sittenlehre einen perfünlichen Führer gibt, in deffen Fußtapfen wir treten follen, fo ift das nur möglich, wenn diefer Führer nicht bloß ein vergangener, fondern ein gegenmwärtiger ift, der in unfere Lage hineinſprechen kann. Wer das von vornherein für unmöglich hält, dem ift damit noch nicht geholfen, wenn nachgemwiefen ift, daß die Urgemeinde im Glauben an die Gegenwart ihres Herrn gelebt hat. Diefer Glaube fönnte ja das Produkt eines primitiven mythologifchen Denkens fein, das die Grenze noch nicht Fennt, an die der Verkehr zwifchen Perfonen ein für allemal gebunden ift. Für uns heutige Menfchen ift darum diefer Glaube nur dann eine ernithafte Möglich: keit, wenn das Wefen der Du-Beziehung, wie wir es heute veritehen können, einen Verkehr zwifchen Perfonen nicht ausschließt, die nicht als Zeitgenoffen miteinander gelebt haben.
Schon im vorangegangenen Band diefes Werkes beider Beſprechung der allgemeinen Struktur der Du-Beziehung mußte gezeigt werden: Wenn wir eine wirkliche Begegnung zwifchen Perfonen für ausge: fchloffen Halten, die nicht als Zeitgenoffen zufammen gelebt haben, kommt das immer nur daher, weil uns der Unterfchied zwifchen Du:
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Beziehung und E8-Verhältnis nicht deutlich geworden ift. Wir faſſen
die Du-Beziehung als ein gegenftändliches Verhältnis auf, das an die Gefeße gebunden ift, nach denen innerhalb der Es-Welt Annähes rungen und Entfernungen, Verbindungen und Trennungen möglich find, Wir glauben dann: Du und ich Fönnten einander nur begegnen und nahe fein, wenn dein Leib und mein Leib einander räumlich nahe find, In Wahrheit hat aber die „metaphufifche” Nähe und Ferne zwi— ſchen dir und mir nicht das geringfte mit leiblicher Nähe und Ferne zu tun. Du kannſt in einem andern Weltteil wohnen und mir doch, wenn ich deinen Brief lefe, unmittelbar nahe fein und mich unfichtbar auf allen Wegen begleiten. Undererfeits Fann der Leib eines andern,
etwa im engen Wagen einer Straßenbahn im Gedränge des Groß— ftadtverfehrs, dicht an den meinen gepreßt werden, ja, wir fünnen täglich im felben Büro Pult an Pult miteinander arbeiten, dennoch ift der andere wie durch ein Weltmeer von mir gefchieden, wir gehen einander fchlechterdings nichts an. Die Nähe und Ferne zwifchen Ich
und Du ift alfo von räumlicher Nähe und Ferne völlig unabhängig. Sie fteht unter anderen Gefeßen und beruht auf anderen Voraus feßungen. Das Nahefein zwifchen dir und mir entfteht durch den ganz unan— fchaulichen und nichtgegenftändlichen Vorgang, den wir Verftehen nennen. Eine Erfcheinung, die ganz und gar innerhalb meiner Erfah rungsmwelt Tiegt, etwa eine Zeile eines vor mir liegenden Briefes, leuchtet vor mir auf als ein Wort von dir, das ich unmittelbar verftehe und mit Freuden bejahe. Damit find in einem Augenblick alle Ent—
fernungen zwifchen ung verfchwunden. Der Funke ift übergefprungen, der eleftrifche Kontakt ift hergeftellt, wir find zufammen. Das Ber: ftehen, durch das du mir in folchen Fällen nahegeruͤckt wirft, ift ja, wie wir früher fahen, im Unterfchied von der Berührung zwifchen
begrenzten Gegenftänden eine Begegnung zwifchen Räumen, durch die zwiſchen zwei Unendlichkeiten, deiner Welt und meiner Welt, ein Schnittpunkt entfteht. Ein Element meiner Welt hebt fich für mich
als Seldfterfchließung deines Weſens von feiner Umgebung ab. Diefe Begegnung zmwifchen Räumen ift, wie wir fahen, nur möglich
22. Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Christusoffenbarung
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durch einen übergreifenden „Raum“, innerhalb deffen wir wie auf einer gemeinfamen Ebene zufammentreffen. Diefer übergreifende Raum, der die Verbindung zwifchen deinem Raum und meinem Raum heritellt, ift aber etwas für uns völlig Unanfchauliches. Es ift Fein Raum im Sinn der perfpektivifch ange: oröneten Mannigfaltigkeit, wie fie mir von dem einen Punkt aus gegeben ift, von dem aus ich die Welt fehe. Er fteht jenfeits aller Perjpektive. Er ift nicht wie der Raum, den wir allein Eennen, um eine Ich-Mitte geordnet. Sonft koͤnnte er nicht die Verbindung herz ftellen zwifchen der Welt, wie ich fie von meiner perfpeftisifchen Mitte aus fehe, und der Welt, wie du fie fiehft. Er koͤnnte nicht das Medium fein, in dem fich diefe beiden Unendlichkeiten begegnen. Darum ift das Verftehen, das Durch diefes unperfpektivifche Medium hergejtellt wird, von allen Raumverhältniffen unabhängig, in denen wir uns bewegen. Die Dijtanz, die plößlich verfchwindet, wenn das Wunder des Verftehens gefchieht, alfo die Du-Ferne, ift etwas, das in den Mafßverhältniffen eines perfpektivifchen Raumes überhaupt nicht ausdruͤckbar ift. Darum ift die Aufhebung diefer Diftanz, alfo die Du⸗Naͤhe, mit Feiner räumlichen Annäherung vergleichbar. Uber die „metaphyſiſche“ Nähe und Ferne zwifchen mir und Dir it nicht nur unabhängig von der räumlichen Entfernung, fondern auch vom zeitlichen Abſtand. Denn die Zeitftrede ift, wie im erften Band gezeigt wurde, die Form, die das Gefchehen erft annimmt, wenn es objeftives Ereignis geworden ift. Erft als vollendete Tatfache erhält das Geſchehen feine Stelle innerhalb des Zeitfontinuums und wird auf die Zeitſtrecke wie auf eine Landkarte eingetragen. Yuch der Zeitraum, in dem alles Gefchehen feinen Ort erhält, iſt alfo ein gegen: ftändliches Kontinuum, das einen perfpeftivifchen Punkt vorausfeßt, von dem aus eg gefehen wird. Es ift das Weltgefchehen, wie e8 mir vor Augen tritt, wenn ich von meinem Standort, von meinem Jetztpunkt aus, darauf zuruͤckſchaue und es in meinen Erinnerungsraum aufnehme,
Wenn es alfo ein übergreifendes Medium gibt, das die Brücke des Verſtaͤndniſſes fcehlägt zwifchen deiner Welt und meiner Welt, muß diefes umfaffende Medium nicht nur außerhalb des perfpektivifchen
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IV. Die Gottesoffenbarung in Christus
Raumes, fondern auch außerhalb der Zeitſtrecke liegen, in der das Gefchehen vom Standpunft eines beftimmten Ich und eines beſtimm⸗ ten Jetztpunktes aus erfcheint. Darum ift der Vorgang des Verftehens
ein Vorgang, der nicht nur von der räumlichen Entfernung, ſondern auch vom Zeitabftand zwifchen dem Sprecher und Hörer unabhängig
iſt. Die Begegnung zwiſchen mir und dir findet auf der Ebene der Gegenwart ſtatt, alſo noch diesſeits der Zeitſtrecke, in welche die
vollendeten Tatſachen eingeordnet werden. Ob es zu dieſer Begegnung kommt oder ob ſie unterbleibt, das iſt noch ganz unabhaͤngig davon, wie nah oder fern die vollendeten Ereigniſſe, die als unabaͤnderliche Reſultate aus dem unentſchiedenen Zuſtand des Werdens hervor— gehen, einander innerhalb des Zeitkontinuums ſtehen. Führende Per—⸗ fönlichkeiten wie Luther oder Goethe wurden darum von Menfchen, die Jahrhunderte nach ihnen lebten, viel beffer verftanden als von ihren Zeitgenoſſen. Es gibt Menfchen, die zur Gegenwart noch Fein inneres Verhältnis finden Eönnen, die fich aber fo in Goethes Welt verſenkt Haben, daß fie „Stunden mit Goethe” erleben, in denen fie durch Feine Entfernung mehr von ihm getrennt find. Es ift alfo durch⸗ aus nicht fo, daß wir einen Menfchen um fo beffer veritehen müffen, je näher wir ihm zeitlich und räumlich find. Das zeitliche Zufammen:
leben kann fogar in gewiſſen Fällen das Verftändnis erfchweren, der hiftorifche Abſtand kann es erleichtern. . Mit dem allem find wir natürlich noch nicht bei der lebendigen Zwiefprache zwifchen Ich und Du, wie fie Paulus nach 2. Kor. 12
mit dem Kyrios über den Pfahl in feinem Fleifch geführt hat. Aber fo viel hat fich gezeigt: Die Du-Beziehung ift nicht von den gegen ſtaͤndlichen Verhältniffen abhängig, an die wir innerhalb des raum zeitlichen Kontiuums gebunden find. In ihr ift uns eine neue Dimen= fion erfchloffen. Was innerhalb diefer Dimenfion möglich ift, das fönnen wir von der Gegenftandswelt aus nicht uͤberſehen. Aber wir
muͤſſen für neue Möglichkeiten offen fein, die alle gegenftändlichen Schranken durchbrechen. Der überfpeftivifche Raum, der die Beziehung
zwifchen Ich und Du herftellt, ift ja für ung völlig undurchfchaubar, da unfere Anfchauung ganz auf die gegenftändliche Welt befchränft
22. Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Christusoffenbarung
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it, die wir fehen und betaften koͤnnen. Es fteht uns darum fein Urteil darüber zu, welche Beziehungen innerhalb diefes umfaffenderen Mediums möglich oder unmöglich find. Wir haben alfo Fein Recht, eine echte DusBeziehung zu einer Perfon, deren Leben für ung der
Vergangenheit angehört, für undenkbar zu erklären. Was diefe Du-Beziehung zu dem uns in dem Kyrios gegebenen Führer für den Glauben an die Verfühnung und Weltvollendung
zu bedeuten hat, darüber foll in dem dritten Band diefes Werkes „Jeſus der Weltvollender” geredet werden.
Ser evangeliſche Glaube und das Denten der Gegenwart Bon Profeffor D. Dr. Karl
Heim (Tübingen)
Band I
Glaube und Denken Philofophifche Grundlegung einer chriftlichen Lebensanfchauung 5. Auflage (15.— 17. Taufend) in Vorbereitung Band 2
Seins der Herr Die Herrfchervollmacht Jeſu und die Gottesoffenbarung in Ehriftus 4. Auflage (11.—ı3. Zaufend) 1955 208 Seiten. Ganzleinen 12.30 DM Band 3
Jeſus der Weltvollender Der Glaube an die Verfühnung und Weltverwandlung 3. überarbeitete Auflage (12.14. Zaufend) 1953 248 Seiten. Ganzleinen 12.80 DM Band 4
Der chriſtliche Gottesglanbe und die Naturwiſſenſchaft Grundlegung des Gefpräches zwifchen Chriftentum und Naturwiffenfchaft 2. Yuflage (6.—8. Taufend) 1953. 260 Seiten. Ganzleinen 12.30 DM Band 5
Die Wandlung im Naturwiſſenſchaftlichen Weltbild Zweite Folge von „Der chriftliche Gottesglaube und die Naturwiſſenſchaft“ 3. Auflage (6.—8. Taufend) 1954. 272 Seiten. Ganzleinen 12.30 DOM Band 6 *
Weltſchöpfung und Weltende Dritte Folge von „Der chriftliche Gottesglaube und die Naturwiffenfchaft“ 216 Seiten. 2. Auflage (6.—8. Tauſend) in Vorbereitung. Ganzleinen 12.30 DM Seder der fechs Bände des Gefamtwerkes ift in fich abgefchloffen und, foweit zur Zeit lieferbar, einzeln zu beziehen.
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Heim, Karl, 1847-1958.
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