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German Pages 296 [298] Year 2020
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 26 • 2019 Franz Steiner Verlag
Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft her ausgegeben von Wilhelm Kreutz Markus Raasch Karsten Ruppert
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft herausgegeben von Wilhelm Kreutz, Markus Raasch und Karsten Ruppert Redaktion: Karsten Ruppert https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-HG
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 26 (2019)
Franz Steiner Verlag
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Inhalt Vorwort
7 Aufsätze
Hannes Ziegler Der Weg zur Pfälzischen Mairevolution von 1849
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Richard Höter „Freiheit einem Jedem, vor Allem aber uns!“ Das Publikum der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49
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Tobias Hirschmüller Ein Maßstab für die transatlantische Kooperation? Die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika in der westdeutschen Erinnerungskultur an die Revolution von 1848/1849
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Ulrich A Wien Entwicklung von Nationalbewusstsein und ethnischer Identität in Südosteuropa Das Beispiel des Karpatenbogens
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Dirk Hecht Diplomatie, Krieg und Waffenstillstand Das Leben des Diplomaten Alfred Graf von Oberndorff
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Thomas Fandel „Denn im Konzentrationslager ist man bald!“ Die Aufzeichnungen des Königsbacher Pfarrers Jakob Martin im „Dritten Reich“
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Markus Raasch Schule im Weltkrieg Eine vergleichende Perspektive
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Inhalt
Kathrin Kiefer Geschwisterbeziehungen im Zweiten Weltkrieg Zur Bedeutung von Familienmitgliedern in Krisenzeiten
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Forum Michael Martin Bericht des Kommandanten der Festung Landau vom Jahre 1831 über Desertionen
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Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser
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Vorwort Seit über einem Vierteljahrhundert veröffentlicht die Hambach Gesellschaft in ihrem Jahrbuch ihrem Auftrag gemäß Beiträge zur historischen Forschung und politischen Bildung Diese erstrecken sich zeitlich über das gesamte 20 und 19 Jahrhundert und gelegentlich auch über dessen Vorgeschichte in der Aufklärung Oft bildet das Hambacher Fest, dessen Ursachen und Auswirkungen einen Schwerpunkt des Bandes So auch diesmal wieder im 26 Jahrgang Der ehemalige Landauer Stadtarchivar Michael Martin publiziert und kommentiert in der Rubrik Forum aus dem bayerischen Kriegsarchiv den Bericht des Kommandanten der Festung Landau an seine vorgesetzte Dienststelle über die zahlreichen Desertionen aus dem Jahr 1831 Da er auch auf deren Gründe eingeht, wird eine aufschlussreiche Quelle über den Zustand der bayerischen Armee in der Pfalz während des Vormärz präsentiert Sie zeigt nämlich, dass nicht nur Missstände des soldatischen Alltags wie schlechte Verpflegung, unzureichende Unterbringung und schikanöser Drill die Soldaten bewogen, sich abzusetzen Vielmehr sind es auch politische Motive Zum einen die verlockende Botschaft der Freiheit, die aus Frankreich herübertönt und zum anderen die noch wenig gefestigte Loyalität der Pfälzer gegenüber der Monarchie, deren Untertanen sie seit über 20 Jahren waren So fällt von dieser Quelle auch ein Schlaglicht auf das Verhalten des bayerischen Militärs während des Maiaufstandes von 1849, den Hannes Ziegler in einer umfangreichen Studie behandelt Er spannt einen Bogen vom Ende der napoleonischen Herrschaft über das Hambacher Fest bis zur militärischen Niederschlagung der Revolte im Sommer 1849 Er geht den öfters gestellten Fragen nach den Ursachen, den Trägern und den Gründen des Scheiterns des Aufstands nach und beantwortet sie auf dem Stand der Forschung Auch Ziegler betont den für die Pfalz typischen und erstaunlich langen gemeinsamen Einsatz der bürgerlichen Liberalen und der republikanischen Demokraten, einschließlich der wenigen Arbeitervereine Erst als die radikale Minderheit entschlossen war, zur Durchsetzung der von der bayerischen Regierung abgelehnten Reichsverfassung den bisher gemeinsam beschrittenen Weg der legalen und gewaltlosen Revolution zu verlassen, sei es zum Bruch gekommen Dieser habe unmittelbar in den von Anfang an aussichtslosen Versuch geführt, eine autonome pfälzische Republik ins Leben zu rufen
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Vorwort
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Frankfurter Nationalversammlung schon aufgelöst Obwohl deren Tätigkeit schon seit Jahrzehnten im Mittelpunkt des Interesses der Forschung zur Revolution von 1848/49 steht, fällt in dem Aufsatz von Richard Höter darauf aufgrund der intensiven Auswertung vor allem der Verhandlungsprotokolle, Augenzeugenberichten und Bildquellen neues Licht Zunächst wird das zeitweise über 2000 Personen umfassende Publikum der Paulskirche nach Stand, Geschlecht und politischen Präferenzen differenziert So kann er nachweisen, in welch erstaunlichem Umfang Frauen in eigens für sie reservierten Logen die Debatten verfolgten und dass die Einmischung des Publikums aus dessen politischen Überzeugungen resultierte und nicht aufgrund von Manipulationen erfolgte, wie das bereits die Zeitgenossen immer wieder unterstellten Höter fasst seine Erkenntnisse in der These zusammen, dass Publikum und Abgeordnete im Umgang miteinander während der Tagungen politisch gereift seien Den Zeitraum von Vormärz und Revolution schließt der Beitrag von Tobias Hirschmüller ab, der bis weit in die Gegenwart reicht Er beschäftigt sich mit der Bedeutung und der Funktion der USA in der westdeutschen Erinnerungskultur an die Revolution von 1848/1849 Auf der Grundlage einer breiten Quellenbasis von Reden, Zeitungsberichten und Forschungsarbeiten kann er aufzeigen, dass die Bewertung des historischen Verhältnisses der Deutschen zu den Vereinigten Staaten in der Erinnerungspraxis inhaltliche Parallelen aufweist Insbesondere die Jubiläen von 1948 und 1998 sind Indikatoren dafür, wie sich die Vorstellungen von der Gestaltung der bilateralen Beziehungen vom Kalten Krieg bis in die Gegenwart wandelten Das Gedenken an die nach Nordamerika aufgebrochenen politischen Flüchtlinge sei ein aufschlussreiches Beispiel für ein bis in die Gegenwart in Deutschland vorherrschendes selektives Geschichtsbild Denn die Geschichte dieser Emigration werde überwiegend als gewinnbringender kultureller Austausch kommuniziert, während die Konflikte in den Zielstaaten nicht erwähnt oder marginalisiert werden Auch im Aufsatz von Ulrich A Wien wird ein Phänomen der Gegenwart, nämlich der Nationalismus im heutigen Rumänien, aus der Vergangenheit gedeutet Der Verfasser führt ihn auf die verspätete Nationsbildung rumänischer Bevölkerungsgruppen in den Donaufürstentümern, Banat, Siebenbürgen und der Bukowina im 17 Jahrhundert unter der griechisch-unierten (rumänischen) Kirche zurück Die von ihr rezipierten westeuropäischen nationalen Ideen seien vor allem zum Tragen gekommen in der Gründung des rumänischen Nationalstaats 1878 und im Anschluss der ehemaligen habsburgischen Gebiete nach 1918 Die Erfüllung des nationalen Traums durch den Vertrag von Trianon von 1920 sei belastet gewesen durch die Aufnahme zahlreicher neuer Nationalitäten, dem Versagen der Eliten bei deren Integration und den wirtschaftlichen Folgen des großen Krieges Daher habe sich ein extremer, mystisch-charismatischer Nationalismus in Gestalt der Legion des Erzengels Michael ausgebreitet Dieser sei sowohl Ursache für die erzwungene Demission König Carols II als auch für die ihr folgende faschistische Militärdiktatur unter Ion Antonescu gewesen Aus-
Vorwort
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wirkungen dieses Nationalismus seien bis in den Nationalkommunismus nach 1989 erkennbar Das Ende des Ersten Weltkrieges war auch für den aus einer kurpfälzischen Adelsfamilie stammenden Alfred Graf von Oberndorff ein entscheidender Einschnitt in seiner Karriere Als Vertreter des Auswärtigen Amtes war er am 11 November 1918 in Compiègne Mitunterzeichner des Waffenstillstands Dirk Hecht, der als Archivar mit den Unterlagen des Diplomaten vertraut ist, beschreibt diese Episode seiner Karriere Doch zeichnet er auch dessen Laufbahn im Auswärtigen Dienst des Deutschen Reiches bis zur selbst beantragten Versetzung in den vorläufigen Ruhestand im Jahre 1921 nach Als Privatier setzte er sich anschließend für die Aussöhnung mit Frankreich ein Der befürchteten Verfolgung durch die Nationalsozialisten entzog er sich durch Emigration ins Saarland und nach Luxemburg 1956 kam er nach Heidelberg zurück, wo er 1963 im Alter von 92 Jahren verstarb Der Leiter des Bistumsarchiv Speyer Thomas Fandel arbeitet aus der in seinem Archiv verwahrten Hinterlassenschaft detailliert das Schicksal des katholischen Pfarrers von Königsbach Jakob Martin in der Zeit des Nationalsozialismus heraus Der stets politisch bewusste Pfarrer, der bis 1933 die Bayerische Volkspartei im Ort zusammengehalten hatte, stellte für die lokalen wie regionalen Parteigrößen eine besondere Provokation dar Trotz einer brutalen Misshandlung im Juni 1933 hat er auch danach immer wieder durch Wort und Tat die Widersprüche zwischen dem Katholizismus und dem Nationalsozialismus artikuliert Er fand dabei Rückhalt an dem fast noch geschlossenen katholischen Milieu seiner Gemeinde, schon weniger an der Bistumsleitung, die sich immer wieder zum Lavieren gezwungen sah Nicht ganz zu klären ist, wie weit die Krankheit, der er 1938 erlag, durch den aufreibenden Kampf ausgelöst worden war Der Aufsatz von Markus Raasch legt einige Wesenszüge des späten Kaiserreichs und der nationalsozialistischen Zeit offen, indem er die Auswirkungen der beiden Weltkriege auf die jeweiligen Schulsysteme analysiert Auf der Grundlage von Selbstzeugnissen und administrativem Akten setzt er die Erfahrungen der Kriegszeit mit Entwicklungen der Vorkriegszeit in Beziehung Gemeinsam sei beiden Epochen gewesen, dass die Schulen unter dem allgemeinen Mangel und der Einberufung der Lehrer gelitten hätten und sie jeweils auch in die Kriegspropaganda mit einbezogen worden seien Die entscheidenden Unterschiede werden in der Rolle der Hitlerjugend als Instrument der totalitären Erfassung der Schülerschaft und in der Gewaltbereitschaft wie dem Selbstvernichtungswillen des nationalsozialistischen Systems gesehen Auch Kathrin Kiefer befasst sich mit dem Schicksal von Kindern und Jugendlichen im Krieg Sie konzentriert sich allerdings auf die Beziehungen zwischen Geschwistern in der Familie Weitgehend auf der Grundlage von individuellen Dokumenten und Zeitzeugenbefragungen werden die Auswirkungen der Ausnahmesituation auf die Erziehung von Geschwistern und deren emotionale Beziehungen untereinander untersucht Geschwisterbeziehungen wird insofern ein hoher Stellenwert für die Aufrecht-
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Vorwort
erhaltung eines intakten Familienlebens zugebilligt, als diese bei der Verarbeitung der Erfahrungen von Gewalt, Trauer und Verlust erkennbar halfen Mechtersheim im März 2020
Karsten Ruppert
Aufsätze
Der Weg zur Pfälzischen Mairevolution von 1849 Hannes Ziegler 1 Ein schwieriges Erbe In den linksrheinischen Gebieten, die nach knapp zweijähriger bayerisch-österreichischer Verwaltung am 1 Mai 1816 per Territorialausgleich mit dem Habsburgerreich als Rheinkreis1 dem Königreich Bayern vertraglich2 zugeschlagen worden waren, herrschten politische Bedingungen, die einmalig waren im jungen deutschen Staatenbund: Die Bewohner dieser Gebiete verdankten diese privilegierte Stellung ihrer gut zwanzigjährigen Zugehörigkeit zum französischen Nachbarstaat Bereits seit 1790 gehörte Landau zum „Département du Bas-Rhin“ Zusammen mit jenen Gemeinden, die Ende 1792 um Aufnahme in die Französische Republik gebeten hatten, bildete das südpfälzische Gebiet seit Mitte März 1793 einen eigenen Distrikt, in dem jetzt das neue revolutionäre Recht Einzug hielt Desgleichen geschah nach dem Ende der Revolutionskriege, als Frankreich das gesamte linksrheinische Gebiet
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Zunächst trug der Rheinkreis als achter bayerischer Kreis den Namen „Das königlich-bayerische Gebiet auf dem linken Rheinufer“ Seit 1817 hieß das Gebiet „Bayerischer Rheinkreis“ bzw „Rheinkreis“, bis die königliche Verordnung vom 14 November 1837 den Namen „Pfalz“ festlegte, der ab dem 1 Januar 1838 auch offiziell geführt wurde Während die Wittelsbacher diesen Namen eher mit ihrer kurpfälzische Vergangenheit verbanden, dachten die Pfälzer dabei doch mehr an Pirmasens und Kaiserslautern Gleichwohl nahmen die Bewohner des Kreises diese regionale Begriffsbestimmung sehr positiv auf: Sie förderte das Bewusstsein einer pfälzischen Identität, die deutlich antibayerisch ausgerichtet war und sich mit den Ideen des vormärzlichen Nationalismus verbunden fühlte Vgl hierzu: Applegate, Celia: Zwischen Heimat und Nation Die pfälzische Identität im 19 und 20 Jahrhundert Kaiserslautern 2007, S 40 f Den separatistischen Wunsch nach Bildung eines „Rheinstaates“ lehnten die Siegermächte von 1815 ab Der am 14 April 1816 in München geschlossene Staatsvertrag zwischen Bayern und Österreich sicherte Bayern das Gebiet zwischen Queich und Koblenz, das am 30 April 1816 noch um das Land zwischen Lauter und Queich mit den Kantonen Landau, Bergzabern und Kandel vergrößert wurde Der neue bayerische Kreis entsprach dem Hauptteil des ehemaligen Départements Donnersberg; verloren gingen die rechtsrheinischen, ehemals kurpfälzischen Gebiete, dafür gehörten zum Kreis jetzt Gebiete, die nie wittelsbachisch gewesen waren Vgl Spindler, Max: Die Pfalz in ihrem Verhältnis zum bayerischen Staat in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts In: Festgabe für seine kgl Hoheit Kronprinz Rupprecht von Bayern München 1953, S 234
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Hannes Ziegler
in dem Frieden von Campo Formio (1797) de facto und dem Frieden von Lunéville (1801) de jure in seinen Herrschaftsbereich eingliederte Anfang 1798 wurde das eroberte Gebiet nach rein funktionalen Erwägungen in vier zentralistische Gebietskörperschaften („Départements“,) aufgeteilt3, die zunächst in Distrikte (ab Februar 1800 in Arrondissements) und Kantone untergliedert waren Die Departementszentrale saß in Mainz; die Arrondissementsverwaltungen amteten in Zweibrücken, Kaiserslautern und Speyer Ende März 1798 erfolgte die Integration der linksrheinischen Lande in das französische Steuersystem; als Zahlungsmittel galt der Franken, der ab Januar 1818 vom bayerischen Gulden abgelöst wurde Nach dem Staatsstreich Napoleons im November 1799 änderte sich der Charakter der Revolutionierung in den besetzten linksrheinischen Gebieten Napoleons wegweisende Justizreform („Cinq Code Napoléon“; 1804–1811) war, wie die kommunale Verwaltungsreform, von oben diktiert – eine „Revolution nach der Revolution“ 4 Diese gouvernementalen Umgestaltungen schufen einen schweren bürokratischen Wasserkopf, der sich vor allem in der Departementalverwaltung zeigte Von den neuen citoyens wurde dieser bürokratische Zentralismus als lästig empfunden Ärger und Verdruss bereiteten ihnen neue Steuern, die zunehmende Abgabelast, das neue Hypothekenrecht, welches zinsgünstige Realkredite verhinderte, und die seit 1802 existierende, als so ungerecht empfundene Wehrpflicht 5 Unmut erregte auch die Aufhebung der Selbstverwaltung der Pfälzer Haingeraiden, aus dem Mittelalter stammende Waldgenossenschaften, deren Aufteilung dann in bayerische Zeit erfolgte Nach dem Ende der kaiserlichen Gewaltherrschaft6 zeigte sich die Masse der rheinischen Bevölkerung erleichtert: Vorbei waren die Rekrutierungen, die Requirierungen
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Die Départements „Du Mont Tonnerre“, „De La Sarre“ und „De Rhin et Moselle“ nehmen mit ihren Hauptorten Mainz, Trier und Koblenz die heutigen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland fast vollständig vorweg Vgl Rummel, Walter: „bloß alle Lasten und noch keine Wohlthaten“ Wirken und Nachwirken der französischen Herrschaft der Jahre 1798–1814 im Rheinland und in der Pfalz In: Jahrbuch der Hambach Gesellschaft Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft hrsg von Wilhelm Kreutz u a Stuttgart 2015, S 53–68 (hier S 56) Vgl Dumont, Franz: Eine Revolution nach der Revolution In: Schütz, Friedrich (Hg ): Von BlauWeiß-Rot zu Schwarz-Rot-Gold Mainz vom Beginn der Napoleonischen Herrschaft 1798 bis zur Revolution von 1848 Mainz 1998, S 22–24 Vgl Rummel (wie Anm 3), S 58–61 Rummel verweist in diesem Zusammenhang auf die verschiedenen Möglichkeiten, wie man damals der Militärpflicht entkommen konnte Über das Schicksal von jungen Pfälzern, die an den napoleonischen Kriegszügen teilnehmen mussten, vgl Kermann, Joachim: Pfälzer unter Napoleons Fahnen Veteranen erinnern sich Erlebnisberichte anläßlich der 200 Wiederkehr der Französischen Revolution Neustadt 1989 Kermann beschreibt in seiner quellenreichen Studie auch die gesetzliche Grundlage und Praxis der Konskriptionen Mit den Jahren gedieh im Rheinkreis eine Napoleon-Nostalgie der besonderen Art („VeteranenVerbände“, „Napoleon-Bänke“, „Napoleon-Steine“ auf pfälzischen Friedhöfen): Ein interessantes psychologisches Phänomen, zumal der Korse auch in deutschen Volksliedern und Gedichten (Heinrich Heine: „Die Grenadiere“, 1822) eine Renaissance der besonderen Art erlebte Vgl Klein, Walther: Der Napoleonkult in der Pfalz München 1934
Der Weg zur Pfälzischen Mairevolution von 1849
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und ständigen Kriege, welche Unglück und Leid über so viele Familien gebracht hatten Die Rückkehr nach Deutschland wurde begrüßt,7 doch die umwälzenden Reformen aus der französischen Zeit8, sie wollten die Linksrheiner nicht mehr missen: die allgemeine persönliche Freiheit, Rechtsgleichheit und freies Eigentum; die Lösung des Bauernstandes aus seiner feudalen Gebundenheit, die Aufhebung des Zunftzwangs; Gewerbefreiheit; die Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, ein neu gestaltetes Notariatswesen, die Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, Geschworenen-Gerichte, die Trennung von Justiz und Verwaltung, die Unabsetzbarkeit der Richter sowie eine Neugliederung der Justizorganisation, die einen einheitlichen, an der neuen verwaltungsrechtlichen Einteilung orientierten dreistufigen Instanzenweg festschrieb 9 Diesem Wunsch entsprach das neue Herrscherhaus bereits im Juni 1816 Das französische Reformerbe blieb im Rheinkreis, wie in den angrenzenden rheinhessischen und rheinpreußischen Gebieten, auch nach 1816 in Kraft Doch noch ein anderes Erbe aus der napoleonischen Zeit reservierten sich die neuen Herren aus München zum Leidwesen der neuen Untertanen: die hohen Steuern Bis zum Oktober 1831 zog der bayerische Fiskus die französische Kriegssteuer ein, unverändert bestehen blieb im Rheinkreis auch die im Vergleich zum übrigen Königreich höhere Grund-, Personalund Gewerbesteuer Das hatte seinen Grund: Das Königreich war mit 110 Millionen
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Vgl Fenske, Hans: Die pfälzisch-bayerische Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayern In: Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert, hrsg von Karsten Ruppert Berlin 2017, S 33–46 (hier S 35) Vgl Faber, Karl-Georg: Die rheinischen Institutionen In: Hambacher Gespräche 1962 Geschichtliche Landeskunde Band I Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, hrsg von Johannes Bärmann u a Band I Wiesbaden 1964, S 20–40 Das waren im Département „Donnersberg“ („Du Mont Tonnerre“) auf der untersten Ebene (als 1 Instanz), in den 37 (später 36) Kantonen, die vom Volk gewählten Friedensrichter, dann, in den Distrikt- bzw Arrondissementshauptorten (Mainz, Speyer, Kaiserslautern, Zweibrücken), die Zivil- und Zuchtpolizeigerichte (als 2 Instanz) und, auf der obersten Ebene, die Appellations- und Schwurgerichte (Assisengerichte) in den Départementshauptstädten Kreuznach, Trier, Zweibrücken Nach der Kantonalreform vom 17 November 1817 war die Justiz im bayerischen Rheinkreis wie folgt organisiert: Die Leitung der pfälzischen Justiz lag beim Appellationsgericht in Zweibrücken („Königlich-baierisches Appellationsgericht des Rheinkreises“); über den 31 Friedensgerichten (ab 1854 „Landgerichte“, ab 1879 „Amtsgerichte“) als erster Instanz lagen die vier Kreisgerichte (ab 1817 „Bezirksgerichte“) in Zweibrücken, Frankenthal, Kaiserslautern und Landau Eine exponierte und politisch einflussreiche Stellung in diesem System nahm die Staatsbehörde (heute: Staatsanwaltschaft) ein Der Generalstaatsprokurator verkörperte die Anklagebehörde und agierte als „Gesetzeswächter“: als Disziplinarvorgesetzter der Staatsprokuratoren, der Untersuchungsrichter (bei den Bezirksgerichten), der Friedensrichter, Gendarmerieoffiziere und der Bürgermeister der Kantonshauptorte Vgl Ziegler, Hans: Das Justizwesen in der Pfalz im 19 Jahrhundert Mit einem Verzeichnis der an den Gerichten und bei den Staatsanwaltschaften tätig gewesenen Juristen In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 86 Band Speyer 1989, S 183–345 (hier S 183–192)
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Hannes Ziegler
Gulden hoch verschuldet: das Verhältnis von Staatsschuld und Staatseinnahmen entsprach etwa 1:4 10 Am 20 Mai 1816 wurde Speyer zum Sitz der Verwaltungsspitze des neuen Kreises bestimmt Am 1 September 1816 konstituierte sich in der alten Kaiserstadt Speyer die „k Regierung der bayerischen Lande am Rhein“, die ab dem 20 Februar 1817 den Namen „Rheinkreis“ (bzw „Bayerischer Rheinkreis“) trug Mit ca 430 000 Einwohnern (1816), der Anteil der Katholiken und Protestanten hielt sich in etwa die Waage, gehörte dieser etwa 5500 km2 umfassende kleinste bayerische Kreis zu den am dichtest besiedelten Räumen im Deutschen Bund Bereits 1833 lebten 540 000 Seelen im Kreis, der mit Zweibrücken (etwa 6200 Einwohner) und Speyer (knapp 6000 Einwohner), Landau (knapp unter 5000 Einwohner), Neustadt (knapp 4300 Einwohner) sowie Kaiserslautern und Frankenthal (etwa 3700 Einwohner) über größere Städte verfügte Über 80 % der „Rheinbayern“, auch die meisten Stadtbewohner, ernährten sich von der Landwirtschaft 11 Einem geschlossenen Wirtschaftsraum entrissen, vom neuen Mutterland durch das Großherzogtum Baden getrennt, lebte man fortan in einem isolierten „Nebenstaat“, mit all den sich daraus ergebenden Nachteilen 12 Die Stimmungslage der „Rheinbayern“ gegenüber der neuen Herrschaft war gemischt 13 In München zeigte man sich jedenfalls nicht glücklich über den Territorialaustausch Es hätte durchaus bessere Alternativen gegeben 14 Man vermisste eine „Brücke“ über den alten kurpfälzischen Raum um Mannheim-Heidelberg zum bayerischen Mutterland Ihre Realisierung blieb ein vergebliches Ziel bayerischer Politik 15 Nach dem Tod des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor Mitte Februar 1799 regierte das Land sein nächster Verwandter, Kurfürst Maximilian IV Joseph (ab 1806 als König Maximilian I Joseph), einer Pfälzer Seitenlinie der Wittelsbacher entstammend Unter seiner Regentschaft verwandelte sich Bayern dank der Reformen seines Ersten Ministers, Maximilian Graf von Montgélas, in einen modernen Staat Sichtbarer Ausdruck dieser Modernität war die bayerische Verfassung vom 26 Mai 1818 Sie
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Vgl Götschmann, Dirk: Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19 Jahrhundert In: Wittelsbach, Bayern und die Pfalz (wie Anm 7), S 121–143 (hier, S 128) Vgl Weidmann, Werner: Schul-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Pfalz Band I Otterbach 1999, S 236–238 Vgl Hauptstaat – Nebenstaat Briefe und Akten zum Anschluß der Pfalz an Bayern 1815/1817, bearb von Heiner Haan Koblenz 1977 Vgl hierzu die unterschiedlichen Auffassungen von Fenske, Hans: Konstitutionelle Monarchie und Frühe Republik Die Pfalz 1814–1933 In: Pfälzische Geschichte Band 2, hrsg von Karl-Heinz Rothenberger / Karl Scherer / Franz Staab / Jürgen Keddigkeit Kaiserslautern 2001, S 1–49 (hier, S 2) und Applegate (wie Anm 1), S 27 Vgl dazu jetzt die kritische Einschätzung von Clemens, Gabriele Berta: Spielball der Mächte? Die Rheinpfalz und die internationale Politik In: Baus, Martin / Becker Bernhard / Schwan, Jutta (Hg ): Bayern an der Blies 100 Jahre bayerische Saarpfalz (1816–1919) St Ingbert 2019, S 37–50 (hier, S 43) Vgl Applegate (wie Anm 1), S 27 Vgl Fenske (wie Anm 13), S 2
Der Weg zur Pfälzischen Mairevolution von 1849
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wurde von den „Bewohnern aller Provinzen dieses beglückten Reiches“ begrüßt, wie die „Neue Speyerer Zeitung“ jubelte, erfülle sie doch die „Wünsche des Zeitalters“16 und begründe die „schönsten Hoffnungen“ 17 Die Wirklichkeit freilich sah nicht so rosig aus Während Max Joseph noch im Juni 1816 zugesichert hatte, an „den bestehenden Gesetzen der Provinz“ nichts ändern zu wollen, war in der neuen Verfassung von einer rechtlichen Sonderstellung des Rheinkreises nicht die Rede 18 Die königliche Entschließung vom 22 /24 Mai 1818 versicherte zwar die Geltung der „Institutionen“, doch mit Modifikationen, „welche jene besonderen Institutionen erfordern“ 19 Das Reskript vom 5 Oktober 1818 garantierte zwar den „weitgehenden“ Fortbestand der Institutionen, doch die Auslegung dieser Garantie blieb strittig Es war dieser Umstand, der neben der drückenden Steuerlast dafür sorgte, dass sich der anfängliche Enthusiasmus zum neuen Herrscherhaus bei den Pfälzern rasch abkühlte 2 Die neue Elite. Politische und wirtschaftliche Turbulenzen Von der neuen verfassungsrechtlichen Lage profitierte in erster Linie eine bäuerlichbürgerliche Schicht Diese waren die Nutznießer einer revolutionären Enteignungsaktion: Mit der Versteigerung ihrer Besitztümer als Nationalgüter verloren Klerus und Adel ihre jahrhunderte alte Machtposition Im südpfälzischen Raum um Landau begannen die Versteigerungen bereits 1791, im übrigen Département wurden sie zwischen 1802 und 1804 bzw 1806 abgewickelt Diese Privatisierung der Nationalgüter schuf die Basis für eine bäuerlich-bürgerliche Eigentumsgesellschaft 20 Später gelang dem entmachteten Adel ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Neueinstieg, nicht zuletzt durch eine geschickte Heiratspolitik Der bildungsbürgerliche Teil dieser Schicht agierte schon bald als kleine, politische Elite, die in der Tradition aufgeklärter Männer stand, welche schon Ende des 18 Jahr-
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Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 6 Juni 1818 Nr 68 In den Ausgaben vom 30 Mai 1818 Nr 65 bis zum 11 Juni 1818 Nr 70 ist die bayerische Verfassung abgedruckt Vgl ebd vom 13 Juni 1818 Nr 71 Vgl Heydenreuter, Reinhart: Rechtsordnung und Justizverfassung der Pfalz In: Wittelsbach, Bayern und die Pfalz (wie Anm 7), S 79–101 (hier, S 82) Vgl Ehberger, Wolfgang: Ein wichtiger Schritt zu Rechtstaat und Freiheit Die bayerische Verfassung von 1818 und die erste Ständeversammlung 1819, S 16–28 (hier, S 25) In: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg ): Einsichten + Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Bayerns Weg zur Demokratie: Streiflichter zu 200 Jahren Geschichte München 2018 Vgl die detailreiche Dissertation von Martin, Michael: Emigration und Nationalgüterveräußerung im pfälzischen Teil des Departements du Bas-Rhin Mainz 1980 Seit 1793 gab es in der nachmaligen Pfalz keinen Adelstand mehr; die Privatisierung der Nationalgüter vertrieb die katholische Kirche von ihrer jahrhundertealten Position als mächtigster Grundbesitzer und schuf die Basis für eine bäuerlich-bürgerliche Eigentumsgesellschaft
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Hannes Ziegler
hunderts im alten Reich die Grundlagen für den liberalen Verfassungsstaat gelegt hatten 21 Mit ihrem intellektuellen Rüstzeug prägte diese Elite das politische Leben ihrer Heimat für die nächsten Jahrzehnte: Juristen, Journalisten, protestantische Pfarrer, Ökonomen und Ärzte, durch verwandtschaftliche Beziehungen und Einheiratungen miteinander verbunden, bildeten den Stamm dieser Intelligenzia 22 Schon sehr früh gelang es ihren Mitgliedern, Schlüsselpositionen in allen Bereichen der Politik einzunehmen: Georg Friedrich Rebmann23 und Johannes Birnbaum24, beides aktive Jakobiner, leiteten von 1816 bis 1832 das Appellationsgericht Zweibrücken, die höchste gerichtliche Instanz des Rheinkreises Unter ihrer Ägide wuchs eine aufgeklärte, liberale Juristengeneration heran: Richter am Appellationsgerichts, Rechtsanwälte und Notare, die seit 1819 auch in der bayerischen Ständeversammlung markante Akzente setzten 25 In Heidelberg, Straßburg oder Metz, später auch in Würzburg, hatten sie „ihr“ französisches Recht studiert, das durch den Zweibrücker Verleger Georg Ritter in deutscher Übersetzung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde Bis zur Märzrevolution von 1848 zeigte diese Elite eine bemerkenswerte personelle Kontinuität 26 Zu dieser Elite gehörten Journalisten, die freier als sonst wo im Deutschen Bund über politische Geschehnisse berichten und sie kommentieren konnten In der „Speye21 22
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Vgl Fenske, Hans: Frühliberalismus in Deutschland In: Fischer Michael u a (Hg ): Aufklärung, Freimaurerei und Demokratie im Diskurs der Moderne Festschrift zum 60 Geburtstag vom Helmut Reinalter Frankfurt/Main 2003, S 345–365 Diese Elite könnte zahlenmäßig erfasst werden, wenn man die Journalisten in den führenden Redaktionsstuben, die Vorstände in den politischen Vereinen, die politisch aktiven protestantischen Pfarrer, die Lehrer, Ökonomen, Ärzte und Studenten summierte Noch erhellender wäre es, deren verwandtschaftlichen Beziehungen zu verfolgen Ansätze für ein solches Projekt liegen schon vor: Vgl die detaillierte Studie von Böttcher, Rudolf H : Die Familienbande der pfälzischen Revolution von 1848/49 Ein Beitrag zur Sozialgeschichte einer bürgerlichen Revolution Sonderheft des Vereins für Pfälzisch-Rheinische Familienkunde Band 14, Heft 6 Ludwighafen 1999, S 257–320 Forschungsansätze bei Baumann, Kurt: Die Kontinuität der revolutionären Bewegungen in der Pfalz von 1792–1849 In: Hambacher Gespräche (wie Anm 8), S 1–19 sowie Süß, Edgar: Die Pfälzer im „Schwarzen Buch“ Ein personengeschichtlicher Beitrag zur Geschichte des Hambacher Festes, des frühen pfälzischen und deutschen Liberalismus Heidelberg 1956 Vgl auch Ziegler (wie Anm 9), S 183–345 sowie ders unter Mitarbeit von Anton Doll: Das pfälzische Notariat im 19 Jahrhundert Mit einem Verzeichnis der Notare In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 81 Band Speyer 1983, S 407–485 Vgl Willi Kestel: Vom Jakobiner zum königlich bayerischen Justizbeamten: Andreas Georg Friedrich von Rebmann (1768–1824) In: Recht Gesetz Freiheit 200 Jahre Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken Veröffentlichung der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd 121, im Auftrag der Stadt Zweibrücken und der Siebenpfeiffer-Stiftung herausgegeben von Charlotte Glück und Martin Baus Koblenz 2015, S 123–128 Zu Birnbaum vgl Ziegler, Hans: Johannes Birnbaum (1763–1832) – ein Jakobiner aus Queichheim Landau 1982 Vgl hierzu: Glück, Charlotte: Zweibrücken, eine Wiege der deutschen Demokratie In: Recht Gesetz Freiheit (wie Anm 23), S 83–91 (hier, S 84 f ) Vgl hierzu Baumann (wie Anm 22) Vgl auch: Schneider, Erich: Hambacher Fest und 1848/49er Revolution In: Die Pfälzische Revolution von 1848/49, hrsg im Auftrag der Stadt Kaiserslautern und des Bezirksverbands Pfalz Kaiserlauter 1999, S 23–28
Der Weg zur Pfälzischen Mairevolution von 1849
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rer Zeitung“ besaßen die Pfälzer seit ihrer Gründung durch den schwäbischen Buchdrucker Jakob Christian Kolb im November 1814 ein Organ, dessen Einfluss auf die pfälzische Politik immens war Als der Regierungsrat Johann Friedrich Butenschoen, auch er ein ehemaliger Jakobiner, im Jahre 1816 die Redaktionsgeschäfte übernahm, avancierte das Blatt als „Neue Speyerer Zeitung“ rasch zum Sprachrohr des pfälzischen Frühliberalismus Die Karlsbader Beschlüsse von 1819 mit ihren scharfen presserechtlichen Auflagen zwangen Butenschoen aber schon 1821, die Redaktionsleitung nieder zu legen 27 Nach dem Tod des alten Kolb im Mai 1826 übernahm sein Sohn Georg Friedrich die Redaktionsleitung Kraft seiner Persönlichkeit prägte dieser Autodidakt den pfälzischen Journalismus der folgenden Jahrzehnte: Kolb „machte“ Politik – in der Vormärzzeit und 1848, als Mitglied des Vorparlaments, des Fünfziger Ausschusses, der Frankfurter Nationalversammlung und des neuen bayerischen Landtags von 1849 28 Einen wesentlichen Teil dieser Elite stellte die protestantische pfälzische Pfarrerschaft, deren lutherische und calvinistische Vertreter sich seit 1818 zu einer Kirche zusammengeschlossen hatten Ihr theologisches Rüstzeug hatten die meisten von ihnen in Heidelberg erhalten, wo Heinrich Eberhard Gottlob Paulus von 1811 bis 1844 als Professor für Theologie lehrte und Generationen von Theologiestudenten den calvinistisch-rationalistischen Weg wies Als Anhänger des modernen Rechtsstaatsgedankens schärfte Paulus seinen Studenten auch den Sinn für staatsrechtliche Reformen 29 Führende Pfälzer Liberale, wie der Neustadter Arzt Dr Philipp Hepp, waren Calvinisten; Neustadt und Frankenthal besaßen eine starke calvinistische Tradition Den orthodoxen Gegenpol zum aufgeklärten Heidelberg bildete die Universität Erlangen Ihre lutherisch-theologische Fakultät, die einzige dieser Ausrichtung im Königreich, übte zunächst nur eine geringe Anziehungskraft auf die pfälzischen Theologieanwärter aus Die presbyterianischen Gemeindeverfassungen der Unionskirche beförderten das Streben nach politischer Mitbestimmung und Selbstverwaltung, sodass sich bald ein Bündnis zwischen kirchlichem Rationalismus und politischem Liberalismus anbahnte, das in Butenschoen eine eindrucksvolle Verkörperung fand Bis 1825 wirkte dieser vielseitig begabte Mann neben seinen redaktionellen Verpflichtungen bei der „Neuen Speyerer Zeitung“ als Kreisschulrat und weltlicher Kirchenrat Von 1818 bis 1833 stand der Mitbegründer der pfälzischen Kirchenunion an der Spitze des Speyerer Konsistoriums: Butenschoens neuer Katechismus behielt in der Unionskirche bis 1854 seine Gültigkeit Neben Butenschoen machte sich der Zweibrücker Pfarrer Philipp Casimir 27 28
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Vgl Müller, Friedrich: Gegen Restauration und Zensur Johann Friedrich Butenschoen und die Neue Speyerer Zeitung 1816–1821 In: Pfälzer Heimat Heft 3, Jg 33 Speyer 1982, S 137–145 Zu Kolbs politischem Einfluss immer noch grundlegend: Krautkrämer, Elmar: Georg Friedrich Kolb (1808–1884) Würdigung seines journalistischen und parlamentarischen Wirkens im Vormärz und in der deutschen Revolution Ein Beitrag zur pfälzischen Geschichte des 19 Jahrhunderts und zur Geschichte des deutschen Frühliberalismus Meisenheim am Glan 1959 Vgl Graf, Friedrich Wilhelm: Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob In: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 20, Berlin 2001, S 135 f
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Heintz, Mitglied und Sekretär der Unionssynode in Kaiserslautern (1818), früh für die Kirchenunion stark 30 Das Verhältnis zwischen dem rationalistisch geprägten Speyerer Konsistorium und dem orthodox neulutherisch ausgerichteten Oberkonsistorium in München blieb naturgemäß angespannt 31 Die politischen Rahmenbedingungen für die oppositionelle Avantgarde waren günstig, was zum einen dem neuen verfassungsrechtlichen Rahmen, zum anderen wichtigen Personalentscheidungen der bayerischen Regierung geschuldet war: Als erster pfälzischer Regierungspräsident („Hofkommissär“, später „Generalkommissär“) hatte Franz Xaver von Zwackh zu Holzhausen, ein Logenbruder und Protegé des Grafen von Montgélas, dafür gesorgt, dass die Verwaltungs- und Justizbeamten aus der Revolutionszeit übernommen wurden, selbst wenn sie damals eine aktive Rolle gespielt hatten Von Zwackh startete agrarpolitische Initiativen, die von seinem Nachfolger weitergeführt wurden: Joseph von Stichaner, den mit seinem Vorgänger eine Schwägerschaft verband32, sorgte als studierter Rechts- und Staatswissenschaftler zudem für eine zweckmäßige Verwaltungsstruktur, deren wichtigstes Ergebnis die Übernahme einer aus dem revolutionären Departementsrat („Conseil général“) hervorgegangene Selbstverwaltungskörperschaft war: Der pfälzische Landrat – er konstituierte sich Anfang Dezember 1816 – nahm die fiskalischen Interessen des Rheinkreises wahr; er wirkte als staatliches Kontrollorgan der Kreisregierung und als Interessensvertretung der Bevölkerung Ein wichtiges Gremium bildete die Zweite Kammer des bayerischen Landtags Da sie ständisch („Ständekammer“) zusammengesetzt war, blieben die zur liberalen Opposition gehörenden Pfälzer dort unterrepräsentiert, ein Zustand, der sich erst mit dem neuen Landtagswahlgesetz vom 4 Juni 1848 änderte 33
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Zu der Vereinigung von Reformierten und Lutheranern zur pfälzischen Unionskirche vgl jetzt: Bonkoff, Bernhard H / Baus, Martin / Kremb, Klaus u a : MUTHIG VORANSCHREITEN: Beiträge zum 200 Jubiläum der Kirchenunion in der Pfalz, hrsg vom Historischen Verein der Pfalz, Kreisgruppe Kusel St Ingbert 2018 Vgl Blessing, Werner K : Pfälzer ‚Eigen-Sinn’ – Der Unionsprotestantismus im Königreich Bayern In: Wittelsbach, Bayern und die Pfalz (wie Anm 7), S 185–250 Stichaners Gattin war eine Nichte der Ehefrau von Zwackhs Im Februar 1832 wurde Stichaner abgelöst Seine Position war geschwächt worden durch die Kritik im Vorfeld des Hambacher Festes: Warf ihm München zu große Nachgiebigkeit vor, so stand Stichaner in den Augen seines früheren Mitarbeiters, des Landkommissars Philipp Jakob Siebenpfeiffer, für eine intransigente Politik, die blind war für die Zeichen der Zeit Unter Stichaners Nachfolgern Ferdinand Freiherr von Stengel und Carl Fürst von Wrede kamen für den Rheinkreis dann härtere Zeiten Vgl Scheidt, Helmut: Franz Joseph Wigand von Stichaner In: Das Hambacher Fest 27 Mai 1832 Männer und Ideen, hrsg von Kurt Baumann u a , 2 Aufl Speyer 1982, S 287–303 (hier, S 301) Vgl auch Nordblum, Pia: Der „Sinai der Liberalität“? Die Pfalz und die Gemeinde Göllheim zwischen den politischen Koordinaten Paris, München und Frankfurt/Berlin (1792–1848/1871) In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz Band 101 Speyer 2003, S 275–303 (hier, S 290) Vgl Doeberl, Michael: Ein Jahrhundert bayerischen Verfassungslebens 2 Aufl München 1913, S 104–109
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Nach dem Sturz des Grafen von Montgélas im Jahre 181734 und als Folge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 verschlechterte sich das politische Klima im Königreich In der ersten bayerischen Ständeversammlung (1819) konnten die Bedenken ob der scharfen presserechtlichen Auflagen der Beschlüsse noch zu Gehör gebracht werden Im Sommer 1824 wurden die Karlsbader Beschlüsse in Bayern ohne Widerstand verlängert Die zweiten Ständeversammlung (1825) war in ihrer Freiheit aber schon erheblich eingeschränkt Als nach dem Tod von Maximilian I Joseph im Oktober 1825 sein Sohn Ludwig den Königsthron bestieg, schlugen dem neuen König große Erwartungssympathien entgegen: der junge Monarch lockerte dann auch die Pressezensur und nahm ein ehrgeiziges innenpolitisches Reformprogramm in Angriff, das aber in fast allen Punkten an dem Widerstand der Kammer der Reichsräte scheiterte 35 Dieser neuen Avantgarde – sie machte nur etwa 1, 2 % der Gesamtbevölkerung aus36 – stand die überwiegende Masse der Pfälzer Bauern, Winzern, Handwerkern, Kleingewerbetreibenden, Taglöhner und Dienstboten gegenüber,37 deren Interesse an politischen Themen meist dann geweckt war, wenn ihre Existenz betroffen war Dies war im Sommer 1816 der Fall In diesem „Jahr ohne Sommer“38 hatten sich auch im Rheinkreis die Folgen einschneidender klimatischer Veränderungen in aller Härte gezeigt: Hagelschlag verwüstete die Felder, vernichtete die Getreideernte Der noch ungebändigte Rhein überschwemmte die Flussregionen Die Kartoffelknollen verfaulten im Boden, in den Weinbergen erfroren die Reben Als Folge dieser Miseren explodierten die Getreideund Mostpreise Nach dem Verlust des französischen Marktes – das benachbarte Königreich hatte sich seit 1815 durch eine Zollmauer abgeschirmt – verschlechterte sich die Exportlage für die Pfälzer Bauern und Winzer, zumal die an den Rheinkreis grenzenden Staaten, Preußen, Baden, Württemberg und Hessen, dem französischen Beispiel folgten und ebenfalls Zollschranken errichteten Der Rheinkreis, einst Teil eines großen Wirtschaftsraums, hatte das Nachsehen Ohne eigenen Zollschutz, von allen 34
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Graf Montgélas stürzte Anfang Februar 1817 über eine Intrige, die der junge Kronprinz Ludwig und Feldmarschall Karl Philipp Fürst von Wrede eingefädelt hatten Die frankophile Ausrichtung des selbstbewussten Grafen war der preußenfreundlichen Kamarilla um den Kronprinzen schon lange ein Dorn im Auge Mit Graf Montgélas verschwand einer der letzten Vertreter der aufgeklärten, vorrevolutionären Elite Bayerns Vgl Renner, Helmut: Fürst Karl Philipp von Wrede 1767–1838 In: Das Hambacher Fest (wie Anm 32), S 307–325 (hier, S 309 f ) Von den Reformen Ludwigs I passierte nur eine den Landtag: Seit 1829 verfügte auch das rechtsrheinischen Bayern über einen Landrat Vgl Götschmann, Dirk: Der bayerische Landtag und die Pfalz 1819–1848 In: Die Pfalz und Bayern 1816–1956, hrsg Von Hans Fenske Speyer 1998, S 41–65 Vgl Nestler, Gerhard: Die frühliberale Bewegung in der Pfalz In: Freiheit, Einheit und Europa (wie Anm 23), S 185–210 (hier, S 200) 1813 lebten dort etwa 430 000 Menschen Knapp zwanzig Jahre später zählte der Rheinkreis bereits etwa 520 000 Einwohner und war damit der bevölkerungsreichste Kreis Bayerns Vgl ebd , S 201 Vgl Behringer, Wolfgang: Tambora und das Jahr ohne Sommer Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte München 2015
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Seiten mit Zollschranken umgeben, mussten die Pfälzer Händler ihre Waren verzollen, auch wenn sie ins rechtsrheinische Bayern ausgeführt wurden 39 Von dieser prekären Lage waren vor allem die Winzer und Weinhändler betroffen Auch die Getreide-, Tabak- und Holzhändler, die Branntwein- und Papierhändler, selbst die Gienanth’schen (Winnweiler/Eisenberg/Trippstadt) und Krämer’schen (St Ingbert) Eisenwerke litten unter Absatzschwierigkeiten Ausländische Fertigprodukte dagegen, Textilprodukte aus England, strömten ungehindert ins Land Was den heimischen Abnehmern zupass kam, trieb viele Heimwerkstätten, Leinwand- und Seidenwebereien, Baumwollspinnereien und Tuchmacher in den Ruin Bereits 1818 musste die Baumwollspinnerei Karcher (Kaiserslautern) stillgelegt werden Die Pirmasens Schuhindustrie kam wegen der französischen Zollgrenzen fast ganz zum Erliegen 40 Bei den Pfälzer Bauern, dank der revolutionären Agrarverfassung jetzt Eigentümer und freie Unternehmer, hatte die seit alters her gepflegte Tradition der Realteilung zu einer immer stärkeren Parzellierung des landwirtschaftlichen Besitzes geführt – mit all den daraus erwachsenden negativen Folgen Die Menschen ernährten sich in ihrer Not vom Saatgut, aßen unreife Kartoffeln; zu Tausenden verließen sie ihre Heimat 41 Die Kommunen richteten „Wohlfahrtsausschüsse“ ein; der Regierungspräsident hob kurzfristig die Handelsfreiheit auf, erteilte ein Exportverbot und verbot das Schnapsbrennen Nach 1819 beruhigte sich die Lage Gute Erntejahre ließen die Preise sinken, was zur Verarmung kleinerer Getreidebauern führte Da diesen das weiterhin geltende revolutionäre Hypothekenrecht die Aufnahme von Realkrediten verbot, sahen sich viele Getreidebauern gezwungen, ihren Hof zu versteigern 42 Nach einer Phase klimatischer Konsolidierung suchten den Landstrich ab 1827/28 wieder schwere klimatische Veränderungen („Kältewinter“) heim Frühjahrsfrost und Sommerhagel führten zu Ernteeinbrüchen, trieben die Getreidepreise in die Höhe Vor allem in der Westpfalz grassierte massenhafte Armut Erneut suchten viele der
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Vgl Weidmann (wie Anm 11), Otterbach 1999, S 403 Vgl auch: Gruber, Hansjörg: Die Entwicklung der pfälzischen Wirtschaft 1816–1834 unter besonderer Berücksichtigung der Zollverhältnisse Saarbrücken 1962, S 67 Vgl den Überblick von: Kreutz, Wilhelm: Hambach 1832 Deutsches Freiheitsfest und Vorbote des europäischen Völkerfrühlings, hrsg von der Landeszentrale für Politische Bildung RheinlandPfalz, 4 Aufl Mainz 2016 (2007) Vgl auch Imhoff, Andreas: Kaiserslautern vor der Pfälzischen Revolution – Regierungspräsidenten berichten In: Kaiserslauterer Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde Band 12 (2012) Kaiserslautern 2012, S 285–292 (hier, S 287) Vgl Gottlieb, Norbert: „Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau“ Die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts, o O 2009 sowie Siegl, Walther: Die Pirmasenser Auswanderung Im Jahre 1816 drohte der Westrich zu entvölkern In: Pfälzische Heimatblätter, Jg 3, Januar 1955, S 15 Vgl auch Wilms, R : Auswanderungssucht in der Westpfalz 1816 Dargestellt an Regierungsverordnungen im Zweibrücker Wochenblatt In: Pfälzische Heimatblätter, Jg 4, Januar 1956, Nr 1 Vgl Weidmann (wie Anm 11), S 270 sowie S 319–330
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vom Elend Betroffenen ihr Heil in der Auswanderung 43 Aus napoleonischen Tagen drückte weiter eine hohe Schuldenlast Auch die weitgehende Verstaatlichung der Gemeindewälder („verstaatlichte Forstwirtschaft“) war eine „Erblast“ aus der Franzosenzeit, von der in erster Linie der bayerische Staat mit seinem „rechtlich fundierten Regelungs- und Kontrollanspruch“ profitierte Zu einem weiteren Nutznießer dieser Rechtslage zählte die Berufsgruppe der Förster Sie setzte sich jetzt „als Experten des Waldes (…) endgültig und exklusiv durch “44 Die Weiterwirkung dieser „verstaatlichten Forstwirtschaft“ hatte zur Folge, dass die Holz- und Forstdelikte in Notzeiten dramatisch in die Höhe schnellten, da sich die Menschen wie seit alters her weiter aus „ihrem“ Wald versorgten 45 Durch ausländische Holzhändler, die den Holzpreis künstlich in die Höhe trieben, wurde dieser Missstand verschärft Nur bedingt vermochte die Regierung durch die Einrichtung von „Staatsholzhöfe“, Orten von jährlichen Versteigerungsaktionen auf Kreditbasis, das Elend der Armen lindern 46 Dieser Missstand fiel in eine Zeit, da die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen größerer Länder einer einheitlichen Zollpolitik im Wege stand: Preußen und Österreich hielten recht wenig von einer einheitlichen Wirtschaftspolitik, Bayern und Württemberg verfolgten einen protektionistischen Kurs und Baden, Nassau, Hessen-Darmstadt steuerten einen Freihandelskurs Schließlich einigten sich im Januar 1828 Bayern und Württemberg auf einen zollrechtlichen Vertrag („Süddeutscher Zollverein“), der im Oktober 1828 in Kraft trat und dem Königreich Zollfreiheit für Eisen-, Stahlprodukte und Wein brachte Bedingung dieses verwaltungsintensiven Vertrages war allerdings, dass der Rheinkreis mit einer Zolllinie umgeben werden musste 47 Im Februar 1828 gelang Preußen und Hessen-Darmstadt die Einigung in zollrechtlichen Fragen Zwischen Preußen und Hessen-Darmstadt sowie Bayern und Württemberg kam es Ende Mai 1829 zu einem Handelsvertrag, in dem Preußen seinen Partnern eine 50 %ige Einfuhrzollsenkung zusicherte, die auch für den Rheinkreis Geltung haben würde, wenn dort eine Zolllinie eingerichtet war Im Dezember 1829 erfolgte die 43
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Bereits im 18 Jahrhundert waren zehntausende „Palatines“ in die Vereinigten Staaten von Amerika geflüchtet Vgl Paul, Roland: Auswanderung und Emigration aus der Pfalz im 19 und 20 Jahrhundert In: 300 Jahre Pfälzer in Amerika 300 Years Palatines in America, bearb von Roland Paul Landau 1983, S 62–79 Schon vor der Französischen Revolution und kurz nach dem Wiener Kongress hatten viele Pfälzer ihre Heimat verlassen Vgl Schmahl, Helmut: Die deutsche und rheinland-pfälzische Nordamerikaauswanderung im 18 und 19 Jahrhundert In: Aufbruch nach Amerika 1709–2009 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland-Pfalz Schriften des TheodorZink-Museums, hrsg vom Referat Kultur der Stadt Kaiserslautern Kaiserslautern 2009, S 9–36 (hier, S 21 f ) Vgl Greve, Bernd-Stefan: Der versperrte Wald Ressourcenmangel in der bayerischen Pfalz (1814– 1870) Köln Weimar Wien 2004, S 67 und 76 Vgl ebd , S 65–67 sowie S 75 Über die Bedeutung des Pfälzer Waldes als wirtschaftliche und soziale „Versorgungsstätte“ vgl ebd , S 42–50 Vgl Gruber (wie Anm 39), S 99 Vgl Fenske, Hans: Rheinbayern 1816–1832 Die schwierige Provinz am Rhein In: Freiheit, Einheit und Europa (wie Anm 36), S 69
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Eingliederung des Rheinkreises in den Süddeutschen Zollverein Ab Januar 1830 war der Kreis mit einer Mautlinie umgeben 48 Dieser wichtige Schritt hin zu einer Zollunion wurde von den Pfälzern akut aber nur negativ gesehen: die Einrichtung von Oberzollämtern, von unterstellten Zollbehörden und Zollstationen, der damit verbundene immense bürokratische Aufwand, die Bevorzugung von Altbayern bei der Besetzung gut dotierter Zollbeamtenstellen – all das sorgte für Unmut, provozierte den Protest von Journalisten, Landtagsabgeordneten49 und des Landrates: die Pfälzer Landwirte, die Weinbauern, Tabakbauern und Kleingewerbetreibende mussten für ihre Exportwaren weiter einen Aufschlag bezahlen, selbst für Waren, die ins rechtrheinische Bayern expediert wurden Als Folge davon schnellten die Schmuggeldelikte rapide in die Höhe Die Missernte von 1831 verstärkte die allgemeine Not Nicht nur auf dem Land, auch in manchen Städten litten die Menschen, zum Beispiel in Dürkheim oder Frankenthal, wo im Frühsommer 1832 „Getreide-Tumulten“ ausbrachen 50 Wie anno 1790 pflanzten die Pfälzer jetzt „Freiheitsbäume“, sichtbare Zeichen ihres Protestes Nach dem Zollvereinigungsvertrag zwischen dem hessisch-preußischen und dem süddeutschen Zollverein im März 1833 beseitigte neun Monate später der preußisch dominierte Deutsche Zollverein den zollrechtlichen Anachronismus im Bund Doch die wirtschaftlichen Missstände in der Pfalz besserten sich nur langsam; die Auswanderungen hielten an 51 3 Wirtschaftliche und freiheitlich-nationale Proteste. Die Reaktion der Obrigkeit Die Pariser Julirevolution von 1830 und die Belgische Revolution Ende August 1830 entfachten weit über die Grenzen des Deutschen Bundes hinaus die Hoffnungen der Liberalen auf eine Veränderung der politischen Zustände Mächtiger und romantischer aber war die Wirkung, welche die Staaten des Bundes nach der Niederschlagung der polnischen Nationalbewegung durch zaristische Truppen im Oktober 1831 erfasste Zehntausende polnischer Emigranten zogen in den folgenden Wochen und 48 49 50
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Vgl Amtsblatt der Königlich Bayerischen Regierung des Rheinkreises vom 4 Dezember 1829 Nr IX Vgl Savoye, Friedrich: Freies Wort Die Mauth im königlich bayerischen Rheinkreise Speyer 1830 Vgl hierzu: Schiffmann, Dieter: „Es herrscht jetzt Freiheit und Gleichheit“ Die „niedere Volksklasse“ in der Pfalz und das Hambacher Fest In: Einheit, Freiheit, Europa (wie Anm 36), S 291– 310 Vgl auch die Ausgabe des „Dürkheimer Wochenblatts“ vom 26 August 1832, Nr 4 Hierin werden die gravierenden Folgen der Maut für die Pfälzer Weinbauern angeprangert: kostspieliger Weinbau, der Zwang sich zu verschulden, der Zwangsverkauf von Weinfeldern Vgl Becker, Albert: Die Wiedererstehung der Pfalz: Zur Erinnerung an die Begründung der bayerischen Herrschaft auf dem linken Rheinufer Beiträge zur Heimatkunde der Pfalz Kaiserslautern 1916, S 34 Vgl auch Zink, Albert: Die pfälzische Auswanderung des 19 Jahrhunderts im Lichte des pfälzischen Wirtschaftslebens In: Pfälzer Heimat, Jg 5, 1954, S 56–60
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Monaten gen Westen Dort fanden sie nicht nur begeisterte Aufnahme und großzügige Unterstützung: Die Polenverein, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen, agierten jetzt als organisatorische Schaltstellen der liberalen Opposition 52 Schon vor diesem revolutionären Wetterleuchten war in Bayern einiges in Bewegung gekommen Ende der 1820er Jahre hatten sich die „publizistischen Verkrustungen“ gelöst und das Aufkommen einer „‚Parteien‘-Presse“ im Königreich ermöglicht 53 In der Pfalz, wo das Klima für liberale Zeitungen günstiger war als sonst wo im Königreich, wurde die Dominanz der „Neuen Speyerer Zeitung“ jetzt durch Blätter durchbrochen, die sich offener und radikaler zu Zeitfragen äußerten:54 Johann Philipp Kohlhepps „Rheinbayerischer Anzeiger“, die „Deutsche Tribüne“ von Johann Georg August Wirth, der „Westboten“ von Philipp Jakob Siebenpfeiffer, der „Rheinbayerische Volksfreund wie der „Bürgerfreund“ des Sembacher Pfarrers Johann Heinrich Hochdörfer ritten die Polenwelle, vor allem verbanden sie ihr Engagement mit den aktuellen nationalen und freiheitlichen Forderungen 55 So belebend Revolution und Polensolidarität auf die Liberalen wirkten – die deutschen Fürsten zeigten sich verschreckt angesichts dieser stürmischen Sympathiewelle Schließlich nahm der bayerische König lokale Unruhen an der Universität München zum Anlass, Ende Januar 1831 mit einer scharfen Presseverordnung zu reagieren Doch die heftigen Gegenproteste in der neu gewählten Ständekammer56 nötigten den Monarchen nicht nur, seinen zuständigen Minister, Eduard von Schenk, schon im Mai 1831 zu entlassen, sie zwangen ihn auch, die gerade erlassene Presseverordnung im Sommer 1831 wieder zu kassieren Damit war ein Damm gebrochen: Liberale Journalisten, abgesichert durch mutige Verleger57, traten als „Wächter der Gesetzlichkeit, der bürgerlichen und politischen Freiheit“58 in Erscheinung Sie drängten auf konstitutionelle Reformen, forderten wirtschaftliche Verbesserungen, vor allem aber: die Abschaffung der verhassten Maut Somit war die Basis gelegt für eine neue Koalition Die Fürsprecher der kleinbürgerlichen Agrar- und Handwerkerschichten prangerten die Folgen der Maut an, forderten
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Vgl Kermann, Joachim: Pfälzisch-polnische Beziehungen vom Hambacher Fest bis zur Revolution von 1849 In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz Band 98 (2000), S 207–286 (hier, S 211–213) Vgl Schunk, Erich: Ohne Pressefreiheit keine Bürgerfreiheit Liberale Presse und Pressverein in der Pfalz In: Freiheit, Einheit und Europa (wie Anm 36), S 135–184 (hier, S 145) Vgl ebd , S 145 ff Vgl ebd , S 143–160 Die Ständekammer von 1831 unterschied sich von den vorangegangenen Landtagen durch ihre Zusammensetzung: In der Zweiten Kammer von 1831 dominierten die Liberalen, die derart selbstbewusst agierten, dass diese Session als „stürmischer Landtag von 1831“ in die bayerische Verfassungsgeschichte eingegangen ist Vgl Beiträge zur Geschichte des Hambacher Festes 1832, bearb von Dr Adam Sahrmann Landau 1930, S 40 f Götschmann relativiert die Bedeutung dieses „oppositionellen“ Landtags Vgl Götschmann (wie Anm 35), S 63 Zu der politischen Rolle der Verleger im Rheinkreis vgl Schunk (wie Anmerkung 53), S 144 f Zit bei ebd , S 152
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soziale Reformen In dem bürgerlich geprägten Liberalismus sahen sie einen natürlichen Bündnispartner 59 So wuchs die frühliberale Bewegung in der Pfalz durch die Integration des bäuerlichen, handwerklichen und handelsbürgerlichen Protestpotenzials zu einer regelrechten Massenbewegung heran, angeführt von einer akademisch gebildeten Avantgarde 60 Eine Bündelung all dieser Kräfte versuchte der „Deutschen Preß- und Vaterlandsverein“, der auf Initiative des aus dem rechtsrheinischen Bayern in die Pfalz geflüchteten Journalisten und Juristen Johann Georg August Wirth im Februar 1832 gegründete worden war Die Leitung dieser weit über die Grenzen der Pfalz wirkenden ersten politischen „Massenorganisation in Deutschlands“61 lag in den Händen des Zweibrücker Landtagsabgeordneten Friedrich Schüler und der Advokaten Joseph Savoye und Ferdinand Geib Dieser Verein, dessen pfälzische Mitglieder sich zu gut 90 % aus der landwirtschaftlichen Bevölkerung, aus Handwerkern und Handelsbürgern zusammensetzte62, kämpfte für eine freie Presse, unterstützte Zeitungen und Journalisten Auf seine Initiative hin kam es Anfang 1832 zu einer Reihe pfalzweiter Versammlungen, Huldigungsfeiern und Verfassungsfesten63, die ihren Höhepunkt und Abschluss auf dem Hambacher Schlossberg fanden: Ende Mai 1832 kamen auf der alten „Kästenburg“64 etwa 20 000 Menschen zusammen, um für die „Einheit und Freiheit“ des Vaterlandes zu demonstrieren 65 Auf dem „Hambacher Fest“ fanden alle politischen Strömungen ein Forum, das Wirkung zeigte im ganzen Bund: Die Solidarität mit den geschlagenen Polen, die Forderung nach Freiheit und Einheit, die Klagen über die Maut zogen sich durch alle Reden und waren der kleinste gemeinsame Nenner, der die Festredner verband Doch was die Demonstranten im Einzelnen unter „Freiheit“ und „Einheit“ verstanden, war 59 60
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Vgl Thamer, Hans-Ulrich: Emanzipation und Tradition Zur Ideen- und Sozialgeschichte von Liberalismus und Handwerk in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts, in: Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, hrsg von Wolfgang Schieder Göttingen 1983, S 55–73 (hier, S 58) Zur Sozialstruktur der frühliberalen Bewegung vgl Nestler (wie Anm 36), S 202–206 Nestler stützt sich in seinem Überblick auf die Untersuchungen von Schieder, Wolfgang: Der rheinpfälzische Liberalismus von 1832 als politische Protestbewegung In: Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat Festschrift für Theodor Schieder, hrsg von Helmut Berding u a München/Wien 1978) Vgl auch Foerster, Cornelia: Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33 Sozialstruktur und Organisationsformen der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes Trier 1982) Vgl Jansen, Christian: Historische Zeitschrift, Band 296, Heft 1 (Februar 2013) Münster, S 222 f Vgl Nestler (wie Anm 36), S 206 Vgl Schunk (wie Anm 53), S 180 f Zu Geschichte der Ruine auf dem Hambacher Schlossberg vgl Frisch, Lutz: Deutschlands Wiedergeburt Neustadter Bürger und das Hambacher Fest 1832 Neustadt 2012 Frisch verweis darauf, dass die Ruine bereits vor dem Hambacher Fest Schauplatz etlicher „Feiern“ gewesen war; die Ruine war übrigens 1823 von begüterten Neustadter Bürgern ersteigert worden, zu denen auch der Landtagsabgeordnete Johann Jakob Schopmann aus Neustadt gehörte, ein Mitarbeiter Wirths und Vorsitzender der Neustadter Filiale des Pressvereins Vgl ebd , S 68–70 Vgl hierzu im Überblick: Kreutz (wie Anm 40)
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sehr verschieden Vor allem trennte sie die Wahl der Mittel zur Erreichung ihrer Ziele Bereits im Vorfeld des Festes, als es um die Bestimmung der konkreten Aufgaben des Preß- und Vaterlandsvereins ging, war es zwischen Wirth und Schüler zu erheblichen Differenzen gekommen 66 Unterschiedliche Auffassungen über die politischen Ziele und die Frage ihrer Umsetzung traten auch während der Hambacher Großdemonstration zu Tage Wirth sah in einem reformierten Deutschland – eine Art Wiedergeburt seiner Vorstellung des alten mittelalterlichen deutschen Reiches – die „Basis der Reorganisation Europas“ Seine Bedenken gegenüber der aktuellen französischen Politik provozierten Unmut bei den französischen Gästen, und seine Invektiven gegen den „Preß- und Vaterlandsverein“ empörten viele Festbesucher 67 Auch der in Zweibrücken aufgewachsene Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Jurist, Publizist, entlassener Landkommissär und die eigentliche „Triebfeder jener Bewegung“68, entwarf die Vision eines wiedergeborenen einigen und befreiten Deutschland, das seinen Platz in einem freien europäischen Völkerbund finden werde Doch Siebenpfeiffer meinte damit etwas anderes als Wirth Diesen Entwürfen standen die heftigen Fürstenbeschimpfungen des Frankenthaler Bürstenbinder Johann Philipp Becker gegenüber, der waffenlosen Proteste ebenso gering schätzte, wie „die mächtige Opposition der öffentlichen Meinung“ Becker forderte die „Allgemeine Volksbewaffnung“ und „gewaltsame Einführung der Republik“ 69 Sozialrevolutionär argumentierten auch der Burschenschaftler Daniel Friedrich Ludwig Pistor70, ein Verwandter Schülers, und der gerade suspendierte (Februar 1832) Pfarrer Hochdörfer Der Heidelberger Burschenschaftler Franz Strohmeyer glaubte, dass die Einheit nur durch eine blutige Revolution zu erreichen sei Moderater traten die Burschenschaftler Karl Heinrich Brüggemann und Christian Scharpff auf Scharpff spitzte den europäischen Gedanken Siebenpfeiffers zu und forderte die „Vereinigten demokratischen Staaten von Europa “71 66
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Schüler hatte laut einem Schreiben des württembergischen Außenministers von Beroldingen die Pläne Siebenpfeiffers, den „Preß- und Vaterlandsvereins“ in einen Verein zur Reform des Vaterlandes umzugestalten, in eine Art Nationalkonvent, „für halb verrückt“ erklärt Vgl Doll, Anton: Philipp Jakob Siebenpfeiffer / Johann Georg August Wirth In: Das Hambacher Fest (wie Anm 32), S 7–94 (hier S 63) Doll hebt in seinem Aufsatz auch auf Wirths spätere politische und historische Schriften ab, die von kolonialistischen und pangermanischen Zukunftsträumen durchzogen sind Vgl ebd , S 56 f Der Umstand, dass seine gegen die aktuelle französische Politik gerichteten Passagen in der späteren Festbeschreibung Wirths fehlen, zeigt, wie polarisierend sie an jenem 27 Mai gewirkt haben müssen Vgl Wirth, Johann Georg August: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach Neustadt 1832 (Nachdruck Neustadt 1981), S 41–48 Vgl Baus, Martin: Wo Hambach gezeugt wurde In: Baus (wie Anm 13), S 79–102 (hier, S 79) Vgl Schneider, Erich: Johann Philipp Becker 1809–1886 In: Das Hambacher Fest (wie Anm 32), S 205–237 (hier, S 209 ) Vgl Valentin, Veit: Das Hambacher Nationalfest, Nachdruck Frankfurt 1982, S 47 Vgl dazu: Baus, Martin und Paul, Roland: „Ihre Gedanken bleiben frei …“ Die „Hambacher“ – Biographische Skizzen In: Freiheit, Einheit und Europa (wie Anm 36), S 241–290, hier, S 266 (Brüggemann), S 262 f (Scharpff) und S 273 (Strohmeyer)
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In den Augen dieser radikalen Avantgarde gerierten sich die bürgerlichen Festredner doch allzu sehr als „Juste-milieu-Apostel“, wie Becker höhnte 72 Tatsächlich verweist dieses Pejorativum, wie Beckers grundsätzliche Verachtung für die „gutmütige(n), nationale(n), schwarzrotgolde(n) Revolution, welche sich mit der Hoffnung auf deutsche Einheit und Größe und mit politischen Träumereinen sättige“73, auf eine „rote Linie“, die das Lager der Hambacher Demonstranten durchlief Denn so wie es bei den „Hambachern“ einen kleinsten gemeinsamen Nenner gab, so trennte sie auch ein größter Unterschied: Die Anhänger von Wirth, Siebenpfeiffer und Schüler wollten für ihre nationalen und liberalen Ziele nur auf dem gesetzlichen vorgegebenen Weg voranschreiten Die führenden Exponenten der sozialrevolutionären Demonstranten aber zeigten sich bereit zu einem revolutionären Putsch Letztendlich verliefen all diese Pläne im Sande Die bürgerlichen Festorganisatoren konnten sich nicht darauf verständigen, wie es denn jetzt weitergehen sollte Das unterschied sie von ihren radikaleren Konkurrenten, das unterschied sie aber auch von den Machthabern in Frankfurt und München Dort wusste man sehr genau, wie auf solch „scandalöse“74 Vorfälle reagiert werden musste: Unmittelbar nach dem Fest war gut die Hälfte des bayerischen Heeres unter dem Kommando des Fürsten Carl Philipp von Wrede für acht Wochen im Rheinkreis stationiert 75 Die direkten bundesweiten Ordnungsmaßnahmen vom 6 Juni, die „Zehn Artikel“ vom 5 Juli 1832 zeigten Wirkung Die Oppositionsbewegung zerstreute sich: Pistor, Schüler, Savoye und Geib fanden in Frankreich Unterschlupf; andere flohen in die Schweiz Siebenpfeiffer und Wirth wurden verhaftet und mit weiteren „Hambachern“ vor Gericht gestellt Ihre Auftritte vor dem Landauer Assisengericht im Sommer 1833, die Freisprüche der Geschworenen bedeuteten einen letzten Sieg 76 Ihre erneute Verhaftung und Verurteilung schienen indes die Warnungen des badischen Verfassungsrechtlers Karl von Rotteck zu bestätigen, der im Vorfeld vor der Hambacher Aktion gewarnt hatte 77 Einige tauchten nun ab in den politischen Untergrund, wo sich die radikalen Kräfte noch am erfolgreichsten zeigten: Becker organisierte spektakuläre Gefangenenbefreiungen, wie die von Jacob Venedey aus dem Frankenthaler Gefängnis, sowie die anderer, in Frankfurt Inhaftierter,78 bevor auch er in die Schweiz floh Auch Siebenpfeiffer gelang die Flucht, was sein 72 73 74 75 76 77
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Zit bei Schneider (wie Anm 69), S 208 Zit bei ebd So quittierte der Staatskanzler des Kaisertums Österreich, Klemens Lothar Fürst Metternich, das Ereignis Vgl Valentin (wie Anm 70), S 137 Vgl Martin, Michael: „In strenger Vollziehung der Gesetze“ Die Zeit der Reaktion nach dem Hambacher Fest In: Freiheit, Einheit und Europa (wie Anm 23), S 311–332 (hier S 315 f ) Vgl ebd S 326–329 Vgl Boldt, Hans: „Das Vaterland hat einen seiner edelsten Söhne verloren …“ Karl von Rotteck im Urteil seiner Zeit In: Becht, Hans-Peter / Grothe, Ewald (Hrsg ): Karl von Rotteck und Karl Theodor Welcker Liberale Professoren, Politiker und Publizisten Baden-Baden 2018, S 75–88 (hier, S 78 f ) Vgl Schneider (wie Anm 69), S 213
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Mitstreiter Wirth, der sich lieber als Märtyrer und Justizopfer sah, mit wütender Empörung quittierte 79 Flucht oder Auswanderung erschien für viele jetzt eine existenzielle Alternative, ein Thema, das von Kolbs „Neuer Speyerer Zeitung“ begierig aufgenommen und reißerisch verarbeitet wurde 80 Andere blieben im Lande politisch aktiv: Wandernde Handwerksgesellen, über die Grenzen hinweg in radikalen Zirkeln organisiert, hielten konspirative Zusammenkünfte frühkommunistischer Geheimbünde81 ab und sorgten bei den deutschen Einzelregierungen für erhebliche Unruhe, wie die minutiös angefertigte Aktenberichte der Ende Juni 1833 in Frankfurt eingerichteten Bundeszentralbehörde belegen Im Fokus dieser Untersuchungskommission stand die Propagandatätigkeit radikaler Burschenschaftler, die über ihre Universitäten in Erlangen, Heidelberg, Heidelberg und München vernetzt waren 82 Fast zehn Jahre lang währte die von der Bundesbehörde erwirkte zweite vormärzliche Verfolgungswelle Nach dem Hambacher Fest gewann der konservativer Kurs Ludwigs I im Konzert mit den reaktionären Bundesbeschlüssen vom Juni/Juli 1832 und Dezember 1835 weiter an Fahrt Mit der Bestellung Karl von Abels zum (zunächst kommissarischen) Innenminister im November 1837 verschärften sich die Fronten derart, dass sogar die gewohnt königstreue Erste Kammer der Ständeversammlung sich in offene Opposition zur Staatsregierung stellte Wegen des ultramontanen Kurses von Abels, seiner großzügigen Kloster- und rigiden Bildungspolitik, kam es in der Pfalz immer wieder zu Unmut, zu lokalen Unruhen In der Presse sammelte sich Kritik gegen die Politik, aber auch die Person des Innenministers, dessen öffentliches Auftreten – ein Pistolenduell mit seinem Amtsvorgänger – doch recht zeitfern anmutete Und immer wieder rekurrierten die Kontrahenten in diesen innerbayerischen Auseinandersetzungen auf die besondere Rechtslage in der Pfalz, die alten französischen „Institutionen“: Von
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Vgl Zink, Albert: Siebenpfeiffers Flucht aus dem Frankenthaler Gefängnis In: Pfälzische Heimatblätter, Jg 7, September 1959, Nr 9, S 69 f Zu Wirths Reaktion vgl Baus, Martin: Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789–1845) und Johann Georg August Wirth (1798–1848) In: Recht Gesetz Freiheit (wie Anm 23), S 158–170 (hier, S 168) Vgl hierzu die kritischen Einlassungen Krautkrämers: Krautkrämer (wie Anm 28), S 55 f , dort das Zahlenbeispiel in der Anmerkung 125 auf S 56 Vgl LA SP, H 1, 262/1, hierin der revolutionäre Aufruf „Betrachtungen eines deutschen Arbeiters“ (1835) Vgl auch: Baumann, Kurt: Volkserhebung und Konspiration in der pfälzischen Bewegung von 1848/49 In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 68 Band Speyer 1970, S 292–317 (hier, S 303) Vgl GSTA PK, III HA I, Nr 8204 (Hauptbericht der Bundes-Central-Behörde bis Ende März 1835 Aus dem Nachlass des Kommissar Arulton, 2 Mai 1837) Dieser Bericht dokumentiert minutiös die Aktivitäten von Burschenschaftlern, des „Jungen Deutschland“, die revolutionärer „Umtriebe“ bei Bürgern und Soldaten und widmet sich der „Bearbeitung der deutschen Handwerks=Burschen in der Schweiz“ Der Bericht geht auf die politische Wirkung durchreisender Polen, das Hambacher Fest und die Landauer Assisenverhandlung ebenso ein wie auf die „Unruhen“ zu Frankfurt im Herbst 1832, deren Auswirkungen auf „fremde Länder“ und die „Frankfurter Meuterei“ vom April 1833
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der einen Seite als Unterpfand ihrer Freiheiten gesehen, wurden sie von der anderen als ein grundsätzliches Übel betrachtet, das jetzt beseitigt werden müsste 83 In dieses Horn bliesen der Fürst Carl Philipp von Wrede, der bayerische Innenminister Ludwig Fürst zu Oettingen-Wallerstein und der Präsident des Oberappellationsgerichts in München, Ludwig Freiherr von Welden Doch die Suspension der Verfassung mit der Beseitigung der rheinbayerischen Privilegien blieb ebenso aus, wie die ins Auge gefasste Errichtung von Sondergerichten Den vielfältigen Ordnungsmaßnahmen der bayerischen Regierung aber fielen die Konsistorialräte Wilhelm Fliesen und David Müller (Mai 1833) sowie Butenschoen ( Juni 1833) zum Opfer Viele protestantische Pfarrer und Theologiestudenten gerieten in den folgenden Jahren ins Fadenkreuz kirchlicher und staatlichen Behörden 84 Bald waren die Voraussetzung geschaffen für einen scharfen theologischen Kursschwenk im Speyerer Konsistorium: Unter der Ägide Isaak Rusts, der sich nach der Französischen Julirevolution 1830 vom Rationalisten zum felsenfesten Anhänger eines konservativen kirchlichen Positivismus gewandelt hatte, brachen für rationalistische Pfarrer jetzt schwere Zeiten an Mit einer rigiden Einstellungspolitik, die bekenntnis- und obrigkeitstreue Geistliche bevorzugte, versuchte Rust, die politisch−theologische Gewichtung in der Landeskirche zu verlagern Junge Theologiekandidaten erhielten gut dotierte Pfarrstellen, falls sie sich theologisch flexibel genug zeigten oder – durch die Heirat mit einer der vier Töchter des neuen Konsistorialrates – den Weg (zurück) ins orthodoxe Lager fanden Die Zahl der Rationalisten reduzierte sich bis 1840, während die neokonservative Anhängerschaft Rusts unter den jüngeren Geistlichen und Pfarrkandidaten zunahm Gegen diesen Trend zog die „Neue Speyerer Zeitung“ zu Felde; sie unterstützte die rationalistischen Pfarrer, auch finanziell: Im Jahre 1844 konnte deshalb das Haupt der protestantischen Rebellen, der aus Sippersfeld (Landkommissariat Kaiserslautern) stammende Pfarrer Friedrich Theodor Frantz – auch er ein Schüler von Professor Paulus – das „Kirchen-Blatt für die bayerische Pfalz“, herausgeben Dieses Sprachrohr der Unionskirche und erstes protestantische Kirchenblatt der Pfalz erschien von 1846 bis 1848 monatlich unter dem Namen: „Morgenröthe, protestantisches Kirchenblatt aus der bayerischen Pfalz“ Gegen diesen rationalistischen Trend stemmte sich seit Oktober 1846 der Speyerer Pfarrer Johann Christoph Lippert mit seiner „Wochenschrift für christliche Belehrung und wahren Fortschritt“ (später: „Evangelium und Kirche“; ab Juli 1849 unter der Redaktion von Pfarrer Hermann Wil83
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Explizit bilanzierte diese Sichtweise der Fürst von Wrede in seinem Bericht vom 29 Juli 1832 an die bayerische Staatsregierung, worin er als den „Urgrund“ der Hambacher Protestaktion die „französischen Institutionen“ ausmachte, die allein für den „im Rheinland herrschenden Geist“ verantwortlich seien Vgl Renner (wie Anm 34), S 320 Zum Beispiel der Dürkheimer Theologe Friedrich Wilhelm Knöbel und der Bockenheimer Predigtamtskandidat Wilhelm Senn Vgl Scherer, Karl: Die unierte Kirche in der Pfalz in den Revolutionsjahren 1848/49 In: Die Pfalz und die Revolution von 1848/49 Band II, hrsg von Hans Fenske, Joachim Kermann und Karl Scherer Kaiserslautern 2000, S 105–150
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helm Caselmann: „Evangelischer Kirchenbote“) Ihm zur Seite stand der tatkräftige Begründer der Inneren Mission in der Pfalz, der aus Regensburg stammende Pfarrer Johannes Schiller Er sollte 1848 den „Evangelischen Verein der Pfalz“ gründen Das eigenwillige Bibelverständnis von Pfarrer Frantz („Von der Gottheit Jesu steht nichts in der Bibel“) führte im März 1846 zu seiner Suspendierung Der „Fall Frantz“ weitete sich zu einem regelrechten Politikum aus85 und wurde von der „Neue Speyerer Zeitung“ als scharfe Munition verwendet gegen die Münchener Regierung Die kirchenrechtliche Ordnungsmaßnahme festigte das kirchenpolitische Bündnis zwischen Rationalismus und Liberalismus, das sich als religiös-politische Speerspitze gegen das katholisch-konservative Herrscherhaus der Wittelsbacher verstand: Anhänger und Sympathisanten des rebellischen Pfarrers, sie machten gut 80 % des protestantischen Kirchenvolkes der Pfalz aus, sammelten sich in der „Pfarrer-Frantzische Partei“86 Ihr Einfluss auf das vorrevolutionäre Klima und die Revolution von 1848/49 war bedeutsam Vor dem Hintergrund dieses gefährlichen, religiös-politischen Schwelbrandes kam der bayerische König schließlich zu der Einsicht, dass sein orthodoxer Konsistorialrat nicht mehr zu halten war Mitte Dezember 1846 wurde Rust abberufen und als Oberkonsistorialrat und zweiter Hauptprediger der Residenz nach München versetzt Was wie ein Nachgeben aussah, erwies sich als geschickter Schachzug Denn Rust war im Oberkonsistorium München jetzt für die „pfälzischen Kirchenangelegenheiten“ verantwortlich Beruhigend wirkte diese Versetzung jedenfalls nicht Auf Protestveranstaltungen machten Protestanten Seit’ an Seit’ mit liberalen Oppositionellen ihrem Unmut Luft: Man forderte die Aufhebung der Suspension von Pfarrer Frantz und die Einberufung einer außerordentlichen Generalsynode, auf der die ersehnte Trennung der unierten Kirche der Pfalz vom Oberkonsistorium in München und eine reformierte Kirchenverfassung beschlossen werden sollte 87 Dringend warnte deshalb der pfälzische Regierungspräsident Freiherr von Schrenck von Notzing München vor weiteren Unruhen, beschwor gar eine drohende Separation des Rheinkreises Die Zeichen standen auf Sturm Die Rheinkrise von 1840/41 wie der Schleswig-Holstein-Konflikt von 1846 provozierten im Staatenbund ausgesprochen nationalistische Affekte, die in der Pfalz ein unterschiedliches Echo fanden Wurden sie von den Sympathisanten des im französischen Exil weilenden Schüler heftig zurückgewiesen, gefielen sich andere in einem 85 86 87
Vgl ebd , S 133 und S 135–138 Vgl ebd , S 107 und S 141 f Ende April 1848 wurde Pfarrer Frantz wieder eingesetzt; am 24 Oktober 1848 stimmte dann auf der Generalsynode eine Mehrheit für die Trennung des Konsistorialbezirks Speyer vom Oberkonsistorium München Der weiter führende Plan der Pfälzer Rationalisten, mit einer neuen Kirchenverfassung zu den ursprünglichen Plänen der „Unionsväter“ von 1818 zurückzukehren und die unierte Kirche der Pfalz zu demokratisieren, war auf der außerordentlichen Generalsynode vom Mai 1849 zwar auf gutem Wege, scheiterten dann aber an den nachrevolutionären Verhältnissen Vgl Scherer (wie Anm 84), S 124 f
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unverblümten Chauvinismus, sahen sie doch jene Ängste bestätigt, die schon Wirth auf dem Hambacher Fest beschworen hatte 88 In den Jahren 1846/47 traf eine allgemeine Erntekrise („Kartoffelfäule“) große Teile der pfälzischen Bevölkerung schwer 89 Sie löste lokale Unruhen aus, welche die südwestdeutschen Liberalen zu verstärkten Bemühungen in Richtung einer Nationalvertretung am Bund und zu konstitutionellen Reformen in ihren Einzelstaaten drängten: Die Angst vor einer der Krise erwachsenden proletarischen Schubkraft war bei den bürgerlichen Kräften allemal größer als die Courage, über deren politische Einbindung auch nur nachzudenken Zudem waren mit den Advokaten Friedrich Justus Willich (er amtierte Ende März 1848 für vier Wochen als bayerischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt) und Georg Jakob Stockinger wie dem Zweibrücker Appellationsgerichtsrat Karl Friedrich Heintz (er bekleidete vom März 1848 bis Frühjahr 1849 das Amt des bayerischen Justizministers) jetzt Persönlichkeiten in den Landtag von 1845 gewählt worden, die nach einer Dekade erzwungener Zurückhaltung den frischen Geist der alten Pfälzer Kammeropposition wieder aufstehen ließen, zugleich aber auch als „ausreichendes Überdruckventil“ fungierten für anschwellende Protestbewegungen von links 90 Als man den gebürtigen Pfälzer Franz Alwens Ende Mai 1846 zum Regierungspräsidenten ernannte, wurde diese Entscheidung pfalzweit als ein Signal des Entgegenkommens verstanden 91 Die gute Ernte des Sommers 1847 sorgte für weitere Beruhigung, als sich am Horizont der Isarstadt ein Unwetter ganz anderer Art zusammen: Wider alle Vernunft hielt dort der alternde König Ludwig an einer dominanten Mätresse fest, die schon kurz nach ihrer Ankunft in München, Anfang Oktober 1846, des Königs Herz im Sturm erobert hatte Seitdem tat diese „diseuse scandaleuse“ alles, um neben „ihrem Louis“ Politik zu machen: Die Lola Montez-Affäre führte im Februar 1847 zum Rücktritt des Ministeriums Abel: Sie zerstörte damit das Bündnis des Königs mit seinem orthodoxen Innenminister, den Konservativen und der katholischen Kirche und hievte liberal gesinnte Politiker an die Spitze des bayerischen Staatsministeriums 92 So ebnete ein Mätressenskandal den Weg für eine Oppositionsbewegung, die jetzt 88 89 90 91 92
Vgl Baumann, Kurt: Friedrich Schüler / Joseph Savoye / Daniel Pistor In: Das Hambacher Fest (wie Anm 32), S 95–180 (hier, S 146) Vgl Kermann, Joachim: Die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Pfalz zur Zeit der Revolution von 1849 In: Die Pfalz und die Revolution von 1848/49 (wie Anm 84), S 289–373 (hier S 294–298) Vgl Baumann (wie Anm 81), S 298 Zu Alwens vgl Schineller, Werner: Franz Alwens – Regierungspräsident der Pfalz während der Freiheits- und Revolutionsbewegung 1848/49 In: Pfälzer Heimat Heft 4 Jahrgang 30 Speyer 1979, S 147–149 Dem hochkonservativen Karl von Abel folgten zwei liberale Politiker: Ende November 1847 fiel Ministerpräsident Georg Ludwig von Maurer, ein gebürtigen Pfälzer, den Intrigen um Lola Montez zum Opfer Am 1 Dezember 1847 wurde der liberale Ludwig Fürst Öttingen-Wallerstein mit der Aufgabe betreut, eine neue Regierung zu bilden Der Reformkurs seines Ministeriums („LolaMinisterium“) war aber schon am 19 März 1848 zu Ende, als ihn der König, einen Tag vor seinem
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nur noch eines Auslösers bedurfte, um ihre Forderungen nach politischen Reformen durchsetzen zu können Dieser Auslöser kam aus Paris 4 März 1848: Revolution in der Pfalz Die Nachricht von einer neuen Revolution in Paris fiel in vielen Staaten des Deutschen Bundes auf gut gedüngten Boden: Anfang der 1840er Jahre hatte eine bundesweite Verfassungsbewegung neue Impulse für liberale Reformen gesetzt: In den preußischen Provinziallandtagen, der Zweiten Kammer des Großherzogtums Hessen-Darmstadt, dem Landtag des Königreichs Sachsen und den südwestdeutschen Landtagen war auf Volksversammlungen, in Denkschriften und durch Anträge die Ablösung der ständischen Körperschaften zugunsten moderner Repräsentativverfassungen gefordert worden Die Saat auf diesem fruchtbaren Boden spross rasch in die Höhe In erstaunlich kurzer Zeit gaben die Staatsregierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten diesem Reformdruck nach: Sie beriefen liberale Ministerien („Märzministerien“), die alsbald umfangreiche politische Umgestaltungen in Angriff nahmen Am 6 März 1848 musste Ludwig I die Märzproklamation, ein Diktat seines Außenministers von Öttingen-Wallerstein, unterschreiben Die Proklamation versprach umfangreiche Reformen, die dann, nach dem Rücktritt des Königs am 20 März, von seinem Sohn und Nachfolger Maximilian II in Angriff genommen wurden: Obwohl auf dem immer noch ständisch besetzten „Reformlandtag“ (22 März bis 30 Mai 1848) manches auf der Strecke blieb, einiges konnte doch realisiert werden So erwies sich das neue Landtagswahlgesetz vom 4 Juni 1848 von immenser Bedeutung für die weitere politische Entwicklung im Königreich: Mit diesem Gesetz wurde die alte Ständekammer in eine echte Volksvertretung umgewandelt Das gesamte Reformpaket aber brachte nun eine Art Gleichstand zwischen dem rechtsrheinischen Bayern und seiner linksrheinischen Provinz Der bundesweite Reformprozess machte auch vor der Struktur des alten Staatenbundes nicht Halt: Gleichzeitig zu den einzelstaatlichen Verfassungsänderungen startete auf überstaatlichem Gebiet ein Transformationsprozess, der die Umwandlung des Deutschen Bundes in einen bundesstaatlich geeinten Verfassungsstaat als Ziel hatte Ende März / Anfang April 1848 bestimmte ein Bundeswahlgesetz die Regularien zur Wahl eines deutschen Nationalparlaments, das Mitte Mai in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat („Frankfurter Nationalversammlung“) Dieses revolutionäre Gremium begann alsbald mit der Erarbeitung einer Verfassung des deutschen Reiches („Reichsverfassung“), die erstmals einen Grundrechtskatalog („Grundrechte des
eigenen Rücktritt, entließ Unter Gottlieb von Thon-Dittmer als Innenminister setzte dann das ‚Ministerium der Morgenröte“ die Reformarbeit bis zur seiner Verabschiedung am 30 Mai 1848 fort
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deutschen Volkes“) enthalten sollte Ende Juni 1848 richtete die Nationalversammlung mit dem Zentralwahlgesetz die Provisorische Zentralgewalt als vorläufige deutsche Regierung ein 93 In der Pfalz sammelte sich in den ersten Märztagen 1848 rasch und überwiegend ruhig eine Bewegung, die jetzt mit regionalen und überregionalen Forderungen vorstellig wurde: Zu ihren „Märzforderungen“ gehörten: „volle Pressefreiheit“, Volksbewaffnung, eine umfassende Justizreform mit „wahrer Unabhängigkeit der Gerichte“ in allen Ländern, verfassungsrechtliche Reformen „auf gesetzlichem Wege“, freie Gemeindeverfassungen, kirchliche Reformen sowie die „volle und unbedingte Amnestie“ für politische Vergehen 94 Die Märzbewegung in der Pfalz stand in einer fast bruchlosen personellen Tradition und konnte sich auf Machtinstrumente stützen, die in den folgenden Monaten einen alles entscheidenden Einfluss gewinnen sollten 5 Die Machtinstrumente der Opposition Schon vor der Revolution von 1848 gab es in der Pfalz ein Vereinswesen, Turn- und Gesangsvereine vor allem, die bisher nur „unpolitisch“ agieren konnten Diese Zeit notwendiger Tarnungen war jetzt vorbei Unter den politischen Vereinen gab es, grob gezeichnet, folgende politische Richtungen: – die zur Nationalversammlung nach Frankfurt hin orientierte Mitte, vertreten durch die Volksvereine und die Demokratischen Vereine; – die linke Opposition, organisiert in den Arbeitervereinen und einem Teil der Demokratischen Vereine; sie bevorzugte die Republik als Staatsform; – die rechte Opposition, die überwiegend Ende 1848 aus den Volksvereinen austrat und sich nur selten, wie in Kaiserslautern („Bürgerclub“), organisierte; – die katholischen Piusvereine, die sich ab Frühjahr 1849 organisierten, und als Sammelbewegung des konterrevolutionären Widerstandes agierten 95 Am 9 April 1848 wurde in Kaiserslautern der „Pfälzische Volksverein“ gegründet, dessen Zweigvereine sich bald überall im Land ausbreiteten Die Führungsstruktur des Volksvereins entstammte der pfälzischen Intelligenzia; die Mehrheit seiner Mitglieder rekrutierte sich aus dem Kleinbürgertum Der Volksverein besaß eine zentrale Struk93 94 95
Mommsen, Wolfgang J : 1848 Die ungewollte Revolution Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849 Frankfurt 1998, S 90–103 In ihrer Ausgabe vom 3 März 1848 Nr 48 veröffentlichte die „Neue Speyerer Zeitung“ die Märzforderungen der Pfalz Die ersten pfälzischen Piusvereine waren im Herbst 1848 gegründet worden; ihre Gesamtzahl (25–30) blieb bis Sommer 1849 überschaubar Vgl Ruppert, Karsten: Die politischen Vereine der Pfalz in der Revolution von 1848/49 In: Die Pfalz und die Revolution 1848/49 Band I, hrsg von Hans Fenske, Joachim Kermann und Karl Scherer Kaiserslautern 2000, S 57–242 (hier S 160 f )
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tur: An seiner Spitze wirkte ein Kreisausschuss, dem als Obmann der Kaiserslauterer Rechtsanwalt und Redakteur Nikolaus Schmitt vorstand Politisch war der Volksverein nach Frankfurt ausgerichtet An dieser Orientierung hielt er bis zum Ende der Revolution fest Mit seinen Kandidatenvorschlägen nahm er Einfluss auf die Wahl zur ersten deutschen Nationalversammlung und des neuen bayerischen Landtages Anfang Dezember 1848 Der Volksverein organisierte die „Kampagne für die Grundrechte“ Anfang 1849 und, ab Frühjahr 1849, die „Reichsverfassungskampagne“ Bis zum Aufkommen der Volkswehren Mitte Mai 1849 dominierte der Pfälzische Volksverein die politische Szene in der Pfalz In dem Volksverein, der sich an einflussreichen Vorbildern orientierte,96 besaß die pfälzische Opposition ein Netzwerk, das integrierend wirkte und „die im übrigen Deutschland früh zu beobachtende Trennung in einen radikal-demokratischen und einen liberal-konstitutionellen Flügel“ abbremste 97 Diese ausgleichende Kräftekonzentration erreichten die Volksvereine durch eine Vielzahl beratender Versammlungen, welche kommunikative und informelle Funktionen erfüllte Sie organisierten eine Bürgerwehr, die in Zusammenarbeit mit den Bürgermeisterämtern städtische Ordnungsaufgaben übernahm Zu ihren Aktivitäten zählten auch Spendensammlungen für Notleidende Mit dem „Pfälzischen Volksverein-Blatt“ besaß der Verein ab Mitte September 1848 ein Wochenblatt, das aufklärend wirkte und als Konkurrenz zu den bestehenden Tageszeitungen auftrat, zumal größere wie kleinere Ortvereine ihre eigenen Volksvereins-Blätter unterhielten 98 In dieser frühen Form einer Bürgerinitiative dominierten zunächst die Gefolgsleute der „Pfarrer Frantzschen Partei“; politisches Engagement zeigten aber auch die Deutschkatholiken Die Jünger dieser Freikirche – sie war Ende 1844 durch den suspendierten Kaplan Johannes Ronge aus Bischofswalde (Oberschlesien) gegründet worden – hatten, wie auch die von Ludwig Feuerbach inspirierten „Lichtfreunde“, im Bund enormen Zulauf Die Deutschkatholiken waren durchweg republikanisch gesinnt, kamen überwiegend aus dem Kleinbürgertum und konnten, anders als die
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Schon die revolutionären „Jakobinerclubs“, die sich „Volksgesellschaften“, „Konstitutionelle Zirkel“ oder „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ nannten, gaben in den französisch besetzten linksrheinischen Gebieten, in Landau, Neustadt, Speyer Zweibrücken zum Beispiel, Orientierungen vor für spätere Vereinsgründungen Vgl dazu Ziegler, Hans: Die Landauer Gesellschaft der Konstitutionsfreunde – Jakobinerklub: 1791–1795 In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 73 Band Speyer 1976, S 221–294 Vorbildfunktion für den Volksverein hatte auf jeden Fall der im Frühjahr 1832 ins Leben gerufene „Preß- und Vaterlandsverein“, bei dem mit Friedrich Schüler und Joseph Savoye auch eine personelle Kontinuität gewahrt war: Schüler saß wenig später in der Frankfurter Nationalversammlung und ab Januar 1849 im neuen bayerischen Landtag, sein Freund Savoye wurde Mitte Mai 1849 als Abgeordneter von Colmar in die Pariser Nationalversammlung gewählt Vgl hierzu Baumann (wie Anm 88), S 156–160 (Schüler) und S 168 f (Savoye) Vgl Ruppert (wie Anm 95), S 87 Vgl ebd , S 121
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„Lichtfreunde“, in der Pfalz schnell Fuß fassen Später zählten Deutschkatholiken zu den eifrigsten Anhängern der Pfälzer Mairevolution Auch Nikolaus Schmitt war Mitglied der deutschkatholischen Gemeinde Der politische Gegensatz zwischen den gemäßigt liberalen Frantzianern und den radikaleren Deutschkatholiken fiel vorerst nicht ins Gewicht Das änderte sich dann durch temporäre Ereignisse: Der Pfalzbesuch des bekennenden Deutschkatholiken Robert Blum und der Frankfurter Parlamentslinken über die Pfingsttage 1848 verlieh der deutsch-katholischen Bewegung eine gehörige Dynamik Dass unter der Ägide von Pfarrer Schiller zeitgleich ein religiös-politischer Kontrapunkt gesetzt wurde mit der Abhaltung des ersten Pfälzischen Missionsfestes, zeigt freilich, dass die orthodoxe Pfarrerschaft und ihre Anhänger derweilen nicht untätig blieben: Gut 4000 Festbesucher kamen am Pfingstmontag in Iggelheim zusammen 99 Die meisten protestantischen Pfarrer bewiesen den Deutschkatholiken gegenüber jedoch eine erstaunliche Großzügigkeit, die sich allein darin zeigte, dass sie ihnen (wie übrigens auch den Volksvereinen) ihre Gotteshäuser für Versammlungen überließen Ihre katholischen Mitbrüder in Christo hingegen begegneten dem Deutschkatholizismus mit ausgesprochener Schärfe 100 Eine Pfalzrundreise von Ronge im Spätsommer 1848 stärkte wieder die deutschkatholische Ausrichtung 101 Im Gefolge der Totenfeiern, die nach der Hinrichtung Blums am 11 November auf Initiative des Volksvereins hin überall in der Pfalz abgehalten wurden, schnellte die Zahl der deutsch-katholischen Vereine in die Höhe 102 Dieser Anstieg ging einher mit einer Stärkung der republikanischen Richtung, was sich jetzt auch in den Volksvereine auswirkte Bereits im Sommer 1848 hatten sich in den Volksvereinen republikanische Tendenzen bemerkbar gemacht Nicht anders lässt sich der Beschluss des Kreisausschusses des pfälzischen Volksvereins Anfang Juli 1848 verstehen, als dieser vor den „Spaltungen und feindlichen Gegensätzen in der Volksparthei“ warnte 103 Die Gründung des Zentralmärzvereins auf einer Sitzung der drei linken Fraktionen des Frankfurter Nationalparlaments am 21 November 1848, unmittelbar nach dem preußischen Staatsstreich, zeigte das Bemühen der Frankfurter Linken, eine friedliche Massenbewegung mit ihren parlamentarischen Aktivitäten zu verbinden Der Pfälzische Volksverein schloss sich dieser gesamtdeutschen und parlamentstreuen
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Vgl Scherer (wie Anm 84), S 137 An den Vorbereitungen zu diesem Missionsfest war auch der Gründer der Inneren Mission, Pfarrer Johann Hinrich Wichern, beteiligt 100 Später (in seinem Hirtenschreiben vom 6 Januar 1849) verurteilte der Speyerer Bischof Nikolaus Weis den Deutschkatholizismus Vgl Unterburger, Klaus: Zwischen bayerischen Staatskirchentum und Milieubildung Strukturelle Rahmenbedingungen und spezifische Eigenheiten des Pfälzer Katholizismus In: Wittelsbach (wie Anm 7), S 251–267 (hier, S 261) 101 Vgl Bahn, Peter: Deutschkatholizismus und Revolutionsbewegung in der Pfalz In: Die Pfalz und die Revolution von 1848/49 (wie Anm 84), S 179–191 (hier, S 184 f ) 102 Vgl Ruppert (wie Anm 95), S 110, S 113 und S 121 103 Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 6 Juli 1848 Nr 161
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Dachorganisation, die fast schon im Sinne einer heutigen Volkspartei agierte, sofort an Indes: Die anfangs befürchteten „Spaltungen und Gegensätze“ in den pfälzischen Volksvereinen, sie konnten jetzt nicht mehr übersehen werden: Unter dem Eindruck der marschierenden Gegenrevolution in Berlin und Wien, aber auch der personellen Veränderungen im bayerischen Ministerium104, war es Ende 1848 in den Volksvereinen zu einer zweiten Gründungswelle gekommen Sie ging einher mit einer Aufstockung der bereits bestehenden Volksvereine und Stärkung der republikanischen Ausrichtung, was vor allem in Kaiserslautern, dem Zentrum des Pfälzischen Volksvereins, zu registrieren war 105 Dort kam es, wie auch in Zweibrücken und Neustadt, zu regelrechten Fraktionsbildungen 106 Den liberalen „Märzrevolutionären“ kam die Führungsrolle in den Volksvereinen abhanden An ihre Stelle drängte ab dem Spätherbst 1848 eine „zweite Generation“, aus deren Reihe immer lauter der Ruf nach einer weiterführenden Revolution ertönte 107 Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Volksvereine in der Pfalz fast konkurrenzlos agiert Eine Ausnahme bildete der auf dem ersten Demokratenkongress (14 –16 Juni 1848) in Frankfurt gegründete Demokratische Verein Dieser Verein verkörperte den Minimalkonsens der Linken in der Nationalversammlung Im Juli 1848 entstanden erste pfälzische Filialen Der Demokratische Verein forderte eine soziale Republik, war aber zu einer bedingten Zusammenarbeit mit dem Volksverein bereit Umgekehrt war auch dem Volksverein, schon um seine Integrationskraft nach links zu bewahren, an einer Zusammenarbeit mit dem Demokratischen Verein gelegen Insofern waren die Übergänge zwischen beiden Vereinen fließend, zumal sich auch die Volksvereine als „demokratisch“ verstanden und mit diesem Adjektiv auch schmückten Ein schärferes politisches Profil entwickelten die demokratischen Ortsfilialen, welche – ähnlich dem Transformationsprozess der Volksvereine – um die Jahreswende 1848/49 neu entstanden bzw sich neu ausrichteten Wenngleich diese „zweiten Generation“ der demokratischen Vereine gegenüber den Volksvereinen zahlenmäßig immer noch deutlich zurückstand, so dominierten doch einzelne Filialen, die Ortsvereine von Frankenthal,
104 Dass sich in München ab Herbst 1848 eine politische Wende vollzog, war dem zunehmenden Einfluss des ehemaligen Ministers Karl von Abel geschuldet Auf Drängen der konservativen Beratergruppe um den König musste Innenminister von Thon-Dittmer nach den Münchener Bierkrawallen Mitte Oktober 1848 seinen Hut nehmen Sein Nachfolger wurde der bisherige Finanzminister Maximilian Graf von Lerchenfeld-Köfering Nach und nach wurden in den nächsten Monaten fast alle Mitglieder der „Märzregierung“ entlassen Vgl Thielitz, Sabine: Adel in der Zeit des politischen Umbruchs Gottlieb von Thon-Dittmer und Otto von Bray-Steinburg im bayerischen ‚Märzministerium‘ von 1848, S 176–209 (hier, S 200) In: Raasch, Markus (Hg ): Adeligkeit, Katholizismus, Mythos Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne München 2014 105 Vgl Ruppert (wie Anm 95), S 74 f 106 Vgl LA SP J 1, 195 und 244 107 Vgl Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land vom 23 Januar 1849, Nr 86, zit bei Nestler, Gerhard: Die pfälzische Presse in den Revolutionsjahren 1848/49 In: Die Pfalz und die Revolution von 1848/49 (wie Anm 84), S 63–104, S 98
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Kaiserslautern, Dürkheim, vor allem aber der in Neustadt während der Reichsverfassungskampagne und Mairevolution die politische Szene in der Pfalz 108 Mitte Februar 1849 etablierten sich am äußersten linken Rand des pfälzischen Vereinswesens die Arbeitervereine Ihre Anzahl war zwar noch übersichtlicher als die der Demokratischen Vereine, doch auch hier kam dem Neustadter Ortsverein eine bedeutende und zentrale Stellung zu: Unter der Führung seiner Vorsitzenden, dem Uhrmacher Valentin Weber und Heinrich Loose, einem deutsch-katholischen Prediger, formierte sich innerhalb der pfälzischen Revolutionsbewegung eine linke Opposition zur Provisorischen Regierung Diese neuen Vereine erreichten mit ihrer Propaganda, ihrer republikanischen und sozialpolitischen Ausrichtung, eine öffentliche Wirksamkeit, die ihre tatsächliche Anzahl und Mitgliederstärke bei weitem übertraf 109 Die in den Volks-, Demokratischen- und Arbeitervereinen organisierte Bevölkerung war die eigentliche Basis der Mairevolution von 1849 Bis zum 17 April 1849 gab es in der Pfalz 174 lokale Volksvereine, die insgesamt etwa 20 000 Mitglieder zählten 110 Mitglied einer dieser Vereine zu sein, war ein öffentliches Bekenntnis, das – ausgehend von einer Gesamtbevölkerung von knapp unter 600 000 Menschen – ca 3 % der Gesamtbewohner ablegten Neben den liberalen und linken Vereinen erschienen in der Pfalz ab dem Herbst 1848 die „Piusvereine“ 111 Diese katholisch-konservativen Vereine traten nicht dem bayerischen „Verein für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit“ bei, sondern richteten sich organisatorisch nach Mainz aus, wo am 23 März 1848 der erste dieser, nach Papst Pius IX benannten Vereine gegründet worden war 112 Die Piusvereine nahmen zwar die revolutionären presse- und vereinsrechtlichen Freiheiten wahr, die Revolution aber lehnte diese einzige konservativ-konstitutionelle Organisation entschieden ab Sozialisiert in einem Klima konfessioneller Spannungen leisteten ihre Mitglieder später den einzigen aktiven Widerstand gegen die Revolutionsregierung Neben den Vereinen besaßen die Pfälzer in ihrer Presse ein wichtiges meinungsbildendes Instrumentarium Das neue Pressegesetz vom 4 Juni 1848 hatte im Königreich die Zensur beseitigt, sodass die pfälzischen Zeitungen jetzt einen einmaligen Freiheitsraum besaßen 108 Vgl Ruppert (wie Anm 95), S 142–151 109 Vgl ebd , S 151–157 110 Vgl Anklag-Akte, errichtet durch die kgl General-Staatsprokuratur der Pfalz, nebst Urtheil der Anklagekammer des k Appellationsgerichtes der Pfalz in Zweibrücken vom 29 Juni 1850, in der Untersuchung gegen Martin Reichard, entlassener Notär in Speyer, und 332 Consorten, wegen bewaffneter Rebellion gegen die bewaffnete Macht, Hoch- und Staatsverraths etc Zweibrücken 1850, Allgemeiner Theil, S 2 Diese Angaben werden bestätigt von: Fenneberg Fenner von, Daniel: Zur Geschichte der rheinpfälzischen Revolution und des badischen Aufstandes Zürich 1849, S 29 111 Die ersten pfälzischen Piusvereine waren im Herbst 1848 gegründet worden; ihre Gesamtzahl (25–30) blieb bis zum Sommer 1849 jedoch überschaubar Vgl Ruppert (wie Anm 95), S 160 f 112 Vgl Lenhart, Ludwig (Hrsg ): Idee, Gestalt und Gestalter des ersten deutschen Katholikentages in Mainz 1848 Mainz 1948, S 40
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Im März 1848 gab es in der Pfalz 17 periodisch erscheinende Zeitungen,113 deren politische Richtung durchweg liberal war Georg Friedrich Kolb, der leitender Redakteur der „Neuen Speyerer Zeitung“, der auflagenstärksten pfälzischen Zeitung, war großdeutsch gesinnt und ein Anhänger des monarchisch-konstitutionellen Systems Keine pfälzische Zeitung sympathisierte mit irgendeiner Form gewaltsamer Vorstöße: Als im April 1848 Gustav Struve und Friedrich Hecker in Baden ihren Putschversuch starteten, wurde dieses Unternehmen in der pfälzischen Presse einhellig verurteilt 114 Alle pfälzischen Zeitungen waren auf die Nationalversammlung in Frankfurt ausgerichtet und setzten größte Hoffnungen auf das von den Parlamentariern in Angriff genommene Verfassungswerk Für eine konstitutionell-monarchische Regierungsform plädierten bis zum Herbst 1848 auch die Zeitungen der größeren pfälzischen Städte Ihr Plädoyer versahen sie – beispielsweise die Zeitungen von Kaiserslautern, Zweibrücken und Landau – gerne mit dem Zusatz „auf democratischen Grundlagen“, ohne aber näher darauf einzugehen, was darunter konkret zu verstehen war 115 Bis zum Herbst 1848 behauptete die „Neue Speyerer Zeitung ihre marktbeherrschende Position Unter dem Eindruck der gegenrevolutionären Ereignisse in Berlin und Wien trat auch in der pfälzischen Presselandschaft eine Veränderung ein Ab Oktober 1848 konnte der „Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land“116 eine erhöhte Auflage registrieren Nikolaus Schmitt, seit 1841 Mitherausgeber dieser Zeitung117, war nach seiner Wahl in die Frankfurter Nationalversammlung im Mai 1848 fast nur noch als Korrespondent tätig Die Redaktion lag derweilen in den Händen der Kaiserslauterer Volksvereinsmitglieder Dr Camille Meuth, dem Anwalt A König, dem Privatlehrer L König sowie dem jungen Philipp Schmidt Nach hausinternen Auseinandersetzungen leitete Schmidt bis Mitte Mai 1849 das Blatt mit Einverständnis von Schmitt alleine Beide Männer waren republikanisch gesinnt, besaßen aber vorerst genug realpolitische Weitsicht, um sich nicht auch mit einer konstitutionellen Monarchie zu arrangieren Neben dem „Kaiserslauterer Boten für Stadt und Land“ gab es seit 1820 das liberale „Kaiserslauterer Wochenblatt“, redigiert von dem Buchdrucker Ludwig Vatter
113 114 115 116
117
Vgl Nestler (wie Anm 107), S 79 Vgl ebd , S 89 f Vgl Fenske, Hans: Die Revolution von 1848/49 und der Rhein-Neckar-Raum In: Der RheinNeckar-Raum und die Revolution von 1848/49 Revolutionäre und ihre Gegenspieler UbstadtWeiher 1998, S 7–56 (hier, S 26) Der „Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land“ war im Jahre 1837 von Karl Heinrich Boeninger gegründet worden Als Boeninger 1841 starb, zeichnete seine Witwe als Herausgeberin, die alsbald Nikolaus Schmitt an der Herausgabe der Zeitung beteiligte 1844 heiratete die Witwe Boeninger den Buchdrucker Georg Kayser Das Verhältnis zwischen Kayser und Schmitt war von Anfang an gespannt; nach der Revolution passte sich Kayser den neuen politischen Verhältnissen an und gab ab September 1849 den regierungsfreundlichen „Neuen Boten für Stadt und Land“ heraus Vgl Ziegler, Hannes Die Jahre der Reaktion in der Pfalz (1849–1853) nach der Mairevolution von 1849 Speyer 1985, S 214 Zit bei Nestler (wie Anm 107), S 82
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Im Oktober 1848 erschien mit dem „Grenzwächter von Bergzabern“ eine weitere Zeitung links von der „Neuen Speyerer Zeitung“ Ihr Redakteur war Philipp Bruch aus Bergzabern, später Zivilkommissär der Provisorischen Regierung Während der Ton zwischen diesen Zeitungen recht scharf wurde, gestaltete sich für die „Neue Speyerer Zeitung“ die Konkurrenz zu dem „Kaiserslauterer Wochenblatt“ entspannter, obwohl dessen Redakteur, Christian Zinn, zu der linken Fraktion („Sonntagskränzchen“) des Kaiserslauterer Volksvereins gehörte Zum Ende des Jahres hin traten die unterschiedlichen politischen Ausrichtungen zwischen dem „Kaiserslauterer Boten für Stadt und Land“ und der „Neuen Speyerer Zeitung“ deutlich hervor Es war offensichtlich, dass die Kaiserslauterer Zeitung die „demokratischen Grundlagen“ stärker gewichtete als die Konkurrentin von Speyer Hinzu kam, dass der Rückschlag durch die Gegenrevolution die Angst beförderte vor einer reaktionären Kehrwende, die den Verlust der Märzfreiheiten zur Folge hätte Anfang 1849 wurde in dem „Kaiserslauterer Boten für Stadt und Land“ die Forderung nach einer zweiten Revolution laut; die Republik betrachtete man jetzt als „die Wahrheit“, die konstitutionell-monarchische Regierungsform nur als Fiktion 118 Auch der „Der Grenzwächter aus Bergzabern“ konstatierte, „daß die Revolution noch keineswegs beendet ist, sondern daß die seitherigen Ereignisse nur ein Vorspiel waren“ 119 Diese Sichtweise verfestigte sich in den folgenden Wochen, und zwar nicht nur als Einzelmeinung des „Kaiserslauterer Boten für Stadt und Land“ Als man landauf, landab die Grundrechte feierte, stachen die Kritik und Skepsis auch anderer Zeitungen heraus: Das „Neustadter Wochenblatts“, das „Dürkheimer Wochenblatts“, das Frankenthaler Wochenblatt“ und das „Neustadter Wochenblatt“ – sie sahen in dem Grundrechtskatalog nur einen Torso und klagten, dass ein großer Teil der geforderten Freiheiten nicht eingelöst worden sei 120 So verlief schon viele Wochen vor der Ablehnung der Reichsverfassung durch den preußischen König eine Risslinie quer durch die pfälzische Opposition Deutlich zu erkennen waren zwei politische Lager, deren Anhänger sich hinter der „Neuen Speyerer Zeitung“ und dem „Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land“ sammelten Nach dem 23 April, dem Tag, da der bayerische König die Reichsverfassung ablehnte, vergrößerte sich die Risslinie zwischen den beiden führenden Blättern: Am 1 Mai 1849 drohte der „Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land“ mit einem politischen Alleingang, durch den das unvollkommene Werk der Nationalversammlung weitergeführt und ergänzt werden müsse 121 Beide Zeitungen bezogen jetzt eine regelrechte Frontstellung, die dem politischen Kurs ihrer Redaktionsführung entsprach Die „Neue Speyerer Zei-
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Zit bei ebd , S 94 und S 98 f Vgl „Der Grenzwächter von Bergzabern“ vom 23 Dezember 1848 Nr 23 Vgl Nestler (wie Anm 107), ebd , S 94 und 96 Vgl Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land“ vom 1 Mai 1849 Nr 86, zit bei Nestler (wie Anm 107), S 98
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tung“ bezeichnete die Einrichtung einer Provisorischen Regierung vom 17 Mai als schweren Fehler 122 Der „Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land“, jetzt das offizielle Organ der Provisorischen Regierung123, zieh die Konkurrentin aus Speyer der „Lauheit“ gegenüber den „Beschlüssen und Verfügungen des Landesausschusses“ und zog über die Vertrauensseligkeit der Speyerer Konkurrentin her, wenn sie „mit vollen Backen die Verhandlungen des Münchener Landtages ausposaunt“ „Offen“ wird die „Neue Speyerer Zeitung“ beschuldigt, „Verrath an der Sache der Freiheit Deutschlands“ verübt zu haben 124 Just zu der Zeit vollzog sich in der Redaktion des „Kaiserslauterer Boten für Stadt und Land“ ein weiteres Revirement: Schmidt trat ganz in den Hintergrund; die Redaktionsgeschäfte übernahmen zunächst Zivilkommissär Albert Grün, ein aus dem Königreich Sachsen geflohener revolutionärer Aktivist, dann Dr Ludwig Kalisch, gebürtig aus dem preußischen Lissa, ehemals Redakteur der Mainzer Wochenzeitung Unterstützung fanden beide in dem ehemaligen Privatdozenten Dr Victor Jacobi aus Leipzig und Friedrich Engels aus dem preußischen Barmen, ein in die Pfalz geflüchteter Redakteur der Kölner „Neuen Rheinischen Zeitung“ 125 Weit plakativer als der „Kaiserslauterer Bote“ kamen die lithographierten „Berichte aus der Pfalz“, („Lithographierte Korrespondenz“) daher: Sie waren ganz auf die politische Richtung der Revolutionsregierung eingeschworen Dieses reine Propagandablatt erschien zwischen dem 16 Mai und 12 Juni 1849 und wurde von Albert Grün redigiert Sein Bild von der Revolution ist in klarem Schwarz-Weiß-Muster gezeichnet: hier die „tüchtigen Männer“ der Revolutionsregierung, die von allen „Klassen der Bevölkerung“ unterstützt werden, dort die „Pfaffen“, „Verblendeten“ und „unverbesserliche Aristokraten“, die Totengräber des Fortschritts Die „Lithographische Korrespondenz“ wurde auch über die Grenze expediert, wo sie ein Bild von der Revolution in Umlauf brachte, das recht wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatte 126 Es gab in der pfälzischen Publizistik auch eine linke Opposition zur Revolutionsregierung: Mit dem Erscheinen der radikalen „Trompete von Speyer“ im März 1849, herausgegeben von dem Speyerer Lithographen Eduard Heren127, der sich die „Arbeiter“ als Zielgruppe gewählt hatte, entstand eine publizistische Konkurrenz links von der Revolutionsregierung, die ihr aber nie wirklich gefährlich werden konnte Auch der 122 123
Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 22 Mai 1849 Nr 123 Zusätzlich erschien in Kaiserslautern und Speyer ab dem 22 Mai als Konkurrenz zu dem offiziellen Amtsblatt in der Kreishauptstadt Speyer („Königlich bayerisches Amts- und Intelligenzblatt für die Pfalz“) ein „Amts- und Intelligenzblatt der provisorischen Regierung der Rheinpfalz“, das von dem preußischen Flüchtling Dr Karl Ludwig d’Ester redigiert wurde 124 Vgl Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land“ vom 23 Mai 1849 Nr 102 125 Vgl Engels, Friedrich: Die deutsche Reichsverfassungskampagne Berliner Ausgabe 2013, S 37 und S 42 Textgrundlage ist die Ausgabe: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 43 Bände, Band 7, Berlin 1960 126 Vgl LA SP J 1, 103 und 268 I 127 Zu Heren vgl Hopstock, Katrin: Eduard Georg Joseph Heren In: Der Rhein-Neckar-Raum (wie Anm 115), S 165–167
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radikale „Pfälzer Volksmann“, der Ende Mai 1849 unter dem Motto „Kein Heil außer dem Socialismus“ erstmals erschien und von Loose und Weber herausgegeben und dem im Frühjahr 1848 aus dem Schweizer Exil zurückgekehrten Althambacher, Pfarrer Hochdörfer, redigiert wurde, bezog eine Position links von der Provisorischen Regierung Doch der „Pfälzer Volksmann“ blieb ohne größeren Einfluss, obwohl dieses „demokratische Kreuzerblatt“ bald ausschließlich unter der Fahne des Arbeitervereins lief Gegenüber dem Block der liberalen und demokratischen Zeitungen gab es nur vier Blätter, die ausgesprochen konservativer Ideen anhingen: das „Organ der Publicität“ in Bergzabern, das „Wochenblatt für die Bezirke Bergzabern und Germersheim“, der „Bote aus den Vogesen“, der ab April 1849 in Annweiler erschien, und das Diözesanblatt „Der Christliche Pilger“, das seit Januar 1848 erschien Diese Blätter profitierten von der Pressefreiheit, unterstützten den Einigungsprozess und plädierten für eine konstitutionell-monarchische Lösung Der politischen Radikalisierung nach der Jahreswende 1848/49 begegneten sie mit scharfer Polemik und einer eindeutig konservativen Positionierung In den außerparlamentarischen Sympathieadressen für die Grundrechte und der Reichsverfassungskampagne sahen sie nur einen Missbrauch der gewährten Freiheiten Am eindeutigsten positionierte sich in dieser Weise der „Christliche Pilger“: Das Vereinsblatt der „Piusvereine“ verurteilte die Revolution ganz entschieden und stand, wie der „Bote aus den Vogesen“, nach der Revolution hinter der reaktionären Politik der Obrigkeit Auf evangelischer Seite positionierte sich ab 1849 der „Evangelische Kirchenbote“ in weltanschaulich und politisch orthodoxer Weise Der Einfluss des „Pfälzische Volksvereins-Blatts“ wurde schon erwähnt Sein Herausgeber, der alte Hambacher Philipp Hepp, war, wie auch Peter Fries, Redakteur dieser Wochenzeitung und Mitglied der Provisorischen Regierung Als Organ des Volksvereins orientierte sich das „Pfälzische Volksvereins-Blatt“ nach Frankfurt Neben der Frankfurter Nationalversammlung besaßen die Pfälzer in dem bayerischen Landtag ein Forum, das durch das Gesetz vom 4 Juni 1848 in eine wirkliche Volksvertretung umgewandelt worden war In beiden Gremien entschied sich jetzt das Schicksal der Revolution 6 Der Kampf um Grundrechte und Reichsverfassung in den Parlamenten von Frankfurt und München In der Frankfurter Nationalversammlung gehörten die 11 (Georg Stockinger mitgerechnet) pfälzischen Abgeordneten der Fraktion der Linken („Deutscher Hof “) an In dieser Fraktion blieben bis zum Schluss: Carl Alexander Spatz, Gustav Gulden und
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Rudolf Christmann 128 Seit Mai 1848 war diese Fraktion von mehreren Abspaltungen betroffen Es zweigten sich ab: – die „Fraktion Donnersberg“ als äußerste Linke: August Culmann (ab September 1848 als Ersatzmann für Franz Glaß), Martin Reichard (ab Juni 1849: Ersatzmann Adolf Berkmann), Friedrich Schüler, Nikolaus Schmitt (ab Juni 1849: Ersatzmann Karl Ritter), – die Fraktion „Nürnberger Hof “: Philipp Umbscheiden, Georg Friedrich Kolb, Franz Tafel und – das linke Zentrum, die Fraktion „Westendhall“: Franz Glaß, der im September 1848 zur Aufgabe seines Mandats gezwungen wurde (für ihn kam August Culmann, der aber zur Fraktion „Donnersberg“ wechselte) sowie Georg Stockinger aus Frankenthal, gewählt für den Wahlkreis Günzburg, Schwaben Bei den pfälzischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung gab es eine zentrale Gemeinsamkeit: Alle betrachteten sich als Vertreter der deutschen Nation – und nicht als bayerische Vertreter beim Bund In ihren politischen Grundüberzeugungen gab es Unterschiede: Die Abgeordneten Kolb, Tafel und Umbscheiden machten sich für eine konstitutionelle Monarchie stark, Schüler, Culmann, Reichard und Schmitt favorisierten bis zuletzt eine republikanische Lösung Differenzen zeigten sich auch im Abstimmungsverhalten Bei der Frage des Oberhaupts der Provisorischen Zentralgewalt sprachen sich Culmann, Reichard, Schüler, Spatz und Tafel für einen Präsidenten aus, die anderen plädierten für ein gewähltes Reichsoberhaupt Alle aber lehnten den österreichischen Erzherzog Johann als Reichsverweser ab Reichard und Schüler waren grundsätzlich gegen eine unverantwortliche Regierungsspitze, Spatz votierte für den Badener Johann Adam von Itzstein, der zur Fraktion „Deutscher Hof “ gehörte, die übrigen pfälzischen Abgeordneten stimmten für den Präsidenten der Nationalversammlung, Heinrich von Gagern Auch bei anderen Fragen und Abstimmungen traten innerhalb des linken Lagers unterschiedliche Auffassungen hervor, zum Beispiel bei der Debatte über die Niederlassungs- und Gewerbefreiheit (zwischen Glaß auf der einen und der Gruppe um Kolb, Gulden und Spatz auf der anderen Seite) Bei der Frage der Einverleibung des Großherzogtums Posen stimmte Glaß mit Stockinger dafür, während die übrigen Pfälzer Abgeordneten (ausgenommen Stockinger, der mit „nein“ stimmte) unter Protest den Saal verließen Sämtliche pfälzischen Abgeordneten forderten schärfere Maßnahmen gegen das „tyrannische Willkürregiment“ in Berlin und den „Militärdespotismus“ in Wien Ebenso unterstützten alle den „dringlichen Antrag“ der Nationalversamm-
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Vgl hierzu die Charakteristik der einzelnen Fraktionen bei Eisenmann, Johann Gottfried: Die Parteyen der teutschen Reichsversammlung Erlangen 1848, S 35
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lung an die Zentralgewalt, die „Mörder des Reichstags-Abgeordneten Robert Blum“ zu ergreifen 129 Als am 28 März 1849 die Erbmonarchie und groß- bzw kleindeutsche Lösung zur Debatte standen, votierten alle Pfälzer Abgeordneten gegen eine „erbliche Kaiserwürde“ Doch für Kolb, Umbscheiden und Tafel, die eine konstitutionelle Monarchie favorisierten, waren die Beweggründe für ihre Ablehnung andere als für Schüler, Culmann, Reichard und Schmitt, die sich allesamt für eine republikanische Staatsform stark machten Bei der Frage des staatlichen Umfangs des künftigen Deutschen Reiches gab es innerhalb der pfälzischen Oppositionsbewegung keine Differenzen: der künftige Nationalstaat sollte sich an den Grenzen des alten Deutschen Bundes orientieren Alle pfälzischen Abgeordneten sprachen sich gegen die „Abtretung deutsch-österreichischer Provinzen“ aus Über dadurch entstehende ethnische, nationale und sprachliche Probleme schauten sie, von einzelnen Ausnahmen abgesehen130, ebenso großzügig hinweg, wie man die Frage beiseite schob, ob die internationale Ordnung nicht durch ein mächtiges, mitteleuropäisches Deutsches Großreich gestört werden könnte Als sich am 28 März eine sehr knappe Parlamentsmehrheit für eine erbkaiserliche, kleindeutsche Lösung aussprach, enthielten sich alle pfälzischen Abgeordneten ihrer Stimme 131 Auch hierfür gab es unterschiedliche Beweggründe: Während Spatz, Stockinger und Umbscheiden ihre Enthaltung damit begründeten, dass sie sich in ihrer Ablehnung des Erbkaisertums und der Abtretung der deutsch-österreichischen Gebiete nur durch die Aufstellung eines Gegenkandidaten hätten positionieren können – das wäre aber dem „Wohl des Vaterlandes“ zuwider gelaufen –, rechtfertigten die Gefolgsleute um Schmitt ihre Stimmenthaltung mit dem grundsätzlichen Argument, dass die Erbmonarchie „die unglücklichste und verderblichste“ sei und die „Zerreißung Deutschlands“ zur Folge hätte 132 Als die Nationalversammlung nach der Ablehnung der Reichsverfassung samt Kaiserkrone durch den Preußischen König mit sehr knapper Mehrheit am 4 Mai dem Vorschlag zustimmte, die Würde des Reichsoberhauptes derweilen dem Oberhaupt des bevölkerungsreichsten deutschen Staates, der für die Reichsverfassung gestimmt hatte, zu übertragen, stimmten sämtliche pfälzischen Abgeordneten dagegen Als Redner traten Christmann, Schmitt und Reichard kaum in Erscheinung Auch von Stockinger war nur ein Redebeitrag zu hören Tafel, Spatz und Gulden meldeten sich zu kürzen Redebeiträgen, während Kolb häufigere und längere Auftritte hatte Als den „Bedeutendsten unter den Pfälzern“ bezeichnet der Leipziger Abgeordnete Karl 129 130 131 132
Vgl Kermann, Joachim: Die pfälzischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 In: Die Pfalz und die Revolution 1848/49 (wie Anm 95), S 243–321 (hier, S 281 f ) Zu diesen „Ausnahmen“ vgl : Müller, Frank Lorenz: Die Revolution von 1848/49 Darmstadt 2012 (2002), S 99 Vgl List, Günther: Die Pfälzer in der Paulskirche In: Pfälzische Heimatblätter, Jg 6, vom August 1960, S 61–63 Vgl Kermann (wie Anm 129), S 301 f
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Biedermann in seinen Erinnerungen133 den Abgeordneten Friedrich Schüler, obwohl dieser als Redner kaum in Erscheinung getreten sein soll 134 Bedeutend in vielerlei Hinsicht wirkte der Abgeordnete Umbscheiden 135 Der junge Friedensrichter aus Bergzabern, verwandtschaftlich vernetzt mit fast allen einflussreichen Familien der Pfalz, war nicht nur ein einflussreicher Redner, er verkörperte wie Kolb das Legalitätsprinzip, indem er bis zuletzt die Nationalversammlung bzw das Stuttgarter „Rumpfparlament“ als die letztinstanzliche Orientierung betrachtete In seiner Rede vom 6 Juni bat Umbscheiden das Parlament um Unterstützung für seinen Plan, in der Pfalz eine allgemeine Landesvertretung zu wählen, an deren Spitze eine neue Exekutive agieren sollte Ein Reichskommissär sollte die Verträglichkeit ihrer Beschlüsse mit der Reichsverfassung und der Nationalversammlung kontrollieren Als dieser Antrag im Stuttgarter Parlament durchfiel, erging zwei Tage später der Parlamentsbeschluss, die Pfalz und Baden unter den Schutz und die Fürsorge des Reiches zu stellen 136 Anfang Dezember 1848 waren 19 Abgeordnete nach neuem Wahlrecht137 und auf Vorschlag des pfälzischen Volksvereins gewählt worden Im neuen Landtag zu München traten die pfälzischen Abgeordneten weitaus aktiver auf als in Frankfurt Zur feierlichen Landtagseröffnung am 22 Januar 1849 startete der Abgeordnete Georg Friedrich Kolb einen bemerkenswerten Coup: Er präsentierte dem Forum ein „Programm der Linken“, das eine „neue Gestaltung der bayerischen Staatsverfassung“ forderte und mit der demokratischen Losung schloss: „Volkssouveränität, – Alles für das Volk und durch das Volk “138 Alsdann durchbrachen schon in der ersten Sitzung am 30 Januar 1849 die pfälzischen Abgeordneten auf Initiative Kolbs und Stockingers das bisher übliche, über Los bestimmte Sitzsystem, indem sie sich mit gleich gesinnten Abgeordneten aus Franken, Schwaben und Niederbayern zu einem „Club der Linken“ zusammenfanden Neben dieser „Linken“ (58 Abgeordnete, darunter sämtliche Pfälzer Abgeordneten) gab es ein linkes Zentrum (22 Abgeordnete), ein rechtes Zentrum (34 Abgeordnete) und eine Rechte (29 Abgeordnete) Da sich das linke Zentrum in allen wichtigen Fragen der Vereinten Linken anschloss, konnten sämtliche Landtagsausschüsse durch Mitglieder beider linken Fraktionen besetzt werden Zudem bestand, Einigkeit und Geschlossenheit vorausgesetzt, die Chance, dass die linken
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Vgl Biedermann, Karl: Erinnerungen aus der Paulskirche Leipzig 1849, S 404 f So die Einschätzung von Baumann (wie Anm 88), S 159 Zu Umbscheiden vgl Volz, Günther: Philipp Friedrich Umbscheiden (1816–1870) Vertreter der Südpfalz in der deutschen Nationalversammlung und in dem bayerischen Landtag – Anwalt des Protestantenvereins der Pfalz In: Kaiserslauterer Jahrbuch (wie Anm 40), S 271–283 (hier, S 271) Vgl ebd , S 276 Die Voraussetzungen dafür hatte das Landtagswahlgesetz vom 4 Juni 1848 geschaffen Vgl Doeberl (wie Anm 33), S 104–106 Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 26 Januar 1849 Nr 22 In dieser Ausgabe ist das „Programm der Linken“ abgedruckt
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Fraktionen (70 von 133) im bayerischen Landtag nicht überstimmt werden konnte 139 Die Initiative Kolbs und Stockingers durchbrach den bisher üblichen pfälzischen Partikularismus der früheren Landtage, vermied so die alte Schärfe zwischen linksrheinischen und rechtsrheinischen Bayern und schuf ein überregionales, allein einer politischen Geisteshaltung verpflichtetes Band Einen dritten Vorstoß, der ebenso wie die vorangegangenen unwidersprochen blieb, unternahm die Linke, als sie den in der Eröffnungssitzung von jedem Landtagsabgeordneten abzuleistenden Verfassungseid mit dem schriftlichen Zusatz einschränkte, dass man den Eid nur in der Überzeugung leiste, dabei „an der Anerkennung der Gültigkeit der Reichsgesetze, insbesondere der die Grundrechte betreffenden, hiedurch nicht gehindert zu sein “140 Mit dieser Stärkung im Rücken stieg die Landtagslinke in eine Diskussion ein, in der es vornehmlich um die Ende Dezember verabschiedeten Grundrechte ging Dabei standen sich zwei Lager letztlich kompromisslos gegenüber: hier die Landtagslinke und ihre Gesinnungsfreunde – dort die Regierungsseite und ihre Anhänger Das Gesamtstaatsministerium hatte schon in der ersten Landtagssitzung Ende Januar 1849 eine Erklärung abgegeben, aus der klar und deutlich hervorging, dass die bereits verabschiedeten (die Grundrechte des deutschen Volkes), wie die noch zu verabschiedenden Reichsgesetze (die Reichsverfassung) so lange keine Gültigkeit besäßen, bis sie mit den gesetzgebenden Gewalten im Königreich „vereinbart und als gesetzlich bindend“ anerkannt worden seien 141 Damit stellte sich die Regierung auf das „Vereinbarungsprinzip“, das davon ausging, dass die Verfassungsbeschlüsse der Nationalversammlung erst durch eine „Vereinbarung“ mit den Einzelstaaten Gesetzeskraft erlangen könnten Dies schloss natürlich die Möglichkeit von Veränderungen an den Verfassungsbeschlüssen der Nationalversammlung durch die Einzelstaaten ein, die dann wieder zur Abstimmung an die Nationalversammlung zurückgehen mussten Die Landtagslinke formulierte daraufhin eine Adresse, die unter anderem forderte, dass die Kammer der Abgeordneten die Gesetzeskraft der Grundrechte, so wie sie Ende Dezember 1848 von der Frankfurter Nationalversammlung verabschiedet worden waren, anerkenne und „der örtlichen Verkündigung derselben durch die gesetzlichen Organe entgegen“ sehe 142 Die Regierung und ihre Anhänger antworteten daraufhin mit dem Hinweis, dass die Grundrechte in Bayern keine Gültigkeit finden könnten, solange nicht eine Klärung über rechtliche Hindernisse gefunden würde, die in der bayerischen Verfassung lägen, zum Beispiel bei der Frage der Gewerbefreiheit: Seit der Franzosenzeit war sie zwar in der Pfalz Realität, im restlichen Bayern aber gab es
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Vgl Glashauser, Gabriele: Das Entstehen der politischen Parteien in Bayern 1848 Masch Diss München 1944, S 131 140 Vgl Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages im Jahre 1849 Stenographische Berichte I Band Augsburg 1850, 1 Sitzung vom 30 Januar 1849 141 Vgl ebd 142 Vgl ebd
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keine Gewerbefreiheit, ihre direkte Übernahme durch die Annahme der Grundrechte bedeutete, abgesehen von verfassungsrechtlichen Problemen, eine heikle Angelegenheit für die bayerische Wirtschaft 143 Der bayerischen Regierung gelang es aber nicht, die Mehrheit der vereinten Landtagslinken zu brechen Am 7 Februar 1849 wurde der Adressentwurf angenommen Der Sieg im Parlament, in der liberalen „Neuen Speyerer Zeitung“ euphorische gefeiert,144 war tatsächlich ein Sieg ohne Erfolg Am 8 Februar 1849 trat das Ministerium Beisler-Bray-Heintz zurück Auch dieses Ereignis wurde von der „Neuen Speyerer Zeitung“ begrüßt145, da man sich jetzt Neuwahlen und einen noch liberalen Landtag erhoffte Doch weit gefehlt Am 7 März 1849 vertagte König Maximilian II den Landtag auf den 10 April; dann, am 29 März, bis zum 21 April Am 15 April gab der König die Vertagung des Landtags bis zum 15 Mai bekannt Damit existierte im Königreich „in der entscheidenden Zeit zwischen der Publizierung der Reichsverfassung, der Ablehnung des bayerischen Königs und dem Ausbruch der Pfälzischen Mairevolution kein parlamentarisches Forum“ 146 Derweilen hatte der Pfälzer Volksverein eine Adressenkampagne für die Anerkennung der Grundrechte organisiert Dem König von Bayern und seinem skeptischen Ministerium sollte auf diese Weise vor Augen geführt werden, dass sie mit ihrer aufschiebenden Haltung die Mehrheit der bayerischen Bevölkerung gegen sich hatten Aber auch dieses Mittel zeigte nur eine bedingte Wirkung Denn tatsächlich hatte der bayerische König eben nicht die Mehrheit seiner Bevölkerung gegen sich Zwar sprach sich die Mehrheit der pfälzischen Adressen und Eingaben für die Geltung der Grundrechte in Bayern aus, doch in den altbayerischen Gebieten konnten die patriotischen und konstitutionell-monarchischen Vereine diese Mehrheit zumindest egalisieren 147 Es frustrierte die Akteure dieser basisdemokratischen Aktion zutiefst148, dass ihnen
143 144 145 146
Vgl ebd , 6 Sitzung vom 7 Februar 1849 Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 11 Februar 1849 Nr 36 Vgl ebd Vgl Schneider Regina Margarete: Landesausschuß und Provisorische Regierung in Kaiserslautern 1849 In: Jahrbuch zur Geschichte von Stadt und Landkreis Kaiserslautern Bd 22/23 Die Pfälzische Revolution 1848/49 im Umfeld von Kaiserslautern Otterbach 1986, S 91–117 (hier, S 91) Schneider nennt hier andere Vertagungstermine (8 März; 20 April); wir orientieren uns an: Königlich Bayerisches Amts- und Intelligenzblatt für die Pfalz vom 13 April 1849 Nr 26 (hierin die „Bekanntmachung“ des Königs vom 29 März 1849) und die Ausgabe vom 30 April 1849 Nr 30 (hierin die Vertagung des Landtags auf den 15 Mai 1849) 147 Stolz verwies der bayerische Kultusminister Ringelmann in der Landtagssitzung vom 23 Mai 1849 darauf, dass sich in den letzten Wochen Hunderte von Adressen aus den altbayerischen Gebieten gegen die Grundrechte ausgesprochen hätten Vgl Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten (wie Anm 140), II Band, hier die 18 Sitzung vom 23 Mai 1849 In dem „Einlauf der Kammer der Abgeordneten“, der jedem stenographischen Tagesbericht vorgeschaltet ist, sind auch die Eingänge der Adressen für bzw gegen die Grundrechte registriert 148 Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 9 März 1849 Nr 58 sowie die Ausgabe vom 25 März 1849, Nr 72, wo die Speyerer Zeitung über die Machenschaften der „ultramontanen Parthei“ klagt
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nun mit einem Instrumentarium Paroli geboten wurde, das bisher kaum zum Arsenal monarchisch-konservativer Kräfte gezählt hatte Während der bayerische Landtag vertagt blieb, wurden in der Frankfurter Nationalversammlung Fragen diskutiert, welche die Elastizität der Vereinten Landtagslinken einer starken Belastungsprobe aussetze Denn inzwischen hatte sich eine Mehrheit im Verfassungsausschuss des Frankfurter Parlaments auf einen erblichen Kaiser der Deutschen verständigt, der nach Lage der Dinge nur der preußische König sein konnte Weder für eine republikanische Exekutive (sie wurde vom Abgeordneten Schüler favorisiert), noch für ein Direktorium (für das ein Teil der Linken plädierte) hatte sich in Frankfurt eine Mehrheit gefunden: Am 28 März 1849 sprach sich eine knappe Mehrheit des Frankfurter Parlaments für eine Erbmonarchie und für die kleindeutsche Lösung aus Am 18 April erfolgte die Ernennung Ludwig von der Pfordtens zum neuen Minister des Äußeren und Minister des königlichen Hauses In diesem erfahrenen Realpolitiker besaß die bayerische Regierung den wichtigsten Rückhalt ihrer Abwehrpolitik gegen die deutsche Einheitsbewegung Bereits Anfang März war es zu starken personellen Revirements im Justiz-, Finanz-, Kultus-, Kriegs- und Innenministerium gekommen: „Von 1847 bis 1849 wurden mehr Minister berufen und wieder abgelöst als im gesamten Vormärz oder in den folgenden 20 Jahren “149 Die neuen Minister brachten nur wenig Amtserfahrung mit, sodass sich der Einfluss von der Pfordtens in den folgenden entscheidenden Wochen und Monaten nur verstärkte 150 Am 23 April 1849 lehnte der bayerische König die Reichsverfassung ab Bereits eine Woche später fühlte sich die Regierung bemüßigt, diese Entscheidung ins rechte Licht zu rücken: Keinesfalls beabsichtige man, wie „Uebelgesinnte“ kolportierten, „eine Zurückführung der politischen Zustände in Deutschland und Bayern, wie sie vor dem März 1848 gestaltet waren“, vorzunehmen Die Regierung habe zwar die Reichsverfassung abgelehnt, werde aber zur gesamtdeutschen Einigung „durchaus nur den Weg gehen, den ihr die Verfassung und die Gesetze des Landes vorschreiben Sie wird aber auch die Herrschaft der Gesetze durch alle ihr zu Gebote stehenden Mittel aufrecht halten Ohne gesetzliche Ordnung ist weder Freiheit, noch Wohlfahrt eines Volkes denkbar “151 Derweilen versuchten die oppositionellen Kräfte im Königreich erneut mit einer mächtigen, von den Volksvereinen organisierten Kampagne, durch Eingaben und Adressen ihren König von seiner ablehnenden Haltung abzubringen Die eingelaufenen Adressen und Eingaben brachten für die Pfalz ein klares Ergebnis: die weit über-
149 Kreutz, Wilhelm: Diskussionsbeitrag In: Die Pfalz und Bayern (wie Anm 35), S 103–111 (hier, S 106) 150 Vgl ebd , S 107 151 Vgl LA SP, 1975, Bekanntmachung des königlichen Gesamtstaatsministeriums vom 1 Mai 1849
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wiegende Mehrheit der Pfälzer stand hinter dem Frankfurter Verfassungswerk 152 Doch wie bei der Adress-Kampagne für die Grundrechte zeigte auch diese außerparlamentarischen Aktion, dass es in den übrigen bayerischen Kreisen eine konservativ-monarchische Gegenbewegung gab, die sich als mindestens ebenso rührig erwies wie die Protagonisten der Reichsverfassung 153 Ende Mai verwies von der Pfordten im Landtag mit Befriedigung darauf, dass im Königreich die Adressen gegen die Reichsverfassung in der Mehrzahl waren 154 7 Erste Phase der Revolution. Die Mission Eisenstuck Am 30 April 1849 richteten die pfälzischen Abgeordneten der Nationalversammlung einen Aufruf „An die Bewohner der Pfalz“ In diesem Aufruf wurden die Bewohner in der Heimat einerseits aufgefordert zusammenzustehen und ausdrücklich gebeten, die „gesetzliche Grenzlinie nicht zu überschreiten“ An anderer Stelle wird aber die Nichtanerkennung der Reichsverfassung durch eine Regierung zur „strafbare Auflehnung gegen die neugeschaffene gesetzliche Ordnung“ und jeder „gewalttätige Angriff seitens einer Regierung“ zum „Hochverrat“ erklärt Wie in einem solchen Falle zu reagieren sei, wird ebenfalls geklärt: „Jeder Bürger verpflichtet sich, mit Gut und Blut für das Reichsgrundgesetz einzustehen und jeden Angriff hierauf durch die Tat abzuwehren “ Der Aufruf endet mit dem trotzigen Bekenntnis: „Die deutsche Reichsverfassung ist mit der Verkündigung, gleichviel welche Lösung die Oberhauptsfrage noch erhalten möge, in ganz Deutschland Gesetz geworden “155 Im Grunde konnte aus dieser letzten gemeinsamen Erklärung der Pfälzer Parlamentslinken jeder das herauslesen, was er wollte Ende April 1849 sah sich ein Teil der pfälzischen Opposition jeder Möglichkeit beraubt, nur auf parlamentarischem Wege oder mit Eingaben oder Adressen der Reichsverfassung doch noch zur Anerkennung zu verhelfen Für den 2 Mai 1849 rief der Geschäftsführende Ausschuss der pfälzischen Volksvereine deshalb zu all-pfälzischen Volksversammlungen in Kaiserslautern auf, wo eine Entscheidung für das weitere Vorgehen getroffen werden sollte In einer vorbereitenden Notablenversammlung sollten tags zuvor Entscheidungsalternativen beraten und beschlossen werden Zu dieser Versammlung strömten etwa 2000 Personen zusammen, darunter der gesamte pfälzische 152 153
154 155
Vgl BayHStA MInn 43 865 Vgl hierzu: Seidl, Klaus: „Gesetzliche Revolution“ im Schatten der Gewalt Die politische Kultur der Reichsverfassungskampagne in Bayern Paderborn 2014, S 203 und 205 Vgl auch Kirzl, Gernot: Staat und Kirche im Bayerischen Landtag zur Zeit Max II (1848–1864), veröffentlicht in: Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München München 1974, S 102 ff Vgl Kreutz, Wilhelm: Revolution – Reform – Reaktion Regierungspolitik und Parlamentarismus im nachmärzlichen Bayern Habil Masch Mannheim 1991, S 207 Neue Speyerer Zeitung vom 2 Mai 1849 Nr 105
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Landrat, fast alle Bürgermeistern und viele Justiz- und Administrativbeamten 156 Hier kam es zu einer ersten entscheidenden Machtprobe: Die Anhänger der Fortführung des legalistischen Kurses plädierten für eine erneute Adresskampagne Sie hatten keine Chance Der Vorschlag des Kaiserslauterer Redakteurs Philipp Schmidt, in der Pfalz jetzt eine Provisorische Regierung einzurichten, fand auch keine Mehrheit, obwohl er von den Führern des Neustadter Arbeitervereins, Loose und Weber, unterstützt wurde, die sich bereits auf einer Volksversammlung in Neustadt am 27 April für diese radikale Lösung stark gemacht hatten Am Ende wurde ein Kompromiss gefunden, der gleichwohl die Tür zur Revolution weit aufstieß: Einstimmig wurde die Forderung des Kaiserslauterer Geschäftsmannes und Redakteurs Christian Zinn angenommen, zunächst einen Landesverteidigungsausschuss einzurichten, zur Durchführung der Reichsverfassung und Organisation der Volksbewaffnung Auf der großen Volksversammlung in Kaiserslautern, zu der zwischen 8–10 000 Menschen zusammengekommen waren, setzte sich dieser Vorschlag am 2 Mai durch 157 Der gewählte Landesverteidigungsausschuss158 bestand aus zehn Männern und verstand sich als eine Art „Gegenregierung“, die jetzt auf verschiedenen Feldern fast gleichzeitig agieren musste: In seinen Beschlüssen vom 3 auf den 4 Mai 1849 trat der Ausschuss, der sich sofort für „permanent“ erklärt hatte, als Organisator einer allgemeinen Volksbewaffnung in Form einer Gegenarmee159 in Erscheinung Zunächst wurde die Bürgerwehr, die im Zuge der Märzforderung nach einer allgemeinen Volksbewaffnung entstanden war, als „Volkswehr“ dem Landesverteidigungsausschuss unterstellt Zum Oberbefehlshaber der Volkswehr hatte der Landesverteidigungsausschuss den Schweizer General Guillaume Henri Dufour erkoren, der dem revolutionären Gremium aber rasch eine Absage erteilte Am 8 Mai verlegte sich der Ausschuss auf den 29jährigen Flüchtling aus Österreich, Ferdinand Freiherr Fenner von Fenneberg, dem schon am 12 Mai der 71jährige polnische Oberst Feliks Raquillier zur Seite gestellt wurde Beide Männer erwiesen sich als glatte militärische Fehlbesetzungen Erst die Zwangsmaßnahmen der Provisorischen Regierung konnten den militärischen Ausbau einer Volkswehr erfolgreich voranzutreiben Militärische Hilfe suchte der Landesverteidigungsausschuss auch weiterhin von auswärts zu erhalten Den besten Erfolg hatte er bei rheinhessischen Freischaren oder „Freikorps“, zum Beispiel dem Freikorps des Weinhändlers Ludwig Blenker aus Worms Hilfsgesuche gingen auch an den Redakteur Dr Ludwig Bamberger und den 156 157 158
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Vgl Zinn, Christian: Die Erhebung in der Rheinpfalz und die pfälzische Volkswehr in Baden Straßburg 1850, S 8 f Vgl LA SP J 1, 105 I , Schreiben vom 2 Mai 1849 Zur Politik des Landesverteidigungsausschusses vgl jetzt: Schneider, Regina M / Ziegler, Hannes: Zur Geschichte des „Landesverteidigungsausschusses zur Durchführung der Reichsverfassung und Organisation der Volksbewaffnung“ (2 –16 Mai 1849) In: Mitteilungen des Historischen Vereins, Bd 117, Speyer 2019, S 305–349 Vgl Zinn (wie Anm 156), S 16 f
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Abgeordneten der Nationalversammlung Dr Franz Zitz sowie den westpreußischen Offizier Johann August Ernst Willich Mit deren Freischaren besaß der Ausschuss schließlich eine gediegene Militärkraft, die durch kleinere Corps, die „Sensenschar“ des Redakteurs Christian Zinn, die Studentenlegion des Jurastudenten Carl Petersen und die „Robert-Blum-Colonne“ des Frankenthaler Rechtskandidaten Ferdinand Luchesi verstärkt wurde Die Freischaren umfassten etwa 2200 (12 Mai); später (4 Juni) fast 3900 Mann 160 Sie bildeten die schlagkräftigste Militärkraft der Revolution Am 4 Mai richtete der Landesverteidigungsausschuss einen flammenden Appell an die in der Pfalz stationierten bayerischen Soldaten und forderte sie gegenüber der „meineidigen Regierung“ zur Befehlsverweigerung auf 161 Ein Erfolg stellte sich auch bald ein: In den nächsten Tagen nahmen die Desertionen unter den bayerischen Soldaten besorgniserregend zu Während in der Festung Germersheim fast alle treu zur Fahne hielten, stieg in den Festungen Zweibrücken und Landau die Zahl der Desertionen: Allein in der Reichsfestung Landau entfernten sich in der Zeit vom 10 bis zum 20 Mai gut die Hälfe der 4357 Mann starken Garnison ohne Erlaubnis von ihrer Truppe 162 Als nächstes drohte der Ausschuss – wenn auch erfolglos – der Regierung mit Staatssteuerverweigerung;163 am 5 Mai 1849 kündigte er an, sich mit einer „Volksvertretung“, einem „Convent“, umgeben zu wollen Das Versprechen wurde in dieser Form nie eingelöst 164 Ein wichtiges Anliegen des Landesverteidigungsausschusses war es, sich der pfälzischen Beamtenschaft zu versichern Das schien nicht schwer zu sein, denn der Großteil dieser Berufsgruppe stand der Reichsverfassung positiv gegenüber Schon am 3 Mai forderte der Ausschuss sämtliche pfälzischen Offiziere und Beamten auf, ihre Loyalität gegenüber der Reichsverfassung schriftlich zu erklären 165 Diese Art der Dokumenta-
160 Vgl hierzu die tabellarische Übersicht von Voß, Wilhelm von: Der Feldzug in der Pfalz und Baden im Jahre 1849 Berlin 1903, S 472, Anlage 3 161 Der Aufruf ist abgedruckt in: Fleischmann, Otto: Geschichte des Pfälzischen Aufstandes im Jahre 1849 Kaiserslautern 1899, S 155–157 162 Über die prekäre Lage in der Reichsfestung Landau vgl Ziegler, Hans: Landau in der Vormärzzeit und im Jahre des pfälzischen Aufstandes 1849 In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 61 Band Speyer 1963, S 201–224, hier S 215 und S 218 Die Nachricht, dass es am 9 /10 Mai in der Festung Rastatt unter den Soldaten der badischen Garnison zur Meuterei und Verbrüderungen mit den Revolutionären gekommen war, beschleunigte den Desertionsprozess in der Reichsfestung Landau 163 Der Beschluss der Verweigerung der Staatssteuern erhielt zwar in allen Kreisen der pfälzischen Bevölkerung großen Rückhalt (vgl LA SP, H 35, 250), musste aber wenige Tage später wieder zurückgenommen werden 164 Als Umsetzung dieser Ankündigung konnte man die Wahlausschreibung des Landesausschuss an die Kantonalausschüsse vom 11 Mai 1849 verstehen, in dem diese aufgefordert wurden, am 17 Mai in Kaiserslautern zusammenzukommen, um jetzt, angesichts der Weigerung des bayerischen Königs, die Reichsverfassung anzuerkennen, „den Willen der Pfalz zu verkünden und die erforderlichen Beschlüsse zu fassen “ Vgl LA SP J 1, 105 II, Schreiben vom 11 Mai 1849 165 Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 5 Mai 1849 Nr 108
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tion, die ja später nachgeprüft werden konnte, war nun nicht im Sinne der pfälzischen Beamten Der Grund dafür war weniger mangelnde Sympathie mit der Reichsverfassung als vielmehr die Angst, mit dieser schriftlichen Erklärung in einen brisanten Konflikt zweier sich bekämpfenden Regierungsgewalten zu geraten Die Loyalitätsaktion verlief sich, wurde aber später von der Provisorische Regierung wieder aufgenommen Für die Kreisregierung in Speyer war mit der Berufung eines Landesverteidigungsausschusses eine heikle Situation entstanden: Im Kreis existierten seit dem 2 Mai zwei Exekutiven Regierungspräsident Franz Alwens war sich der akuten Brisanz, die in diesem Sachverhalt steckte, wohl bewusst Bereits Ende April hatte er das bayerische Innenministerium in mehreren Berichten vor den kommenden Ereignissen gewarnt und die Regierung beschworen, die Reichsverfassung doch anzunehmen Andernfalls drohe ein Aufstand 166 Eine Antwort aus München kam postwendend: die Kreisregierung solle nicht zögern, gegen „bewaffnete Volksversammlungen“ und „Aufrührer“ mit allen gebotenen Mitteln vorgehen 167 Damit war dem Regierungspräsidenten nun wirklich nicht geholfen Angesichts der ansteigenden Desertionen in der nahen Festungsstadt Landau war seine Lage durchaus prekär 168 So wandte sich Alwens mittels Mauerplakaten an die Bevölkerung, worin er an den „angebornen hohen gesetzlichen Sinn“ der Pfälzer appellierte und seine Machtbefugnis in Sachen Reichsverfassung etwas kleinlaut so erklärte: „Die Kreisverwaltungsstelle der Pfalz ist blos ein Organ der obersten Staatsgewalt, hat keine Vollmacht in Fragen der Verfassung, sie muß abwarten, was König und Landesvertretung als Gesetz proklamiren “169 Peter Eberhard von Korbach, Generalstaatsprokurator in Zweibrücken, bat Alwens indes um Mitteilung, „ob und welche Aussicht zum baldigen Einrücken einer imposanten Militair-Macht in die Pfalz bestehe, zur Unterdrückung der revolutionären Bewegung “170 Das Appellationsgericht in Zweibrücken dagegen forderte von München explizit die Anerkennung der Reichsverfassung und warnte vor einem „unheilschwangeren Kampf “ 171 Außerdem vermeldete das höchste pfälzische Gericht am 5 Mai – in Einklang mit dem Generalstaatsprokurator und den Staatsprokuratoren –, dass ein „gerichtliches Einschreiten“ gegen den Landesverteidigungsausschuss „unmöglich und unausführbar sei“ – wegen der „allgemein im Lande verbreiteten Ansicht über
166 Vgl Bushley, Hermann-Joseph: Das pfälzisch-bayerische Verhältnis in der Revolutionszeit 1848/49 In: Die Pfalz und Bayern (wie Anm 35), S 67–101 (hier, S 86 f ) 167 Vgl LA SP, H 1, 1975, Schreiben des königlichen Gesamtstaatsministeriums an die Kreisregierung in Speyer vom 30 April 1849 168 Vgl BayHStA Minn, 45 531 (Auszug aus dem Sitzungsprotokoll der kgl Bay Reg d Pfalz vom 3 Mai 1849) sowie LA SP H 1, 1975, Schreiben des Regierungspräsidenten an das bayerische Innenministerium vom 3 Mai 1849 169 Vgl LA SP, J 1, 202 (Schreiben der Kreisregierung „An die Bewohner der Pfalz“ vom 4 Mai 1849) 170 Vgl LA SP H 1 1975, Schreiben vom 4 Mai 1849 171 Vgl ebd , Schreiben vom 5 Mai 1849
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die Rechtsverbindlichkeit der in Frankfurt beschlossenen Reichsverfassung“ 172 Diese Einlassung musste München verärgern, lief sie doch ihrer pauschalen Mahnung vom 30 April diametral entgegen Der Landesverteidigungsausschuss benötigte jetzt vor allem die Unterstützung der Zentralgewalt, weshalb er schon in der Nacht zum 3 Mai um „Reichsschutz“ nachsuchte Einen Tag später forderten die „in Frankfurt versammelten bayerischen Abgeordneten zur deutschen Nationalversammlung und zur bayerischen Volkskammer“ das „bayerische Volk“ in einem Flugblatt dazu auf, „in ihren Gemeinden die Anerkennung der Reichsverfassung zum Beschluss zu erheben“ Auf diese Weise sollte der Regierung in München die Augen geöffnet werden „über die gefährliche Bahn, welche es wandelt“ 173 Damit war die Frankfurter Zentralgewalt in eine missliche Lage gebracht Einerseits musste es in ihrem Interesse sein, die Verweigerungspolitik von Preußen und Bayern zu brechen Andererseits konnte sie aber nicht zulassen, dass sich jetzt eine Bewegung manifestierte, die den parlamentarischen Weg bewusst missachtete und eine Art Gegenregierung installiert hatte, die mit eigenmächtigen Beschlüssen die Autorität der Speyerer Kreisregierung in Frage stellte Die Zentralgewalt entschied sich für einen Mittelweg Sie forderte einerseits „die Regierungen, die gesetzgebenden Körper, die Gemeinden der Einzelstaaten, das gesammte deutsche Volk“ dazu auf, „die Verfassung des deutschen Reichs vom 28 März zur Anerkennung und Geltung zu bringen“ 174 Andererseits aber entsprach sie dem Wunsch der pfälzischen Abgeordneten in der Nationalversammlung, einen Reichskommissär in die Pfalz zu schicken, „zur Beruhigung und Herstellung der Ordnung “175 Die geplante Mission fand die ausdrückliche Billigung des bayerischen Bevollmächtigten bei der Zentralgewalt, Joseph Ritter und Edler von Xylander 176 Am 5 Mai 1849 ernannte Reichsministerpräsident Heinrich Freiherr von Gagern den sächsischen Abgeordneten Bernhard Eisenstuck, seit April 1849 zweiter Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung, zum „Bevollmächtigten der provisorischen Zentralgewalt in der Pfalz“ Doch die „Mission Reichskommissär“ brachte weder eine „Beruhigung“, noch die Herstellung der erwünschten „Ordnung“ in dem spannungsgeladenen bayerischen Kreis 172
173 174 175 176
Vgl Fleischmann (wie Anm 161), S 161 Drei Tage später meldete Generalstaatsprokurator Korbach dem bayerischen König, dass „bei der herrschenden politischen Aufregung (…) die Aussicherung einer solchen Untersuchung eine reine Unmöglichkeit sei, und selbst dem Staatsinteresse zuwider laufe, weil sie (…) das Losungswort zu (…) Exzessen von Seiten der rothen Republikaner hervorrufen würde, denen die sogenannten Aristokraten und Besitzenden Preis gegeben wären “ Vgl LA SP, H 1, 1975, Schreiben von Korbachs vom 8 Mai 1849 Zur Funktion des Generalstaatsprokurators vgl Ziegler (wie Anm 9), S 189 f Vgl LA SP, J 1, 106 I, Schreiben vom 5 Mai 1849 Vgl Stenographische Berichte über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrsg von Franz Wigard, Bände 1–9 Frankfurt 1848/49, Band 9, Nr 212, Sitzung vom 4 Mai 1849, S 6396 (Majoritätsantrag) Vgl LA SP, J 1, 106 I, Schreiben von Gagerns und des Reichsverwesers vom 5 Mai 1849 Vgl BArch DB 10/10, Schreiben von Gagerns an von Xylander vom 6 Mai 1849
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Die von dem Reichsministerpräsidenten und dem Reichsverweser unterzeichnete Vollmacht nannte drei Gründe für die Entsendung Eisenstucks: 1 In der Pfalz hatte sich ein Landesverteidigungsausschuss „als eine öffentliche Behörde konstituirt und Beschlüsse gefaßt (…), welche in den Wirkungskreis der bestehenden gesetzlichen Behörden eingreifen“ 2 Abgeordnete der Nationalversammlung und des bayerischen Landtages hätten die Reichsgewalt um eine vermittelnde Funktion gebeten und 3 „die von der gesetzlichen Landesbehörde zur Verfügung stehenden Kräfte“ könnten sich als „unzureichend“ erweisen, „um die Gesetze und die öffentliche Ordnung überall aufrecht zu halten “ Falls die Landesverteidigungsausschuss seine Beschlüsse vom 3 Mai nicht zurücknähme, so bestimmte die Vollmacht, müsse er aufgelöst werden Zudem erhielt Eisenstuck die Kompetenz, „im Namen der Reichsgewalt“ alle Maßregeln zu ergreifen, um in der Pfalz die „Herrschaft der Gesetze“ wiederherzustellen 177 Während Eisenstuck auf dem Weg in die Pfalz war, überstürzten sich dort die Ereignisse: Am 5 Mai meldete der Festungskommandant von Landau, Generalmajor Freiherr Wilhelm von Jeetze, dem königlich bayerischen Bevollmächtigten bei der provisorischen Zentralgewalt, von Xylander, dass „unverkennbar Anzeichen eines beabsichtigten Aufruhrs“ vorhanden“ seien: der Landesverteidigungsausschuss plane „mittels Handstreichs, sich in den Besitz der Festung Landau zu setzen “178 Dieser „bedrohliche(n) Umstände“ wegen habe er sich veranlasst gesehen, „die Stadt und Festung Landau in Kriegszustand zu erklären “179 Da sich München militärisch nicht in der Lage sah, zeitnah zu reagieren – zahlreiche bayerische Truppenkontingente lagen in Holstein – gab von Xylander besagte Nachricht an das Reichskriegsministerium in Frankfurt weiter, ergänzte sie mit dem Hinweis, dass „ein Handstreich auf die Regierung und die Kreiskasse zu Speyer zu befürchten“ sei, und forderte ein Truppenkontingent von 1500–2000 Mann an 180 In Frankfurt reagierte man prompt Schon tags darauf ließ Reichskriegsminister Eduard von Peucker zur Sicherung der Festung Landau
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Vgl ebd Vgl ebd , DB, 56/65, Schreiben von Jeetzes an von Xylander vom 5 Mai 1849 Von Jeetze berichtete auch von den Anstrengungen des Landesverteidigungsausschusses, polnischen Offizieren die Leitung der Volksbewaffnung zu übertragen 179 Vgl ebd , Schreiben von Jeetzes an von Xylander vom 5 Mai 1849 Über die Auswirkungen dieser Maßnahme auf die Einwohner der Stadt vgl Ziegler, Hans: Der Fugger-Glött-Prozess in Landau 1849/50 In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 92 Band Speyer 1994, S 241–305, Hier, S 252 f 180 Vgl BArch DB 56/65, Schreiben von Xylanders an Reichskriegsminister von Peucker vom 5 Mai 1849
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etwa 700–800 Mann preußische Truppen von Mainz und Kreuznach sowie badische Truppen aus dem Raum Mannheim in Marsch setzen 181 Am frühen Morgen des 6 Mai kam Eisenstuck in Begleitung der Abgeordneten Kolb und Culmann in Speyer an, wo er ein harmonisches Gespräch mit Regierungspräsident Alwens führte Nach Eisenstucks Angaben versicherte ihm der Regierungspräsident, dass er, wie auch die Mehrzahl der Pfälzer Beamten, hinter der Reichsverfassung stünde, er sich aber gegen eine Beschränkung seiner Befugnisse durch den Landesverteidigungsausschuss verwahren müsse 182 Alwens hingegen meldete nach München, dass er Eisenstuck gebeten habe, auf die Abschaffung des Landesverteidigungsausschusses hinzuwirken 183 Eisenstuck reiste noch am 6 Mai weiter nach Neustadt, wo er sich ein erhellendes Bild von der republikanisch-demokratischen Richtung machen konnte: Unter Leitung von Nikolaus Schmitt, der sich von der Anwesenheit Eisenstucks wohl einen mäßigenden Einfluss auf die Radikalen versprochen hatte184, forderten Redner aus der Pfalz wie Gastredner aus Franken, Hessen, Schlesien und der preußischen Rheinprovinz weitgehende politische und militärische Vollmachten für den Landesverteidigungsausschuss sowie dessen Umwandlung in eine Provisorische Regierung Es war offensichtlich, dass dieser Richtung – sie rekrutierte sich aus den am 2 Mai in Kaiserslautern unterlegenen Kräfte um Weber und Loose – die Reichsverfassung lediglich als Vehikel diente für ihre eigenen, republikanischen Zwecke 185 Am 7 Mai reiste Eisenstuck nach Kaiserslautern weiter, wo er den Landesverteidigungsausschuss mit der Verlockung auf die ersehnte reichsrechtliche Legitimation dazu brachte, seine Beschlüsse vom 3 Mai zurückzunehmen Daraufhin bestätigte Eisenstuck das Gremium als einen „Landes-Ausschuss für Verteidigung und Durchführung der deutschen Reichsverfassung“, und zwar „im Namen der provisorischen Centralgewalt des deutschen Reichs“ 186 In dieser Funktion sei der Ausschuss nicht nur berechtigt, „alle ihm erforderlich erscheinenden Maßregeln zur Vertheidigung der deutschen Reichsverfassung in der Pfalz einzuleiten, in so weit sie nicht in die Befugnisse der zu Recht bestehenden Landesbehörden eingreifen, demnach insbesondere die Organisation der Volkswehr zu leiten und überwachen“, sondern auch Eidesleistungen vorzunehmen und „gegen gewaltsame Angriffe auf die Reichsverfassung in der Pfalz äußers181
Vgl ebd , Schreiben von Peuckers an den preußischen Festungskommandanten von Mainz vom 6 Mai 1849 182 Vgl Stenographische Berichte (wie Anm 174), Band 9, Nr 221, S 6579 ff 183 Vgl BayHStA MInn 45 531 (Bericht des pfälzischen Regierungspräsidenten Alwens vom 6 Mai 1849) 184 Vgl LA SP H 1, 1975, Schreiben vom 6 Mai 1849 Hier wird die Ansicht vertreten, dass auf der Neustadter Volksversammlung „ohne die Dazwischenkunft dieses Reichskommissärs“ (…) die Republik sicher proclamiert worden wäre “ 185 Vgl hierzu den Bericht in der Neuen Speyerer Zeitung vom 8 Mai 1849 Nr 111 186 Vgl Staroste, Daniel: Tagebuch über die Ereignisse in der Pfalz und Baden im Jahre 1849 Potsdam 1852, S 8 f Vgl auch Königlich Bayerisches Amts- und Intelligenzblatt (wie Anm 146) vom 26 Mai 1849 Nr 34
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ten Falles selbständig einzuschreiten“ 187 Damit war Eisenstuck erheblich über die ihm ausgestellte Vollmacht hinausgegangen Der Ausschuss aber hatte jetzt nicht nur seine ersehnte reichsrechtliche Legitimation, sondern auch Kompetenzen erhalten, die ihn als eine zweite Exekutive in der Pfalz legitimierten Noch am gleichen Tag meldete Eisenstuck seine Entscheidungen nach Speyer und Frankfurt, was dort helles Entsetzen auslöste 188 Unverzüglich sandte von Gagern per Estafette eine Nachricht zu Eisenstuck, in der ihm deutlich vor Augen geführt wurde, dass er sich in „offenbaren Widerspruch“ zu seinem Auftrag gesetzt und seine Kompetenzen weit überschritten hatte: „Eine Bestätigung und Legitimation dieses Ausschusses von Seiten der Reichsgewalt lag gänzlich außerhalb Ihrer Vollmacht “ Der Reichskommissär wurde angewiesen, „das Mittel zu finden, schleunigst den rechtlichen Gesichtspunkt wieder herzustellen, wonach der Ausschuß nicht als eine öffentliche von der Reichsgewalt anerkannte Behörde den gesetzlich constituierten Gewalten gegenüber erscheinen darf “189 Am 7 Mai hatte derweilen den pfälzischen Regierungspräsidenten eine neue Antwort aus München erreicht: Darin wurde Speyer angewiesen, den Landesverteidigungsausschuss aufzulösen und die Mitglieder gerichtlich zu verfolgen Bei Widersetzlichkeiten sollte man das in der Pfalz stationierte Militär zu Hilfe rufen – oder sich in die Festung Germersheim zurückziehen 190 Inzwischen war Eisenstuck in der Garnisonsstadt Landau geeilt, wo er den Festungskommandanten am 8 Mai über sein Arrangement mit dem Landesverteidigungsausschuss informierte In Landau erreichte Eisenstuck auch die Nachricht, dass preußische Truppen im Anmarsch seien Per Dampfschiff waren diese nach Ludwigshafen gekommen, wo sie sich mit den badischen Truppen vereinten Ihre Absicht, mit der Bexbach-Bahn weiter nach Neustadt zu fahren, zerschlug sich allerdings, da die Strecke ab Rheingönheim durch Freischaren unpassierbar gemacht worden war So mussten die Truppen bei strömendem Regen zu Fuß ihren Marsch nach Speyer fortsetzen, wo ihnen die Bürgerschaft aber den Durchmarsch verweigerte In dieser Lage traf Eisenstuck eine Entscheidung, die Frankfurt als weitere schallende Ohrfeige empfand: Über von Jeetze schickte Eisenstuck einen Hauptmann zu den Truppen, der ihnen die Weisung übermittelte, sich nach Mainz zurückzuziehen Der preußische Kommandant tat, wie ihm geheißen Von Schwegenheim aus informierte er das Reichskriegsministerium über die veränderte Lage191 und dampfte mit dem Schiff wieder nach Mainz zurück 192 Statt der Preußen rückten nun die badischen Truppen 187 188
Vgl LA SP, H 1, 1975, Bekanntmachung Eisenstucks vom 7 Mai 1849 Vgl BArch, DB 10, 10, Schreiben von Gagerns vom 8 Mai 1849 Von Gagern bezieht sich in seinem Schreiben auf die Information Eisenstucks vom Vortage 189 Vgl ebd 190 Vgl LA SP 1975, Entschließung des bayerischen Innenministeriums vom 7 Mai 1849 191 Vgl BArch DB, 56, 65, Schreiben des preußischen Kommandanten an das Reichskriegsministerium vom 8 Mai 1849 192 Vgl Staroste (wie Anm 186), S 11
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in Landau ein, von der Bürgerschaft stürmisch begrüßt Sie standen im Ruf einer „ausgeprägten demokratischen Gesinnung“ und waren alles andere als eine wirkliche Hilfe für Landaus Festungskommandanten 193 Am 9 Mai kam eine weitere Antwort aus München Jetzt erklärte die königliche Regierung den Landesverteidigungsausschuss zu einer „gesetzwidrigen Vereinigung“, ermahnte die Bevölkerung, „auf dem gesetzlichen Wege zu beharren“ und verwies auf die bald beginnenden Landtagssitzungen, wo das „Problem Reichsverfassung“ durch Veränderungsvorschläge der Regierung gelöst werden würde 194 Damit war dem pfälzischen Regierungspräsidenten aber noch weniger geholfen Die Lage verschärfte sich, als Blenkers Freischaren am 10 Mai Ludwigshafen einnahmen und tags darauf kampflos in die Kreishauptstadt einzogen, wo es zu Verbrüderungsszenen kam Trotzdem entschloss sich Alwens, vorerst in Speyer zu bleiben 195 Eisenstuck hatte sich inzwischen von Landau wieder nach Kaiserslautern aufgemacht, wo ihn unterwegs der Kurier mit der dringlichen Botschaft aus Frankfurt erreichte Die Nachricht aus Frankfurt musste den Reichskommissar wenig berührt haben: In Absprache mit dem Landesausschuss bat er Frankfurt um reichstreue Truppen, die bis zum Aufbau einer Volkswehr die Pfalz an ihren neuralgischen Punkten schützen sollten 196 Als diese Nachricht wie der Rückzugsbefehl Eisenstucks vom Vortage in Frankfurt eintrafen, reagierte man dort sehr schnell In der Nacht vom 10 zum 11 Mai wurde Eisenstuck abberufen 197 Am 13 Mai verließ der Reichskommissar die Pfalz Damit war eine Verbindung gekappt, auf die der Landesausschuss große Hoffnungen gesetzt hatte Der spätere Versuch des Abgeordneten Schüler, mit einer Neuauflage der „Mission Reichskommissär“ durch den Abgeordneten Adolph von Trützschler einen Kompromiss zwischen der revolutionären Regierung und Frankfurt zu erreichen, scheiterte schon im Ansatz: Trützschler, der sich aktiv an der badischen Revolution beteiligte, lehnte das Ersuchen Schülers rundweg ab 198 Am 13 Mai wies der Landesausschuss per Rundschreiben auf die prekäre Lage in der Pfalz hin: die Zentralgewalt hatte ihren Bevollmächtigten abberufen, der bayerische König machte keine Anstalten, die Reichsverfassung anzuerkennen, darüber hinaus drohte weiter die Gefahr einer Invasion durch preußische Truppen In dieser
193 Vgl Ziegler (wie Anm 162), S 216 194 Vgl Staroste (wie Anm 186), S 13 f (Proklamation der bayerischen Regierung an das „baierische Volk“) 195 Vgl BayHStA MInn 45 531, Alwens an München vom 12 und 13 Mai 1849 Der Regierungspräsident wollte auch seine Beamten nicht im Stich lassen, die sonst „in die bedrängte Lage und die peinlichste Versuchung versetzt werden könnten “ 196 Vgl BArch DB 10/10, Schreiben Eisenstucks vom 9 Mai 1849 197 Vgl ebd , Schreiben vom 10 Mai 1849 198 Vgl hierzu Schröter, Hans: Trützschler, Wilhelm Adolph von In: Der Rhein-Neckar-Raum (wie Anm 115), S 310–312
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Stunde der Not und Gefahr suchte der Ausschuss den „Willen des Volkes“ zu erfahren und schrieb eine Wahl aus, die über die Kantonalausschüsse organisiert werden sollte Am 17 Mai kamen die Kantonaldelegierten zusammen, um eine Entscheidung treffen Die gewünschte Entscheidung aber gab der Landesausschuss in seinem Rundschreiben gleich vor: „Es scheint zur Erhaltung der Sicherheit und Freiheit der Pfalz unabwendbar, eine provisorische Regierung zu bilden “199 Am 17 Mai wählten die Delegierten unter beträchtlichem Druck mit knapper Mehrheit eine fünfköpfige Provisorische Regierung, die jetzt „offiziell“ als Gegenregierung zur Speyerer Kreisregierung agierte, den „Bruch“ mit der bayerischen Krone konstatierte und einen vertraglichen Schulterschluss mit der Revolutionsregierung in Baden suchte: „Baden und die Pfalz sind reichsunmittelbare Schwesterstaaten “200 Vier ihrer Mitglieder, nämlich Reichard, Culmann, Schüler und Hepp, waren schon in den Landesverteidigungsausschuss gewählt worden Die personelle Aufstellung der Provisorischen Regierung hätte eine liberale und legalistische Komponente enthalten, wenn Culmann, Kolb und Schüler bei der Wahl zugegen gewesen wären Mit der sofortigen Wahl von Greiner, Fries und Schmitt als Ersatzleute, ein Vorschlag Reichards, war aber ein alternatives Faktum geschaffen worden Zwar beteuerte Reichard den vorläufigen Charakter dieser Ersatzwahl, doch alle wussten um die legalistische Position von Culmann, Kolb und Schüler, die dann ihre Wahl konsequenterweise auch nicht annahmen:201 Die zweite Phase der Pfälzischen Revolution hatte begonnen 8 Zweite Phase der Revolution. Konflikte im bayerischen Landtag. Reaktionärer Kurswechsel in Frankfurt An diesem 17 Mai konnte der bayerische Landtag wieder zu einer Sitzung zusammenkommen Die Pfälzer Landtagsabgeordneten hatten jetzt mit zwei Gegnern zu kämpfen: Mit einer internen linken Lageropposition, die sich in Kaiserslautern für einen anderen Weg zum gleichen Ziel entschieden hatte, und mit der bayerischen Staatsregierung, die sich weiterhin weigerte, die Ursache dieser Revolution, die Ablehnung der Reichsverfassung, zu beseitigen Stattdessen kündigte die Regierung in München Veränderungen am Verfassungswerk an, die vom Landtag beschlossen und dann in Frankfurt erneut zur Vorlage gebracht werden sollten Damit standen, wie zu Beginn der Debatte Ende Januar, zwei Positionen weiter unvereinbar gegenüber: hier die Anhänger eines Vereinbarungsprinzips, dort eine Landtagsmehrheit, die in der Frankfurter Nationalversammlung den alleinigen Souverän sah
199 LA SP H 1, J 1, 105 II, Rundschreiben der Provisorischen Regierung vom 13 Mai 1849 200 Vgl Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land vom 18 Mai 1849 Nr 98 201 Vgl Schneider (wie Anm 146), S 100 f
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Für die Vereinte Linke wie für das Präsidium der Kammer brachen jetzt schwierige Zeiten an Es ging hin und her Zunächst einmal scheiterte am 19 Mai ein Misstrauensantrag der Opposition; am gleichen Tag trat der frühere Innenminister Gustav Freiherr von Lerchenfeld als Landtagspräsident zurück In der Sitzung vom 21 Mai setzte sich der Abgeordnete Kolb mit einem Antrag durch, eine Adresse zugunsten der Reichsverfassung abzufassen Am gleichen Tag erfuhr die Regierung durch eine Zeitungsmeldung von den revolutionären Ereignissen in der Pfalz, was am 22 Mai auch offiziell bestätigt wurde In einer Bekanntmachung erklärte die Regierung die Rheinpfalz daraufhin als „eine im Zustande des Aufruhrs befindliche Provinz“ und bezeichnete die Einrichtung einer Provisorischen Regierung als einen „Akt des Hochverraths“ Diese Bekanntmachung wurde in der Landtagssitzung vom 23 Mai 1849 verlesen 202 In der gleichen Sitzung wurde auch ein Schreiben bekannt gegeben, welches das Gesamtstaatsministeriums an das Präsidium der Kammer der Abgeordneten am 22 Mai gerichtet hatte Darin wurde mitgeteilt, dass „die Berechtigung der Abgeordneten aus dem pfälzischen Regierungsbezirke zur Theilnahme an den Verhandlungen des Landtages zu beanstanden, und diese Theilnahme so lange zu suspendieren sey, bis der gesetzliche Zustand in der Pfalz wiederhergestellt seyn wird “203 Wie „die geeignete Einleitung zur Herbeiführung eines kompetenzmäßigen Kammerbeschlusses zu treffen sei“, das freilich überließ das Ministerium dem Präsidium Das Kammerpräsidium befand sich nun in einer misslichen Lage Denn die Abgeordneten der Vereinten Linken machten vor den anwesenden Ministern und gegenüber dem Präsidium geltend, dass diese Suspendierung verfassungswidrig sei, da die Pfalz immer noch zum Königreich gehöre und ihre gewählten Abgeordneten weiter Mitglied des bayerischen Landtags seien Im Übrigen hätten die Abgeordneten Culmann, Kolb und Schüler weder ihr Mandat im Landesverteidigungsausschuss, noch das in der Provisorischen Regierung wahrgenommen, was ihre Distanz zur revolutionären Bewegung in der Pfalz hinreichend belege Tatsächlich hatte nur Schüler, der sowohl in den Landesverteidigungsausschuss wie die Provisorische Regierung gewählt worden war, seine Mitarbeit in beiden Gremien verweigert Culmann nahm zwar wie das Landtagsmitglied Hannitz an den Beratungen des Landesverteidigungsausschusses teil, blieb aber ansonsten außen vor Ihre Wahl in die Provisorische Regierung hatten die drei Männer nicht angenommen 204 Nach heftigen Diskussionen sollte dann über zwei Anträge abgestimmt werden, die einmal den Übergang zur Tagesordnung, zum anderen die Weitergabe dieser Entscheidung an einen Verfassungsausschuss empfahlen Als es zur Abstimmung über
202 Vgl Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten (wie Anm 140), 19 Sitzung vom 23 Mai 1849 Vgl auch Königliches Bayerisches Amts- und Intelligenzblatt (wie Anm 146) vom 26 Mai 1849 Nr 34 203 Vgl ebd 204 Vgl Schneider (wie Anm 146), S 95 und 102
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diese Anträge kam und die Frage anstand, ob die Pfälzer Abgeordneten zur Teilnahme an dieser namentlichen Abstimmung berechtigt seien oder nicht, entschied das Präsidium nach weiteren heftigen Diskussionen schließlich auf eine Nichtteilnahme der Pfälzer Abgeordneten Daraufhin verließ die Vereinte Linke unter Beifall der Galeriebesucher den Sitzungssaal in der Prannerstraße Tags darauf wiederholte sich die Situation Dem Präsidenten blieb nun nichts anderes übrig, als die Sitzung zu schließen und die Abgeordneten in die Pfingstferien zu entlassen 205 Nachdem die Provisorische Regierung von diesen Vorgängen im Landtag erfahren hatte, verkündete sie am 27 Mai 1849 offiziell und mit eindeutiger Schuldzuweisung die staatsrechtliche Trennung der Pfalz von Bayern: „Das baierische Staatsministerium hat dadurch mit eigener Hand die Möglichkeit der gegenwärtigen Verbindung zwischen der Rheinpfalz und Baiern vernichtet“ 206 Damit beseitigte sie genau das Argument, auf das sich die Vereinte Linke im Landtag bei der Diskussion um die Suspendierung der Pfälzer Abgeordneten gestützt hatten: der Ausschluss sei gesetzwidrig, weil die Pfalz immer noch zu Bayern gehöre und damit ihr Anrecht auf eine Volksvertretung behalte In der nächsten Sitzung am 30 Mai nahm die Vereinte Landtagslinke, also auch die ausgeschlossenen Pfälzer, wieder teil, als sei nichts geschehen Als ein Abgeordneter in der Sitzung vom 4 Juni auf eine Klärung der Ausschlussfrage drängte, beschied ihm das Präsidium, dass dieser „Fall“ von dem Staatsministerium gelöst werden müsste Eine Lösung der besonderen Art wurde in der nächsten Sitzung auch präsentiert: Am 11 Juni 1849 teilte der König den Abgeordneten mit, dass er die Kammer tags zuvor aufgelöst habe 207 In Frankfurt, worauf sich die Hoffnungen aller richteten, hatte sich inzwischen ein politischer Kurswechsel vollzogen Am 10 Mai erklärte das Ministerium von Gagern, das bis zuletzt versuchte hatte, der Reichsverfassung zur Anerkennung zu verhelfen208, seinen Rücktritt Ihm folgte am 16 Mai das rechtskonservative Ministerium unter Karl Friedrich Grävell und Johann Hermann Detmold, beides Mitglieder der rechtskonservativen Fraktion („Café Milani“) Das neue Ministerium verfügte über keine Mehrheit in der Nationalversammlung, was seit dem „Reichsgesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland“ vom 28 Juni 1848 auch nicht
205 Vgl Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten (wie Anm 140), 20 Sitzung vom 24 Mai 1849 206 Vgl Amtsblatt der provisorischen Regierung der Pfalz vom 30 Mai 1849 Nr 7 207 Vgl Königlich Bayerisches Amts- und Intelligenzblatt (wie Anm 146) vom 13 Juli 1849 Nr 41 Hierin sind die königliche Proklamation vom 4 Juli (Auflösungsbeschluss) wie die Bekanntmachung vom 4 Juli zu den Urwahlen (17 Juli) und Neuwahlen der Abgeordneten zum Landtag (24 Juli) abgedruckt 208 Mit seinem gewagten Plan, die Nationalversammlung aufzulösen, den Reichsverweser Erzherzog Johann abzusetzen und die Zentralgewalt Preußen zu übertragen, scheiterte von Gagern am 9 Mai 1849 Vgl Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Band II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850 Dritte wesentlich überarbeitete Auflage Stuttgart 1988 (1960), S 856–858
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vonnöten war: Die Bestimmung, dass die Minister allein dem Reichsverweser verantwortlich sind209, hatte ein strukturelles Problem geschaffen, das jetzt klar zu Tage trat „Diese Politik stellte den Legalitätsnimbus der Verfassungsbewegung nachdrücklich infrage und schuf somit eine Grundvoraussetzung für den folgenden Militäreinsatz “210 Grävells politischer Kurswechsel und die zunehmend gegenrevolutionäre Politik des Reichsverwesers torpedierten zudem alle Bemühungen der Parlamentarier, an ihrem legalistischen Kurs festzuhalten 9 Die kurze Phase der Provisorischen Regierung Mit der Einsetzung der Provisorischen Regierung endete die Phase der Freiwilligkeit, von der noch die Politik des Landesverteidigungsausschusses geprägt war Einen Tag nach ihrer Wahl erläuterten ihre Mitglieder dem Haupt der Provisorischen Zentralgewalt, was sie zu dem revolutionären Schritt vom 17 Mai erwogen hatte: Die Provisorische Regierung war eingerichtet worden, „um einestheils der drohenden Anarchie kräftig entgegen zu wirken und anderntheils die (!) Bewegung zur Durchführung der Reichsverfassung mehr Nachdruck und Einheit zu geben “211 Die Pfälzer erfuhren am gleichen Tag durch eine Proklamation von den Beweggründen und Zielen der Provisorischen Regierung 212 Die Pfalz müsste zunächst in einen Verteidigungszustand versetzt werden, der einen Aggressor von auswärts zumindest abschreckte 213 Der „Durchführung der Reichsverfassung“ könnte am besten „Nachdruck und Einheit“ gegeben werden, wenn man die Bevölkerung an die Revolution band Mit sozialen und wirtschaftlichen Reformen – der schon früher geforderten „zweiten Revolution“ – nahmen die Revolutionäre dieses Ziel alsbald in Angriff Dafür aber brauchte es Organe, die diese Aufgabe übernahmen – und Geld
209 Vgl ebd , S 626–629 („Der Reichsverweser berief und entließ die Mitglieder des Reichsministeriums nach seinem freien Ermessen; sie bedurften zum Amtsantritt keines Vertrauensvotums des Parlaments; bei einem parlamentarischen Misstrauensvotum waren sie nicht zum Rücktritt verpflichtet “ Ebd , S 628 ) 210 Seidl, Klaus: „Ein bisschen viel ist (…) von den Preußen die Rede “ Überlegungen zu einer Neuinterpretation des Revolutionsfinales von 1849 In: Jahrbuch der Hambach Gesellschaft Neustadt 2014, S 29–37 (hier, S 32) 211 Vgl BArch, DB 10/10, Schreiben der Provisorischen Regierung vom 18 Mai 1849 212 Vgl LA SP, H 1, 1975, Proklamation der Provisorischen Regierung an ihre „Mitbürger“ vom 18 Mai 1849 213 Vgl LA SP, H 1, 1975, hier das 24 Paragraphen umfassend Dekret der Provisorischen Regierung zur Organisation der Volkswehr vom 19 Mai 1849 Sie wurde als notwendig und dringlich erachtet, „da von allen Seiten die Feinde der Reichsverfassung und der Freiheit des Volkes sich zu einem Kampfe auf Tod und Leben gegen uns rüsten“ Nur mit einem „wohlorganisierten Heer“ sei ein „erfolgreicher Widerstand“ möglich
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Das wichtigste Organ der Revolutionsregierung bildeten die Kantonalausschüsse, die sich aus Volkswehroffizieren, Mitgliedern des Gemeinderats und Vorstandsmitgliedern des Volksvereins zusammensetzten Sie organisierten die Revolution, koordinierten die Aktivitäten der Zivil- und Militärstellen und sorgten durch Requirierungen, Sammlungen und Beschlagnahmungen für ihre materielle Basis 214 Mit dem Beginn ihrer Tätigkeit erlosch der Einfluss der Volksvereine Den Kantonalausschüssen beigeordnet waren zwölf „Zivilkommissäre“, die als unmittelbare Organe der Revolutionsregierung zur Durchführung deren Beschlüsse fungierten 215 Die Finanzabteilung der Provisorischen Regierung leitete Dr Philipp Hepp aus Neustadt, Althambacher und einer der bekanntesten pfälzischen Liberalen Seine Versuche, die Kassen der Provisorischen Regierung zu füllen, waren nicht sehr erfolgreich: Hepps Aufforderung, die öffentlichen Kassen zu beschlagnahmen, wurden entweder ignoriert oder boykottiert 216 Die bereits auf der „Capitalistenversammlung“ am 16 Mai beschlossene Zusatzsteuer brachte dagegen finanziell ein ordentliches Ergebnis, vor allem zeigte der Beschluss eine psychologische Wirkung: „Die steuerkräftigsten und damit (…) wichtigsten Bürger der Pfalz unterstützten tatkräftig die Pfälzische Regierung, ja wurden selbst zu Revolutionären, indem sie (…) zusätzliche Steuern erhoben “217 Der Versuch, die Beamten der Kreisregierung auf die Reichsverfassung zu vereidigen und die Regierungskasse zu beschlagnahmen, scheiterte am 19 Mai (Alwens setzte sich unter Mitnahme der Kreiskasse nach Germersheim ab; er kehrte am 21 Juni nach Speyer zurück) und offenbarte in seiner Lauheit den ganzen Biedersinn der revolutionären Aktivisten 218 Ernüchternd war auch der Versuch, bei der badischen Revolutionsregierung einen Kredit zu erhalten: Nur ein Viertel der gewünschten Beihilfe wurde von Baden bewilligt 219 Eine am 26 Mai bei den „vermögenden Bewohnern der Pfalz“ erhobene Zwangssteuer konnte trickreich umgangen werden, da die Provisorische Regierung über kein sicheres Wissen der Vermögensverhältnisse ihrer Bürger verfügte 220 Als „Innenminister“ der Provisorischen Regierung fungierte Nikolaus Schmitt Als „Chef de bureau“ assistierte ihm der radikale Dr Carl Ludwig d’Ester, ein Arzt und politischer Flüchtling aus Preußen 221 In Schmitts Aufgabenbereich fiel die groß an214 215 216 217 218 219
Vgl Schneider (wie Anm 146), S 111 f Vgl ebd , S 112 Vgl Amts- und Intelligenzblattblatt (wie Anm 206) vom 23 Mai 1849 Nr 2 Vgl Schneider (wie Anm 146), S 99 Vgl LA SP, H 1, 1975, hier die beiden Schreiben der Provisorischen Regierung vom 19 Mai 1849 Vgl LA SP, J 1, 110, hier die Klage von Fries über die mangelhafte badische Unterstützung vom Mai 1849 220 Vgl Amts- und Intelligenzblattblatt (wie Anm 206) vom 26 Mai 1849 Nr 5 221 Friedrich Engels bescheinigte d’Ester revolutionären Sachverstand und „jenen administrativen Überblick“, der den „Pfälzer Regenten“ abging Laut Lorenz Brentano, dem Vorsitzenden der badischen Revolutionsregierung, gehörte d’Ester zur „roten Kamarilla, welche die gemäßigte Regierung von Kaiserslautern umgab“ Vgl Engels (wie Anm 125), S 40
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gelegte Aktion der Vereidigung der Beamten auf die Reichsverfassung, die nach dem misslungenen Versuch durch den Landesverteidigungsausschuss jetzt mit dem Dekret vom 23 Mai erneut in Angriff genommen wurde Diese Aktion sollte der Provisorischen Regierung eine sichere Basis liefern für ihre weitere Arbeit Obwohl der geforderte Treueid nach heftigen Protesten verändert wurde, zeigte auch eine Kompromissformel kaum Erfolg Für die Provisorische Regierung wurde bald klar, dass sie auf diese Weise die Pfälzer Beamtenschaft kaum gewinnen konnte Hin und her gerissen zwischen den Forderungen der neuen Machthaber und der alten Eidverpflichtung gegenüber der Kreisregierung in Speyer flüchteten sich viele pfälzischen Beamten in kollektive Eidableistungen auf Beamtenversammlungen, um sich vor möglichen späteren Folgen zu schützen 222 Am 26 Mai 1849 erließ die Provisorische Regierung eine neue Gemeindeordnung, welche die alte, zentralistische aus der napoleonischen Zeit ablöste: die Bürgermeister sollten fortan nicht mehr ernannt, sondern vom Gemeinderat geheim gewählt werden Durch den Wegfall des Zensus war der Kreis der Wahlberechtigten zudem erweitert worden Die neuen Gemeinderäte hatten das Recht, alte Beamte zu entlassen und neue zu wählen, wozu auch die Polizei gehörte Als übergeordnetes Kontroll- und Eingriffsorgan fungierten die Zivilkommissäre 223 Diese Reform war innerhalb der Revolutionsregierung umstritten Die gemäßigten Kräfte kritisierten die Kontrollfunktion der Zivilkommissäre, die radikalen dagegen lobten die alte napoleonische Gemeindeordnung und monierten, dass man ausgerechnet jetzt die bisherige Verfügung über die Kommunen abgab, um sie in die Hände der zunehmend gegenrevolutionär agierenden Gemeinden zu legen 224 Ein wichtiger Bereich des Innenresorts bildete die Sozialpolitik: Mit der Herabsetzung des Holzpreises, des Salzpreises, der Herausgabe von Streuwerk, einer großzügigeren Waldnutzung durch die Bevölkerung suchte die Provisorische Regierung die Interessen der ärmeren Bevölkerung zu berücksichtigen 225 Die Leitung der Außenpolitik oblag dem Rechtkandidaten und Privatdozenten an der Münchener Universität Dr Ludwig Greiner aus Thaleischweiler Seine Aktivitäten konzentrierten sich auf das Ziel, militärische Hilfe zu erhalten Auch hier zeigte sich die Provisorische Regierung wenig erfolgreich: Die Kontaktversuche nach Frankreich schienen zunächst viel versprechend, nachdem bereits am 16 Mai ein Emissär des Pariser „Komitees Deutscher Demokraten“226 Kontakte in Kaiserslautern aufgenommen 222 223 224 225
Vgl Schneider (wie Anm 146), S 110 f Vgl Amts- und Intelligenzblattblatt (wie Anm 206) vom 27 Mai 1849 Nr 6 Vgl Zinn (wie Anm 156), S 52 f Vgl Amts- und Intelligenzblattblatt (wie Anm 206) vom 25 Mai 1849, Nr 4 sowie die Ausgabe vom 26 Mai 1849, Nr 5 226 Dem Komitee gehörte Ledru Rollin, der Führer der Radikalen in der französischen Nationalversammlung und wohl auch Savoye an Vgl Baumann, Kurt: Marx, Engels und die pfälzische Revolution im Sommer 1849 In: Von Geschichte und Menschen der Pfalz, ausgewählte Aufsätze
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hatte Doch unter der Observanz des in den Maiwahlen gestärkten Präsidenten, einem Neffen Kaiser Napoleons, gab es keine Chance für konspirative Pläne Spätestens mit der Niederschlagung des Pariser Aufstandes vom 13 Juni waren alle Pläne in diese Richtung zerplatzt Auch das geplante pfälzisch-badische Bündnis, zu dem sich die revolutionären Regierungen beider Länder am 17 Mai vertraglich versichert hatten, kam über eine nur Verwirrung stiftende militärische Kooperation nicht hinaus Und das, obwohl sich die Pfalz und Baden als letzte Bastionen der deutschen Revolution sahen, von wo aus die „wirkliche Einheit Deutschlands“ ihren Ausgang nehmen sollte 227 Die Justizabteilung der Provisorischen Regierung leitete der Rechtskandidat Peter Fries aus Frankenthal, der als Ersatzmann für Schüler in die Provisorische Regierung eingetreten war Fries, ein Bruder von Eduard Fries, der am Frankfurter Putsch von 1833 teilgenommen hatte, war im Vorstand des Volksvereins, wo er dem radikalen Flügel angehörte Unter seiner Zeit wurden zwei Dekrete erlassen: das erste verhieß eine Amnestie für politische Vergehen und Verbrechen, das zweite regelte provisorisch die Militärgerichtsbarkeit Für alle Zivilfälle war die Justizabteilung, für die militärischen Fälle das Kriegsdepartement als oberste Gerichtsbehörde zuständig Beide Behörden verfuhren vergleichsweise milde in ihren Urteilen Während das Kriegsdepartement meist mit Widersetzlichkeiten, Desertionen und Trunkenheit zu tun hatte, war die Justizabteilung mit Denunziationen, eidverweigernden Beamten und „rebellischen“ katholischen Lehrern und Geistlichen beschäftigt Auch einzelne protestantische Pfarrer, wie der schon erwähnte Pfarrer Schiller (Iggelheim), gerieten ins Fadenkreuz der revolutionären Justiz 228 Die Kriegsabteilung der Provisorischen Regierung unterstand dem Speyerer Notar und Abgeordneten der Nationalversammlung Martin Reichard, der am 17 Mai als einziger Kandidat ohne Gegenstimmen in die Provisorische Regierung gewählt worden war Als wichtigste Aufgabe betrachtete Reichard den weiteren und verstärkten Ausbau der Volkswehr 229 Die Widerstände gegen dieses Vorhaben, das von einer Rekrutierungskommission zwangsweise umgesetzt wurde, waren erheblich Überhaupt stand der Aufbau einer Revolutionsstreitmacht unter keinem guten Stern: Das kurze Wirken der Kriegsabteilung war gekennzeichnet von Umstrukturierungen, Kompetenzüberlagerungen und eigenmächtigen Militäraktionen Die eigentliche Arbeit leistete eine von der Provisorischen Regierung schon am 17 Mai zusammengestellte Militärkommission, eine Art Kriegsministerium, der kein einziger Pfälzer angehörte Fenner von Fenneberg, der glück- und talentlose Oberbevon Kurt Baumann, hrsg von Kurt Andermann Veröffentlichung der pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer Band 73 Speyer 1984, S 333–347 (hier, S 339 f ) 227 Vgl LA SP J 1, 106 II (Schütz an Brentano über die Stimmung in der Pfalz vom 17 Juni 1849) 228 Pfarrer Schiller wurde am 28 März 1849 verhaftet; er blieb für einige Tage im Zentralgefängnis Kaiserslautern inhaftiert Vgl LA SP, J 1, 103 und 228 229 Vgl LA SP, H 1, 1975 Über die letztendliche Stärke der pfälzischen Volkswehr (Stand 13 Juni) vgl Voß (wie Anm 160), S 469, Anlage 1b
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fehlshaber der Volkswehr, leitete die Kommission als „Präsident“ Nach seiner Entlassung (und Verhaftung) am 20 Mai wurden Gustav-Adolph Techow, der Leiter des Kriegsdepartements, und Eduard Kuchenbaecker, ein entlassener Oberleutnant aus Grinzing (Niederösterreich), zum Vorsitzenden der Militärkommission ernannt, die jetzt das militärische Oberkommando innehatte Als am 28 Mai der polnische General Sznayde seine Ernennung zum Oberkommandierenden der Volkswehr erhielt, änderten sich abermals die Führungskompetenzen, und die Militärkommission agierte fortan als eine Art Generalstab 230 Das militärische Wirken wie die Persönlichkeiten Sznaydes und von Fennebergs fanden später in den Erinnerungen von Carl Schurz und Friedrich Engels eine recht ungünstige Aufnahme 231 Weitere Probleme kamen hinzu, seit Baden und die Pfalz ab dem 17 Mai versuchten, eine Vereinigung ihrer militärischen Kommandos zu bewerkstelligen 232 Baden pochte auf einen klaren Führungsanspruch, was die militärischen Kommandoführer der Pfalz immer wieder zu spüren bekamen: Der Oberkommandierende der badischen Truppen, Franz Sigel, behandelte Sznayde und Techow wie Lakaien 233 Am 12 Juni, kurz vor dem Einmarsch der preußischen Truppen in die Pfalz, wurden die Streitkräfte der provisorischen Regierungen Badens und der Pfalz dem Oberbefehl des 35jährigen Polen Louis Mieroslawski unterstellt 234 Die zuverlässigste und erfolgreichste militärische Macht der pfälzischen Revolutionsregierung blieben die diversen Freischaren oder „Freicorps“ Die Einnahme von Ludwigshafen (10 Mai), Speyer (11 Mai) und Worms (17 Mai) war ihr größter Erfolg Der Versuch Blenkers, am 20 Mai auch die Bundesfestung Landau zu nehmen, scheiterte ebenso wie Willichs Vorhaben, die Festung Germersheim durch Zernierung zur Aufgabe zu zwingen 235 Obgleich nur in einem der acht bayerischen Kreise eine Revolution ausgebrochen war, gelang es der bayerischen Staatsregierung nicht, ihre internen politischen Probleme selbst zu regeln So hatte München bereits am 10 Mai seinen Bevollmächtigten bei der Zentralgewalt, von Xylander, angewiesen, „bei dem Reichsministerium zu bean-
230 Vgl Amts- und Intelligenzblattblatt (wie Anm 206) vom 31 Mai 1849 Nr 8 231 Vgl Schurz, Carl: Lebenserinnerungen Bis zum Jahre 1852 Berlin 1906, S 194–197 Vgl auch Engels (wie Anm 125), S 45 und S 49 232 Die badisch-pfälzische militärische Zusammenarbeit gipfelte in dem „Oberrheinischen Kriegsbund“, der am 28 Mai 1849 eingerichtet wurde Vgl Staroste (wie Anm 186), S 17 233 Vgl LA SP, J 1, 108, 110, 112 234 Vgl ebd , 106 II Vgl auch Staroste (wie Anm 186), S 143 f 235 Vgl Engels (wie Anm 125), S 47 f Willich, dessen Freischaren sich Engels angeschlossen hatte, und Blenker kommen bei Engels noch am besten weg Doch auch bei der Beschreibung der militärischen Aktionen Willichs und Blenkers bewahrt sich Engels seinen herablassenden Plauderton Vgl ebd , S 52–61 Carl Schurz erinnert sich an Blenker durchaus positiv: „Er war eine ausnehmend stattliche, martialische Gestalt und vortrefflicher Reiter, und (…) imponierte mir gewaltig “ Vgl Schurz (wie Anm 231), S 205
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tragen, dass noch mehr königliche preußische Truppen in die Pfalz gesandt werden“ 236 Gleichzeitig drang München auf die Abberufung Eisenstucks, durch dessen „Mitwirkung“ die Pfalz „in offene Revolution eingetreten“ war „Sollte das Reichsministerium wider Erwarten die Abberufung des Herrn Eisenstuck verweigern“ so fügte man drohend hinzu, „würde der (…) Oberst Xylander die etwa notwendige Requisition um militärische Hülfe unmittelbar bei dem königlich preußischen Oberpräsidium der Rheinprovinz zu stellen haben“ 237 Am 25 Mai 1849 richtete von Xylander an das Reichskriegsministerium „das dringende Ansuchen“ (…) völlig zuverlässige Reichstruppen in die Pfalz einrücken zu lassen“, da sich die Münchener Regierung „im gegenwärtigen Augenblick“ außer Stande sah, „die nöthige Truppenmacht zur Bekämpfung des Aufruhrs“ in Marsch zu setzen 238 Doch aus Frankfurt kam eine abschlägige Antwort; man verwies die bayerische Regierung nach Berlin 239 Dies kam München nun gar nicht zupass: Gerade nämlich hatten sich die Bayern bei den Berliner Konferenzen (17 –26 Mai) dem Schutzbündnis unter preußischer Führung („Dreikönigsbündnis“) verweigert, da sie darin Österreichs Stellung in Deutschland nicht gewahrt sahen 240 Widerwillig wandte sich Maximilian Graf von Lerchenfeld-Köfering, der bayerische Gesandte in Berlin, schriftlich an die preußische Regierung Darin gab der Graf auch gleich vor, wie sich Bayern die preußische „Mitwirkung“ wünschte: Preußen sollte von Mainz aus Vorsorge treffen, den Rheinübergang bei Oppenheim sichern und einige Bataillone stellen, die gemeinsam mit dem Westfränkischen Armeekorps unter dem Generalleutnant Theodor Fürst von Thurn und Taxis an der „Expedition nach der Pfalz“ teilnehmen und die Reichsfestung Landau „gemeinschaftlich“ besetzen sollten; zudem sollte der kommandierende General der am Oberrhein operierenden preußischen Truppen sich mit dem Fürsten von Thurn und Taxis zwecks gemeinschaftlichen Handelns „in genaues Benehmen“ setzen 241 Derweilen informierte von Xylander am 5 Juni den neuen Reichskriegsminister August Ludwig zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg ebenfalls ausführlich über die bayerischen Operationsvorbereitungen und bat den Reichskriegsminister, die unter dem preußischen Generalleutnant Eduard von Peucker stehenden und zwischen Main und 236 Vgl LA SP H 1, 1975, Schreiben des Münchener Außenministeriums vom 10 Mai 1849 an von Xylander 237 Vgl ebd 238 Vgl BArch, DB 56, Nr 65, Schreiben von Xylanders an das Reichskriegsministerium vom 25 Mai 1849 Von Xylander rechtfertigte sein Ansuchen damit, dass zum einen ein Teil der bayerischen Truppen in Schleswig gebunden war, zum anderen damit, dass „die nach der Pfalz zu entsendenden Truppen sich den Durchmarsch durch die Länder, welche die Pfalz vom diesseitigen Bayern trennen, erkämpfen müssten “ 239 Vgl ebd , Protokoll der Sitzung des Gesamtreichsministeriums vom 27 Mai 1849 240 Vgl Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten (wie Anm 140), 22 Sitzung vom 4 Juni 1849 (Bericht von der Pfordtens) 241 Vgl Fleischmann (wie Anm 161), S 273 f Fleischmann zitiert hier aus dem Schreiben von Lerchenfelds vom 4 Juni 1849
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Neckar konzentrierten Reichstruppen („Neckarkorps“) sowie alle im Bereich Hessen stehenden deutschen Truppenkorps um „Mitwirkung und Unterstützung“ anzugehen, da „ein so weit als möglich gemeinsames Vorgehen das Ganze wechselseitig erleichtern und den Erfolg sichern“ werde Eine besondere Rolle bei dieser konzertierten Aktion sollte das königlich bayerische 3 Jägerbataillon spielen, das zu diesem Zeitpunkt noch in Reichsdiensten (Schleswig-Holstein) stand Von Xylander forderte nämlich, dass dieses Bataillon dem westfränkischen Armeekorps zugeteilt werden sollte 242 Die Zentralgewalt entsprach zwar dem bayerischen Hilfegesuch im Großen und Ganzen, gab aber das königliche Jägerbataillon nicht frei und verlangte, dass Bayern seine Truppen der Reichsleitung unterstelle 243 Diese Unterordnung konnte München nicht akzeptieren: Ein Truppenkorps, „welches bloß bestimmt ist, die Ordnung in einer Provinz des eigenen Landes herzustellen“ könne nicht „als im Reichsdienste stehend“ bezeichnet werden, da eine solche Bezeichnung auf „andere und weitergehende Aufgaben“ verweise 244 Über diesen strittigen Punkt konnte zwischen München und Frankfurt keine Einigung zustande gebracht werden 245 Am 10 Juni 1849 ernannte das königlich bayerische Staatsministerium den Fürsten Theodor von Thurn und Taxis zum „Oberbefehlshaber des Armee-Corps“, um in der Rheinpfalz „durch das schmerzliche Mittel der Anwendung der Kriegsgewalt“ den gesetzlichen Zustand wieder herzustellen und ermächtigte ihn zur „Ausrufung des Belagerungszustandes in der Pfalz“ 246 Doch nicht Bayern, Preußen bestimmte jetzt das weitere Vorgehen: Bereits 3 Juni hatte der Kronrat in Berlin eine „sofortige militärische Operationen gegen die bayerische Rheinpfalz durch Rheinhessen und baldiges Einschreiten gegen Baden“ beschlossen Der bayerischen Regierung wie auch dem Reichskriegsministerium wurde das militärische Einschreiten Preußens alsbald angekündigt 247 Doch während man in München von einem gemeinsamen Militärunternehmen ausging, in dem Preußen den Part eines militärischen Zuarbeiters übernehmen sollte, hatte die preußische Regierung ihre eigene Regie: Am 8 Juni 1849 übertrug König Friedrich Wilhelm IV seinem jüngeren Bruder Wilhelm, dem Prinzen von Preußen, den Oberfehl über zwei auf beiden Rheinufern aufgestellte preußische Armeekorps und ein zwischen Main und Neckar stehendes Bundeskorps („Neckarkorps“), das sich aus hessischen, bayerischen, württembergischen und mecklenburgischen Truppen zusammensetzte Der Auftrag des Prinzen Preußen lautete, die Aufstände in der Pfalz und Baden niederzuwerfen 248
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Vgl BArch DB, 56, 65, Schreiben von Xylanders vom 5 Juni 1849 Vgl ebd , Antwort des Reichskriegsministers vom 7 Juni 1849 Vgl ebd , Schreiben von Xylanders vom 9 Juni 1849 Vgl ebd , die Schreiben zwischen von Xylander und dem Reichskriegsministerium vom 10 und 12 Juni 1849 246 Vgl BayHStA MInn, 45 123, Schreiben König Maximilians II vom 10 Juni 1849 247 Vgl GSTA PK, Akte Borussia, Neue Folge, Band 41, Nr 76, S 98 248 Vgl ebd Nr 78, S 99
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Zwei Tage früher, als man dem Grafen Lerchenfeld angegeben hatte, und ohne auf die bayerischen Koordinierungswünsche einzugehen, begann am 12 Juni von Kreuznach aus unter dem Kommando des Generalleutnants Moritz von Hirschfeld der Einmarsch des etwa 20 000 Mann starken I Armeekorps der preußischen Rheinarmee Der Protest des Münchener Außenministeriums ob dieses Vorpreschens Preußens – Berlin hatte München den 14 Juni als Operationsbeginn gemeldet – stieß in Berlin auf taube Ohren 249 Der Prinz von Preußen, der als Oberbefehlshaber an der Seite von Hirschfelds am Feldzug teilnahm, verhängte am 14 Juni von seinem Hauptquartier in Marnheim, nahe Kirchheimbolanden, „über die ganze Rheinpfalz“ den Kriegszustand Am 16 Juni bekräftigte der Fürst von Thurn und Taxis vom rheinhessischen Oppenheim aus diesen Zustand und drohte nur, „im Falle eintretenden Widerstandes“ mit der Erklärung des Belagerungszustandes „für einzelne Distrikte und Gemeinden“ Damit reduzierte der Fürst die königliche Instruktion vom 10 Juni, die ihn ausdrücklich zur „Ausrufung des Belagerungszustandes in der Pfalz“ ermächtigt hatte 250 Der Protest des düpierten Fürsten, dass ihm angesichts des eigenmächtigen preußischen Vorgehens nurmehr „die Pacification der Pfalz übrig“ bliebe251, verhallte unerhört Der Fürst sollte mit der „Pacification“ denn auch alle Hände voll zu tun haben … Als von Thurn und Taxis mit seinem ca 9 500 Mann starken Armeekorps252 am 19 Juni in Frankenthal eintraf, hatte das I preußische Armeekorps in einem militärischen Parforceritt die Freischärler vernichtend geschlagen, die Festung Landau entsetzt, und die Provisorische Regierung aus dem Land vertrieben 253 Erst jetzt konnten die bayerischen Truppen die preußischen Stellungen übernehmen Am 22 Juni erließ Fürst von Thurn und Taxis in Speyer, das er am Vortage erreicht hatte, eine Kundmachung254, die das politische Leben in der Pfalz in einschneidender Weise verändern sollte: Die Reaktionszeit in der Pfalz hatte begonnen 10 Resümee Die pfälzische Märzbewegung unterschied sich anfangs kaum in ihren Zielen: Auf überregionalem Gebiet wünschte sich ihre überwiegende Mehrheit einen großdeut-
249 Vgl BayHStA MInn, 45 123, Schreiben vom 14 Juni 1849 250 Zu der Problematik dieser Entscheidung vgl Busley, Hermann-Joseph: Bayern und die Revolution der Pfalz In: Die Pfalz und die Revolution von 1848/49 (wie Anm 84), S 323–382 (hier, S 338 und S 354) Der Fürst wiederholte diese Drohung in seiner Kundmachung vom 22 Juni 1849 251 LA SP H 1, 1975, Schreiben des Fürsten von Thurn und Taxis vom 16 Juni 1849 252 Diese Zahl bezieht sich auf die Angaben Fleischmanns (wie Anm 161), S 314 253 Über die militärischen Operationen in der Pfalz vgl Staroste (wie Anm 186), S 167–206 254 Vgl Königlich Bayerisches Amts- und Intelligenzblatt (wie Anm 146) vom 25 Juni 1849 Nr 35 Der Fürst berief sich in seiner Kundmachung auf ein Dekret Napoleons (Art 53, 101 ff des Dekrets vom 24 Dezember 1811)
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schen, die österreichischen Erblande einschließenden Nationalstaat als konstitutionelle Monarchie Für die Republik plädierte nur eine Minderheit Einige Anhänger der monarchisch-konstitutionellen Staatsform, Kolb zum Beispiel, maßen dieser Variante nur einen „Übergangsstatus“ zu Beide Richtungen, Republikaner und konstitutionelle Monarchisten, akzeptierten die Frankfurter Nationalversammlung als „oberste(s) Gesetz“ 255 Bei den regionalen Zielen, einer weiteren Verbesserung der strukturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse, war man sich eh einig Unter dem Eindruck der erfolgreichen Gegenrevolutionen in Berlin und Wien, dem ministeriellen Revirement in München und zunehmenden Einfluss von der Pfordtens gewannen die Anhänger der Republik innerhalb der pfälzischen Oppositionsbewegung an Boden Dieser Umschwung im Spätherbst 1848 zeigte sich in den Volksvereinen, wo den Märzliberalen die Führungsrolle abhanden kam Er zeigte sich aber auch in den politischen Kommentaren vieler pfälzischer Zeitungen Das Vertrauen in eine konstitutionell-monarchische Lösung schwand Wenn man zu Beginn der Revolution in der Pfalz von einer „Märzbewegung“ spricht, so kann jetzt von einer „Oktoberbewegung“ die Rede sein, in der die republikanischen Kräfte dominierten, welche soziale Verbesserungen und eine „zweite“, eine „weitergehende“ Revolution forderten Die Männer der „Oktoberbewegung“ misstrauten dem Kurs der Märzliberalen, die allein in den Parlamenten Foren der Entscheidungsfindung sahen und sich bei der Wahl ihrer Mittel auf legale Aktionen beschränkten Trotzdem beteiligte sich die pfälzische Oppositionsbewegung bis Ende April 1849 en bloc an den Aktionen für die Grundrechte und der Kampagne für die Reichsverfassung Die Autorität der provisorischen Reichsgewalt in Frankfurt wurde auch von der „Oktoberbewegung“ als bindende Kraft anerkannt Anfang Mai zerbrach die Einheit der pfälzischen Oppositionsbewegung, aber es waren nicht die Ziele, welche die Bewegung letztendlich trennten Das trennende Moment waren die Mittel, die man zur Erreichung seiner Ziele anzuwenden gedachte: Der weitaus größere Teil der Bewegung, seien es konstitutionelle Monarchisten oder Republikaner, setzte zur Erreichung seiner Ziele bis zuletzt auf die Kraft der Parlamente Ihre Mehrheitsbeschlüsse sollten von allen akzeptiert werden und konnten weder durch weitere „Vereinbarungen“ noch durch „Verständigungen“ verwässert werden An dieser Linie hielten die „gesetzlichen Revolutionäre“ fest, bis sie durch die Auflösung des bayerischen Landtages und die Vertreibung des Stuttgarter Rumpfparlaments dieser Möglichkeiten beraubt waren Ihre Revolution bewegte sich „innerhalb des seit Juni 1848 bestehenden gesetzlichen Rahmens“ 256 Bei der „Legalistenpartei“ kam der Gedanke an eine „zweite Revolution“ erst gar nicht auf Und als im Königreich Mitte Juli 1849 der erste nachrevolutionäre Landtag gewählt wurde, nahmen ihre gewählten
255 Vgl Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land vom 4 Juli 1848 Nr 83 256 Vgl Seidl (wie Anm 210), S 31
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Anhänger wieder teil an den Sitzungen der Zweiten Kammer, so wie sie auch in dem kurzlebigen Erfurter Parlament ab dem 20 März 1850 ihre Arbeit fortsetzten Die Anhänger des kleineren Teils der Oppositionsbewegung, Kurt Baumann bezeichnete sie einmal als „revolutionäre Aktionspartei“257, verließen Anfang Mai 1849 den bisher beschrittenen gemeinsamen Weg: Mit der Errichtung eines Landesverteidigungsausschusses am 2 Mai 1849 beginnt die erste Phase der Pfälzer Revolution: Alle Maßnahmen dieses ersten revolutionären Gremiums waren an ein oberstes Ziel geknüpft: man wollte das Reich und die Rechte des deutschen Volkes verteidigen und die Reichsverfassung zur Durchsetzung bringen Mit ihrer Entscheidung, in der Pfalz am 17 Mai eine Provisorische Regierung zu installieren, stellten sich die Revolutionäre unter den Schutz der Reichsregierung Mit ihrer gleichzeitigen Verkündigung, „Baden und die Pfalz sind reichsunmittelbare Schwesternstaaten“258 betonten sie einerseits ihre Ausrichtung nach Frankfurt, andererseits brachen sie jetzt mit dem Wittelsbacher Herrscherhaus Dieses Faktum wurde in der Proklamation vom 27 Mai wiederholt – dieses Mal aber so präsentiert, als habe München erst durch den Ausschluss der pfälzischen Landtagsabgeordneten die endgültige Separation verursacht Ein Zeitgenosse kommentierte den Separationsbeschluss vom 17 Mai lakonisch: „Es verstand sich bei den Pfälzern von selbst, dass wenn der König von Bayern nicht deutsch sein wollte, die Pfalz aufhören müsse, bayerisch zu sein “259 Tatsächlich isolierte dieser Beschluss die revolutionären Aktivisten endgültig von ihren alten Bündnispartnern im bayerischen Landtag und beraubte diese aller Hoffnungen auf irgendeine reichsrechtliche Vermittlung oder Unterstützung Die „revolutionäre Aktionspartei“, so wie sie sich in der Provisorischen Regierung manifestierte, befand sich in einer verzwickten Lage Ihrer alten Bündnispartner war sie beraubt; auf der linken Seite forderte eine radikale Opposition weiter gehende Maßnahmen, und von der Ordnungsmacht drohte eine militärische Invasion Wenn sich die Revolutionäre in Kaiserslautern nach den Abberufungen der österreichischen (Anfang April 1849) und preußischen Abgeordneten (Mitte Mai 1849) von einem linken Parlament stärkere Unterstützung und von einem erfolgreichen pfälzisch-badischen Revolutionsmodell eine Art Signalwirkung für das Reich erhofft hatten, so offenbarte dies nur ihre völlige Verkennung der politischen Situation Nach der Berufung des rechtskonservativen Ministeriums Grävell/Detmold Mitte Mai 1849 hatte sich die Lage in Frankfurt völlig verändert Im Übrigen barg diese Illusion ein beträchtliches Gefahrenpotenzial: Eine republikanische Nation inmitten Europas, gleich welchen Ausmaßes und gleich zu welcher Zeit, wäre mit einer Koalition sehr beunruhigter Nachbarländer konfrontiert worden, die sich bestimmt nicht auf eine zuwartende Haltung beschränkt hätte 257 Vgl den Diskussionsbeitrag Kurt Baumanns in dem Sammelband Hambacher Gespräche (wie Anm 8), S 105 258 Vgl Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land vom 18 Mai 1849 Nr 98 259 So der Kommentar von Carl Schurz (wie Anm 231), S 187 f
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Die Männer des Landesverteidigungsausschusses und der Provisorischen Regierung betonten zwar bis zuletzt, dass der Kampf für die Reichsverfassung ihr oberstes Ziel sei Doch diese Zielsetzung hatte einen ambivalenten Charakter Schon bei der Kampagne für die Grundrechte gab es Stimmen, die offen bekannten, dass sie die Grundrechte nur als eine Art Minimalprogramm ansahen, dem weitere Veränderungen folgen mussten Ähnliches galt für die Reichsverfassungskampagne Mit dem Widerspruch, dass diese Reichsverfassung gar keine Republik vorsah, sondern eine konstitutionelle und erbkaiserliche Monarchie, eine kleindeutsche Nationalstaatslösung zudem, mussten die Pfälzer Republikaner leben Die Erklärung des „Kaiserslauterer Boten für Stadt und Land“, man setze sich für eine Reichsverfassung ein, obwohl deren verfassungsrechtliche Struktur den eigenen republikanischen Vorstellungen zuwider laufe, nur weil sie von den Regierungen in Berlin und München abgelehnt werde260, erhellt das ganze politische Dilemma, in dem sich die Revolutionäre befanden So bedeutete die Entscheidung zur Revolution mehr als eine Reaktion auf die Ablehnung der Reichsverfassung durch die bayerische Regierung Die Revolutionsregierung kehrte damit zu dem älteren Ziel einer „zweiten Revolution“ zurück, die schon zur Jahreswende 1848/49 in linken Presseorganen und von den zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich republikanisch ausgerichteten Volksvereinen gefordert worden war 261 Die soziale Zusammensetzung der 1849er Mairevolutionäre lässt sich vergleichen mit der Sozialstruktur der pfälzischen Mitglieder des Preß- und Vaterlandsvereins von 1832: Im Landesverteidigungsausschuss wie in der Provisorischen Regierung dominierten die freiberuflichen Bildungsbürger, wobei das Übergewicht bei den Juristen lag Rückt man das Blickfeld eine Ebene tiefer zu den Revolutionären, die von der Justiz später des Hochverrats angeklagt wurden, so sieht das Verhältnis anders aus: Bildungs-, Handelsbürger und Handwerker stellten ungefähr zu gleichen Teilen etwa 90 % der Angeklagten Betrachtet man die breite Anhängerschaft der Revolution, so wie sie sich in den Volksvereinen organisierte, veränderte sich das Bild erneut: der Anteil der Handwerker verdoppelte sich, während der Anteil des Bildungsbürgertums um die Hälfte zurückging Ungefähr gleich blieb der Anteil der Handelsbürger 262 Im Preß- und Vaterlandsverein von 1832 dominierten die Handwerker, Händler und Kauf-
260 Vgl Kaiserslauterer Bote für Stadt und Land vom 29 April 1849 Nr 85 Die Kaiserslauterer Zeitung bezieht sich in ihrer Aussage auf die diesbezügliche Haltung der „Mainzer Zeitung“ 261 Vgl hierzu die erhellende Einlassung des Volksvereinsblatts: „Es wird und muß hieraus aber auch klar werden, dass der Kreislauf der Revolutionen keineswegs beendet ist, sondern dass (…) die mit Gewalt wieder verstopfte Pulsader der Revolution sich ebenfalls gewaltsam wieder eine neue Bahn zu brechen suchen werde, und der zweite Akt des verhängnisvollen Dramas uns bevorstehe “ Vgl LA SP J 1, 228 I (zitiert wird hier aus der Ausgabe des Pfälzischen Volksvereinsblatts vom 7 Januar 1849 Nr 1) 262 Vgl Anklag-Akte (wie Anm 110), Auszug aus dem Register der Urtheile des königlichen Appellationsgerichtes der Pfalz zu Zweibrücken, S 9–125 Vgl hierzu vor allem Böttcher (wie Anm 22), S 309 f
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leute 263 Die landwirtschaftliche Bevölkerung war unterrepräsentiert,264 gleichwohl auf dem Hambacher Fest die wirtschaftlichen Probleme dieser Schicht brennend genug waren, um als besondere Protestnote neben den liberalen und nationalen Forderungen vorgestellt zu werden Wie 1832 zeigte auch während der Revolution von 1848/49 die landwirtschaftliche Bevölkerung nur geringes Interesse an der Tagespolitik, obwohl sie mit etwa 70 % die Mehrheit der Bevölkerung stellte Selbst in den Volksvereinen von Neustadt und Kaiserslautern, den urbanen Zentren der Revolution, wo der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung immer noch 21 bzw 22 % betrug, nahm diese Schicht kaum Anteil an der Revolution 265 Wirkte auf die liberalen Märzrevolutionäre der aufgeklärte Protestantismus ein, so verlieh den revolutionären Aktivisten der Deutschkatholizismus eine besondere Schubkraft: Zwar waren nicht alle Revolutionäre Deutschkatholiken, aber alle Deutschkatholiken waren Revolutionäre Die Pfälzer Revolutionäre von 1848/49 standen in einer soliden personellen Tradition: Von den vierzehn pfälzischen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung (davon drei Ersatzmänner) waren sechs aktenkundige „Hambacher“;266 die Hälfte der pfälzischen Revolutionsregierung von 1849 (davon wieder drei Ersatzmänner) gehörte zur gleichen Kategorie Dennoch wäre es verfehlt, von dieser Tradition auch auf eine ebensolche Fortführung der politischen Ideen zu schließen Wie sehr das Bemühen um Kontinuität dem Bedürfnis, jetzt etwas Neues zu beginnen, zuwider laufen konnte, belegt folgende kurze Reminiszenz: Am 28 Mai 1848 fand auf der Ruine Wolfsburg eine „Erinnerungsfeier des Hambacher Festes“ statt, die etwa 6000 Menschen anzog Wie sechzehn Jahre zuvor hielt Dr Philipp Hepp die Eröffnungsrede Damals gehörte Hepp dem Filialkomitee des Preß- und Vaterlandsvereins an Jetzt war er Vorstand des Zentralausschusses des pfälzischen Volksvereins Ein Jahr später sollte er Mitglied der Revolutionsregierung sein Dieses Faktum, wie der Umstand, dass die Erinnerungsfeier von der Führung des Volksvereins ausgerichtet war, der die Redner nur unter seinen Mitgliedern auswählte, zeigt das Bemühen um Kontinuität Auf der anderen Seite waren Stimmen zu vernehmen, die sich sehr kritisch mit dieser personellen Kontinuität auseinandersetzten So kritisierte Georg Friedrich Kolb in einer Sitzung des Zentralausschusses der Volksvereine, dass „die Namen und Thaten von gestern nicht mehr“ genügten, „lauter sprechen die Thaten von heute “267 Noch kritischer ging Dr Ludwig Kalisch, der Gründer der Mainzer Wochenzeitung „Der Demokrat“ und spätere Redakteur für die Revolutionsregierung, mit den „Althambachern“ ins Gericht: „(…) und so hat man die Dulder des früheren Polizeistaates aus Respekt
263 Vgl Nestler (wie Anm 36), S 206 264 Vgl ebd , S 205 265 Vgl LA SP H 3, 220; vgl auch Hermann, Friedrich Benedikt Wilhelm von: Beiträge zur Statistik des Königreich Bayern, Heft IV, Tafel VIII, S 78 (Stand Dezember 1852) 266 Vgl ebd 267 Vgl Neue Speyerer Zeitung vom 20 April 1848 Nr 93
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vor ihren Dornenkronen in die Versammlung gewählt, ohne sich erst zu fragen, ob sie noch Kraft und Energie genug besäßen, in den gewaltigen Orkanen dieser Zeit auch nur fest zu stehen, geschweige denn rüstig fort zu schreiten “268 Und Valentin Weber, der Vorsitzende des Neustadter Arbeitervereins, verdammte ein Jahr später in Bausch und Bogen „eine Parthei, deren Führer als Liberale in den dreißiger Jahren wurzeln, aber an Stamm und Ästen in unserer Zeit verdorrt und unfruchtbar sind“ 269 Die Revolutionsbewegung von 1848/49 erfasste einen großen Teil der pfälzischen Bevölkerung und fand bis zum Ende der Reichsverfassungskampagne breite Zustimmung 270 Die Aussicht auf ein freies und einiges Deutschland stieß im Bildungs- und Besitzbürgertum auf allgemeine Sympathie Hinter der Reichsverfassung standen das oberste pfälzische Gericht, das Appellationsgericht in Zweibrücken, die meisten pfälzischen Beamten und der Pfälzer Landrat Auch der pfälzische Regierungspräsident zeigte Sympathien für das Verfassungswerk Die Revolutionssympathie der Pfälzer schwächte sich ab, als Anfang Mai 1849 deutlich wurde, wohin die Reise ging Der Provisorischen Regierung schlug noch weniger Begeisterung entgegen Ihre Politik des Zwangs, allein auf dem Sektor der Militärpolitik, kostete sie viel Kredit, und der Bruch mit Bayern provozierte bei der Mehrheit der Pfälzer mehr Ängste als Zustimmung Gleichwohl waren die revolutionären Aktivisten von einem Elan erfasst, der auf Zeitzeugen recht folkloristisch wirkte Manch einer sah die Pfälzer Mairevolution getragen von einem „Picknickhumor“, der nur „eine gute Weile vorhielt“,271 ein anderer glaubten in dem politischen Engagement der Pfälzer einen landestypischen, weinseligen Oppositionsgeist zu erkennen, der sich dann recht bald verflüchtigte, um einem schmerzhaften Kater zu weichen 272 Mit der Einrichtung eines Landesverteidigungsausschusses am 2 Mai war für die bayerische Regierung der entscheidende Anlass gegeben, eine Militäraktion gegen ihre linksrheinische Provinz ins Auge zu fassen München sah sich aber nicht in der Lage, eine Militäraktion in die Pfalz alleine zu schultern Dies lag zum einen daran, dass man kein Vertrauen in seine vorwiegend aus Pfälzern bestehenden Truppen in den Festungen Landau und Germersheim hatte, zum anderen daran, dass man zu dieser Zeit über nicht genügend Truppen im Altbayerischen verfügte Dass München am Ende seiner vielfältigen Anstrengungen um Truppenhilfe blamiert da stand, lag an seiner starren Verhandlungsweise mit Frankfurt, dem geschickten und eigenmächtigen 268 Vgl Kalisch, Ludwig: Schrapnels Frankfurt 1849, S 283 269 Vgl Der Pfälzer Volksmann vom 20 Mai 1849 Nr 1 270 Über regionale Akzente der Revolutionsbewegung vgl Ziegler, Hannes: Revolution im Norden, Revolution im Süden – ein Vergleich der Revolutionsbewegung von 1848/49 im Raum Kirchheimbolanden und in der Südpfalz In: Bürgerversammlung und Barrikade – Kirchheimbolanden 1848/49, ein revolutionärer Ort Schriften der Kreisvolkshochschule Donnersbergkreis, Heft 3 Kirchheimbolanden 1999, S 55–71 271 Vgl Schurz (wie Anm 231), S 192 272 Vgl Engels (wie Anm 125), S 37–39
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Handeln Berlins, das jetzt eine Chance sah, im Südwesten Deutschlands seinen Einfluss zu stärken, und an dem trägen Vorrücken der bayerischen Truppen Gleichwohl: das angestrebte Ziel, die „Pacificierung“ der Pfalz, gelang, wenn auch nur mit fremder Hilfe, was dem bajuwarischen Selbstwertgefühl einen schweren Dämpfer versetzte So scheiterte die Pfälzer Mairevolution von 1849 nicht an inneren Widersprüchen, die es gleichwohl gab, oder ihrem hitzigen Reformeifer, der deutlich zu registrieren war, und auch nicht an einer inneren Opposition, die sich ihrer Politik erfolgreich in den Weg gestellt hätte Gescheitert ist die Pfälzer Revolution an einem preußischen Invasionskorps, Teil einer kombinierten Militäraktion mit bundesstaatlichen Truppen Wenn man einen Vergleich zu den Initiatoren des Hambacher Festes anstellen will, so fallen Organisation und Durchführung der Pfälzer Mairevolution insgesamt wesentlich stringenter aus: Hatten sich die Liberalen von 1832 bei der Frage, wie es denn jetzt weiter gehen solle, für nicht kompetent erklärt – die Pfälzer „Legalistenpartei“ von 1849 wusste sehr genau, was sie wollte Gescheitert ist auch sie, aber in einer besseren Position Auch die radikalen Putschisten von Hambach trennte vieles von den revolutionären Aktivisten von 1849 Während jene sich in kleinen Einzelaktionen und Phantastereien verloren, konnten diese wenigstens den Erfolg für sich reklamieren, für vier Wochen regiert und von ihren hochfliegenden Plänen in dieser kurzen Zeit doch einiges auf den Weg gebracht zu haben Gescheitert sind freilich auch sie – aber in einer besseren Position
„Freiheit einem Jedem, vor Allem aber uns!“ Das Publikum der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Richard Höter „Freiheit einem Jedem, vor Allem aber uns!“ – so reagierte der Abgeordnete Stedmann bereits am ersten Verhandlungstag, dem 18 Mai 1848, auf die Beifallsstürme des Publikums 1 Ein Ausspruch, der zum Sinnbild des Umganges der Versammlung mit seinem Publikum werden sollte Dabei bildete dieses Publikum, bestehend aus über 2000 Besuchern pro Sitzung, in der deutschen Geschichte ein Novum: Zumindest auf den Landtagen in Preußen und Österreich war Publikum gar nicht zugelassen worden, die späteren Tribünen des Weimarer Reichstag fassten weniger als 400 Personen, die Besuchertribünen des Bundestags nehmen heute gerade einmal 430 (kontrollierte) Besucher auf 2 Dementsprechend nahmen die neuen Abgeordneten das veränderte Verhältnis sofort wahr: Auf Robert von Mohl machte es einen „großen Eindruck“; Heinrich Laube schrieb, „Es war ein gebieterischer Anblick der Volkssouveränität “3 Das Prinzip dieser auch unter den Abgeordneten nicht unumstrittenen Öffentlichkeit hatte sich die Versammlung selbst gegeben 4 Sie sah voraus, dass die Verhandlungen den Mittelpunkt des damaligen politischen Lebens bilden würden, der breite Schichten der deutschen Bevölkerung politisierte, wie Yasmin Doosry ausführt:
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Vgl Wigard, Franz u a : Stenografischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Frankfurt a M 1848, Band 1, S 12 In Folge Band 1, S 12 Vgl Mergel, Thomas: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, S 90 und Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit: Fakten Der Bundestag auf einen Blick, Berlin 2018, S 40 Vgl Mohl, Robert von: Lebenserinnerungen 1799–1875, Bd 2, Stuttgart 1902, S 35–36 sowie Klein, Tim: Der Vorkampf deutscher Einheit und Freiheit Erinnerungen, Urkunden, Berichte, Briefe, Ebenhausen-München und Leipzig 1914, S 259 Vgl Band 1, S 163–173; Band 2, S 1000–1001 und Band 7, S 5413
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„Sie nahmen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Meinungsbildung ernst: Die öffentliche Meinung entwickelte sich zu einer einflussreichen Instanz Sie blieb nicht ohne Wirkung auf die verschiedenen politischen Interessensgruppen, die sie ihrerseits zu gewinnen und zu beeinflussen suchten “5
Aber konnte auch ein Publikum innerhalb der Paulskirche die Versammlung und ihre Abgeordneten beeinflussen?6 Das Publikum der Versammlung wurde in der Forschung noch nicht ausreichend gewürdigt, worauf auch nicht zuletzt Henning Türk, spezifisch den weiblichen Teil des Publikums betreffend, hingewiesen hat 7 Zeitgenössische oder unter dem Vorzeichen der gescheiterten Revolution stehende Urteile wie das Robert von Mohls, dass das Publikum nur aus bestellten und bezahlten Schreiern und Demagogen bestanden habe, und nach dem Abgeordneten Wilhelm Jordan die Abgeordneten terrorisiert hätte, wurden und werden in der Fachliteratur entweder umgangen oder unter Nennung der Quelle weder erklärt, noch differenziert oder ggf negiert 8 Diese Urteile zu klären und das politisch negierte und verzerrte Publikum darzustellen, war Ziel der Masterarbeit, deren wesentliche Ergebnisse in diesem Aufsatz dargestellt werden sollen Als erste Leitfrage muss dazu geklärt werden: Wie gestalteten sich die Räume des Publikums und wie wurde das Publikum dadurch in seiner Zusammensetzung und seinem Verhalten bestimmt? Aus diesen Aufteilungen kann dann die zweite Leitfrage angegangen werden: Woraus setzte sich das Publikum zusammen, welche Strukturen bestimmten das Verhalten des Publikums, welche gängigen Urteile über es trafen zu und hatte es Einfluss auf die Abgeordneten und damit die Versammlung – lohnt sich also für den Historiker der Blick auf das Publikum?
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Doosry, Yasmin: „… im Parla – Parla – Parlament … das Reden nimmt kein End’!“ Die Paulskirche: Schauplatz der Politik, Gegenstand der Karikatur, in: Michels März, Ausstellung 1848 – das Europa der Bilder, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1998, S 126 Aus Platzgründen wird sich hier auf die Paulskirche konzentriert, zumal in der Kirche am Kornmarkt nur ein deutlich kleineres Publikum Platz fand und in Stuttgart die Sitzungsorte stark wechselten Vgl Türk, Henning: „Ich gehe täglich in die Sitzungen und kann die Politik nicht lassen“ Frauen als Parlamentszuschauerinnen und ihre Wahrnehmung in der politischen Öffentlichkeit der Märzrevolution 1848/49, Geschichte und Gesellschaft 43, Göttingen 2017, S 499–500 Vgl bspw Botzenhart, Manfred: Deutscher Parlamentarismus 1848–1850, Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus, Düsseldorf 1977, S 484–485, der nur auf die Öffentlichkeit der Sitzungen hinweist und sich ansonsten auf die Öffentlichkeit außerhalb der Versammlungen bezieht Allhoff hat dem Zuhörer immerhin ein Unterkapitel gewidmet, vgl Allhoff, Dieter-Waltraut: Rhetorische Analyse der Reden und Debatten des ersten deutschen Parlamentes von 1848/49 Insbesondere auf syntaktischer und semantischer Ebene, München 1975 Valentins Standardwerk nennt bspw meist nur diese Urteile anderer Abgeordneter und fügt dem inhaltlich nichts hinzu, vgl Valentin, Veit: Geschichte der deutschen Revolution von 1848–1849, Band 2, Bis zum Ende der Volksbewegung von 1849, Weinheim 1998
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Da das gesamte Publikum bisher nicht Gegenstand einer tiefergehenden Forschung war, musste der traditionelle Quellenstamm aus Augenzeugenberichten, Briefen, Karikaturen, Zeitungen und Monografien ergänzt werden Die Stenographischen Berichte der Nationalversammlung sind auch hierfür ein unerlässliches Stück des Puzzle, wenn auch eine potenzielle Parteilichkeit des Herausgebers und Angehörigen der Linke, Wigard, Schreib- und Übertragungsfehler berücksichtigt werden müssen 9 Daher wurde zuerst jegliche Meldung des Publikums, jegliche Reaktion darauf und jegliche Nennung der auf das Publikum bezogenen Begriffe Galerie, Tribüne, Publikum, Zuhörer, Zuschauer, Loge, Dame und Karte in den Stenographischen Bänden, aufgelistet 10 Dadurch konnten die nahezu 2000 Reden von über 400 Abgeordneten auf fast 7000 Seiten hinsichtlich der 502 Meldungen des oder zum Publikum strukturiert werden, wenn auch hier die kontextabhängige Zuordnung von Lauten des Publikums, seien es Rufe, Beifall, Klatschen, Zischen, Gelächter in Zu-stimmung oder Ablehnung, beachtet werden muss Zuletzt war die Listung einer Meldung in den Berichten natürlich auch von der Lautstärkenschwelle und Position der nahe am Präsidium sitzenden Stenographen zu den jeweiligen Teilen des Publikums abhängig 11 Die Räume des Publikums: Logen und Galerie Die Räume des Publikums wurden durch die Architektur der Paulskirche geprägt und sind auf Basis des zeitgenössischen Grundplans abbildbar Der zentrale Südeingang wurde von dem Bureau und allen Parteien genutzt, der Osteingang von der rechten Seite des Hauses, die Tür im Westen vor allem von der linken 12 Die Damen bevorzugten ebenfalls den repräsentativeren Südeingang, und nur über die Eingänge im Nordwesten und Nordosten war über Treppen die Empore erreichbar; neben politischen Präferenzen dürfte aber auch das lange Anstehen um Plätze für eine Flexibilität beim Eintritt gesorgt haben 13
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Vgl Stoll, Christoph: Reden für die deutsche Nation 1848/1849 Stenografischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, München 1988, S XXIV; Allhoff 1975, S 7–8 und 162 und Detmold, Johann Hermann: Taten und Meinungen des Herrn Piepmeyer Abgeordneten zur konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Berlin 1961, Blatt 28 Diese Tabelle kann beim Autor angefordert werden Vgl hinsichtlich der Zahlen Allhoff 1975, S 25, und der Beispiele bspw Band 3, S 2181; Band 1, S 566; Band 3, S 2100; Band 3, S 2120 sowie Band 1, S 337 Da die Stenographen meist durch die jüngsten Mitglieder der Versammlung gestellt wurden, vgl bspw Wichmann, W : Denkwürdigkeiten aus der Paulskirche, Hannover 1888, S 8, hätten hier bspw bessere Möglichkeiten der akustischen Wahrnehmung bestehen können als bei älteren Mitgliedern Vgl Heller, Robert: Brustbilder aus der Paulskirche, Leipzig 1849, S 4 und 6–8 Vgl Heller, S 1–2 und 8 sowie Doosry 1998, S 200
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Abb. 1 Schematisierte Zeichnung auf Basis des „Grund-Plan vom Innern der Pauls-Kirche mit Angabe der Plätze sämmtlicher Mitglieder der deutschen National- Versammlung 1848 “, Verlag der Schmerber’schen Buchhandlung, Druck von Carl Adelmann, Frankfurt am Main, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1848/57
Der ovale Grundriss schuf eine das Publikum beeindruckende Theaterperspektive, in deren Mitte sich Abgeordnete, Stenographen, Rednertribüne und Präsidium in einer relativ festen Sitzordnung befanden 14 Diese Perspektive ermöglichte es auch allen Zuschauern, die nicht hinter Säulen oder auf Randplätzen saßen, die Abgeordneten einfach zu identifizieren und betonte das diskursive Moment gerade der sich fast gegenübersitzenden linken und rechten Seite des politischen Spektrums 15 Abgesehen von der Wahl ihres Sitzplatzes konnten Abgeordnete auch über die Wahl ihrer Kleidung ihren Wiedererkennungswert steigern (oder senken) 16 Die baulich reduzierte Ausge14 15 16
Vgl Pecht, Friedrich: Aus meiner Zeit: Lebenserinnerungen, Bd 1, München 1894, S 336; Schaefer, Dietrich: Fanny Lewald Erinnerungen aus dem Jahre 1848 (Auswahl), Frankfurt a M 1969, S 111 und auch Mergel 2002, S 145 Vgl Mergel 2002, S 145 Vgl Bergsträsser, Ludwig: Das Frankfurter Parlament in Briefen und Tagebüchern Ambrosch, Rümelin, Hallbauer, Blum, Frankfurt a M 1929, S 181; Biedermann, Karl: Erinnerungen aus der Paulskirche, Leipzig 1849, S 238; Pecht 1894, S 338–339; Schaefer 1969, S 112–113 und auch Mergel 2002, S 149
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staltung, resultierend aus der Funktion als junge Kirche einerseits und dem Verhüllen des Altars und Kreuzes andererseits,17 dürfte dabei begünstigend auf die Wahrnehmung und Fokussierung auf die neuen politischen Ereignisse gewirkt haben Die Möglichkeit der Zuschauer, den Versammlungen zu folgen, wurde allerdings durch die schlechte Luft und Akustik negativ beeinflusst 18 Da zudem die stets gut gefüllte Galerie auf der Empore alleine etwa 2000 Besucher fasste, ein halbes Tausend Abgeordnete und die ebenerdig sitzenden Besucher (sowie die Journalisten) noch hinzukamen, musste auch vergleichend zum späteren Reichstag ein Eindruck der drangvollen Enge und des sozialen Stresses entstehen 19 In diesem Aufsatz werden die ebenerdigen Publikumsräume als Logen bezeichnet, da dies teils zeitgenössischen Bezeichnungen – auch die moderne Forschung scheint keinen Begriff etabliert zu haben – entspricht, vor allem aber zu der Galerie auf der Empore differenziert, de-
Abb. 2 Die Nationalversammlung in der Paulskirche, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1848/45 17 18
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Vgl Schaefer 1969, S 111 Vgl Allhoff 1975, S 68; Doosry 1998, S 25 sowie Döhl, Wilhelm: Die deutsche Nationalversammlung von 1848 im Spiegel der „Neuen Rheinischen Zeitung“, Bonn 1930, S 45; Allgemeine Zeitung, Nr 143, Augsburg 22 Mai 1848, S 2274; Bergsträsser 1929, S 56; Heller 1849, S 8; Band 3, S 2217 und auch Vogt, Carl: Erinnerungen an die deutsche Nationalversammlung, bearbeitet von Günther Klaus Judel, Gießen 2002, S 127 Vgl auch Mergel 2002, S 97
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ren Plätze keiner Einlasskontrolle unterstanden, und dabei frei von zeitgenössischen, potenziell politisch motivierten Zuschreibungen, z B der Linken, fungiert 20 Der Standort der Damenloge ist mittels des Grundplans und mehrerer Lithografien gut bestimmbar Sie schloss sich, wohl meist exklusiv mit Frauen besetzt, links an das Präsidium bis zum Osteingang an und lag zwischen den Bänken der Abgeordneten und der Innenverkleidung der Paulskirche 21 Dies stimmt mit den Schilderungen der „eng aneinandergepressten Damenbüsten unten“ des Berichterstatters Heller überein, wonach die Damenloge zur linken Seite an die Tribüne des Präsidiums anstieße 22 Die Damenloge bestand zudem über die Räumung und Beschränkung der Galerie am 8 August 1848 hinaus 23 Als am 22 Januar 1849 der Präsident der Versammlung bekanntgab, dass die „Eintrittskarten […] für die Damen“ erneuert bzw „von den Berechtigten eingetauscht werden“ werden könnten,24 bekräftigte diese Zugangskontrolle über Karten, die von den Abgeordneten selbst vergeben wurden,25 den Status sozioökonomisch und politisch stärkerer oder besser vernetzter Damen Aufgrund der Nähe zu den Kontrollorganen des Präsidiums und den Abgeordneten erfolgten wohl keine Meldungen von der Damenloge aus, weshalb sie nur zwei Mal in den Stenographischen Berichten erwähnt wurde 26 Abgesehen von den Randplätzen konnte durch die Stufung der Reihen aller Logen erreicht werden, dass auf allen Plätzen gute visuelle Voraussetzungen zur Verfolgung der Versammlung herrschten Zudem stellte die Versammlung später weitere Plätze neben der Orgel auf der Empore zur Verfügung, die zwar in der Regel von Damen besucht wurden, vom Präsidium aber geschlechtlich unabhängig vergeben wurden 27 Die Herren- und Diplomatenloge werden hier zusammen aufgeführt, weil zwischen ihren Mitgliedern nicht immer unterschieden wurde bzw die Plätze der Herren fast 20
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22 23 24 25 26 27
Vgl Band 7, S 4832 und Band 8, S 6060; Laube, Heinrich: Das erste deutsche Parlament, Bd 1, Leipzig 1849, S 139; Pecht 1894, S 338; Heller 1849, S 2; Doosry 1998, S 200; Türk 2017, S 510 Dreimal schienen Linke so die „Diplomatengallerie“ als Teil des allgemeinen Publikums darzustellen um Durchgriffe des Präsidenten zu erwirken, vgl Band 3, S 1841 und 1896 und Band 8, S 6060 So scheint Die Nationalversammlung in der Paulskirche, S7Z1848/45 in der Damenloge nur Männer zu zeigen; Bürde, Abgeordnete der Paulskirche, auch Frauen in der Herrenloge rechts neben dem Präsidium Im ersten Fall könnte die Sitzordnung durch den Besuch des Reichsverwesers geändert worden sein oder wie im zweiten aus Repräsentationsgründen vom Zeichner bevorzugt worden sein Vgl zur Verortung Eröffnungssitzung der Nationalversammlung in der Paulskirche, S7Z1848/41; Elliot, Ludwig von: Die Nationalversammlung in der Paulskirche, S7Z1848/46 und zur modernen Literatur Doosry 1998, S 200 sowie Speck, Ulrich: Das Parlament, Frankfurt am Main 1998, S 197 Vgl Jessen, Hans: Die Deutsche Revolution 1848/49 in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1968, S 133–134 Vgl Band 3, S 1843 und Laube 1849, S 139 Vgl Band 7, S 4832 Vgl Band 3, S 1684, 1841 und 1843 Vgl Band 2, S 855; Band 3, S 1843; Band 7, S 4832 und Band 8, S 5739 Vgl Band 3, S 1843; Band 8, S 5739 und Türk 2017, S 511 Hier liegen in den Darstellungen aber große zeitliche Brüche, in die zudem die Beschränkung der Galerie nach der Räumung fällt
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gar nicht erwähnt werden Analog zur Verortung durch den Grundplan, der Stenographischen Berichte und Zeitgenossen schlossen sich die Herren- bzw Diplomatenloge nach rechts symmetrisch zur Damenloge bis zum Westeingang bzw bis zum Südwesteingang an 28 Sie wurden exklusiv über Eintrittskarten mit Herren besetzt, wobei die Unterscheidung zwischen Diplomaten und Herren wohl nicht durchgehalten wurde 29 Gegen diese durch Beziehungen zu den Abgeordneten „Privilegierte“ und ihre angebliche Schonung vor Ermahnungen wurde durch Redner der Linken mehrfach Stellung bezogen 30 Die Mitglieder der Diplomatenloge saßen zwar in unmittelbarer Nähe zu den rechten Abgeordneten, also einer potenziellen Kontrolle Allerdings hätten sich diese zur Kontrolle umdrehen müssen, und wie die linken Abgeordneten ebenfalls indirekt behaupteten, waren sie vielleicht ihren „Berufskollegen“ bzw zumindest den dort versammelten Herren gegenüber nachsichtiger Dass Präsident und Vizepräsident zwei Mal Vorwürfe speziell die Diplomatenloge betreffend unter „Allgemeinheiten“ abhandelten, lässt zusätzlich mit einer Antwort des Präsidenten, dass aus der Loge „gewiß“ keine Störung erfolgt sei, aufgrund der Permanenz des Vorwurfs der Bevorzugung diesen Interpretationsspielraum frei, der jedoch politisch motiviert durch zwei Abgeordnete der Linke eröffnet worden war Die Galerie auf der Empore wird in den Stenographischen Berichten über 400 Mal erwähnt, meist nach dem Muster „Beifall auf der Linken und auf der Galerie “31 Sie ruhte auf 20 Säulen in etwa 10 Meter Höhe rundum über den Logen und Abgeordneten und bot zu den Fenstern hin gestufte Plätze 32 Durch die Diskussionen in der Versammlung hielten sich nach Zeitgenossen die „dichtgepressten Zuhörermassen droben“ bzw eine „zahlreich[e] Zuhörerschar“ auf der Galerie 33 Doosry spricht von ca 1200 Personen,34 Bergmann und Laube von 1500–2000,35 Valentin und der Abgeordnete Beseler
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32 33 34 35
Vgl Band 3, S 2166; Band 8, S 6060; Laube 1849, S 275; Jessen 1968, S 133; Doosry 1998, S 200 und Speck 1998, S 197 Vgl Band 2, S 1509; Band 7, S 4832; Jessen 1968, S 133 und Speck 1998, S 197 hinsichtlich der Eintrittskarten In Band 3, S 1841 benennt ein Abgeordneter indirekt anwesende Herren auf der Diplomatengalerie und zuletzt werden auch nur wenige Diplomaten genannt, vgl bspw Band 1, S 85 Vgl Band 2, S 1443, 1509 und Band 3, S 1841 und 1843 Vgl bspw Band 7, S 4853 Zu abweichenden Bezeichnungen Valentin 1998, S 580; Klein 1914, S 259; Hils-Brockhoff, Evelyn; Hock, Sabine: Die Paulskirche Symbol demokratischer Freiheit und nationaler Einheit, 2 Aufl , Frankfurt a M 2004, S 10, die in qualitativen Nennungen unterliegen und deren qualitative Distinktionen durch die Logenbezeichnungen unnötig werden Vgl Eröffnungssitzung S7Z1848/41, Elliot S7Z1848/46, Die Nationalversammlung S7Z1848/45 sowie Heister, Franz: Eröffnungssitzung der Nationalversammlung in der Paulskirche, S7Z1848/42 Hinsichtlich der Säulen Hils-Brockhoff; Hock 2004, S 10 und der Höhe Doosry 1998, S 200 Vgl Jessen 1968, S 134 und Schmidt, Max Georg: Ein Stammbuch aus dem Frankfurter Parlament, Stuttgart 1902, S 8 Vgl Doosry 1998, S 200 Vgl Klein 1914, S 259 und Bergmann, Jürgen: Wirtschaftskrise und Revolution Handwerker und Arbeiter 1848/49, Stuttgart 1986, S IX
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von 2000 36 Am verlässlichsten erscheinen aber die Angaben der Versammlung in den Stenographischen Berichten, worin sich dreifach auf etwa 2000 Plätze bezogen wird 37 Ermöglicht wurde dieser Andrang durch die fehlende Einlasskontrolle mittels Karten oder Saaldiener, wie auch Heller von dem freien Eintritt zur Emporkirche sprach 38 Nachdem das Publikum, ausgelöst durch das Temperament der Abgeordneten, bei der Amnestiedebatte am 8 August 1848 mehrfach gestört hatte, wurde es geräumt und anschließend in zwei Drittel der Galerie nicht mehr eingelassen 39 Die freigewordenen Räume sollten nun als Arbeitsräume für die Abgeordneten eingerichtet werden 40 Trotzdem die Arbeiten auf Antrag Dietzsch’, äußerste Linke, einstweilen unterbrochen wurden, entschied sich die Majorität der Versammlung letztlich dafür, die Begrenzung beizubehalten 41 Zudem gab der Abgeordnete Wiesner, ebenfalls äußerste Linke, an, dass seit der Räumung die Galerie von Schutzwachen durchstellt worden sei, die zudem zuweilen die Galerie in einem solchen Maße besetzt hätten, dass teilweise keine Zuhörer mehr Platz gefunden hätten 42 Leider liegen bezüglich der räumlichen Dimension der Galerie keine Quellen mehr vor, bis am 17 März 1849 Wigards Antrag dahingehend Erfolg hatte, dass ein „Raum rechts von der Orgel für alle diejenigen Personen [geöffnet wurde], die an der gegenwärtigen Verhandlung Theil zu nehmen wünschen “43 Hier liegen keine Informationen darüber vor, wie groß dieser Raum rechts von der Orgel war, noch wie groß der Raum auf der linken Seite der Orgel ausfiel, der mittlerweile zur Bibliothek umgebaut worden war und daher nicht mehr mit Publikum besetzt werden konnte Allerdings hatte zuvor der Präsident mehrfach zu Beginn von Sitzungen einer 7 Abteilung den „leeren Raum auf der Galerie links von der Orgel als Versammlungsort“ zugeteilt und einer 1 Abteilung den rechten Teil der Galerie 44 Dass die linke Seite zudem die Bibliothek enthielt, muss nicht bedeuten, dass diese Seite größer gewesen wäre – die Abteilung benötigte vielleicht weniger Platz als die der rechten Seite Zudem wurde das letzte Zusammenkommen dieser Abteilung am 7 November verzeichnet – bis zum 17 März 1849 bot sich genug Zeit für die Einrichtung einer Bibliothek, deren Vollendung der Versammlung wohl am 22 Dezember
36 37 38 39 40 41 42 43 44
Vgl Valentin, Veit: Die erste deutsche Nationalversammlung Eine geschichtliche Studie über die Frankfurter Paulskirche, München/Berlin 1919, S 73 sowie Beseler, Georg: Erlebtes und Erstrebtes 1809–1859, Berlin 1884, S 59 Vgl Band 3, S 1840, 1842 und 1845 sowie auch Band 2, S 1510 Vgl Jessen 1968, S 134 Vgl Band 2, S 1509 sowie auch Stüve, Gustav: Briefwechsel zwischen Stüve und Detmold in den Jahren 1848 bis 1850, Hannover/Leipzig 1903, S 85 und Goldammer, Peter: 1848 Augenzeugen der Revolution Briefe, Tagebücher, Reden, Berichte, Berlin 1973, S 519 Vgl Band 2, S 1510 Vgl Band 2, S 1510 sowie Band 3, S 1854 Vgl Band 3, S 1845–1846 Vgl Band 8, S 5739 Vgl Band 2, S 1509 und Band 8, S 5595 sowie bspw Band 3, S 2214; Band 4, S 3116 und 3140
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1848 auch angezeigt wurde 45 Es bietet sich also kein Argument, was die symmetrische Aufteilung der Galerie in drei gleich große Teile in Frage stellen würde Wenn nun der jeweils gleich große linke wie rechte Teil neben der Orgel dem Publikum verwehrt geblieben wären, so ergäbe sich, dass dieses auf das mittlere Drittel der Galerie beschränkt worden wäre Auf diese Weise hätte das Präsidium diesen ihm nun gegenüberliegenden Teil der Galerie am besten kontrollieren können 46 Zudem hätten die angeführten Schutzwachen oder zumindest Saaldiener über die beiden Treppen den besten Zugriff auf das Publikum gehabt, und es schnellstmöglich über die Ausgänge im Nordwesten und -osten räumen können Die nicht vorhandene Geschlechtertrennung ist zumindest unstrittig, zumal vor und nach der Begrenzung der Galerie keine Einlasskontrolle bestanden hatte 47 Auch auf zwei Lithographien sind auf der Galerie sowohl Frauen als auch Männer klar identifizierbar und ohne ein Ordnungsschema abgebildet worden 48 Insbesondere vor Begrenzung der Galerie und ihrer stärkeren Durchsetzung mit Kontrollelementen konnte bspw der Präsident nur mit großer Schwierigkeit die direkt hinter und vor allem über ihm Sitzenden sehen und kontrollieren, wie auch Felix von Lichnowsky, rechtes Zentrum, anführte 49 Solchermaßen zu Beginn von der Versammlung hinsichtlich direkter Kontrolle entzogen, als auch visueller und akustischer Wahrnehmung entbunden durch die große Höhe, boten sich dem Publikum wohl gute Voraussetzungen für Gespräche 50 So könnte auf der Galerie aufgrund der hohen Personendichte sogar ein solider, grundsätzlicher Geräuschpegel geherrscht haben Nur in absoluten Einzelfällen konnte der Präsident einzelne Störer auf der Galerie ausmachen,51 die Stenographen Meldungen der Galerie nicht nach Richtung oder Individuen weiter bestimmen Aus der Masse auf der Galerie, denen die politische Bühne der Abgeordneten wie in einem Theater zu Füßen lag, ergingen aus diesem Grund 250 Meldungen Ebenso konnten die Abgeordneten gerade diejenigen Zuschauer, die sich oben auf der Empore ihrer politischen Einstellung nach zu ihnen gesetzt hatten, nicht sehen Stattdessen sahen sie geradezu auf das „gegnerische“ Publikum – was in der Beurteilung der linken Abgeordneten hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit der Galerie durch die Rechten sicherlich eine Rolle spielte
45 46 47 48 49 50
51
Vgl Band 4, S 3140 sowie Band 6, S 4337 Vgl zu einer graphischen Darstellung die Linienbegrenzung der Galerie im Grundplan Vgl Band 3, S 1841–1854 Vgl Die Nationalversammlung S7Z1848/45 und Heister S7Z1848/42 Vgl Band 3, S 1844 Vgl für Gespräche in der Paulskirche, die auf der Galerie stattgefunden haben könnten, Lipp, Carola u A : Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Baden-Baden 1998, S 292 und Gall, Lothar: 1848: Aufbruch zur Freiheit, Berlin 1998, S 224 Vgl bspw Band 3, S 1845 und 2181
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Das Publikum – Frauen, Männer und das Volk Wogegen für die Versammlung bspw ausgesagt werden kann, dass die Mehrheit der Abgeordneten Beamte waren,52 fällt dies beim Publikum schwer Die Unterscheidung der Logen kann uns hinsichtlich des Geschlechts der dort Sitzenden vor allem bei der Damenloge weiterhelfen und hinsichtlich des Berufs begrenzt bei den Diplomaten Von der Privilegierung der in den Logen Sitzenden aber darauf zu schließen, dass auf der Galerie immer Frauen und Männer geringerer sozioökonomischer wie politischer Möglichkeiten Platz genommen hätten, wäre bereits nicht quellengestützt Allerdings kann bspw davon ausgegangen werden, dass das Publikum der Logen deutlich öfter aus den gleichen Personenkreisen bestand als das der Galerie, da die Eintrittskarten wohl nicht in großer Auflage ausgegeben und zudem durch die Versammlung auch wieder eingezogen und neu verteilt wurden Im Gegensatz zu diesen Privilegierten trat nun eine neue, unbestimmtere Gruppe auf der Galerie als Teil des Publikums auf: Das Volk, welches seine politischen Repräsentanten bei der Arbeit in der Versammlung kontrollieren und gleichzeitig als tatsächliche, jeden Tag gebildete Öffentlichkeit durch das Publikum legitimieren sollte 53 Den Klassenunterschieden gemäß ließ die Versammlung die verschiedenen Publikumsräume einrichten, erwartete also bestimmte Teile der Bevölkerung dort, wurde dann aber doch mit Individuen konfrontiert Welche Individuen saßen also in den Logen und auf der Galerie, und welche Aussagen können hinsichtlich dieser Gruppen der Frauen, Männer und des Volkes gebildet werden? Frauen als Publikum Wenn auch die Frauen im Gegensatz zu den meisten Männern weder aktiv noch passiv die Zusammensetzung der Versammlung bestimmen konnten,54 wurden sie hinsichtlich ihrer berechtigten Teilnahme als Publikum zumindest formal nahezu gleich behandelt, wenn auch den Männern durch die Diplomatenloge mehr Raum zur Verfügung stand Auf der Galerie setzte sich die berühmte Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient wahrscheinlich zu der äußersten Linken, mit deren Politik bspw ihre Beteiligung am Dresdner Mai-Aufstand von 1849 übereinstimmte 55 Links auf der Galerie hielt sich auch die Schriftstellerin Fanny Lewald nach Möglichkeit auf, die politisch und persön-
52 53 54 55
Vgl Lenger, Friedrich: Das Bürgertum, in: Dipper; Speck 1998, S 240 Vgl Speck 1998, S 202 Vgl Huber, Ernst Rudolf: Der Kampf um Einheit und Freiheit von 1830 bis 1850, Bd 2, Stuttgart 1960, S 606–607 Vgl Allhoff 1975, S 162; Valentin 1998, S 581 und Malisch, Kurt: Schröder-Devrient, Wilhelmine, in: Neue Deutsche Biographie (NBD), Bd 23, Berlin 2007, S 558
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lich mit den Linken bzw dem linken Zentrum sympathisierte 56 Sie kannte mehrere Abgeordnete der Versammlung gut und verbrachte vier Monate in Frankfurt 57 In ihren Vergleichen der Politik der Nationalversammlung mit der in Frankreich und Berlin verwendete sie auch ein Bild aus der weiblichen Sphäre, als sie die Folgen des Septemberaufstandes mit dem Risiko, aber auch dem Lohn des Wochenbettes verglich 58 Ihre Erlebnisse verarbeitete sie zudem später literarisch, auch aus politisch motivierter Perspektive 59 Clothilde Koch-Gontard, Frau des englischen Konsuls in Frankfurt, richtete dort einen politischen Salon aus, in den bis auf die ausgesprochen demokratischen Linken alle Gruppen der Paulskirche einkehrten 60 In den vierziger Jahren lernte sie neben Gagern mehrere spätere Abgeordnete sowie die „Deutsche Zeitung“ kennen, ließ sich vom Liberalismus und der Einheitsbewegung inspirieren und wurde dadurch auf 1848 vorbereitet 61 Verborgen hinter den Draperien der Paulskirche verfolgte sie schon das Vorparlament, vermutlich zusammen mit Malvida von Meysenburg 62 Zu ihren Besuchen in der Paulskirche schrieb sie: „Ich gehe täglich in die Sitzungen und kann die Politik nicht lassen, obgleich ich fühle, daß wir Frauen uns der Sache nicht so leidenschaftlich hingeben sollten “63 Sie votierte wie ihre liberalen Freunde für die konstitutionelle Monarchie, tröstete und beriet als „Parlamentsmutter“ mehrere Abgeordnete und wurde von Gagern und Schmerling verehrt 64 Koch-Gontard war zudem maßgeblich daran beteiligt, dass zwei ihrer Freundinnen, Serafine Jordan und Josefine Buhl, beides Frauen von Abgeordneten, den Sitzungen beiwohnten 65 Jordan beschrieb recht genau Abgeordnete der Versammlung, zielte über ein politisches Grundverständnis hinausgehend allerdings maximal indirekt auf politische Details in ihrem Tagebuch ab; ihr Interesse lag eher auf sozialen Strukturen 66 Josefine Buhl lernte bei ihrem Besuch ebenfalls Abgeordnete kennen, ging jedoch in ihrem Tagebuch deutlich stärker auf die Politik der Versammlung ein, als sie bspw im März 1849 schrieb, dass das moralische Ansehen des Parlamentes durch „Wühlereien seiner eigenen extremen Partei“ geschwächt sei 67
56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Vgl Allhoff 1975, S 162 und Lewis, Hanna B : Fanny Lewald and the Revolution of 1848, Tübingen 1990, S 80 und 82 Vgl Lewis 1990, S 86 und 89 Vgl Lewis 1990, S 86–87 Vgl Lewis 1990, S 80 Vgl Klötzer 1969, S 3 und 20 Vgl Klötzer 1969, S 14–15 und Türk 2017, S 509 Vgl Klötzer 1969, S 16 Klötzer 1969, S 62 Vgl Klötzer 1969, S 3 und 16–18 Vgl Klötzer 1969, S 395 und 405 Vgl Klötzer 1969, S 395–397, 399, 402–404 Vgl Klötzer 1969, S 405–406
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Doch wie wurden diese Frauen durch die männlichen Abgeordneten wahrgenommen? Immerhin ließ sich Koch-Gontard „aus Politik“ zugunsten Gagerns von Schmerling den Hof machen und beschrieb zuweilen, mit Gagern ausschließlich über Politik gesprochen zu haben68 – wurde sie von den Abgeordneten als gleichwertige Gesprächspartnerin wahrgenommen? In ihrem Stammbuch pries Gagern Koch-Gontards Verstand und beschrieb indirekt, dass sie ihn unterstütze 69 Die meisten Abgeordneten schienen aber die Sphären von Männern und Frauen in der Politik zu trennen; oft beschrieben sie, wie der Mann nach Freiheit strebe, die Frau hingegen nach Sitte, bzw der Mann im Hause der Frau getröstet werde und ausruhen könne 70 Siemens, wie Gagern rechtes Zentrum, schrieb, dass von den Kämpfern, die sich um ihren Führer geschart hätten, die glücklich wären, die am Herde der Egeria an den Ufern des Mains dereinst wieder zusammentreffen könnten 71 Egeria ist in der römischen Mythologie die Nymphe der gleichnamigen Quelle;72 Koch-Gontard versammelte die „Kämpfer“, Herren der Versammlung, am Main Im Rückgriff auf das antike Modell liegt auch die Deutung: Egeria beriet den König von Rom in Fragen der Religion; Koch-Gontard versammelt die kämpfenden Männer nicht in ihrem Salon, sondern am Herd; sie berät die Männer in Fragen der Sitte, nicht der Politik An ihrem Ruhepol können die Männer sich ausruhen und Kraft schöpfen, von der Sphäre der Politik ist sie durch ihr Geschlecht getrennt 73 Selbst eine sozial wie geistig so potente Frau wie Koch-Gontard konnte, wollte wohl auch nicht,74 gleichberechtigt politisch tätig werden bzw in solcher Tätigkeit anerkannt werden Dass Frauen zwar als Teil der Öffentlichkeit die Versammlung legitimieren sollten, aber ihnen eine selbst-ständige Tätigkeit in der öffentlichen-politischen Sphäre verschlossen blieb, stellt auch Türk dar: „Auf diese Weise entsteht kein harmonisches Bild von Frauen und Männern vereint im Kampf um politische Rechte oder einen deutschen Nationalstaat, wie es die Forschung in Teilen suggeriert, sondern das Bild einer umstrittenen Öffentlichkeit “75 Insbesondere die Bezüge auf die Antike mit ihren tradierten Mechanismen der Zuweisung von Geschlechterrollen standen bei den Männern und Abgeordneten hoch im Kurs 76 Hier noch im
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Vgl Klötzer 1969, 20–21 sowie S 335 und 355 Vgl Klötzer 1969, S 360 und 362 Vgl Klötzer 1969, bspw 360, 379, 381, 384, 388 Vgl Klötzer 1969, S 384 Vgl Wissowa, Georg: Egeria, in: Roscher, Wilhelm Heinrich (Hg ), Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd 1, Leipzig 1886, S 1216–1217 Vgl auch Kienitz, Sabine: Frauen, in: Dipper; Speck 1998, S 278–280 und 283 Vgl Klötzer 1969, S 16 Vgl Türk 2017, S 501–502 Vgl hierzu Beard, Mary: Frauen & Macht Ein Manifest, Frankfurt am Main 2018, insb S 14–28 und 72–74; Mergel 2002, S 105–106 sowie Allhoff 1975, S 566–568 und auch Türk 2017, S 505 und 523
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positiven Koch-Gontard bestätigend, sie habe die richtige Rolle ergriffen,77 wurden diese Mechanismen auch für negative Zuschreibungen gebraucht: Als die Abgeordneten Lichnowsky und Auerswald bei dem Septemberaufstand am 18 September ermordet wurden, sollte zu den Schuldigen auch Henriette Zobel gehören, eine der Frauen, die im Zuge der Revolution begannen, aus den ihnen zugedachten häuslichen Rolle auszubrechen, um Anteil am politischen Geschehen zu nehmen 78 Zobel besuchte regelmäßig als Zuschauerin die Versammlungen, auch war sie am 17 September bei der oppositionellen Kundgebung auf der Pfingstweide anwesend Am 18 September traf sie durch Zufall auf Lichnowsky und Auerswald, die bereits von einem Mob mit Steinen beworfen wurden 79 Zehn Zeugen identifizierten sie und berichteten davon, dass sie „[d]as ist der Spitzbub, der das Volk schon lang genug gemordet hat; dem gehört eine Kugel vor den Kopf “ geschrien und Auerswald mit dem Regenschirm geschlagen habe
Abb. 3 Völker, Wilhelm, „Die Ermordung des Fürsten Lichnowsky und des Generals von Auerswald zu Frankfurt a M am 18 September 1848“, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1848/114 77 78 79
Vgl Klötzer 1969, S 363 Vgl Franke, Andreas: Henriette Zobel, Frankfurter Frauenzimmer, Historisches Museum Frankfurt 2015, www frankfurterfrauenzimmer de/ep10-detail html?bio=da, 20 12 2019 Vgl Köstlin, Christian Reinhold: Auerswald und Lichnowsky, Ein Zeitbild, nach den Akten des Appellations-Gerichts zu Frankfurt a M , Tübingen 1853, S 146–153 sowie Franke 2015
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Eine der berühmtesten Darstellungen von Wilhelm Völker zeigt eine zeitgenössische Interpretation der Geschehnisse Das mordende Volk, roh in seiner Darstellung, wird personifiziert durch Gesichter bekannter Revolutionäre, trotzdem deren Anwesenheit weder verbürgt, noch wahrscheinlich war 80 Deutlich ist Zobel zu erkennen; in der Mitte des Bildes ihr auf Lichnowsky einschlagender Regenschirm 81 Die Rohheit der Mordenden wird betont durch die ikonographische Anlehnung, wenn nicht Nachahmung, populärer Christusdarstellungen 82 Eine Kreidelithographie der gleichen Zeit betont noch stärker Zobels Rolle, deren Kopf und Regenschirm ins Überlebensgroße verzerrt werden 83 Beide Arme scheinen Lichnowsky mit einem gewaltigen Schlag zu richten, während das wutverzerrte Gesicht, die einfache Kleidung und der umstürzende Kükenkorb sie als Frau der niederen Schicht ausweisen und das Chaos betonen Zobel wurde verhaftet, der Schirm sichergestellt 84 Trotzdem sie beteuerte, nicht mit Steinen geworfen und auch mit dem Schirm wohl kaum getroffen zu haben, wurde sie unter unzumutbaren Bedingungen mehr als vier Jahre in Untersuchungshaft gehalten Im Januar 1853 wurde Zobel wegen Teilnahme an dem Komplott sowie der Anstiftung und Rädelsführung zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt Der Gerichtsgutachter schrieb über sie: „Jene Zeit, die so viele aus ihrem Gleise schleuderte, hat auch diese Frau aus der dem Weibe geziemenden Bahn gerückt Sie hat in der Paulskirche gesessen, hat auf Zitz und Genossen gehorcht, hat Politik getrieben “ Zum einen wurde ihr so vorgeworfen, sich an der Politik des radikaldemokratischen Abgeordneten Zitz orientiert zu haben, der auch auf der Volksversammlung am 17 September gesprochen hatte 85 Zobel mit ihren Aufrufen zur Gewalt stand damit stellvertretend für die radikalen Kräfte im Volk Maßgeblich wurde ihr jedoch vorgeworfen, „Politik getrieben“ zu haben: Zobel wurde als „Furie“ und „Megäre“ gebrandmarkt – eine Rachegöttin der griechischen Mythologie, eine rasend wütende Frau mit Schlangenhaaren und Peitsche 86 Wie der Medusa sollte auch ihr der Kopf abgeschlagen werden, die Macht, die sie in Stimme und Taten angeblich ausgeübt hatte, musste von Männern, auch noch 1931 bei Valentin, gebrochen werden 87 Selbst der Regenschirm als damals vornehmlich
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Vgl Brückmann, Remigius: Die Ermordung der Abgeordneten von Auerswald und von Lichnowsky am 18 September 1848 in Frankfurt am Main Zur bildlichen Darstellung und propagandistischen Aufbereitung eines deutschen Revolutionsereignisses, München 2009, S 128–130 und 134 sowie Völker S7Z1848/114 Vgl Völker S7Z1848/114 und auch Brückmann 2009, S 131 Vgl Brückmann 2009, S 139–140 Vgl Die Ermordung Lichnowsky’s, entnommen aus Brückmann 2009, S 137 Vgl Franke 2015 Vgl Stüve 1903, S 101–102 und Klötzer 1969, S 339 sowie Klein 1914, S 304 Vgl Pecht 1894, S 350; Franke 2015; Artikel Megäre, Wortschatz Universität Leipzig, corpora infor matik uni-leipzig de/de/res?corpusId=deu_newscrawl_2011&word=Meg%C3 %A4re, 20 12 2019 und Rapp, Adolf: Erinys, in: Roscher, Wilhelm Heinrich (Hg ), Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd 1, Leipzig 1886, S 1310–1313 Vgl Valentin 1998, S 582
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weiblich konnotiertes Accessoire wurde zur Todeswaffe pervertiert und noch bis 1948 hierüber öffentlich präsentiert, zu welchen Folgen für den Staat und die Frau selbst es führen würde, sollte sie Politik betreiben 88
Abb. 4 Karikatur auf den Abgeordneten v Lichnowsky, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1848/140
Abb. 5 May, Eduard Gustav: „Sturmpetition“, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1849/64
Auch für die Karikaturisten war die Politik treibende oder ihr beiwohnende Frau ein gern genutztes Motiv So zeigen zwei Karikaturen ihr Interesse an dem Abgeordneten Lichnowsky: Im ersten Fall nehmen sie einen Schoßhund mit Gesicht Lichnowskys auf die Galerie, im zweiten bestürmen sie den im Schlafrock befindlichen Abgeordneten in seinem Haus, er möge ihre Plätze der Galerie wieder ausweiten In beiden Fällen wurde den Damen nicht Interesse an der Politik der Versammlung unterstellt, sondern die „Leidenschaft“ an dem romantisch erfolgreichem Lichnowsky 89 Ein Vorliebe für Lichnowsky trat jedoch bei keiner der verzeichneten Frauen zu Tage; Koch-Gontard gewann sogar keinen guten Eindruck von ihm 90 Ähnlich schrieb 1849 Heller abwertend: „Aber die Sympathie der Frauen war stets eine Sympathie mit den Leidenschaf-
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89 90
Vgl Artikel Regenschirm der Henriette Zobel, Historisches Museum Frankfurt, historisches-mu seum-frankfurt de/de/node/33850, 20 12 2019 sowie Hauschildt, Wiebke: Die Geschichte des Regenschirms und seiner sozialen Konsequenzen, Deutsche Digitale Bibliothek 2016, www deutschedigitale-bibliothek de/content/journal/entdecken/die-geschichte-des-regenschirms-und-seinersozialen-konsequenzen/, 20 12 2019 Vgl Goldammer 1973, S 525 und auch Türk 2017, S 511 und 519 Vgl Klötzer 1969, S 326 Allerdings verehrte Koch-Gontard Gagern, Lewald Heinrich Simon
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ten “91 Auch Valentin griff diese Leidenschaft, bspw für Lichnowsky, auf, unterstellte den Frauen aber auch das Schwärmen für „militärische Uniformen, für Freiheitliches und Nationales, Neues und Abenteuerlich-Romantisches“, vor allem hinsichtlich der neuen Aufstiegschancen ihrer Männer 92
Abb. 6 „Politischer Damenclubb “, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1849/62
Eine weitere Karikatur zeigt den politischen Damenclub: Frauen streiten sich, z T im Wahnsinn, während eine männliche Figur sie beeinflusst und ein unbeaufsichtigtes Kind mit einem Hund den Tisch mit Krone umstoßen 93 Die Botschaft ist klar: Frauen können keine Politik betreiben, sie zerstreiten sich, würden unsinnige Forderungen durchsetzen wollen – so steht in der Rede der Dame auf der Tribüne, dass kein Mann mehr ohne seine Frau ausgehen dürfe Durch solche Forderungen Gesellschaft und Staat riskierend, stürzen sie ihre Kinder als Zukunft des Volkes und die Krone als politische Zukunft ins Unheil – der Zivilisationstisch, das angestammte Heim der Frau, wird von Tieren umgeworfen, das Essen als Früchte dieser Zivilisation zunichte gemacht Während sich alle Frauen zerstreiten, öffnen sie damit Radikalen die Tür; die Parallelen zu den Vorwürfen gegenüber Zobel sind eindeutig 94 91 92 93 94
Heller 1849, S 3 Vgl Valentin 1998, S 580 und Allhoff 1975, S 162 Vgl „Politischer Damenclubb “ S7Z1849/62 Vgl auch „Die Emancipatientinnen “ S7Z1849/66
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Abb. 7 „Die Gallerie in der Paulskirche “, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1849/61
Die vierte Karikatur, übertitelt „Die Gallerie in der Paulskirche“, zeigt dagegen eine riesige, ausgesprochen männlich wirkende Mutter vor weinenden, streitenden Kindern, während der hilfs- und verwahrloste Vater in der Ecke sitzt Geschickt wurden hier mehrere Vorwürfe kombiniert: Die unterernährten Kinder werden nicht erzogen und es breitet sich Chaos aus, der Herr im Hause hat diese Rolle an seine Frau verloren, kann aber natürlich nicht die weibliche Sphäre bedienen und bleibt nutzlos zurück Nicht nur mit von der Frau vorgezogenen, geistigen Nahrung wird auf die kompromisslose Prinzipientreue der Linken hingewiesen, sondern vor allem in der raffinierten Gegenüberstellung, die Mutter habe den Glauben vernachlässigt, das sei nicht recht – sie sitzt ja auch äußerst links Durch ihre politisch sinnlose Forderung nach der „monarchisch-republikanische Anarchie auf der breitesten Unterlage“ wird verdeutlicht, dass die Frau in der Sphäre der Politik, hier explizit der Paulskirche, nichts gewinnen konnte, im Gegenteil ihre „Sitte“ der Religion, Essenszubereitung und Kindererziehung verloren hatte 95 Gerade der Vorwurf, die Damen würden den Linken, und damit potenziell radikalen Kräften anhängen, wurde hier oft verbreitet Zumindest für Koch-Gontard und Buhl, wahrscheinlich auch Jordan, kann dies aber ausgeschlossen werden, bei Schröder-Devrient und Lewald ist es dagegen wahrscheinlicher Trotzdem zeigt gerade Lewald, dass das Vorurteil der blind für die „Leidenschaften“ strebenden Frau auch für Sympathisantinnen mit den Linken nicht gelten musste, so zeigen ihre Tagebuch-
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Vgl auch „Die Gallerie in der Paulskirche “ S7Z1849/63 und Türk 2017, S 519–522
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einträge ein hohes politisches Verständnis, bspw zu der Bedeutung der Märtyrerrolle Lichnowskys 96 Ihre spezifisch weibliche Perspektive der Mutter, die ihr Revolutionskind gebiert und dabei Vorfälle wie den Septemberaufstand mit einkalkuliert, hätte auf konservative Zeitgenossen vielleicht erschreckend gewirkt, da zwei Mitglieder ihrer Majorität ermordet worden waren Von einem wütenden Fanatismus, wie er Zobel unterstellt wurde, ist hier allerdings nichts zu spüren Hinsichtlich ihrer politischen Wirksamkeit in den Sphären der Männer streng limitiert, setzten die Frauen andere Mittel wie den Haushaltseinkauf innerhalb ihrer weiblichen Sphären ein, um einer zunehmenden Politisierung Handlungen folgen zu lassen 97 Nur im Privaten, in Tagebüchern und Briefen, konnten sie ihre politischen Einstellungen ohne Bedenken äußern, im starken Kontrast zu bspw dem durch Männer dominierten, öffentlichen Raum wie den Karikaturen 98 So wies auch die Zuschauerin Julie Pagenstecher, Frau des Abgeordneten, in einem Brief an ihren Sohn darauf hin, ihre politischen Einschätzungen keinem Menschen zu erzählen, da es komisch laute, „wenn Frauen darüber reden“ 99 Für diese Frauen und die näher mit Abgeordneten bekannten wie Koch-Gontard bot sich dabei potenziell noch das Feld der privaten Beeinflussung 100 So ermöglichte die den Sitzungen beiwohnende Emilie Uhland ihrem Mann nicht nur eine finanziell unabhängige schriftstellerische und politische Arbeit, sondern begleitete ihn auch auf vielen Reisen 101 Ihre geistige Involvierung, u a in seine politischen Tätigkeiten, ist belegt; nach seinem Tod wurde sie seine erste Biografin 102 Dass die meisten Frauen nach Valentin „nur Zuschauerinnen“ gewesen seien,103 also passiv den Versammlungen gefolgt und nicht über Politik diskutiert hätten, ist für die vorgestellten Frauen unwahrscheinlich Aufgrund der untypischen Bildung Lewalds und Koch-Gontards sind beide allerdings, ebenso wie Jordan und Buhl durch ihre familiären Bande, nicht zwangsläufig repräsentativ für das weibliche Publikum 104 Dass Valentins „geistige und gesellschaftliche Elite der Frankfurter Frauenwelt“ als Teil des größeren Publikums in der Paulskirche beiwohnte, ist zumindest wahrscheinlich, und über Koch-Gontard belegt 105 Öffentlich, auch in der Paulskirche, sollten sie jedoch die in der Politik involvierten Männern lediglich bewundern und ihr schmückendes Beiwerk 96 97 98 99 100
Vgl Lewis 1990, S 87–88 Vgl Kienitz 1998, S 274 Vgl auch Türk 2017, S 515–516 Vgl Türk 2017, S 514–515 Hierauf hätte sich auch Biedermann 1849, S 366 beziehen können Zu weiteren Beispielen siehe Türk 2017, S 514 und 517 Da dieser Personenkreis noch weniger repräsentativ, gerade für die Frauen auf der Galerie, sein kann, wird hier verwiesen 101 Vgl Lipp 1998, S 291 sowie Artikel Emilie Uhland, Spiegel Online, gutenberg spiegel de/autor/ emilie-uhland-799, 20 12 2019 102 Vgl Artikel Emilie Uhland, Spiegel Online 103 Vgl Valentin 1998, S 580 104 Vgl Lewis 1990, S 80 und Klötzer 1969, S 11–13 105 Vgl Valentin 1998, S 580 sowie Allhoff 1975, S 65–66
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bilden 106 Daher wurde auf die Zuschauerinnen, außer zur Wahrung der Pietät,107 nicht eingegangen, ihre Meinungen wurden selbstverständlich nicht gehört Wo Frauen, Männer (mit Ausnahme der Diplomaten) und das Volk einte, dass deren politisch unqualifizierte Meldungen in der Paulskirche weder gehört wurden noch erlaubt waren, so stellten die Frauen die einzige Gruppe, der dies schon aufgrund ihres Geschlechtes verwehrt blieb Die Hochburg der öffentlichen politischen Rede stand ganz im Duktus ihrer Zeit und verwies die Frauen noch lange in die Rolle der stummen Zuhörer, weshalb nicht nur Koch-Gontard es bedauerte, „nur eine Frau sein zu müssen“ 108 Männer als Publikum Bei den Männern des Publikums bildeten der Künstler Friedrich Pecht, durch seine Bekanntschaften mit vielen Abgeordneten ein Mann des Zentrums, und der liberal und demokratisch eingestellte Schriftsteller Ludolf Wienbarg die politischen Pole 109 Zudem besuchten die Sitzungen auf den Zuschauerplätzen noch der radikaldemokratische Carl Schurz sowie Joseph Victor Scheffel; zum Zwecke der Veröffentlichung neben Pecht noch der Schriftsteller und überzeugte Revolutionär Ludwig Kalisch sowie Rudolf Haym nach seinem Ausscheiden aus der Versammlung auf der Galerie 110 In dem Stammbuch der Koch-Gontard hatten die Abgeordneten nicht nur über sich als Männer geschrieben, sondern auch über Männer generell Die Männer waren gegenüber den Frauen die „Kämpfer“, die sich Aufopfernden, mit „Mut“ nach Freiheit Strebenden111 – und die in der Sphäre der Politik alleinig Dominierenden Deshalb sind Männer, zumindest des gehobenen Standes, nicht Gegenstand von Karikaturen geworden, die ihnen das Recht absprachen, Politik zu betreiben – unabhängig davon, ob als Abgeordneter oder in der Loge Für die Zeitgenossen bestand das zu ironisierende Element in der Politik des jeweiligen Mannes, aber niemals darin, dass er Politik treiben würde Über ihre intentionalen Veröffentlichungen drückten fast alle hier aufgeführten männlichen Besucher selbstverständlich ihren politischen Standpunkt
106 Am 18 Juni 1849 wortwörtlich: Sie schmückten den Sitzungssaal in Stuttgart, vgl Weiß, Barbara: Das Stuttgarter Rumpfparlament 1849 Das Tagebuch von Emil Adolph Roßmäßler und das Selbstverständnis der Abgeordneten, Stuttgart 1999, S 56 sowie auch Türk 2017, S 513 107 Hier wurde das Verbrechen der Abtreibung „aus Rücksicht“ nicht näher bezeichnet, vgl Band 2, S 855 108 Vgl Allhoff 1975, S 1; Mergel 2002, bspw S 106–107 sowie Klötzer 1969, S 64 109 Vgl Pecht 1894, S 352 und Goldammer 1973, S 512 110 Vgl Hils-Brockhof; Hock 2004, S 86; Goldammer 1973, S 445 und 563; Julius H Schoeps: An der Seite der Unterdrückten Ludwig Kalisch (1814–1882) im Vormärz, in der Revolution von 1848 und im französischen Exil, Stuttgart/Bonn 1983, S 338 und 341 und Wentzcke, Paul: Aus den letzten Tagen der Paulskirche Briefe Rudolf Hayms, Frankfurt 1925, S 47 und 64 111 Vgl Klötzer 1969, S 379, 381 und 388
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aus und beurteilten den anderer männlicher Abgeordneter112 – während dies den Frauen nur in Tagebüchern oder versteckt in Romanen möglich war Durch die Anzahl politischer Versammlungen in Frankfurt ist zudem für die Herren der Stadt von einer gewissen Vertrautheit mit dem politischen Parkett, zumindest als (nicht zwangsläufig im Saal anwesender) Zuschauer, auszugehen 113 Gerade die konservativen Kräfte in der Versammlung und Gesellschaft trennten dabei zwischen den Herren der Logen mit ihrer selbstverständlichen Beschäftigung mit der Politik, die daher auch nicht mit Karikaturen bedacht wurden, und der verdächtigen Beschäftigung mit der Politik der unteren, neu politisierten Schichten Das Volk als Publikum Da Abgeordnete und Fraktionen bspw in der Debatte über die Beschränkung der Galerie unterschiedliche, politisch motivierte Definitionen der Öffentlichkeit der Sitzungen durch das „Volk“ aufstellten,114 bestand auch in der Versammlung kein Konsens darüber, wie viel Anteil (und damit vielleicht Einflussnahme) es an den Verhandlungen haben sollte Abgesehen von den Verdächtigungen, dass vor allem das Publikum der Galerie mit den Linken sympathisieren würde, entsprangen hieraus aber kaum Informationen über die Zuschauer auf der Galerie Der dort sitzende Wienbarg hatte allerdings bzgl des Septemberaufstandes geschrieben: „Oft, wenn den Redner der Linken die rauschenden Bravos von den Galerien der Paulskirche zuteil wurden, habe ich bei mir gedacht: Wie verführerisch und doch wie nichtig ist dieser Beifall! Wer ist dieses Volk? Was lässt sich von ihm hoffen und fürchten? Dort der wohlgenährte Frankfurter Reichsstadtphilister, dort der arme Winzer aus einem der Dörfer des duodezstaatenreichen Nachbargebietes, dort der Demokrat aus der preußischösterreichischen Festung Mainz, dort ein Handels-, dort ein Revolutionsreisender“ 115
Es ist ungeklärt, ob die von Wienbarg genannten Personen – er schrieb später auch von „dem gemischtesten Publikum“ und „dem gewöhnlichen bunten Publikum der Galerien“116 – wirkliche Individuen darstellten oder als politisch motivierte Stereotypen angeführt wurden Mit Frankfurt als einem der geistigen und wirtschaftlichen Zentren Deutschlands, dessen Bewohner aufgeschlossen und an politisches Leben durch den Bundestag gewohnt waren,117 wäre die Figur des „Frankfurter Reichsstadtphilisters“ in
112 113 114 115 116 117
Vgl bspw Pecht 1894, S 345–346 sowie Goldammer 1973, S 431 und 563 Vgl Allhoff 1975, S 65 Vgl Band 3, S 1839–1849 Goldammer 1973, S 518 Vgl Goldammer 1973, S 516 und 521 Vgl Allhoff 1975, S 65
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der Versammlung wohl nicht ungewöhnlich gewesen 118 Die Galerie ohne Einlasskontrolle könnte aufgrund der nur begrenzt verfügbaren Eintrittskarten, des nur temporären Interesses am Besuch der Versammlung oder der Möglichkeit dazu, für viele sozioökonomisch und politisch diverse Bevölkerungsschichten ihren Sitzplatz gebildet haben Durch die Anwesenheit Jordans und Buhls, der Eltern Gagerns, von Schröder-Devrient, Lewald, Kalisch, Wienbarg, Pecht, Schurz und Heinrich Hilgard119 ist zudem ein „Paulskirchentourismus“ erkennbar, wobei der Besuch der Versammlungen das Hauptziel der Reisenden darstellte Für andere mit geringerer Reichweite, wie Zobel, dürfte die Galerie die einzige Möglichkeit zum Besuch dargestellt haben Zumindest für Schröder-Devrient begleitete potenziell auch die Möglichkeit, sich der politischen Einstellung nach auf der Galerie setzen zu können, ihre Platzwahl Dass die Galerie sogar von bereits ausgetretenen Abgeordneten besucht wurde, ist leider nur für Stuttgart über die Stenographischen Berichte und Hayms eigene Verortung konkret belegt 120 In den Karikaturen Detmolds bekommt der fiktiven Abgeordneten Piepmeyer Besuch von einem Wähler und zeigt ihm von der Galerie aus die Berühmtheiten der Versammlung 121 Hier schwang aber schon ein oft verwendetes Urteil gegenüber den Mitgliedern der Galerie mit: Der Wähler, durch den linken Piepmeyer getäuscht, wird als dumm dargestellt, weil er nach den Ultramontanen fragt, die alle schlechten Beschlüsse hervorbringen würden
Abb. 8 „Was der Bruder Straubinger im Jahre des Heils 1848 für Schicksale gehabt hat “, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1848/152
118
Ein Beispiel dafür könnte der Hofsekretär Beckmann zu Frankfurt am Main bilden, vgl Band 3, S 1819 119 Vgl Klötzer 1969, S 324 und 336 und Schumacher, Karl Eberhard: Zwischen konservativem Vater und liberaler Großfamilie Die Pfälzer Jahres des Heinrich Hilgard-Villard, in: Ruppert, Karsten u a ; Jahrbuch der Hambacher Gesellschaft 24, Stuttgart 2017, S 25 Hilgard war zudem erst 13 Jahre alt und hatte sich über Zeitungsartikel weitergebildet 120 Vgl Band 9, S 6701 sowie Wentzcke 1925, S 47 121 Vgl Detmold 1961, Blatt 41
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Die Karikatur der Mutter im Parlament hatte bereits die Rohheit auf der Galerie verdeutlicht, eine weitere verstärkt diese Darstellung: Von der Galerie ruft ein Mann herunter, Haare wie Augen wild, die Faust geballt, der Mund weit aufgerissen Die Karikatur nimmt Bezug auf die Räumung am 8 August und war Teil der Reihe „Was der Bruder Straubinger im Jahre des Heils 1848 für Schicksale gehabt hat“ Bei dem Bruder Straubinger handelt es sich um eine literarische Figur, zuerst des wandernden, tüchtigen Handwerksburschen, die aber später ihre zweite Bedeutung des ewig Wandernden, des Vagabunden, Landstreichers, Strolches und Bettlers erhielt 122 Diese zweite Bedeutung wurde mit der zornigen Figur angesprochen, sein Gegensatz des „Vieh“ zum „Herrn von Gagern“ noch verstärkt In einer dieser Reihe ebenfalls angehörenden Karikatur schmauste der Bruder Straubinger mit Zitz123 – wieder der Vorwurf der linken, radikalen politischen Orientierung Pecht hatte zuvor zur Nationalversammlung beschrieben: „Natürlich hatte der Reichstag noch eine Unzahl von anderen Leuten angezogen […] Besonders die bereits sehr exzessiv gewordene Linke hatte allein schon eine ganze Armee von ‚Bassermanschen Gestalten‘ nach Frankfurt befördert “124
Als der liberal und demokratisch eingestellte Wienbarg schilderte, selbst beim Septemberaufstand habe es sich nur um das gewöhnliche bunte Publikum gehandelt, stellte sich dies gegen die – allerdings hier nur generell auf Frankfurt bezogene – Schilderung anwesender „Bassermanschen Gestalten“, hier radikaler Sympathisanten der Linken, durch Pecht, einen Anhänger des Zentrums Der Vorwurf eines linken Publikums ist allerdings nicht gänzlich unbegründet, zumindest ein mutmaßlicher Sympathisant wurde von linken Abgeordneten als Besucher in der Versammlung angeführt 125 Das Motiv fand auf jeden Fall seinen publizistischen Niederschlag, insbesondere als Reaktion auf die Räumung des 8 Augusts finden sich zwei Karikaturen: In der ersten fragen sich drei eben von der Galerie beförderte Männer, ausgestattet mit rot kolorierten Federn, einem Revolutionshut und Knüppeln, was denn nun die Linke ohne sie anfangen würde In der zweiten Karikatur verwehren als Soldaten zwei bekannte Abgeordnete des linken und rechten Zentrums Sympathisanten Heckers den Zutritt zur Galerie 126
122
Vgl Artikel Bruder Straubinger Wandernder Handwerksgeselle, Stadt Straubing, aus: Krenn, Dorit-Maria; Huber, Alfons, Straubing in Niederbayern Der Stadtführer, Straubing 2011 123 Vgl „Was der Bruder Straubinger im Jahre des Heils 1848 für Schicksale gehabt hat “, S7Z1848/151 124 Pecht 1894, S 334 125 Vgl Band 3, S 1845 126 Der abgebildete Abgeordnete Jucho ist zudem Gegenstand einer weiteren Karikatur als „Der Gallerie-Säuberer “, S13/1609
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Abb. 9 Steinle, Eduard Jakob von: „8ten August (Erste Räumung der Gallerie)“, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S13/1 608
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Abb. 10 Vgl May, Eduard Gustav: „Deutsche Parlaments-Gallerie Wache“, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, S7Z1848/163
Während die magere Quellenlage von einem sozioökonomisch und politisch gemischten Publikum auf der Galerie spricht und dies durch die Pole Schröder-Devrient, Zobel und Haym in Einzelfällen auch belegt ist, sprachen vor allem Fraktionen der Rechten von dem Volk auf der Galerie in negativen Zusammenhängen Für die Rechten waren die Herren und Damen mit entsprechendem sozioökonomischen und politischen Status aus der linken Masse auf der Galerie herauszuheben, die (äußerste) Linke konnte wegen der Privilegierung dieser Logen hier nicht das sie legitimierende Volk verordnen Durch die Karikaturen und Zeitzeugenberichte wurden die sich entwickelnden politischen Grabenkämpfe in der Versammlung auf das Publikum, insbesondere das Volk auf der Galerie, abgebildet Für die eher den Linken zuneigenden Kräfte in der Versammlung stellte dieses Volk einen Teil des von ihnen z B bei der Debatte zur Begrenzung der Galerie hart umkämpften Prinzips der Öffentlichkeit dar; es legitimierte die Abgeordneten und bildete dabei die Bevölkerung des nun zu schaffenden Deutschlands, wenn auch nicht in exakten Zahlen, so doch in allen Klassen, ab 127 Für die eher den Rechten zugeneigten Kräfte, deren Zahl sich im Laufe der Versammlung über den Zusammenschluss mit dem Zentrum deutlich steigerte, stellte
127
Vgl bspw Band 3, S 1842
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dieses Volk den Bodensatz der Öffentlichkeit dar, der eingeschränkt werden sollte So sah sich Lichnowsky nur in Teilen durch dieses Volk legitimiert,128 und deutete man in den Karikaturen die Legitimierungsabsicht der Linken als Versuch, Sympathisanten in der Paulskirche zusammenzuziehen und damit auf die Versammlung, nötigenfalls mittels Gewalt, einzuwirken, um die Majorität von der Straße aus zu überstimmen Terror von der Galerie und die Sorge vor Übergriffen Einen weiteren Vorwurf erhob der Abgeordnete Wilhelm Jordan in der Versammlung, als er von den Versuchen sprach, „die Versammlung durch Zischen, durch den Ruf: ‚Auf, auf!‘ von der Gallerie und dergleichen mehr, zu terrorisieren“ 129 Robert von Mohl fasste ein ausführliches Urteil: „Endlich und hauptsächlich war es ein wirkliches Unglück, daß die Emporbühnen der Kirche Raum für viel zu viele Zuhörer boten […] wenn auch das Gesamtbild, das sich so darbot, einen großen Eindruck machte, so entwickelte sich gar bald der Unfug einer lauten Einmischung dieser großen Menge in die Verhandlungen; ihr Beifalls- oder Missfallensrufen war unwürdig für die Versammlung und hatte auf manches Mitglied einen Einfluß bei der Abstimmung […] Je übler es sich in der Versammlung selbst allmählich gestaltete, desto ungezogener und selbst drohender wurden die Galerien Die Sitzungen boten dann einen häßlichen Anblick dar […] Der Zuhörerraum hätte sehr beschränkt werden sollen; man mußte eine Einrichtung treffen, welche verhinderte, daß jeder Strolch von der Straße hereinlaufen konnte “130
Wie aber kamen solche Einschätzungen zustande, warum wurden sie vertreten und waren sie gerechtfertigt? Wichtig ist neben der politischen Perspektive dieser Abgeordneten auch deren Erfahrung mit Publikum in institutionalisierten politischen Debatten überhaupt Mohl war seit 1845 Landtagsabgeordneter für Württemberg 131 466 der 585 Abgeordneten der Versammlung stammten allerdings aus Österreich und Preußen, in deren Landtagen kein Publikum zugelassen wurde132 und deren Abgeordnete damit nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit gehabt hatten, als Teil des Publikums oder der Abgeordneten ihrer Landtage Erfahrungen mit diesem neuen Phänomen des Publikums in der poli128 129 130 131 132
Vgl Band 3, S 1845 Vgl Band 9, S 6549 Mohl 1902, S 35–36 Vgl Angermann, Erich: Artikel Mohl, Robert von, NDB, Bd 17, 1994, S 692–694 Vgl Jansen, Christian: Einheit, Macht und Freiheit Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 2000, S 40–41 und Hölscher, Lucien: Öffentlichkeit und Geheimnis Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979, S 166
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tischen Sphäre zu sammeln Mohl hatte die Erfahrung zwar bereits in Württemberg gemacht, aber die umfangreichen Regeln bei Einlasskontrollen mittels Namenskarten bspw in Bayern legen nahe,133 dass von diesem Publikum äußerst wenig Meldungen ausgegangen sein dürften Hier hatte die unmittelbare Teilnahme des Publikums nach Lucien Hölscher die Landstände unter einen öffentlichen Druck gesetzt, der sich lebhaft in diesen einschränkenden Verhaltensmaßregeln widerspiegelte Dem gegenüber waren zumindest einige Abgeordnete der Linken das Sprechen als „Volksredner“ gewohnt,134 wie dies auch am 17 September von ihnen gesucht wurde Dadurch, dass sie oftmals zuvor nicht an einer Regierung beteiligt gewesen waren,135 waren ihnen die traditionellen Institutionen politischer Rede verschlossen geblieben – nun wuchs sich dieser Nachteil wahrscheinlich zu einem Vorteil des weniger gezwungenen Umgangs mit dem Publikum, gerade dem diversen der Galerie, aus Zudem hatten Jordan und Mohl die politischen „Seiten“ gewechselt: Mohl gehörte zuerst dem „Württemberger Hof “ an, ging bei dessen Spaltung aber nach rechts zum „Augsburger Hof “, linkes Zentrum, und orientierte sich nach rechts 136 Nach eigener Auffassung „nichts weniger als ein Demokrat“, war er gegen das allgemeine Männerwahlrecht und die „Proletarier“ eingestellt und wurde zudem in die Provisorische Zentralgewalt berufen, welche ansonsten überwiegend aus Vertretern des rechten Zentrums gebildet wurde Jordan hingegen gehörte zuerst dem „Deutschen Hof “, Fraktion der Linken, an, bevor er in der Polendebatte deutschnational argumentierte und in den „Landsberg“, rechtes Zentrum, wechselte sowie als Ministerialrat an der Regierungsbildung beteiligt wurde 137 Den Linken schien Jordans Wechsel zu missfallen, so störten sie am 14 November seine Rede so vehement und ließen sich auch vom Präsidenten nicht beschwichtigen, bis Jordan wieder Platz nahm 138 Als einige Sitzungen später ein Abgeordneter des linken Zentrums der Galerie eine Störung vorwarf, nannte ihn ein Abgeordneter der äußersten Linke sofort einen „Parlaments-Constabler“ 139 Diese sich fortsetzenden Respektlosigkeiten ihrer ehemaligen Kollegen und der Galerie gegenüber der Majorität des Hauses, der die Wechselnden sich nun zugehörig fühlten, mussten sie besonders stören, da mit Fortschreiten der Versammlung die Linke die Majorität übernahm – Jordans und Mohls politische Einstellung also zunehmend weniger Gehör bzw Einfluss fand und hier auch der Präsident Jordan erst nach zweifacher Ermahnung vor 133 134 135 136 137 138 139
Vgl Hölscher 1979, S 166 Vgl bspw Allhoff 1975, S 514 Vgl Lenger 1998, S 239–243 Vgl Stockinger, Thomas: Robert vom Mohl: Der Linksausleger im Reichsministerium – Alles andere als ein Demokrat, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt 2013, achtundvierzig hypothe ses org/160, 20 12 2019 Vgl Bernd, Clifford Albrecht: Artikel Jordan, Wilhelm, in: NDB, Bd 10, S 605–606 Vgl Band 5, S 3295 Vgl Band 5, S 3432
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dieser „Pöbelhaftigkeit“ der Meldungen schützen konnte 140 Auch andere Zeugnisse, die die Galerie solcherart als störend klassifizierten, dürften durch generell mangelnde und auch spezielle Erfahrungen wie die Jordans, dem vermuteten Zusammenhang von Galerie und Linken, den politischen Grabenkämpfen und der neuen Minoritätsrolle des (rechten) Zentrums zum Ende der Versammlung stark beeinflusst worden sein 141 So beschuldigte kurz vor Jordans Vorwurf ein Abgeordneter der Rechten die Linken, sie hätten das Haus übernommen und auch auf den Galerien würde es leer werden, wenn es unten langweilig werden würde 142 Mohl hatte zudem dem Publikum vorgeworfen, je „übler es sich in der Versammlung allmählich selbst gestaltete, desto ungezogener und selbst drohender wurden die Galerien “143 Hier wurde sich nicht nur auf die „allmählich“ zunehmende Majoritätsposition der Linken bezogen, sondern auch ein Bedrohungspotenzial durch Übergriffe angesprochen, eben dadurch, „daß jeder Strolch von der Straße hereinlaufen konnte “ Schon zum Vorparlament und vor dem Septemberaufstand hatte sich die Versammlung mit der „Sicherstellung der Nationalversammlung gegen äußere Einwirkungen“ beschäftigen müssen 144 Abgeordnete wie Detmold schrieben über die „Emeute“ des 8 August durch das geräumte Publikum vor der Kirche und die Karikaturisten schufen den bewaffneten Sympathisanten der Linken auf der Galerie 145 Laube beschrieb, wie am 17 September eine Volksmasse vor den „Englischen Hof “ gezogen sei, wo viele Abgeordnete des Zentrums und der Rechten gespeist hätten, und dort mit Fäusten auf Einzelne eingeschlagen habe 146 Am 18 September wäre das Ziel dann „Erstürmung der Paulskirche, Sprengung der Nationalversammlung“ gewesen 147 Auch der Eindruck des Märtyrers Lichnowsky, der von Mohl und den Rechten zu dem „in der Blüte seines Lebens scheußlich Hingeschlachteten“ erhoben wurde, ließ viele Abgeordneten um ihr Leben bangen, zumal diese Angst nicht erst nach den Morden objektiv gerechtfertigt war 148 Das Parlament verabschiedete nach dem Septemberaufstand das Gesetz zum Schutz der Nationalversammlung, welches nicht nur einen Angriff auf die Versammlung, sondern auch Volksversammlungen unter freiem Himmel in einer Entfernung von weniger als 5 Meilen unter Strafe stellte 149 „Wer zur Aufruhr aufreizt, wer den Truppen
140 141 142 143 144 145 146 147 148 149
Vgl auch Band 8, S 6288; Band 9, S 6657 und S 6722 sowie Allhoff 1975, S 69 Vgl bspw auch Bergsträsser 1929, S 315 Vgl Band 9, S 6649 Vgl Mohl 1902, S 36 Vgl Vogt 2002, S 14 und Band 1, S 253–256 Stüve 1903, S 83–84 und Steinle S13/1 608 Vgl Laube 1849, S 133 Laube 1849, S 136 Vgl Mohl 1902, S 52 und 103 sowie Allhoff 1975, S 235 Vgl Huber, Ernst Rudolf: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Stuttgart 1961, S 282– 283
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Widerstand leistet, oder sich nur in unbefugter Weise bewaffnet einfindet, wird standesrechtlich behandelt“, so die neue Botschaft der Versammlung 150 Die Endabstimmung über das Gesetz zeigte das deutliche Übergewicht der Majorität der Rechten und großen Teilen des Zentrums 151 Abgeordnete der Linken konnten gegenüber dem Volk nur über das Protokoll ihre Nichtbeteiligung ausdrücken 152 An den Beratungen zeigt sich, dass die Rechten, von denen einige schon zuvor wiederholt bedroht worden waren, um ihre persönliche Sicherheit fürchteten, die Linken (vor allem „Donnersberg“ und „Deutscher Hof “) stattdessen die gegenrevolutionäre Bewegung 153 Die Linken mussten zudem den Waffenstillstand als Teil der Versammlung gegenüber dem Volk mit vertreten, hatte sich aber gleichzeitig im Septemberaufstand gegenüber den Abgeordneten der Majorität zumindest der intellektuellen Anheizung verdächtig gemacht 154 Zudem sprach sich nicht nur Mohl als Reichsjustizminister gegen die „spöttischen Abbildungen“ der Neuen Rheinischen Zeitung aus, auch Jordan verurteilte bei der Trauerfeier für die beiden Abgeordneten explizit die „blutlechzenden Artikel“ 155 Stattdessen machten insbesondere die Rechten die „untersten Volksschichten“ für den Mord an Lichnowsky, dem „Gegenstand ihrer phantastischen Anbetung“, verantwortlich 156 So wurde Lichnowsky in Überschätzung seines politischen Einflusses als Exponent der Rechten, Verkörperung der Aristokratie und der Reaktion gezeichnet, die Geringschätzung für das niedere Volk in deutlicher Weise vermittelnd 157 Begleitend mussten trotz der schlechten Luft in der Paulskirche 230 lange, extensiv vorzubereitende Sitzungen durchgestanden werden, in deren Folge mehrere Abgeordnete sich körperlich angegriffen fühlten 158 Dazu kamen noch Belastungen der Abwesenheit von Familienangehörigen und der Geldnot bei einigen Abgeordneten 159 Selbst Übergriffe durch ihre Kollegen drohten den Abgeordneten, so wurde Brentano kurz vor Abbruch der Sitzung am 7 August zumindest auf das Schärfste bedrängt, wenn nicht sogar zum Duell gefordert und körperlich angegriffen 160 Zudem konnten die Abgeordneten unter psychischem Druck stehen: Biedermann beschrieb, dass Rümelin schriftlich und wörtlich von seinen Wählern mit Zeichen von „Missbeliebigkeit“ kon-
150 151 152 153 154 155 156 157 158
Huber 1961, S 281 Vgl Allhoff 1975, S 240 Vgl u a Band 4, S 2531 Vgl Allhoff 1975, S 235–236 und Band 4, S 2531 Vgl Biedermann 1849, S 35–36 Vgl Brückmann 2009, S 126 und Brückmann 2009, S 126 Vgl Lewis 1990, S 88 und Brückmann 2009, S 120 Vgl Brückmann 2009, S 120–121 Vgl Band 3, S 2217 und Bergsträsser 1929, S 56; zur Anzahl der Sitzungen im Vergleich auch Mergel 2002, S 180; zu den Abgeordneten Stüve 1903, S 81; Duckwitz 1877, S 309–311; Bergsträsser 1929, S 394; Wentzcke 1925, S 63 und Klötzer 1969, S 314, 317, 321, 331, 346, 348, 349 sowie Allhoff 1975, S 72 und Heller 1849, S 16 159 Vgl Beseler 1884, S 89; Bergsträsser 1929, S 403 und Vogt 2002, S 33 160 Vgl auch Allhoff 1975, S 449
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frontiert gewesen wäre 161 Jucho habe solche Missbilligung von der Galerie erfahren, Zell habe keinen rechten Platz in der Fraktion finden können und sei daher zuweilen verstimmt, gereizt, unlustig zur tätigen Beteiligung am parlamentarischen Leben gewesen 162 Zweimal wollte Koch-Gontard zudem von Mordanschlägen gegen Gagern gehört haben 163 Mohl beschrieb daher als unmittelbare Folge das generelle Altern der Abgeordneten und den Abbau aller Kräfte in einem Jahr; er selbst musste sich nach dem Ende der Versammlung auch erholen von den „Ueberreizungen und Anstrengungen der Parlamentszeit “164 Insbesondere zum Ende der Nationalversammlung verschlechterte sich der Gesundheitszustand wichtiger Abgeordneter 165 Als mittelbare Folge dieser physischen wie psychischen Belastungen waren die Abgeordneten sicherlich sensibler gegenüber Störungen und Bedrohungen innerhalb und außerhalb der Kirche Da zumindest Teile der schwindenden Majorität die unteren Schichten der Bevölkerung als maßgebliche Bedrohung ausmachten, diese von ihren politischen Gegnern der Linken unterstützt, agitiert, und vor allem auf der Galerie vermuteten, mussten insbesondere vorbelastete Abgeordnete wie Mohl und Jordan zu ihren Urteilen kommen Zusätzlich zu den Truppen außerhalb der Paulskirche hätten die Abgeordneten durch Maßregeln innerhalb der Kirche versuchen können, sich vor dem Publikum zu schützen Obwohl die Räumung des 8 August trotz Drohungen des Präsidiums die einzige bleiben sollte, war den Abgeordneten bewusst, dass es zu gewaltsamem Vorgehen kommen konnte, was dann „bedauerlich[e] Folgen“ haben könnte, weshalb auch eigenes Aufsichtspersonal gefordert wurde 166 Auch fügte sich das Publikum nicht immer Schweigens- oder Entfernungsaufforderungen 167 Es muss vor diesem Hintergrund erstaunen, dass, außer der Beschränkung der Galerien, die Versammlung kaum Maßnahmen gegenüber dem Publikum ergriff, wo doch nach Mohl jeder „Strolch“ von der Straße hineingekommen wäre, also seine gewaltsame Politik, wie die Karikatur zur Räumung zeigte, auch im Inneren hätte vollziehen können Dass sowohl Räumung, Begrenzung und Entfernung eines Zuschauers der Galerie in mehr als einem Jahr der Versammlung nur ein Mal erfolgten,168 zeigt, dass gerade die Galerie zwar als störend empfunden wurde, aber für die allermeisten Mitglieder über weite Zeiträume der Versammlung keine wirkliche, körperliche Bedrohung darstellte Doch wie stand es um den Terror von der Galerie durch Meldungen und Störungen? 161 162 163 164 165
Vgl Biedermann 1849, S 345 Vgl Biedermann 1849, S 360 und 373 Vgl Klötzer 1969, S 70 und 352 Vgl Mohl 1902, S 33 und 77 sowie auch 120 Vgl Biedermann 1849, S 294, 306, 312, 317 und 405–406 sowie Klötzer 1969, S 93 zu Simson, Gagern und drei weiteren Abgeordneten sowie Band 10, S 3 zu Wigard 166 Vgl Valentin 1919, S 74 sowie Band 2, S 1819 und Band 3, S 1842 und 1847 167 Vgl Band 3, S 1443–1445 168 Vgl Band 5, S 3681
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Insgesamt listen die Stenographischen Berichte 250 Meldungen der Galerie auf (ohne die außerordentlichen Häufungen bei der Räumung und der Debatte um ihre Begrenzung) 169 Für den Sitzungsort der Paulskirche verbleiben 231 Meldungen (191 positive und 40 negative) auf 5350 Seiten bzw 189 Sitzungen, also eine Meldung pro 23,2 Seiten Ein statistischer Durchschnitt von 1,23 Meldungen pro Sitzung konnte wohl kaum die Abgeordneten terrorisieren Wichtiger sind hier die starken Abweichungen von den Mittelwerten Bis zur Räumung machte sich die Galerie auf 1420 Seiten 82 Mal bemerkbar, also eine Meldung pro 17,3 Seiten, bei 70 positiven und 12 negativen Meldungen 20,3 Seiten pro positiver Meldung und 118,3 Seiten pro negativer 170 Innerhalb der nächsten 373 Seiten, bis zur Debatte um die Begrenzung der Galerie, wollten die Abgeordneten eine neue Ruhe festgestellt haben 171 Tatsächlich traten hier nur 5, ausschließlich positive Meldungen auf, also eine Meldung auf 74,6 Seiten – die Begrenzung der Galerie auf ein Drittel hatte also die verzeichneten Meldungen um den Faktor 4,31 verringert und keine negativen Meldungen mehr zugelassen 172 Auf den 1215 Seiten bis zum Umzug in die deutsch-reformierte Kirche (beim Septemberaufstand meldete sich die Galerie nur zwei Mal) ließ sich die Galerie 23 Mal ausschließlich positiv vernehmen, also eine Meldung pro 52,8 Seiten 173 Auf den 1201 Seiten nach Rückkehr der Versammlung bis zur neuerlichen Debatte und Ausweitung der Galerie um einen weiteren von drei Teilen ließ sie sich dagegen nur 4 Mal positiv und 1 Mal negativ vernehmen, also eine Meldung pro 240,2 Seiten bzw eine positive Meldung pro 300,3 Seiten und eine negative pro 1201 Seiten 174 Dagegen kommen auf die 1058 Seiten nach Eröffnung des zweiten Teils der Galerie bis zum Umzug nach Stuttgart 80 positive und 19 negative Meldungen, also eine Nennung pro 10,7 Seiten bzw eine positive pro 13,2 Seiten und eine negative pro 55,7 Seiten – absolute Spitzenwerte 175 Die Galerieplätze umfassten zu diesem Zeitpunkt immer noch nur zwei Drittel des Raumes und waren zudem potenziell mit mehr Saaldienern, Schutzwachen und Polizeikräften durchstellt176 – trotzdem tritt eine Steigerung von 153,8 % an positiven und sogar 212,4 % an negativen Meldungen gegenüber der Periode vor der Räumung auf Gerade die negativen Meldungen dürften die Abgeordneten, zumal der Majorität, stärker gestört haben als die positiven Dabei ist die Tendenz steigend: Auf den 393 Seiten des 9 und letzten Bandes meldete sich die Galerie 50 Mal positiv und 17 Mal negativ, also eine Meldung pro 5,87 Seiten bzw eine positive pro 7,96 Seiten und eine negative Meldung pro 23,4 Seiten – eine Steigerung, 169 170 171 172 173 174 175 176
Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl
Band 1–9 Diese Tabelle kann beim Autor angefordert werden Band 1 bis Band 2, S 1420 Band 3, S 1840 Band 2, S 1465 bis Band 3, S 1838 sowie Band 3, S 1840 Band 3, S 1855 bis Band 4, S 3070 Band 6, S 4537 bis Band 8, S 5738 Band 8, S 6740 bis Band 9, S 6798 Band 3, S 1845–1846
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wohlgemerkt immer noch bei zwei Dritteln des Raumes und potenziell stärkerer Kontrolle, von 255 % bei den positiven und 506 % bei den negativen Meldungen gegenüber der Situation vor der Räumung 177 In den letzten Wochen schien zudem die Kontrolle des Präsidiums über die Galerie nachzulassen Nicht nur nahmen die Meldungen zu, auch wurde bspw vom Präsidenten angedroht, bei der nächsten Meldung werde man räumen lassen – doch danach wurden Meldungen der Galerie weitere zwei Male verzeichnet, ohne dass der Präsident sie räumen ließ oder ihr noch einmal drohte 178 Vergleichend zu Mergel ist festzustellen, dass Störungen durch die Linke und das Publikum die Abgeordneten der Nationalversammlung in ihrer noch jungen Abgeordnetenimmunität kränken mussten 179 Allerdings nannte zumindest Biedermann als Negativbeispiele Abgeordnete, die in der Versammlung schliefen oder Briefe an die Verwandten schrieben, also ein Verhalten an den Tag legten, welches nicht das unter Terror Stehender gewesen wäre 180 Der Vorwurf des Terrors von der Galerie traf objektiv also für große Perioden der Versammlungen nicht zu, wird aber im individuellen politischen und sozialen Kontext der Abgeordneten verständlich Haym, rechtes Zentrum, schrieb 1849, der Septemberaufstand hätte die Paulskirche nachhaltig darüber aufgeklärt, dass ihre Aufgabe darin bestünde, „als Damm dazustehen gegen die das Vaterland bedrohende Gesetzeslosigkeit“, den „Kampf gegen anarchisches Wesen“ und gegen die „Feinde der Ordnung“ zu führen 181 Konträr diesem Denkmuster hatte Simon, äußerste Linke, Jordan nach seinem Vorwurf entgegnet, er würde sich vergeblich bemühen, „die falsche Ansicht hervorzurufen, als werde von Seiten des Volkes Terrorismus geübt “182 Solcherart durch die politischen Grabenkämpfe und die Räumung des Publikums geschult, konnten die zum Teil unter großem psychischen und physischen Druck stehenden Abgeordneten mit ihrer Sorge vor Übergriffen das Publikum unter einer Masse des Volkes subsumieren Vor dem Hintergrund einer rhetorisch wie im Abstimmungsergebnis immer prägnanter auftretenden Linken musste die Majorität zum Ende der Versammlung in Frankfurt die Vergeblichkeit ihrer politischen Bemühungen erkennen Durch die zunehmende Störung der Versammlung, vor allem durch negative Meldungen gegenüber der schwindenden Majorität, war damit gerade den persönlich in der Paulskirche angegriffenen Abgeordneten wie Jordan und Mohl ein objektives Urteil nicht mehr möglich
177 178 179 180 181 182
Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl Vgl
Band 9, S 6405–6798 Band 8, S 6348, 6351 und 6358 Mergel 2002, S 150 Bergsträsser 1929, S 110, 205 und 373 Speck 1998, S 207 Band 9, S 6549
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Zusammenhang der Galerie mit den Linken Zeitgenossen warfen insbesondere der Galerie schon früh einen Zusammenhang mit der Linken im Parlament vor Dabei gliederten sich die Vorwürfe in zwei Gruppen: Zum einen wurde der Linken vorgeworfen, sie würde Politik für die Galerie betreiben bzw sogar durch diese bestimmt werden Detmold, Rechte, warf der Linken schon am 26 Juni vor, bei einer Abstimmung „heute ganz besondere Anstalten für die Gallerien pp getroffen“ zu haben, um ihr hinsichtlich des für die Linken ungünstigen Wahlausgangs besser entgegentreten zu können 183 Mohl, mittlerweile linkes Zentrum, warf der Linken vor, sie würde sich nicht nur mittelbar an die Galerie richten und der Abgeordnete Blum würde die niederen Schichten des Volkes kennen und sie tief aufzuwühlen und zu bewegen wissen 184 Hallbauer, ehemalig linkes Zentrum und nun dem rechten Zentrum zugeordnet, schrieb zum Ende der Versammlung am 7 Mai 1849, dass von der Linken, u a Vogt und Simon, Reden „der Galerien halber“ gehalten worden wären 185 Zuletzt warf Buß, Rechte, kurz vor dem Rumpfparlament den Linken, die ihn mehrfach unterbrochen hatte, vor, sie würden den ewigen Widerspruch betreiben, damit es für die Galerie nicht langweilig werde 186 Zum anderen wurde der Galerie vorgeworfen, sich zugunsten der Linken zu melden bzw von diesen zur politischen Einflussnahme genutzt zu werden Beseler, rechtes Zentrum, schrieb 1884: „In der Versammlung selbst eine turbulente Linke, […] unterstützt von einer Tribüne, welche 2000 Zuhörer fasste “187 Pecht beschrieb, dass „die bereits sehr exzessiv gewordene Linke allein schon eine ganze Armee von ‚Bassermanschen Gestalten‘ nach Frankfurt befördert“ habe,188 und ein Immediatbericht an Herzog Bernhard von Meiningen vom 26 Mai berichtete: „Die Wortführer derselben, wie z B Zitz aus Mainz, Wesendonck aus Düsseldorf, Vogt aus Gießen und mehrere andere versuchen zwar täglich, Anträge in ihrem Sinne der Versammlung aufzudrängen oder bei dieser und jener Gelegenheit durch maßlose Behauptungen, Anforderungen und Redensarten sich mit Hilfe der sie unterstützenden Galerien Gewicht zu verschaffen “189
Die Karikatur der geräumten Sympathisanten der Linken erhob ebenso diesen Vorwurf wie eine Karikatur von Detmold, Rechte, in der der linke, fiktive Abgeordnete Piepmeyer seinen Freunden von der Galerie, zwei ähnlich wie in der erste Karikatur 183 184 185 186 187 188 189
Vgl Stüve 1903, S 51 Vgl Mohl 1902, S 36 sowie Klein 1914, S 270 Bergsträsser 1929, S 307 Vgl Band 9, S 6649 und zu weiteren Beispielen Band 1, S 559 und 564–566; Band 2, S 1472; Bergsträsser 1929, S 308–310 und Biedermann 1849, S 172 und S 392 Beseler 1884, S 59 Pecht 1894, S 334 Conrads, Norbert: Denkwürdige Jahre 1848–1851, Böhlau 1978, S 101–102
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gekleideten Gestalten, für den gespendeten Beifall dankt – durch Zahlung in barer Münze 190 In den Vorwürfen wurden vor allem drei Redner, Blum und Vogt als Abgeordnete der Linken, Simon der äußersten Linken, explizit benannt Abgeordnete konnten während der Sitzungen das Publikum über ihre Rede hinaus beeinflussen; Mohl wies darauf hin, dass aus dem reinen Redetext der Protokolle nicht „die Macht der Stimme, Geberde, der ganzen Persönlichkeit der Redner und die lautlose Spannung oder den lauten Ausbruch von Tausenden von Zuhörern“ erfahrbar würde 191 Daher sind Berichte von Zeitgenossen zu diesen Rednern besonders relevant, um zu untersuchen, inwiefern Art und Inhalt der Rede das Publikum agitiert haben könnten bzw auf eine Agitation des Redners durch das Publikum schließen lassen könnten Mohl nannte Vogt den „großen Gladiator der Linken“: „Er sprühte Geist und Leben“, sei ein geborener Redner, und „sehr selten gelang es ihm nicht, seine Zuhörer zu unterhalten und zu spannen “192 Er nannte Vogt „eine der hervorragendsten Erscheinung in der Paulskirche, das Entzücken der Linken und der Galerie, die Abneigung und Besorgnis der Mehrheit“, wenn er auch nicht wisse, ob es ihm denn wirklich ernst gewesen, oder eine nach dem „Geschmack des Pöbels berechnete Oppositionsfinte sei “193 Auch Hallbauer schrieb zu Vogt: „höchst perfid, kokettierend mit dem Publikum“ 194 Biedermann beschrieb, Vogt habe seine Witze solchermaßen vehement gegen die Feinde des Volkes geschleudert, dass das Volk ihm dies auch wirklich geglaubt habe und deshalb „seinen Vogt“ als wärmsten und aufrichtigsten Freund gefeiert hätte 195 Allhoff fasste zusammen, dass Vogt von Zeitgenossen als bedeutender Debattenredner wahrgenommen wurde und ihn auch seine sprachliche Derbheit sowie sein scharf beißender, den politischen Gegner oft empfindlich treffender, Witz ausgezeichnet habe, wobei diese Durchbrechung des Zeitstils von anderen Abgeordneten meist negativ bewertet wurde 196 Über Simon schrieb Mohl, dass er stärker andere angegriffen, gescholten, gedroht, sich der Anwendung von Gewalt geneigter gezeigt habe als die meisten 197 Biedermann nannte ihn einen „Vorkämpfer von einer Unermüdlichkeit, einem Eifer und einem Feuer der Rede besessen, wie es keinen zweiten im ganzen Hause gab “198 Allhoff beschreibt Simon als nach Vogt den zweiten bedeutenden Polemiker der Linken; auch er habe Witz und Ironie zur Verdeutlichung seiner Argumentation und Entflechtung 190 191 192 193 194 195 196 197 198
Vgl Detmold 1961, Blatt 28 Vgl Allhoff 1975, S 9 Vgl Mohl 1902, S 53 Vgl Mohl 1902, S 53–54 Bergsträsser 1929, S 197 und 320 Vgl Biedermann 1849, S 394 Vgl Allhoff 1975, S 275–277 Siehe zur „Derbheit“ bspw Band 4, S 2483 Vgl Mohl 1902, S 49 Biedermann 1849, S 406
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gegnerischer Argumentationsreihen eingesetzt 199 Im Gegensatz zu Vogt hätte sich bei ihm der Kontakt zu den Hörern mittels seiner Polemik jedoch immer mit eigener Argumentation und Engagement verbunden, was ihm auch die Zeitgenossen anrechneten, die ihn zudem einen der besten Redner der Versammlung nannten 200 Mohl schrieb über Blum: „Gern gebe ich zu, daß er die niederen Schichten des Volkes kannte und sie tief aufzuwühlen und schnell zu bewegen wusste “201 Außerdem sprach er ihm ein „bedeutendes rhetorisches Talent und unermüdlichen Fleiß in dessen Ausbildung und Anwendung“ zu 202 „Mit größter Sorgfalt bereitete er sich vor, hauptsächlich auf pompöse Redensarten und sesquipedialia verba; und niemals sprach er, ohne mit einem prächtigen Bild zu beginnen und mit einer rasselnden Schlußrede zu endigen “203 Nach Biedermann habe Blum seine Herrschaft über die Linke allenfalls mit Vogt teilen müssen und als bedeutender Redner und Parteiführer gegolten; seine „Stärke als Agitator“ habe hauptsächlich darauf beruht, bald als „Anstifter“, bald als „Beruhiger“ zu erscheinen, womit Blum lange Zeit nicht bloß die Massen beherrscht, sondern selbst die gebildeteren Klassen, namentlich das Bürgertum, für sich eingenommen hätte 204 Koch-Gontard schrieb, Blum habe „mit so prachtvoller Sprache so scheußliche Dinge [vorgebracht] und die Galerien sich vor Applaudieren nicht zu lassen“ gewusst 205 Nach Allhoff wurde Blum aufgrund seiner einfachen Herkunft und seiner Kindheit „unter dem Druck der Armuth“ zum „Mann des Volkes“ durch seine Zeitgenossen erhoben 206 Blum hatte vor seinem Eintritt in die Versammlung bereits ausgiebige Redeerfahrung, und sei immer ein Volksredner geblieben Blum habe sich mit seinem, den Massen gerechten Stil, in der Paulskirche eher isoliert, „aber auf den Galerien bei seinen politischen Freunden und außerhalb der Paulskirche waren seine Reden von großer Effektivität “207 Mergel sprach für den Weimarer Reichstag davon, dass „parlamentarisches Sprechen nicht nur ein Kämpfen, sondern auch ein ständiges Werben, ein permanentes Verständigungs- und Überzeugungshandeln“ darstellte: „Nur wer keine Hoffnung oder keinen Willen hat, irgendwann beteiligt zu werden, kann es sich leisten, sich sprachlich von allen zu isolieren “208 Zudem hätte das Publikum Erwartungen an die Streitkultur im Plenarsaal gehabt, und da die Abgeordneten davon wussten, hätte die Anwesenheit
199 200 201 202 203 204 205
Vgl Allhoff 1975, S 524 Vgl Allhoff 1975, S 524–525 Vgl Klein 1914, S 270 Vgl Klein 1914, S 270–271 Klein 1914, S 271 Vgl Biedermann 1849, S 393 und 395–396 und auch Bergsträsser 1929, S 337 Vgl Klötzer 1969, S 65 Die Stenographischen Berichte listen hier keine Meldungen der Galerien, stattdessen zweimal „Bravo!“ und einmal „Stürmisches Bravo“, vgl Band 1, S 402–404 206 Vgl Allhoff 1975, S 512 207 Vgl Allhoff 1975, S 521 208 Vgl Mergel 2002, S 23
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der Zuhörer den Antagonismus der Auseinandersetzungen im Plenum gesteigert:209 „Das ist ein Grund dafür, warum besonders diejenigen parlamentarischen Gruppen, die sich hauptsächlich auf eine Öffentlichkeit außerhalb des Parlamentes bezogen, die Politik der starken Worte bevorzugten Denn die einzelnen Zuhörer waren ja gewöhnlich nur einmal im Reichstag und wollten bei dieser Gelegenheit etwas ‚geboten‘ bekommen “ Die Linke suchte als Werbe- und Verständnispartner zunehmend nicht die anderen Abgeordneten, sondern die Öffentlichkeit Gleich zu Beginn verordnete sich der „Deutsche Hof “, stärkste Fraktion der Linken, nie aus Gründen der Nützlichkeit oder der Vermittlung von seinen Grundsätzen abzugehen – entgegen einem bspw im „Casino“ des rechten Zentrums sehr geschätzten Pragmatismus 210 Gerade die Redner der extremen Linken (und Rechten) wussten um ihre zumeist aussichtslose Lage innerhalb des Parlamentes, weshalb ihre Reden die Intention der Rechtfertigung vor dem Volk und nicht zwangsläufig den Ausbau einer Abstimmungsmehrheit hatten 211 So schrieb Vogt Ende Oktober 1849 in einem Brief, wie er die Galerie, allerdings die des Vorparlamentes, mit politischem Kalkül genutzt habe 212 Er nahm einen verdächtigen Ausdruck gegenüber einem Abgeordneten auf, um bewusst einen Skandal zu provozieren und die Bezeichnung „constituierende Versammlung“, nicht „Parlament“, durchzusetzen: „Ich wußte vollkommen, was ich that Ich hatte auch den Erfolg meines Wortes genau berechnet und ich konnte während des gräulichen Tumultes den die ‚besten Männer‘ und ihre Helfershelfer in der Versammlung und auf den Galerien machten, mich auf der Tribüne des Lächelns nicht erwehren, als ich sah und hörte, daß sie so schön auf meinen Plan eingingen “213
Damit brüskierte er aber Gagern und andere Abgeordnete, wie auch oft die ironische Kommentierung politischer Wertvorstellungen durch die Linke von der Majorität beklagt wurde 214 Dieses Verhalten führte dazu, dass bspw Mohl solche Mitglieder als Schreier, Wirtshausdemagogen, Bodensatz und abgebrannte Menschen bezeichnete,215 da Vogt hier seinem angeführten Hang zur Polemik nachging Die politischen Unterschiede in der Versammlung sorgten nicht nur für die unterschiedlichen Wertungen des Publikums, gerade der Galerie, sondern die gleichen Mechanismen wirkten auch hinsichtlich des vermuteten Zusammenhanges der Galerie mit den Linken Beseler, rechtes Zentrum, wurde schon in seiner Rede am 2 August mehrfach von der Linken und der Galerie mit Zischen bedacht und unterbrochen, 209 210 211 212 213 214 215
Mergel 2002, S 342 Vgl Botzenhart 1977, S 432 Vgl Allhoff 1975, S 173 Vgl Vogt 2002, S 12 Vogt 2002, S 14–15 Vgl Vogt 2002, S 15 sowie Biedermann 1849, S 34 Vgl Mohl 1902, S 38
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als er sich für Reform statt Revolution, bzw die Beibehaltung des Adelsstandes aussprach 216 Jordans Rede wurde wie angeführt von der Linken und der Galerie systematisch gestört 217 Als Breuning, rechter Flügel des linken Zentrums, den Vizepräsidenten auf das Lachen der Galerie hinwies und ihn bat, darauf ein Auge zu haben, wurde er von den Linken mehrfach unterbrochen und als „Parlaments-Constabler“ bezeichnet 218 Und wer sich wie Mohl über die Linken erzürnte und ihnen zuwendete, sah wahrscheinlich darüber die mit den Linken sympathisierenden Zuhörer der Galerie, bei denen die Sitzordnung wohl mit der politischen Einstellung korrespondiert hatte 219 Die Bevölkerung Deutschlands hatte ein immenses Interesse an der Versammlung und brachte ihr gerade zu deren Anfang großes Vertrauen entgegen 220 Wenn auch für die meisten Abgeordneten ihre Kollegen die vorrangige Zielgruppe darstellten, so musste die politisch isolierte Linke, als im weiteren Verlauf der Versammlung die Reaktion zu siegen drohte,221 versuchen, ihre Wirkung auf das Volk zu steigern Vor allem in der letzten Phase der Versammlung setzte die Linke auf ein entsprechendes Pathos und eine Aggressivität in Sprache und Inhalt, um das Publikum zu emotionalisieren Immer wieder trat das gleiche Schema der emotionalen Forderung des (äußerst) linken Redners und der positiven Rückmeldung durch die Galerie auf, so rief Simon: „Waffen, Waffen, Waffen und abermals Waffen“ – Beifall auf der Linken und der Galerie; die Rechten wollten die Galerie räumen lassen 222 Ganz anders die schwindende Majorität mit ihren aufschiebenden Anträgen: Stahl, linkes Zentrum, gebot Mäßigung, da man ansonsten die Wünsche der preußischen Regierung erfüllen würde – Zischen auf der Linken und der Galerie 223 Der zunehmende Zusammenhang der Galerie mit Rednern der Linken erwirkte die Produktion eines weiteren Gegenbildes: Heinrich Hoffmann, Erfinder des „Struwwelpeter“, verspottete als Verfechter der konstitutionellen Monarchie die Linken im „Handbüchlein für Wühler oder kurzgefaßte Anleitung in wenigen Tagen ein Volksmann zu werden“ 224 Hier sollte der Volksredner nicht nur seine Zunge wie ein Bajonett verwenden, „drauf und drauf!“, sowie möglichst derbe sprechen, gestikulieren und klatschen, sondern sich auch eine geübte,
216 217 218 219 220 221
Vgl bspw Beseler 1884, S 271 Vgl auch Allhoff 1975, S 168–169 Vgl Band 5, S 3432 Vgl Mohl 1902, S 49, Valentin 1998, S 581 und Allhoff 1975, S 162 Vgl Allhoff 1975, S 174 Vgl zur Zielgruppe aber auch Allhoff 1975, S 174–175 und Band 2, S 1151 sowie zur Linken Allhoff 1975, S 175 und Botzenhart 1977, S 515–640 222 Vgl Band 9, S 6419 sowie bspw 6405–6418 223 Vgl Band 9, S 6425 sowie 6426–6440 224 Franançois, Etienne; Schulze, Hagen (Hrg ): Deutsche Erinnerungsorte, Bd 3, München 2001 sowie Hoffmann, Heinrich: Humoristische Studien und Satiren, Frankfurt a M 1986, gutenberg spiegel de/buch/handbuchlein-fur-wuhler-3069/1, 20 12 2019
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schlagfertige Claque beschaffen, was ohne übergroße Geldopfer möglich wäre 225 Man könne eine solche „Prätorianergarde“ sowohl zur Defension, „zum Beifall für den Entrepreneur“, als auch zur Offensive, „zum Zerzischen und Zerstampfen gegnerischer Ansichten“ einsetzen „Auf jedem Fall ist es rascher zu einem sicheren Ziel führend, wenn man eine Meinung niedertrommelt, als wenn man sie mühsam widerlegt […] Also, in Germanias Namen, losgeklatscht, gescharrt, gepfiffen und getrommelt! Auf der Galerie der Paulskirche in Frankfurt ist die Hochschule aller Claquers “226 Als Vogt und Simon vehement gegen die Gegenrevolution sprachen und Waffen forderten, jubelte ihnen die Galerie nicht nur wegen der Leidenschaft der Rede zu, sondern auch, weil sie sich von der Wiederherstellung der Zustände vor der Revolution wenig erhoffen konnte 227 Mohl und Biedermann vermuteten eine nach dem „Geschmack des Pöbels berechnete Oppositionsfinte“ – aber Vogt, Simon und Blum, der „Mann des Volkes“, hatten sich sowohl bei der Räumung wie auch der Debatte um die Begrenzung der Majorität entgegengestellt und für die (größtmögliche) Zulassung des Publikums gesprochen 228 Diese Fürsprachen waren die einzigen, die das Publikum direkt betrafen, dessen unmittelbare positive Reaktion das direkte Resultat Zudem ist deutlich geworden, dass die drei in den Vorwürfen benannten Abgeordnete nicht nur durch ihr politisches Programm beim Volk beliebt, sondern auch exzellente Redner waren, die es verstanden, die Massen (auf der Galerie) anzusprechen und für ihre Ziele zu begeistern Die Majorität hatte schon beim bereits zum Märtyrer aufgestiegenen Lichnowsky den Mangel der Vermittlung und Mäßigung sowie den Einsatz von Witz und Ironie gegen die politischen Überzeugungen der Gegner bemängelt229 – wie ablehnend musste sie erst den politischen Gegnern entgegenstehen, die von bis zu 2000 Personen auf der Galerie bei ihren Reden unterstützt wurden, während sie selbst zum Ende der Versammlung von diesen ausgelacht wurden und gleichzeitig ihre politische Wirksamkeit verloren? Nicht zuletzt auch in Kleidung dem Publikum ähnlicher,230 blieben diese Protagonisten der Linken mit ihrem Erfolg beim Publikum der Galerie stärker in Erinnerung der anderen Abgeordneten Biedermann hatte als Vizepräsident die Galerie selbst zur Ruhe anweisen müssen und bezichtigte die Linke, jede „zusammengelaufene, leidenschaftliche Menge“ als „berechtigteren Repräsentanten der Volksvernunft“ anzusehen 231 Die Linke setzte sich z B im Februar 1849 mit ihrem Prinzip der allgemeinen, geheimen und direkten Wahl durch, was sicherlich den bisher dahin mit wenig(er) Stimmrecht ausgestatteten Schichten des 225 226 227 228
Vgl Hoffmann 1986, S 193–212 Hoffmann 1986, S 212 Vgl auch Allhoff 1975, S 161 Vgl Mohl 1902, S 53–54 und Biedermann 1849, S 394 sowie Band 2, S 1446–1450 und Band 3, S 1848–1849 229 Vgl Biedermann 1849, S 258–259, 394 und 408; Mohl 1902, S 53–54 und Allhoff 1975, S 524 230 Vgl Doosry 1998, S 46 und 48 sowie Mohl 1902, S 38 und auch vergleichend Mergel 2002, S 149 231 Vgl bspw Band 9, S 6591 sowie Biedermann 1849, S 31
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Volkes entgegenkam – aber Mohls politischen Überzeugungen zuwider lief 232 Die beiden Hauptankläger Mohl und Biedermann waren, zumal sich beide von der Linken abgewandt hatten,233 direkt in dieser letzten Phase der Versammlung an Auseinandersetzungen mit der Galerie und den Linken beteiligt, und ihre Meinungen wurden wohl maßgeblich durch diese Konflikte und den politischen Hintergrund gebildet Es bestand somit in politischer Ausrichtung der Linken und der Galerie ein Zusammenhang Allerdings hätte weder die Galerie rein an quantitativen Meldungen als Werkzeug der Linken die Majorität über den Großteil der Verhandlungen beeinflussen können, noch ist bewiesen, dass die Galerie die Linke maßgeblich in ihrem politischen Wirken über den gleichen Zeitraum beeinflusst hätte Zum Ende der Versammlung ist allerdings nicht mehr nur davon auszugehen, dass die Reden linker Abgeordneter „zufällig“ das Wohlwollen der Galerie erzeugten, sondern hier legte es die immer verzweifelt werdende Linke darauf an, das Volk zu emotionalisieren – und die Galerie, auf der Teile des Volks vertreten waren, bildete nur die unmittelbare Reaktion darauf Aus dieser Emotionalisierung der Galerie entstanden dann auch negative Meldungen gegenüber den Angehörigen der Majorität – aber nicht die Linken hatten zu diesen Meldungen aufgefordert, sondern die politische Botschaft der Majorität selbst, relativ tatenlos die gegenrevolutionäre Reaktion abzuwarten, erzeugte spontane, nicht geplante oder systematische, „Missfallensbezeigungen“ auf der Galerie, die sich von ihren politischen Repräsentanten hier nicht vertreten fühlte Die Frage der Motivation Wie ausgeführt stellten wahrscheinlich Personen aller sozioökonomischen Verhältnisse das Publikum, zumindest unterschiedlichster politischer Einstellungen Was aber bewegte sie zur Teilnahme? Mohl beschrieb, dass Menschen „aus allen Teilen von Deutschland herbei [kamen], um die Versammlungen, von welcher man so Großes erwartete, zu sehen“ 234 Er beschrieb also den Wunsch, der einzigartigen, neuen Entwicklung einer Nationalversammlung beizuwohnen Auch ein Augenzeuge schrieb nach den Eröffnungsworten Gagerns: „Da kehrte Vertrauen in die Zukunft zurück, da fühlte jeder sich stolz als gleichberechtigter Bürger des mächtigsten Reiches der Welt Ich freue mich der Teilnahme an diesem welthistorischen Akt“ 235 Gerade unter den Frankfurtern, aufgeschlossen und an politisches Leben gewohnt, wollten sicherlich einige dieser einzigar-
232 233 234 235
Vgl Vgl Vgl Vgl
Allhoff 1975, S 307 und Stockinger 2013 Stockinger 2013 Mohl 1902, S 36 Conrads 1978, S 113
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tigen Entwicklung beiwohnen, auch aus einem Gefühl des Stolzes heraus 236 Vielleicht reiste aus den gleichen Gründen Wienbarg, der eher den Revolutionshandlungen als -besprechungen zuneigte, an, um dort vom „Professorenparlament“ enttäuscht zu werden 237 Heller, linkes Zentrum, sprach auch politisches Interesse, vor allem aber eines an den „Leidenschaften“ an: „je nach ihrer Bedeutung oder durch die Fähigkeit ihrer Redner wird [die Versammlung] die Aufmerksamkeit der Mitglieder und der Zuhörer fesseln, vielleicht auch durch einen leidenschaftlichen Zwischenfall “238 Die Karikatur des Schoßhundes auf der Galerie deutete sowohl das Interesse der Damen an Lichnowsky an, wie auch ihr Besuch durch Mitnahme des Hundes eher zu einem Freizeitvergnügen degradiert und ihr politisches Verständnis negiert wurde Auch Mergel betont, dass das Publikumsereignis der Debatte in der Paulskirche als dramatische Aufführung erlebt worden wäre und beschreibt für Weimar vergleichend: „Besonders in den Eröffnungssitzungen waren die Zuschauerränge voll besetzt, aber auch bei den wichtigen Gesetzesauseinandersetzungen war das öffentliche Interesse groß Auch in Weimar gab es Helden und Schurken, große Rollen und Komparserie Es ging nicht nur darum, eine Rede zu verfolgen, was aus akustischen Gründen hintanstehen mußte, sondern einer Szene beizuwohnen, in die das Publikum unter der Hand miteinbezogen wurde “239
„Helden und Schurken“ zu sehen, korrespondierte mit Lewalds „Verehrung“, aber auch Koch-Gontard, Jordan, Buhl, Scheffel, Kalisch und Pecht beschrieben, werteten, kannten oder sprachen Charaktere der Versammlung und wurden so Teil der Szene 240 Es ist daher nahvollziehbar, dass die Versammlungen, vor allem zu besonderen Sitzungen, besucht wurden, um etwas zu erleben, zumal der Besuch auf der Galerie, abgesehen vom Verdienstausfall, nichts kostete und die Theaterperspektive unmittelbar anbot Hinsichtlich der Motivation wäre es auch hilfreich zu klären, ob, wann und welche Teile des Publikums mehreren Versammlungen beiwohnten Hier könnte sich in Einzelfällen zeigen, ob Personen nur des „Spektakels“, also der Originalität der Versammlung und ihrer Mitglieder wegen beiwohnten oder ein weitergehendes Interesse befriedigten Im ersten Fall hätte zumeist ein, auch kurzer, Besuch ausgereicht: Die Versammlungen unterschieden sich selten in ihrem Ablauf oder ihrer Intensität, und wie Piepmeyer seinem Gast auf der Galerie die Berühmtheiten zeigte, so könnten auch andere Besucher ihre Neugierde durch einen einmaligen Besuch befriedigt ha-
236 237 238 239 240
Vgl Allhoff 1975, S 65 sowie auch Band 1, S 254 und Bergsträsser 1929, S 326 Vgl Goldammer 1973, S 512 Heller 1849, S 11 Ähnlich auch Schmidt 1902, S 8 Mergel 2002, S 341–342 Vgl bspw Lewis 1990, S 80; Klötzer 1969, S 16–18, 395–397 und 405–406; Goldammer 1973, S 431 und 563 sowie Pecht 1894, S 340 und 353
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ben Buhl besuchte die Versammlungen wohl drei Tage, Wienbarg zumindest einige Tage, Scheffel zumindest zu Beginn regelmäßig, Jordan reiste drei Mal nach Frankfurt, Kalisch blieb zwei Monate, Lewald vier, Pecht bis zum Rumpfparlament und KochGontard besuchte viele der Sitzungen in Frankfurt 241 Es kann zumindest für diesen Personenkreis, potenziell abgesehen von Buhl, also über eine kurzfristige Neugierde hinausgegangen werden Hier hätten sich die beschreibenden, wertenden, gar mitteilenden Zuschauer ihrer Aufgabe der öffentlichen Kontrolle bewusst sein können und sich so die Motivation bei ihnen gebildet haben, sich dem Abgeordneten mitzuteilen, „in seine Ohren zu raunen“ 242 So hatte zumindest der demokratisch eingestellte Wienbarg geschrieben, „daß die Sache selbst es war, die hier von dem gemischtesten Publikum in ihrer ganzen zentnerschweren Bedeutung empfunden wurde“ 243 In der Versammlung meinte Schlöffel, als Linker bzw der äußersten Linke angehörend natürlich politisch motiviert, man müsse „es als sehr schöne Erscheinung begrüßen, daß der ärmere Theil des deutschen Volkes, der so wenig Uebung gehabt hat, sich für dergleichen Angelegenheiten […] interessi[ert]“, und die rege Teilnahme Übereinstimmung des Volkes mit seinen Vertretern dokumentiere 244 Das politische Interesse des Wählers wurde auch in der Karikatur Piepmeyers deutlich, in der der Wähler ihn besucht, obwohl dessen politische Interesse negativ konnotiert wurde 245 War also die Teilnahme des Publikums an der Versammlung politisch motiviert, interessierten sich die Zuschauer für die Politik der Versammlung? Gerade aus den privaten Zeugnissen der Frauen sprach eine politische Vorbildung, die durch Erfahrungen in der Paulskirche ergänzt wurde und es z B Lewald ermöglichte, informierte Prognosen über politische Verhältnisse zu treffen 246 Während bei Schröder-Devrient nur über deren Platzwahl ein direkter Bezug zur Politik der Paulskirche deutlich wird und Jordan eher emotional in diese eingebunden wurde, finden sich bei Buhl, Lewald und Koch-Gontard nicht nur Beschreibungen der Abgeordneten und Fraktionen, sondern auch die Einbindung deren Arbeit in den die Frauen selbst betreffenden politischen Kontext Bei den Männern, von denen Kalisch, Haym und Pecht ihre Erfahrungen veröffentlichten, herrschte die politische Motivation, potenziell mit Ausnahme Pechts, immer vor Pecht war, wie Koch-Gontard auch, sozial stark an der Politik bestimmter Abgeordneter orientiert, sein Hauptinteresse galt aber nicht der Politik der Abgeordneten, sondern ihrer künstlerischen Darstellung Wienbargs 241 Vgl Klötzer 1969, S 405–406; Goldammer 1973, S 512 und 445; Klötzer 1969, S 395–404; Schoeps 1983, S 338 und 341; Lewis 1990, S 80–89; Pecht 1894, S 335–337 und 356 sowie Klötzer 1969, bspw S 313–314, 317, 318, 324, 326, 330 und 338 Über Schröder-Devrient ist hier leider nichts bekannt 242 Vgl Allhoff 1975, S 160 und auch Mergel 2002, S 342 243 Vgl Goldammer 1973, S 515–516 244 Vgl Band 3, S 1842 245 Vgl Detmold 1961, Blatt 41 246 Vgl Lewis 1990, S 80–89
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politische Motivation richtete sich auf Taten, nicht auf Beschreibungen der Verhandlungen Scheffel hielt sich hier am kürzesten mit seiner Beschreibung von Abgeordneten und der Politik des Vorparlamentes sowie später der Versammlung Kalisch war durch seine politischen Veröffentlichungen in diesem Kontext geschult worden und dürfte die Versammlungen für spätere Veröffentlichungen und aus politischem Interesse heraus besucht haben Trotzdem schließen sich unterschiedliche Motivationen für den Besuch natürlich nicht aus Koch-Gontards soziale Verpflichtungen komplementierten ihr Interesse an der Politik der Versammlung und ihrer Mitglieder, Jordans und Buhls familiäre wie soziale Bindung an die Paulskirche unterstützte ihre Auseinandersetzung mit der Politik, und aus dieser Politik finanziellen Nutzen über Veröffentlichungen ziehen zu können, begünstigte Kalisch’ politisch motivierte Teilnahme 247 Statistisch aussagekräftig für das gesamte Publikum sind diese, überwiegend sozioökonomisch wie politisch privilegierten Individuen leider nur zum Teil, zumal auch die Beschreibungen Wienbargs und insbesondere Schlöffels stark von ihren politischen Programmen geprägt wurden Hinweise quantitativer Natur besitzen ebenfalls ihre Einschränkungen; so meldete sich die Galerie über große Teile der Versammlung kaum, und die Stenographen listeten nur sehr selten einzelne Rufe von dort auf 248 Viele der sonstigen Meldungen erfolgten zudem auch zu gelungenen Witzen oder besonders provokanten Ausführungen 249 Als sich aber zum Ende der Versammlungen diese Meldungen immer stärker in positive und negative differenzierten, zeigte sich, dass das Publikum an der politischen Richtung der Versammlung großen Anteil nahm Sicherlich sorgte das Pathos der Linken auch für „Leidenschaften“ in der Versammlung, aber die Kontinuität der positiven Meldungen zugunsten einer (gewaltsamen) Fortsetzung der Revolution und vor allem die negativen Meldungen gegenüber denjenigen, die sie verhindern wollten, weisen auf ein zumindest vokal geteiltes Konvolut politischer Überzeugungen hin Insofern kann die Bildung der vielen März-, Turnervereine und Damenclubs als Tendenz zu einer politischen Bildung verschiedener Schichten für eine neue Verantwortung in politischen Dingen250 noch nicht direkt auf die durch das Publikum generierte „Volkssouveränität“ Laubes abgebildet werden Es ist aber deutlich geworden, dass bestimmte Urteile, insbesondere über die Damen und das Publikum auf der Galerie, wie des rein auf die „Leidenschaften“ zielenden Interesses, des politischen Unverständnisses und der daraus resultierenden Tendenz zu radikalen politischen Ideen, hier keine Entsprechung, sondern Widerspruch gefunden haben Das Publikum der Paulskirche dürfte aus Interesse an den z T heftigen Auseinandersetzungen im Parla-
247 248 249 250
Vgl Klötzer 1969, S 327, 352, 395 und 405 sowie Schoeps 1983, S 338 und 341 Vgl Band 3, S 2181 Vgl bspw Band 3, S 1844 sowie Band 9, S 6465, 6509, 6551 und 6553 Vgl Frauen in die Politik!, Historisches Museum Frankfurt und Kienitz 1998, S 274–276 und für die Vereine der Männer Lenger 1998, S 241
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ment an den Sitzungen teilgenommen haben, es dürfte das Neue gesucht haben, es dürfte sie aufgrund sozialer Verpflichtungen besucht haben – aber es hatte ein aufrichtiges Interesse an der dort betriebenen Politik und versuchte, gerade zum Ende der Versammlung in Frankfurt, dieses mitzuteilen und diese Politik mitzugestalten Der Einfluss des Publikums Der Einfluss des Publikums auf die Nationalversammlung vollzog sich auf zwei Ebenen: Zum einen sind Quellen vorhanden, die einen direkten, aber vernachlässigbaren Einfluss aufzeigen Bis auf die Räumung wurde lediglich ein individueller Zwischenruf angemahnt, eine Abstimmung wegen potenziell mitgezählter Mitglieder der Herrenund Diplomatengalerie wiederholt und ein Mann von der Galerie entfernt und die Sitzung dafür kurzzeitig unterbrochen 251 Erst zum Ende der Versammlungen in Frankfurt nahmen die Störungen zu, so rief die Galerie zwei Mal den Abgeordneten zu, aufzustehen, wurde Jordan wie aufgeführt von der Galerie unterbrochen, beschwerte sich eine Stimme auf der Rechten darüber, von der Galerie ausgelacht worden zu sein und erreichte ein Zuruf, dass der Präsident lauter das eben Gesagte wiederholte – alle diese Störungen wurden vom Präsidium stets angemahnt 252 Hier schienen sich die Abgeordneten und die Versammlung im Wesentlichen nicht durch das Publikum in ihren Ergebnissen stören zu lassen Nur in Details konnten die Zuhörer einen geringen Einfluss herstellen Einzelne Abgeordnete, wie Jordan und Mohl, fühlten sich aber durch die Störungen angegriffen Zum anderen müssen diese Quellen aber vor dem Hintergrund des Raumes als Kategorie sozialen Handelns, der immer wieder neu ausgehandelten Öffentlichkeit zwischen Publikum, Minorität und Majorität und dem Verhältnis zwischen den individuellen Abgeordneten und dem nun näher bestimmten Publikum, neu interpretiert werden Aufgrund der Grundlautstärke des über 2000 Personen umfassenden Publikums stellte daher selbst die Bemerkung Mohls, einige Abgeordnete hätten wegen ihrer „Schwäche der Stimme, die die Paulskirche nicht ausgefüllt hätte“, nicht gesprochen, eine sehr indirekte Einflussnahme dar 253 Eine weitere Einflussnahme hatte Biedermann beschrieben: Man wolle des Abgeordneten Drechslers Kurs nach der öffentlichen Meinung zum Teil weiblichem Einfluss zuschreiben, „wie denn überhaupt die Einwirkungen, welche die mitanwesenden Frauen der Abgeordneten auf ihre Männer, und zum Theil auch auf andere, ausübten, nicht gering anzuschlagen waren “254 Neben der Möglichkeit, dass hier wieder ein vorgefertigtes Urteil gegenüber den Linken kol251 252 253 254
Vgl Vgl Vgl Vgl
Band 3, S 2166 und S 2181; Band 3, S 2143; Goldammer 1973, S 501 sowie Band 5, S 3681 Band 8, S 6358, 6542, 6549, 6657, 6722 und 6775 Mohl 1902, S 60–61 sowie 81 Biedermann 1849, S 366 Drechsler war 27 Jahre jung und ein gefürchteter Zwischenrufer
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portiert wurde, schrieb Biedermann leider nicht, wie dieser Einfluss generiert wurde Bekannt ist auf jeden Fall, dass einige Frauen als Angehörige der Abgeordneten den Sitzungen beiwohnten und, wie Emilie Uhland, ihren Abgeordneten unterstützt hatten Mohl, mittlerweile zum Zentrum gehörend, hatte in seinem negativen Urteil über das Publikum geschrieben, „ihr Beifalls- oder Missfallensrufen war unwürdig für die Versammlung und hatte auf manches Mitglied einen Einfluß bei der Abstimmung “255 Auch Pecht hatte die Wirkung des Beifall spendenden, aber auch schimpfenden und brüllenden Publikums auf die Abgeordneten beschrieben: „Der elementarischen Gewalt solcher Szenen vermochte auch das ruhigste Temperament nicht zu widerstehen “256 Doosry schließt daraus: „Das Publikum […] verharrte demnach nicht in der passiven Rolle eines Zuhörers, es trat als Partner oder Gegenpol der Volksvertreter auf In dieser Rolle erscheint es als integraler Bestandteil der Parlamentsdarstellungen […] Auch in den Sitzungspausen sind die Abgeordneten der kritischen Betrachtung des Publikums ausgesetzt “ Auch Biedermanns Jucho, dem seine Wählerschaft im Nacken säße, und Laubes „Gefangene des Volkes“ sind Indizien für diesen Gegenpol 257 Dies weist auf einen neuen, selbstbewussteren Umgang der Öffentlichkeit mit ihren politischen Repräsentanten hin 258 Über die Kritik an Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften, maßgeblich durch Karikaturen, mussten sich die Abgeordneten und das Parlament als interaktives Gefüge vor dem Souverän des Volkes verantworten 259 Selbst rechte Abgeordnete wie Boddien und Detmold zeichneten sehr erfolgreiche, also einem öffentlichen Interesse nachkommende, Karikaturen Doosry schreibt: „Die Aufmerksamkeit, das Interesse und die Sympathie des Publikums müssen die Deputierten ihrerseits durch kalkulierte Inszenierungen gewinnen Die für Bildzeugnisse charakteristische formelhafte Wiederholungen der immer gleichen Posen und Haltungen, die keine Rücksicht auf inhaltliche Unterschiede nimmt, läßt auf die Einübung eines allgemeinverständlichen Rollenrepertoires in der parlamentarischen Realität schließen Daß das Publikum die Bedeutungsgehalte dieser besonders theatralischen Auftritte ohne Mühe decodieren konnte, bestätigen humoristische Beschreibungen der Parlamentsdebatten […] In der effektvollen Selbstdarstellung einzelner Deputierter in deren Zusammenspiel und schließlich in ihrem Dialog mit den Zuhörern auf den Emporen wirkt die parlamentarische Arbeit wie eine Theaterinszenierung “260
255 256 257 258 259 260
Mohl 1902, S 35–36 Vgl Doosry 1998, S 26 Vgl Klein 1914, S 259 und Biedermann 1849, S 373 Vgl auch Doosry 1998, S 29 Vgl auch Doosry 1998, S 26 und 29 sowie Bergsträsser 1929, S 58 Doosry 1998, S 26
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Insbesondere von der Galerie bestand dieser Theatereindruck; die Abgeordneten wurden zu Schauspielern in einer Menagerie, während ihre schlechte Aufführung in einer zeitgenössischen Karikatur kritisiert wurde 261 Auch der Vorwurf des Claquers, des bezahlten Klatschers auf der Galerie, war eng verbunden mit dem Theater 262 Das Selbstverständnis dieses neuen Souverän, des Volkes, drückte sich bspw über die Hampelmannpuppen der Abgeordneten aus; hier konnte man bspw in der Form von Gagern das personifizierte Parlament mit der Glocke selbst steuern 263 Pecht hatte zudem beschrieben, dass auch die Abgeordneten sich ihrer Rolle als „Medienstars“ bewusst gewesen wären: Durch seine Karikaturen „ward ich nun sehr rasch allen Parteien bekannt“ 264 So warfen auch Zeitgenossen den Abgeordneten mehrfach vor, dass sie ihre Reden eindrucksvoller gestalteten, weil sie vor Zuschauern sprachen 265 Aber welche Wirkung erzeugte das Publikum bei den Abgeordneten? Bassermann, rechtes Zentrum, schrieb schon über die Monate Mai/Juni, die Galerie mache „sich zur launigen Richterin über die Rednerbühne “266 Ließen sich die Abgeordneten von ihr richten bzw folgten der Meinung dieses Publikums, das sich ihnen nur indirekt und meist als Kollektiv durch Lachen, Zischen und Klatschen mitteilen konnte? Traf Pechts Feststellung, die „Beifallsliebe“ wäre der hervorragendste Zug des Parlamentes, zu?267 Suchten die Abgeordneten den Beifall wie Piepmeyer in den Stenographischen Berichten nach der richtigen Anzahl von Bravos und Beifallsbezeugungen?268 Vor allem von den Rechten und Abgeordneten wie Mohl und Jordan, die die politischen Hemisphären gewechselt hatten, wurde sich über den Terror auf der Galerie beschwert, der die Sitzungen verzögert und gar „drohend“ gestaltet habe Mit über 2000 „Fremden“ den gleichen Raum unter teils großem physischen und psychischen Drucks zu teilen, und von ihnen vor allem zu Beginn und zum Ende der Versammlung lautstark Lob oder Kritik mitgeteilt zu bekommen, musste das Verhalten auch des gutoder widerwilligsten Volksvertreters beeinflussen Wohin dieser Einfluss führte, z B zu einer Verhärtung politischer Fronten, unterschied sich: Abgeordnete des Zentrums, vor allem Gagern, Soiron und Riesser, fiel es über ihr Präsidium zu, dieses Publikum zu reglementieren War am 8 August Soiron, wenn auch wohl ausgelöst durch eine ohnehin tobende Versammlung, damit überfordert, so wirkten zum Ende die Versuche des Präsidiums, Ruhe einkehren zu lassen, zunehmend hilf- und hoffnungslos Jordans
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Vgl Schalck, Ernst: National-Theater, 1848, entnommen aus: Doosry 1998, S 29 Vgl Hoffmann 1986, S 212 sowie Artikel Claquer, Meyers Lexikon, 7 Aufl , Bd 2, Leipzig 1925 Vgl May Gr 96/91 Vgl Pecht 1894, S 342–343 Den Begriff verwendet das Historische Museum Frankfurt in seiner Dauerausstellung zur Nationalversammlung Vgl Mohl 1902, S 70; Band 1, S 559 und 564–566; Band 2, S 1472; Band 9, S 6649; Bergsträsser 1929, S 308–310 und Biedermann 1849, S 172 und S 392 Vgl Allhoff 1975, S 162 Vgl Pecht 1894, S 343 Vgl Detmold 1961, Blatt 28
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Reden wurden mehrfach systematisch von den Linken und der Galerie gestört, und wurde die Räumung der Galerie angedroht, so wurde sie nicht vollzogen Auf politische Konsequenzen aus diesem Verhalten zu schließen, welche von dem Publikum (mit-) erwirkt worden wären, ist probelmatisch, da Abgeordnete und Versammlung, um ihre politische Glaubwürdigkeit besorgt, einen Einfluss von außen, auch, und im Falle der Rechten, gerade durch das Publikum, zu negieren suchten 269 Das Volk galt zwar in seinem Streben nach Freiheit und Einheit legitimiert und legitimierend, im politischen Tagesgeschäft zählte es aber wenig, auch für Haym des rechten Zentrums: „Die späteren Ereignisse […] werden dem deutschen Volke seine blöden politischen Augen noch öffnen “270 Auch Rümelin, „Gegner der Massen“, soll nach seinem Austritt zu Biedermann gesagt haben: „ich werde eine ganz kurze Erklärung an meine Wähler ins Wochenblatt rücken lassen […] Zur Auseinandersetzung und Rechtfertigung gegenüber dem dummen Volk hab ich keine Lust “271 Für die Minorität der Linken und vor allem der äußersten Linken bestand diese Sorge in geringerem Maße Als Oppositionspartei sahen sie sich früh in ihrer Wirksamkeit limitiert, und politisch ohnehin stärker an das Volk durch den Legitimierungsanspruch und die Zielgruppe der politisch Schwächeren gebunden, setzte sich diese Minorität auch für das Publikum in der Versammlung ein Vor allem Vogt, Simon und Blum traten für das Prinzip der Öffentlichkeit für das Publikum ein, wurden aber durch den größeren Einfluss des politischen Grabenkampfes, bspw an einer Wiederausweitung der Galerieräume, gehindert Wienbarg hatte beschrieben: „Was hier die Hätschelei mit dem Volke, dort die Angst vor dem Volke noch nicht verdarb, das tat die zur Schau getragene Verachtung des Volkes im Munde mancher großen Herren der Rechten, das taten solche unpolitischen Maßregeln wie die plötzlich von dem Büro der Versammlung vorgenommene Absperrung der Galerien um zwei Drittel ihres Raumes“ 272
Das Publikum schien sich also nicht nur in der Versammlung aktiv und zumindest in Teilen politisch motiviert durch Meldungen zu beteiligen, es nahm wahrscheinlich zumindest in Teilen auch seinen eigenen politischen Stand innerhalb der Versammlung wahr und suchte diesen zu erhalten Das zeigen auch die positiven Meldungen zu den Reden der Linken, wann immer diese die Ausweitung der Galerie forderten 273 In diesem Fall hätte das Publikum, vor allem der Galerie, die Linken nicht nur als die Vertreter der Interessen der politisch Schwächeren, sondern vor allem der anwesenden Zuschauer wahrgenommen Dafür ist entweder von einer hohen Kontinuität des Pub-
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Vgl dazu Band 1, S 559 und 564–566 sowie Band 2, S 1472 Bergsträsser 1929, S 327 Vgl Bergsträsser 1929, S 96 und 135 Goldammer 1973, S 519 Vgl bspw Band 3, S 1840
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likums auszugehen, insofern gerade die Zuhörer der Galerie sich nicht ständig abwechselten, oder es ist von einer Öffentlichkeit auszugehen, die bspw über den Umstand der Beschränkung der Galerien informiert war, und Mitglieder dieser informierten Öffentlichkeit dann in der Paulskirche als Publikum beiwohnten Durch die Ausweitung des Zeitungswesens, wodurch gerade bei linken Blättern der 8 August und seine Folgen thematisiert wurden,274 und dem andauernden Besuch des Publikums ist beides möglich Hier bestanden mehrere Interaktionsschleifen zwischen Abgeordneten und Publikum: Die Abgeordneten, gerade die der Rechten, gingen mit vorgefertigten Urteilen, häufig hinsichtlich der „Massen“ und damit auch der großen Anzahl der Zuhörer, in dieses Parlament hinein Abgeordnete der Linken gingen mit anderen Urteilen und Erfahrungen auf das Publikum zu, da bspw Blum das Reden vor diesen Volksmassen gewohnt war Die Abgeordneten bildeten sich schnell, schon bei der Eröffnungssitzung, eine Meinung zu diesem neuen Publikum in der Paulskirche 275 Genauso hatten aber auch die Zuschauer vorgefertigte Urteile über die z T deutschlandweit bekannten Abgeordneten mit in die Paulskirche gebracht und bildeten sich nun, politisch interessiert, neue Urteile, bspw hinsichtlich des Auftretens, der Redegewohnheiten und der politischen Standpunkte Als erst die Versammlung, dann das Publikum am 8 August aufbrausten, konnte dies eben nur passieren, weil beide über die politischen Umstände der Amnestiedebatte informiert waren und emotionalisiert werden konnten Das Publikum folgte den Abgeordneten in ihrer hitzigen Debatte, wurde aber aufgrund seiner Meldungen geräumt und verschaffte seinem Ärger vor der Paulskirche Luft Die Majorität sah sich nun in ihren Anschauungen über das Publikum bestätigt, auch dahingehend, dass ein Zusammenhang zwischen Linken und Galerie bestünde und Gefahr von ihr ausgehen könnte Daher erfolgte die sofortige Beschränkung der Galerie durch das Bureau, ohne dass dies in der Versammlung debattiert worden wäre 276 Als diese Debatte fast einen Monat später dann erfolgte, hatten die Verhandlungen zu einer weiteren Verschärfung der politischen Unterschiede zwischen Majorität und Minorität beigetragen, in deren Folge das Publikum benachteiligt wurde Es dürfte sich die hier vorgefallenen Kränkungen, gerade von Seiten Lichnowskys, ebenso wie die Linken, bis in den Septemberaufstand gemerkt haben 277 Die Morde an Lichnowsky und Auerswald erschütterten die Parlamentarier bis in die Grundfeste ihrer Abgeordnetenimmunität Die Majorität gewann eine neue, deutlich negativer ausfallende Einstellung zum Souverän des Volkes, welche sich in Extension auf das Publikum übertrug Aus der Sicht des Volkes und der Linken wurde ihnen
274 Vgl No 275 Vgl 276 Vgl 277 Vgl
bspw Deutsche Reichstags-Zeitung, No 69, Frankfurt a M 9 August 1848, S 295 und ebenda, 90, 2 September 1848, S 380 Band 1, S 12 und 559 Band 2, S 1509–1510 Band 3, S 1841–1854
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der Aufstand zur Last gelegt, die daraufhin erlassenen Presseeinschränkungen und das Gesetz zum Schutz der Versammlung beschränkten das Prinzip der Öffentlichkeit der Linken und erschütterten zusammen mit dem äußerst unpopulären Waffenstillstand ihr, des Volkes, und in Extension auch des Publikums Vertrauen in die Nationalversammlung Über die Grundrechtsdebatten sah das verkleinerte Publikum wenig Anlass, sich in die Verhandlungen einzumischen Mit der einsetzenden Gegenrevolution nahm das Volk aber wieder sein Anrecht der Kontrolle seiner Vertreter in Anspruch bzw versuchte nun durch Meldungen, seine Meinung kundzutun Mit der Ausweitung der Galerie stand hierfür auch wieder ein größerer Schallkörper zur Verfügung, der nicht nur das zunehmende Pathos der wachsenden politischen Kraft der Linken belohnte, sondern sich mittels negativer Meldungen auch gegen die Versuche der Majorität einsetzte, riskante Beschlüsse aufzuschieben und den geordneten Gang zu gehen Die Majorität, der der Märtyrer Lichnowsky unvergessen vor Augen stand, und der nach fast einem Jahr Anstrengungen die Vollendung ihrer Arbeit zunehmend verloren schien, dürfte aus persönlichem wie politischem Instinkt einen Schuldigen in den Linken und der Galerie gesucht haben Dabei hatte gerade die Überhöhung individueller Eigenschaften der Abgeordneten, die diese absichtlich wie Lichnowsky oder unabsichtlich wie Jordan und Mohl betrieben,278 sicherlich begünstigt durch die Bühnenatmosphäre, dem Publikum individuelle Angriffsflächen geboten Stil der Rede, besondere politische Einstellung, Kleidung, etc wurden von Abgeordneten wie Publikum immer wieder festgestellt und interpretiert, und diese Rückkopplungen addierten sich auf: Lichnowsky vertrat seinen spöttischen Stil der Rede gerne und oft, was ihn bei Teilen des Volks unbeliebt gemacht hatte 279 Als das Publikum ihn nun bei seiner Rede zur Begrenzung der Galerie aufgrund dieser negativen Einstellung mit Gelächter konfrontierte, wusste er diese Negativität geschickt zum politischen Vorteil zu nutzen und sprach umso spöttischer 280 Publikum wie Abgeordneter stellten also beide Verhaltensweisen aneinander fest (Spott über das Publikum als Vertreter des Volkes – Spott des für das Volk nicht repräsentativen Publikums) Sie interpretierten diese Verhaltensweisen hinsichtlich des vermuteten politischen Standpunktes (Rechts – Links) und werteten diesen jeweils negativ, da er ihren eigenen politischen Überzeugungen oder zumindest ihrem Wunsch, an den Verhandlungen teilzuhaben, entgegenstand Als Folge verschärften Publikum wie Abgeordneter bewusst die Präsentation der jeweiligen Verhaltensweise (mehr Spott durch das Publikum – mehr Spott gegenüber dem Publikum) – und bildeten damit eine Rückkopplungsschleife Über diese Rückkopplungsschleifen mussten die Abgeordneten, ob dem Publikum positiv oder gerade negativ gegenüberstehend, 278 Vgl bspw Band 3, S 1844 sowie Band 9, S 6549 279 Vgl Allhoff 1975, S 520 280 Vgl Band 3, S 1843–1844
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von ihm beeinflusst werden Politisch wirksam ist diese Beeinflussung eher hinsichtlich der Verschärfung des politischen Grabenkampfes zu Beginn der Versammlung, als die störende Galerie von der sich bildenden Majorität zu den sie ebenfalls störenden Linken gerechnet wurde Zum Ende der Versammlung dürften gerade die Meldungen der Galerie zum einen die ehemalige Majorität der Rechten und großen Teilen des Zentrums hinsichtlich ihres Austritts bekräftigt, und zum anderen die ehemalige Minorität der Linken hinsichtlich der Fortsetzung der Versammlung als Rumpfparlament bestätigt haben, da ja die eigene Legitimation durch das Volk weiter zu bestehen schien 281 Fazit Schon um die Rolle der Frankfurter Nationalversammlung für den Parlamentarismus und die Demokratieentwicklung bestimmen zu müssen, muss daher „Freiheit einem Jedem, vor Allem aber uns!“ des Abgeordneten Stedmann (der sich bildenden Majorität) als Reaktion auf die ersten Störungen der Versammlung durch das Publikum erklärbar sein Über dessen Erklärung wurden nicht nur Einzelschicksale wie das von Zobel, Koch-Gontard oder Pecht als Teil des Publikums deutlich gemacht, die auch zur generellen Revolutions- und Politikgeschichte ihren Beitrag leisten können Es wurde zudem deutlich gemacht, dass zumindest große Teile dieses Publikums an der Politik der Versammlung interessiert waren, und vor allem, als diese den eigenen politischen Zielen zuwiderlaufen schien, auf Beeinflussung dieser Politik abzielten Statt wie Abgeordnete der Majorität diese Meldungen als terrorisierend einzustufen, muss der Historiker also die politisch motivierte Einflussnahme des Publikums herausheben Für viele in diesem Publikum stellte die Paulskirche die erste Möglichkeit dar, in einer politischen Sphäre zumindest wahrgenommen und, wenn auch von den meisten Zeitgenossen negativ aufgefasst, gehört zu werden Sie bildeten damit nicht nur eine Legitimationsepisode als Zuschauer eines kurzlebigen Parlamentes, sondern einen wirklichen Beitrag zur politischen Bildung einer breiteren Öffentlichkeit
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Vgl bspw Band 9, S 6879
Ein Maßstab für die transatlantische Kooperation? Die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika in der westdeutschen Erinnerungskultur an die Revolution von 1848/1849 Tobias Hirschmüller 1. Einleitung Die Funktion und die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) bei der Erinnerung an die Revolution von 1848/1849 zu untersuchen, erscheint zunächst verwunderlich Denn der Aufbau außenpolitischer Beziehungen zu einer Macht jenseits des Atlantiks stand keineswegs im Zentrum der Zielsetzungen der Barrikadenkämpfer und der Parlamentarier, die neben der Verbesserung der Lebensumstände in erster Linie ein einiges großes Deutsches Reich mit garantierten Rechten sowie Mitbestimmung für einen Teil der männlichen Bevölkerung schaffen wollten Doch die USA waren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht ein, sondern der entscheidende außenpolitische Partner der im Aufbau begriffenen westdeutschen Demokratie, die weltpolitisch die Anbindung an den transatlantischen Raum suchte Diese Anbindung an den Westen unter der Bedingung einer auf unabsehbare Zeit in Kauf zu nehmenden deutschen Teilung musste auch durch historische Anknüpfungspunkte legitimiert werden Waren das deutsche Selbstverständnis und damit das Geschichtsbild bis dahin auf die Rolle einer Macht in der Mitte des Kontinents mit halbhegemonialer Stellung bis hin zu hegemonialen Bestrebungen ausgerichtet, sollte nun zumindest mit dem neuen westdeutschen Teilstaat die Selbstbeschränkung durch die Einbindung in den transatlantischen Kulturraum gelingen Für die Neujustierung der politischen Geographie in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft bot die Revolution der Jahre 1848/1849 als eines von wenigen historischen Ereignissen die Möglichkeit, verbindende Elemente zwischen Deutschen und US-Amerikanern herauszustellen Es wäre nun zu einfach zu sagen, dass nach 1945 somit eben die USA ihren Platz in der deutschen Erinnerungskultur erhielten Mit den Maßstäben der Gegenwart wird die Vergangenheit beurteilt und damit können Forderungen für die Zukunft abgeleitet
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werden Dadurch ist auch das historische Urteil über die USA gleichzeitig eine Messlatte dafür, was von den bilateralen Beziehungen seit 1945 von deutscher Seite erwartet wurde beziehungsweise wie diese zukünftig gestaltet werden sollten Die Thematik muss differenzierter betrachtet werden und daher lautet die Frage: Wie entwickelten sich Funktion und Bedeutung der USA im deutschen Geschichtsbild nach 1945? Welche Rolle spielen politische Umbrüche wie die Neue Ostpolitik oder das Ende des Kalten Krieges? Somit kann die Erinnerung an die USA in der Revolution im 19 Jahrhundert als ein Indikator für die Entwicklung westdeutscher Identitätsentwürfe im 20 und 21 Jahrhundert dienen Die Untersuchung der Erinnerungskultur an die Revolution von 1848 reicht zurück bis in die Weimarer Republik 1 Eine zentrale Arbeit stammt von Claudia Klemm, die in 25-Jahres-Schritten von 1873 bis 1998 die Unterschiede des Revolutionsgedenkens in Frankfurt und Berlin untersuchte 2 Eine weitere umfassende Leistung erbrachte Michael Doering über die Revolution in den deutschen Schulgeschichtsbüchern vom Kaiserreich bis zum Ende des „Dritten Reiches“ 3 Andere Autoren bearbeiteten Epochenabschnitte der deutschen Geschichte wie das Kaiserreich,4 die Weimarer Republik5
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Etwa: Hörth, Otto: Gedenkfeiern 1873/1898/1923, Frankfurt am Main 1925 Klemm, Claudia: Erinnert – umstritten – gefeiert Die Revolution von 1848/49 in der deutschen Gedenkkultur (Formen der Erinnerung 30), Göttingen 2007 Doering, Michael: Das sperrige Erbe Die Revolution von 1848/49 im Spiegel deutscher Schulgeschichtsbücher (1890–1945) (Internationale Hochschulschriften 518), München 2008 Harnack, Axel von: Die Paulskirche im Wandel der Geschichtsauffassung, in: Zeitschrift für Politik 12 (1922) 3, S 235–247; Baumgart, Franzjörg: Die verdrängte Revolution Darstellung und Bewertung der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg (Geschichte und Gesellschaft Bochumer Historische Studien 14) Düsseldorf 1976; Hettling, Manfred: Nachmärz und Kaiserreich, in: Dipper, Christoph / Speck, Ulrich (Hg ): 1848 Revolution in Deutschland, Frankfurt am Main u a 1998, S 11–24; Mergel, Thomas: Sozialmoralische Milieus und Revolutionsgeschichtsschreibung Zum Bild der Revolution von 1848/49 in den Subgesellschaften des deutschen Kaiserreichs, in: Jansen, Christian / Mergel, Thomas (Hg ): Die Revolution von 1848/49 Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen 1998, S 247–267; Strupp, Christoph: Erbe und Auftrag Bürgerliche Revolutionserinnerung im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S 309–343 Rohe, Karl: Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 34), Düsseldorf 1966; Vogt, Martin: Weimar und NSZeit, in: Dipper/Speck: 1848, 1998 (wie Anm 4), S 25–34; Elvert, Jürgen: Die Revolution 1848/49 in der historiographischen Rezeption der Zwischenkriegszeit, in: Timmermann, Heiner (Hg ): 1848 Revolution in Europa Verlauf, politische Programme, Folgen und Wirkungen (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 87), Berlin 1999, S 467–479; Bussenius, Daniel: Eine ungeliebte Tradition Die Weimarer Linke und die 48er Revolution 1918–1925, in: Winkler, Heinrich August (Hg ): Griff nach der Deutungsmacht Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S 90–114; Bussenius, Daniel: Der Mythos der Revolution nach dem Sieg des nationalen Mythos Zur Geschichtspolitik mit der 48er-Revolution in der Ersten Republik Österreichs und der Weimarer Republik 1918–1933/34, Dissertation Berlin 2011; Gruhlich, Rainer: Geschichtspolitik im Zeichen des Zusammenbruchs Die Deutsche Nationalversammlung 1919/20 Revolution – Reich – Nation (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der
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oder den Nationalsozialismus 6 Für die Bundesrepublik liegen Beiträge von Edgar Wolfrum7 und Wolfram Siemann8 vor und zudem eine Untersuchung des Verfassers dieses Beitrages zum Aspekt der Pazifizierung der Erinnerung an 1848 9 Ein weiterer Ansatz ist die Untersuchung der Erinnerung von gesellschaftlichen Gruppen, Parteien und Verbänden an zentralen Orten des Revolutionsgeschehens,10 mit den Schwerpunkten auf Berlin11 und der Paulskirche als Erinnerungsorten der
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politischen Parteien 160) (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Parlament und Öffentlichkeit 3), Düsseldorf 2012; Buchner, Bernd: Um nationale und republikanische Identität Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte 57), Bonn 2001, S 168–184 Vogt: Weimar, 1998 (wie Anm 5); Weiß, Joachim: Revolutionäre und demokratische Bewegungen in Deutschland zwischen 1789 und 1849 Eine Untersuchung zu Geschichtsschreibung und Geschichtsbild in deutschen Schulgeschichtsbüchern der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Zeit (Beiträge zur historischen Bildungsforschung 10), Hildesheim 1991 Wolfrum, Edgar: Bundesrepublik Deutschland und DDR, in: Dipper/Speck: 1848, 1998 (wie Anm 4), S 35–49; Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, S 39–49; Wolfrum, Edgar: Die Revolution von 1848/49 im geschichtspolitischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland Entwicklungslinien von 1948/49 bis zur deutschen Einheit, in: Kieseritzky, Wolther von / Sick, Klaus-Peter (Hg ): Demokratie in Deutschland Chancen und Gefährdungen im 19 und 20 Jahrhundert Historische Essays, München 1999, S 299–316 Siemann, Wolfram: Auf der Suche nach einer Friedensordnung: Das Jubiläum der Revolution von 1848 im Nachkriegsdeutschland, in: Burkhardt, Johannes (Hg ): Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg Historisch-sozialwissenschaftliche Reihe 62), München 2000, S 125–136; Siemann, Wolfram: Großdeutsch – kleindeutsch? Österreich in der deutschen Erinnerung zu 1848/49, in: Haider, Barbara / Hye, Hans Peter (Hg ): 1848 Ereignis und Erinnerung in den politischen Kulturen Mitteleuropas (Zentraleuropa-Studien 7), Wien 2003, S 97–111; Siemann, Wolfram: Der Streit der Erben – deutsche Revolutionserinnerung, in: Dieter Langewiesche (Hg ): Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte Ergebnisse und Nachwirkungen Beiträge des Symposiums in der Paulskirche vom 21 bis 23 Juni 1998 (Historische Zeitschrift Beihefte, Neue Folge 29), München 2000, S 233–269 Hirschmüller, Tobias: Von der Barrikade ins Parlament Die Pazifizierung der Revolution von 1848/1849 im westdeutschen Geschichtsbild nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Muster, Eva / Bröker, Christina / Gatzlik, Sarah / Görner, Matthias (Hg ): Wissen im Mythos? Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen und deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs, München 2018, S 249–288 Auch: Gildea, Robert: Mythen der Revolutionen von 1848, in: Dowe, Dieter / Haupt, Heinz-Gerhard / Langewiesche, Dieter (Hg ): Europa 1848 Revolution und Reform (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte 48) Bonn 1998, S 1201–1233 Ruttmann, Matthias: „1848 – Aufbruch zur Freiheit“ Eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zum 150jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998) 5/6, S 346–353, hier 349–352 Zu den regionalgeschichtlichen Forschungsmethoden: Walter, Bernd: Die Revolution von 1848/49 Perspektiven und Beiträge der regionalgeschichtlichen Forschung, in: Westfälische Forschungen Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landesverbandes Westfalen-Lippe 49 (1999), S 1–19 Bouvier, Beatrix W : Die Märzfeiern der sozialdemokratischen Arbeiter: Gedenktage des Proletariats – Gedenktage der Revolution Zur Geschichte des 18 März 1848, in: Düding, Dieter / Friedemann, Peter / Münch, Paul (Hg ): Öffentliche Festkultur Politische Feste in Deutschland von der
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deutschen Geschichte 12 Zusätzliche Arbeiten über die lokalen Gedenkformen wurden insbesondere zu Gebieten in Südwestdeutschland13 und der Pfalz14 oder auch in geringerem Umfang zu Thüringen15 oder Teilen Bayerns durchgeführt 16 Neuere For-
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Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg (Rowohlts Enzyklopädie Kulturen und Ideen), Reinbek bei Hamburg 1988, S 334–351; Hettling, Manfred: Totenkult statt Revolution 1848 und seine Opfer, Frankfurt am Main 1998; Giovannini, Norbert: Die „Verwertung“ der 1848/49er-Revolution im lokalen Kontext, in: Jahrbuch zur Geschichte der Stadt Heidelberg 3 (1998), S 145–176; Klausmann, Christian / Ulrike, Ruttmann: Die Tradition der Märzrevolution, in: Gall, Lothar (Hg ): 1848 Aufbruch zur Freiheit Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums und der Schirn Kunsthalle Frankfurt zum 150jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49 18 Mai bis 18 September 1998 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Berlin 1998, S 159–183; Hoffmann, Joachim: BerlinFriedrichsfelde Ein deutscher Nationalfriedhof, Berlin 2001; Thamer, Hans-Ulrich: 18 März 1848: Revolution in Berlin, in: François, Étienne / Puschner, Uwe (Hg ): Erinnerungstage Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S 187–199; Kitschun, Susanne / Lischke, Ralph-Jürgen (Hg ): Am Grundstein der Demokratie Erinnerungskultur am Beispiel des Friedhofs der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain, Frankfurt am Main 2012; Hattenhauer, Hans: Kampf um ein Geschichtsbild Die Märzgefallenen, in: Stamm-Kuhlmann, Thomas / Elvert, Jürgen / Aschmann, Birgit / Hohensee, Jens (Hg ): Geschichtsbilder Festschrift für Michael Salewski zum 65 Geburtstag (Historische Mitteilungen 47), Stuttgart 2003, S 369–380 Mommsen, Wolfgang J : Die Paulskirche, in: François, Etienne / Schulze, Hagen (Hg ): Deutsche Erinnerungsorte Bd 2, München 2001, S 47–66 Dresch, Jutta: Das Ringen um das Gedenken an die badische Revolution, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg ): 1848/49 Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998, S 484–486; Fliedner, Hans-Joachim: Eine Stadt erinnert sich Versuch einer lokalen Aufarbeitung des Erinnerns an die Demokratiebewegung 1847 bis 1849, in: Langewiesche, Dieter (Hg ): Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849 Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998, S 195–226; Rehm, Clemens: Helfen können nicht Festschmause und Toaste, nicht das Singen von Heckerliedern und anderen Gesängen … (Friedrich Hecker, 1848) Erinnerung und Identität im Südwesten 1997–1999, in: Rehm, Clemens / Becht, Hans-Peter / Hochstuhl, Kurt (Hg ): Baden 1848/49 Bewältigung und Nachwirkung einer Revolution (Oberrheinische Studien 20), Stuttgart 2002, S 341–357; Hochstuhl, Kurt: In Erfüllung des Vermächtnisses Revolutionsgedenken und Politik 1948 in Baden, in: Rehm/Hochstuhl/Becht: Baden 1848/1849, S 317–326 (wie Anm 13); Reinbold, Wolfgang: Die 48er in Baden im Spiegel der Medien – Geschichtliche Wahrheiten und ihre Gegenwart Eine erste Bestandsaufnahme anläßlich der Berichterstattung zum Offenburger Freiheitsfest vom 12 bis 14 September 1997, in: Die Ortenau Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden 78 (1998), S 133–145 Schneider, Erich: Erinnerungen an die badisch-pfälzische Revolution und die Pflege der 1848/49erTradition zwischen der Reichsgründung und dem Ende der Weimarer Republik, in: Arbeitskreis der Archivare im Rhein-Neckar-Dreieck (Hg ): Der Rhein-Neckar-Raum und die Revolution von 1848/49 Revolutionäre und ihre Gegenspieler, Ubstadt-Weiher 1998, S 327–356; Schneider, Erich: Pfälzische Sozialdemokratie und die 1848/49er-Tradition vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, in: Geis, Manfred / Nestler, Gerhard (Hg ): Die pfälzische Sozialdemokratie Beiträge zu ihrer Geschichte von den Anfängen bis 1948/49, Edenkoben 1999, S 15–39; Schneider, Erich: Revolutionsgedenken vor hundert Jahren, in: Schneider, Erich / Keddigkeit, Jürgen (Hg ): Die Pfälzische Revolution 1848/49, Kaiserslautern 1999, S 213–224 Gottwald, Herbert: 1848–1898 Der fünfzigste Jahrestag der Revolution von 1848/49 im Spiegel der thüringischen Presse, in: Hahn, Hans-Werner / Greiling, Werner (Hg ): Die Revolution von 1848/49 in Thüringen Aktionsräume – Handlungsebenen – Wirkungen, Rudolstadt u a 1998, S 669–682 Mader, Ernst T : „Denn das bleibt “ Das Erinnern an 1848/49 in Kemptener Zeitungen 1858 bis 1998, in: Lochbihler, Barbara (Hg ): Es lebe die Freiheit! Revolution im Allgäu 1848/49 (Edition Allgäu), Immenstadt-Werdenstein 2018, S 242–261
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schungen behandeln neben diesen örtlichen Faktoren für eine Identitätsstiftung durch die Revolution auch darüber hinaus die politisch-geographischen Raumzuschreibungen von Regionen wie Deutschland als Gesamtstaat So sollte unter anderem durch die erklärten Vorreiterrollen westdeutscher Territorien während der Jahre 1848/1849 die Fortschrittlichkeit in den Bereichen Demokratie sowie Anbindung an Westeuropa im Gegensatz zum angeblich hierin rückständigeren Ostdeutschland belegt werden 17 Die Erinnerung an die Revolution unter dem Gesichtspunkt USA zu betrachten, ist bisher nicht erfolgt und soll hier durch einen thematischen Aufriss durchgeführt werden Dabei gilt es, zwei kennzeichnende Elemente zu vermeiden, die oft charakteristisch für die historische Forschung über die Geschichtskultur auch über andere Themen als die Revolution sind Zum einen werden gerade bei den Überblicken zum Gedenken in ausgewählten Epochen der deutschen Geschichte einzelne Zitate aus Politik und Wissenschaft herausgegriffen und diese vielleicht zu voreilig als symbolisch für einen Zeitabschnitt gewertet Um dies zu verhindern, werden hier sowohl politische Reden, historische Forschungen wie journalistische Kommentare als Quellengrundlage ausgewertet Zum anderen fehlt es oft an einem belastbaren geschichtstheoretischen Erklärungsmodell, und daher soll hier mit dem Begriff „Mythos“ operiert werden Mythisierte Geschichte wird dabei nach Jan Assmann transformiert, um Werte für die Gegenwart ableiten und bestimmen zu können 18 Hierbei wird die Existenz eines „kollektiven Gedächtnisses“ einer Gesellschaft unterstellt Dieses ergibt sich nach Maurice Halbwachs aus dem kollektiven Rahmen der Erinnerung 19 Hans Blumenberg differenzierte diese These, indem er die Dynamik der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Mythos beschrieb Demnach muss ein Mythos einerseits einen fixen, unveränderlichen Kern besitzen und andererseits unterliegen die äußeren Konturen, die Mythos-Peripherie, einer immanenten Wandlung Blumenberg definierte weiter, dass eine Veränderung des Kerns oder eine Erstarrung der Peripherie einen Mythos zerstöre und in ein Dogma umwandle 20
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Hirschmüller, Tobias: Von „Großdeutschland“ zu „Gesamtdeutschland“? Die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 und die politische Geographie der deutschen Demokratie in Europa, in: Becker, Frank / Wala, Michael / Harwardt, Darius (Hg ): Die Verortung der Bundesrepublik Ideen und Symbole politischer Geographie nach 1945, Bielefeld [erscheint 2020]; Hirschmüller, Tobias: Ein „Frankfurter Beispiel“? Die Rolle der großdeutschen Idee in der Erinnerung an die Revolution von 1848/1849, in: Geschichte und Zukunft e V (Hg ): Das Dunkle und das Helle in der Paulskirche, Frankfurt am Main [erscheint 2020] Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013, S 76 Zum Begriff: Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis Ungekürzte Ausgabe (Fischer-Taschenbücher 7359: Wissenschaft), Frankfurt am Main 1991 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 31984, S 40–67
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2. Die Revolution als Symbol für den transatlantischen Kulturraum Im Juni 1963 besuchte der US-Präsident John F Kennedy (1917–1963) die Bundesrepublik Deutschland Zwischen dem Kölner Dom und dem Brandenburger Tor stand auch die Frankfurter Paulskirche auf dem Besuchsprogramm, wo der Präsident eine Rede hielt 21 Kennedy beschrieb hierin zum einen die Abgeordneten der Nationalversammlung als die „erlauchtesten Geister Deutschlands“ und die Paulskirche als „Wiege der deutschen Demokratie“ Zum anderen betonte er, dass keine Nation der Arbeit jener Zusammenkunft „wärmeren Beifall“ gespendet habe als die Vereinigten Staaten und die Ideen und Idealisten der deutschen Revolution 1848 auch auf sein Heimatland gewirkt hätten 22 Damit bezog sich Kennedy zum einen auf die Kooperationsbereitschaft der USA gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt, der durch die Frankfurter Nationalversammlung im Juni 1848 eingesetzten vorläufigen Regierungsgewalt Die Mehrheit der Abgeordneten verfolgte mit der Installation dieser zwar nicht revolutionären, aber aus der Revolution hervorgegangenen Institution das Ziel, Störungen der Verfassungsberatungen entgegenzuwirken sowie mit Regierungen der deutschen Staaten wie auch international in Interaktion treten zu können Die Vereinigten Staaten hatten jene Zentralgewalt als außenpolitischen Partner anerkannt 23 Zum anderen erinnerte der US-Präsident an das Engagement von Exilanten in Amerika, die nach dem Scheitern der Revolution fliehen mussten Die Stilisierung beider Faktoren von 1848 als Symbole einer deutsch-amerikanischen Verbundenheit war ein Ergebnis der sich in der Nachkriegszeit abzeichnenden Herausbildung einer bipolaren Welt Wie unter anderem Friedrich Kießling herausarbeitete, bedeutete der Einschnitt des Jahres 1945 für Westdeutschland das sukzessive Aufbrechen des „autonomen Kulturraums“ 24 Dies gilt auch für die erinnerungskulturelle Ausrichtung der Jubiläen der deutschen Revolution, die nun nicht mehr nur in einem gesamteuropäischen Kontext, sondern 21 22 23
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Washington spricht von guter Besucheratmosphäre Minutenprogramm für Kennedys Deutschlandtage, in: Hamburger Abendblatt, 19 Juni 1963 Rede des Präsidenten John F Kennedy in der Paulskirche, Frankfurt am Main, 25 Juni 1963, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 26 Juni 1963, S 969–973 Jacobi, Helmut: Die letzten Monate der provisorischen Zentralgewalt für Deutschland (März–Dezember 1849) Diss Frankfurt am Main 1956; Heikaus, Ralf: Die ersten Monate der provisorischen Zentralgewalt für Deutschland ( Juli bis Dezember 1848), Frankfurt am Main u a 1997; Stockinger Thomas: Ministerien aus dem Nichts: Die Einrichtung der Provisorischen Zentralgewalt 1848, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 20 (2013), S 59–84; Hirschmüller, Tobias: „Freund des Volkes“, „Vorkaiser“, „Reichsvermoderer“ – Erzherzog Johann als Reichsverweser der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/1849, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 20 (2013), S 27–57 Kießling, Friedrich: Goethe und der amerikanische Militärpolizist „National“ und „international“ in der intellektuellen Geschichte Westdeutschlands nach 1945, in: Kießling, Friedrich / Rieger, Bernhard (Hg ): Mit dem Wandel leben Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre, Köln u a 2011, S 129–156, hier 139 Auch: Schild, Axel: Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre (Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 4), München 1999
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darüber hinaus in einem transatlantischen Kulturraum politisch-geographisch positioniert wurden Noch vor der Gründung der Bundesrepublik versuchte der von den westlichen Alliierten besetzte Teil Deutschlands eine historische Tradition der deutsch-amerikanischen Beziehungen herauszustellen Die Gedenkfeier in Berlin im März 1948 fand in „einer politisch höchst angespannten Atmosphäre“ als „Folge der Gegensätze zwischen den Besatzungsmächten“ statt, wie schon die Zeitgenossen kommentierten Im Osten der Stadt wurde der Festakt „unter dem Schutz der Besatzungsmacht und der [Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands] SED“ am Gendarmenmarkt und am Friedrichshain begangen Zudem fuhren durch die Straßen des sowjetischen Sektors russische Militärfahrzeuge mit roten Transparenten, auf denen zu lesen war: „Für die Einheit Deutschlands, gegen den USA-Imperialismus, gegen Reaktion und für einen fortschrittlichen Aufbau “25 Die westlichen Feiern des Berliner Magistrats hingegen fanden am Platz der Republik vor den Ruinen des Reichstages in Anwesenheit von Ministerpräsidenten, Landtagspräsidenten, Oberbürgermeistern und Universitätsrektoren aus allen deutschen Ländern der Westzonen statt Das Office of Military Government for Germany (United States) (OMGUS), das Amt der Militärregierung für Deutschland (Vereinigte Staaten), sicherte in einer offiziellen Erklärung über die hundertjährige Wiederkehr des Revolutionstages von 1848 allen Berlinern, die „die Ideale der Freiheit, des Friedens und der Demokratie hochhalten, ihre aufrichtige Unterstützung“ zu 26 Zwei Monate später, im Mai 1948, waren bei den Frankfurter Feiern in der Paulskirche neben Vertretern Großbritanniens und der USA auch Repräsentanten aus weiteren Nationen anwesend Zu den militärischen Repräsentanten der Vereinigen Staaten zählten General George Price Hays (1892–1978), stellvertretender Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, General Clarence Ralph Huebner (1888–1972), stellvertretender Kommandeur des United States European Command (EUCOM) (Europäisches Kommando der Vereinigten Staaten), sowie Dr James R Newman (1902–1964), Gouverneur des Office of Military Government for Hesse (OMGH), der Militärregierung von Hessen Zudem waren auch Vertreter der Geisteswissenschaften anwesend, wie Delegierte der Universitäten Harvard, Oxford, Chicago, Stanford sowie der Hochschulen von Genf, Basel, Zürich, Birmingham (England) und Leyden (heute: Leiden) 27 Der Kanzler der Universität Chicago, Professor Robert M Hutchins (1899–1977), schilderte auf Deutsch die „geistige Situation von heu-
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Berlin: Revolutionsfeiern und Volkskongreß Der 18 März 1948 im Zeichen der Gegensätze zwischen Ost und West, in: Stuttgarter Zeitung, 20 März 1948 Märzfeiern in Berlin Empfang des Berliner Magistrats zum Revolutionsgedenken, in: Frankfurter Rundschau, 20 März 1948 Die neuen Glocken der Paulskirche läuten Jahrhundertfeier der ersten deutschen Nationalversammlung Frankfurt eröffnet, in: Frankfurter Rundschau, 18 Mai 1948
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te und das Erziehungswesen in seinem Vaterland im besonderen“ 28 Beim Festakt in der Universität berichtete der englische Historiker John Arkas Hawgood (1905–1971) von der britischen Universität Birmingham „aus seinen Studien über den vergessenen deutschen Diplomaten“ Friedrich von Rönne (1798–1865), der als „preußischer Botschafter und später als Vertreter der provisorischen Regierung 1848/49 in Washington tätig war“ und „dessen Berichte über die politischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten wesentlich zur Ideenbildung der deutschen Demokraten beigetragen“ hätten 29 Die Revolution wurde als Folge der Menschenrechtserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika gesehen30 und deren Anerkennung der Provisorischen Zentralgewalt hervorgehoben 31 Mehr als der Diplomat Rönne entwickelte sich Carl Schurz (1829–1906) zu einer Symbolfigur deutsch-amerikanischer Beziehungen 32 Der Demokrat und Aufständische der Revolutionsjahre wanderte nach Exilaufenthalten in Frankreich, der Schweiz und Großbritannien 1852 in die USA aus, wo er in den Jahren 1877 bis 1881 als Innenminister fungierte 33 Mit der Erinnerung an ihn konnte an eine Tradition des 19 Jahrhunderts in Deutschland angeknüpft werden, als Schurz schon im Revolutionsgedenken inkludiert gewesen war So wurde beispielsweise bei der in Frankfurt abgehaltenen März-Feier zum Gedächtnis an die Bewegung des Jahres 1848 im März 1898 der Fest28 29
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Höhepunkte der Freien Stadt Frankfurt Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen in der Paulskirche, in: Münchner Merkur, 21 Mai 1948 Festakt in der Universität, in: Frankfurter Rundschau, 20 Mai 1948 Hawgood war 1928 in Heidelberg mit einer Arbeit über die Beziehungen der Provisorischen Zentralgewalt zu den Vereinigten Staaten promoviert worden Hawgood, John A : Politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der deutschen provisorischen Central-Regierung zu Frankfurt am Main 1848–49, Dissertation Ruprecht-Karls Universität Heidelberg 1928 Der genaue Wortlaut der Reden ist enthalten in: Universität Frankfurt am Main (Hg ): Männer und Ideen der Achtundvierziger-Bewegung Vorträge gehalten am Dies Academicus vom 19 Mai 1948 im Rahmen der akademischen Feier der Universität Frankfurt zum Gedächtnis der hundertsten Wiederkehr des Tages der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche (Frankfurter Universitätsreden 2), Frankfurt am Main 1950 Meinert, Hermann: Die deutsche Revolution von 1848/49 in Bildern und Dokumenten Zur Einführung in die aus Anlaß der Jahrhundertfeier veranstaltete Ausstellung der Stadt Frankfurt am Main, in: Stadtkanzlei Frankfurt am Main (Hg ): 1848–1948 Jahrhundertfeier der ersten deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche Frankfurt am Main Fest- und Kulturwoche 16 bis 22 Mai 1848, Frankfurt am Main 1848, S 25–27, hier 25 Püschel, Wilhelm: Deutschland 1848 und heute Das Problem der Staatsform, Reutlingen 1948, S 29–30 Dies verdeutlicht unter anderem: Maas, Joachim: Der unermüdliche Rebell Leben, Tat und Vermächtnis des Carl Schurz Mit einem Anhang: Carl Schurz über Abraham Lincoln, Hamburg 1949 Oder auch der Abdruck seiner Erinnerungen: Emigranten und amerikanische Freiheit Aus Carl Schurz: Lebenserinnerungen, in: Frankfurter Rundschau Illustrierte Beilage zur Jahrhundertfeier vom 18 Mai 1948 Geiger, Rudolf: Der deutsche Amerikaner Carl Schurz – Vom deutschen Revolutionär zum amerikanischen Staatsmann, Gernsbach 2007; Nagel, Daniel: Von republikanischen Deutschen zu deutsch-amerikanischen Republikanern Ein Beitrag zum Identitätswandel der deutschen Achtundvierziger in den Vereinigten Staaten 1850–1861, St Ingbert 2012
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Gruß von Carl Schurz verlesen 34 Bei einer Gedenkfeier 1948 in Schurz’ Geburtsort Liblar ist es zunächst sinnfällig, dass neben dem Innenminister und dem Kultusminister von Nordrhein-Westfalen sowie Vertretern der Universitäten auch der Vorsitzende des „Hauptausschusses der Ostvertriebenen der britischen Zone“, der Geistliche Rat Georg Goebel (1900–1965), anwesend war 35 Eine Rede hielt unter anderen der Bonner Historiker Max Braubach (1899–1975) Er charakterisierte den Flüchtling Schurz als den „schönsten und reinsten Ausdruck“ der Revolution, die in dessen „Persönlichkeit Amerika das größte Geschenk“ gemacht habe 36 Auch sonst wurde Schurz in der Presse als „Kämpfer für Wahrheit und Recht“ beschrieben, der sich vom „Kämpfer für die deutsche Einheit“ zum „Vorkämpfer für die Menschenrechte“ entwickelt habe Als eines der „schönsten Denkmäler galt“ beispielsweise der Wiederaufbau einer am Ende des Krieges von den Deutschen gesprengten Brücke in Heidelberg durch die USamerikanische Militärregierung unter dem Namen „Carl-Schurz-Brücke“ 37 Es ist offensichtlich, dass jener Brückenbau nicht nur die Neckarufer logistisch, sondern auch die Deutschen mit den Amerikanern mental verbinden sollte Die Erinnerung an die Person von Schurz etablierte sich seither als Fixpunkt in Gesellschaft und Politik, wie die Arbeit „Ein rheinischer Jüngling“38 des Journalisten Wilhelm Spael (1894–1966),39 Regionalerinnerungen wie jene von Hermann Kraemer über Rastatt40 sowie Politikerreden von Max Becker (1888–1960) von der Freien Demokratischen Partei (FDP) 1951 im Bundestag41 bis zu Bundespräsident Horst Köhler (1943–) von der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) anlässlich des 160 Jahrestages der „ersten deutschen Verfassung“ 2009 verdeutlichen 42 Dieses Traditionskonstrukt findet sich erstaunlicherweise zudem im rechtsextremen Spektrum, wie bei Andreas Mölzer, Teil des deutschnationalen Flügels der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), in der Jun34 35 36 37 38 39 40 41 42
Fest-Ausschuss Frankfurter März-Feier: Die Frankfurter März-Feier zum Gedächtnisse der Bewegung des Jahres 1848 abgehalten in Frankfurt am Main am 26 und 27 März 1898 Bericht des FestAusschusses, Frankfurt am Main 1898, S 18 Großpietsch, Peter: Georg Goebel (1900–1965), in: Gröger, Johannes / Köhler, Joachim / Marschall, Werner (Hg ): Schlesische Kirche in Lebensbildern, Sigmaringen 1998, S 211–214 F B : Karl Schurz zum Gedenk, in: Rheinischer Merkur, 29 Mai 1948 G R : Carl Schurz: Deutsch-amerikanischer Patriot, in: Frankfurter Rundschau Illustrierte Beilage zur Jahrhundertfeier, 18 Mai 1948 Spael, Wilhelm: Karl Schurz Lebensbericht Bd 1: Ein rheinischer Jüngling, Essen 1948; Bd 2: Mannesjahre in Amerika, Essen 1949 Zur Person von Spael: Pittrof, Thomas: Wilhelm Spael (1894–1966) Eine biobibliographische Notiz, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 21 (2013), S 305–315 Kraemer, Hermann: Rastatt im Revolutionsjahr 1848/49 Gedenkblätter zur Jahrhundertfeier Rastatt in Baden 1949, S 44–54 Becker, Max (FDP): Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 22 November 1951, in: Deutscher Bundestag (Hg ): Stenographische Berichte, 1 Wahlperiode, 176 Sitzung, Bonn 1951, S 7213 Köhler, Horst: Rede beim Festakt „FrankfurtWeimarBonnBerlin Deutschlands Weg zur Demokratie“ aus Anlass des 160 Jahrestages der ersten deutschen Verfassung, Frankfurt am Main, 27 März 2009, in: http://www bundespraesident de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/ Reden/2009/03/20090327_Rede html (Zugriff: 29 Juni 2019)
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gen Freiheit,43 und am linken Rand, wie bei dem noch durch seine Arbeit in der DDR geprägten Historiker Walter Schmidt im Neuen Deutschland 44 Doch muss dabei berücksichtigt werden, dass innerhalb der politischen Ränder kein kongruentes Revolutionsbild vorliegt So beklagte Schmidts Mitstreiter Helmut Bleiber, dass in den Ende März 1848 beschlossenen 17 „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland“ noch postuliert worden sei „Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt “ Doch „kleinbürgerliche Demokraten favorisierten eine Föderativrepublik nach Schweizer oder USA-Vorbild “ Damit wird von Bleiber die Vorbildfunktion Nordamerikas zwar anerkannt, aber als für Deutschland nachteilig gewertet 45 Beide Faktoren, die Begründung einer politischen Kooperation und der intellektuelle Austausch, blieben als Konstanten der Erinnerung in Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik unverändert bestehen In der Wissenschaft entstanden zudem Dissertationen wie von Thomas E Ellwein 1950 über den Einfluss des nordamerikanischen Bundesverfassungsrechtes auf die Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung 46 Günter Moltmann bezeichnete 1973 das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und dem deutschen Liberalismus während der Revolution als „Atlantische Blockpolitik im 19 Jahrhundert“ 47 Julius Schoeps charakterisierte 1974 die Beziehungen der Provisorischen Zentralgewalt mit den USA als die erste „atlantische Allianz“ 48 Beide Formulierungen nehmen begrifflich die Zusammenarbeit der Deutschen mit Washington unter den Bedingungen des „Kalten Krieges“ vorweg Herbert Reiter untersuchte anhand deutscher Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution die Geschichte des politischen Asyls im 19 Jahrhundert als Teil der Menschenrechtsentwicklung 49 Der deutschen Jugend sollte ebenfalls seit der unmittelbaren Nachkriegszeit die historische Verbindung mit Nordamerika am Beispiel von 1848 im Schulunterricht vermittelt werden,50 was mittlerweile durch Kooperationen von deutschen und
43 44 45 46 47 48 49 50
Mölzer, Andreas: Mythos 1848: Die deutsche Revolution und ihr Gedenken Ohne Nation keine Freiheit, ohne Freiheit keine Nation, in: Junge Freiheit, 13 März 1998 Schmidt, Walter: Einer der berühmten Fortyeighters Neu aufgelegt: Die Lebenserinnerungen des deutschen Demokraten und US-Brigadegenerals Carl Schurz, in: Neues Deutschland, 16 September 2016 Bleiber, Helmut: Die große Illusion von nationaler Einheit, in: Neues Deutschland, 16 Mai 1998 Ellwein, Thomas E : Der Einfluss des nordamerikanischen Bundesverfassungsrechtes auf die Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung im Jahre 1848/49 Beitrag zur Geschichte der Bundesstaatstheorie, Dissertation Universität Erlangen 1950 Moltmann, Günter: Atlantische Blockpolitik im 19 Jahrhundert Die Vereinigten Staaten und der deutsche Liberalismus während der Revolution von 1848/49, Düsseldorf 1973 Schoeps, Julius: Die erste atlantische Allianz, in: Die Zeit, 26 April 1974 Reiter, Herbert: Politisches Asyl im 19 Jahrhundert Die deutschen politischen Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution von 1848/49 in Europa und den USA (Historische Forschungen 47), Berlin 1992 Hessen, Ministerium für Kultus und Unterricht (Hg ): 1848 Die revolutionäre Bewegung und ihr Erbe (Der deutsche Lehrer Gedanken und Anregungen zur Lösung der Erziehungsaufgaben der Gegenwart 6/7), Wiesbaden 1948, S 11
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amerikanischen Bildungseinrichtungen intensiviert wird, wie das Projekt „Deutsche Revolution 1848/49“ am Albertus-Gymnasium in Lauingen mit dem deutsch-amerikanischen Zentrum der Universität von Indiana zeigt 51 Das Erinnerungsjahr 1998 wies in Deutschland inhaltlich starke Kontinuitäten zu 1948 auf Auch wurde wie schon in der Nachkriegszeit durch US-Repräsentanten den Deutschen das gängige Bild bestätigt, wonach die deutsch-amerikanischen Beziehungen in einer Tradition von 1848 stünden Ein Beispiel hierfür ist ein in der Frankfurter Neuen Presse erschienener Artikel des damaligen Botschafters John C Kornblum (1943–), in dem dieser schrieb: „Im Mittelpunkt der heutigen transatlantischen Gemeinschaft steht das demokratische Erwachen des vergangenen Jahrhunderts, selbst wenn es anfangs nicht erfolgreich war “52 In der Tagespresse wurde darauf verwiesen, dass die republikanische Staatsform der USA und somit die westlichen Verfassungen für Justizminister Robert von Mohl (1799–1875)53 sowie für die Radikalen Friedrich Hecker (1811–1881) und Gustav Struve (1805–1870) Vorbilder waren54 und US-Marineoffiziere als Berater in der deutschen Flotte fungierten 55 Die militärische Kooperation in diesem Umfang zu berücksichtigen, wie dies durch Günter Moltmann noch als Einzelfall in den 1970ern geschah, war jedoch eine Neuerung Dies verdeutlicht den Unterschied im Vergleich zur Demilitarisierung nach 1945, als dieser Aspekt noch keine Würdigung erhielt Eine Ausnahme von dieser Geschichtskonstruktion stellt Charlotte A Lerg mit ihrer Arbeit über die deutsche „Amerika-Forschung im Vormärz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49“ dar Denn sie konnte aufzeigen, dass es bei „Amerika als Argument“ den Protagonisten nicht so sehr um die Kopie und Vorbildfunktion der USA gegangen war, sondern eher um Belegstützen für die eigenen Vorstellungen von Föderalismus, Revolution, Republik und Freiheit 56 Ein weiteres zentrales Pressethema blieb das Schicksal der Emigranten, die von Amerika „offen und tolerant“57 aufgenommen wurden, so auch die Historikerin Sabine
51 52 53 54 55 56 57
Mader, Ernst T : Kemptener Zeitungen, 2018 (wie Anm 16), S 259 Kornblum, John C : Ein Meilenstein für die Demokratie, in: Frankfurter Neue Presse, 14 Mai 1998 Wienfort, Monika: Die Debatten in Frankfurt, Berlin und Wien wären ohne sie anders verlaufen Westliche Verfassungsvorbilder im deutschen Vormärz, in: Das Parlament, 16 Januar 1998 Kastner, Ruth: Der lange Weg zur Freiheit, in: Hamburger Abendblatt, 14 März 1998 Brügmann, Wolf Gunter: Admiral Brommy und sein Werk – Die kurze Geschichte der ersten deutschen Marine, in: Frankfurter Rundschau Beilage 1848, 18 Mai 1998, S 33 Lerg, Charlotte A : Amerika als Argument Die deutsche Amerika-Forschung im Vormärz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49 (Amerika: Kultur – Geschichte – Politik 1), Bielefeld 2011 Freitag, Sabine: Viele fliehen bis nach Amerika – Das Schicksal der Emigranten, in: Frankfurter Rundschau Beilage 1848, 18 Mai 1998, S 32
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Freitag, und dadurch die dortige politische Kultur bereicherten,58 da sie „gut ausgebildet, politisch versiert“ gewesen seien und daher zur „Klientel wertvoller Einwanderer“ gehörten 59 Neben der generellen Stilisierung der Auswandererbiographien zu Erfolgsgeschichten fällt auf, dass dies über Carl Schurz hinaus 1998 noch an weiteren Personen belegt werden sollte Zum 150 Jahrestag der Revolution entstand der Eindruck, als wollte in westdeutschen Regionen, in denen die Erinnerung an 1848 überdurchschnittlich ausgeprägt war, jeder Ort seinen emigrierten „Helden“ samt Erfolgsgeschichte präsentieren 60 Somit erhielt nicht nur der Mannheimer Jurist Lorenz Brentano (1813– 1891) seinen Aufsatz,61 auch dem Reutlinger Verleger und Journalisten Gustav Heerbrandt (1819–1896) habe „Amerika ein weites Feld für die Entfaltung seiner Talente“ geboten 62 Der 1834 in Aalen geborene Heinrich Krauss, der als einzige revolutionäre Aktion als Buchdruckerlehrling 1849 mit gerade 14 Jahren heimlich Flugblätter verteilte und 1864 im amerikanischen Sezessionskrieg fiel, erhielt ebenfalls eine kurze Schilderung seines Lebenslaufes 63 Dabei fällt auf, dass neun Jahre nach dem Mauerfall die Integration in den transatlantischen Kulturraum auch vereinzelt in den neuen Bundesländern angetroffen werden konnte Die Magdeburger Volksstimme erinnerte etwa an Ludwig Bisky (1817–1863), einen in Genthin geborenen Barrikadenkämpfer der Märzrevolution und stellvertretendes Mitglied der Preußischen Nationalversammlung, der 1863 in der Schlacht von Chancellorsville starb 64 Bei der Erinnerungskultur um diese „Forty-Eighters“ handelt es sich nicht um ein temporäres Hochleben wegen des runden Jubiläums, dies war nicht allein dem „Diktat der Jahrestage“65 geschuldet, wie Volker Ullrich die Berichterstattung zu Gedenktagen
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Blomert, Reinhard: Zu viel Angst vor dem Pöbel: Eine Porträtgalerie der deutschen bürgerlichen Revolutionäre Die Achtundvierziger, in: Berliner Zeitung, 9 Mai 1998; Kaffsack, Hanns-J : Als die deutsche Revolution scheiterte, freute sich Amerika, in: Hamburger Abendblatt, 18 März 1998 Viele ‚Achtundvierziger‘ emigrierten in die USA, in: Frankfurter Neue Presse, 14 Mai 1998 Beispielsweise: Endhardt, Hubert: Auswanderung – ein Weg in die Freiheit, in: Lochbihler: Allgäu (wie Anm 16), S 208–222; auch schon vor 1998: Reppmann, Joachim: „Freiheit, Bildung und Wohlstand für alle!“ Schleswig-Holsteinische „Achtundvierziger“ in den USA 1847–1860 (Schriften zur Schleswig-Holsteinischen Amerikaauswanderung), Wyk auf Foehr 1994 Bauer, Sonja-Maria: Lorenz Brentano – Vom Advokaten und Revolutionär in Baden zum Journalisten und Politiker in den USA Eine biographische Skizze, in: Rehm, Clemens / Becht, Hans-Peter / Hochstuhl, Kurt (Hg ): Baden 1848/49 Bewältigung und Nachwirkung einer Revolution (Oberrheinische Studien 20), Stuttgart 2002, S 217–237 Dass das Leben von Brentano Lorenz ein „schönes Beispiel“ dafür sei, dass die Deutschen und die USA „eine lange, innige Geschichte“ verbinde, auch: Frei, Alfred: Brentano Lorenz: Von der Paulskirche ins Kapitol, in: Die Zeit, 31 Oktober 2013 Junger, Gerhard: Gustav Heerbrandt (1819–1896) Ein Reutlinger Demokrat zur Zeit der Revolution 1848/49, in: Reutlinger Geschichtsblätter Neue Folge 38 (1999), S 529–592, hier 592 Naffin, Beate: Das „gelobte Land“ Amerika Die Auswanderung des Heinrich Krauß aus Aalen, in: Aalener Jahrbuch (1998), S 187–201 Fleske, Mike / Pötschke, Simone: Ehrung eines fast Vergessenen, in: Magdeburger Volksstimme, 16 Oktober 2017 Ullrich, Volker: Zeitgeschichte als Streitgeschichte Zur Präsentation von Geschichte in Printmedien, in: Horn, Sabine / Sauer, Michael (Hg ): Geschichte und Öffentlichkeit Orte – Medien – In-
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einmal überspitzt nannte Der Journalist und Historiker Joachim Käppner gedachte 2011 in der Zeit des aus Koblenz stammenden amerikanischen Generals Peter Joseph Osterhaus (1823–1917),66 der als Deutscher amerikanische Geschichte geschrieben habe 67 Wobei er nicht berücksichtigte, dass Osterhaus 1917 wieder in Deutschland war, als er in Duisburg bei seiner Tochter verstarb Ebenfalls im Jahr 2011 erinnerte der linsalternative „Club Voltaire“ in München an den 1809 in Grevenbroich geborenen und nach der Flucht in die USA 1880 in Boston gestorbenen Schriftsteller und Publizisten Karl Peter Heinzen,68 da er als „Anarchist und Frauenrechtler“ Vorbild sei 69 Ein anderes Beispiel ist der aus Budissin (heute Bautzen) stammende Jurist und Politiker Samuel Erdmann Tzschirner (1812–1870), der als Revolutionsführer am Dresdner Maiaufstand von 1849 beteiligt war und 2012 auch in der Zeit ‚seinen‘ Artikel erhielt 70 Dabei vermischt sich immer wieder die journalistische mit der wissenschaftlichen Erinnerungsebene Der Historiker Alfred Georg Frei bezeichnete beispielsweise 2002 in der Zeit den aus Sinsheim stammenden badischen Offizier Franz Sigel (1824–1902)71 als den „gute[n] General von Manhattan“, der in den USA gewürdigt werde, und bedauerte: „hierzulande aber ist er vergessen“ 72 Neben der grundsätzlichen Haltung in Journalismus, Politik und Wissenschaft, dass die „Forty-Eighters“ auf der „guten“ Seite gestanden hätten, sprach Frei einen wichtigen Punkt an, den auch Uwe Timm bemerkte, als er 2015 wiederum über Carl Schurz schrieb, dieser sei „ein großer Transatlantiker“ gewesen „und wurde vergessen“ 73 Denn so sehr sich auch auf den verschiedenen Ebenen der Erinnerung bemüht wird, diese deutschen Amerikaflüchtlinge in einem kollektiven Gedächtnis zu verankern, es bleibt doch eine punktuelle Erinnerung, die auf ein Intellektuellenmilieu begrenzt bleibt und keine Breitenwirkung erzielt Auch nicht, wenn der Literaturwissenschaftler Hannes Schwenger hervorhebt, dass selbst ein Otto von Bismarck (1815–1898) vor Schurz seinen Respekt bekundet habe 74
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stitutionen Göttingen 2009, S 177–185, hier 178–180; ähnlich auch: Thiele, Martina: Geschichtsvermittlung in Zeitungen, in: Horn, Sabine / Sauer, Michael (Hg ): Geschichte und Öffentlichkeit Orte – Medien – Institutionen Göttingen 2009, S 186–193, hier 189–191 Townsend, Mary B : Yankee Warhorse A Biography of Major General Peter Osterhaus, Columbia 2010 Käppner, Joachim: Verschwörer in der Bierhalle, in: Süddeutsche Zeitung Wochenende, 23 April 2011 Hirsch, Helmut: Karl Heinzen, ein amerikanischer Publizist aus Grevenbroich, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Grevenbroich 6 (1985), S 105–112 Club Voltaire: Karl Peter Heinzen – Anarchist und Frauenrechtler, in: Süddeutsche Zeitung, 4 April 2011 Jansen, Christian: Auf Dresdens Barrikaden, in: Die Zeit, 28 Juni 2012 Engle, Stephen Douglas: Yankee Dutchman The life of Franz Sigel, Fayetteville 1993 Frei, Alfred Georg: Der gute General von Manhattan, in: Die Zeit, 15 August 2002 Timm, Uwe: Carl Schurz: Notfalls mit Gewalt, in: Die Zeit, 3 September 2015 Schwenger, Hannes: Vom Revolutionär in Deutschland zum Republikaner in den USA: die Erinnerungen von Carl Schurz Eine Rezension, in: Der Tagesspiegel, 21 April 2016
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Im Jahr 2016 schlug daher der Journalist Dirk Kurbjuweit vor: „Das alte Zuhause des Kartätschenprinzen und Kaisers Wilhelm I [(1797–1888)], das Berliner Stadtschloss, wird gerade neu gebaut Kann man ja machen Aber auf den Schlossplatz gehört ein Denkmal für Hecker, Schurz, Struve, Sigel “75 Die Journalistin Elisabeth Binder befürwortete das Projekt mit dem Verweis auf die reziproke Demokratiegeschichte zwischen Deutschen und Amerikanern: „Die Demokratie, die jene geflohenen deutschen Revoluzzer in den USA verankern halfen, kehrte als Reimport mit dem 1949 unter amerikanischer Regie verabschiedeten Grundgesetz zunächst nach West-Deutschland und später, nach dem Fall der Mauer, auch nach Ost-Deutschland zurück “76 Das Vorhaben fand über den Journalismus hinaus auch auf politischer Ebene Resonanz, wo sich neben dem parteilosen Diplomaten Hans-Otto Bräutigam (1931–) darüber hinaus von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin Walter Momper (1945–), der langjährige Oberbürgermeister von München Hans-Jochen Vogel (1926–), die Juristin und einstige Hamburger Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (1932–) oder auch der Bundestagsabgeordnete Hans-Ulrich Klose dafür gewinnen ließen Der damalige Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier (1956–) unterstützte den Denkmalplan ebenfalls, mit der Intention: „Dabei gab es aber schon vor 1933 eine parlamentarische Erfahrungsbasis, die von den Akteuren 1848 hart erkämpft wurde Deshalb ist das Denkmal für die sogenannten Forty-Eighters eine große Chance, an die wechselseitige Einflussnahme beim Aufbau stabiler Demokratien auf beiden Seiten des Ozeans zu erinnern “77 Dieses Anliegen wurde durch die Entwicklung der Beziehungen der USA zu Europa seit der Wahl von Donald John Trump (1946–) zum Präsidenten als noch dringender erachtet, wie durch Erik Bettermann (1944–) (SPD), nach der Tätigkeit als Staatsrat in Bremen langjähriger Intendant der Deutschen Welle: „Angesichts der politischen Bedeutung der transatlantischen Wertegemeinschaft ist es für uns gerade jetzt bedeutsam, an die lange gemeinsame Geschichte zu erinnern“ 78 Neben dieser symbolischen Betonung der gegenseitigen Vorteile einer deutschamerikanischen Kooperation sind die politischen Flüchtlinge, die nach dem Scheitern der Revolution in die USA emigrierten, auch ein Argument im politischen Diskurs in Deutschland geworden Die Erinnerung an 1848 war seit den 1970ern auch dafür verwendet worden, einen ethnisch heterogenen Raum als Teil des deutschen Selbstverständnisses historisch zu begründen Damit war zunächst in erster Linie die Forderung nach der rechtlichen Gleichstellung von Einwanderern in Deutschland verbunden 79 Doch der Berliner Bundestagsabgeordnete Werner Schulz (1950–) (Bündnis 90 / Die
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Kurbjuweit, Dirk: Das Erbe der Forty-Eighters, in: Der Spiegel, 2 April 2016 Binder, Elisabeth: Ein „Forty-Eighters“-Denkmal für Berlin, in: Der Tagesspiegel, 13 März 2018 Steinmeier unterstützt Denkmalplan, in: Der Spiegel, 23 April 2016 Binder, Elisabeth: Ein „Forty-Eighters“-Denkmal für Berlin, in: Der Tagesspiegel, 13 März 2018 Hirschmüller, Geographie, 2020, (wie Anm 17)
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Grünen) hatte schon 1998 in der zentralen Gedenkfeier des Parlaments die deutschen Flüchtlinge in den USA genutzt, um die Aufnahme Verfolgter in der Bundesrepublik historisch zu legitimieren: „Mit den Anfängen der Demokratie in Deutschland beginnt auch die Geschichte des politischen Asyls Viele der 48er Demokraten haben nach der Niederschlagung der Revolution Deutschland verlassen und als ‚Forty-eighters‘ im amerikanischen Bürgerkrieg ihren zweiten Freiheitskampf gegen die Sklaverei geführt “80 Dieses historische Deutungsmuster findet sich infolge der anhaltenden Migrationsbewegungen von Afrika und Asien nach Mitteleuropa unter anderem auch noch in der Partei Die Linke Lorenz Gösta Beutin (1978–), seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages, schrieb hierzu in der Parteizeitung Neues Deutschland zunächst: „Wer heute in Deutschland und Europa Grenzen, Mauern und Obergrenzen für Menschen fordert, ist nichts weiter als ein geschichtsvergessener Tropf Gerade Deutschland war und ist historisch ein Land, dessen Bewohner immer auf die offenen Grenzen anderer Kontinente und Länder angewiesen waren “81 Dies versuchte er wiederum durch den Verweis auf die in die USA geflohenen deutschen Revolutionärinnen und Revolutionäre zu untermauern Beutin zitierte zudem aus amerikanischen Zeitungen, wie dem Wisconsin Banner, in dem die geflüchteten Deutschen einst als „zu faul“, „Bankerotte, Kaufleute, Advocaten ohne Praxis, entsetzte Staatsdiener, Handwerker ohne Kunden“ und „versoffene Arbeiter“ bezeichnet und mit der Pest verglichen wurden Diese Vorurteile und Vorwürfe des 19 Jahrhunderts setzte er wiederum mit den Aussagen von Politikern wie Horst Seehofer (1949–) von der Christlich Sozialen Union in Bayern (CSU) und Alexander Gauland (1941–) von der Alternative für Deutschland (Af D) sowie Demonstranten der Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) gleich Um die Lage der Achtundvierziger auf ihrer Reise über den Atlantik zu veranschaulichen, fügte Beutin seinem Artikel noch ein aus dem Jahr 1855 stammendes Gedicht „Die deutschen Auswanderer“ des von ihm als „Arbeiterdichter“ bezeichneten Schriftstellers Heinrich Schacht (1817–1863) an 82 Es fällt an dieser Stelle auf, dass der Autor als zentralen Grund der Migration in der Mitte des 19 Jahrhunderts wie in der Gegenwart materielle Armut annimmt und so die Aufnahme in wohlhabende Länder rechtfertigt Mit diesem Argumentationsgang wird der Eindruck erweckt, die nach dem Scheitern von 1849 in die USA geflohenen „Achtundvierzigern“ hätten in erster Linie den schwierigen Lebensumständen in Europa entkommen wollen Die liberalen und intellektuellen Bevölkerungsschichten – als wesentliche Träger der revolutionären Ideen – nennt Beutin nicht Er thematisiert auch 80 81 82
Schulz, Werner (Bündnis 90 / Die Grünen): Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 27 Mai 1998, in: Deutscher Bundestag (Hg ): Stenographischer Bericht 13 Wahlperiode, 237 Sitzung, Bonn 1998, S 217160 Beutin, Lorenz Gösta: O altes Deutschland, in: Neues Deutschland, 21 Juni 2018; ähnlich: Vesper, Karlen: Transit – Europäer auf der Flucht Eine kleine Geschichte der Migration, in: Neues Deutschland, 28 Juli 2018 Ebd
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nicht die zentralen Anliegen der Revolutionärinnen und Revolutionäre, eine bürgerliche Mitbestimmung zu erzielen sowie deren Wunsch, ein starkes und geeinigtes Deutschen Reich zu errichten Letztlich wird in dieser populistischen Argumentationsweise nicht nur der bedeutende nationale Standpunkt, sondern auch der Gewaltaspekt ignoriert, mit dem die nachmals Fliehenden ihre Ziele zu verfolgen bereit gewesen waren Dass den deutschen Flüchtlingen in den USA auch im rechtskonservativen Milieu Anerkennung ausgesprochen und Problemlagen ausgeblendet werden, ist eine erstaunliche Kohärenz und damit fixe Narration des Mythoskernes In der Jungen Freiheit würdigte 2016 Elliot Neaman, der an der Universität von San Francisco lehrt und in den 1980ern Schüler von Ernst Nolte war, ebenfalls das Engagement der Geflohenen gegen die Sklaverei Im Unterschied zum politisch linken Rand und zur gesellschaftlichen Mitte wurde hier jedoch die Beibehaltung der deutschen Identität auch in der Fremde stärker betont: „Die Deutschamerikaner waren im 19 Jahrhundert mit Leib und Seele dabei, ihre Kultur zu bewahren, während sie sich gleichzeitig mühelos an die grundlegenden Trends assimilierten “ Dabei beklagte auch Neaman die zunächst vorherrschenden Vorurteile und Klischees gegenüber den Deutschen, da die Vorzüge von deren Identität verkannt worden seien Doch konnte der Autor schließlich vom „schöpferischen Einfluß des Deutschtums in Übersee“ schwärmen, das letztlich im 19 Jahrhundert zur Entfaltung gekommen sei und erst durch die Weltkriege seinen Niedergang erlitten habe Hier wird also eine eigenständige deutsche Identität angenommen, die für den Zielstaat einen Gewinn an Arbeitskraft und intellektueller Kompetenz dargestellt habe In wissenschaftlichen Publikationen und Ausstellungen waren 1998 und danach die deutsch-amerikanischen Kooperationen sowie das Schicksal der Auswanderer ebenfalls von besonderem Interesse 83 Dabei sind gute Forschungen zu größeren Regionen wie dem deutschen Südwesten84 oder zu Einzelfällen wie jenem von Gustav Struve 83
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Beispielsweise: Frei, Alfred Georg / Rowan, Steven: „Latin Farmers“ und „Forty-Eighters“ Die Auswanderung der badischen Revolutionäre in die USA, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg ): 1848/49 Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998, S 435 Andere Arbeiten etwa: Siemann, Wolfram: Asyl, Exil, Emigration, in: Langewiesche, Dieter (Hg ): Demokratiebewegungen und Resolution 1847 bis 1849 Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998, S 70–91; Rippley, La Vern J / Marhencke, Ernst-Erich: Die schleswig-holsteinische Erhebung und ihre Auswirkungen auf die nordamerikanischen Bundesstaaten Wisconsin und Iowa, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 123 (1998), S 217–232 Forschungsüberblicke liefern: Hachtmann, Rüdiger: 150 Jahre Revolution von 1848: Festschriften und Forschungserträge Erster Teil, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S 447–493, hier 458–459; Hochbruck, Wolfgang: Einführung: Das offene Ende einer Revolution, in: Hochbruck, Wolfgang / Bachteler, Ulrich / Zimmermann, Henning (Hg ): Achtundvierziger/ Forty-Eighters Die deutschen Revolutionen von 1848/49, die Vereinigten Staaten und der amerikanische Bürgerkrieg, Münster 2000, S 12–25, hier 18–22 Frei/Rowan, Auswanderung (wie Anm 83); Henßler, Patrick: „Schreiten wir vorwärts und gründen unmerklich Reiche“ – Schwäbische Revolutionäre in den Vereinigten Staaten von Amerika Zur
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entstanden 85 Auffällig ist zudem, dass die Vereinten Staaten von Amerika immer wieder in Relation mit einem anderen Aspekt gesetzt werden – der Rolle von Frauen Die Bilanzen hierüber sind jedoch divergent, so hat die Autorin Ruth Jansen-Degott die Möglichkeiten herausgearbeitet, die geflohene Frauen 1848 in Amerika vorfanden 86 Hingegen konnte die Historikerin Ute Grau darlegen, dass unter dem Eindruck der amerikanischen Frauenbewegungen männliche Revolutionäre, die emigrieren mussten, eine mehr distanzierte Haltung gegenüber Frauenrechten eingenommen hatten, als sie später wieder aus dem Exil zurückkehren durften 87 Wolfgang Hochbruck ist ein Beispiel dafür, dass auch das Medium, in dem die Erinnerung praktiziert wird, den Inhalt prägt Im populärwissenschaftlichen Geschichtsmagazin Damals bilanzierte er 1998: „Im Herbst 1849 waren die Revolutionen in Europa vorerst alle gescheitert Doch der Kampf für die demokratische Sache ging weiter Im amerikanischen Bürgerkrieg ergriffen die deutschen Revolutionäre wieder die Waffen für ‚Einheit und Freiheit‘“88 Hingegen in der Einleitung zu seinem fachwissenschaftlichen Herausgeberband über die Emigration von 2000 kommentierte er kritisch und zutreffend über die Auswanderung infolge der Niederschlagung der Revolution: „Wenigen gelang der linguistische Ortswechsel so gut wie dem von der Geschichtsschreibung jahrzehntelang als Musterfall gehandelten Carl Schurz Materielle Not und Hunger zwangen manche, sich als Fechtlehrer, Barpianisten oder schlechtbezahlte Journalisten zu verdingen, und manch ein Fall echter Spurlosigkeit, in der weniger prominente verschwanden, hat mit Krankheit, Tod oder Suizid geendet “89 Diese Erkenntnis steht in Kontrast zu der selektiven und pauschalen Kommunikation der Auswandererbiographien im Journalismus, die weiterhin vorherrscht Dabei fällt immer wieder auf, wie sehr der Grund der Verfolgung in der alten Heimat, das revolutionäre Einsetzen für einen deutschen Nationalstaat, unberücksichtigt bleibt Stephan Wiehler schrieb beispielsweise 2017, die „Forty-Eighters“ „kehren Deutschland
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Kontinuität politischer Einstellungen (Europäische Hochschulschriften Reihe III: 1048), Frankfurt am Main u a 2008 Reiß, Ansgar: Radikalismus und Exil Gustav Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika (Transatlantische historische Studien 15), Stuttgart 2004 Jansen-Degott, Ruth: Amalie Hofer, geb Weissenrieder – auf den Spuren einer politisch engagierten Frau, in: Die Ortenau 78 (1998), S 592–606, hier 603 Grau, Ute: Frauen und die Revolution von 1848/49, in: Lochbihler: Allgäu (wie Anm 16), S 203– 207, hier 303 Hochbruck, Wolfgang: Der zweite Freiheitskampf, in: Damals Das aktuelle Magazin für Geschichte und Kultur Spezial 1848/49 Für die Freiheit streiten (1998), S 100–104, hier 100; ähnlich: Hochbruck, Wolfgang: Der Zweite Frühling der Revolutionäre: 1848/49 und der amerikanische Bürgerkrieg, in: Rehm, Clemens / Becht, Hans-Peter / Hochstuhl, Kurt (Hg ): Baden 1848/49 Bewältigung und Nachwirkung einer Revolution (Oberrheinische Studien 20), Stuttgart 2002, S 239–253, hier 239 Hochbruck, Wolfgang: Einführung: Das offene Ende der Revolution, in: Hochbruck: Frühling (wie Anm 88), S 12–25, hier S 15–16
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den Rücken und suchen die Freiheit in Amerika“,90 oder auch Elisabeth Binder erklärte, „1848 flohen Revoluzzer von Deutschland in die USA, kämpften dort für die Demokratie“ 91 Es bleibt im Journalismus die These verbreitet, dass die deutschen politischen Flüchtlinge nach der Niederlage ihrer demokratischen Ideen in Europa durch ihren Einsatz gegen die „Sklavenhalter“ im Sezessionskrieg ihren Zielen treu geblieben seien und schließlich doch noch einen Sieg davongetragen hätten 92 Als oberstes Ziel der Geflohenen wird der Einsatz für demokratische Freiheitsrechte dargestellt, während die Tätigkeit als Teil der deutschen Nationalbewegung kaum zur Geltung kommt Die Erinnerung an die Revolution von 1848 diente somit sowohl von amerikanischer als auch deutscher Seite als historisches Argument, um eine politische Kooperation sowie kulturellen Austausch zu begründen Diese Intentionen blieben in der Geschichtspolitik der Bundesrepublik eine Konstante des Mythoskerns 3. Fazit Dieser kurze Themenaufriss hat gezeigt, dass die Interpretation der Revolution von 1848 ein Indikator für das westdeutsche und nach 1990 gesamtdeutsche Identitätsverständnis war und ist Die Konstruktion einer Tradition der Verbundenheit Deutschlands mit den USA ist ein fester Kern des Mythos zu 1848 zunächst in den Bereichen der bilateralen Beziehungen sowie verfassungsrechtlicher Ideen und schließlich auch der militärischen Kooperation Dies verdeutlicht, dass die westdeutsche Demokratie und später das vereinigte Deutschland in den Bereichen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft nicht nur in einem westeuropäischen, sondern darüber hinaus im transatlantischen Kulturraum verortet werden soll Insbesondere die Erinnerung an die Flüchtlinge von 1848 zeigt den mittlerweile charakteristischen Umgang mit dem Thema Migration, indem kultureller Austausch durch politische Flucht nahezu ausnahmslos als intellektueller Input und damit wirtschaftlicher Gewinn kommuniziert wird, während Konfliktsituationen nicht berücksichtigt oder beschwichtigt werden Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Europa und den USA seit 2000 und insbesondere seit 2016 wird sich im bevorstehenden 175 Jubiläum 2023/2024 widerspiegeln und so obliegt es einer künftigen Forschung, zu untersuchen, ob die Narration konstant bleibt oder sich in ein Dogma wandelt
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Wiehler, Stephan: Gedenken an den 18 März 1848 Die Deutschen bräuchten einen Freudentag, in: Der Tagesspiegel, 18, März 2017 Binder, Elisabeth: Ein „Forty-Eighters“-Denkmal für Berlin, in: Der Tagesspiegel, 13 März 2018 Beispielsweise: Käppner, Joachim: Verschwörer in der Bierhalle, in: Süddeutsche Zeitung Wochenende, 23 April 2011; Käppner, Joachim: Freiheit! Vor 150 Jahren fiel in Gettysburg eine welthistorische Entscheidung, in: Süddeutsche Zeitung, 22 Juni 2013; Steinmeier unterstützt Denkmalplan, in: Der Spiegel, 23 April 2016
Entwicklung von Nationalbewusstsein und ethnischer Identität in Südosteuropa Das Beispiel des Karpatenbogens Ulrich A Wien I. Nationalismus als Phänomen des politischen Alltags in Rumänien Bei der Wahl zum Staatspräsidenten Rumäniens 2000 standen – ähnlich wie damals in Frankreich – schließlich zwei Kandidaten in der Stichwahl, von denen der eine extremer Nationalist und der andere das kleinere Übel darstellte Letzterer war der Altkommunist Ion Iliescu (PSD), ersterer der Nationalkommunist Corneliu Vadim Tudor (1949–2015), der Vorsitzende der Großrumänien-Partei / Partidul România Mare (bis 2013), späteres MdE (2009–2014); dessen Generalsekretär (1998–2013) war der von 1992–2004 amtierende Bürgermeister von Klausenburg (ung Kolószvár; rum Cluj-Napoca) Gheorghe Funar (*1949), ehemaliger Parteivorsitzender des Partidului Unității Naționale Române (PUNR): Nationalrumänische Einheitspartei Funar hatte auf den öffentlichen Plätzen Klausenburgs die Parkbänke in den rumänischen Nationalfarben blau gelb rot (blau – wie der Himmel über Rumänien, gelb – wie die wogenden Kornfelder und rot – wie das Blut der Märtyrer) streichen lassen Dieser bewusste Affront gegen die in der Stadt lebende ethnische Minderheit der Ungarn, die rund ein Viertel der Bevölkerung stellt, signalisierte in der jahrhundertelang pluriethnisch geprägten Region Siebenbürgen / ung Erdelyi / rum Transilvania, dass Nationalismus nicht nur ein Randphänomen darstellt, sondern – traditionell – einen starken Mythos repräsentiert, der Wirklichkeit auf der Ebene sozialer Vorstellungen ideologisch konstituiert 1 In der Wertehierarchie nimmt die „Nation“ Platz 1 für die rumänischen Intellektuellen – und über sie in alle Gesellschaftsschichten multipliziert – ein Nationalismus war in Rumänien an der Wende zum 21 Jahrhundert mehrheitsfähig – extremer Nationalismus aber nicht Iliescu – das kleinere Übel wurde gewählt
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Sorin Mitu: Die ethnische Identität der Siebenbürger Rumänien Eine Entstehungsgeschichte (= Studia Transylvanica 29) Köln, Weimar, Wien 2003, S 1
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Bei der Präsidentenwahl 2014 ergab sich eine bis dahin ungewohnte Konstellation Dem PSD-Kandidaten, Ministerpräsident Victor Ponta, stand der PNL-Kandidat und Hermannstädter Bürgermeister Klaus Werner Johannis (*1959) gegenüber, ein evangelischer Siebenbürger Sachse Im Wahlkampf wurde seine ethnische Zugehörigkeit vom Gegner instrumentalisiert: Im Altreich2 ließ die Regierungspartei zunächst dem Gerücht freien Lauf, Johannis sei Ausländer; diese Fehlinformation zeigt nicht nur die allgemein verbreitete Unwissenheit auf, sondern illustriert auch die alltägliche Geschichtsklitterung Später besann man sich eines „Besseren“, der Minderheitler wurde zwar als „guter“ Rumäne bezeichnet, was aber pejorativ gemeint war, denn der Regierungskandidat wurde als „echter“ Rumäne präsentiert Eklatant war die Landkarte, auf der das Wahlergebnis im ersten Wahlgang nachzuvollziehen war: knapp 100 Jahre nach dem Anschluss der Erweiterungsgebiete stimmten die Wahlberechtigten aller Wahlkreise in den Regionen, die durch den Vertrag von Trianon 1920 an Rumänien gefallen waren, mehrheitlich für Johannis, alle anderen mehrheitlich für Ponta Im zweiten Wahlgang lag auch im Altreich in einigen Wahlkreisen die Präferenz bei Johannis, der allerdings in der rumänischen Auslandsdiaspora haushohe Zustimmungswerte erhielt und somit Überraschungssieger wurde Schon im Vorfeld der Präsidentenwahl im November 2019 begannen seit 2017 durch die PSD-Mehrheitsfraktion im Parlament erneut Diffamierungskampagnen: der Stellvertreterkrieg richtete sich vornehmlich gegen das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR), dem unterstellt wurde, Rechtsnachfolger der nationalsozialistischen Deutschen Volksgruppe in Rumänien (1940–1944) zu sein 3 Damit sollte dem ehemaligen Vorsitzenden des DFDR, Klaus Johannis, geschadet werden Allerdings wurde die Rufmordklage des DFDR zu dessen Gunsten entschieden Präsident Johannis wurde bei der Direktwahl des Präsidenten im November 2019 mit 65,5 % bestätigt (Wahlbeteiligung: 49 %) 4 Der nationalistische Kurs der rumänischen Regierung bestand nicht nur bekanntermaßen unter der nationalkommunistischen Diktatur der Ära Ceauşescu, sondern schon traditionell auch in der Zwischenkriegszeit Das Land hatte zuvor seit 1916 als Partner zur Allianz gegen das Deutsche Reich und die Habsburgermonarchie gehört und konnte nach Kriegsende bedeutende territoriale Zugewinne verbuchen Denn nach dem Zerfall der ehemaligen Landimperien (Habsburgerreich, Zarenreich, Os-
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Altreich oder „Regat“ sind die seit der Nachkriegszeit geläufigen zeitgenössischen Bezeichnungen für das Gebiet des 1878 aus Donaufürstentümern Walachei und Moldau entstandenen Königreichs Rumänien Diese Argumentation liegt genau auf der jahrzehntelang verfolgten ideologischen Linie des ehemaligen Geheimdienstes „Securitate“, der ununterbrochen den Deutschen im Lande „Hitlerismus“ und nationalfaschistische Grundhaltung unterstellte Vgl dazu Hannelore Baier: Objekt und Instrument Die deutsche Minderheit im Fokus der Securitate In: Die Securitate in Siebenbürgen (Siebenbürgisches Archiv 43) Köln, Weimar, Wien 2014, 153–169, hier S 154–156 https://de wikipedia org/wiki/Präsidentschaftswahl_in_Rumänien_2019 [letzter Zugriff: 28 Dezember 2019] Johannis ist Träger des Europäischen Karlspreises 2020
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manisches Reich) standen die Nachfolgestaaten, und das waren in aller Regel wieder Vielvölkerstaaten im Miniaturformat (nicht zuletzt die neu entstandenen Staaten Polen oder Tschechoslowakei), vor denselben Herausforderungen Auch das vereinigte Rumänien war ein territorial auf das Doppelte gewachsener Staat, dessen Staatsnation sich vor die Herausforderung gestellt sah, sich von einer nahezu homogenen ethnischen (rumänischen) Bevölkerung zur Mehrheitsbevölkerung eines Kleinimperiums (eines postimperialen kompositen Staates4a) mit mehr als einem Dutzend Ethnien zu transformieren Denn der Anteil der Minderheiten an der Gesamtbevölkerung Rumäniens betrug knapp 30 % Wilson gestand im Herbst 1919 vor dem Senat in Washington ein: „Als ich diese Worte sagte [dass alle Völker ein Selbstbestimmungsrecht besäßen], sagte ich sie ohne das Wissen um all die Nationalitäten, die Tag für Tag zu uns kommen […] Sie wissen nicht und können sich nicht vorstellen, was für Ängste ich ausgestanden habe, weil viele Millionen von Menschen sich Hoffnungen auf der Grundlage dessen machten, was ich gesagt habe “5
Nicht nur das Staatsgebiet Rumäniens hatte sich verdoppelt, ebenso die Bevölkerungszahl Aus einem verspäteten Hohenzollern-regierten Nationalstaat, der erst 1878 auf dem Berliner Kongress internationale Anerkennung und Selbstständigkeit erlangt hatte, wurde ein Nationalitätenstaat Ihm wurden im Gefolge des Versailler Vertragssystems im Vertrag von Trianon 1920 die Regionen Besssarabien, Bukowina, Banat, Kreischgebiet, Siebenbürgen und die Süd-Dobrudscha angegliedert Die in diesen Regionen z T schon Jahrhunderte lang in einem Vielvölkergemisch siedelnden Ethnien sahen sich einer staatlichen Elite Altrumäniens gegenüber, die durch die ökonomischen, sozialen Schwierigkeiten sowie zusätzlich mit der Minderheitenproblematik weitestgehend überfordert waren Das schlug sich nicht zuletzt in der Verfassungsfrage im Jahre 1923 nieder Der Senator Dr Adolf Schullerus (1864–1928)6 nahm in der zweiten Kammer des Parlaments als Repräsentant der drittgrößten Minderheit nach den Magyaren (7,7 %) und den Juden (4,3 %) für die Deutschen (4,1 %) zum Verfassungsentwurf Stellung: Eingangs betonte er sein Bedauern, den Verfassungsentwurf ablehnen zu müssen und führte folgende Begründung an:
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Oliver Jens Schmitt: Der Balkan im 20 Jahrhundert Eine postimperiale Geschichte Stuttgart 2019, S 65–69 Erez Manela: The Wilsonian Moment Self Determination and the International Origins of AntiColonial Nationalism Oxford 2007, S 215, zitiert nach: Jörn Leonhard: Erwartung und Überforderung Die Pariser Friedenskonferenz 1919 In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 15/2019, S 4–11, hier S 9 Monica Vlaicu: Adolf Schullerus (1864–1928) Korrespondenzen und Vorträge des siebenbürgischen Pfarrers, Gelehrten und Politikers, mit einer Einleitung von Ulrich A Wien Köln, Weimar, Wien 2018 (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 37)
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„Am einschneiden[d]sten hat unser nunmehr gemeinsames Vaterland diese Umwandlung mitgemacht An Gebietsumfang und Bevölkerungszahl um das Doppelte vergrößert, durch die Vereinigung des gesamten romänischen Volkes in einen Staat an innerer Kraft gewachsen, ist ihm die Aufgabe zugefallen, als mächtigster Staat im Südosten Europas die Grenzburg europäischer Kultur und ein Schutzdamm gegen Umsturz und Anarchie zu sein Dazu ist aber notwendig, dass Romänien selbst ein in sich gefestigtes Staatswesen sei, das die verschiedenen Lebensverhältnisse und Rechtsordnungen, die durch den Anschluß der Gebiete an das Altreich zusammengeflossen sind, zu einer höheren Einheit vereinige Denn dass es nicht angeht, einfach die alte Verfassung Romäniens geographisch auf die neuangeschlossenen Gebiete auszudehnen, hat sehr richtig schon das Einberufungsdekret des gegenwärtig tagenden Parlaments als Konstituante klargestellt,“ […] „dass sie nicht übereilt und nur äußerlich diese Einheit schaffen, sondern dass sie den geschichtlich gewordenen Raum zu eigener Entfaltung geben und die aus der Verschiedenheit des Erdbodens und der Bevölkerung sich ergebende Mannigfaltigkeit des Lebens nicht in das Schema einer starren Form pressen Das wäre nicht Stärkung, sondern Ertötung des Lebens “7
Er benannte seine Position im Blick auf eine moderne, nicht-zentralstaatlich orientierte, minderheitenfreundliche Verfassungsstruktur: – Stabilität und Stärkung der Monarchie und der Hohenzollern-Dynastie als überethnische Instanz, weil das darin ausgedrückte Prinzip persönlicher Verantwortung des Monarchen in Verbindung von Armee, besonnener Legislative und wohlgeordneter Administration zur Kohäsion des Gesamtstaates beitrage; – Freisetzung eines Potentials zugunsten freier Marktwirtschaft und persönlicher Freiheits- und Eigentumsrechte, die seiner Meinung nach im vorliegenden Entwurf gefährdet seien; – Anspruch auf volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung unter Berücksichtigung historischer Kulturtraditionen Schließlich fasste er die Erwartungen zusammen: „Ich glaube, ich hätte diese Forderungen etwa in folgender Form vorbringen können: ‚1 Wir fordern unentwegt die Anerkennung unseres Volkes als politische, staatsbildende Individualität, Sicherung seiner völkischen und organisatorischen Entwicklung durch öffentlich anerkannte Institutionen … Zugleich fordern wir die Erfüllung dieser Ansprüche auch für die übrigen Völker, die alle zusammen den romänischen Staat bilden 2 Wir fordern, dass in der Verwaltung, Justiz und im Unterricht der Gebrauch der Sprachen der Völker des Vaterlandes in solchem Ausmaß gesetzlich zugesichert werde, dass jedes Volk im Staate in seiner Muttersprache gerichtet, verwaltet und unterrichtet werde, 7
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indem die öffentlichen Beamten in jedem Landesgebiet aus den Söhnen des Volkes, das dieses Gebiet bewohnt, erwählt oder ernannt werden 3 Wir fordern eine volle Autonomie für alle Konfessionen und verlangen, dass allen Konfessionen aus Staatsmitteln Gelder zur Verfügung gestellt werden, welche sie zur Verwaltung ihrer Kirchen, zur Besoldung der Pfarrer und zur Erhaltung ihrer konfessionellen Schulen nötig haben ‘“8
Sofort erntete der Minderheitenvertreter Widerspruch, indem ihm vorgeworfen wurde: „Sie fordern einen Staat im Staate“ 9 (Senator Pangrati) Doch Dr Schullerus hatte überhaupt nicht ein eigenständiges Forderungsprogramm aufgestellt, sondern rhetorisch geschickt, aber nicht hör- und erkennbar ein Zitat aus dem 1905 in Hermannstadt verabschiedeten Programm wiedergegeben, das die rumänische Nationalkonferenz, die damalige Repräsentanz der rumänischen Minderheitsvertreter im Ungarischen Nationalstaat verabschiedet hatte Sie hatte zu diesem Zeitpunkt gegen die forcierte Magyarisierung Position bezogen Durch diesen Rückgriff war es Dr Schullerus in einem Überraschungs-Coup gelungen, den nationalistischen rumänischen Kritikern weitestgehend den Wind aus den Segeln zu nehmen Er fuhr fort: „Ich habe diese Formulierung der Forderungen der Minoritäten mir hier zu eigen gemacht, weil sie bezeugt, dass diese Forderungen nicht nur ein Gewächs von heute sind, sondern immer und überall als natürliche Lebensrechte erhoben werden müssen, wo in einem Staate neben dem Mehrheitsvolke des Staates noch andere staatsbürgerliche Rechte genießende Völker leben und ihr Lebensrecht zu wahren haben Ich habe diese Formulierung mir zu eigen gemacht, um daran zu erinnern, dass gerade das romänische Volk es als seine Pflicht und sein Recht erachtet hat, diese Forderungen im ehemaligen ungarischen Staat zu erheben Sie deckten sich in den Grundsätzen vollständig mit den Forderungen, die auch wir Deutsche schon damals immer wieder aufgestellt haben Aber ich habe diese Formulierung endlich auch darum hier aufgenommen, um damit die sichere Erwartung zu begründen, die wir bei Eintritt in den romänischen Staat haben durften, wir würden nunmehr gerade an dem romänischen Volke, an seinen eigenen früheren Leiden und Erfahrungen den wärmsten Fürsprecher für die den Minoritäten zu gewährenden natürlichen Lebensrechte finden “10
In seiner Rede rekurrierte Schullerus weiterhin auf die Karlsburger Beschlüsse, die die rumänischen Politiker Transsylvaniens am 1 Dezember 1918 im Zuge der Vereinigungsbestrebungen als Absichtserklärung formuliert hatten: In Karlsburg wurden zwar vage, aber deutlich erkennbare Ziele formuliert: Es sollten eine moderne demokratische Gesellschaft entstehen, in der nationale und konfessionelle Minderheiten ihren Platz haben, ihre Sprache auch in der Verwaltung verwen8 9 10
Ebenda, S 305 Ebenda Ebenda, S 305 f
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den und weitgehende Selbstverwaltung praktizieren können sollten („volle nationale Freiheit für alle mit bewohnenden Völker [… und] völlige autonome konfessionelle Freiheit für alle Glaubensbekenntnisse“ III 1/III 211) sowie faire ökonomische Verhältnisse und das Frauenwahlrecht garantiert werden 12 Die vom (griechisch-katholischen) unierten Bischof Iuliu Hossu mitinitiierte und von Vasile Goldiş verlesene Proklamation entsprang einerseits jahrzehntelang gehegter Sehnsucht – besonders in der griechisch-katholischen Kirche Siebenbürgens – nach nationaler Vereinigung, suchte allen Anliegen notfalls mit Kompromissformeln gerecht zu werden13 und bemühte sich, die eigene leidvolle Minderheitenerfahrung der siebenbürgischen Rumänen zugunsten der anderen Minderheiten in die Waagschale zu werfen „Problematisch an dieser Anschlusserklärung war jedoch, dass ihre Rechtsverbindlichkeit höchst umstritten war “14 Infolgedessen kritisierte vor diesem Hintergrund Dr Adolf Schullerus den 1923 vorliegenden Verfassungsentwurf: „Er enthält nichts, rein nichts von diesen in den Karlsburger Beschlüssen ausgesprochenen Rechten Gewiß, er enthält mit einer Ausnahme allerdings auch ausdrücklich keine Bestimmungen, die diesen Rechten gradezu widersprechen, aber er vermeidet absichtlich eine klare ausdrückliche Formulierung dieser Minderheitsrechte
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Resolution der Nationalversammlung von Alba Iulia vom 18 November / 1 Dezember 1918 [übersetzt von Wolfgang Wittstock] In: Deutsches Jahrbuch für Rumänien 2018 Bukarest 2018, S 133– 134, hier S 133 Ebenda Vgl auch Erklärung der Nationalversammlung von Gyulafehérvár über die Einheit von Rumänien mit Ungarns rumänisch bewohnten Gebieten In: Herder-Institut (Hg ): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte Themenmodul „Ungarn in der Zwischenkriegszeit“, bearbeitet von Zsolt Vitári (https://www herder-institut de/resolve/qid/240 html) Wilhelm Klein war wohl als einziger Siebenbürger Sachse in Karlsburg anwesend, hatte Gelegenheit, bei der abschließenden Redaktionssitzung für die Resolution am 30 November 1918 anwesend zu sein Vgl dazu dessen unveröffentlichte Erinnerungen: Wilhelm Klein: Ende des Krieges, Anfang einer neuen Zeit In: Deutsches Jahrbuch für Rumänien 2018 Bukarest 2018, S 120–124 [Auszug aus den noch nicht veröffentlichten Erinnerungen von Dr jur Wilhelm Klein (1888– 1976), bearbeitet von Wolfgang Wittstock] Klein berichtet über die Artikulation von Bedingungen, unter denen eine Vereinigung stattzufinden hätten Der Sozialistenführer Flueraş erreichte mit seinen Verweisen auf die sozialpolitischen Entwicklungen in Ungarn, „nämlich die großen Fortschritte, die auf sozialem Gebiet gemacht worden seien In Rumänien sei davon noch gar keine Spur vorhanden Es gebe dort keine Krankenkassen, keine Arbeiterschutzgesetze, alle Macht sei in den Händen der Bojaren, die das Volk knechten; die vorbehaltlose Vereinigung würde Siebenbürgen in sozialer Hinsicht um 50 Jahre zurückwerfen“ (S 122), dass eine abgemilderte Form seiner Forderung nach einer „weitgehenden Autonomie für Siebenbürgen als Bedingung für die Vereinigung“ dergestalt von Vaida Voevod übernommen und von der Versammlung akzeptiert wurde, dass „eine Autonomie Siebenbürgens nur bis zum Zusammentritt der verfassunggebenden Versammlung nötig“ sei, denn in „dieser würden die Siebenbürger, Banater, Bukowiner, Bessaraber, Dobrudschaner zusammen die Mehrheit haben und eine Verfassung schaffen, mit der auch Flueraş zufrieden sein könne “ (S 123) Florian Kührer-Wielach: Wer sind die Rumäniendeutschen, und gibt es sie denn überhaupt? Versuch einer Antwort in sechs Kapiteln In: Zugänge/Jahrbuch des Evangelischen Freundeskreises Siebenbürgen 46 (2018), S 17–40, hier S 21
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Das ist die große Lücke im Verfassungsentwurf, die ihn für mich und meine Kollegen von der Deutschen Parlamentspartei unannehmbar macht “15
Dabei wies er neben anderen Gravamina darauf hin: „In Artikel 5, wo von den individuellen Rechten der Staatsbürger die Rede ist, wird statt des politisch-rechtlichen Begriffes ‚romänische Staatsbürger‘ der Rassenbegriff ‚Romäne‘ gebraucht “16
Außerdem monierte er: „In Artikel 128 fehlt zu der Erklärung der romänischen Sprache als Staatssprache die notwendige Ergänzung einer genauen Festlegung der den Minoritäten zustehenden Sprachenrechte, wie sie so kurz und richtig in dem angezogenen Artikel (III,1) der Karlsburger Beschlüsse enthalten sind “17
Schließlich forderte er dauerhafte Garantien: „Aber ebenso ist damit nicht ausgeschlossen, dass eine kommende Regierung die Erfüllung dieser Forderungen wieder zurücknimmt und die Minderheitsrechte mit Füßen tritt Wir müssen darauf bestehen, dass diese Rechte nicht der Willkür der jeweiligen Regierungen und Parlamentsmehrheiten ausgeliefert sind, sondern als grundsätzliche Bestimmungen und Wegweiser für die Zukunft in die Verfassung ausdrücklich aufgenommen werden Nur so kann den Minoritäten die aufzehrende Sorge um die Bewahrung ihrer Lebensrechte abgenommen, die fortwährenden politischen Reibungen hintangehalten und so die gesamte Bevölkerung einer gemeinsamen und frohen Mitarbeit am wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Staates freigegeben werden “18
Die Unterstellung, er fordere einen Staat im Staate wies Schullerus zurück; im Gegenteil: Die „Volkseinheit“ der Deutschen stelle eine „zentripetale Kraft dar, die die Randgebiete festhält und auf das Wirksamste mithilft, zugleich die Einheit des neuen Vaterlandes zu sichern “19 Gegen die Stimmen der Minderheitenparlamentarier wurde der Verfassungsentwurf quasi unverändert angenommen Der rumänische Zentralstaat und seine politischen Repräsentanten entschieden sich bewusst – auch aus Erfahrungsmangel – gegen die dem rumänischen Nationalgedanken entgegenstehenden Anliegen und Forderungen der ethnischen Minderheiten 15 16 17 18 19
Vlaicu: Schullerus (wie Anm 6), S 307 Ebenda Ebenda, S 308 Ebenda Ebenda, S 309 Zum Verfassungsrecht vgl Herbert Küpper: Einführung in die Verfassungssysteme Südosteuropas Wien 2018 (Schriften zur Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht 5), S 21–23 und 85–88
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Wie kam es zur Ausbildung dieses staatlich praktizierten, Minderheiten diskriminierenden Nationalismus’ in Rumänien, der bis heute vielfach in der Politik- und Verwaltungspraxis geübt – und aus der Minderheitenperspektive gesehen – erlitten wird? II. Entstehung und Entwicklung des rumänischen Nationalgedankens im 18. und 19. Jahrhundert In drei Schritten soll die Entstehung und Entwicklung des rumänischen Nationalgedankens erörtert werden: a) Formulierung eines historischen, sprachgemeinschaftlichen Nationsgedankens im Supplex Libellus Valachorum 1791 b) Enttäuschung, Erlangung politischer Partizipation und ihr erneuter Verlust: Von der Revolution 1848 bis zum Österreichisch-Ungarischen Ausgleich 1867 c) Kampf gegen den Assimilationsdruck im ungarischen Nationalstaat: Bedingungen, Entstehung und Konsequenzen des Memorandums 1892 a) Formulierung eines historischen, sprachgemeinschaftlichen Nationsgedankens im Supplex Libellus Valachorum 1791 Angesichts der Tatsache, dass einerseits die rumänischen Fürstentümer östlich und südlich der Karpaten in der Neuzeit unter osmanischer Oberherrschaft gestanden hatten sowie andererseits die im Karpatenbogen siedelnden Rumänen keinerlei politische Repräsentanz im ständischen Verfassungssystem Siebenbürgens zugebilligt bekommen hatten, war die ethnische Gruppe der Rumänen über Jahrhunderte in politischer Abhängigkeit und Unfreiheit gehalten worden Nachdem die Habsburger seit 1690 den osmanischen Einflussbereich verringert und den eigenen Herrschaftsbereich bis zu den Karpaten und ins Banat erweitert hatten, bemühten sie sich auch die politische Dominanz dauerhaft zu stabilisieren und auszuweiten Insbesondere in Siebenbürgen, wo während der osmanischen Oberhoheit („dar al-ahd“) in dem selbstständigen Fürstentum (1540–1690) auf den Landtagen in der zweiten Hälfte des 16 Jahrhunderts, definitiv 1595 ein System der Religionsfreiheit installiert und garantiert worden war,20 suchte die Wiener absolutistische Regierung 20
Ulrich A Wien: Siebenbürgen Pionierregion der Religionsfreiheit Hermannstadt, Bonn 2017; Ders und Martin Armgart (Hg): Die Synodalprotokolle der Evangelischen Superintendentur Birthälm 1601–1752 Bände 1–3 Hermannstadt 2019 (Urkundenbuch der Evangelischen Landeskirche A B in Rumänien III/1–3) Vgl auch die Beiträge von Edit Szegedi, Andreas Müller und Paul Brusanowski In: Ulrich A Wien, Mihai D Grigore (Hg ): Exportgut Reformation Ihr Transfer in Kontaktzonen des 16 Jahrhunderts und die Gegenwart evangelischer Kirchen in Europa Göttingen 2017 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 113), S 191–247
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mit einer gegenreformatorisch orientierten Politik die im Leopoldinum 1691 zugesicherten Garantien der religiösen und politischen Verfassungsrechte zu unterlaufen und auszuhebeln Im Land gab es bis dahin weitgehend mit ethnischen Grenzen deckungsgleich verlaufende Konfessionsgrenzen Rumänen waren ostkirchlich-orthodox, Deutsche waren Lutheraner, Armenier altorientalisch(„monophysitisch“)-orthodox, es gab Juden Die Magyaren gehörten hauptsächlich der calvinistischen Konfession an; daneben gab es eine größere Gruppe Unitarier, einige Lutheraner und wenige katholische Ungarn Die Szekler waren mehrheitlich katholisch Seit dem letzten Drittel des 16 Jahrhunderts hatten die Stände, die im Landtag die politischen Geschicke bestimmt hatten: der ungarische Adel, die halbadeligen Szekler und die in der Sächsischen Nationsuniversität zusammengeschlossenen Deutschen, also diese Stände hatten auch die Religionspolitik in ihrem Sinne definiert: Calvinistische, unitarische, lutherische und katholische Konfessionskirchen galten als öffentlich akzeptiert und „rezipiert“ („religio recepta“), die anderen wurden geduldet Insbesondere die rumänische Ethnie sowie ihre griechisch-orthodoxe Konfession wurde von der Partizipation am politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen und explizit nur „toleriert“ Die Habsburger suchten nun zu ihren Gunsten eine Bresche in dieses System zu schlagen: mit Hilfe einer forcierten konfessionellen Union mit Rom für Armenier und Rumänen verknüpften sie die Aussicht und Hoffnung auf politische Privilegierung und Partizipation unter dem Dach der römisch-katholischen Kirche Dies gelang 1698 komplett bei den Armeniern und partiell bei den Rumänen Es entstand eine von Wien geförderte griechisch-katholische: also rumänische Kirche mit byzantinischem Ritus und verheirateten Priestern, die dogmatisch-theologisch die Jurisdiktion des römischen Papsttums anerkannten Im Verlauf des 18 Jahrhunderts mühten sich deren Bischöfe um die Realisierung der in Aussicht gestellten Partizipationsmöglichkeiten Die Reformen während des sog Josephinismus unter Kaiser Joseph II (1780–91) unterbrachen die Verfassungskontinuität und schränkten die ständischen Privilegien der drei staatstragenden Stände Siebenbürgens massiv ein Als Folge der erschütterten, zeitweilig aufgelösten politischen und sozialen Strukturen hatte der Josephinismus die rumänischen Intellektuellen (unbeabsichtigt) ermutigt, ihre Bemühungen zu verstärken, für die eigene Ethnie Verfassungsrang zu erstreben Doch noch auf dem Totenbett widerrief Kaiser Joseph II seine Reformen bis auf die Bestimmungen zur religiösen Toleranz Daraufhin ergriffen die alten Stände blitzschnell die Gelegenheit, das politische Heft wieder in die eigene Hand zu nehmen, um die politische Restauration der DreiStände-Verfassung zu erreichen, und den Rumänen drohte, ein weiteres Mal von der politischen Partizipation ausgeschlossen zu werden Doch die Ambitionen auf poli-
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tische Mündigkeit, die der Josephinismus hervorgerufen hatte, ließen sich nicht mit einem Federstrich annullieren 21 In diesem Bedrückungskontext entstand binnen weniger Wochen und Monate eine „Repräsentation“, also eine Petition/Bittschrift an den Kaiser in Wien – zunächst unter bewusster Umgehung des siebenbürgischen Landtags –, die direkt in Wien eingereicht und unter dem publizierten Titel „Supplex Libellus Valachorum“ 1791 bekannt und rezipiert worden ist 22 Erstmals in der Epoche der Habsburgmonarchie unternahmen beide rumänischen Konfessionen gemeinsam einen politischen Vorstoß zugunsten der „Nation“ und formulierten aus dem Bewusstsein der ethnischen Zusammengehörigkeit und Solidarität ihre Argumente und Forderungen Den Hintergrund bildete weniger die revolutionäre Terminologie der französischen Aufklärung als die deutsche, auf Herders Konzept der Sprachnation aufruhende Nations-Vorstellung Die Inkubation mit diesem Ideengehalt nationaler IdentitätsKonzeption war über die Vermittlung der römisch-katholischen Priesterseminare Mitteleuropas (vorwiegend in Wien, aber auch Rom, sowie an den unierten Sekundarschulen in Blasendorf, rum Blaj) erfolgt Dort hatten die griechisch-katholischen Theologen der rumänischen Ethnie die Begründung nationalen Gedankenguts rezipiert und für ihren Lebenskontext fruchtbar zu machen gesucht Oft in der Literatur als „Şcoala Ardeleană“ (Siebenbürgische Schule) bezeichnet, hatten die durch die Aufklärung beeinflussten Intellektuellen, meist unierte Priester, weitgefasste Aktivitäten initiiert, um politische Emanzipation anzuregen und intensive Bildungsbemühungen voranzutreiben (u a in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen: Historiographie, Sprachwissenschaft und Theologie sowie auch in der Schulbuchliteratur) Das kyrillische Alphabet wurde durch das lateinische ersetzt; allerdings sollte mit der eher etymologischen als phonetischen Transkription schon mit Hilfe der Orthographie die Hypothese einer angeblich die antike, bodenständige Latinität fortführenden Kontinuität untermauert werden 23 Aufklärung musste – aus der Warte der Scoala Ardeleana – von oben kommen Der „Supplex Libellus Valachorum“ von 1791 hatte einen legitimierenden, gewissermaßen geschichtspropagandistischen ersten Teil und einen zweiten Teil, in dem der Forderungskatalog enthalten war Fünf Forderungen wurden aufgestellt: 1) Die diskriminierende Terminologie bezüglich der Rumänen („geduldet, zugelassen, nicht zu den Ständen gerechnet“) solle widerrufen und volle politische Gleichberechtigung zuerkannt werden 2) Restitution der bis 1437 geltenden Rechte 21 22 23
Keith Hitchins: The Romanians 1774–1866 Oxford 1996, S 208 David Prodan: Supplex Libellus Valachorum Aus der Geschichte der rumänischen Nationsbildung 1700–1848 Köln, Wien 1982 (Studia Transylvanica 9) Keith Hitchins: Romanians (wie Anm 21), S 211
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Alle Klassen der rumänischen Ethnie seien in derselben Weise zu behandeln wie die komplementären Klassenvertreter anderer Ethnien 4) In der Verwaltung sollten Stellenbesetzungen proportional zur zahlenmäßigen Größe der ethnischen Gruppen vergeben werden 5) Geographische Benennungen der Verwaltungseinheiten seien gemäß der Sprache der Mehrheitsbevölkerung oder gemischtsprachig durchzuführen; zur Steuerund Abgabenlast seien alle Bevölkerungsgruppen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit heranzuziehen 24 Ergänzt wurde dieser Forderungskatalog durch einen vorauseilenden Versuch, die Gefahr einer eventuellen Ablehnung durch den Landtag abzuwenden: Es wurde eine rumänische Nationalkonferenz in Vorschlag gebracht Zu ihr sollten Adlige und Klerus geladen sein, die unter dem Vorsitz der unierten und orthodoxen Bischöfe die Anliegen der Rumänen diskutieren können sollten Es half nichts: Kaiser Leopold II (reg 1790–1792) leitete die Eingabe an den Siebenbürgischen Landtag mit Randglossen weiter Und der Landtag wies alle Legitimationskonstruktionen als unbegründet ab Einzig die Anerkennung als rezipierte Konfessionsgemeinschaft konnte den rumänisch-orthodoxen Gläubigen dann doch 24
David Prodan: Supplex (wie Anm 22), S 489 f : „1 Dass die schimpflichen und der Missachtung vollen Benennungen geduldet, zugelassen, nicht zu den Ständen gerechnet und andere ähnliche, die gleichsam wie ein äußerer Makel der walachischen Nation ohne Recht und Gültigkeit angeheftet worden sind, jetzt geradewegs außer Kraft gesetzt und als unwürdig und ungerecht öffentlich widerrufen und ausgetilgt werden; ferner, dass die durch die Huld Euerer geheiligten Majestät wiedererstandene, walachische Nation in den Genuss aller politischen und landesbürgerlichen Rechte zurückversetzt werde, weiters 2 Dass der bittstellenden Nation unter den landesüblichen Nationen jener Platz wiedereingeräumt werde, den sie nach dem in dem Vorausgeschickten beigebrachten Zeugnis des Konvents der hl Jungfrau Maria von Kolozsmonostor vom Jahre 1437 innehatte 3 Dass der der griechisch-orientalischen Kirche ergebene Klerus dieser Nation ohne Ansehung dessen, ob er mit der abendländischen Kirche in allem dasselbe oder weniger empfindet, ebenso der Adel und das gemeine Volk, das bürgerliche wie das bäuerliche, in derselben gleichen Weise wie der Adel und das gemeine Volk der den Verband der Union bildenden Nationen berücksichtigt und behandelt werden und der gleichen Vergünstigungen teilhaftig sein sollen 4 Dass in den Komitaten, Stühlen, Distrikten und bürgerlichen Gemeinwesen bei der Wahl der Beamten und Landtagsverordneten, bei Amtsbesetzungen und Beförderungen in den Hof- und Landes-Dikasterien gerecht darauf geachtet werde, dass auch auf diese Nation das Verhältnis der Seelenzahl angewendet wird 5 Dass jene Komitate, Stühle, Distrikte und bürgerliche Gemeinwesen, in denen die Walachen den übrigen Nationen an Zahl überlegen sind, von den Walachen auch die Benennung erhalten sollen, wo aber die anderen Nationen in der Mehrheit sind, diese den Namen geben sollen, oder sie sollen einen gemischt ungarisch-walachischen, sächsisch-walachischen Namen führen; ebenso könnte schließlich jeder von dieser oder jener Nation festgesetzte Name beseitigt und jeder Komitat, Stuhl wie Distrikt den Namen tragen, den er auch bisher nach Flüssen und Burgen geführt hat; weiters soll geklärt werden, dass alle Bewohner des Fürstentums ohne Unterschied der Nation und des Glaubens nach ihrem Stand und ihrer Lage der gleichen Freiheiten und [490] Vergünstigungen sich erfreuen sollen, die Lasten aber nach Maßgabe ihrer Kräfte tragen müssen “
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nicht mehr vorenthalten werden 25 Während der Stagnationsphase unter dem bereits ab Frühjahr 1792 amtierenden Kaiser Franz II (I ) (reg 1792–1835) konnten die Forderungen der rumänischen Ethnie nicht realisiert werden Diese Frustrationserfahrungen in Verbindung mit dem nationalen Geschichtsmythos, der im ersten Teil des „Supplex Libellus Valachorum“ in eine konsistente Fassung gebracht worden war, bildete aber ab diesem Zeitpunkt den Nährboden für die bis in die Gegenwart reichende Konstruktion nationalen Bewusstseins und gesellschaftlicher Stereotype, welche die soziale und ideologische „Wirklichkeit“ im Diskurs über die „rumänische Nation“ konstituieren und beherrschen Im ersten Teil des Supplex diente eine historische Darlegung der rechtlichen Entstehung und Entwicklung der rumänischen Ethnie der Legitimation des Anliegens: Individuelle Gleichberechtigung mit den drei ständischen Nationen zuerkannt zu bekommen Zu Beginn wurde die dakisch-römische Kontinuitätstheorie dargestellt und ausführlich vorgetragen In barocker Sprachfülle und mit einigen Redundanzen suchten die Bittsteller zu beweisen, dass die römische Besetzung und Besiedlung des antiken Dakiens im 2 –3 Jahrhundert n Chr zu einer originär italisch-römischen Prägung und hochwertigen Kultur- und Rechtsstufe geführt habe, die auch nach dem Abzug der römischen Truppen unter Kaiser Aurelian fortbestanden habe Die weitgehend verbliebene Bevölkerung – so die These – habe so bis zur Ankunft der Magyaren im 9 Jahrhundert unbeeinträchtigt in ihrer „römischen“ Lebenswelt weiter existiert Es habe dann einen Pakt zwischen Tuhutum und Gelu gegeben, in dem eine Union von Gleichen hergestellt worden sei Das vom ungarischen König András erlassene Privilegrecht 1224, das sog „Andreanum“26 – sein goldener Freibrief für die mittelalterlichen deutschen Siedler – habe die Rechtsgleichheit für die unterschiedlichen Ethnien festgehalten Bis zur Union der Stände der Magyaren, Szekler und Siebenbürger Sachsen 1437 habe dieser Zustand angehalten – So weit der Geschichtsmythos, der von ernsthaften Historiographen auch so qualifiziert wird 27 – Bei Begründung dieser „Union der drei Standesnationen“ 1437 sei die Unterdrückung der rumänischen Nation ein Eckpfeiler der Verfassung geworden, die rumänischen Adligen seien assimiliert worden Auf den Landtagen des 16 Jahrhunderts sei der Inferioritäts-Status des Rumänen durch die Benachteiligung der Orthodoxen Kirche dauerhaft zementiert worden, weil sie nicht „rezipiert“, sondern nur „geduldet“ worden sei Auch im 17 Jahrhundert habe die Rechtsentwicklung daran nichts geändert, sondern ihre Rechtslage außerhalb der Verfassungsnormen verstärkt Dies gelte auch jetzt noch 25 26 27
Keith Hitchins: Romanians (wie Anm 21), S 214; Ders The Rumanian national movement in Transylvania 1780–1849 Cambridge/Mass 1969, S 132 f Urkundenbuch zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, Band 1, Nr 43 Hermannstadt 1892 Online-Edition: http://siebenbuergenurkundenbuch uni-trier de/catalog/43 Mitu: Identität (wie Anm 1); Lucian Boia: Geschichte und Mythos Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft Köln, Weimar, Wien 2003 (Studia Transylvanica 30); Keith Hitchins: Romanians (wie Anm 21), S 210
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Im Unterschied zur Argumentation des griechisch-katholischen Bischofs Inocentie Micu-Klein in der Mitte des 18 Jahrhunderts wurde jetzt spezifisch die historische Spekulation und besonders die Sprachgemeinschaft betont – Auch wurden die Forderungen des Anführers des rumänischen Bauernaufstandes von 1784, Horia, nicht aufgegriffen Horia hatte die Aufhebung der Leibeigenschaft/Untertänigkeit, Aufteilung des Großgrundbesitzes der magyarischen Adligen und die Besteuerung des Adels gefordert Revolution überhaupt und Horias Aufstand im speziellen hatte der Bischof ausdrücklich verurteilt Es gab keinerlei Berührungspunkte zwischen dem bäuerlichen Volksbewusstsein und dem intellektuellen Nationskonzept Strukturell argumentierten die Autoren des Supplex sozialkonservativ 28 Die kirchlichen Hierarchen als Elite und Sprecher der rumänischen Ethnie sahen es 1791 als vordringlich an, zuerst das Verfassungsproblem zu lösen – alles andere werde folgen Deshalb insistierten sie auf der Wiederherstellung der – von ihnen postulierten und durch einen Geschichtsmythos rekonstruierten – alten, legitimen Rechte Analog zu den Bestrebungen der anderen siebenbürgischen Stände, die nach der Rücknahme der Josephinischen Reformen ebenfalls die traditionellen Rechte für sich reklamierten, um die Drei-Stände-Verfassung wiederherzustellen, traten nun die Rumänen mit ihren Forderungen an die kaiserliche Majestät und die Öffentlichkeit heran War dies nun revolutionär oder rückwärtsorientiert feudalistisch? Der Appell an die feudale Mentalität von Kaiser (und Landtag) war sicherlich adressatenorientiert, um das Ziel wenigstens im politischen Plausibilitätsrahmen anzuvisieren Denn Argumente, die auf das Naturrecht oder die Menschenrechte rekurrierten, wären sicherlich inopportun gewesen, wohingegen mit dem Rückverweis auf mehrfach bestätigte hochmittelalterliche Rechte die Forderung nach Wiederherstellung aussichtsreich erscheinen mochte Doch trotz aller strategischen Vorsicht hatten die Autoren nicht die Absicht, zu den Sozial- und Politikformen vor Joseph II zurückzukehren Ihre Restitutionsforderung basierte auf modernen Prinzipien der verfassungsmäßigen Gleichheit aller Nationen und der Repräsentation im Verhältnis der Bevölkerungsstärke der Ethnien Und dazu hatte die Bittschrift des „Supplex Libellus Valachorum“ schlagendes statisches Beweismaterial beigefügt Etwa seit der Mitte des 18 Jahrhunderts verfügte die rumänische Ethnie im (Groß-)Fürstentum Siebenbürgen nicht nur über die relative, sondern über die absolute Mehrheit in der Wohnbevölkerung der Region (1794: 750 000 von knapp 1,5 Mio Einwohnern) 29 Der Nationsbegriff wurde jetzt nicht in der mittelalterlichen Terminologie als „Rechtsnation“, sondern nach ethnischer Herkunft und Sprachgemeinschaft definiert Diese „Nation“ als größte Gruppe und Mehrheitsbevölkerung
28 29
Keith Hitchins: Romanians (wie Anm 21), S 213 Konrad G Gündisch: Geschichte der Siebenbürger Sachsen München 1998, S 130
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„trage die größten Lasten“, weswegen dieses Argument auch im politischen Diskurs mit der merkantilistisch orientierten Regierung auf starke Resonanz stoßen musste „Die Autoren des ‚Supplex libellus‘ übernahmen viele Ideen der Aufklärung, um sie unter Anpassung an die regionalen Umstände in Siebenbürgen zu verbreiten und durchzusetzen“ 30 Beispielsweise interpretierten sie das Naturrecht nicht im Blick auf die individuelle, sondern auf die kollektive Persönlichkeit der Nationen und ihrer Gleichberechtigung Sie zogen aber keineswegs die Möglichkeit sozialer Gleichheit innerhalb der Nation in Betracht; jede Klasse sollte dieselben Rechte genießen wie die korrespondierende anderer Nationen Die aufgeklärte Elite konnte sich nicht vorstellen, dass einfache Bauern Teil der politischen Nation sein könnten „Die Ära der Volkssouveränität hatte sie offensichtlich noch nicht erreicht “31 Trotz allem war aber doch deutlich, dass mit dem Hinweis auf den Umstand, dass die Rumänen – als angeblich historisch älteste Einwohner-Nation – die historisch ältesten Rechte besäßen, implizit auch der Anspruch auf politische Dominanz ausgedrückt worden war Mit dem statistischen Material wurde praktisch diese Evidenz zusätzlich quantitativ untermauert Kein Wunder, dass die politisch Verantwortlichen am Hof in Wien und beim Gubernium in Klausenburg das Ansinnen ablehnten und selbstverständlich die angezogenen Legitimationsargumente, insbesondere den Geschichtsmythos der dako-rumänischen Kontinuität ad absurdum zu führen trachteten Der Landtag beschied den Supplex Libellus abschlägig Doch eine Entwicklung war unumkehrbar geworden Über die Konfessionsgrenzen hinaus hatte sich ein rumänisches Nationalbewusstsein konstituiert, das die künftigen Argumentationsmuster und Legitimitätsstrategien in unterschiedlichen Kontexten prägen und bestimmen sollte Konsequenterweise sind Elemente der Argumentation aus dem regionalspezifisch geprägten Supplex als Stereotype in das Nationalbewusstsein eingedrungen, die bis in die Gegenwart bestimmend sind für das Selbstbild der Rumänen Dieses „entstand unter dem Druck der als permanent empfundenen Bedrohung, die von dem Anderen ausging Der kollektive Verteidigungsreflex angesichts dieser immerwährenden Ängste und Herausforderungen hat die Herausbildung einer originellen Selbstwahrnehmung gefördert, die dazu tendierte, fieberhaft kompensatorische Mythen hervorzubringen, die als imaginäre Räume mentaler Sicherheit dienten, in denen die bedrohte Identität und der gekränkte nationale Ehrgeiz geschützt werden sollten Von hier aus folgt ein wesentlicher Zug des Bildes, und zwar sein streitbarer Nationalismus (im Original hervorgehoben) Das Selbstbild entsteht bei den Siebenbürger Rumänen in erster Linie als eine Antwort auf die feindlichen Bilder und Überlegungen der anderen, 30 31
Keith Hitchins: The Rumanian National Movement in Transilvania, 1780–1849 Cambridge/Mass 1969, 124 f Keith Hitchins: Romanians (wie Anm 21), S 213
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es ist polemisch und ‚militant‘, nicht so sehr nach innen, zur eigenen Realität gerichtet, sondern nach außen, zu den fremden Wahrnehmungen und Referenzen “32
Zu den Argumentationselementen des Selbstbildes gehören folgende Topoi: – absichtliche Verleumdung der Rumänen durch Fremde, um die Rumänen im Zustand der Unterdrückung zu halten;33 – Neid der Fremden, z B über die edle römische Abstammung (oder nach 1848 Neid wegen der großen revolutionären Tapferkeit und Errungenschaften);34 – sie seien die ewig Benachteiligten, Verlassenen, Vergessenen (schon in der Frühen Neuzeit seien sie vom christlichen Europa gegenüber den Osmanen im Stich gelassen worden); 1849 kam die Klaustrophobie wegen des Rückzugs der Österreicher hinzu;35 – sie bildeten das Gespött der Anderen;36 – ihre kulturelle Rückständigkeit 37 Die soziale und kulturelle Situation von der Wende bis zur Mitte des 19 Jahrhunderts war auch nicht dazu angetan, die Fremdbilder der anderen zu unterminieren Für den Kronstädter Journalisten George Bariţ – 1843 – lag der Mangel an Volksschulbildung auch an der eklatanten Bildungsferne und miserablen ökonomischen Situation der rumänischen Popen Sein Fazit: Ohne Alphabetisierung seien die Rumänen nur Masse Timotei Cipariu fasste 1848 zusammen: „Wir sind nur numeri sumus, nichts anderes “38 – damit verbunden der Komplex: wir sind auf dem letzten Platz (in Europa) 39 Als im Jahre 1849 die Rumänen Siebenbürgens in die Revolutionsaufstände eingriffen, hatte sich die kulturelle Situation unter der äußerst dünnen Schicht der Intellektuellen markant verändert Die Bemühungen im Blick auf die kulturelle Identität hatte sich mit sehr respektablen Anstrengungen auf wissenschaftlicher Ebene intensiviert und gefestigt Die kirchlichen, moderaten Repräsentanten der ersten Generation nach 1790 waren durch eine liberale Generation des Bildungsbürgertums mit forciertem politischem Anspruch ergänzt worden Dennoch – nach der Niederschlagung der Revolution – gestaltete sich die Lage der Rumänen erneut politisch unter neuen Vorzeichen Die Leibeigenschaft war zwar 1848 32 33 34 35 36 37 38 39
Mitu: Identität (wie Anm 1), S 4 f So schon im Supplex libellus, vgl Mitu: Identität (wie Anm 1), S 26, aber auch bei Timotei Cipariu, zitiert ebenda, S 28 Mitu: Identität (wie Anm 1), S 28–31 und 35 Ebenda, S 33 f Ebenda, S 43 Ebenda, S 48–50 Ebenda, S 82 Ebenda, S 85
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formal und dauerhaft abgeschafft worden, doch die Forderungen und Erwartungen der siebenbürgischen Rumänen, die bei einer Großkundgebung in Blasendorf angenommen und die von 40 000 Opfern des Revolutionskriegs unterstrichen worden waren, sind erneut massiv enttäuscht worden b) Enttäuschung, Erlangung politischer Partizipation und ihr erneuter Verlust: Von der Revolution 1848 bis zum Österreichisch-Ungarischen Ausgleich 1867 Die nur wenige hundert Köpfe zählende Gruppe der siebenbürgisch-rumänischen Intellektuellen hatte ein ausgeprägtes nationales Bewusstsein „Ihre Ideologie war eine Mischung aus historischem Recht, Naturrecht und romantischem Idealismus Ihr unumstößlicher Grundsatz war die Theorie der daco-rumänischen Kontinuität “40 Ihr Vordenker, Simion Barnuţiu, Philosophieprofessor am griechisch-unierten Gymnasium in Blasendorf, hatte eine moderne, weitgehend auf der deutschen idealistischen Philosophie basierende Nationalismustheorie vorgetragen: „diese anerkannte das Recht eines jeden Volkes, sich in Übereinstimmung mit seinem individuellen Charakter zu entwickeln und, je nach seinem Beitrag, auch an den Vorteilen der gesellschaftlichen Entwicklung teilzuhaben “41 Waren die Rumänen vor der Revolution von politischer Partizipation ausgeschlossen gewesen, so nahm im Mai 1848 die Nationalversammlung von Blasendorf die bekannten 16 Punkte als Aktionsprogramm an, die bis zu Beginn des 20 Jahrhunderts die politische Arbeit strukturierten Hauptziel war die Gleichstellung mit den drei Standes-Nationen, im Februar 1849 gipfelte die Forderung sogar in der Perspektive der Vereinigung aller Rumänen der Monarchie in einem eigenen Kronland mit vollständiger politischer und kultureller Autonomie Trotz allem blieben die rumänischen Repräsentanten der Idee einer evolutionären, konstitutionellen Veränderung treu Während der Revolution 1848/49 schlugen zwei Herzen in ihrer Brust: einerseits fühlten sie sich zum magyarischen Liberalismus hingezogen, allerdings lehnten sie dessen Garantien für eine nur individuelle Rechtsgleichheit in einem Groß-Ungarn als unvereinbar mit ihrer eigenen nationalen Selbstbestimmung ab Denn auch sie waren Nationalisten und hatten deshalb Angst vor dem aggressiven magyarischen Nationalismus Aus diesem Grund verbündeten sie sich mit den Habsburgern, die allerdings „die Antithese sowohl zum Nationalismus als auch zum Liberalismus verkörperten “42 Eine vereinzelt ventilierte Vereinigung mit den Rumänen der Fürstentümer (Moldau
40 41 42
Keith Hitchins: Die Rumänen In: Die Habsburgermonarchie 1848–1918 III/1 Wien 1980, S 585– 625, hier 586 Ebenda, S 587 Ebenda, S 589
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und Walachei) blieb auf Grund der Okkupation dieser Regionen durch die russischen Armeen im Herbst 1848 Illusion Nach der Niederringung der Revolution in der Habsburgermonarchie verflüchtigten sich die Erwartungen auf eine Autonomie der Minderheiten, respektive der Rumänen In der Verfassung vom 4 März 1849 erhielten die Rumänen zwar die Gleichheit vor dem Gesetz, blieben aber auf mehrere Kronländer separiert Immerhin war der ungarische Nationalstaat abgeschmettert worden Doch die Frustration über die gestohlenen Früchte der Revolution war groß – umgekehrt blühte das ethnische Kulturleben Der orthodoxe Bischof bzw Metropolit in Hermannstadt (rum Sibiu), Andrei (von) Şaguna (1809–1873), dessen Orientierung an einer engen Zusammenarbeit von Kirche und Staat, an einem prinzipiell beiderseitigen harmonischen Verhältnis bis hinein in die Kirchenverfassung zu erkennen ist43, scheiterte – unter diesen Umständen – zwar mit dem Bemühen, eine autonome Metropolie für alle rumänischen Orthodoxen der Monarchie zu begründen, konnte aber in der wiederhergestellten alten orthodoxen Metropolie Siebenbürgen einen beispiellosen kulturellen und ökonomischen Aufschwung initiieren: 600 Dorfschulen, orthodoxe Gymnasien, Druckerei und Presseerzeugnisse geben davon beredt Zeugnis 44 Bis zu diesem Zeitpunkt (1851) führte die unierte, griechisch-katholische Konfession die Religionsstatistik an: 648 410 Unierte gegen 638 017 Orthodoxe, wobei die unierte Kirche auch weiterhin vom neo-absolutistischen Staat bevorzugt gefördert wurde Nach dem Oktoberdiplom 1860, zwischen 1860 und 1867 führte der Hof verfassungsrechtliche Experimente durch: So auch in Siebenbürgen: Erstmals wurde den Rumänen gestattet, sich politisch zu organisieren Dies schien auch Gewinn bringend Im Landtag erreichten die Rumänen die Stellung der Mehrheitsfraktion (57 Abgeordnete sowie 54 Magyaren und 43 Sachsen) In enger Zusammenarbeit mit den Siebenbürger Sachsen wurden gesetzlich geregelt: – die formelle Anerkennung der unierten und orthodoxen Kirche sowie der rumänischen Nation, – Anerkennung vom Rumänisch als Landessprache des Fürstentums neben Deutsch und Ungarisch Im Interesse einer gemeinsamen nationalen Einheit und Politik wurden die konfessionellen Spannungen zwischen unierten und orthodoxen Rumänen abgebaut Doch nach der Niederlage von Königgrätz 1866 kam es zur Wiederannäherung des Hofes an die Magyaren Der daraus hervorgehende österreichisch-ungarische Ausgleich (1867) brachte die Annullierung der Gesetze des Hermannstädter Landtags Siebenbürgen verlor seine Autonomie und wurde Teilregion Ungarns Alle Bewohner, auch die Rumänen wurden, was 1848 heftig bekämpft worden war, „gleichberechtigte Mitglieder der ungarischen Nation “45 43 44 45
Ebenda, S 591 Vgl auch Johann Schneider: Der Hermannstädter Metropolit Andrei von Şaguna Köln, Weimar, Wien 2005 (Studia Transylvanica 32) Keith Hitchins: Die Rumänen (wie Anm 40), S 592 Ebenda, S 593
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c) Kampf gegen den Assimilationsdruck im ungarischen Nationalstaat: Bedingungen, Entstehung und Konsequenzen des Memorandums 1892 Das formal liberale Nationalitätengesetz (GA 44/1868), das in der Praxis mit zunehmender Dynamik von den ungarischen Regierungen konterkariert werden sollte, wurde auf der Konferenz von Reußmarkt (rum Miercurea Sibiului) durch die rumänischen Politiker Siebenbürgens im März 1869 scharf abgelehnt Die weltlichen Intellektuellen und das Bürgertum ersetzten die bisherige kirchlich-ethnische Repräsentanz und gründeten eine politische Partei Ihre Strategie des „Passivismus“, des Boykotts von Parlamentswahlen wurde weder von der traditionellen kirchlichen Elite noch den übrigen Rumänen in Ungarn geteilt Erst die sich ständig steigernden Magyarisierungsattacken auf die Minoritäten, die zu einer immer tiefer werdenden Kluft zwischen der namengebenden Ethnie der Ungarn (44 % der Bevölkerung) und der Bevölkerungsmehrheit der Minderheiten führten, brachten auch unter den Rumänen des sich aggressiv gebärdenden ungarischen Nationalstaats die politische Geschlossenheit 1881 wurde in Hermannstadt die Rumänische Nationalpartei [Partidul Naţional Român] gegründet Sie war die wichtigste rumänische politische Partei in Siebenbürgen und Ungarn (Banat, Kreischgebiet und Marmarosch) Das Parteiprogramm (gültig bis 1905) forderte die Rücknahme des Nationalitätengesetzes, die ungeschmälerte Autonomie Siebenbürgens, Respektierung der Kirchen- und Schulautonomie und erklärte die „Passivität“ zur Handlungsmaxime bei Parlamentswahlen Angesichts der systematischen Wahlbehinderung (höherer Steuerzensus, Unregelmäßigkeiten bei Wahlkreiseinteilungen, Korruption bei Wählerlistenaufstellung, Einschüchterung und Gewaltakte gegen Kandidaten) schien der Parteiführung in den 1880er Jahren der Passivismus das einzig redliche und wirkungsvolle Mittel des Protests Eine neue Taktik begann man in den 1890er Jahren Die rumänische Frage Ungarns wurde zu einer gesamteuropäischen Angelegenheit transformiert Auf dem Hintergrund des Geheimabkommens, das Rumänien mit dem Dreibund 1883 geschlossen hatte, war die siebenbürgische bzw rumänische Frage ein Problem, das die internationale Diplomatie bewegte, aber auch in Rumänien selbst über Erfolg bzw Misserfolg von Regierungen entschied bzw zu taktisch motivierten Strategiewechseln auf der Oppositionsbank führte 46 Die größte Verbreitung fand der Druck des Memorandums aus dem Jahre 1892 [Memorandul Românilor din Transilvania şi Ungaria cătră Maiestatea Sa Imperială şi Regală Apostolică Francesc Iosif I] Adressiert an den Kaiser beinhaltete es eine 46
Vgl dazu Gerald Volkmer: Die Siebenbürgische Frage (1878–1900) Der Einfluss der rumänischen Nationalbewegung auf die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich – Ungarn und Rumänien Köln, Weimar, Wien 2004, insbesondere S 264–272
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Zusammenstellung der rumänischen Beschwerden gegen die ungarische Regierung Darin stellte die Nationalpartei die Leidensgeschichte der Rumänen in Ungarn und die systematischen Unterdrückungsmaßnahmen der langen Reihe ungarischer Regierungen an den Pranger, insbesondere den Ausschluss von verfassungsmäßiger politischer Partizipation und die Restriktionen bezüglich der Benützung der rumänischen Sprache in Verwaltung und vor Gericht Die Hinwendung an die Person des Kaisers wurde mit dem völligen Vertrauensverlust der Rumänen in die ungarischen Verfassungsorgane begründet Das Memorandum forderte die Autonomie Siebenbürgens, die vor 1867 bestanden hatte In moderatem Ton und reich an Loyalitätserklärungen gegenüber dem Kaiser wurde die Aufhebung der magyarischen Dominanz im ungarischen Königreich gefordert Der Kaiser und König wurde gebeten, die Gleichberechtigung aller Nationalitäten mit einer Föderalisierung des Königreiches Ungarn auf ethnischer Grundlage zu verbinden und einen Bund der sechs in Ungarn lebenden Völker zu schließen Die Korrektur des in Siebenbürgen geltenden restriktiven Wahlrechts sowie die Anwendung des eigentlich „mangelhaften“ Nationalitätengesetzes von 1868 und die Achtung der kirchlichen Autonomie, insbesondere im Schulwesen wurde gefordert Außerdem sollte die Aufmerksamkeit des Herrschers auf missbräuchliche Presseprozesse gegen ausschließlich nicht-magyarische Zeitungen sowie auf die Aktivitäten der magyarischen Bildungsvereine gelenkt werden Man appellierte an Franz Joseph, den Dualismus aufzukündigen, um mit der Etablierung einer neuen Verfassungsstruktur den sich aggressiv intensivierenden magyarischen Herrschaftsanspruch zu stoppen Am 28 Mai 1892 sollte das Memorandum an den Kaiser und König überreicht werden, doch bereits am 23 Mai 1892 ersuchte der ungarische Ministerpräsident, Gyula Graf Szapáry (1832–1905, MP 1890–1892), den Monarchen, die in der ungarischen Presse als „staatsfeindlich“ apostrophierte Denkschrift nicht entgegenzunehmen Seiner Auffassung nach repräsentierten die Autoren eine Minderheit der Siebenbürger Rumänen, die im Dienste der Panslawisten und rumänischen Irredentisten stehe 47 Weder das Memorandum noch eine von studentischen Autoren Wochen zuvor veröffentlichte Replică erreichten den Monarchen Letztere wurde konfisziert, das Memorandum wurde am 1 Juni 1892 in der Kabinettskanzlei in Wien übergeben, von hier ungeöffnet nach Budapest geschickt und von dort dem Präsidenten der Rumänischen Nationalpartei ebenfalls ungeöffnet zurückgestellt 48 Nicht so sehr der Inhalt bewegte die europäische Öffentlichkeit als vielmehr die im Anschluss daran durchgeführten Prozesse 1893 und 1894 gegen die Verfasser beider Schriften, die wegen der Verletzung des Pressegesetzes zu zum Teil mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden Dies rief diplomatisch wie publizistisch sowohl Solidarisierungen mit der rumänischen
47 48
Gerald Volkmer: Frage (wie Anm 46), S 233 f Ebenda, S 235
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Nationalbewegung als auch Unverständnis gegenüber Ungarn hervor Innenpolitisch führten die Prozesse zu einer Allianz von Rumänen, Slowaken und Serben, die formell beim so genannten Nationalitätenkongress im August 1895 in Budapest initiiert wurde Wenngleich sie letztlich ergebnislos blieb, stellte diese Allianz doch einen Wendepunkt in der rumänischen sowie in der Minderheitenstrategie überhaupt dar Denn die bislang internalisierte Panslawismus-Furcht von Rumänen und Ungarn war für die rumänischen Politiker bislang immer das entscheidende Motiv gewesen, auf eine „natürliche“ Allianz von Ungarn und Rumänen zu setzen Nun wurde dieses Stereotyp aufgegeben zugunsten einer gemeinsamen Aktivität der bislang in bewusst separierte, auf die Verwirklichung je eigener Nationalkonzeptionen ausgerichteten Minderheiten in Gesamtungarn Eine jüngere Generation von Juristen und Journalisten gab um die Jahrhundertwende der Rumänischen Nationalpartei einen dynamischeren Stil Mit dem Parteiprogramm von 1905, auf das der Senator Dr Adolf Schullerus später Bezug nehmen sollte, wurden der Passivismus sowie die Forderungen nach Autonomie Siebenbürgens bzw nach Einhaltung des Nationalitätengesetzes für obsolet erklärt Man forderte völlige politische und kulturelle Autonomie für die rumänische Nation 49 Die angebahnte Allianz zwischen den slawischen Ethnien und der rumänischen Minderheit machte einer der Theoretiker, nämlich Aurel C Popovici (1863–1917), zum Thema einer einflussreichen Publikation Unter dem Titel „Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich“50, das auch im Umfeld des Thronfolgers Franz Ferdinand – dem Belvedere-Kreis – aufmerksam wahrgenommen wurde, unterstrich er die geschichtliche Funktion und Bedeutung der Habsburger-Monarchie Sie sei eine historische Notwendigkeit, die dazu bestimmt sei, die kleinen ost- und südosteuropäischen Nationen gegenüber Russland und Deutschland zu schützen und zu verteidigen Der föderale Aufbau der Monarchie sei der einzige Weg, ihr die dafür benötigte Stärke und innere Stabilität zu geben 51 Das Autonomie-Programm blieb trotz aller Krisen der Innenpolitik das Ziel, auch nach dem vorübergehenden, aber mit Hilfe deutscher Truppen zurückgeschlagenen Einmarsch rumänischer Truppen 1916; erstaunlicherweise war die Reaktion der siebenbürgischen Rumänen auf den militärischen Vorstoß wenig enthusiastisch ausgefallen 52 Erst der drohende Zerfall der Habsburgermonarchie im Oktober 1918 brachte die ungarische Offerte: Autonomie der Regionen nach Schweizer Vorbild Da war es bereits zu spät Der rumänische Nationalrat berief auf den 1 Dezember 1918 eine Nationalversammlung nach Alba Iulia (dt Karlsburg, ung Gyulafehérvár) ein Die 100 000 dort Versammelten stimmten mit überwältigender Mehrheit für die Vereinigung Sie-
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Hitchins, Rumänen (wie Anm 40), S 601 Aurel C Popovici: Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich Leipzig 1906 Hitchins: Rumänen (wie Anm 40), S 614 f Zum Gesamtkontext Harald Heppner (Hg ): Umbruch mit Schlachtenlärm Siebenbürgen und der Erste Weltkrieg Köln, Weimar, Wien 2017 (Siebenbürgisches Archiv 44)
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benbürgens mit dem Königreich Rumänien und bekundeten den Willen, minderheitenfreundliche Maximen zu beachten 53 Zwischen-Fazit: Die theoretische Begründung eines Nationalbewusstseins der Rumänen wurde insbesondere durch katholische Geistliche im Kontext der deutschen Aufklärung geliefert Sie bezog sich auf die „Nation“ als Sprachgemeinschaft vor dem Hintergrund der dako-rumänischen Kontinuitätstheorie als legitimierendem Geschichtsmythos Dadurch bildeten die Konfessionsgrenzen unter ethnischem Gesichtspunkt keine Barrieren Unter Einbeziehung von Elementen des deutschen Idealismus wurde die Nationalismustheorie entwickelt und das Selbstbild unter dem Druck der politischen Verhältnisse, die eine politische Partizipation der Rumänen ausschlossen, weiter entwickelt Nach der Frustration über die gestohlenen Früchte der Revolution von 1848/49 gelang es zwischen 1860–1867, die politische Anerkennung und Partizipation auf dem Hermannstädter Landtag zu erreichen, doch wurden mit der Einführung des Österreichisch-ungarischen Dualismus durch den Ausgleich von 1867 die Errungenschaften annulliert Die Forderungen der Rumänen nach Abschaffung des Nationalitätengesetzes und Wiederherstellung des status quo vor 1867 scheiterten Die endgültige, landesweite Gründung der Rumänischen Nationalpartei 1881 verstärkte zwar die Pressionen durch den sog Passivismus, doch erreichte die Rumänische/Siebenbürgische Frage erst auf Grund der Memorandumsbewegung von 1892, insbesondere durch die europaweite Aufmerksamkeit, die die nachfolgenden Presseprozesse erregten, die lange ersehnte publizistische und diplomatische Beachtung Das war ein moralischer Gewinn, brachte aber faktisch keine Änderung hinsichtlich der Marginalisierung der Nationalitäten durch den aggressiven magyarischen Assimilationsdruck Ergänzt wurde die politische Programmatik durch den Vorschlag einer Föderalisierung der Verfassung und der Aufhebung des österreichisch-ungarischen Dualismus’ Ab 1895 versuchten die rumänischen Minderheitenpolitiker mit den Vertretern der slawischen Minderheiten eine Allianz aufzubauen; nach 1905 wurde der Passivismus aufgegeben und eine Föderalisierung von „Groß-Österreich“ unter Aufhebung des Dualismus propagiert Erst als es zu spät war, angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie im Herbst 1918, brachte man von Regierungsseite das Schweizer Modell in die Diskussion Doch da hatten sich die Nationalitäten Ungarns schon auf die Forderung nach voller Souveränität ausgerichtet
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Ulrich A Wien: Die Evangelische Landeskirche A B in Siebenbürgen vor den Herausforderungen des vereinigten Rumäniens nach 1918 In: N Chifar und Aurel Pavel (Hg): Teologi ardeleni și Marea Unire, Sibiu 2019, S 43–71
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III. Wahrnehmung ethnischer Minderheiten in Großrumänien als Gefährdungspotential An die Stelle der 1918 zusammengebrochenen pluriethnischen Habsburgermonarchie traten Nationalstaaten, die jedoch ethnisch gesehen keinesfalls homogen waren Mit zwei winzigen Ausnahmen wurden die Bevölkerungen nicht gefragt, es gab keine Selbstbestimmung, sondern ein Diktat der Sieger über die Verlierer Der eigentliche Verlierer, Ungarn, musste an die umliegenden Staaten Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien zwei Drittel seines Staatsgebietes und 60 % der Bevölkerung abgeben 54 „Die neuen Staatsvölker wollten im Sinne ihrer Nationalstaatsidee das Vorhandensein ethnisch heterogener Bevölkerungsteile innerhalb ihrer Staaten so wenig wie möglich zur Kenntnis nehmen, zumal sie diese Bevölkerungsteile als Gefährdung der Souveränität und Integrität ihrer Staatenbildung empfanden Dies gilt besonders für den Fall der magyarischen Minderheit, deren Siedlungsgebiet sich vorwiegend entlang der Grenzen zu ihrem Mutterland erstreckte Daher strebten diese Staaten und ihre Regierungen danach, alle Minderheiten von Belang so weit wie möglich von jeder politischen Partizipation auszuschließen, ihr kulturelles Leben etwa im Schulbereich zu behindern und einzuschränken, ihre ökonomische Basis in Form von Bodenbesitz mittels Enteignungsmaßnahmen im Rahmen einer überall nach 1918 durchgeführten Bodenreform wesentlich zu schwächen und im öffentlichen Leben die Minderheiten zu diskriminieren und etwa durch Maßnahmen in Richtung Zwangsassimilation einzuschüchtern “55
Im Unterschied zur deutschen Minderheit wurde die magyarische Grenzminorität von den drei Nachfolgestaaten seit 1919 als Gefahr der neugewonnenen territorialen Integrität betrachtet und vielfach diskriminiert „Diese in der Zwischenkriegszeit konstant gebliebene Haltung der neuen Gastgesellschaften forderte zu einer primären Gruppenbildung seitens der Magyaren insofern geradezu heraus, als diese darauf angewiesen waren, alle sozialen Bedürfnisse gruppenintern zu befriedigen Ihr Streben nach Bildung einer strukturell möglichst entwickelten und differenzierten Subgesellschaft verband sich mit strenger sozialer Kontrolle nach innen und kollektiv geschlossenem Auftreten nach außen “56 Psychologisch waren alle Beteiligten herausgefordert, einerseits die annähernd 30 % ethnischen Minderheiten, „von denen viele aufgrund Jahrhunderte alter imperialer Traditionen politisch und gesellschaftlich über den Rumänen gestanden hatten und sich mit ihrer Rolle als Minderheit nur mühsam oder
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Gerhard Seewann: Ungarische und deutsche Minderheiten im Donau-Karpatenbecken 1918–1980: Ein typologischer Vergleich ihrer Entwicklung In: Aspekte ethnischer Identität Ergebnisse eines Forschungsprojekts „Deutsche und Magyaren als nationale Minderheiten im Donauraum“, hg von Edgar Hösch und Gerhard Seewann München 1991, S 395–409, hier: 395 f Ebenda, S 396 Ebenda, S 399
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gar nicht abfanden“, andererseits auch die Staatsnation der Rumänen, deren „Minderwertigkeitsgefühle und die Unsicherheit, ob Rumänien als Nachfolgestaat großer Imperien wirklich Bestand haben würde, den rumänischen Nationalismus befeuerten “57 In Rumänien erhielten nationalistische Parteien in der Zwischenkriegszeit hohe Zustimmungswerte Der Ministerpräsident der Liberalen Ion I C Brătianu (1864–1927) trat im Herbst 1919 aus Protest gegen den unter äußerem Druck abzuschließenden Minderheitenschutzvertrag zurück, in dem unter anderem die politische Emanzipation der Juden explizit formuliert war Innenpolitisch schien das nicht vermittelbar 58 Antisemitismus hatte schon in Altrumänien die Parteien von A C Cuza (1857–1947) und N Iorga (1871–1940) geprägt Das politisch relevante „Aufkommen einer nationalistischen extremen Rechten ist vor dem Hintergrund dieser starken Stimmungsgegensätze, einer emotional ungewöhnlich aufgeladenen gesellschaftlichen Atmosphäre zu sehen, in der sozialpolitischer und nationaler Aufbruch in eine moderne Massengesellschaft mit ausgeprägten Verlustängsten zusammen prallte “59 Vor diesem Hintergrund wurde die LANC (Liga apărarii nationale creştine, Liga der national-christlichen Verteidigung) am 4 März 1923 in einer feierlichen Zeremonie mit Fahnenweihe in der Metropolie von Iaşi gegründet Deren Gefolgschaft schwur Treue der „Heiligen Kirche Jesu Christi“, dem König und dem „Banner … mit dem Zeichen des Hakenkreuzes, Symbol unserer uralten Existenz“ „Die LANC war programmatisch von A C Cuza, organisatorisch von Codreanu Vater und Sohn geprägt“ und gab die Losung aus: „Christus-König-Nation – Rumänien den Rumänen“ mit der zentralen ideologischen Maxime des „Antisemitismus der Tat“ 60 In der Zwischenkriegszeit gewann schließlich ein mystisch-charismatischer, radikal-antisemitischer Nationalist, Studentenführer, der sich als dritter faschistischer Massenführer Europas neben Hitler und Mussolini verstehende Gründer der Legion des Erzengels Michael (Legiunea Arhanghel Mihail)61, der Eisernen Garde (Garda de Fier)62 sowie dem Partidul „Totul pentru Ţara“ (Alles für das Land)63, Corneliu Zelea Codreanu, so
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Oliver Jens Schmitt: Căpitan Codreanu Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers Wien 2016, S 18 Ebenda, S 70 Ebenda, S 19 Ebenda, S 68 f Gründung am 24 Juni 1927 als „Orden und Regiment“ mit einem Netzwerk von „Nestern“ im ländlichen Raum auf der Basis der Unterstützung von Mönchen und Nonnen mit Schwerpunkt in den Klöstern Văratec und Agapia; ebenda, S 102–108 Gründung am Palmsonntag 1930; ebenda, S 114 Dabei ging es ihm nicht nur um einen palingenetischen Nationalismus, sondern auch um ein transzendentes Heilsversprechen Codreanu betrachtete sich – was durchaus als Novum gewertet werden kann – als Teil der Kirche, aber eben als Führer einer kämpfenden Glaubenselite, einer militanten Glaubensgemeinschaft innerhalb der Orthodoxie, deren Hierarchen ihn zunächst gewähren ließen, um ihn schließlich zu bekämpfen; ebenda S 214 Gründung im Februar 1935; ebenda, S 159
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viel Einfluss und Zustimmung, dass der schließlich in einer Königsdiktatur seit 1938 autoritär regierende König Carol II (1893–1953, reg 1930–1940) nach anfänglichen Instrumentalisierungsversuchen Codreanus diesen als Konkurrenten beseitigen ließ 64 Dessen Adepten regierten nach dem Sturz des Königs Carol II in einem legionärfaschistischen Regime kurzzeitig von September 1940 bis Januar 1941 mit „Conducatorul“ Ion Antonescu Des beschränkten Umfangs wegen werden die während des Zweiten Weltkriegs eingetretenen zahlreichen Veränderungen übersprungen Für die letzten 75 Jahre seit 1945 sind zwei wichtige Faktoren hervorzuheben: Als Kontinuität, die Perioden miteinander verbindet, ist die Nationalitätenfrage geblieben und erweist sich – was die ungarische Minderheit betrifft (und freilich nicht nur diese) – als noch immer weitgehend ungelöst Wesentlich ist aber die Tatsache, dass Ungarn und dessen Regierungen seit 1945 jedoch jeglichen Gedanken an Grenzrevisionen konsequent ablehnten 65 „Eine nachhaltige Veränderung im Verhältnis zwischen Magyaren und Rumänen trat allerdings mit der Loslösung vom Modell der Sowjetisierung im Zuge des 1956 eingeleiteten Entstalinisierungsprozesses ein Dieser Prozess förderte langfristig die Rückbesinnung auf nationale Werte und Besonderheiten und in Grenzen damit auch eine Nationalisierung des gesamten öffentlichen Lebens Stärker als in der Slowakei für die Zeit nach 1968 hat dieser Prozess in Rumänien schon ab Ende der 50er Jahre zur erneuten Hinwendung zum Topos der Nation, ja zu seiner beinahe vollkommenen Rehabilitierung als Legitimationsgrundlage politischer Herrschaft und politischen Handelns auch unter den neugeschaffenen Bedingungen des Sozialismus geführt Damals wurde in Rumänien das programmatische Schlagwort von der nationalen Homogenisierung des Landes geboren, das der neostalinistische Diktator Ceauşescu rund ein Jahrzehnt später nach Vollendung seiner „Kulturrevolution“ seit Beginn der 70er Jahre in die tagtägliche politische Praxis umsetzte, die von Jahr zu Jahr in immer offenere Verfolgung der ungarischen Minderheit umschlug, mit immer wieder neuen Superlativen repressiver Brutalität, die ihm von Seiten Budapests zur Jahreswende 1977/78 den offen ausgesprochenen Vorwurf des Ethnocids eingetragen hat “66
64 65 66
Schmitt: Căpitan Codreanu, S 253–278 Seewann: Minderheiten (wie Anm 54), S 399 Ebenda, S 405
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Ulrich A Wien
IV. Umgang mit Minderheiten in Rumänien in der Gegenwart – am Beispiel des neuen Kultusgesetzes 2006/2007. a) Das religiöse Spektrum in der Gesellschaft Rumäniens – unvollendete Gleichberechtigung Trotz der angestrengten Versuche der Ceauşescu-Diktatur, den Faktor „Religion“ zu eliminieren oder zumindest gesellschaftlich zu minimieren67, ist dieses Ziel verfehlt worden Während die Kirchen gegenwärtig höchstes Vertrauen genießen, tendiert die Anzahl erklärter Atheisten gegen null (0,03 %) 68 Die Ergebnisse der Volkszählung 2002 sind signifikant: Unter den Rumänen gehören 94,1 % zur Orthodoxen Kirche, das sind 86,8 % der Gesamtbevölkerung, immerhin mit 19,4 Millionen Gläubigen die weltweit zweitgrößte orthodoxe Kirche 192 000 (0,9 %) haben sich zur 1948 verbotenen, seit 1990 erneut staatlich anerkannten Griechisch-Katholischen Kirche bekannt Die Römisch-katholische Kirche zählt gut 1 Mio Mitglieder (4,7 %) Diese gehören vorwiegend der magyarischen ethnischen Minderheit (6,6 % der Gesamtbevölkerung / 1,5 Mio Personen), daneben auch der deutschen, den Banater Schwaben, an Auch zur magyarischen Minderheit zählen die Reformierten (3,2 %), die Lutheraner (27 000; 0,1 %) sowie die seit der 2 Hälfte des 16 Jahrhunderts bestehenden antitrinitarischen Unitarier mit gegenwärtig knapp 70 000 Mitgliedern Die zur Evangelischen Kirche A B in Rumänien gehörenden Gemeindeglieder (meist Siebenbürger Sachsen) zählen 11 000 Seelen Zur mosaischen Religion gehören etwa 6 000, als Muslime haben sich knapp 70 000 (0,3 %) bekannt
67
68
Ulrich A Wien: Religionsfreiheit im Sozialismus – am Beispiel Rumänien In: Kirche und Sozialismus in Osteuropa, hg von Jana Osterkamp und Renate Schulze Wien 2007, S 71–125; ND in Ulrich A Wien: Resonanz und Widerspruch Von der siebenbürgischen Diaspora-Volkskirche zur Diaspora in Rumänien Erlangen 2014, S 495–547 Zum folgenden Abschnitt vgl die Literaturauswahl: Gerhard Robbers: Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in Europa In: Nifon Mihăiţa: Kirche-Staat-Gesellschaft Biserică-Stat-Societate Dokumentation einer Konferenz (=Academia 1) Bucureşti 2005, S 42–51; ders (Hg ): Staat und Kirche in der Europäischen Union Baden-Baden 22006 Hans Jürgen Luibl, Christine-Ruth Müller, Helmut Zeddies (Hg ): Unterwegs nach Europa Perspektiven evangelischer Kirchen, Frankfurt/M 2001 Janós Molnár: Reformierte Kirche in Rumänien In: G2W 29 (2001) 7–8, S 18 f Dieter Brandes (Hg ): Versöhnungsprojekt „Healing of memories“ – Dialog über die gemeinsame Geschichte der christlichen Kirchen in Rumänien (= epd- Dokumentation Nr 40) Frankfurt/M 2005 Berthold W Köber: Das Recht der Religionsgemeinschaften in Rumänien In: Wolfgang Lienemann, Hans-Richard Reuter (Hg ): Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Baden-Baden 2005, S 355–392 Gewissen und Freiheit 61/2005 Lavinia Stan / Lucian Turcescu: Religious education in Romania In: Communist and Post-Communist Studies 38 (2005/3), S 381–401 Karl W Schwarz: Religion und Kirchen in Rumänien Ein Überblick In: Thede Kahl, Michael Metzeltin, Mihai-Razvan Ungureanu (Hg ): Rumänien Münster, Wien 2006, S 581–599
Entwicklung von Nationalbewusstsein und ethnischer Identität in Südosteuropa
Recensământ 2002 / Volkszählung 200269 Tab. 1 4 Populaţia după etnie / Bevölkerung nach Ethnie Rumänien
in Prozent %
Total/Gesamt
21.698.181
100,0
Rumänen
19.409.400
89,5
1.434.377
6,6
Ungarn Roma/Zigeuner
535.250
2,5
Deutsche
60.088
0,3
Ukrainer
61.091
0,3
Serben
22.518
0,1
Türken
32.596
0,2
Tataren
24.137
0,1
Slowaken
17.199
0,1
5.870
*
36.397
0,2
Juden Russische Lipovaner
Auszugstabelle: Rumänen
89,5
Ungarn
6,6
Roma/Zigeuner
2,5
Deutsche
0,3
Andere
1,1
69
Institut Nationale de Statistica/Recensamant 2002 (www recensamant ro; vom 21 03 2007)
167
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Ulrich A Wien
Tab. 2 6 Populaţia după Religie la recensământul din 2002 / Bevölkerung nach Religionszugehörigkeit gemäß Volkszählung von 2002 Total/Gesamt
Rumänien
in Prozent %
Gesamte Wohnbevölkerung
21.698.181
100
Orthodoxe
18.806.428
86,7
1.028.401
4,7
Griechisch-Katholisch
195.481
0,9
Reformierte
Römisch-Katholisch
698.550
3,2
Evangelisch A. B. (deutschsprachig)
11.203
0,1
Evangelisch-lutherisch (ungarisch-sprachig)
26.194
0,1
Unitarier
66.846
0,3
Armenier
775
Christen alter Ritus
*
39.485
0,2
Baptisten
129.937
0,6
Pfingstler
330.486
1,5
Adventisten
97.041
0,4
Evangeliumschristen
46.629
0,2
Evangelisch (rumänisch)
18.758
0,1
Muslime
67.566
0,3
Mosaisch
6.179
*
andere
87.225
0,4
ohne
13.834
0,1
Atheisten Nichtdeklarierte
9.271
*
18.492
0,1
Auszugstabelle: Orthodoxe
86,7
Römisch-Katholisch
4,7
Griechisch-Katholisch
0,9
Reformierte
3,2
Evangelisch-lutherisch (ungarisch-sprachig)
0,1
Ev. A. B.
0,1
Unitarier
0,3
Neoprotestanten
2,8
Muslime
0,4
andere
0,8
Entwicklung von Nationalbewusstsein und ethnischer Identität in Südosteuropa
169
Konflikte bestehen zwischen der Griechisch-katholischen und der Rumänisch-orthodoxen Kirche, weil – außer im Banat – die Restitutionsforderungen der Griechisch-katholischen Kirche bislang weitgehend abschlägig beschieden wurden und das Klima dadurch nachhaltig beeinträchtigt ist, wie dies beispielsweise am 20 Januar 2007 Papst Benedikt XVI gegenüber dem neuen Botschafter Rumäniens im Vatikan zum Ausdruck gebracht hat 70 Die magyarische Minderheit, die in der Region um Kolozsvár (dt Klausenburg, rum Cluj) etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausmacht, kritisiert unter anderem auch die für die Identität und Pflege der kulturellen Tradition nachteiligen Beschränkungen im Bildungsbereich Der Religionssoziologe Laurenţiu D Tănase71 kommt zu dem Schluss, es habe nach 1989 in Rumänien geradezu eine „Explosion der Religiosität“ gegeben Gegenwärtig hätten verschiedene Ursachen die Diversifikation des religiösen Spektrums unterstützt Zu beobachten seien neue religiöse Bewegungen mit christlich-evangelikaler Ausrichtung (in der freikirchlich-charismatischen Szene), orientalischer oder „nebulos mystisch-esoterischer“ Orientierung sowie außerdem noch dissidenter orthodoxer Richtung Diese religiösen Sondergruppen und Freikirchen haben in Vergangenheit und Gegenwart eine gemeinsame Phalanx gegen die von der Orthodoxen Kirche betriebene restriktive Kultuspolitik gebildet, die faktisch an der Stellung der Orthodoxen Kirche als „dominierender“ Kirche (Verfassung 1923) festzuhalten bestrebt war Formal hat das neue Kultusgesetz diese Absicht, die Privilegien der Zwischenkriegszeit wieder aufleben zu lassen, nicht berücksichtigt Dennoch sind Elemente dieser restriktiven religionspolitischen Ordnungsvorstellung abgeschwächt in das Kultusge-
70 71
Vgl dazu Ansprache von Benedikt XVI an den neuen Botschafter Rumäniens beim Heiligen Stuhl, Marius Gabriel Lazurea; Samstag, 20 Januar 2007 In: http://www vatican va/holy_father/ benedict_xvi/speaches/2007/January/documents/ (Recherche vom 16 3 2007) Laurenţiu D Tănase: Die inneren und äußeren Ursachen, welche die Ausbreitung von Kulten/ Sekten und neuen religiösen Bewegungen in Rumänien nach 1989 unterstützen In: http://griess st1 at/gsk/fecris
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Ulrich A Wien
setz 2006 eingegangen – im Hinblick auf ein Mindestquorum und die Wirkungsdauer anlässlich der Prozedur staatlicher Anerkennung einer Religionsgemeinschaft Trotz prinzipieller Zustimmung hat das Presseamt der Katholischen Bischofskonferenzen in einer Presseerklärung den Gesetzestext als verbesserungswürdig bezeichnet Hervorgehoben wird die prinzipielle Gleichstellung der Kulte, sie fügt aber hinzu: „Wir sind aber mit der Griechisch-Katholischen Kirche solidarisch, die den Gesetzentwurf nicht unterzeichnete, da die Situation der konfiszierten Immobilien und die heiklen Probleme der Friedhöfe nicht gelöst wurden “72 Gewisse Vorsicht drückt auch die diesbezügliche Stellungnahme des Vertreters des Landeskonsistoriums der Evangelischen Landeskirche A B in Rumänien, des Hermannstädter Hauptanwalts Friedrich Gunesch aus: „Wünschenswert bleibt zum Schluss, dass das Gesetz gut und korrekt angewendet wird und dass keine kollateralen Gesetze oder Durchführungsbestimmungen dem Buchstaben und dem Geist des neuen Kultusgesetzes zuwiderlaufen oder das Gesetz sogar aushöhlen “73 Insofern bleibt abzuwarten, ob es der Regierung und den staatlichen Behörden gelingt, eine problemlos funktionierende Gleichberechtigung im Sinne des Gesetzes zu verwirklichen oder ob faktisch die Religionspolitik bestimmt wird von der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, die „den Schritt zu einem echten Pluralismus gleichberechtigter Kirchen oder Religionsgemeinschaften noch nicht gesetzt hat “74 b) Das Kultusgesetz 2006 Der Transformationsprozess nach dem politischen Umbruch im Dezember 1989 ist noch in vollem Gange Da Angehörige der alten Eliten auch während der vergangenen fast drei Jahrzehnte sowohl innerhalb wie außerhalb der Regierungen weiter aktiv waren, hat sich der politische und ökonomische Wandel zögerlich vollzogen Nach der extremen gesellschaftlichen Immobilität der 1980er Jahre war dies wenig verwunderlich Eine ökonomische Trendwende konnte erst gegen Ende der 1990er Jahre Platz greifen, und im Anschluss-Prozess an die Europäische Union ist trotz intensiver Bemühungen die Aufholjagd gegenüber den anderen früheren Ostblockstaaten nur in großem Abstand erfolgt Auf Grund der Wirtschaftskrise 2008–2012, die sehr tiefe Spuren in Rumänien hinterlassen hat, ist der Abstand zu Westeuropa (vor allem in ländlichen Regionen) weiterhin hoch Obwohl Tendenzen schon seit Beginn der 1990er Jahre erkennbar waren, dass aus Westeuropa bekannte Phänomene der Risiko- und Multioptionsgesellschaft auch die Gesellschaft in Rumänien zunehmend kennzeichnen,
72 73 74
Ich danke László Holló für die Auskunft am 15 März 2007 Friedrich Gunesch: Das Verhältnis von Staat und Kirche im Lichte des neuen Kultusgesetzes In: Landeskirchliche Informationen 18 (2007)/4 vom 28 Februar 2007, S 5 Karl W Schwarz „Heilendes Erinnern“ Ein Dialog über die Geschichte der christlichen Kirchen in Rumänien In: biblos 56/1 (2007), S 125–142, hier: 139
Entwicklung von Nationalbewusstsein und ethnischer Identität in Südosteuropa
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blockieren doch eklatante Ungleichzeitigkeiten und auch disparate Gesellschaftsvorstellungen eine raschere Transformation Nicht zuletzt diese retardierenden Momente haben in den 1990er Jahren zu einem Brain-drain von ca 1,2 Mio Abwanderern aus Rumänien geführt Zur Jahrtausendwende bestand bei 80 % der jungen Generation ein Auswanderungswunsch Der osmotische Druck auf das Neumitglied in der EU – so hofften es viele – werde die nötigen Änderungen mit der Kraft des Faktischen erzwingen Inzwischen leben aktuell bis zu 4 Millionen Menschen aus Rumänien in der Diaspora mit erheblichen sozialen und ökonomischen Konsequenzen für Staat und Zivilgesellschaft in Rumänien (bis hin zu Migrationswaisen und politisch regressivem Wahlverhalten 2016) Signifikant für die genannten Koordinaten ist auch die Genese des Kultusgesetzes vom Jahresende 2006 Nach fünf Anläufen in 16 Jahren, Enttäuschungen und jahrelangen Unterbrechungen wurde die schließlich erfolgreiche Gesetzesinitiative im Februar 2006 in die Abgeordnetenkammer eingebracht, im Juli 2006 im Senat beraten und am 13 Dezember 2006 in der Abgeordnetenkammer abschließend debattiert und beschlossen 75 Präsident Băsescu hat das Gesetz am 28 Dezember 2006 unterzeichnet Mit der Veröffentlichung im Gesetzesanzeiger (Monitorul Oficial, Partea I, nr 11) am 8 Januar 2007 ist es in Kraft getreten 76 Das neue Kultusgesetz ersetzte endlich das alte aus dem Jahre 1948; damit war Rumänien das letzte Land des früheren Ostblocks, das seine diesbezügliche Vergangenheit entrümpelte Das Kultusgesetz berücksichtigt die Verfassung Rumäniens (8 Dez 1991, novelliert am 29 Oktober 2003) Darin sind das Rechtsstaatlichkeitsprinzip, Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gerechtigkeit und politischer Pluralismus (Art 1) garantiert Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit (Art 29 und 30) werden zugesichert Außerdem wird für die Minderheiten das Recht proklamiert, ohne Diskriminierung ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität zu bewahren Das Kultusgesetz ist nach langem Ringen entstanden, in dem vor allem die Rumänische Orthodoxe Kirche versucht hatte, ihre Vorstellung als Nationalkirche und den Vorrang-Anspruch vor den anderen Religionsgesellschaften, in Rumänien traditionell „Culte“ genannt, durchzusetzen Der 1992 erzielte Kompromiss, der diesen Zielkorridor der ROK vermieden hatte, war nachträglich von der ROK nicht mehr mitgetragen worden Deren Prämissen, die in einem Entwurf 1999 enthalten waren, sind zwar auch 2006 erneut in die Debatte eingebracht worden, eine Verankerung im Gesetz ist aber nicht gelungen Bei der Frage nach dem Nationalbewusstsein und ethnischer Identität sollen an dieser Stelle nur vier Aspekte aus Kapitel II des Gesetzes benannt werden: 75 76
Şedinţa Camerei Deputaţilor din 13 decembrie 2006 (http://www cdep ro/pls/steno/steno steno grama?ids= 6212&idm=10&idl=1&prn=1) [Recherche vom 12 März 2007] Legea nr 489/2006 privind libertatea religioasă şi regimul general al cultelor [pdf-Datei im Internet]
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In Kapitel II (Artikel 7–39), das in fünf Abschnitte untergliedert ist, wird der Rechtsrahmen für die „culte“ beschrieben Der Abschnitt 1 behandelt das Verhältnis zwischen Staat und Kulten (Art 7–16), ausgehend von der Anerkennung der geistlichen, erzieherischen, sozial-diakonischen und kulturellen Funktion der Kulte im Sinne einer Sozialpartnerschaft und als positiver Faktor für den sozialen Frieden (7,1) Namentlich hervorgehoben, aber grammatisch gleichwertig mit den anderen Kulten behandelt wird die wichtige Rolle (rolul important) der Rumänisch Orthodoxen Kirche benannt (7,2) a) Die Autonomie der Kulte wird anerkannt, sie sind juristische Personen mit Gemeinnützigkeit (persoane juridice de utilitate publică, 8,1), aber keine Körperschaften des öffentlichen Rechts; es herrscht keine Staatsreligion, sondern Neutralität gegenüber jeglicher Religion oder atheistischer Ideologie (9,1) Das zwischenkonfessionelle und interreligiöse Verhältnis muss von gegenseitigem Respekt geprägt sein; verboten sind religiöse Hetze oder öffentliche Herabwürdigung religiöser Symbole Behinderung der religiösen Praxis wird bestraft (Art 13) Hier hat die Orthodoxe Kirche sich auf den letzten Metern noch durchgesetzt; es ist die Frage, ob hier eine Verbindung mit dem Nationalismus in der Praxis entsprechend berücksichtigt werden wird Abschnitt 2 (Art 17–22) des Kapitels II regelt die Anerkennung als Kult (Erwerb der Rechtspersönlichkeit) Diese wird auf Vorschlag des Ministers für Kultur und Kulte durch Regierungsbeschluss erteilt, wenn religiöse Vereine durch ihre Aktivität und die Mitgliederzahl eine Garantie für Dauerhaftigkeit, Stabilität und öffentliches Interesse bieten Dabei gilt für alle Formen religiöser Vergemeinschaftung die Schrankenformel der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1958, dass weder die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit und Moral noch grundlegende Menschenrechte und -freiheiten gefährdet werden dürfen (Art 17,1 2) Dem Antrag auf Anerkennung als Kult müssen der Nachweis mindestens 12jähriger Wirksamkeit, eine Mindest-Mitgliederzahl in Höhe von 0,1 % der Bevölkerung (ca 21 600) sowie Glaubensbekenntnis, Name, Verfassung und andere organisatorische Regelungen beigefügt werden (Art 18) Binnen 60 Tagen muss bei korrekt vorliegenden Unterlagen über den Antrag entschieden werden (Art 19 und 20) Einem Kult kann die staatliche Anerkennung aufgrund von Verstößen gegen die Schrankenformel entzogen werden (Art 21) Gerade dieser Abschnitt richtet sich gegen die vielfältigen neuen religiösen Sondergruppen – vornehmlich neoprotestantischer Couleur –, die eine Bresche schlagen in die postulierte und unterstellte Einheit von rumänischer Orthodoxie und Nation Abschnitt 4 (Art 27–31) enthält die Zusicherung eigenen Besitzes, und Abschnitt 5 (Art 32–39) regelt den Unterricht der Kulte Dabei wird Religionsunterricht an Schu-
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len nur den anerkannten Kulten zugesichert (Art 32,1) 77 Entwicklung von Lehrplänen und Studieninhalten, sowie Anstellung von Lehrpersonal gehören zu den res mixtae; Hochschulen für die Ausbildung von Kultpersonal sind gestattet Allerdings hat sich der Staat geweigert, finanziellen Ersatz an kirchliche Privatschulen zu leisten, was ein kirchliches, allgemeinbildendes Schulwesen praktisch unmöglich macht Insbesondere die letzte Bestimmung erinnert fatal an die Praxis der Schulgesetzgebung und Behandlung der Minderheitenschulen in kirchlicher Trägerschaft während der Zwischenkriegszeit im 20 Jahrhundert Hier wird systematisch darauf abgezielt, die Minoritäten der Möglichkeit eines flächendeckenden Schulwesens zu berauben Insbesondere bei der argwöhnisch durch reziproke Stereotype-Anwendung beobachteten magyarischen Minderheit führt dies zu eklatanten Nachteilen V Fazit Der rumänische Nationalismus gebärdete sich nach Vollendung der staatlichen Souveränität gegenläufig zu der historischen Weltanschauungstradition der vormaligen rumänischen Minderheit Insbesondere im Verlauf des 20 Jahrhunderts wurden die Minderheiten differenziert nach analysiertem Gefährdungspotential diskriminiert Schließlich überbot der Nationalkommunismus das bisherige Szenario durch Pläne, die geschlossenen Siedlungsgebiete der „mitwohnenden Nationalitäten“ zu systematisieren, also aufzulösen Mit dem langsamen politischen Wandel in Rumänien seit 1989 stellte der extreme Nationalismus in Rumänien phasenweise eine starke politische Strömung dar, die auf die traditionellen Stereotype und Topoi des nationalen Selbstbildes rekurrierten Dieser regressive Nationalismus – gerade angesichts des massiven brain-drain der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte – darf zwar in der täglichen Praxis nicht unterschätzt werden, er ist aber gegenwärtig doch auf dem Rückzug, während zivilgesellschaftliches Engagement und Protestpotenzial eine breitere Basis zu bekommen scheinen Für Letzteres sind die europafreundlichen Massenproteste im Januar und Februar 2017 gegen die Klientelpolitik der PSD-Regierung und schließlich deren Abwahl im Oktober 2019 signifikant Der traditionell starke Nationalismus ist aber doch auch an dem 2006 verabschiedeten Kultusgesetz abzulesen, das zwar formal weitgehend die europäischen Normen abbildet, aber ebenso subkutan das komplexreiche Selbstbild der „Nation“ widerspiegelt
77
Der Humanistenverband hat mittels Verfassungsklage einen obligatorischen Religionsunterricht gekippt; Religionsunterricht an staatlichen Schulen Rumäniens kann nur noch nach entsprechender freiwilliger Anmeldung durch die Erziehungsberechtigten stattfinden
Diplomatie, Krieg und Waffenstillstand Das Leben des Diplomaten Alfred Graf von Oberndorff Dirk Hecht I. Einführung Zurückhaltung und Ruhe sind die herausragenden Tugenden eines Diplomaten Hinter den Kulissen agieren, um das bestmögliche Ergebnis zu erreichen Das war es was Alfred Graf von Oberndorff perfekt beherrschte Nach einer klassischen und grundsoliden Ausbildung im Auswärtigen Dienst des kaiserlichen Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg stieg er zu einem der wichtigsten und einflussreichsten Diplomaten der Kriegszeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit auf Der Höhepunkt seiner Karriere, der sein weiteres Leben bestimmen sollte, war die Mitunterzeichnung des Waffenstillstandes am 11 November 1918 im Compiègne als Vertreter des Auswärtigen Amtes Anders als die beiden Verhandlungsführer Matthias Erzberger und Ferdinand Foch ist sein Name nahezu unbekannt Wenn man sich mit Alfred Graf von Oberndorff beschäftigt, so fällt auf, dass er sowohl in der zeitgenössischen als auch in der Forschungsliteratur kaum erwähnt wird Es sind kurze Erwähnungen was die Unterzeichnung des Waffenstillstandes betrifft, ansonsten kommt sein Name hauptsächlich in Fußnoten vor Eine Biografie über sein Leben zu schreiben, ist äußerst schwierig, zumal sein Privatarchiv wohl während der Ardennenoffensive 1944 in Luxemburg, wo er damals lebte, zerstört wurde Die Überlieferungsbedingungen der Quellen ermöglichen es noch nicht, einen lückenlosen Lebenslauf zu erstellen Es bleiben Lücken, die erst durch sehr zeitaufwändige Recherchen, wenn überhaupt zu schließen sind Aber trotzdem ist es jetzt schon möglich, hier mehr als nur ein Schlaglicht auf eine Persönlichkeit zu werfen, die außergewöhnliches in schwerer Zeit geleistet hat
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Dirk Hecht
Alfred von Oberndorff um 1910 Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2004-0003
II. Kindheit, Jugend und Studium Alfred (Maria Franz Cäsar Fortunatus) Graf von Oberndorff wurde am 09 Dezember 1870 in Edingen, einem kleinen Ort am Neckar in der Nähe von Heidelberg, geboren Einige Wochen vor der Reichsgründung kam er im Edinger Schlösschen im damaligen Großherzogtum Baden zur Welt Sein Vater Karl von Oberndorff (1834–1925) gilt als der Begründer der Edinger Linie der Oberndorffs Die Neckarhausener Linie geht auf Franz Albert (1720–1799) zurück, der im späten 18 Jahrhundert erst Minister am kurfürstlichen Hof, dann Statthalter des nach München gezogenen Kurfürsten CarlTheodor gewesen ist Anders als sein Vater verbrachte Alfred seine Kindertage nicht im „höfischen“ Mannheim, sondern in einer idyllischen Landgemeinde in unmittelbarer Nähe zum Neckar Ganz so ruhig und beschaulich ging es dort aber nicht zu In unmittelbarer
Diplomatie, Krieg und Waffenstillstand
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Nachbarschaft befanden sich seit den 1840er Jahren zwei Brauereien Eine davon war die familieneigene Oberndorff ’sche Brauerei, die vermutlich von seinem Vater verwaltet wurde Alfred hatte noch zwei Geschwister: seinen Bruder Lambert, der als Historiker Karriere machte und seine Schwester Marie mit der er lange Jahre in Luxemburg und seit 1956 in Heidelberg zusammenlebte Seine Schulzeit entsprach dem Bildungsweg adeliger Kinder Zuerst bekam er Privatunterricht zu Hause, bis er im Herbst 1881 mit knapp 11 Jahren in die dritte Lateinklasse des Königlich Adeligen Julianums nach Würzburg überwechselte Es war bis dahin eine rein adlige Bildungsanstalt Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Anstalt auch für Bürgerliche geöffnet Vermutlich wurde ihm dort seine rechtskatholische Grundhaltung vermittelt, die seinen späteren Werdegang stark prägen sollte Im Jahr 1888 schloss er mit dem Abitur ab Als Alfred sein Jurastudium im Wintersemester 1888/89 in Heidelberg anfing, wohnte die Familie nicht mehr in Edingen 1887 kaufte Vater Karl ein ehemaliges Hotel an der Alten Brücke in der Neuenheimer Landstraße in Heidelberg Dort wohnte die Familie bis 1912 Beim Studienantritt wohnte er noch bei seinen Eltern im neuerworbenen Haus1, das fast schon schlossartigen Charakter hatte In dem Semester als Oberndorff sein Jurastudium begann, hatte die Juristische Fakultät 200 Studenten, von denen 90 Erstsemester waren 2 Das Jurastudium war quasi die Eintrittskarte adeliger Söhne für eine spätere Karriere im Staatsdienst Das Jurastudium war kein Selbstzweck juristische Kenntnisse zu erwerben, viel wichtiger war es in der Zeit gesellschaftliche Kontakte zu knüpfen und zu intensivieren Netzwerken würde man es heute nennen Einen besonders guten Einblick in diesen wichtigen Teil der Ausbildung bekommt man durch die Erinnerungen von Richard von Kühlmann (1873–1948), ebenfalls Diplomat und späterer Staatssekretär des Äußeren 3 Oberndorff studierte acht Semester, wobei er darauf achtete mehrmals die Universität zu wechseln 4 Nach dem Wintersemester 1888/89 ging er für ein Semester nach Freiburg, wo er Vorlesungen u a von Geheimrat Friedrich Eugen Rümelin (1848– 1907) und Fridolin Eisele (1837–1920) über Römisches Recht und Römische Rechtsgeschichte hörte Danach zog es ihn für zwei Semester nach München (Wintersemester 1889/90 und Sommersemester 1890) Oberndorff wohnte im Wintersemester in der Schönfeldstr 10/1 zog im nächsten Semester in die Von-der-Tann-Str 1/0 Sowohl in der Schönfeldstraße als auch in der Von-der-Tann-Straße wohnte er mit seinem Cousin Wolfgang Graf von Oberndorff (1871–1906), der ebenfalls Jura studierte, zu1 2 3 4
Adressbuch der Universität Heidelberg WS 1885/86-SS 1890, WS 1889/90 Adressbuch der Universität Heidelberg WS 1885/86-SS 1890, WS 1889/90 Richard von Kühlmann, Erinnerungen Heidelberg 1948, 64–116 UnivA Heidelberg III,3a N 113: Decanat des Herren Geh Hofrat G Meyer Lebenslauf 415–417
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Dirk Hecht
sammen 5 Beide Unterkünfte lagen in unmittelbarer Nähe der Universität Berlin (Wintersemester 1890/91) und wieder Freiburg (Sommersemester 1891 und Wintersemester 1891/92) waren die nächsten Stationen Seinen Studienabschluss machte er in Heidelberg, wo er im Frühjahr 1892 an der ersten juristischen Staatsprüfung teilnahm und sie auch bestand In seinem Studium deckte er die ganze Bandbreite der rechtswissenschaftlichen Ausrichtung ab, während sein zweiter Schwerpunkt Nationalökonomie (Volkswirtschaftslehre) war Am 13 April wurde er zum Rechtspraktikanten ernannt und erhielt eine Anstellung am Amtsgericht Am 09 August 1892 promovierte Oberndorff in Heidelberg Nach seinem ersten Staatsexamen durchlief er wie fast alle Absolventen den Referendardienst im badischen Verwaltungs- und Justizdienst u a in Wiesloch, Pforzheim, Heidelberg Mit dem Bestehen des zweiten juristischen Staatsexamens am 15 Juni 1895 endete seine juristische Verwaltungsausbildung Seine Pläne für die Zukunft sah er aber nicht in der Verwaltung oder im Rechtswesen, er wollte in den Diplomatischen Dienst Auf den Weg dahin mussten einige Hindernisse überwunden werden Spätestens nach Abschluss des Studiums erklang der Ruf des Militärs Im damaligen deutschen Kaiserreich galt der Militärdienst als prestigeträchtig und ein Offizierspatent für einen Adeligen ein absolutes Muss Es fällt auf, dass die militärische Dienstpflicht, die von Oberndorff abzuleisten hatte, nie groß thematisiert wurde Lediglich in seinem Lebenslauf in der Personalakte des Auswärtigen Amtes schreibt er, dass er aufgrund gesundheitlicher Gründe vom Militärdienst freigestellt wurde 6 Das heißt nun nicht, dass er vom Militär gänzlich ausgeschlossen war, er gehörte dem Landsturm an, der sich aus wehrdienstfähigen Männern zwischen 17 und 45 Jahren zusammensetzt Allerdings sollte er wegen seiner späteren Karriere, aber auch wegen seiner Konstitution nie eingezogen werden III. Familie Alfred von Oberndorff heiratete am 02 Januar 1904 Marguerite de Stuers (1878 Versailles – 1930 bei Bordeaux) Sie war die Tochter des niederländischen Botschafters und Kammerherrn Königin Wilhelminas Alphonse Lambert Eugène Ridder de Stuers (1841–1919) in Paris Die Mutter Margaret Laura Carey kam aus dem amerikanischen Geldadel der Astors Sie hatten zusammen drei Kinder; ein Sohn Charles Alphonse Aurelius (1906 in Brüssel -1998) und zwei Töchter: Maria Theresia (1904 in London –
5 6
Amtliches Verzeichnis des Personals, Beamten und Studierenden an der königlich-bayerischen Ludwig-Maximilian-Universität zu München WS 1889/90, SS 1890 Personalakte im Politischem Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin Lebenslauf in englischer Sprache als Anhang zum Bewerbungsschreiben für den diplomatischen Dienst Personalakte Alfred Graf von Oberndorf: O-010767
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1920) und Elisabeth Margarete Franziska Fortunata (1917 in München – 2017) Die Tochter Maria Theresia starb bereits 1920 in St Moritz (Schweiz) bei einem Kuraufenthalt an Diabetes 7 Auch Maguerite war kein langes Leben beschieden Sie starb am 06 April 1930 bei Bordeaux Sie erlag ihren Verletzungen, die sie sich bei Arcachon bei einem Autounfall zugezogen hatte 8 Der Unfall wurde durch überhöhte Geschwindigkeit verursacht Neben ihr wurden noch zwei weitere Personen in Mitleidenschaft gezogen Unter anderen wurde auch eine Freundin von Marguerite, eine Madam de Luze getötet Der Sohn Alphonse spielte eine unrühmliche Rolle bei den niederländischen Nationalsozialisten, wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg als Widerstandskämpfer gesehen Über ihn forscht Maarten van Voorst, der eine Biografie über ihn verfasst 9 IV. Dienst im Auswärtigen Amt Von Oberndorffs Wunsch war es in den Diplomatischen Dienst aufgenommen zu werden Zu diesem Zweck schrieb er mehrere Bewerbungen an den Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst Der war ihm zwar gewogen, lehnte aber einige Male das Ansinnen ab, da es zu der Zeit einen großen Ansturm auf eine diplomatische Laufbahn gab Hohenlohe-Schillingsfürst riet ihm erst einmal seine ganzen ausstehenden Prüfungen zu absolvieren, um die Zeit zu überbrücken Die historisch-politische Probearbeit, die er abliefern musste, schrieb er über: Napoléon I und sein Bruder Louis, König von Holland (in französischer Sprache) Die Arbeit wurde von dem Gutachter lediglich mit befriedigend bewertet Sein Bruder Lambert hätte sie sicher besser gemacht Aber schließlich klappte es doch Seine Anstellung im Auswärtigen Amt datiert vom 17 Dezember 1895 Seine diplomatische Prüfung absolvierte er am 13 Januar 1897 IV 1 Die Anfänge bis 1912 Nachdem er seine Prüfung bestanden hatte, begann seine diplomatische Ausbildung 10 Im Range eines Legationssekretärs trat er seine erste Station im Generalkonsulat Kairo an Es war üblich, dass die jungen Diplomaten an möglichst vielen Orten Dienst taten, um Erfahrungen zu sammeln Dabei kam es des Öfteren vor, auch verantwortungsvol7 8 9 10
Freundlich Mitteilung Frau Dr Hildegard Schneider, die es von Elisabeth von Oberndorff erfahren hatte Zeitungsmeldung der schweizerische Zeitung Le Nouvelliste vom 10 April 1930 Vielen Dank an Maarten van Voorst, der mir die Meldung zukommen ließ; Mannheimer Morgen vom 14 Dezember 1960 Maarten van Voorst, Ein Amateurdiplomat auf Abwegen In: d’Letzebuerger Land 35, 2019 Personalakte Alfred Graf von Oberndorf (wie Anm 6): O-010767 ff
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lere Posten kommissarisch zu bekleiden So wurde Oberndorff schon bald nach Sinaia versetzt, wo er einige Wochen die kommissarische Leitung des dortigen Konsulates übernahm, um danach wieder nach Kairo zurückzukehren Alle Dienstorte und Aufgaben bis zu ersten Botschafterstelle 1912 umfassend darzustellen, ist an dieser Stelle unmöglich Die wichtigsten Stationen in dieser Phase seiner Diplomatenlaufbahn waren Madrid, wo er mehrfach eingesetzt wurde, London, Brüssel und Wien So stieg er kontinuierlich die Karriereleiter hinauf IV 2 Gesandter in Norwegen 1912–1916 Am 09 Januar 1912 übernahm Oberndorff die Geschäfte eines außerordentlichen Gesandten in Kristiania, dem heutigen Oslo Lange Zeit galt der Gesandtenposten in Christiana als wenig attraktiv Er hatte den Ruf ein Abstellgleis zu sein, quasi ein Karrierekiller 11 Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt stimmte das auch, aber spätestens mit Kriegsbeginn und der Arbeit Oberndorffs änderte sich das Ein Nachfolger von Oberndorff, Paul von Hintze (1917–1918), war von Juli bis Oktober 1918 sogar Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, also Außenminister Norwegen und Schweden bildeten bis ins frühe 20 Jahrhundert eine politische Einheit Die Lage Skandinaviens im Norden Europas lag weit weg von den Brennpunkten der Welt Holz, Fisch und Erze waren der große Reichtum des Landes Die Großmächte interessierten sich nicht für diesen Fleck Erde, sie waren vielmehr damit beschäftigt Kolonialbesitz zu erwerben und zu sichern Das änderte sich, als sich 1905 Norwegen von Schweden trennte und unabhängig wurde Die geostrategische Lage Norwegens und die zunehmenden Spannungen zwischen Deutschland auf der einen Seite und Frankreich, Russland und Großbritannien auf der anderen machten den neuen Staat insbesondere für Deutschland hoch interessant Die Kontrolle über den Belt, die Meerenge die Nord- und Ostsee verband, hatte höchste Priorität Frankreich und Russland waren 1894 ein Bündnis eingegangen Die politische Situation in Skandinavien war Anfang des 20 Jahrhundert sehr heikel In einem Unionskonflikt zwischen Schweden und Norwegen, die in Personalunion zusammenhingen führte zu Spannungen, sodass sich Norwegen von Schweden abspaltete Für Deutschland hatte Norwegen noch eine andere Bedeutung, denn jedes Jahr unternahm der deutsche Kaiser Wilhelm II (1859–1941) seine berühmten Nordlandfahrten12, bei denen der deutsche Botschafter nicht fehlen durfte
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Birgit Marschall, Reisen und Regieren Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II (Skandinavische Arbeiten 9) Heidelberg 1991, 102–103 Marschall, Nordlandfahrten (wie Anm 11), 1991
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Oberndorff übernahm das Amt in einer Zeit als die Bedeutung Norwegen immer wichtiger wurde Es war ein verhältnismäßig ruhiger Posten, der für einen aufstrebenden, „jungen“ Diplomaten, als erste Chefposition gut geeignet war Nach Kriegsausbruch 1914 avancierte der Gesandte in Christiana hingegen zu einem „Feuerwehrmann“, der unter allen Umständen erreichen musste, dass Norwegen neutral blieb Dies erwies sich als Herkulesaufgabe Norwegen blieb im Ersten Weltkrieg zwar offiziell neutral Die Handelsmarine jedoch transportierte Waren für die Alliierten, folglich wurde sie von der deutschen Flotte als feindlich angesehen Fast die Hälfte der norwegischen Tonnage wurde während des Krieges von den Deutschen versenkt Konflikte mit denen sich Oberndorff als Gesandter beschäftigen musste Schon bald nach Kriegsbeginn versuchten Briten und Deutsche Norwegen auf die eigene Seite zu ziehen Daher spielten Diplomaten und Geheimdienste eine entscheidende Rolle Oberndorff fand sich unvermittelt in einer kriegsentscheidenden Position wieder Als Vertreter des Deutschen Reiches im neutralen Norwegen war Oberndorff als Botschafter der Verbindungsmann zur Reichsregierung in Berlin So kam Oberndorff auch mit Verschwörern, Spionen und anderen zwielichtigen Personen in Kontakt Ein Beispiel dafür ist Sir Roger Casement (1864–1916), einer der führenden Protagonisten des irischen Osteraufstandes 1916 13 Casement wollte ausloten, inwieweit Deutschland bereit wäre bei einer Erhebung der Iren gegen die verfeindeten Engländer Unterstützung zu leisten Zu diesem Zweck reiste er von den USA, wo eine starke irische Bevölkerungsgruppe lebte, nach Christiana, dem heutigen Oslo, um dort über die deutsche Botschaft nach Berlin weiterzureisen Der Osteraufstand 1916 scheiterte; hätte bei Erfolg aber gravierende Auswirkung auf den Ausgang des Ersten Weltkrieges gehabt Anfang 1916 hieß es Abschied nehmen von Norwegen Der nächste Posten den Oberndorff übernahm ist auf den ersten Blick in der europäischen Provinz, aber das verbündete Bulgarien war der Stützpfeiler der Ostfront auf dem Balkan, wenn Bulgarien ausfiele, hätte das die Niederlage im Weltkrieg zur Folge Ein Zeichen des höchsten Vertrauens den Botschafterposten in Sofia Oberndorff zu überlassen IV 3 Gesandter in Bulgarien 1916–1918 Vom 20 Februar 1916 bis zum 11 Oktober 1918 agierte Oberndorff als Gesandter und „bevollmächtigter Minister am bulgarischen Hof “ in Sofia Anders als in Norwegen musste Oberndorff sich nicht darum kümmern das Bulgarien neutral blieb, er war eher die Schnittstelle zu dem wichtigsten Verbündeten an der Ostfront Er sollte vielmehr Bulgarien „bei der Stange halten“ Dazu gehörte großes diplomatisches Geschick Sei-
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Peter de Rosa, Rebellen des Glaubens Der irische Freiheitskampf 1916 München 1991, 65–71
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ne Einschätzungen und Vorschläge hatten große Bedeutung für den Kriegsverlauf Dass notwendige Maßnahmen nicht befolgt wurden, liegt an den unterschiedlichen Interessen der Heeresführung und militärischen bzw politischen Vorgaben: „Er [Korvettenkäpitän von Armin, Marineattachée in Sofia] wie Massow- der Militärbevollmächtigte-wie der Gesandte Graf Oberndorff hätten schon seit sechs Monaten die dringende Notwendigkeit von 2–3 Divisionen in oder hinter der bulgarischen Front betont, widrigenfalls der Zusammenbruch kommen müsse Es sei nichts geschehen …“14
Aber ironischerweise waren es nicht die Kriegsgegner, die Oberndorff das Leben schwer machten Es waren die eigenen Verbündeten, die Oberndorff davon abhalten musste übereinander herzufallen Zwischen dem Osmanischen Reich und Bulgarien gab es fast unlösbare territoriale Konflikte und Gebietsansprüche, die sich u a an der Dobruscha im rumänisch-bulgarischen Grenzgebiet entzündeten Einblicke in den Alltag eines Staatsbesuchs bieten die Erinnerungen Richard von Kühlmanns, der von August 1917 bis Juli 1918 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes war Er besuchte mit Kaiser Wilhelm II auf den Weg nach Konstantinopel auch Bulgarien Es war natürlich Oberndorffs Aufgabe seine beiden direkten Vorgesetzen bei Laune zu halten, aber über die Zustände in Bulgarien zu berichten und sie vor Ort zu beraten, um sie vor unangenehmen Entscheidungen oder Zusagen zu warnen Kühlmann, der mit Oberndorff befreundet war, äußerte sich auch über Oberndorffs Gemahlin Marguerite Er schrieb: „Seine Gattin, eine geborene Amerikanerin15, war, anscheinend, von allerlei nervösen Leiden geplagt Sie hat Sofia kaum besucht; so lebte er ganz als Junggeselle “16 Nach dem Zusammenbruch der Balkanfront durch den Ausfall Bulgariens verließ Oberndorff als letzter deutscher Diplomat Sofia und kehrte nach Berlin zurück IV 4 Mitglied der Waffenstillstandskommission November 1918 Als Oberndorff sich noch in Bulgarien befand, überstürzten sich im Großen Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa und in Berlin die Ereignisse Am 29 September 1918 erlitt der Erste Generalquartiermeister Erich Ludendorff (1865–1937) nach katastrophalen Nachrichten von der Front einen „Nervenzusammenbruch“ Kurz vorher (25 September) ist die Balkanfront in Bulgarien zusammengebrochen Den Alliierten steht der Weg nach Deutschland offen Es gibt dort keine
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Georg Alexander von Müller, Regiert der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marine-Kabinetts Göttingen 1959, 436 Wahrscheinlich bezieht sich Kühlmann auf die amerikanische Herkunft ihrer Mutter Geboren wurde Marguerite in Versailles bei Paris Kühlmann, Erinnerungen (wie Anm 3), 498
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Frontlinien mehr Ludendorff verlangte daraufhin auf der Stelle einen Waffenstillstand, um Existenz und Ehre des deutschen Heeres zu retten Ob dies allerdings eine Kurzschlussreaktion gewesen ist, darf durchaus bezweifelt werden Ludendorff war der eigentliche Macher in der Obersten Heeresleitung Während der ranghöhere, in die Jahre gekommene Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (1847–1934) in der Öffentlichkeit stand und die Armeeführung repräsentierte, plante und organisierte Ludendorff die Kriegsführung Dass er geistig labil war, kann mit gutem Gewissen verneint werden Ludendorff forderte, dass die Regierung, also Zivilisten, den Waffenstillstand in die Wege leiten und unterschreiben sollte Damit dies geschehen konnte, musste es eine Verfassungsreform geben Ein parlamentarisches Regierungssystem wurde eingeführt Der Reichstag bekam eine große Machtfülle zugesprochen Er konnte beispielsweise dem Reichskanzler das Vertrauen entziehen und somit die Regierung stürzen Parlamentarische Mehrheiten bestimmten nun die Politik So musste auch der Reichstag die Zustimmung zum Waffenstillstand und später zum Friedensvertrag geben Im Reichstag hatten zum damaligen Zeitpunkt die SPD, das Zentrum und die Liberalen die absolute Mehrheit Die Oberste Heeresleitung schob somit alle Verantwortung, der von ihr verursachten Misere, den ihnen so verhassten Parteien, insbesondere der SPD, zu Das war der Beginn der „Dolchstoßlegende“: „Im Felde unbesiegt, von der Heimat verraten “ In dieser Situation kehrte von Oberndorff aus Bulgarien nach Deutschland zurück Keiner hatte eine Vorstellung wie sich die Lage weiter entwickeln würde Wie sich die Ereignisse überschlugen zeigt, wie die Waffenstillstandskommission zusammengestellt wurde Der spätere Leiter der Kommission, der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1875–1921) berichtet darüber 17 Am 06 November findet eine Sitzung statt, in welcher der Nachfolger des zurückgetretenen Ludendorffs, Generalquartiermeister Wilhelm Gröner (1867–1939), Bericht über die militärische Lage erstattet Anwesend sind alle Staatssekretäre18 und der Reichskanzler Prinz Max von Baden (1867–1929) Die in Kiel ausgebrochene und sich rasant verbreitende Revolution sowie die besorgniserregenden Nachrichten von der Front, zwangen den Reichskanzler zu einer Entscheidung Am Vormittag des 08 November müssen die Waffenstillstandsverhandlungen unter allen Umständen begonnen werden 19 Als Leiter sprachen sich Reichskanzler Friedrich Ebert (1871–1925) und die Staatssekretäre einstimmig für Erzberger aus, der sich einen Vertreter des Auswärtigen Amtes für die Verhandlungen aussuchen sollte Seine erste Wahl, der deutsche Botschafter in Kopenhagen und spätere Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rant17 18 19
Matthias Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg Stuttgart 1920, 325 Da damals lediglich der Reichkanzler Ministerrang hatte, hatten die Leiter der jeweiligen Ämter die Stellung eines Staatssekretärs inne Erzberger Erlebnisse (wie Anm 17), 325
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zau (1869–1928), fiel aus Zeitgründen aus Brockdorff-Rantzau sollte übrigens den Lebensweg Oberndorff noch entscheidend beeinflussen Daraufhin „wählte ich den mir persönlich bekannten Gesandten in Sofia, Graf von Oberndorff, aus“20, ein alter Freund Erzbergers 21 Aber es waren nicht nur persönliche Gründe ihn auszuwählen Die überaus erfolgreiche diplomatische Arbeit in Norwegen und Bulgarien heben Oberndorff aus dem Gros der Diplomaten der damaligen Zeit heraus Seine besonnene und ausgleichende Persönlichkeit sowie seine frankophile Art prädestinierten ihn für diese Aufgabe Ein besonders wichtiger, nicht zu vernachlässigender Punkt ist einfach auch die Tatsache, dass er sofort verfügbar und nicht anderswo gebunden war Noch am selben Tag (06 November) sollte der Sonderzug nach Spa zum Hauptquartier der Obersten Heeresleitung abgehen Erzberger wartete um 17 00 Uhr auf dem Bahnsteig noch auf seine Bestallungsurkunde und auf den Grafen von Oberndorff, der kam mit 10 Minuten Verspätung an, immerhin noch fünf Minuten eher als die Urkunde,22 was die Eile zeigt mit der aufgebrochen wurde Am folgenden Morgen um 8 00 Uhr kam der Zug in Spa an Erzberger und Oberndorff trafen sich dort mit den diplomatischen und militärischen Vertretern des Reiches, um die Waffenstillstandskommission personell zusammenzustellen Bislang war alles sehr vage gehalten Zunächst ließ sich Erzberger zum Vorsitzenden der Kommission berufen, was die Regierung in Berlin bestätigte Neben Oberndorff, der ja als ziviler Beamter das Außenamt vertrat, wählte Erzberger, den ehemaligen Militärattaché in Paris General Detlof von Winterfeldt (1867–1940) und den Kapitän zur See Ernst Vanselow (geb 1876) als Vertreter des Heeres und der Marine aus Erzberger erteilte dem Willen der Heeresleitung eine große Delegation Militärangehörige zu den Verhandlungen zu schicken eine Absage 23 Um 12 00 Uhr ging es bereits mit fünf Autos in Richtung Front Neben den vier Mitglieder der Kommission nahm Erzberger noch einen Dolmetscher und einen Stenografen mit: Rittmeister von Helldorf und Dr Blauert Erzberg saß zusammen mit Oberndorff in einem Auto Kurz nach der Abfahrt in Spa wäre die Fahrt fast schon zu Ende gewesen „Kaum hatten wir Spa verlassen, als meinem Auto ein schwerer Unfall zustieß, indem es beim Passieren einer scharfen Kurve gegen ein Haus geschleudert wurde; das nachfolgende Auto fuhr in das meinige hinein Trotz des schweren Zusammenstoßes passierte kein Unglück, weder der neben mir sitzende Graf Oberndorff noch ich wurden durch die zahlreich eindringenden Glassplitter verletzt, nur unser Auto und das nachfolgende wurden stark beschädigt In den verbleibenden Autos wurde die Fahrt durch Belgien fortgesetzt “24
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Erzberger Erlebnisse (wie Anm 17), 325 Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie Berlin-Frankfurt 1962, 310 Epstein, Erzberger (wie Anm 21), 1962, 311 Erzberger Erlebnisse (wie Anm 17), 327 Erzberger Erlebnisse (wie Anm 17), 327
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Um 21 20 Uhr erreichten sie die Frontlinie bei Trelon Dort erfuhren die Kommissionsmitglieder, dass die Soldaten nichts über die Umbrüche in Deutschland (Matrosenaufstand in Kiel, Ausbreitung der Revolution etc ) mitbekommen haben Kurz vor dem Überqueren der Frontlinie trafen Erzberger und Oberndorff auf einen schwäbischen Soldaten, der Erzberger, der ebenfalls aus Schwaben kam, fragte: „Wo wollen Sie hin?“ Ich erwiderte: „Waffenstillstand schließen wir “ Da sagte er in gutem Schwäbisch: „Das werdet ihr zwei grade fertig bringen “25 Das zeigt, dass die Soldaten sich gar nicht vorstellen konnten, dass der Krieg einmal zu Ende gehen könnte Die Autos fuhren langsam an die Front heran Es galt eine bis Mitternacht befristete Waffenruhe Das erste Auto bekam eine große weiße Fahne und ein mitgenommener Trompeter signalisierte ihr Kommen Die Kommissionsmitglieder wurden auf der französischen Seite bei La Capelle höflich empfangen Ab La Capelle stiegen sie in französische Autos um und jedes Kommissionsmitglied bekam ein eigenes Wagen und einen Begleitoffizier Über mehrere Etappen erreichte der Tross am 08 11 um 4 00 Uhr morgens den Bahnhof von Tergnier, wo sie in einen bereitstehenden Zug stiegen Das Ziel war ihnen unbekannt Drei Stunden später (7 00 Uhr) hielt der Zug im Wald von Compiègne Sie waren angekommen Im Wald von Compiègne lagen zwei Gleise parallel nebeneinander Auf dem einen Gleis stand bereits der Zug der Delegation der Alliierten, auf dem andern hielt der der Deutschen Zwischen beiden Schienensträngen hatte man einen Bohlenweg verlegt, auf dem die deutsche Delegation zum Verhandlungsort kommen konnte Im Salonwagen wartete bereits die alliierte Delegation, die der französische Oberbefehlshaber Marschall Ferdinand Foch anführte Erzberger fragte ihn welche Vorschläge er für den Abschluss eines Waffenstillstandes hätte Woraufhin Foch antwortete, er habe keine zu machen Das hieß, Foch verlangte eine bedingungslose Kapitulation Die Vorstellung der Deutschen, dass es eine Verhandlung geben könnte, war gescheitert Viel schlimmer noch Die Bedingungen für einen Waffenstillstand waren derartig hart, dass sie kaum zu erfüllen waren Auf Betreiben Obernsdorffs konnten lediglich Details abgeändert werden Es stellte sich jedoch jetzt das Problem, ob die deutsche Kommission ein Abkommen zu diesen Bedingungen überhaupt annehmen durfte Berlin war weit weg, die Kommissionsmitglieder wussten gar nichts von den politischen Vorgängen in der Hauptstadt Aber die neue Regierung gab die Anordnung den Waffenstillstand unter allen Umständen abzuschließen So wurde beschlossen die Kriegshandlungen am 11 November um 11 00 Uhr vormittags (französischer Zeit) einzustellen Der Erste Weltkrieg war beendet
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Erzberger Erlebnisse (wie Anm 17), 328
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IV 5 Waffenstillstandskommisson (WAKO) 1918/19 Die Waffenstillstandskommisson hatte ihren Sitz im ehemaligen Hauptquartier des deutschen Heeres in Spa Leiter der Kommission war zunächst General von Winterfeldt und nach seinem Rücktritt im Januar 1919 General von Hammerstein Nach Abschluss des Waffenstillstandes am 11 November 1918 blieben Erzberger und von Oberndorff Mitglied der Waffenstillstandskommission Sie bildeten eine „leitende Zentrale“ für Waffenstillstandsfragen, eine Schnittstelle zu Regierung, Behörden und Presse 26 Die WAKO in Spa fungierte als Verhandlungsstelle mit dem alliierten Oberkommando Da der Waffenstillstand befristet war, musste er mehrfach verlängert werden Diese Aufgabe hatte sich Erzberger vorbehalten und die Mitglieder der ursprünglichen Kommission vorgesehen, also auch von Oberndorff Insgesamt wurde der Waffenstillstand drei Mal verlängert (12 Dezember 1918, 16 Januar 1919 und 16 Februar 1919) Da die Deutschen bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag ausgeschlossen waren, wurde fieberhaft nach Informationen zum jeweiligen Stand gesucht Auch von Oberndorff beteiligte sich daran: „Oberndorff, geht in die Schweiz, um etwas zu hören, warum der Friede nicht vorangehe Ich empfehle ihm Berchem, Bern und den päpstlichen Geschäftsträger, Pater Cölestin und Bischof von Chur, auch Jesuitengenaral: Er wollte offenbar nur etwas erfahren “27
Ein besonders wichtiger Punkt im Friedensvertrag war die Kriegsschuld Deutschlands Als Vertreter des Auswärtigen Amtes stand Oberndorff das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes zur Verfügung,28 um zu dieser Frage Stellung zu beziehen Nach Auswertung der Unterlagen war er der Meinung, dass Deutschland keineswegs die alleinige Kriegsschuld trägt, aber der historische Ablauf stellte sich so dar, dass das abgefasste Gutachten durchaus missverständlich interpretiert werden könne, sodass er abriet es zu veröffentlichen 29
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Vortrag des Generals v Hammerstein vor dem Reichkabinett über die Arbeit der Waffenstillstandskommission in Spa, 4 März 1919, 10 Uhr in Weimar, Schloß https://www bundesarchiv de/ aktenreichskanzlei/1919–1933/0000/sch/sch1p/kap1_2/para2_6 html?highlight=true&search= hammerstein&stemming=true&pnd=&start=&end=&field=all#highlightedTerm Tagebuch Faulhaber vom 09 Februar 1919 http://www faulhaber-edition de/ Martin Kröger, Krieg-Edition-Archiv: Der Erste Weltkrieg und das Politische Archiv des Auswärtigen Amts In: Erinnern an den Ersten Weltkrieg Archivische Überlieferungsbildung und Sammlungsaktivität in der Weimarer Republik (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg Ser A H 25) Stuttgart 2015, 82 Kröger, Politische Archive (wie Anm 28)
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IV 6 Gesandter in Polen 1919–1921 Oberndorff war Erzbergers Wunschkandidat für den Gesandtschaftsposten in Madrid, er selbst wäre gerne nach Den Haag gegangen30 Aufzeichnungen des ehemaligen Außenministers Ulrich von Brockdorff-Rantzau vom Juni 1919 werfen ein Schlaglicht wie im Hintergrund intrigiert und geschachert wurde Wer sich auf der „falschen“ Seite befand oder mit politischen „Verlierern“ vernetzt oder befreundet war, geriet schnell ins Abseits: „Ich benutzte dann die Gelegenheit, auf den Posten in Madrid zu kommen, und erklärte dem Reichspräsidenten, ich wisse, daß Erzberger den Grafen Oberndorff zu lancieren versuche; Graf Oberndorff selbst habe mir, als ich Minister war mitgeteilt, er wünsche den Posten im Haag Für diesen Posten halte ich ihn durchaus geeignet, würde aber schwere Bedenken tragen, ihn nach Madrid zu schicken, weil er bei seiner ausgesprochen klerikalen Gesinnung leicht Gefahr laufe, dort ultramontale Politik zu machen “31
Anfang Oktober fuhr Oberndorff nach Berlin, wo die Gesandtschaftsposten neu verteilt wurden 32 Dass Oberndorff nun nach Warschau entsandt wurde, anstatt nach Madrid oder Den Haag, war sicherlich keine Boshaftigkeit, sondern vielmehr seinen brillanten diplomatischen Fähigkeiten geschuldet Denn das heikle deutsch-polnische Verhältnis brauchte einen Vermittler, keinen Hardliner Oberndorffs erfolgreiche Arbeit in Bulgarien und in der Waffenstillstandskommission prädestinierten ihn für diesen Posten Dass er zudem adeliger Herkunft, strenger Katholik war und aus Süddeutschland stammte, machte es ihm einfacher von den Polen akzeptiert zu werden 33 Die zahlreichen Probleme zwischen dem Deutschen Reich und dem neuen polnischen Staat machten viele Verhandlungen notwendig Vertreter der harten Linie in Berlin versuchten mit Ausfuhrsperren, Sanktionen etc anzudrohen und Druck auszuüben Oberndorff wandte sich strikt gegen eine solche Politik: „Ich fürchte, daß wir seine Kraft überschätzen und daß wir uns, wenn wir die Dinge überspannen, eines Tages verrechnen könnten …“34
Der damals tobende polnisch-sowjetische Krieg stellt die deutsche Führung vor die Frage, auf welche Seite man sich stellen sollte Man wählte einen Zwischenweg: 30 31 32 33 34
Was kein Wunder ist, denn seine Frau Marguerite und deren Familie (de Stuers) waren in den Niederlanden ansässig Aufzeichnungen des ehemaligen Außenministers Graf Brockdorff-Rantzau, In: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945: 1918–1925, 145–146 Tagebuch Faulhaber vom 08 Oktober 1919 http://www faulhaber-edition de/ Alfred Graf von Oberndorff nach Gerhard Wagner, Deutschland und der Polnisch- Sowjetische Krieg 1920 Wiesbaden 1979, 161 Wagner, Polnisch-sowjetischer Krieg (wie Anm 33), 37
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Deutschland erklärt im Juli 1920 seine Neutralität Oberndorff hatte die Neutralitätserklärung der polnischen Regierung zu übermitteln Er registrierte große Erleichterung bei den Polen 35 Trotzdem bestand immer noch ein großes Misstrauen in der polnischen Öffentlichkeit Eine der wichtigsten Aufgaben Oberndorffs war es u a ungeschickte bzw provozierende Formulierungen zu entschärfen oder klarzustellen Auch zu Gerüchten musste Oberndorff Stellung beziehen, z B , dass deutsche Offiziere offiziell im sowjetrussischem Heer Dienst tun, was nicht der Fall war Im August 1920 mussten die diplomatischen Vertretungen aufgrund der militärischen Lage, Warschau war von der sowjetischen Armee bedroht, von Warschau nach Posen verlegt werden Am 08 August zog das Personal um, der Missionschef folgte als letzter, wie in Bulgarien 1918 Der aufreibende Gesandtenjob der letzten Jahre und seine familiäre Situation (Tochter und Schwiegervater waren gestorben) brachten Oberndorff dazu, dass er darum bat, freigestellt zu werden, was ihm genehmigt wurde Seit 1921 befand er sich im vorzeitigen Ruhestand V. Nach der Diplomatischen Karriere (1921–1963) Nach dem vorläufigen Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst ist kaum etwas aus dem Leben von Obendorff bekannt Die wichtigste Quelle für seine berufliche Laufbahn war die Personalakte des Auswärtigen Amtes, die dann ausfällt Zudem ist er keine öffentliche Person mehr, sondern „lediglich“ Privatmann Seine folgenden Tätigkeiten finden kaum noch literarischen Niederschlag V 1 Deutsch-französisches Studienkomitee Bis 1926 ist es still um ihn geworden Dann taucht er als Mitbegründer des deutschfranzösischen Studienkomitees36 auf Am 30 Mai 1926 wurde das deutsch-französische Studienkomiteé / Comité francoallemand d’Information et de Dokumentation im ARBED-Gebäude in Luxemburg gegründet Als geistiger „Vater“ gilt der französische Publizist Pierre Viénot (1897–1944) Er und der luxemburgische Schwerindustrielle Émile Mayrisch (1862–1928) werden
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Wagner, Polnisch-sowjetischer Krieg (wie Anm 33), 137 Ulrike Hörster-Philipps, Konservative Politik in der Endphase der Weimarer Republik Die Regierung Franz von Papen Köln 1982, 179–181; Franz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse München 1952, 154
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von Guido Müller als „Hirn und Herz“ der Organisation bezeichnet 37 Das Ziel des Komitees war die Verständigung mit Frankreich Informationsaustausch und Annäherung der wirtschaftlichen, kulturellen und administrativen Eliten Deutschlands und Frankreichs 38, sollten die beiden Staaten näher zusammenbringen und Vorurteile abbauen Die im Laufe seiner diplomatischen Karriere erworbenen weitverzweigten Kontakte und Erfahrungen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit konnte er in den Dienst des Komitees stellen V 2 Saarland und Verhältnis zu Franz von Papen Nach seiner aktiven Dienstzeit lebte er in München, dem Saarland, Luxemburg und Heidelberg Als sich in den frühen 1930er Jahren abzeichnete, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, wann die Nationalsozialisten an die Macht kamen, schien von Oberndorff regelrecht auf der Flucht vor rechtsextremistischen und nationalsozialistischen Nachstellungen gewesen zu sein Er gehörte ja wie Erzberger zu den „Novemberverbrechern“ Denn Hitler sprach explizit und öffentlich, dass er den „Novemberverbrechern“ an das Leben will „Hitler hatte persönlich (unter Eid, als Zeuge vor dem Reichsgericht) angekündigt, daß nach seinem Machtantritt Köpfe rollen würden – die Köpfe der ‚Novemberverbrecher‘“39 Die öffentliche Meinung bzw die Propaganda der rechten Parteien und Verbände wurde in den Wahlkämpfen Ende der 1920er immer radikaler Bei nationalsozialistischen Wahlveranstaltungen wurden Forderungen laut die „Novemberverbrecher an Laternenpfählen aufzuknüpfen 40 Dieser kaum zu zügelnde Hass veranlasste Adam Remmle, badischer Minister und Staatspräsident, eine kleine Schrift zu verfassen, um gegen diese Auswüchse Stellung zu beziehen Er stellte klar, dass nicht die Friedensstifter von 1918/19 Novemberverbrecher seien, sondern die die gegen sie zu Felde zögen 41 Dass das keine Wahnvorstellungen von Oberndorff gewesen sind, zeigen Aussagen des ehemaligen Reichskanzler Franz von Papen (1879–1969): „Am 26 Juli [1934] war ich mit meinem Sohn aus Warmbrunn wieder in Berlin eingetroffen, um meinen Umzug nach Wallerfangen einzuleiten Nachts gegen zwei Uhr werden wir durch scharfes Klopfen an der Haustür geweckt […] Drei SS-Männer erklärten, sie seien von der Reichskanzlei gesandt, um auszurichten, Hitler wünsche mich dringend am Fernsprecher Er sei in Bayreuth, und ich möge ihn sogleich anrufen Wollen diese SS-Männer
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Guido Müller, Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg München 2005, 81 Müller, Europäische Gesellschaftsbeziehungen (wie Anm 37), 82 Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler München 1978, 36 Adam Remmele, November-Verbrecher Eine kriegspolitische Studie Karlsruhe 1930, 39 Remmele, November-Verbrecher (wie Anm 40), 39–46
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mich etwa in die Telefonzelle locken, um dort eine Kugel aus dem Hinterhalt anzubringen? Diese Überlegung, mir noch heute gegenwärtig, zeigt am besten die unglaubliche innere Spannung jener Tage, die jede Rechtssicherheit vernichtet hatten “42 Diese Ereignisse trugen sich nach 1933 in Zuge des „Röhm-Putsches“ zu
Von Oberndorff scheint ein enges Verhältnis zu Papen gehabt zu haben Sie teilten rechtskatholische und frankophile Positionen, arbeiteten beide im Diplomatischen Dienst und wirkten, nicht zuletzt, im Deutsch-französischen Studienkomitee Von Papen hat Oberndorff vermutlich den Ort Wallerfangen im Saarland empfohlen, wo seine Frau ein Hofgut geerbt hatte 43 Von Oberndorff wohnte von 1931 bis 1934 in Wallerfangen im sogenannten „Schwarzen Schloss“ V 3 Luxemburg und Heidelberg Als abzusehen war, dass das Saarland dem nun nationalsozialistischen Deutschland angegliedert wird, entschloss sich von Oberndorff erneut zu einem Wohnortswechsel Er kaufte 1934 für eine Summe von 360 000 Franken das Chateau de Moestroff in Luxemburg, ein Schlösschen, in dem er mit Tochter Elisabeth und seiner Schwester Marie leben sollte Die Luxemburger Neubürger fügten sich in das gesellschaftliche Leben ein und integrierten sich schnell Lange konnten sie die Ruhe nicht genießen Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 01 September 1939 und der daraus resultierenden Kriegserklärung Frankreichs an das Deutsche Reich war abzusehen, dass das Kriegsgeschehen auch nach Luxemburg kommen würde In der Nacht vom 09 auf den 10 Mai 1940 begann die Besetzung Luxemburgs Dabei kam es beim Schloss des Grafen zu einem Zwischenfall als deutsche Soldaten eines Sonderkommandos die Besatzung einer Straßensperre angriffen 44 Ein Zivilist kam ums Leben weitere Gendarmen und Soldaten der luxemburgischen Armee wurden verletzt Eine nachträgliche Untersuchung ergab, dass Oberndorff mit seiner Tochter bei einer Jubiläumsveranstaltung war Dort trafen sie andere Deutsche u a Gustav von Puttkamer, der später mit den Nationalsozialisten kollaborierte Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass dort bekannt wurde, dass in der Nacht deutsche Truppen in Luxemburg einmarschieren Die ungewöhnlichen Verhaltensweisen auf dem Nachhauseweg der Oberndorff sprechen für diese These Oberndorff wurde nun vorgeworfen, dass er die luxemburgischen Soldaten nicht gewarnt habe Dies konnte Oberndorff jedoch nicht riskieren Denn nichts hätte die deutsche Wehrmacht aufgehalten, 42 43 44
Papen, Wahrheit (wie Anm 36), 379 Von Papen wurde in Wallerfangen das Ehrenbürgerrecht zuerkannt und er ist auch dort begraben Albert Schaack, L’Abwehr et l’invasion allemande du Grand-Duché de Luxembourg In: Hémecht 2017 Heft 1, 2017, 51–100
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und er wäre von den neuen Machthabern, wie auch immer, „aus dem Weg geräumt“ worden So konnte er zumindest versuchen, seinen Einfluss geltend zu machen, um Luxemburgern und Oppositionelle zu unterstützen Auch für seine Tochter wurde die Besatzungszeit mehr als ungemütlich 45 Obwohl sie politisch nicht die Rolle wie ihr Vater spielte, kam sie in ein Arbeitslager in einer Kugellagerfabrik, da sie sich weigerte der NSDAP beizutreten Nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch sollte sie in einer Lumpenfabrik (rag picking factory) in Ettelbrück arbeiten Sie konnte vom Arzt Joseph Sinner aus Diekirch davor bewahrt werden Sie wurde seine Fahrerin und Assistentin Kleine Gruppen Deutscher Residenten verweigerten sich der Besatzungsmacht Auch Elisabeth vermied es mit den deutschen Behörden zusammenzuarbeiten oder sie zu unterstützen Sie unterstützte vielmehr Widerstandsgruppen, indem sie vom Regime Verfolgte versteckte oder half, Geld spendete und andere Hilfen gewährte Das war nicht ungefährlich, da auf diese Taten die Todesstrafe stand, also sie sich selbst und ihre Angehörigen in Gefahr brachte Es ist davon auszugehen, dass ihr Vater Alfred sie darin bestärkte 1945 wird das Schloss während der Ardennen-Offensive schwer beschädigt Dabei soll das Privatarchiv Oberndorffs vernichtet worden sein 46 Die Familie lebte danach dort unter beschwerlichen Umständen Der Staat Luxemburg beschlagnahmt nach dem Krieg das Schloss, später wurde es von Oberndorff zurückgekauft 1955 verkaufte er das Schloss und zog 1956 in die Mönchhofstraße nach Heidelberg Er starb am 16 März 1963 im Alter von 92 Jahren in Heidelberg und ist auf dem Familiengrabfeld der Oberndorffs auf dem Friedhof in Neckarhausen bestattet
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Stadtarchiv Luxemburg AE-AW-2211 Ralf Fetzer, Die Grafen von Oberndorff Adelige Lebenswelten und Karrieren zwischen Oberpfalz und Oberrhein Edingen-Neckarhausen 2005, 293; http://industrie lu/ChateauMoestroff html
„Denn im Konzentrationslager ist man bald!“ Die Aufzeichnungen des Königsbacher Pfarrers Jakob Martin im „Dritten Reich“ Thomas Fandel I. Einführung Am 24 August 2019 wurde in Königsbach der Platz vor der katholischen Kirche nach dem ehemaligen Ortsgeistlichen Pfarrer Jakob Martin benannt 1 Bei einem Gottesdienst und einer anschließenden Feier, bei der unter anderen der Neustadter Oberbürgermeister Marc Weigel in einem Grußwort auf aktuelle Herausforderungen der Demokratie durch den wachsenden Rechtsextremismus hinwies, wurde an einen Pfarrer erinnert, dessen Misshandlung durch Nationalsozialisten im Juni 1933 weit über die Grenzen der Pfalz hinaus Aufsehen erregt hatte Aufgrund der guten Quellenlage lässt sich an den Königsbacher Ereignissen zum einen das Vorgehen pfälzischer Nationalsozialisten gegen katholische Geistliche 1933 exemplarisch beleuchten 2 Zum anderen zeigen Dokumente aus dem im Bistumsarchiv Speyer verwahrten Pfarrarchiv Königsbach, was ein Pfarrer, der sich im „Dritten Reich“ an die von staatlicher und kirchlicher Seite geforderte politische Zurückhaltung hielt, über die Ereignisse seit der Machtübernahme der NSDAP wirklich dachte Die Aufzeichnungen Martins unter dem Titel „Memorabilia“ sind aufgrund der Dichte der Überlieferung für die Jahre 1933/1934
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Vgl Der Pilger 08 09 2019, 26 f Zum Verhältnis von katholischer Kirche und Nationalsozialismus in der Pfalz vgl Helmut Prantl, Zur Geschichte der katholischen Kirche in der Pfalz unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 42, 1975, 79–117; Karl Heinz Debus, Die großen Kirchen unter dem Hakenkreuz Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Pfalz 1933–1945, in: Die Pfalz unterm Hakenkreuz Eine deutsche Provinz während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, hrsg von Gerhard Nestler / Hannes Ziegler Landau 1993, 227–272; ders , Kreuz gegen Hakenkreuz Kirchen in der Pfalz im Alltag, in: Die Pfalz unterm Hakenkreuz, 273–292; Thomas Fandel, Konfession und Nationalsozialismus Evangelische und katholische Pfarrer in der Pfalz 1930–1939 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd 76 ) Paderborn u a 1997
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Der Totenzettel Pfarrer Martins aus dem Jahr 1938 Quelle: Archiv des Bistums Speyer
und der Deutlichkeit der darin zum Ausdruck kommenden Kritik im höchsten Maße ungewöhnlich und sollen daher im Folgenden ausführlich dargestellt werden 3 Mit teilweise bissig formuliertem Spott entlarvte Martin die Propaganda und Täuschungsmanöver der Nationalsozialisten, inklusive der Manipulation einer Volksabstimmung in Königsbach Gleiches gilt für die Beschreibung der bisweilen eilfertigen Anpassung 3
In den Pfarrgedenkbüchern, in denen die Pfarrer eigentlich bewusst subjektiv Geschehnisse aus dem Pfarreileben festhalten sollten, wurde aus verständlichen Gründen zwischen 1933 und 1945 in der Regel sehr zurückhaltend formuliert Martin selbst verfasste im Pfarrgedenkbuch Königsbach (ABSp PfA Königsbach, 90–93) bis zu seinem Tod 1938 bezüglich der NS-Zeit nur einen Rückblick auf das Jahr 1933 unter der Überschrift „Annus tumultuosus, valde tumultuosus!!!“ Er beschränkte sich darauf, „in ganz bestimmter Absicht“ einen Bericht des „Rheinpfälzers“ vom 30 12 1933 über „Das Jahr der nationalen Revolution in Daten und Gedenktagen“ wiederzugeben Unterstreichungen sowie einige wenige Kommentare lassen aber dennoch seinen Standpunkt erkennen So hieß es zum 23 März („Ermächtigungsgesetz für Hitler“): „unter Druck und Terror nationalsozialistischen Straßenpöbels, der außerhalb des ‚befriedeten‘ Platzes seinen Willen sehr kultivierten Ausdruck gab Ob er dabei unter Führung und Leitung von ‚Kulturwarten‘ stand, weiß ich leider nicht “ (91) Zum 23 Juni („Ende des Parteienstaates“) schrieb er: „Damit der Parteistaat zur Allmacht kommt!!“ (92)
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von Katholiken in seiner Gemeinde an die neuen politischen Verhältnisse Ergänzende Dokumente aus weiteren Beständen des Bistumsarchivs Speyer verdeutlichen aber auch die Tragik eines politisch klarsichtigen und äußerst gut informierten Pfarrers, der sich nicht zuletzt durch die Vorgaben der Bistumsleitung und die katholische Tradition der Gehorsamsverpflichtung gegenüber der weltlichen Obrigkeit zur Loyalität gegenüber einer Staatsführung verpflichtet sah, die er zutiefst ablehnte II. Herkunft und berufliche Stationen Jakob Martin wurde er am 8 August 1880 in Zeselberg in der Westpfalz geboren 4 Nach schulischer Ausbildung und Studium in München wurde er am 14 August 1904 in Speyer zum Priester geweiht Sein jüngerer Bruder Otto (1888–1942) entschied sich ebenfalls für den Priesterberuf Jakob Martin war zunächst Kaplan in Waldsee, Herxheim bei Landau, Lambrecht und – nach einer dreimonatigen Beurlaubung aus gesundheitlichen Gründen – erneut in Herxheim Die erste Pfarrstelle, die er 1914 übernahm, war Schweix im Dekanat Pirmasens Seit 1917 leitete er die Pfarrei Bundenthal Nach Königsbach wechselte er am 1 August 1930 Martin trat in der Pfarrei die Nachfolge seines verstorbenen Stiefonkels, Prälat Franz Xaver Keßler, an 5 Keßler, auf den die 1920 erfolgte Gründung des Priestervereins der Diözese Speyer zurückging6, war eine der herausragenden, auch politisch aktiven Persönlichkeiten im Pfälzer Klerus Der spätere Anhänger der Bayerischen Volkspartei trat als Pfarrer von Eußerthal bei der Reichstagswahl 1898 als Zentrums-Kandidat für den Wahlkreis Bergzabern/ Germersheim an und unterlag nur knapp dem Vertreter der Nationalliberalen 7 Das politische Engagement Pfarrer Martins hatte somit eine familiäre Vorprägung III. Konflikte mit der NSDAP bis März 1933 Mit Königsbach übernahm Martin eine Gemeinde mit fast ausschließlich katholischer Bevölkerung 1933 wurden in dem Weinbauort 812 Katholiken und sieben Protestanten gezählt, in der Gesamtpfarrei, zu der noch einige Siedlungen gehörten, 950 Katholiken
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Zu den biografischen Angaben vgl ABSp PA Martin Martin hatte sich um die frei gewordene Pfarrei Königsbach beworben, um die Versorgung der beiden kranken und finanziell nicht abgesicherten Schwestern Keßlers, seiner Stieftanten, gewährleisten zu können (vgl ABSp PA Martin Schreiben Martins an Bischof Sebastian 10 06 1930) Jakob Bisson, Sieben Speyerer Bischöfe und ihre Zeit 1870–1950 Speyer 1956, 128 Egon Ehmer, Pfarrer Franz Xaver Keßler und seine Zeit, in: 1225 Jahre Herxheim Streifzüge durch die Geschichte des südpfälzischen Großdorfes, hrsg vom Herxheimer Heimatverein Herxheim 1998, 245–273, 269 f
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sowie 27 Protestanten 8 Entsprechend hatte Martin, wie dies gerade in kleineren Gemeinden üblich war, die Meinungsführerschaft auch in politischen Fragen Der Geistliche unterstützte den politischen Katholizismus nicht nur von der Kanzel aus, sondern trat auch als Funktionär der Bayerischen Volkspartei hervor Anfang der 1930er Jahre wurde er als Mitglied der Kreisvorstandschaft der Bayerischen Volkspartei in der Pfalz geführt, als Vertreter der Geistlichkeit 9 Um für die politische Auseinandersetzung gewappnet zu sein, studierte Martin intensiv die NS-Presse 10 Nach eigenen Angaben las er ab Februar 1932 ungefähr acht Monate lang den „Völkischen Beobachter“, zeitweise auch die „NSZ Rheinfront“ sowie die NS-Satirezeitschrift „Die Brennessel“ Entsprechend stand Martin besonders im Fokus örtlicher Nationalsozialisten, die ihre Beobachtungen an die Gauleitung in Neustadt weitermeldeten 11 In den Jahren 1932/33 erschienen in der „NSZ Rheinfront“ drei Artikel über den Königsbacher Geistlichen In der Ausgabe vom 26 April 1932 wurde dem Pfarrer vorgeworfen, er habe in der Kirche eine „zentrümliche Wahlpredigt“ gehalten und dabei die „Sünden“ der Nationalsozialisten geschildert Zwei weitere Zeitungsattacken gegen Martin wurden im Zuge der März-Wahl 1933 geführt Am 27 Februar 1933 musste sich der Pfarrer vorwerfen lassen, er habe die Pfalzwacht12, die Schutzorganisation der katholischen Parteien in der Pfalz, durch die Kirchenglocken zu einem Probealarm zusammengerufen 13 Darüber hinaus ließ der Pfarrer laut Darstellung der NS-Zeitung ein „Pamphlet“ u a an der Kirche aushängen, in dem er zu dem Überfall von Nationalsozialisten auf Angehörige der Pfalzwacht nach einer Veranstaltung mit dem ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning am 20 Februar in Kaiserslautern Stellung bezog 14 Am 9 März 1933 hieß es in dem NS-Blatt, Martin habe am Wahltag den Katholiken den Schwur abgenommen: „Wir sterben für die katholische Kirche “ Hintergrund war 8 9
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Schematismus des Bistums Speyer nach dem Stande vom 1 Januar 1934 Speyer 1934, 236 Der Pfälzer für 1932 Ein Taschenbuch für die Pfalz, hrsg vom Pfalzverband der Bayerischen Volkspartei Landau o J , 65 Bereits als Pfarrer von Bundenthal war Martin Mitglied der BVP-Kreisvorstandschaft (vgl Neue Pfälzische Landeszeitung 07 04 1930) Er trat auch als Wahlredner auf (vgl Neue Pfälzische Landeszeitung 18 03 1931, 23 07 1932) ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 25–35, 26 Schreiben Martins an Bischof Sebastian 13 04 1933 Nach Darstellung Martins (ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 107–109 Undatierte Aufzeichnung Martins zum Tod Freys am 05 10 1934) gab die von Katholiken zugetragenen „Beschwerden“ der protestantische Königsbacher NSDAP-Zellenleiter Adolf Frey weiter, dem Martin den „größte(n) Teil der Schuld“ an seiner Misshandlung im Juni 1933 zuschrieb Frey verließ noch im Sommer 1933 Königsbach und zog nach Birkweiler bei Landau Vgl Gerhard Nestler, Die Pfalzwacht Zur Geschichte der Wehrorganisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Kaiserslauterer Jahrbuch für pfälzische Geschichte und Volkskunde 5, 2004, 183–198 Zu dem Vorwurf, er habe die Glocken wiederholt aus politischen Gründen eingesetzt, erklärte Martin, es habe sich um reguläres liturgisches Geläut gehandelt (Schreiben Martins 13 04 1933, wie Anm 10, 32 f ) Vgl Gerhard Nestler, „Das Signal von Kaiserslautern“ Die Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Pfalzwacht am 20 Februar 1933, in: Jahrbuch zur Geschichte von Stadt und Landkreis Kaiserslautern 36/37, 1998/99, 181–190
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ein Sprechchor nach der Stimmabgabe Martins in Anwesenheit von vorwiegend auswärtigen NSDAP-Anhängern, die sich vor dem Wahllokal aufhielten Im Wechsel mit rund 100 Katholiken brachte der Pfarrer zum Ausdruck, dass die Gläubigen bereit seien, für Gott, die Kirche und das Vaterland, aber auch für „Wahrheit, Freiheit u Recht“ ihr Leben einzusetzen 15 Der SA-Sonderbeauftragte für den Bezirk Neustadt, Heinrich Petri, interpretierte die Verhältnisse in Königsbach dahingehend, dass der Geistliche seine Anhänger derart gegen die Nationalsozialisten aufgehetzt habe, dass diese „wenn sie nicht besonnen gewesen wären, von der aufgeregten Menge Gefahr liefen umgebracht zu werden“16 Am 15 März forderte Petri die Neustadter Bezirkspolizeibehörde auf, gegen den Pfarrer und den politisch gleich gesinnten Lehrer Ludwig Bien „entsprechende Maßnahmen zu ergreifen um diesem hetzerischen Treiben endgültig ein Ende zu bereiten, da sonst für die Sicherheit derselben keine Gewähr mehr übernommen werden kann“ Zudem legte das Bezirksamt Neustadt das Schreiben der Regierung der Pfalz vor mit der Empfehlung, beim Bischöflichen Ordinariat Speyer eine Versetzung Martins zu erreichen 17 Daraufhin musste sich der Geistliche nach der entsprechenden Eingabe der Regierung an die kirchliche Behörde für sein Verhalten rechtfertigen 18 Martin wies die Darstellung Petris in einem Schreiben an Bischof Ludwig Sebastian entschieden zurück und betonte, alles sei ruhig verlaufen 19 Unzweifelhaft ist jedoch, dass der Sprechchor aus nationalsozialistischer Perspektive eine Provokation darstellte Martin verstand es, die katholischen Reihen fest geschlossen zu halten und dies öffentlichkeitswirksam und symbolträchtig zum Ausdruck zu bringen NS-Werbemaßnahmen sollten dagegen möglichst keinen Eindruck auf Katholiken ausüben können So gab Martin – gemäß den Vorgaben von Vertrauensleuten seiner Partei – bei einem SA-Propagandamarsch durch Gimmeldingen, Königsbach und Mußbach am Tag vor der Wahl die Parole aus, Türen und Fenster zu schließen 20 Laut einer Quelle aus dem Jahr 1949 kam es bei einer NSDAP-Versammlung zu einem direkten Aufeinandertreffen des Pfarrers mit Gauleiter Josef Bürckel Als Martin, der bereits zuvor gesprochen hatte, am Ende der Veranstaltung nicht mehr das Wort erteilt wurde, habe er zusam-
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Schreiben Martins 13 04 1933 (wie Anm 10), 30 f ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Petris (Abschrift) an die Bezirkspolizeibehörde Neustadt 15 03 1933 Ebd das folgende Zitat Ebd Vermerk des Bezirksamts 15 03 1933 Ebd Schreiben Generalvikar Kleins an Dekan Joseph Schröder (Deidesheim) 04 04 1933 mit Anordnung zur Einvernahme Martins Diese erfolgte am 28 04 1933; vgl den Bericht Dekan Schröders an Bischof Sebastian 17 05 1933 Schreiben Martins 13 04 1933 (wie Anm 10), 30 f Ebd , 32
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men mit seinen Anhängern den Saal verlassen, „worauf Bürckel mit seiner Garde allein zurück blieb“ 21 Das Wahlergebnis vom 5 März 1933 belegte eindrucksvoll den prägenden Einfluss Martins auf die politischen Verhältnisse in seiner Pfarrei: 76 Prozent der Königsbacher entschieden sich für die beiden katholischen Parteien 22 Königsbach steht exemplarisch für die von der Wahlforschung herausgearbeitete Bedeutung des konfessionellen Faktors für das Abschneiden der NSDAP 23 In kleineren Gemeinden mit fast ausschließlich katholischer Bevölkerung fiel es der NSDAP generell schwer, den sprichwörtlichen „Zentrumsturm“ ins Wanken zu bringen Verstärkt wurde dies noch, wenn ein politisch äußerst aktiver Ortspfarrer wie Martin die Gläubigen zur Wahl der katholischen Parteien verpflichtete und dabei deutlich machte, dass eine Stimmabgabe für die NSDAP gemäß den Erklärungen der Bischöfe, die den Nationalsozialismus aus weltanschaulichen Gründen ablehnten, für einen gläubigen Katholiken nicht möglich sei 24 Mit diesem Vorgehen entzog der Klerus dem Nationalsozialismus potentielle Wähler und stärkte die politische Mitte der Weimarer Republik Als Ausdruck einer dezidiert demokratischen Gesinnung und eines bewussten Eintretens für die Republik kann das Votum der meisten Katholiken jedoch nicht interpretiert werden, folgten die Gläubigen doch – wie schon bei den Verdikten gegen Sozialismus und Liberalismus – schlicht den Vorgaben der Geistlichen 25 Aus Perspektive der Nationalsozialisten war Königsbach eine Bastion reaktionärer katholischer Kräfte, die sich der Ausbreitung der „nationalen Bewegung“ widersetzen Um dies zu ändern, musste die Autorität des Ortspfarrers untergraben oder dessen Versetzung aus der Pfarrei erreicht werden Martin sah sich nicht zuletzt von Nationalsozialisten aus den umliegenden, überwiegend protestantischen Gemeinden Haardt, Gimmeldingen und Mußbach angefeindet 26 Die in ländlichen Gebieten ohnehin bestehenden traditionellen Rivalitäten zwischen Nachbarorten wurden durch das unterschiedliche Wahlverhalten der Konfessionen bestärkt Die Pfalz ist ein Beispiel dafür, dass die NSDAP in ländlichen Regionen zunehmend als „protestantische Milieupartei“27 wahrgenommen und gewählt 21 22 23 24 25 26 27
LA Sp J72 343, 102 Zeugenaussage Robert Sauers 22 11 1949 im Zusammenhang mit dem unten erwähnten Verfahren wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ Nach einer Auflistung Martins von 17 katholischen Gemeinden zwischen Landau und Bad Dürkheim (ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 36 f ), in denen die katholischen Parteien Wahlergebnisse zwischen 44 und 76 Prozent erzielten, hatte Königsbach das Spitzenresultat erreicht Vgl Jürgen W Falter, Hitlers Wähler München 1991, 169–193 Zum Vorgehen des Bischöflichen Ordinariates Speyer im Hinblick auf katholische Nationalsozialisten vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 27–34 Zur Gesamtthematik vgl Wilfried Loth, „Freiheit und Würde des Volkes“ Katholizismus und Demokratie in Deutschland (Religion und Moderne, Bd 13 ) Frankfurt a M /New York 2018 Schreiben Martins 13 04 1933 (wie Anm 10), 32 Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1919–1933 Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik (Beiträge
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wurde Im Königsbacher Nachbarort Gimmeldingen etwa hatte bei der März-Wahl 1933 eine Dreiviertel-Mehrheit der Bevölkerung für die NSDAP gestimmt 28 In der Umbruchphase 1933 konnten die Nationalsozialisten bei ihrem Vorgehen gegen katholische Geistliche „den traditionell latenten Antikatholizismus der Pfälzer Protestanten“29 für ihre Zwecke instrumentalisieren Beim Sturm auf das Königsbacher Pfarrhaus im Juni 1933 spielten – wie andernorts – konfessionelle Vorbehalte eine Rolle Allerdings belegen Akten aus dem Pfarrarchiv, dass Königsbach zu den Gemeinden zählte, in denen die Anfeindungen gegen Priester von Katholiken mitgetragen wurden 30 IV. Umstellung nach dem Sturz der BVP-Regierung in Bayern Pfarrer Martin sah sich aufgrund seiner öffentlich artikulierten anti-nationalsozialistischen Haltung, die sich aufgrund seiner parteipolitischen Funktion nicht nur auf die weltanschauliche Auseinandersetzung beschränkt hatte, nach dem Sturz der BVP-Regierung in Bayern im März 1933 persönlich in Gefahr Durch Pfarrangehörige waren ihm vor der März-Wahl zahlreiche Warnungen zugegangen, dass er sich in Acht nehmen müsse Aus Mußbach drang das Gerücht nach Königsbach, Martin „sei der erste, den die Nationalsozialisten an die Wand stellen würden“, ein junger Gimmeldinger äußerte, der Pfarrer „sei der erste, der an die Reihe komme“31 Am 21 März 1933, dem „Tag von Potsdam“, befand sich Martin – wohl nicht zufällig – nicht in Königsbach, sondern aus familiären Gründen im saarpfälzischen Homburg 32 So konnte er weder den von der Gauleitung angeordneten Festgottesdienst halten, noch sich an der Feier in der Schule beteiligen Nachdem „ein schwarz gekleideter Mann (wahrscheinlich ein S S Mann)“ im Pfarrhaus sowie SA-Leute an der Wohnungstür seiner Tante nach dem Pfarrer gefragt hatten, erhielt Martin aus Kö-
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zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd 106 ) Düsseldorf 1996, 18, 472 Zur engen Verknüpfung von Protestantismus und Nationalsozialismus in der Pfalz, die im „Dritten Reich“ zu einer weitgehenden Selbstgleichschaltung der Landeskirche führte, vgl Protestanten ohne Protest Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus, hrsg von Christoph Picker / Gabriele Stüber / Klaus Bümlein / Frank-Matthias Hofmann Speyer/Leipzig 2016 Abdruck der Wahlergebnisse im Pfälzischen Kurier 06 03 1933 Karl-Georg Faber, Überlegungen zu einer Geschichte der Pfälzischen Landeskirche unter dem Nationalsozialismus, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 41, 1974, 29–58, 53 Vgl Anm 11 sowie ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 59–66, 59–62 Undatierte Aufzeichnung Martins Weitere Beispiele für das Wirken katholischer Nationalsozialisten gegen Geistliche bei Fandel, Konfession (wie Anm 2), 175–185 Schreiben Martins 13 04 1933 (wie Anm 10), 28 ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 39–44 Undatierte Aufzeichnung Martins Ebd , 41 das folgende Zitat sowie 45 f die nachfolgend erwähnten Telegramme
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nigsbach eine telegraphische Warnung, nicht zurückzukehren Im Saargebiet war er vor dem Zugriff seiner politischen Gegner sicher, da die Region unter der Verwaltung des Völkerbundes stand Erst nach einer telegraphischen Bestätigung des SA-Sonderbevollmächtigten bei der Regierung der Pfalz, Fritz Schwitzgebel, dass eine Verhaftung Martins nicht in Frage komme, fuhr der Geistliche am 23 März 1933 wieder nach Königsbach zurück Der für das Dekanat Neustadt zuständige Dekan Joseph Schröder (Deidesheim), der bereits eine Vertretung für den Sonntagsgottesdienst organisiert hatte, äußerte die Hoffnung, dass dies „vorerst genügt, um die örtlichen Organisationen von einem weiteren Einschreiten gegen den Pfarrer abzuhalten“33 Martin befand sich in einer prekären Lage Zum einen musste er Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten befürchten, zum anderen gelang es diesen, durch den schon erwähnten Versetzungsantrag Druck auf den Geistlichen auszuüben, da er gegenüber seiner vorgesetzten kirchlichen Behörde, die auf die Eingabe der Regierung der Pfalz reagieren musste, unter Rechtfertigungszwang geriet Gegenüber Bischof Sebastian stellte Martin heraus, er habe den Nationalsozialismus nicht als „nationale Bewegung“ bekämpft, sondern „in manchem wegen seiner wirtschaftlichen Versprechungen“ und gemäß oberhirtlicher Weisung „solange und soweit er kulturpolitische Forderungen vertritt, die mit der Katholischen Lehre unvereinbar sind Diese Widerstandsleistung war mein staatsbürgerliches Recht und meine priesterliche Pflicht “34 Der Pfarrer hatte zudem die unverhohlenen Drohungen führender NSDAP-Vertreter in der politischen Auseinandersetzung gebrandmarkt („Köpfe werden rollen“, „gehenkt wird doch“), was ihm dahingehend ausgelegt wurde, er habe „es verstanden, die Nationalsozialisten als wahre Teufel und als Mörderbanden hinzustellen“ Mit dem NS-Rassenwahn hatte sich Martin – wie er in anderem Zusammenhang angab – nur einmal öffentlich auseinander gesetzt Anfang der 1930er Jahre hielt er Vorträge für die katholische Jugend in Deidesheim und sprach dabei unter anderem über die „Rassenfrage“ in einem Sinn, der ihm im „Dritten Reich“ vorgeworfen werden sollte 35 „Widerstand“ bedeutete für Martin eine offensive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bis zum Machtwechsel in Bayern Die Verrohung des politischen Diskurses, auf die nicht zuletzt die NSDAP in der Schlussphase der Weimarer Republik immer stärker setzte, lehnte er ab Die fünf Pistolen, die bei Pfalzwachtmitgliedern in Königsbach gefunden wurden, hatten nichts mit der politischen Lage 1933
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ABSp PA Martin Schreiben Schröders an Bischof Sebastian 24 03 1933 Schröder ging fälschlicherweise von einer Rückkehr Martins am 24 März aus Schreiben Martins 13 04 1933 (wie Anm 10), 26 Ebd , 29 die weiteren Zitate Aus Aufzeichnungen Martins nach dem Sturm auf sein Pfarrhaus im Juni 1933 geht hervor, dass bei seinem Abtransport nach Neustadt geäußert wurde, er habe „sich über die ‚Rassenfrage‘ lustig gemacht“ Dazu schrieb der Pfarrer, über diese Frage habe er nur bei seinen Vorträgen in Deidesheim gesprochen (ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 59–66, 63 Undatierte Aufzeichnung Martins)
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zu tun 36 Wie sehr die Nationalsozialisten ein vermeintliches militantes katholisches Widerstandspotential falsch einschätzten, zeigte die erfolglose Durchsuchung des Turmes der katholischen Kirche in Königsbach am 24 März 1933 nach einem dort vermuteten Maschinengewehr 37 Dagegen beschrieb Martin einen „Angstzustand“ derjenigen Königsbacher, die bisher den politischen Katholizismus bzw die Kirche unterstützt hatten NS-Gegner in der Gemeinde, unter anderen der Pfalzwachtführer Andreas Frübis, mussten polizeiliche Untersuchungen in ihren Häusern hinnehmen, mit Franz Josef Vogt wurde ein Ortseinwohner in das im Frühjahr 1933 kurzzeitig bestehende Konzentrationslager Neustadt eingeliefert 38 Beamte und Angestellte mussten befürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren Am 22 April wurde der 22-jährige Arbeitsamt-Angestellte Walter Pfaff aus Königsbach nach über fünfjähriger Tätigkeit entlassen, da er nicht in der Lage sei, „jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten“39 Anfang April war mit dem Geschäftsführer der Ortskrankenkasse Neustadt, Josef Matt, ein weiterer Königsbacher „zwangsbeurlaubt“ worden 40 Die Furcht vor Gewalt und die existentiellen Zukunftsängste sind ein Motiv zur Erklärung der Entwicklung, die zu einer schnellen Anpassung der meisten kirchennahen Katholiken an die neuen Verhältnisse führte Noch entscheidender für das Verhältnis von Klerus und Gläubigen zum Nationalsozialismus im „Dritten Reich“ war die Umstellung der Haltung der Diözesanleitungen Nach der kirchenfreundlichen Regierungserklärung Hitlers vom 23 März 1933 hoben die deutschen Bischöfe am 28 März die bisherigen Verbote und Warnungen hinsichtlich des Nationalsozialismus auf 41 Bereits am 25 März – einen Tag nach der Durchsuchung des Kirchturms sowie zwei Tage nach seiner Rückkehr aus dem Saargebiet – brachte Pfarrer Martin im Aushangkasten an der Kirche einen Aufruf an, in dem es hieß, „daß die neue Regierung durch
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Schreiben Martins 13 04 1933 (wie Anm 10), 25 f Ebd , 26, 29 Vgl auch ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Bericht Martins über die Durchsuchung 29 05 1933 Vgl auch Akten im LA Sp H41 185, 1105 Ebd , 28 Laut einer E-Mail von Eberhard Dittus, dem Beauftragten für Gedenkstättenarbeit der Evangelischen Kirche der Pfalz, an den Verfasser vom 19 09 2019 ergibt sich aus Unterlagen im Archiv der „Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt“, dass der am 20 01 1880 geborene Vogt „offensichtlich vom 21 3–10 4 1933“ inhaftiert war Laut einem undatierten Schreiben Petris an die Bezirkspolizeibehörde Neustadt (LA Sp H41 1105) war Vogt „als Separatist bekannt und bei der Regiebahn angestellt“ Er „soll noch im Besitze eines französischen Gewehrs mit Munition sein und befleissigt sich nach wie vor eines äussert provokatorischen Auftretens“ Für den Hinweis auf dieses Schreiben dankt der Verfasser Miriam Breß ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Pfaffs an Bischof Sebastian 14 08 1933 Pfaff entschied sich noch 1933 für den Priesterberuf und wurde 1946 geweiht (ABSp PA Pfaff Qualifikationsliste) Ebd Schreiben Matts an Bischof Sebastian 09 05 1933 Vgl Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Neuausgabe, Frankfurt a M /Berlin 1986, 320 f
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Willenskundgebung des Volkes u des Reichstages rechtmäßige Obrigkeit ist, der wir Katholiken untertänig sein müssen“ 42 Am 1 Mai 1933, dem neu eingeführten gesetzlichen Feiertag, der von den Nationalsozialisten mit enormem propagandistischem Aufwand als Ausdruck der avisierten „Volksgemeinschaft“43 inszeniert wurde, hielt Martin einen Gottesdienst 44 Der Tag, an dem in Speyer durch die Teilnahme Bischof Sebastians ein deutliches Zeichen der katholischen Bereitschaft zur Mitarbeit unter den veränderten politischen Bedingungen gesetzt wurde45, begann in Königsbach mit einem Umzug durch alle Ortsstraßen und einem anschließenden Festakt auf dem Dorfplatz, wo per Radio die Rede Hitlers übertragen wurde Am Ende des Zuges reihten sich – „ohne offizielle Nummerierung und Einladung“ – der katholische Jungmännerbund und der katholische Mädchenverein ein Der Pfarrer marschierte ebenfalls mit, „an der Spitze derjenigen […], die an diesem Tag zu den ‚Letzten‘ gezählt wurden“ Auf dem Dorfplatz mussten die Katholiken ganz am Rand Aufstellung nehmen, was Martin zu der verbitterten Bemerkung veranlasste: „Wir sind die Hintersassen geworden im Vaterland! Trotzdem wir nie marxistisch gewählt haben, sondern immer den Marxismus bekämpft haben!“46 Beim Singen des Deutschlandliedes erhoben der Pfarrer sowie viele seiner Anhänger im Gegensatz zu den Nationalsozialisten nicht den rechten Arm und verweigerten sich – was zu diesem Zeitpunkt noch problemlos möglich war – dem „neuen Ritus“47 Die folgenden Programmpunkte – Horst-Wessel-Lied sowie die Radio-Übertragung – „ersparte“ sich der Pfarrer Für Diskussionen hatte schon im Vorfeld der anschließende Gottesdienst gesorgt Vor den politischen Veränderungen 1933 war die korporative Teilnahme von Nationalsozialisten mit Parteiuniformen und -fahnen an katholischen Gottesdiensten untersagt gewesen Wiederholt war es deshalb in der Pfalz zu Auseinandersetzungen gekommen, als die NSDAP bzw SA die Messfeiern dennoch zu Werbezwecken instrumentalisieren wollten 48 Vorsorglich hatte Bischof Sebastian, der die bisherige Linie eigentlich beibehalten wollte, in einem Rundschreiben an die Pfarrer die Anweisung erteilt, Gottesdienstbesuchern mit NS-Symbolen am 1 Mai die Mitfeier nicht zu ver42 43
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ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Dekan Schröders an Bischof Sebastian 17 05 1933 Zur Forschungsdiskussion über die Bedeutung der „Volksgemeinschafts“-Ideologie für die Gewinnung der Zustimmung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus vgl u a Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg ), „Volksgemeinschaft“: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte (Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“, Bd 1), Paderborn u a 2012 ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 71–79 Bericht Martins Januar 1934 Ebd , 72 die beiden folgenden Zitate Vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 122 f Bericht Martins (wie Anm 44), 74 Ebd , 75 Ebd das folgende Zitat Vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 61 f
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weigern Aus den Aufzeichnungen Martins wird das Unbehagen über die bischöfliche Vorgabe deutlich, da sich diese auf eine Partei bezog, „vor welcher der deutsche Episkopat feierlich gewarnt hatte Und diese offizielle Warnung war doch erst 5 Wochen zuvor bedingterweise zurückgenommen worden “49 Die Königsbacher Nationalsozialisten wollten sich die Gelegenheit zur demonstrativen Präsenz in der Kirche ihres langjährigen Gegners nicht entgehen lassen Am 1 Mai zogen die NS-Formationen in Uniform und mit Fahnen in das Gotteshaus ein Im Gang vor den ersten Bänken stand die Hitlerjugend in Uniform In der Wahrnehmung des Pfarrers mischten sich anti-nationalsozialistische und konfessionalistische Motive Für Martin war es ein besonderes Ärgernis, dass ihm am 30 April ein protestantischer Nationalsozialist die von katholischer Seite eigentlich unerwünschte Teilnahme mit Parteisymbolik hatte mitteilen lassen Ebenso erboste es den Geistlichen, dass ausgerechnet ein zum Protestantismus konvertierter ehemals katholischer Junge mit Fahne an der Spitze des NS-Nachwuchses stand 50 In den Bänken saßen Protestanten aus Königsbach und Gimmeldingen Den „Gemeinschaftsgottesdienst“51, wie Martin abschätzig schrieb, zog er bewusst in die Länge Er predigte fast eine dreiviertel Stunde über die Wertschätzung der körperlichen Arbeit durch die katholische Kirche und ließ den Cäcilienverein eine vierstimmige Messe von erneut einer dreiviertel Stunde singen „Insgesamt mußte man so über 1½ Stunden in strammer Haltung im Kirchgang stehen! Das war für viele eine harte Buße!“ Als am Abend ein Messdiener sowie ein weiterer Zehnjähriger in brauner Uniform zur Andacht kommen wollten, wies sie Martin unter Hinweis auf den Wunsch des Bischofs an, sich umzuziehen 52 Die Jungen gehorchten – allerdings wurde der Vorfall von einem der Väter denunziert und spielte nach der Misshandlung des Pfarrers im Juni 1933 eine Rolle Martin musste sich vom SA-Sonderbeauftragten Petri nach der Entlassung aus der „Schutzhaft“ vorhalten lassen, er sei selbst schuld, da er „die Buben in Uniform aus der Kirche fortgejagt“ habe Dem Bemühen Martins, jeglichen Verdacht konspirativen Wirkens der Katholiken von vornherein zu entkräften, war die Verlegung der Zusammenkünfte des Jungmännerbundes vom Schwesternhaus in öffentliche Lokale geschuldet 53 Allerdings kam es nach einem dieser Treffen – am Abend des Pfingstsonntags 1933 – fast zu einem Zusammenstoß mit auswärtigen SA-Leuten, als sieben Jungmänner zu einer Wirtschaft 49 50 51 52
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Bericht Martins (wie Anm 44), 76 Ebd , 77 f Ebd , 78 Ebd das folgende Zitat Ebd , 79 Ebd das folgende Zitat Der Vorfall belegt zudem, dass bereits zu einem Zeitpunkt, als die Hitlerjugend noch nicht die Staatsjugend war, eine Zugehörigkeit zu den NS-Nachwuchsorganisationen und eine weiterhin aktive Teilnahme am kirchlichen Leben sich keinesfalls ausschlossen ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 59–66, 63–65 Undatierte Aufzeichnung Martins Ebd , 65 f die folgenden Zitate
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zum Hildenbrandseck weiterzogen Dort trafen sie auf die SA-Angehörigen, die das Horst-Wessel-Lied mitsangen, das auf einem Grammophon lief Daraufhin stimmten die jungen Katholiken ihr Bruderschaftslied „Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’“ an Dass die gereizte Stimmung nicht eskalierte, war nur der Besonnenheit eines Jungmännerbunds-Mitglieds zu verdanken, das seine Vereinskameraden zum Abbruch des Gesangs bewegte In der Umbruchphase mussten sich in katholischen Gemeinden wie Königsbach die Angehörigen katholischer Vereinigungen erst daran gewöhnen, zurückhaltend zu agieren und den bisher im katholischen Milieu häufig diskreditierten Vertretern des Nationalsozialismus den öffentlichen Raum widerspruchslos zu überlassen In der Folgezeit wurden die katholischen Vereinigungen ganz in den kirchlichen Innenbereich verdrängt und teilweise ganz verboten Den katholischen Jungmännerbund traf dieses Schicksal 1938 54 Der geschilderte Vorfall am Hildenbrandseck hatte noch ein Nachspiel: Auf dem Nachhauseweg stimmte einer der Jungmänner eine Parodie auf das Horst-Wessel-Lied an: „Die Fahne hoch! Das A -loch fest geschlossen “ Es kam zu einer dreitägigen Untersuchung im Dorf Im Gemeindehaus fand ein stundenlanges Verhör statt Schließlich wurde der junge Mann verhaftet und kam für drei Wochen ins Gefängnis 55 Nach Darstellung Martins rettete ihn nur die Aussage des Wirtes, dass er „offensichtlich betrunken war“ V. Pfarrhaus-Sturm und Misshandlung Aufgrund seiner exponierten politischen Stellung zählte Pfarrer Martin in der zweiten Junihälfte 1933 zu den Opfern bei den gewalttätigen Ausschreitungen gegen konservative und bürgerliche NSDAP-Gegner in der Pfalz 56 Im Zuge dieser Aktionen sowie des von der Bayerischen Politischen Polizei angeordneten Vorgehens gegen Funktionsträger des politischen Katholizismus wurden in 21 pfälzischen Gemeinden Geistliche in „Schutzhaft“ genommen oder misshandelt In mindestens 27 weiteren Pfarreien der Diözese Speyer sahen sich Priester massiven Bedrohungen ausgesetzt oder entzogen sich befürchteten NS-Maßnahmen durch vorübergehende Flucht aus den Ortschaften In Königsbach wurde am Abend des 23 Juni 1933 das Pfarrhaus gestürmt, in dem Pfarrer Martin mit zwei seiner Schwestern sowie einem Dienstmädchen wohnte 57 54 55 56 57
Zur Geschichte der Jungmännerverbandes im Bistum Speyer vgl Eva Wetzler, Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus in Ludwigshafen, Bd 2: Die Laien (Schriften des DiözesanArchivs Speyer, Bd 11/2 ) Speyer 1995, 41–123 Laut Stadt- und Dorf-Anzeiger für Neustadt an der Haardt vom 29 04 1933 wurde der 17 Jahre alte Karl Julier am 26 April „durch die Gendarmerie nach Neustadt in Schutzhaft gebracht“ Vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 163–205 Über die Ereignisse liegt ein ausführlicher Bericht Martins vom 14 07 1933 vor (ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 1–20, ein weiteres Exemplar im ABSp PA Martin) Abdruck in: Königsbach Beiträge zur Geschichte eines pfälzischen Weindorfes Neustadt 1994, 234–246
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Kurz vor 22 Uhr wurden nach heftigem Läuten Fensterscheiben eingeworfen, das Tor zum Kelterhaus und die rückwärtige Haustür aufgebrochen Der Geistliche wurde von zwei SS-Männern verhaftet, die ihn in Begleitung von rund 16 nichtuniformierten jungen Männern aus dem Ort führten Die Königsbacher Katholiken wurden mit Schlagstöcken und Schusswaffen eingeschüchtert, um sie davon abzuhalten, ihrem Seelsorger zu helfen 58 Wie aus Akten der Nachkriegszeit hervorgeht, als die Königsbacher Ereignisse zu einem Verfahren wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ führten59, waren an der Aktion SS-Männer aus Neustadt und Mußbach sowie SA-Männer aus Mußbach und Gimmeldingen beteiligt Wer den Befehl zu dem Vorgehen gegen Martin gegeben hatte, konnte die Justiz nicht zweifelsfrei klären – verdächtigt wurde die Leitung des SS-Sturmes X/9 in Neustadt; das Gericht hielt es aber auch für möglich, dass ein inzwischen verstorbener SS-Mann, der Mitglied der Gauwache gewesen war, den Auftrag durch die Gauleitung erhalten hatte 60 Die Neustadter SS nahm auf der Fahrt per Lkw nach Königsbach in Mußbach etwa zehn bis zwölf weitere SS-Leute mit Vor dem Sturm auf das Pfarrhaus tranken sie sich in Königsbach bei NSDAP-Zellenleiter Adolf Frey, einem Gastwirt, „Mut“ an 61 Dabei „wurde der Wein in Eimern heraufgetragen“ Während die Festnahme des Pfarrers Sache der SS war, war es Aufgabe der SA, die Straßen in Königsbach abzuriegeln Laut einer Zeugenaussage aus dem Jahr 1950 hatte Gauleiter Bürckel die telefonische Anweisung gegeben, der Mußbacher SA-Sturmführer Ludwig Kerth solle „dafür sorgen, dass während der Verhaftung des Pfarrers die Ruhe und Ordnung nicht gestört werde“62 Laut Aussage Petris, der sich im November 1949 in Frankenthal in Untersuchungshaft im Zusammenhang mit der Niederbrennung der Neustadter Synagoge 1938 befand, war der Gauleiter über die Misshandlung durch die SS-Leute „sehr empört“ 63 Angesichts der kirchenpolitischen Haltung Bürckels 193364 und der Reaktionen im Ausland erscheint diese Aussage durchaus glaubwürdig 58 59 60 61 62 63
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Vgl dazu auch ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 49 f Bericht des Augenzeugen Franz Eckel, aufgezeichnet von Pfarrer Martin LA Sp J72 343 Vgl insbesondere das Urteil vom 16 05 1950 (221–232) Für den Hinweis auf diese Unterlagen dankt der Verfasser Miriam Breß Ebd , 224 f Ebd , 102v Zeugenaussage Robert Sauers 22 11 1949 Ebd das folgende Zitat Ebd , 180r Schreiben des Rechtsanwaltes H Liebhaber an die Strafkammer beim Landgericht Frankenthal 13 04 1950 Auf dem Weg nach Königsbach schlossen sich den Mußbachern einige SALeute aus Gimmeldingen an Ebd , 107v Zeugenaussage Petris 25 11 1949 „Auf Anordnung von Bürckel oder seinem Adjutanten mussten die an den Ausschreitungen Schuldigen festgestellt werden “ Folgen für die Beteiligten hatte dies jedoch nicht (ebd , 97 Aussage Johann Stettlers, 1933 Scharführer beim Neustadter SSSturm X/9, 02 11 1949) Zur Kirchenpolitik Bürckels vgl Thomas Fandel, Bürckel und die beiden großen Kirchen in der Pfalz, in: Pia Nordblom / Walter Rummel / Barbara Schuttpelz (Hrsg ), Josef Bürckel Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz Kaiserslautern 2019, 123–137
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Aus Martins Bericht unmittelbar nach den Ereignissen geht hervor, dass die Misshandlungen mit Schlägen und Fußtritten erst einsetzen, als mit Zeugen nicht mehr zu rechnen war Dabei gaben ihm die beiden uniformierten SS-Leute zu verstehen, dass er es nur ihnen zu verdanken habe, dass man ihn nicht totschlage Wie in anderen Fällen sollten die Uniformen die Aufrechterhaltung der Ordnung durch die Partei bzw deren Formationen repräsentieren Die NSDAP gab vor, die Geistlichen vor dem Ausbruch der Erregung des „Volkes“ zu schützen, die von den Klerikern – so die scheinheilige Interpretation – selbst geschürt worden sei Besondere Schmähungen musste Martin am Haus von Zellenleiter Frey erdulden, den er als zugezogenen „fanatischen Protestanten und Nationalsozialisten“ beschrieb 65 Frey warf dem Pfarrer vor, er habe gesagt, „ein Kommunist sei ihm lieber als zwölf Nationalsozialisten“ Nach eigener Darstellung hatte Martin einmal betont, in der persönlichen Lebensführung sei ihm mancher Kommunist lieber als mancher Nationalsozialist und manches Mitglied von Zentrum oder Bayerischer Volkspartei 66 Auf der Landstraße nach Mußbach wurde der Geistliche in einen Lkw verladen, der ihn nach Neustadt brachte Bei einem Zwischenaufenthalt bei der Gauleitung im „Braunen Haus“ wurde der Pfarrer erneut geschlagen Nach der Einlieferung ins Amtsgerichtsgefängnis ließ der Gefängnisverwalter Martin noch in der Nacht durch den Bezirksarzt behandeln 1949 bezeugte der Mediziner: Der Pfarrer „sah fürchterlich aus und war von oben bis unten mit Blut bedeckt“67 Gauleiter Bürckel nutzte die von NSDAP-Anhängern inszenierten Ausschreitungen gegen Priester in der Pfalz, um die Gauleitung als Hüterin der Ordnung und des Christentums darzustellen und um Geistliche zu kriminalisieren, die sich nicht auf Seelsorge in einem ganz eng verstandenen Sinn beschränken wollten In dieser Perspektive waren die von der Gewalt Betroffenen „politisierende“ Geistliche, die durch ihr eigenes Verhalten den verständlichen Unmut der mit der nationalen Bewegung Sympathisierenden auf sich gezogen hatten Dass die Pfarrer – insbesondere in der Auseinandersetzung um den Fortbestand der Konfessionsschulen – oberhirtlichen Vorgaben gefolgt waren, wurde verschwiegen Die in „Schutzhaft“ genommenen Geistlichen kamen erst wieder frei, nachdem sie sich schriftlich verpflichtet hatten, sich in Zukunft jeglicher Kritik an der Regierung Hitler zu enthalten 68 Zuvor hatte Bürckel ein entsprechendes Abkommen mit Bischof Sebastian geschlossen, das politische Äußerungen katholischer Geistlicher verhindern sollte und im Gegenzug den
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ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 2–20, 9 Bericht Martins 18 07 1933 Ebd das folgende Zitat ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Dekan Schröders an Bischof Sebastian 17 05 1933 LAS J72 343, 110r Zeugenaussage Dr Hermann Lehnerts 01 12 1949 Lehnert wurde am Morgen nach der Einlieferung Martins selbst verhaftet, allerdings nicht wegen der medizinischen Betreuung des Pfarrers „Mir wurde vorgeworfen, dass ich Erkrankte vorzeitig gesund schreiben würde “ ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 114 f Undatierte Aufzeichnung Martins zum 27 06 1933
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Schutz des entpolitisierten Klerus zusicherte 69 Die Speyerer Bistumsleitung forderte von den Priestern anschließend äußerste Zurückhaltung in politischen Fragen, wenn nicht Belange der Kirche tangiert waren Das im Juli 1933 abgeschlossene Reichskonkordat zielte durch das Verbot einer parteipolitischen Betätigung der Geistlichen in die gleiche Richtung Bei der Entlassung aus der Haft am 26 Juni 1933 verbot der SA-Sonderbeauftragte Petri Martin, sich bis zur Heilung seiner Wunden in die Öffentlichkeit zu begeben und Besuch zu empfangen 70 Ein Pfarrer, dem man die erlittenen Misshandlungen so offenkundig ansah, war alles andere als eine Werbung für den Nationalsozialismus und die angestrebte „Volksgemeinschaft“ Aus Furcht vor der „Greuelpropaganda“ des Auslands suchte Petri Martin am Abend des 26 Juni noch einmal auf und ersuchte ihn, sich in seinem Zustand nicht fotografieren zu lassen Da aus geschäftlichen oder seelsorglichen Gründen aber doch Leute ins Pfarrhaus kamen und Verwandte sowie Geistliche Martin besuchten, wurde vom 28 Juni bis 9 Juli ein Posten aus dem Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes zum Pfarrhaus abkommandiert Der Wachposten durfte außer der Krankenschwester und dem Arzt niemanden hineinlassen Eine Tante, die Martin besuchte, musste sich einen Passierschein ausstellen lassen Der Geistliche überlistete die Wache jedoch insofern, als er Besucher im Garten des Pfarrhauses empfing Bezeichnenderweise beantragte Martin bei Bischof Sebastian, dass während der Zeit seines Hausarrestes der öffentliche Gottesdienst für die Pfarrei ausfallen sollte 71 Wie schon am 25 Juni – an diesem Tag hätten das Patronatsfest der Pfarrei sowie das zwölfstündige Gebet gefeiert werden sollen – mussten die Königsbacher am 2 Juli der Verpflichtung zum Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes auswärts nachkommen 72 Martin setzte ein für die katholische Bevölkerung unmissverständliches Zeichen des Protestes gegen seine Behandlung Als dem Pfarrer am 2 Juli das Gerücht hinterbracht wurde, er habe sich fotografieren lassen, forderte Martin die Gauleitung schriftlich dazu auf, „den Denunzianten“ festzustellen 73 Er bezog sich dabei ausdrücklich auf die Erklärung, die er bei seiner Haftentlassung hatte unterzeichnen müssen und in der den Priestern Schutz durch 69
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Die von der Gauleitung in Umlauf gebrachte Version und der im Oberhirtlichen Verordnungsblatt Nr 9 vom 29 06 1933 veröffentlichte Text waren nicht identisch; vgl Die kirchliche Lage in Bayern nach den Regierungspräsidentenberichten 1933–1943, Bd V: Regierungsbezirk Pfalz 1933–1940, bearb von Helmut Prantl (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd 24 ) Mainz 1978, 7 f Martin sah einen „sehr scharfen Widerspruch“, der ihn zu folgenden Fragen veranlasste: „Wer ließ sich überrumpeln? Hat die Kirche bereits ihren staatlichen Kirchenvogt?“ (Aufzeichnung Martins, wie Anm 68, 115) Zum Folgenden vgl den in Anm 57 genannten Bericht Martins ABSp PA Martin Schreiben Martins an Bischof Sebastian 26 06 1933 ABSp PfA Königsbach Pfarrgedenkbuch, 93 f ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Martins an Bischof Sebastian 06 07 1933 mit einer Abschrift seiner schriftlichen Aufforderung an die Gauleitung Martin konnte es sich nicht verkneifen, bezüglich der Fotos zu betonen: „Zweifellos hätte ich das Recht und allen Anlaß dazu
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die Partei zugesichert worden war Außerdem knüpfte Martin mit seiner Beschwerde daran an, dass die NSDAP angesichts des ausufernden Denunziantentums selbst entsprechende Gegenmaßnahmen für notwendig erachtete74 – für einen Fall wie den des Geistlichen galt dies allerdings sicherlich nicht Martin nahm die Gauleitung beim Wort – angesichts der Missachtung von Recht und Ordnung, die er am eigenen Leibe erfahren hatte und die exemplarisch für die Entwicklung in ganz Deutschland war, auf den ersten Blick ein naives Verhalten Liest man jedoch die Aufzeichnungen Martins aus dieser Zeit, liegt die Interpretation nahe, dass es ihm darum ging, die Unaufrichtigkeit der öffentlichen Äußerungen führender NS-Vertreter wie Bürckel zu demaskieren Trotz aller gegenteiligen Bemühungen der NSDAP sorgte der Fall Königsbach für erhebliches Aufsehen Er war sogar Thema bei der Paraphierung des Reichskonkordats am 8 Juli 1933 in Rom In einem Bericht Rudolf Buttmanns, der als Ministerialdirektor und Leiter der kulturpolitischen Abteilung im Reichsministerium des Innern maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt war, hieß es: „Dann erörtert Pacelli neuerdings einige Tatarenmeldungen, namentlich aus der Pfalz (Königsbach!), wo ein Pfarrer nachts aus dem Pfarrhaus geholt, ‚barfüßig und ohne Strümpfe‘ eine Viertelstunde weit zum Auto gebracht und geschlagen worden sei, bis er zusammengebrochen sei u s w Ich ergreife das Wort: es werde sich wohl um einen politisch exponierten Pfarrer handeln, die Pfälzer seien sehr temperamentvolle Leute, übrigens sei der Gauleiter katholisch “75 Auch in der Presse des Auslandes wurde der Fall thematisiert 76 Da in den Beiträgen fälschlicherweise die Rede davon war, dass Martin sich im Krankenhaus befinde und mit den Sterbesakramenten versehen worden sei, erschien am 12 Juli in der dem politischen Katholizismus nahestehenden Zeitung „Der Rheinpfälzer“ – „wohl zwangsweise“, wie der Pfarrer vermutete – ein Artikel unter der Überschrift „Entlarvte Lügner“ Als Zeuge gegen die ausländische Berichterstattung wurde ausgerechnet das NS-Opfer Martin angeführt; der Pfarrer hatte einem Polizeidiener bestätigt, der ihn nach einem Anruf der Gauleitung beim Bürgermeisteramt Königsbach aufgesucht hatte, dass er nicht im Krankenhaus behandelt worden war Der Geistliche wollte zunächst mit einem äußerst bissig formulierten Leserbrief auf den Versuch der NS-Propaganda reagieren77, die Öffentlichkeit über den eigentlich entscheidenden Punkt des
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gehabt! Aus gewissen Rücksichten sah ich von diesem meinem Rechte ab “ Eine Reaktion der Gauleitung ist – wenig überraschend – nicht überliefert Vgl Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940 Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd 28 ) München 1988, 835 f Vgl auch eine entsprechende Bekanntmachung Petris in der NSZ Rheinfront 11 07 1933 Scholder, Kirchen (wie Anm 41), 511 Zum Folgenden vgl ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 53–56 Aufzeichnung Martins 14 07 1933 Ebd , 53 und 56 die folgenden Zitate Martin formulierte u a „Ich war nicht im Krankenhaus! Ich war nur ins Gefängnis gesteckt worden! Ich wurde nicht mit den hl Sterbesakramenten versehen Ich wurde im Verlauf der Aktion
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Vorfalls – die brutale Misshandlung – zu täuschen Er sah jedoch davon ab, um nicht neuen Ärger für die Zeitung und insbesondere für sich selbst heraufzubeschwören In seinen Aufzeichnungen hielt Martin fest: „‚Justitia‘ wurde die Augenbinde abgenommen und der ‚Veritas‘ wurde sie angelegt! Das liegt so im Zuge des ‚Tages von Potsdam‘ und auf der Linie des ‚Flötenspielers von Sansouci‘ [sic] Recht ist, was dem Staate nützt; Unrecht ist, was dem Staate schadet!“ Von den Ausschreitungen im Juni 1933 waren weitere Geistliche im Dekanat Neustadt betroffen 78 Nach den Vorfällen in Königsbach verließ der für Mußbach und Gimmeldingen zuständige katholische Seelsorger Georg Becker seine Pfarrei vorübergehend, um sich in Sicherheit zu bringen Becker hatte sich zwar in politischen Fragen im Vergleich zu Martin nicht so stark exponiert, war aber wegen seines Einsatzes für die Bekenntnisschule gefährdet Zudem war seine Pfarrei im Gegensatz zu Königsbach eindeutig protestantisch geprägt – in der katholischen Pfarrei Mußbach, zu der auch Gimmeldingen gehörte, lebten 825 Katholiken und 3574 Protestanten 79 Ein ähnliches Schicksal wie Martin erlitt der Pfarrer von Meckenheim, Jakob Blum Der Geistliche wurde am 25 Juni 1933 in seinem Pfarrhaus überfallen, misshandelt und bis zum 26 Juni in Haft genommen Wenige Tage später mussten die Vorstände der katholischen Vereine in der gesamten Pfalz Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen In Königsbach wurden am 29 Juni das Barvermögen des Cäcilienvereins sowie die Kasse des katholischen Jungmännerbundes beschlagnahmt 80 Die angezielte Verdrängung Martins aus Königsbach gelang nicht Während das Bischöfliche Ordinariat Speyer bezüglich des Meckenheimer Seelsorgers sowie des Pfarrers von Niederkirchen, Fridolin Schuler, gegenüber der Regierung der Pfalz eine Versetzung in Aussicht stellte, letztlich aber nicht vollzog, wurde dies im Falle Martins direkt abgelehnt, wenn auch mit der gegenüber der Regierung diplomatischen Formulierung, diese erscheine „vorerst nicht veranlasst“ 81 In der weitgehend hinter dem Geistlichen stehenden Gemeinde wäre ein Wechsel in der Leitung der Pfarrei nicht verstanden worden Vielmehr wäre dies als ein Nachgeben gegenüber jenen politischen Kräften gesehen worden, die für die Misshandlung des Geistlichen verantwortlich waren Bereits bei der von der NSDAP im Frühjahr 1933 angezettelten Kampagne
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nur auf der Gauleitung in sehr zuvorkommender Weise mit Heftpflaster versehen “ Bezüglich der „Lüge“, er sei bis zur Unkenntlichkeit misshandelt worden, schrieb der Pfarrer: „Als ich am 26 Juni gegen Mittag aus der angeblichen Schutzhaft heraus am Pfarrhaus Königsbach angeliefert wurde, hat mich unser Dienstmädchen, das die Türe öffnete, mit aller Bestimmtheit sofort erkannt – an meinem Koffer!“ (ebd , 55) Zum Folgenden vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 168–174 Vgl darüber hinaus zur Misshandlung Blums Akten im LA Sp H41 217 Schematismus 1934 (wie Anm 8), 240 ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Martins an Bischof Sebastian 29 06 1933 ABSp BO NA 28/10 Karton 1/Blum Schreiben Generalvikar Kleins an die Regierung der Pfalz 27 07 1933
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gegen Martin hatte Dekan Schröder die Forderung nach einem Abzug für nicht begründet gehalten und festgestellt: „Zudem würde eine Bestrafung oder gar Versetzung des Pfarrers in Königsbach eine neue Aufregung hervorrufen, die viel größer wäre, als die Aufregung vor u nach der Wahl “82 VI. Sarkastische Kritik trotz kirchenpolitischer Ruhe In der Folgezeit kam es in der Pfalz zu einer Beruhigung des Verhältnisses von katholischer Kirche und Nationalsozialismus, die vor allem der im Januar 1935 anstehenden Abstimmung über den weiteren völkerrechtlichen Status des nahe gelegenen Saargebietes geschuldet war 83 Als Saarbevollmächtigter Hitlers legte Bürckel großen Wert darauf, die katholisch geprägte Region nicht durch kirchenpolitische Maßnahmen zu irritieren, die sich negativ auf das von der NSDAP erwünschte Ergebnis hätten auswirken können Pfarrer Martin hielt sich nach dem Sturm auf sein Pfarrhaus und der geleisteten Unterschrift bei seiner Haftentlassung in politischen Fragen gemäß den Vorgaben der Bistumsleitung zurück Jedoch geht aus den Unterlagen im Pfarrarchiv Königsbach hervor, was ihn im Innersten bewegte Dem Pfarrer war es ein Anliegen, die Entwicklungen im „Dritten Reich“ für die Nachwelt aus seiner Perspektive festzuhalten Zum Teil formulierte Martin in äußerst sarkastischer Weise In einem undatierten Dokument „Memorabilia – Wie ich zum ersten Mal im Leben einen ‚Parademarsch‘ abnahm“ beschrieb der Geistliche die Vorgänge in Königsbach im Zusammenhang mit der Auflösung der Bayerischen Volkspartei 84 Aus Martins Darstellung ergibt sich zunächst ein interessanter Rückblick auf die Zeit vor den politischen Veränderungen Demnach hatte es in der Gemeinde ein lebendiges Parteileben der Bayerischen Volkspartei, aber keine straffe Organisation gegeben Es existierten weder eine Vorstandschaft noch ein Mitgliederverzeichnis „Kaum ½ Dutzend“ Königsbacher repräsentierten als „Vertrauensleute“ die Partei in der Öffentlichkeit 85 Man hielt Parteiversammlungen ab, verkaufte zum Jahresende den „Pfalzkalender“ und lieferte die Erlöse an das BVP-Parteisekretariat in Neustadt ab Kosten – etwa für auswärtige Redner – übernahm der Geistliche selbst Die Partei war ganz auf Martin ausgerichtet und wurde von ihm dominiert Diese Nichtorganisation der BVP, die dem Pfarrer weitgehende
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Ebd , Karton 5/Königsbach Schreiben Schröders an Bischof Sebastian 17 05 1933 Vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 237–264 ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 67–70 Undatierte Aufzeichnung Martins Besonders empörte Martin die Verhaftung des ehemaligen BVP-Landtagsabgeordneten Josef Siben aus Deidesheim (68 f ) Ebd , 67
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Freiräume für sein politisches Handeln schuf, ist ein weiterer Beleg für das bereits angesprochene problematische Verhältnis vieler Katholiken zur Demokratie Als die Gemeinderäte entsprechend der Wahl vom März 1933 zugunsten der NSDAP umgebildet werden sollten, fehlten in Königsbach die notwendigen BVP-Parteistrukturen Katholische Männer baten den Pfarrer daher, „bei der Erledigung dieser ‚gesetzlichen‘ Formalitäten mitzuwirken“86, was dieser aber ablehnte Somit konnte Martin keine Auskunft geben, als er am 7 Juli 1933 – während der Zeit seines Hausarrestes – von einem Gendarm sowie zwei SA-Leuten aus Deidesheim über örtliche Parteifunktionäre verhört wurde Martin wurde laut, da einer der SA-Männer „in verletzender Weise“ die Wahrheit der Aussagen in Zweifel zog „Der Jüngling schwieg Der Gendarm fragte noch, ob eine Parteikasse vorhanden sei Ich verneinte das, da Beiträge ja nicht erhoben worden waren Dann standen die drei auf und stampften im Gänsemarsch hintereinander in militärischem Gleichschritt der Türe zu Neben der Türe stehend, nahm ich ‚Haltung‘ an, legte beide Hände an die Hosennaht und ließ den Parademarsch der drei an mir vorbeidefilieren “ Im April 1934 rief ein von Papst Pius XI herausgegebenes „Osterschreiben an die kath Jugendverbände Deutschlands“ die Bayerische Politische Polizei auf den Plan87, da es geeignet sei, „Beunruhigung in die Bevölkerung zu tragen“88 Das Schreiben, das in Königsbach im Anschlagkasten vor der Kirche der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, sollte laut einer Anweisung Heydrichs polizeilich entfernt werden Martin gelang es in diesem Zusammenhang erneut, den Gläubigen in Königsbach zu veranschaulichen, was er von der vermeintlichen Kirchenfreundlichkeit der Nationalsozialisten hielt Dem Polizeidiener gab er zur Auskunft: „Meine Hand holt die Ansprache des Papstes nicht aus dem Anschlagkasten Ihnen ist es befohlene Amtspflicht Hier haben Sie den Schlüssel! Holen Sie die gefährliche Sache heute Abend gleich nach dem Salve heraus, damit die Besucher dieser Andacht es sehen “ Entsprechend wurde verfahren Besonders bemerkenswert ist die Aufzeichnung Martins zu der Volksabstimmung am 19 August 1934, mit der sich Hitler nachträglich die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in seiner Person absegnen ließ Unter der Überschrift „amerikanischer ‚Großzirkus‘“89 kritisierte Martin die „mit allen staatlichen Macht-, Zwangs- und Druckmitteln“ arbeitende NS-Propaganda auf Reichs-, Gau- und Ortsebene Erwähnung fanden unter anderem die Goebbels’schen „Zwangsauflagen an die noch ‚katholischen‘ Zeitungen“ und die „Eisenbahn-Propagandazüge 86 87 88 89
Ebd , 68 (Man beachte die von Martin gesetzten Anführungszeichen ) Ebd , 69 sowie 70 die folgenden Zitate Vgl Akten im ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 80–82, Zitat 80 Ebd , 82 das folgende Zitat Ebd , 80 Anweisung Heydrichs 14 04 1934 Ebd , 82 das folgende Zitat (handschriftliche Notiz Martins) ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 116–121 Undatierte Aufzeichnung Martins Ebd , 116 und 117 die folgenden Zitate
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[…] auf Kosten der Reichsbahn über alle pfälzischen Strecken“ In Königsbach fand ein Marsch der Schulkinder mit einem Sprechchor statt, den Martin als „eine Armseligkeit“ vom Inhalt und Rhythmus her bezeichnete 90 Allerdings verweigerte sich der Pfarrer nicht der angeordneten Beflaggung und hisste am Pfarrhaus die schwarz-weißrote Reichsflagge Nach der genauen Beschreibung der Vorgeschichte hielt Martin die Manipulation des Abstimmungsergebnisses fest: „Sehr gespannt wartete man auf das Resultat der Abstimmung Amtlich wurde es angegeben wie folgt: 499 Ja, 10 Nein! Man war überrascht, daß es nur 10 Nein sein sollten Das Rätsel wurde mir anderen Tages im Vertrauen ‚gelöst‘ Ein Mitglied des Wahlausschusses (Herr Hauptlehrer Bien), der bei der Auszählung der Stimmzettel als Schriftführer mitwirkte, berichtete mir nämlich folgendes: Nach Schluß der Abstimmung wurden die Ja-Zettel zusammengelegt, ebenso die Neinzettel Von letzteren gab es ein recht ansehnliches Häuflein Der Wahlvorsteher geriet in Verlegenheit, bekam einen roten Kopf und meinte schließlich: ‚Das geht so nicht ‘ Dann nahm er einen kleinen Teil der Neinzettel und legte ihn beiseite Die übrigen Neinzettel legte er zu den Jazetteln Selbstverständlich wurde ein Widerspruch dagegen nicht erhoben! Denn im Konzentrationslager ist man bald!“91
Aus dem Bericht geht hervor, dass Martin nicht nur die Wahlmanipulation erregte, sondern dass er den Vorgang der Abstimmung insgesamt aufgrund der pseudodemokratischen Vorgehensweise ablehnte: „Der ‚Führer‘ ordnet an durch ‚Verordnung‘ oder ‚Gesetz‘ vom 3 August – wer weiß es? –, daß das deutsche Volk befragt werden soll, ob es seine Zustimmung gebe zu der am gleichen 3 August vorgängig und ‚gesetzlich‘ bereits verfügten Zusammenlegung der Befugnisse des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in der Hand Adolf Hitlers “ Eine Woche zuvor – am 12 August 1934 – hatte Martin in einer Predigt über den Kanon 1169 CIC die Gläubigen über die kirchlichen Vorschriften bezüglich der geweihten Kirchenglocken unterrichtet und dabei vor allem herausgestellt, dass eine Benutzung der Glocken zu nicht kirchlichen Zwecken – außer in Notfällen – nur mit Genehmigung des Bischofs möglich sei 92 Hintergrund war das Geläut aus Anlass des Todes Hindenburgs am 2 August Martin hatte die Glocken läuten lassen, obwohl die bischöfliche Genehmigung erst am folgenden Tag eingetroffen war Im Falle einer Weigerung hatte er mit eventuellen Zwangsmaßnahmen örtlicher NSDAP-Anhänger gerechnet, wie seiner Predigt zu entnehmen ist „Ich glaubte, daß ein Notstand gege-
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Ebd , 118 Die Kinder riefen unter anderem: „Kein Recht ohne Macht! Keine Macht ohne Einigkeit! Deshalb mit Hitler zu unserer Freiheit! Der tote Hindenburg will es!“ Ebd , 120 f Nach Angaben des Wahlvorstehers an Hauptlehrer Bien handelte es sich um 70 NeinStimmen ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 86–100 Predigttext Ebd , 98 f das folgende Zitat
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ben sei Der Herr Bischof hat nämlich den Pfarrern vor längerer Zeit schon mitgeteilt, falls in einer Pfarrei die Gefahr besteht, daß bei solchen Anlässen von Unberufenen die Kirche oder der Turm gewaltsam erbrochen und so das Gotteshaus entwürdigt würde, solle der Pfarrer das Läuten vornehmen lassen, wenn die Bischöfliche Genehmigung auch noch nicht da sei […] Der eine und andere Pfarrer in ganz katholischer Gemeinde glaubte nicht an diese Möglichkeit und hat sich schwer getäuscht!“ Der Text ist über den eigentlichen Anlass hinaus interessant, da er Aufschluss über die nationale Haltung Martins gibt, die seiner ehemaligen BVP-Zugehörigkeit entspricht Im Zusammenhang mit der Erläuterung des kirchlichen Rechtsbuchs stellte er seinen Zuhörern Kardinal Pietro Gasparri als Rechtsgelehrten vor, der 1919 – als „die ganze Welt von rachsüchtigem Haß gegen unser Vaterland geradezu flammte und loderte“93 – die Rechte des deutschen Volkes verteidigt habe Als im „sogenannten Friedensvertrag von Versailles“ die Auslieferung des deutschen Kaisers sowie der obersten Heerführer gefordert worden sei, habe Gasparri im Osservatore Romano ein Rechtsgutachten veröffentlicht, das dazu geführt habe, „dass dem deutschen Volk wenigstens diese Schmach […] erspart geblieben“ sei Für Martins Sicht auf den Nationalsozialismus waren jedoch nicht politische Schnittmengen – etwa in der Beurteilung des Versailler Vertrages – das Entscheidende, sondern die kirchenpolitische Lage in Deutschland Unter Martins Dokumenten befindet sich beispielsweise ein „Vertraulicher Bericht eines einberufenen Landjahrführers“, der dem Geistlichen am 20 September 1934 anonym zugegangen war 94 Während des Schulungskurses, auf den sich der Bericht bezog, wurde kompromisslos eine Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus proklamiert Der Nationalsozialismus wurde als „die neue, allein wahre Religion, geboren aus Blut und Boden nordischen Geistes und nordischer Seele“ präsentiert „Die noch bestehenden Konfessionen müssen schnellstens verschwinden bezw falls sie sich nicht freiwillig auflösen, von Staats wegen beseitigt werden Der § 24 des Parteiprogramms ist nur ein aus Werbungszwecken eingeführter Köter [sic] für die Schwarzen aller Schattierungen Nur ein vollständiger Idiot verläßt sich auf [das] Programm und [das] Konkordat mit Rom Jedem Einsichtigen ist klar, daß NS und Christentum Todfeinde sind Im nationalen Staat sind Kirchen undenkbar Die Kirchen sind politische Konstitutionen und als solche als staatsfeindlich auszurotten Es gibt weder Gewissens- noch Lehr- noch Denkfreiheit Der Staat übernimmt in seiner Totalität volle, alleinige Verantwortung für Lehre und Leben Anders denken ist staatsfeindlich “
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Ebd , 87 Ebd , 87 und 88 die folgenden Zitate ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 110–113 Ebd , 110 die folgenden Zitate Abdruck des Berichts (mit leichten Modifikationen im Vergleich zu dem Pfarrer Martin vorliegenden Text) bei Jochim Kuropka (Hrsg ), Geistliche und Gestapo Klerus zwischen Staatsallmacht und kirchlicher Hierarchie (Anpassung – Selbstbehauptung – Widerstand, Bd 23 ) Münster 2004, 41–44
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Zwar standen solche radikalen antichristlichen Thesen im Anschluss an Rosenberg, dessen „Mythus“ parteiintern keineswegs unumstritten war, nur für einen Teil der NSDAP 95 In den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ ging es nicht um die „Vernichtung“ der Kirchen, sondern um „die schrittweise Zurückdrängung ihres öffentlichen Einflusses und die Integration in den neuen NS-Staat“96 Doch mussten die weltanschaulichen Gegner des Nationalsozialismus im Klerus einen solchen Bericht schon 1934 als Bestätigung ihrer Befürchtungen sehen Martin trug offensichtlich Belege für eine antichristliche bzw antikatholische Haltung der Partei zusammen Im November 1934 erreichte ihn ein Schreiben des Rottenburger Bischofs Joannes Baptista Sproll, der wahrscheinlich auf eine Anfrage Martins reagierte 97 Darin bestätigte der Bischof, der als entschiedener NSDAP-Gegner galt und 1938 aus seiner Diözese verwiesen wurde98, dass er ein Lied, in dem es unter anderem hieß, dass die Hitlerjugend nicht Christus, sondern Horst Wessel folge, einige Male auf der Kanzel zitiert habe Noch bezog der Staat die Kirchen in seine Feierlichkeiten mit ein – etwa beim Erntedanktag am 30 September 1934 99 Doch Martin registrierte die sich vollziehenden Veränderungen genau und versuchte, die Gläubigen in seiner Gemeinde durch eigene Akzente an die kirchliche Gemeinschaft zu binden Bei der Feier 1933 waren die Parteiformationen in Königsbach im Hochamt im Kirchengang aufmarschiert, der Tag wurde mit „großer Aufmachung“ begangen 1934 sollte jede Gemeinde – wie Martin es formulierte – den Tag „ad libitum“ begehen „Abgesehen von der ‚mystischen‘ oder – ‚mistischen‘ Massenfeier am Bückeberg in Thüringen war sonst überall der ‚Ritus‘ und die ‚Liturgie‘ ausgegangen “ Martins Formulierungen lassen an seiner Ablehnung der weltlichen Feiern keinen Zweifel bestehen Zum einen war er als Geistlicher generell gegen die damit verbundenen Vergnügungen („Erntetanzfest“, „Erntesauffest“100), zum anderen passte ihm der weltanschauliche Hintergrund nicht, wie sein Seitenhieb auf die NS-Massenveranstaltung in Thüringen belegt Eine völlige Uminterpretation eines kirchlichen Feiertages zu NS-Zwecken wollte Martin nicht hinnehmen Entsprechend gestaltete er seine Predigt101 im morgendlichen Gottesdienst ganz in christlichem Sinne und versäumte es nicht, darauf hinzuweisen, dass die Kirche sich „ehrlich und herzlich“ freue, „wenn Jahrhunderte-alte, katholisch-kirchliche Gebräuche auch
Vgl Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus Stuttgart 2014, 132–135 Dietmar Süß, „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ Die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd 10176 ) Bonn 2018, 115 97 ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 128 Schreiben Sprolls an Martin 23 11 1934 98 Vgl Dominik Burkard, Joannes Baptista Sproll Bischof im Widerstand Mensch – Zeit – Geschichte Stuttgart 2013 99 ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 101–106 Aufzeichnung Martins 02 10 1934 Ebd , 101 die folgenden Zitate 100 Ebd, 104 101 In Königsbach war im „laikalen“ Programmablauf, wie Martin schrieb, ein „gemeinsames Antreten zum Gottesdienst“ vorgesehen (ebd , 101)
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von der bürgerlich-staatlichen Gemeinschaft wieder zu Ehren gebracht werden wollen“102 Besonders aufwendig und feierlich gestaltete er am Abend eine „Danksagungsandacht vor ausgesetztem Allerheiligstem“, die „sehr gut besucht“ war Martin ließ die Messdiener mit Fahnen vom Schwesternhaus zur Kirche ziehen, in der im Chorraum zudem Schulkinder und Jungmänner mit Körbchen, gefüllt mit Früchten, mit Winzer-Arbeitsgeräten, geschmückten Stecken in Kreuzform sowie einem Spruchband mit der Inschrift „Großer Gott, wir loben dich“ Aufstellung genommen hatten Die Predigt über den im Mai 1934 heilig gesprochenen Bruder Konrad von Parzham hielt der in Königsbach zu Besuch weilende Pater Joseph Anton aus Altötting, der im Kanonisationsprozess als Vizeapostulator gewirkt hatte Martin war mit der Resonanz auf seine Gegenveranstaltung zu den weltlichen Vergnügungen äußerst zufrieden Die Feier habe auf die Gläubigen einen „sehr tiefen Eindruck“103 gemacht „Und was die Hauptsache ist: Die ‚laikale Liturgie‘ der Straße, der Trommel und des Gleichschrittes war geschmissen nach Noten!“ In seiner Predigt forderte Martin zur Hilfe über die „Caritas, kirchlich“ und das „Winterhilfswerk, staatlich“ auf 104 Auf sozial-karitativem Gebiet lag eine Zusammenarbeit von Staat und Kirche nahe Kirchlicherseits wollte man in diesem Bereich möglichst lange Einfluss auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen behalten Entsprechend war Martin in Königsbach Mitglied des WHW-Ausschusses, wurde aber Ende 1934 aus dieser Funktion verdrängt, „eliminiert“105 Den Vorsitz übernahm statt des Ortsbürgermeisters Ludwig Pfaff der „Führer“ des „Bundschuhs“, Georg Schreck; neu aufgenommen wurde „eine begeisterte Nationalsozialistin“ Die innerörtlichen Turbulenzen, die der Wechsel im Vorsitz nach sich zog und in die sowohl der Neustadter NSDAP-Kreisleiter Hieronymus Merkle106 als auch der neue Königsbacher Zellenleiter, Lehrer Jakob Fouquet107, involviert waren, kommentierte Martin gewohnt bissig: „Die ‚Volksgemeinschaft‘ scheint sich einmal wieder ‚auseinander gerauft‘ zu haben “108
102 103 104 105 106
Ebd , 102 Ebd 104 die beiden folgenden Zitate Ebd , 106 Ebd das folgende Zitat Ebd , 103 ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 132 f Aufzeichnung Martins 16 12 1934 Ebd die folgenden Zitate Zu Merkle vgl Franz Maier, Biographisches Organisationshandbuch der NSDAP und ihrer Gliederungen im Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz (Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Bd 28 ) Mainz 2007, 348–350 107 Zu Fouquet (1902–1978), der am 1 April 1934 von Rödersheim, wo er auch als 1 Bürgermeister gewirkt hatte, an die katholische Volksschule Königsbach versetzt worden war, vgl Unterlagen im LA Sp H14 2347 108 Wie Anm 105, 133 Einblick in die Hintergründe gibt ein Schreiben des Bürgermeisters an das Amt für Volkswohlfahrt bei der Kreisleitung Neustadt vom 18 10 1934 (ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 123–127) Nach einer handschriftlichen Randbemerkung Martins hatte der Pfarrer selbst diese „Verteidigungsschrift“ verfasst
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VII. Schulkonflikt und weltanschauliche Konfrontation 1937 Die Entwicklung, die auf eine immer stärkere Verdrängung der Kirchen aus dem öffentlichen Raum hinauslief, beschleunigte sich nach der für die NSDAP erfolgreich verlaufenen Abstimmung im Saargebiet Einen Einschnitt markierte in der Pfalz das Jahr 1937 109 Die Zahl der Verfolgungsmaßnahmen, die Pfarrer beider Konfessionen betrafen, erreichte einen neuen Höhepunkt; nach einer unter äußerst zweifelhaften Umständen durchgeführten Abstimmung kam es zur Einführung der „christlichen Gemeinschaftsschule“ und dem Ende der konfessionellen Volksschulen in Bürckels Machtbereich; Bischof Sebastian sah sich einer gehässigen Diffamierungskampagne durch den katholischen Gauleiter ausgesetzt, der schließlich 1942 aus der Kirche austrat Angesichts der immer offenkundiger werdenden Kirchenfeindschaft führender Nationalsozialisten und des Kampfes um die Bekenntnisschule erwartete der Bischof eine klare Positionierung seiner Priester in weltanschaulich-religiöser Hinsicht Ein solches Vorgehen entsprach ohnehin – abgesehen von wenigen Ausnahmen – der Haltung des Pfälzer Klerus 110 Akten im Bistumsarchiv Speyer belegen, dass im November 1937 wieder Vorwürfe gegen Martin laut wurden 111 Bei einer Konferenz mit den drei Königsbacher Lehrern am 11 November kritisierte Kreisleiter Merkle, der Geistliche könne es nicht unterlassen, „versteckte und offene Angriffe gegen den Staat zu richten“112 Dadurch werde „die Autorität des Staates herabgemindert und untergraben“ Merkle rügte die Spendenbereitschaft für staatliche Zwecke und zudem, dass in Königsbach „zu wenig gegrüßt werde, besonders auch von der Jugend Es käme vor, daß Fremden, die den deutschen Gruß bieten, ein mürrisches Gesicht gezeigt werde “ Aus diesem Grund war aus NSDAP-Perspektive weiterhin ein Pfarrerwechsel in Königsbach notwendig In einem Schreiben an den Kreisleiter betonte Martin, er sei sich dessen bewusst, dass er „gewissensmäßig und konkordatsmäßig verpflichtet“ sei, „zum heutigen Staat eine positive Einstellung einzunehmen“113 Der Pfarrer verwies auf die schriftliche Ausarbeitung seiner Predigten; dabei sei er vor allem darauf bedacht gewesen, „alle Ausdrücke zu vermeiden, die als versteckte oder offene Angriffe auf den Staat gelten können“ In dem mit „Heil Hitler“ unterzeichneten Schreiben äußerte Martin die Absicht, beim Bischöflichen Ordinariat den Antrag zu stellen, gegen ihn ein Disziplinarverfahren zu eröffnen, um die Vorwürfe zu klären 109 Zum Folgenden vgl Fandel, Bürckel (wie Anm 64), 130–132, 136 Zu den Verfolgungsmaßnahmen Fandel, Konfession (wie Anm 2), 399–417 110 Zu den wenigen „braunen“ Pfarrern im Pfälzer Klerus vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 466– 505 111 In den beiden Jahren zuvor hatte Martin aufgrund schwerer gesundheitlicher Probleme lange Zeit seinen Dienst nicht ausüben können (siehe unten VIII ) 112 ABSp PA Martin Schreiben Martins an Bischof Sebastian 15 11 1937 113 Ebd Schreiben Martins (Abschrift) an Merkle 15 11 1937 Ebd das folgende Zitat
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Im Jahr zuvor hatte Martin einen Antrag der HJ zur Verlegung der an Sonntagnachmittagen in der Königsbacher Kirche stattfindenden Christenlehre abgelehnt 114 Im gleichen Jahr schärfte er angesichts beabsichtigter Eintritte katholischer Schulentlassener in die 8 Klasse der protestantischen Schule in Mußbach den Erziehungsberechtigten den kirchlichen Standpunkt in der Schulfrage ein 115 Daraufhin meldete sich nach Darstellung des Pfarrers lediglich ein Mädchen, das BdM-Führerin werden sollte, an der protestantischen Schule an Allerdings war sich Martin darüber im Klaren, dass trotz des relativ großen Rückhalts der Kirche in Königsbach seine Einflussmöglichkeiten zu schwinden begannen In einem Schreiben an Bischof Sebastian äußerte er die Überzeugung, wäre nicht Lehrer und Ortszellenleiter Fouquet, der für die protestantische Schule geworben hatte, in der kritischen Zeit nach Lingenfeld versetzt worden116, „würde heute der größere Teil der Schüler die 8 Kl an der prot Schule besuchen, der kleinere Teil wäre überhaupt weg geblieben, der kleinste Teil ginge zur kath Schule“ Schon 1934 hatte Martin den Fall eines hoch verschuldeten Weingutsbesitzers beschrieben, der angesichts des landwirtschaftlichen Entschuldungsgesetzes und des Erbhofgesetzes eine radikale Umstellung vollzog Der Mann, „der heute noch sich als Meßweinlieferant vieler Klöster und Pfarrhäuser bezeichnet […], nahm das Hakenkreuz, gab seinen ältesten Sohn zur S A Motorstaffel Neustadt, gab seine bisher braven volksschulpflichtigen Buben zum Jungvolk der H J und verzapfte bei seinen Freunden die abgrundtiefe Weisheit: Wir hätten uns der Bewegung früher anschließen und sie dirigieren sollen “117 Für Martin zeigte die Haltung des Weingutsbesitzers, „daß er von Wesen und Tendenz des Nationalsozialismus gar keinen rechten Begriff hat“ Der Pfarrer ließ ihm ausrichten: „Nach dieser Logik müßte man sagen: Die deutschen Katholiken hätten sich früher der Bewegung Luthers anschließen sollen, dann wäre dem deutschen Volk der ‚30 jährige Krieg‘ erspart geblieben “ In der Pfalz wurden die 1937 offen zu Tage tretenden Konflikte zwischen Kirche und Nationalsozialismus am 20 /21 März besonders augenfällig 118 Am Samstag fand zunächst die Abstimmung über die Einführung der Gemeinschaftsschule im Gau Saarpfalz statt, die mit einem eindeutigen Erfolg Bürckels endete; am Sonntag folgte die Verlesung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ In Königsbach hatte das Jahr mit einem Ereignis begonnen, das für kirchennahe Katholiken die weltanschauliche Entwicklung in Deutschland auf drastische Art und Weise zum Ausdruck brachte In der Nacht vom 2 auf den 3 Januar 1937 wurden im Klausental vier Kreuzwegstationen teilweise zerstört, vorwiegend wurden einzelnen 114 115 116 117 118
Vgl Akten im ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Vgl ebd Schreiben Martins an Bischof Sebastian 05 06 1936 Ebd das folgende Zitat Fouquet hatte sich auf Wunsch Bürckels auf eine Stelle in Lingenfeld, dem Geburtsort des Gauleiters, beworben (vgl Akten im LA Sp H14 2347) ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 71–79, 73 Aufzeichnung Martins Januar 1934 Ebd , 74 sowie 73 f die folgenden Zitate Zum Folgenden vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 306–318
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Figuren – darunter der Christusdarstellung an der ersten Station – die Köpfe abgeschlagen 119 Als Täter wurden zwei 19-jährige Königsbacher Katholiken ermittelt, die laut Martin aus Familien kamen, die „achtbar und religiös sind“ Einer der jungen Männer – Martin stufte beide als „geistig weniger als mittelmäßig begabt“ ein – hatte zwei Schwestern, die Ordensfrauen waren; der Vater des anderen erlitt nach der Tat seines Sohnes einen Nervenzusammenbruch Welche Einflüsse zu der für das katholische Milieu unfassbaren Tat geführt hatten, war für Pfarrer Martin offenkundig, wie er in einem Schreiben an Bischof Sebastian ausführte: „Da weiß ich nur eine Antwort, die zugleich eine furchtbare Anklage ist: Seit Jahr und Tag wird die Ehrfurcht vor dem Heiligen und christlich Religiösen mit Keulenschlägen tot gehauen und selbst aus den Herzen der Jugendlichen herausgerissen Die Saat geht auf! Nur sind die Säleute dieser Art zu feig, um sich zu ihrem Werk zu bekennen “
Der Geistliche erinnerte in seinem Brief an den Bischof daran, dass neun Monate zuvor am Haus des Kriegervereins aus der Inschrift „Krieger- und Schützenverein St Sebastian Königsbach“ der Hinweis auf den Heiligen „auf höheres Drängen hin herausgemeißelt“ worden war 120 Ebenfalls im Jahr zuvor habe bei einem Gespräch in einem Wirtshaus ein „katholischer“121 Mußbacher, der wohl als Chauffeur bei der Gauleitung in Neustadt arbeitete, im Hinblick auf die „Pfaffen“ geäußert: „Wenn der Führer uns gehen ließe, würden wir ihnen allen die Hälse abschneiden “ Martins Kommentar: „Nun, in der Nacht vom 2 /3 Januar haben 2 Königsbacher Burschen das ‚Köpfen‘ an Kreuzwegfiguren eingeübt! Nach ihnen streckt das Gesetz jetzt seinen strafenden Arm aus! Die intellektuellen Urheber und Mitverantwortlichen bleiben frei von Strafe!“ Bei einer Sühneandacht am 10 Januar 1937 in der Königsbacher Kirche stellte der Geistliche den Vandalismus im Klausental in einen Zusammenhang mit Zerstörungen von Kreuzen und Heiligenstatuen in verschiedenen Teilen Deutschlands 122 Wie schon in dem Schreiben an den Bischof machte Martin deutlich, wem er die Verantwortung an den Vorfällen gab: „Wir beklagen es tief, daß auch in unserm Volk die Ehrfurcht vor dem Heiligen, vor dem Christlich-Religiösen durch schlimme Reden und durch schlimme Schriften wie mit Keulenhieben mehr als jemals zuvor tot geschlagen wird “ Zwar wurden die nationalsozialistischen anti-kirchlichen Agitatoren nicht ausdrücklich genannt, doch war den Gläubigen klar, wer gemeint war 119
ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Martins an Bischof Sebastian 06 01 1937 Ebd die folgenden Zitate 120 Zu den Hintergründen vgl ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 135–138 Aufzeichnung Martins 23 02 1936 sowie ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Martins an Bischof Sebastian 19 02 1936 121 Die Anführungszeichen verwendete Martin in seinem Schreiben vom 06 01 1937 (wie Anm 119), aus dem auch die folgenden Zitate stammen 122 ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Erklärung Martins 10 01 1937 Ebd die folgenden Zitate
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Einer der beiden jungen Täter wurde am 23 Januar 1937 erhängt im Wald oberhalb des Dorfes aufgefunden Nachdem die Eltern bei Bischof Sebastian persönlich vorgesprochen hatten, erlaubte dieser eine kirchliche Beerdigung 123 Wenige Monate später wurde Martin in seiner negativen Meinung über die kirchenpolitische Lage durch das Verhalten des Jungvolkes bestärkt Wie aus einer erneut mit „Heil Hitler“ unterzeichneten Beschwerde an die Gauleitung hervorgeht124, zog am 22 Mai 1937 eine „beträchtliche Abteilung des Jungvolkes Neustadt, gefolgt vom Königsbacher Jungvolk“ durch die Straßen Königsbachs, um zu einem Elternabend einzuladen Mit der Werbeaktion sollte der aus NSDAP-Sicht unbefriedigenden Mitgliederstärke der NS-Jugendorganisationen in der katholischen Gemeinde entgegengewirkt werden Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich zehn Jungen sowie 15 Mädchen Mitglied in der Hitlerjugend bzw im Bund Deutscher Mädel; bei einem Elternabend vier Wochen zuvor waren lediglich sieben Personen erschienen 125 Bei dem Marsch durch die Straßen wurden auch antikatholische Töne angestimmt So hieß es unter anderem: „Die schwarze Front, haut sie entzwei!“ oder „Wir zogen auch nach Rom Und stoßen dort den Papst vom Thron “ Martin wies die Gauleitung auf die Kränkung überzeugter Katholiken durch die genannten Liedstrophen hin Dadurch werde der „Aufbau der Volksgemeinschaft nicht gefördert, sondern gestört und zerstört“ Martin protestierte zudem gegen die demonstrative Kundgebung des Jungvolks vor dem abseits gelegenen Pfarrhaus, die eine erhebliche Belastung für seine seit sechs Jahren bettlägrige Schwester bedeutet habe: „Seit jener Juni-Nacht 1933, wo mir das Pfarrhaus gestürmt wurde, leidet sie wohl infolge des ausgestandenen Schreckens zeitweise an schweren Krämpfen, die oft Tage lang dauern, und die immer wieder eintreten bei irgendwelchen Aufregungen Ich möchte vor allem die Gauleitung in allem Ernst auf diese Tatsache aufmerksam machen “ Bischof Sebastian forderte der Geistliche auf, gegen den Veranstalter und den Leiter der Kundgebung Klage zu erheben 126 VIII. Krankheit und Tod Pfarrer Martin sah sich in dem so schwierigen kirchenpolitischen Jahr 1937 durch schwere gesundheitliche Probleme beeinträchtigt 127 Bereits im Juli 1935 war ihm we123
Ebd Feststellung Sebastians 24 01 1937 Ein Schreiben Martins an den Bischof vom 23 01 1937, in dem der Pfarrer gegen eine entsprechende Erlaubnis votierte, da diese „ein ungeheures Ärgernis für die öffentliche Meinung“ darstelle, erreichte den Bischof erst nach dem Besuch der Eltern 124 Ebd Schreiben Martins (Abschrift) an die Gauleitung 24 05 1937 Ebd die folgenden Zitate 125 NSZ Rheinfront 26 05 1937 126 ABSp BO NA 28/10 Karton 5/Königsbach Schreiben Martins an Bischof Sebastian 25 05 1937 sowie Schreiben Domdekan Franz Joseph Gebhardts an die Gauleitung 09 06 1937 mit dem Ersuchen, „darauf hinwirken zu wollen, dass derartige Vorfälle künftighin unterbleiben“ 127 Zum Folgenden vgl Akten im ABSp PA Martin
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gen einer Lungenerkrankung Kaplan Eduard Peifer als Hilfspriester zugewiesen worden Erst ab Mitte Mai 1936 konnte Martin die Amtsgeschäfte wieder alleine ausüben Doch schon im Oktober 1936 setzte ihn ein Knöchelbruch erneut außer Gefecht Es kam zu gesundheitlichen Komplikationen Unter der schwachen Gesundheit des Pfarrers litt die Seelsorge In einem Schreiben aus Königsbach im Januar 1937, das Bischof Sebastian vorgelegt wurde, hieß es: „Man war hier gewohnt täglich eine Heilige Messe zu haben Durchschnittlich 50 Personen fanden sich auch an Werktagen beim Tische des Herrn ein Das hat längst aufgehört Einen Herz Jesu Freitag gibt es seit 3 Monaten auch nicht mehr Im Übrigen sind wir ganz auf die Barmherzigkeit auswärtiger Geistlicher angewiesen “128 Als im März 1937 ein Krankenhausaufenthalt Martins notwendig wurde, bestellte das Bischöfliche Ordinariat mit Pfarrer i R Karl Neuberger vorübergehend einen „vicarius substitutus“ 129 Neuberger war ebenfalls ein entschiedener NSDAP-Gegner; im Juni 1933 hatte er sich im südpfälzischen Herxheim einer befürchteten Inschutzhaftnahme durch vorübergehende Flucht aus der Pfarrei entzogen 130 Im Januar 1938 gab das Bischöfliche Ordinariat Speyer Pfarrer Martin den Rat, „sich einstweilen emeritieren zu lassen, weil die Pfarrangehörigen mit der infolge Ihrer bedauernswerten Erkrankung unzureichenden Pastoration unzufrieden sind“131 Eine Reaktion auf dieses Schreiben ist nicht überliefert Ein halbes Jahr später – am 23 Juli 1938 – starb der Geistliche Die örtliche NSDAP sah nach dem Tod Martins die Gelegenheit gekommen, durch eine entsprechende Neuregelung der Nachfolge Fortschritte in der weltanschaulichen Gleichschaltung der Gemeinde im NS-Sinne erzielen zu können In einem Schreiben von Ortsbürgermeister Franz Schneider an die Kreisleitung in Neustadt vom 26 Juli hieß es: „Martin war ein steter und starker Gegner des Nationalsozialismuses der stets in Predigten, Ansprachen udgl sich versteckte, und manchmal sehr grobe Angriffe gegen die Staatsführung sich erlaubte […] Im Interesse des nat soz Ausbaues der Gemeinde Königsbach bitte ich der nunmehr freigewordenen Stelle das grösste Augenmerk zuwenden zu wollen und verbinde damit die dringende Bitte, die Stelle mit einem nur nat soz jungen kath Pfarrer besetzen zu wollen; alte nörgelnde Pfarrer hatten wir seither nunmehr genug Die Anhänger des Nationalsozialismuses sind auch die stets versteckten und verschämten ‚Anspielereien‘ in der Kirche gegen unsere nat soz Staatsführung satt und müde “132 128 129 130 131 132
Ebd Schreiben J B Fernekeß’ an einen „Freund“ 28 01 1937 ABSp PA Martin Schreiben Generalvikar Kleins an Pfarrer Neuberger 10 03 1937 Zu Neuberger, der im August 1935 in den Ruhestand versetzt worden war und ab 1939 als Seelsorger in Fußgönheim wirkte, vgl Fandel, Konfession (wie Anm 2), 180–183 ABSp PA Martin Schreiben Domdekan Gebhardts an Martin 12 01 1938 ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 140 f Schreiben des Bürgermeisters an die NSDAP-Kreisleitung 26 07 1938 Die Pfarrstelle wurde am 1 März 1939 mit dem 1888 geborenen Dr Wendelin Staab besetzt, der zuvor – seit 1931 – in Speyer als Pfarrer am Institut der Armen Schulschwestern und Direktor der klösterlichen Lehrerinnenbildungsanstalt gewirkt hatte Laut einem Schreiben der
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Kurz darauf wandte sich der Bürgermeister erneut nach Neustadt, um eine 1934 von Martin eingeführte Lichterprozession untersagen zu lassen, die jeweils am letzten Juli-Sonntag stattfand: „Es ist diese Prozession nicht althergebracht, sondern neu eingeführt und trägt einen politisch demonstrativen Charakter Ich verweise hiebei auf die vielen und steten, verstockten Angriffe, in allen Formen, des Pfarrers Martin, die bereits dort vorliegen und bitte, nachdem Pfarrer Martin nunmehr verstorben ist, mit diesem ‚Überbleibsel‘ endgültig aufzuräumen bezw die Verbietung veranlassen zu wollen Auch im Interesse des inneren Friedens in der Gemeinde ist dies gelegen und dringend erwünscht “133 Dem Hilfspriester Günther Schmich, der seit Mitte Juli 1938 in Königsbach wirkte, wurde daraufhin im Oktober 1938 das Verbot der Lichterprozession mitgeteilt 134 Wie schon mit Pfarrer Neuberger setzte die Bistumsleitung mit Schmich135 einen Geistlichen in Königsbach ein, der im „Dritten Reich“ unter besonderer Beobachtung stand Der Anfang Juli 1938 zum Priester geweihte junge Theologe, Sohn einer jüdischen Mütter, war 1934 sowie 1937/38 wegen Aktivitäten für die katholisch-bündische Jugend („Grauer Orden“) inhaftiert worden Offensichtlich hielt die Bistumsleitung Königsbach für ein geeignetes Einsatzfeld solcher gefährdeter Geistlicher Pfarrer Martin fand seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Königsbach Bischof Sebastian und rund 120 Geistliche gaben ihm am 25 Juli 1938 das letzte Geleit 136 In einem Nachruf, der zwischen den Zeilen Kritik an den Zeitverhältnissen erkennen ließ, hieß es im Bistumsblatt „Der Christliche Pilger“: „Wo Pfarrer Martin auch wirkte, immer und überall, wenn Zeitströmungen und Irrlehren gleich Nebeln die Geister zu verwirren suchten, da war sein Blick und sein Urteil wie die Luft seiner Heimat, gesund und klar, mitunter auch scharf Dabei scheute er als Kaplan wie als Pfarrer keine Arbeit und Mühe, um sich einzusetzen für Gottes ewige Wahrheit und das Heil der Seelen “137 Der einst so kämpferische Pfarrer war letztlich an den Verhältnissen im „Dritten Reich“ zerbrochen Die nationalsozialistische Bewegung, die er aus politischen und weltanschaulichen Gründen leidenschaftlich bekämpft hatte, hatte sich 1933 innerhalb kürzester Zeit durchgesetzt und alle oppositionellen Kräfte ausgeschaltet Die Befürchtungen, die Martin bis zum März 1933 hinsichtlich der NSDAP öffentlich artikuliert hatten, hatten sich bewahrheitet Gegenüber dem Bischof musste sich der
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Gestapostelle Neustadt an die Regierung der Pfalz vom 02 01 1939 (LA Sp H3 5155) war bezüglich Staabs „bisher in politischer und strafrechtlicher Hinsicht Nachteiliges nicht bekannt“ ABSp PfA Königsbach XI/Martin, 142 Schreiben des Bürgermeisters an die NSDAP-Kreisleitung 09 08 1938 Ebd , 143 Schreiben der NSDAP-Kreisleitung Neustadt an den Gimmeldinger Ortsgruppenleiter 17 10 1938 Zu Schmich vgl Katholische Jugend im Bistum Speyer, erarbeitet von Heinz Bitz u a (Schriften des Diözesan-Archivs Speyer, Bd 31 ) Speyer 2003, 492–497 ABSp PfA Königsbach Pfarrgedenkbuch, 94 Der Christliche Pilger 07 08 1938, 511
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Pfarrer aufgrund des Kesseltreibens seiner nationalsozialistischen Gegner rechtfertigen, obwohl er die Vorgaben der Bischöfe umgesetzt hatte Zwar hatte die Kirche im katholischen Königsbach im Vergleich zu vielen anderen Pfarreien noch einen relativ weitreichenden Einfluss auf die Bevölkerung Doch aus der Perspektive Martins zeigte die Zerstörung der Kreuzwegfiguren, dass die antikirchlichen Stimmen selbst im katholischen Kernmilieu nicht ohne Einfluss blieben Zudem sah er sich in seiner Position als Pfarrer angefochten, da er aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit seine seelsorgliche Tätigkeit einschränken musste und wiederholt auf Vertretung angewiesen war Der Eintrag im Pfarrgedenkbuch Königsbach zu Martins Tod brachte es auf den Punkt: „Die Zeitereignisse mit Aufrichtung der absoluten Staatsomnipotenz auf allen Gebieten, mit deren Übergriffen auch auf das weltanschauliche und religiöse Gebiet, mit der tendenziösen Knebelung bezw Zerschlagung des religiösen Lebens in den kirchlichen Vereinen, drückte schwer auf das Gemüt des kernkatholischen Sohnes der Sickinger Höhe und knickte ihn völlig, nachdem er seit Jahren schon den Todeskeim in sich trug “138
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ABSp PfA Königsbach Pfarrgedenkbuch, 94
Schule im Weltkrieg Eine vergleichende Perspektive* Markus Raasch Die Blüte, die das Thema „Kriegskinder“ seit einigen Jahren erlebt, erscheint frappierend Zwar entstanden schon einschlägige Arbeiten – insbesondere zu den Bereichen „Erziehung für den Krieg“ und „Erziehung im Krieg“ –, lange bevor sowohl die Populärkultur als auch die seriöse Forschung das „Label“ nach der Jahrtausendwende für sich entdeckten 1 Die nicht enden wollende Flut an Publikationen spricht aber Bände 2 Was allerdings für die gesellschaftshistorische Weltkriegsforschung im Allgemeinen kennzeichnend ist, gilt für das Feld „Kriegskindheiten“ in besonderer Weise: Eine vergleichende Zusammenschau von Erstem und Zweitem Weltkrieg wird nur selten angestellt 3 Aussagen sowohl zu ihrer jeweiligen Spezifik als auch zu eventuellen Kontinuitäten, Brüchen und Transferprozessen bleiben in erster Linie Behauptung * 1
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Dieser Aufsatz vertieft einen Teilaspekt meines Beitrages: Erziehung im Ausnahmezustand Eine vergleichende Perspektive auf beide Weltkriege, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 22 (2018), 91–142 Zu nennen sind etwa: Marieluise Christadler, Kriegserziehung im Jugendbuch Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914 Frankfurt am Main 1978; Heinz Lemmermann, Kriegserziehung im Kaiserreich Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890–1918 2 Bde Bremen 1984; Arbeitsgruppe „Lehrer und Krieg“ (Hrsg ), Lehrer helfen siegen Kriegspädagogik im Kaiserreich mit Beiträgen zur NS-Kriegspädagogik Berlin 1987; Roy Lowe, Education and the Second World War Studies in Schooling and Social Change London u a 1992; Stéphane Audoin-Rouzeau, Die mobilisierten Kinder Erziehung zum Krieg an französischen Schulen, in: Gerhard Hirschfeld u a (Hrsg ), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs Essen 1993, 151–174; Eberhard Demm, German Teachers at War, in: Hugh P Cecil (Ed ), Facing Armageddon The First World War Experienced London 1996, 709–718; Wolfgang Keim, Erziehung unter der NS-Diktatur Bd 2: Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust Darmstadt 1997 Einen ausführlichen Forschungsüberblick gibt z B die Einleitung von Alexander Denzler u a (Hrsg ), Kinder und Krieg Von der Antike bis in die Gegenwart Berlin/Boston 2016 Einschlägige Beispiele sind: Bruno Thoß / Hans-Erich Volkmann (Hrsg ), Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg – ein Vergleich Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland Paderborn u a 2002; Stéphane Audoin-Rouzeau, (Ed ), La violence de guerre 1914–1945 Approches comparées des deux conflits mondiaux Bruxelles 2002; Luc Capdevila, Hommes et femmes dans la France
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Zentrales Anliegen einer Mainzer Forschergruppe4 ist es daher, die Eigentümlichkeit der beiden Weltkriege durch einen modernen komparatistischen Ansatz zu hinterfragen5 und vertiefte Kenntnisse über die (Dis-)Kontinuität der deutschen und europäischen Geschichte jenseits aller „Sonderwegsthesen“6 zu gewinnen Es wird überprüft, wie besonders sich die lebensweltlichen Rückwirkungen des Krieges ausnahmen und wie speziell der „nationalsozialistische“ Krieg aus Kindersicht war Die Verpflichtung gilt dabei einem erfahrungsgeschichtlichen Zugriff In Anlehnung an jüngere Forschungen, die menschliche Erfahrung als „embedded in the material context, spaces and – particularly – the relationships of everyday life“ sehen7, wird davon ausgegangen, dass sich Wirklichkeit in einem Spannungsfeld von strukturellen Gegebenheiten, intentionalem Handeln und sozialer Praxis konstituiert Deshalb werden kindliche Erfahrungen im Krieg stets mit Entwicklungen der Vorkriegszeit und objektiv-materialen Feldbedingungen (Pierre Bourdieu) zu korrelieren sein Zudem ist das Quellenfundament breit aus Selbstzeugnissen und administrativem Aktenmaterial zusammenzusetzen Im Folgenden soll ein kleiner Einblick in die Mainzer Forschungen gegeben werden, wobei das Interesse auf den relativ solide bearbeiteten Bereich „Schule“ gerichtet sein soll:8 Was kennzeichnet das Schulleben im Ausnahmezustand des Krieges? Welche Inhalte sind im Unterricht relevant, welche Methoden charakteristisch? Was macht den Schulalltag aus? Wie gestaltet sich das Verhältnis Kinder und Propaganda? Wie militarisiert ist Schule? Was sehen die Kinder, wie gehen sie mit dem Gesehenen um? Inwiefern ist der Zweite Weltkrieg besonders?
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en guerre (1914–1945) Paris 2003; François Rouqet u a (Eds ), Amours, guerres et sexualité 1914– 1945 Paris 2007 Explizit zum Bereich „Kriegskinder“: Ross F Collins, Children, War and Propaganda New York u a 2011 https://zeitgeschichte uni-mainz de/forschergruppe-eltern-und-kinder-im-krieg/ [letzter Zugriff: 25 10 2019] Es geht um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Transferaspekte Vgl Hartmut Kaelble, Historischer Vergleich, Version: 1 0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 14 8 2012 Helmut Walser Smith, Jenseits der Sonderweg-Debatte, in: Sven Oliver Müller / Cornelius Torp (Hrsg ), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse Göttingen 2009, 31–50 Hester Barron / Claire Langhamer, Feeling through Practice Subjectivity and Emotion in Children’s Writing, in: Journal of Social History 51/1 (2016), 17 f Das Hauptinteressensgebiet unserer Mainzer Forschergruppe liegt bei Familienbeziehungen
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I. Pfadabhängigkeiten 1 Die Zeit vor 1914 Das Schulwesen des Deutschen Kaiserreiches changierte zwischen Tradition und Moderne 9 Sein Traditionalismus war offenkundig Das viergliedrige staatliche Schulsystem (I Volksschulen II kostenpflichtige Mittelschulen III kostenpflichtige höhere Jungenschulen, vor allem Gymnasien 4 Höhere Mädchenschulen) zementierte soziale Ungleichheit und beförderte Geschlechterungerechtigkeit Über neun Zehntel der Schülerschaft absolvierten ausschließlich die Volksschule, die insbesondere auf dem Land oft einklassig war und auf der seminaristisch ausgebildete Lehrer bis zu 70 Kinder unterrichteten Das Gymnasium mit seinen studierten „Professoren“ blieb grundsätzlich der sozialen Elite, d h ein paar Prozent der Schülerschaft, vorbehalten, die konsequenterweise auch nicht die reguläre Elementarschule, d h die ersten vier Jahrgangsstufen der Volkschule, sondern privilegierte Vorschulen frequentierten Prinzipiell existierte bis 1908 keine Abiturmöglichkeit für Mädchen und auch danach blieb die Abiturientinnenquote gering 1911 lag sie bei etwa ein Prozent 10 Die Schulen konnten als Paukanstalten angesehen werden, die im Frontalunterricht auf das unreflektierte Repetieren und Deklamieren von bekanntem Wissen abzielten und dem Lehrer dazu das angeblich notwendige Züchtigungsrecht zusprachen Pädagogische Lehrbücher waren sich mithin sicher, dass Erziehung „ohne Anwendung von Zwang eine Unmöglichkeit“ darstellte 11 Zum formalen Traditionalismus trat der Umstand, dass die Förderung nationaler Gesinnung besonders wichtig genommen wurde Dies begann in der Lehrerausbildung Denn laut Lehrplänen für Lehrerseminare sollten „die künftigen Lehrer und Erzieher […] das Vaterland, seine Ordnungen und Einrichtungen verstehen und lieben lernen, um befähigt zu werden, auch in ihren Schülern die Liebe zum Vaterlande und Herrscherhause zu wecken und zu pflegen“ 12 Im Unterricht erfolgte die Fortsetzung Der Geschichtsunterricht beispielsweise sollte in erster Linie sogenannte vaterländische Geschichtsbilder vermitteln, im Zentrum stand die preußische Geschichte seit dem Großen Kurfürsten Typische Aufsatzthemen waren „Der nationale Gehalt in Lessings ‚Minna von Barnhelm‘“, „Warum braucht Deutschland Kolonien?“ oder „Wie erklärt sich die Begeisterung unserer Jugend für die Mari9 10 11 12
Zur Schule im Kaiserreich z B : Hellmut Becker / Gerhard Kluchert, Die Bildung der Nation Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik Stuttgart 1993; Reinhard Dithmar / Hans-Dietrich Schultz (Hrsg ), Schule und Unterricht im Kaiserreich Ludwigsfelde 2006 Andrew Donson, Youth in the Fatherless Land War Pedagogy, Nationalism and Authority in Germany 1914–1918 Cambridge/London 2010, 24 Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871 bis 1929 Weinheim u a 2003, 127 Zit nach Eberhard Demm, Deutschlands Kinder im Ersten Weltkrieg Zwischen Propaganda und Sozialfürsorge, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001), 51–98, hier 52
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ne“ Im Deutschunterricht hatten 8-jährige zu rezitieren: „Ein Herr soll jeder Deutsche sein / und jeder Feind – sein Knecht!“ 13 Regelmäßig fanden aufwendig, mit Liedern, Vorträgen und theatralischen Einlagen choreografierte patriotische Schulfeiern statt, etwa am Kaisergeburtstag, an bedeutenden Daten der deutsch-preußischen Geschichte, namentlich dem Sedantag, oder an anderen Geburts- und Sterbetagen bekannter Mitglieder der Herrscherfamilien und berühmter Feldherren Nicht minder eindeutig war dementsprechend die Erziehung zum Militarismus Erstklässler sollten Buchstaben über marschierende Soldaten lernen und über marschierende Gänse, Hühner etc mit der Heimatkunde vertraut gemacht werden 14 Die jungen Volksschülerinnen und Volksschüler sangen kriegerische Volkslieder15, im Sportunterricht waren Kriegsspiele und Ordnungsübungen obligatorisch Seit 1909 sicherte z B in Preußen ein Erlass den Schulen privilegierte Besuchsplätze „bei Paraden, bei Manövern oder interessanten Übungen“, überließ ihnen „zur Pflege […] des Sports und des Turnens“ unentgeltlich militärische Einrichtungen wie Turnhallen, Exerzierhäuser und Schwimmanstalten und verfügte die Anwesenheit von (Unter-)Offizieren bei schulischen Sportwettkämpfen 16 Wider die vermeintliche Rückständigkeit des kaiserzeitlichen Schulwesens17 ist allerdings anzuführen, dass Deutschland eine der weltweit höchsten Alphabetisierungsquoten (1890 konnten weniger als ein Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben) aufwies Kein staatliches Schulwesen in Europa war finanziell besser ausgestattet Das anfangs miserable Einkommen eines Volksschullehrers verdoppelte sich in wilhelminischer Zeit und lag schließlich immerhin zweimal so hoch wie der durchschnittliche Arbeiterverdienst Zugleich befand sich die Starrheit des Systems im Aufbruch: Selbst auf dem Land war der Anteil an einklassigen Schulen zwischen 1881 und 1911 von 57 auf 39 Prozent gesunken Auch bei der Durchlässigkeit hatte es Fortschritte gegeben: Nach 1900 kam immerhin die Hälfte der Sextaner nicht mehr aus den privilegierten Vorschulen, sondern bereits aus dem Elementarschulwesen Einen durchaus beträchtlichen Aufschwung hatten zusätzliche Formen der höheren Schule genommen, etwa das Realgymnasium (Lateinschule ohne Griechisch) und Oberrealschulen (ohne Latein), die einen Schwerpunkt auf die Realien-, d h technische und naturwissenschaftliche Fächer legten und seit 1900 ebenfalls zur allgemeinen Hochschulreife führten
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Ermahnung für den kleinen Patrioten, in: Lemmermann, Kriegserziehung (wie Anm 1), Bd 2, Nr 38 Soldatenspiel, in: Lemmermann, Kriegserziehung (wie Anm 1), Bd 2, Nr 33 Wie z B zur Melodie von „Kommt ein Vogel geflogen“: Wenn ich groß bin, / wenn ich groß bin, / dann wird ich General mit dem Helme auf dem Kopfe, / mit dem Säbel von Stahl Abschrift: Ministerialerlass, betr Förderung der Jugenderziehung, besonders auf dem Gebiete der Leibesübungen, durch die Militärbehörden, 21 10 1909, in: Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 235/19011 Konzise dagegen argumentiert z B Thomas Nipperdey, Wie modern war das Kaiserreich? Das Beispiel der Schule Opladen 1986
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Letzthin waren in allen Schultypen unterrichtsbezogene Neuerungen spürbar Der Lehrplan berücksichtigte prinzipiell die Realien, nahm verstärkt die zeitgenössische Arbeitswelt und technische Entwicklungen ins Blickfeld; Kunsterziehung und nicht zuletzt auch politische Bildung wurden erstmals wichtig genommen Reformpädagogische Initiativen hatten auch im allgemeinbildenden Schulwesen zu einer ausgiebigeren Anwendung von Partnerarbeit, Arbeits- und Gruppenunterricht geführt Die Tendenz ging zum Prinzip der Lebensnähe und zur Förderung eigenständigen Denkens Es wurde zunehmend Wert auf die Abfassung freier schriftlicher Arbeiten gelegt; im Naturkundeunterricht ging man auch in die Natur; Besuche von Absolventen sollten den Schülerinnen und Schülern Berufs- und Lebensorientierung bieten Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Schule eine gemeindliche Angelegenheit darstellte und nicht zuletzt daher eine signifikante Milieuabhängigkeit zum Tragen kam In Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Leipzig hatte der Unterricht beispielsweise wenig mit Schule auf dem Land tun Je nach Region, sozialer Schichtung oder konfessioneller Zusammensetzung konnten Schulen sodann auch Hort gegen Nationalismus und Militarismus sein Volksschullehrer waren z B dafür bekannt, dass sie traditionell den Linksliberalen, später der SPD nahestanden, in katholischen Gegenden waren sie eng mit der Zentrumspartei verbunden Lehrerinnen spielten in der bürgerlichen und insbesondere auch in der katholischen Frauenbewegung eine bedeutende Rolle 18 Auch muss der große Anteil von (Schul-)Pädagogen in der „Friedensbewegung“ der wilhelminischen Zeit zur Kenntnis genommen werden 19 In internationaler Perspektive ist schließlich zu bedenken, dass Schießunterricht nicht vorgesehen und schon gar nicht – wie etwa in Italien oder noch umfassender in Japan – eine Pflicht darstellte 20 Anders als z B in der Schweiz wurden Lehrer nicht in spezielle Rekrutenschulen geschickt, um im militärischen Turnen ausgebildet zu werden Auch gab es im Gegensatz zu Frankeich, Großbritannien oder der Schweiz keine fakultativen oder gar obligatorischen Kadettenkorps an den Schulen 21
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Z B Gisela Breuer, Frauenbewegung im Katholizismus Der Katholische Frauenbund 1903–1918 Frankfurt a M /New York 1998 Karlheinz Lipp, Friedenspädagogik im Kaiserreich, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 24 (2017), 43–60 Max Philipp, Die deutsche Jugendwehr als Notwehr deutschen Volkstums Leipzig 1915, 7, 9, 10 Alexander Fontaine, Corps de cadets, bataillons scolaires et petits soldats Un exemple de transfert éducationnel dans l’espace européen, in: Lukas Boser u a (Hrsg ), Pulverdampf und Kreidestaub Beiträge zum Verhältnis zwischen Militär und Schule in der Schweiz im 19 und 20 Jahrhundert Bern 2016, 119–142; Albert Bourzac, Les bataillons scolaires (1880–1891) L’éducation militaire à l’école de la République Paris u a 2004; Larry J Collins, Cadets The impact of war on the Cadet Movement Lancashire u a 2001
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2 Die Zeit vor 1939 Im „Dritten Reich“ existierten laut dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ von 1936 drei Erziehungsinstanzen: Die Familie, die Schule und die Hitlerjugend Die Jugendorganisation der NSDAP, für die bis 1939 keine formale, aber spätestens seit 1936 eine faktische Zwangsmitgliedschaft bestand und der vor Kriegsausbruch 8,7 der 8,87 Millionen Deutschen zwischen 10 und 18 Jahren angehörten,22 verkörperte dabei wohl am deutlichsten den totalen Erziehungsanspruch des Nationalsozialismus Klar stand sie für die Erziehung zu soldatischem Geist 23 Sportliche Ertüchtigung besaß bei ihr ein starkes militärisches Gepräge Mannschaftsportarten waren weniger wichtig, dafür Boxen, Geländespiele und nicht zuletzt Schießen Zwecks „Schaffung eines einheitlich ausgebildeten Nachwuchses für die Wehrmacht“ erhielten vor Kriegsbeginn etwa 1,5 Millionen Hitlerjungen eine Schießausbildung Für gewöhnlich wurde im Jungvolk mit dem Luftgewehr und bei der Hitlerjugend mit dem Kleinkaliber geschossen, jeder Junge war gehalten, im Monat „mindestens einmal zum Schiessen [zu] kommen und 10 Schuss ab[zu]geben 24 Darüber hinaus füllten Märsche und Exerzierübungen viele Stunden des HJ-Dienstes, auf Fahrt und im Zeltlager waren Soldatenlieder ebenso üblich wie Flaggen- und Zeltappelle Auch das rigide Strafregime erinnerte an das Militär: Ein Strafmittel war der Jugenddienstarrest, der es ermöglichte, einen Jugendlichen ohne Gerichtsverfahren bis zu drei Wochenenden oder acht Tage am Stück einzusperren Zum Soldatischen kam die ideologische Festigung Die weltanschauliche Schulung erfolgte vornehmlich an den wöchentlichen Heimabenden der Hitlerjugend Hier wurde gespielt und gesungen, es gab aber auch festgelegte Schulungspläne, zu denen z B Rassenlehre, die Geschichte der NS-Bewegung oder das Leben Adolf Hitlers gehörten Häufig waren externe „Experten“, etwa zu rassenpolitischen Fragen, oder Parteiredner zu Gast, ausfallen durfte der Heimabend allenfalls für eine Kundgebung der NSDAP 25 Der ideologischen Festigung in besonderer Weise verpflichtet war der sogenannte Streifendienst als HJ-eigene Polizei Er achtete auf das Verhalten von HJ-Angehörigen vor und nach dem Dienst und überwachte dazu etwa den Besuch bestimmter Gaststätten oder Jugendtreffs Die Geschlechtsspezifik ist evident, aber auch zu relativieren Mädchen sollten im Kontext des „Bund deutscher Mädel“ (BDM) zwar zum Leben in der „kleinen Welt“ des Haushalts erzogen werden, was sich etwa in gymnastischen und Tanzübungen, in 22 23 24 25
Konzise zur Organisationsgeschichte der Hitlerjugend z B : Arno Klönne, Jugend im Dritten Reich Die Hitler-Jugend und ihre Gegner 3 Aufl Köln 2008, 15–41 Zu Formen, Inhalten und Leitbildern des Jugenddienstes: Klönne, Hitler-Jugend (wie Anm 22), 57–66, 77–85 Richtlinien und Ausbildungsvorschriften der HJ in der wehrsportlichen Ertüchtigung (Referat für Schiessausbildung im Gebiet Saarpfalz), in: Stadtarchiv Neustadt, Ortsarchiv Lachen-Speyerdorf 886 Hierfür finden sich z B etliche Beispiele in der NSZ-Rheinfront/Westmark
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Bastel-, Näh- und Werkarbeiten, in hauswirtschaftlicher „Ertüchtigung“ und nicht zuletzt in sozialen Aktivitäten wie der Betreuung von bedürftigen Familien manifestierte Jedoch absolvierten sie in gleicher Weise Appelle, Märsche und sportlich-militärische Übungen An Heimabenden wurden sie nicht weniger ideologisch geschult, um „den Mädeln das nötige Rüstzeug für [die] Gegner zu geben“ Schon in der „Kampfzeit“ hatte der BDM Sanitätskurse vor allem auch deshalb durchgeführt, um bei politischen Aufmärschen „sofort zur Stelle zu sein, um erste Hilfe leisten zu können “ Nicht selten hatten BDM-Mädchen unter ihrer Kleidung Waffen versteckt Seither stand außer Zweifel, dass jede Versammlung der örtlichen NSDAP mindestens von BDM-Gruppen besucht oder sogar „ausgestaltet“ wurde 26 Das Mädchen sollte im BDM offenkundig zur ideologisch gefestigten Soldatenmutter und bei Bedarf auch zur Kampfgefährtin des Mannes erzogen werden 27 Das Schulwesen des „Dritten Reiches“28 war grundsätzlich dreigliedrig (I achtjährige Volksschule, deren Oberschulstufe etwa 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler besuchten II sechsjährige, kostenpflichtige Mittelschule III höhere Schulen, d h das humanistische Gymnasium, das möglichst aussterben sollte, sowie die Oberschulen sprachlicher und naturwissenschaftlicher Zweig für Jungen und die Oberschulen sprachlicher und hauswirtschaftlicher Zweig für Mädchen) Die institutionelle Nazifizierung vollzog sich in verschiedenen Phasen Sie begann mit personellen „Säuberungen“ und schuladministrativen Direktmaßnahmen wie der Anfertigung von Ergänzungsbroschüren zu den bestehenden Schulbüchern oder der Vorgabe zusätzlicher Unterrichtseinheiten (z B „Der Neubau des Deutschen Reiches“, „Aufbruch der deutschen Nation 1914–1933“ oder „Die nationalsozialistische Revolution“) Fortsetzung fand sie in der Schaffung eines Reichsministeriums für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung und spätestens seit 1937 besaß sie mit der schrittweisen Verabschiedung neuer Richtlinien für alle Schulformen und der Einführung neuer Schulbücher offen strategischen Charakter Ein weiteres Standbein schuf sie sich mit der Einrichtung sogenannter Eliteschulen wie den schulgeldpflichtigen, unter Ägide von SA/SS stehenden Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, von denen es 1941 im Deutschen Reich
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Der BDM im Obergau Saarpfalz, in: NSZ-Westmark, 1 12 1940 Prägnant dazu Z B Gisela Miller-Kipp, „Der Führer braucht mich“ – Der Bund Deutscher Mädel (BDM) Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs Weinheim/München 2007, 13–22 Unerlässlich für den Kontext: dies (Hrsg ), „Auch Du gehörst dem Führer“ Die Geschichte des Bundes Deutscher Mädel (BDM) in Quellen und Dokumenten 2 Aufl Weinheim u a 2002 Zur Schule im Nationalsozialismus z B : Elke Nyssen, Schule im Nationalsozialismus Heidelberg 1979; Harald Scholtz, Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz Göttingen 1985; Reinhard Dithmar (Hrsg ), Schule und Unterricht und Dritten Reich Neuwied 1989; Barbara Schneider-Taylor, Die Höhere Schule im Nationalsozialismus Zur Ideologisierung von Bildung und Erziehung Köln u a 2000
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30 mit knapp 6 000 Schülern gab, und seit 1937 den Adolf-Hitler-Schulen, von denen 1941 allerdings lediglich zwölf existierten 29 Die formale Modernität des Schulwesens, das durchaus großen Wert auf Lebensnähe, Erziehung am Erlebnis, Freiluftunterricht und partnerschaftliche Arbeits- und Aktionsformen legte, war ebenso klar erkennbar wie seine ideologische Imprägnierung: Es ging zunächst darum, zur Treue gegenüber dem Führer und seiner Bewegung zu erziehen Demgemäß hieß es in den Richtlinien der Volksschule: „Die Aufgabe der deutschen Schule ist es, […] die Jugend unseres Volkes zu körperlich, seelisch und geistig gesunden und starken deutschen Männern und Frauen zu erziehen, die […] zum vollen Einsatz für Führer und Volk bereit sind“ 30 Große Sorgfalt wurde konsequenterweise z B auf das Gedenken an die Parteimärtyrer Herbert Norkus und Horst Wessel gelegt sowie die obligatorische Feier von Hitlers Geburtstag inklusive Gesang, gemeinsamen Radiohören und „Lebensbild des Führers […], insbesondere seines Kampfes um die Einigung des deutschen Volkes, [und] der überragenden Größe seines Führertums im gegenwärtigen Schicksalskampf “ 31 Darüber hinaus sollte das Rassedenken ausgeprägt werden: Gemäß der Vorgabe „Kein Schüler darf ohne Kenntnis der biologischen Grundtatsachen und ihrer Anwendung auf Einzelmensch und Gemeinschaft ins Leben entlassen werden“ bildeten Vererbungslehre und Rassenkunde prinzipiell einen festen Bestandteil aller Unterrichtsfächer und pflichtmäßiges Prüfungsgebiet in sämtlichen Abschlussprüfungen Der Geschichtsunterricht an der Volksschule sollte z B „die im deutschen Volke wirksamen rassischen Grundkräfte vorwiegend nordischer Artung herausstellen“, der Deutschunterricht „sie mit Ehrfurcht vor deutscher Gestaltungskraft […] erfüllen“ 32 Der Englischunterricht hatte dabei zu helfen „durch Vergleich der Fremdsprache mit der Muttersprache, des fremden Wesens mit dem deutschen Wesen sich der Eigenart und des Wertes seines Volkes und seiner arteigenen Kultur stärker bewusst zu werden“ Der Chemieunterricht sollte „den gewaltigen Anteil, den gerade die Tätigkeit deutscher und überhaupt nordisch-germanischer Männer an der chemischen Forschung hat, deutlich machen “33 Im Mathematikunterricht hatten Kinder den „jährliche[n] Aufwand des Staates für einen Geisteskranken“ gegen Monatsmieten für „erbgesunde 29
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Harald Scholz, NS-Ausleseschulen Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates Göttingen 1973; Barbara Feller / Wolfgang Feller, Die Adolf-Hitler-Schulen Pädagogische Provinz versus ideologische Zuchtanstalt Weinheim u a 2011; Rainer Hülsheger, Die Adolf-Hitler-Schulen 1937–1945 Suggestion eines Elitebewusstseins Weinheim u a 2015 Erziehung und Unterricht in der Volksschule, 1940, in: Renate Fricke-Finkelnburg (Hrsg ), Nationalsozialismus und Schule Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933–1945 Opladen 1989, Nr 4 Der Reichsstatthalter in der Westmark und Chef der Zivilverwaltung in Lothringen, 12 4 1943, in: Stadtarchiv Neustadt, Bestand A 5620 Erziehung und Unterricht in der Volksschule, 1940, in: Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus (wie Anm 30), Nr 4 Zit nach Kurt-Ingo Flessau, Schule der Diktatur Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus München 1977, 89
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Familien“ aufzurechnen 34 Der Rassismus bedingte die Ausgrenzung des „Anderen“: Eine Judenquote an Schulen und Hochschulen gab es seit April 1933 Juden hatten separiert im Klassenraum zu sitzen, an den schulbezogenen Erlebnisformen der deutschen „Volksgemeinschaft“35 wie Schulfeiern, Ausflügen oder Landschulheimaufenthalten durften sie nicht teilnehmen Seit 1938 war ihnen schließlich der Besuch einer allgemeinbildenden Schule grundsätzlich verboten Darüber hinaus stellte die Erziehung zum Militarismus ein wesentliches Merkmal von Schule dar Dies zeigte sich etwa in den für den Sportunterricht üblichen Marsch- und Ordnungsübungen, den obligatorischen Vorträgen von Wehrmachtsangehörigen, den Arbeitsgemeinschaften z B für Flugphysik und Schießunterricht, den regelmäßig abgehaltenen Luftschutzübungen für Lehrer- und Schülerschaft oder in Schulaufgaben 36 Es ist allerdings nicht möglich, von institutionellen Gegebenheiten und administrativen Vorgaben auf den Schulalltag zu schließen Vor allem sind die Abhängigkeiten vom sozialen Umfeld einer Schule, der Zusammensetzung des Kollegiums und/oder der Person des Lehrers in Rechnung zu stellen In praxi konnte Schule daher Motor, aber auch Bremse der gesellschaftlichen Nazifizierung sein Viele Lehrerinnen und Lehrer setzen aus Überzeugung, Karrierismus oder Pflichtbewusstsein konsequent das um, was ihnen vorgegeben wurde Ausdrücklich besprachen sie im Unterricht „Mein Kampf “ oder „Der Mythos des 20 Jahrhunderts“ und legten z B großen Wert auf die korrekte Ausführung des Hitlergrußes Es gab aber auch Lehrerinnen und Lehrer, die bestimmte Aufgaben bewusst wegließen oder mit ironischem Unterton behan-
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Flessau, Schule (wie Anm 33), 147 Schon Ernst Fraenkel war sich sicher, dass die Idee der „Volksgemeinschaft“ „die höchste Stelle im nationalsozialistischen Wertesystem“ einnimmt: Zit nach Manfred Gailus / Armin Nolzen, Einleitung Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine „Volksgemeinschaft“?, in: dies (Hrsg ), Zerstrittene „Volksgemeinschaft“ Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus Göttingen 2011, 7–33, hier 18 Die „Volksgemeinschaft“ sollte alle gesellschaftlichen Gegensätze suspendieren und die „Volksgenossen“ in einer solidarischen Opfergemeinschaft zusammenführen Entsprechend fungierte sie als Rubrum eines umfänglichen Sozialprogramms, das auf soziale Inklusion abzielte und rassische Geeignetheit für die Zugehörigkeit voraussetzte, mithin alle „Nicht-Arier“ von vornherein exkludierte Nonkonforme Verhaltensweisen wurden als gemeinschaftsschädlich sanktioniert und auf diese Weise die eliminatorischen Welteroberungspläne der Nationalsozialisten entscheidend vorangetrieben Vgl z B Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg ), „Volksgemeinschaft“ Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“ Paderborn 2012; Dietmar von Reeken / Malte Thießen (Hrsg ), „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort Paderborn 2013; Dieter Gessner, Volksgemeinschaft 1933–1945 Zur Entstehung und Bedeutung eines politischen Schlagwortes Wiesbaden 2019 Ein Beispiel: Ein moderner Nachtbomber kann 1800 Brandbomben tragen Auf wieviel km Streckenlänge kann er diese Bomben verteilen, wenn er bei einer Stundengeschwindigkeit von 250 km in jeder Sekunde 1 Bombe wirft: Flessau, Schule (wie Anm 33), 145
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delten Manchmal hörten Kinder sogar von Lehrkräften, die Juden heimlich Nachhilfestunden gaben 37 II. Feldbedingungen In beiden Weltkriegen waren Kinder einer massiven, multimedialen Kriegspropaganda ausgesetzt Es gab Ausschneidebögen für Kriegsflugzeuge Postkarten zeigten lachende Kinder in Uniform, bebilderte Kinderzeitschriften erzählten Kriegsheldengeschichten, eine Flut von kriegsbezogener Kinder- und Jugendliteratur verklärte das Kriegsgeschehen und desavouierte den Feind Kriegsspielzeug war zwar kostspielig und für viele Familien vor allem zwischen 1914 und 1918 kaum erschwinglich, gleichwohl prägten Kriegspuzzles, Kartenspiele wie „Schwarzer Peter im Weltkrieg“, Zinnsoldaten mit Pappgewehren, Elastolin-Rotkreuzschwestern oder Käthe-Kruse-Puppen in Feldgrau kindliche Vorstellungswelten Für Kinder, die Krieg spielen wollten, hatten die Spielzeugläden überdies ein reichhaltiges Angebot an Papphelmen, Pistolen und Gewehren (mitunter ratterten sie bei Betätigung einer Kurbel wie in natura) Im Ersten Weltkrieg ließ die Propagandaproduktion mit Fortdauer der Kampfhandlungen allerdings deutlich nach, im Zweiten Weltkrieg war das Ausmaß der Jugendpropaganda bis zuletzt beachtlich Rundfunk und Kino spielten in diesem Kontext eine bedeutende Rolle Nachdem Alfred Rosenberg im Februar 1940 mit der „Leitung der geistigen Betreuung der Jugend im Kriege“ beauftragt worden war, initiierte er eine Reihe von speziellen Rundfunkansprachen, „um die deutsche Jugend immer wieder auf die sie zum Einsatz verpflichtende Größe des Lebenskampfes des deutschen Volkes hinzuweisen“38 Regelmäßig traten hier Größen des NS-Staates auf, wobei die Reden stets „im Rahmen von Morgenfeiern in den Schulen und von Betriebsappellen gehört“ werden mussten 39 Darüber hinaus baute die Hitlerjugend ihr Rundfunkprogramm aus Für die Jüngsten gab es Kasperlespiele, in denen „in der Kindersprache das große politische Geschehen“ behandelt wurde, und für die Älteren einen „Zeitspiegel der Jugend“ 40 Als Konkurrenzprogramm zu den Gottesdiensten erhöhte die Hitlerjugend außerdem die Zahl der Jugendfilmstunden am Sonntagvormittag Zu sehen waren dann „staatpolitisch wertvolle“ Spielfilme wie z B der im Mai 1944 freigegebene Streifen „Junge 37 38 39 40
Unsere Forschergruppe „Eltern und Kinder im Krieg“ hat mittlerweile über 70 Zeitzeugengespräche geführt In zahlreichen Gesprächen wird auf die Milieuabhängigkeit der Schulen, die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer sowie die Technik des doppelten pädagogischen Tonfalls verwiesen Aus den Richtlinien für die weltanschauliche Betreuung der HJ während des Krieges, 16 2 1940, in: Karl-Heinz Jahnke / Michael Buddrus, Deutsche Jugend 1933–1945 Eine Dokumentation Hamburg 1989, Nr 196 Zit nach Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik 2 Bde München 2003, 84 Zit nach Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 125
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Adler“ oder Dokumentarfilme über die „Feuertaufe der Luftwaffe“ bzw die „Nahbekämpfung russischer Panzer“ 41 Großen Wert legten die Nationalsozialisten bis zuletzt auf pompös, inklusive Fanfarenmusik und Gesang, inszenierte Großveranstaltungen Minderjährige sollten der Welt vor Augen führen, „welch eine gesunde, kernige, vaterländisch-völkische Auffassung unsere Jugend beherrscht und wie sie begeistert zum höchsten Einsatz für die nationalsozialistischen Hochideale bereit ist“42 Der nachdrücklicheren Wirkung der Kriegspropaganda dürfte der Umstand förderlich gewesen sein, dass Kinder in beiden Weltkriegen unter Versorgungsmangel und Zwangsbewirtschaftung zu leiden hatten, diese aber im nationalsozialistischen Deutschland jahrelang deutlich besser abgefedert werden konnten Im Laufe der Kriege wurden immer mehr Güter des täglichen Bedarfs rationiert, vieles verschwand aus dem Angebot und war allenfalls „unter der Hand“ zu haben Kleidung musste so lange wie möglich getragen werden, oft wurde sie von einem Kind auf das andere weitergegeben War ein größeres Kleidungsstück abgenutzt, wurde es aufgetrennt; aus den noch verwertbaren Teilen nähte man dann einen neuen Rock, Schürze etc Ferner herrschte ein allgemeiner Kohlenmangel, der immer wieder dazu führte, dass nicht geheizt werden konnte Wohnraum wurde insbesondere in den Städten stetig rarer, zusehends häufiger mussten sich mehrere Personen einen Raum teilen Indes: Ein überfordertes Verkehrssystem, eine Teuerungskrise und vor allem die „großen Ernährungsschwierigkeiten in den Städten und Industriebezirken“43, die gerade Kinder immer dünner, schwächer und anfälliger für Krankheiten und Seuchen machten, waren vornehmlich Kennzeichen des Ersten Weltkrieges Gleiches gilt für einen zunehmenden Währungsverfall und eine völlig unzureichende staatliche Fürsorgepolitik, die vielen Menschen die Bezahlung der Miete unmöglich machte und Obdachlosigkeit beförderte Die Nationalsozialisten hatten aus diesen Erfahrungen gelernt und mühten sich, dem Mangel durch eine effizientere Organisation, deutlich umfangreichere Sozialmaßnahmen und die gezielte Ausbeute der besetzten Länder sowie von angeblich „rassisch Minderwertigen“, u a Juden und ausländischen Zwangsarbeitern, beizukommen Der tägliche Pro-Kopf-Verbrauch eines Deutschen lag in der Folge im Jahr 1939 bei 2 435 Kalorien und am Kriegsende immer noch bei 2 000 Ausgebombte erhielten an Sammelstellen für gewöhnlich eine ordentliche Mahlzeit, Kinder sogar Südfrüchte oder andere Raritäten, Müttern wurde – fast echter – Bohnenkaffee eingeschenkt Die Teuerungsrate war niedrig, die steuerliche Belastung nahezu konstant Zugleich wurde die Landwirtschaft massiv subventioniert, so dass sich die Erzeugerpreise während des Krieges lediglich um 25 bis 35 Prozent erhöhten Für Soldatenfamilien gab das Deutsche Reich
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Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 129–138; Karl-Heinz Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot Deutsche Jugend im sechsten Kriegsjahr 1944/45 Essen 1992, 13 Gauleiter Friedrich Karl Florian auf der Kundgebung der Kriegsfreiwilligen der HJ in Wuppertal, 30 7 1944, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 14 Pfarrchronik St Odilia, 80, in: Pfarrarchiv St Odilia Dormagen-Gohr 3
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fast doppelt so viel aus wie Großbritannien und die USA, etliche Familien verfügten über mehr Geld als in Friedenzeiten Sie waren weitgehend von Steuern befreit, der Staat bezuschusste die Mietkosten, half bei der Abzahlung von Krediten und finanzierte bei Bedarf sogar eine Haushaltshilfe 44 Wirtschaft und Versorgung des nationalsozialistischen Deutschlands brachen erst in der letzten Kriegsphase zusammen Demgegenüber entgrenzte sich im Zweiten Weltkrieg der staatliche Kontrolldruck Schon zwischen 1914 und 1918 nahm die traditionelle Sorge um die „gefährdete“ Jugend45 angesichts so vieler abwesender Väter und schwieriger sozioökonomischer Rahmenbedingungen beinahe wahnhafte Züge an So durften Jugendliche beispielsweise keine Gastwirtschaften mehr aufsuchen, in denen es Gesangsdarbietungen gab Der Kinobesuch war untersagt Zigaretten und Alkohol durften sie nicht mehr konsumieren Es wurden Ausschankverbote und Sperrzeiten festgelegt 46 Unbedingt war zu verhindern, dass „jugendliche Personen beiderlei Geschlechts ohne Begleitung von Eltern oder Lehrpersonen überhaupt ohne jegliche Aufsicht“ an Ausflügen oder Wanderungen teilnahmen 47 An vielen Orten gründete sich ein „Jugendschutz“, dem beispielsweise Bürgermeister, Lehrer und Pfarrer angehörten und der alles unternehmen wollte, „dem Verhalten der Jugendlichen in der Öffentlichkeit […] ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, Ermittlungen anzustellen und Verfehlungen“ nachzugehen 48 Im Zweiten Weltkrieg wurde an solche Maßnahmen angeknüpft Seit 1940 durften sich Jugendliche unter 18 Jahren nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf Straßen und Plätzen aufhalten, nach 21:00 war ihnen der Besuch von Kinoveranstaltungen und Gastlokalen verboten Jugendliche unter 18 Jahren durften in der Öffentlichkeit nicht mehr rauchen und prinzipiell keinen Alkohol trinken 49 Zugleich aber wurde der ohnehin gewaltige staatliche Repressionsapparat weiter ausgebaut Die Zusammenarbeit von Hitlerjugend und Reichssicherheitshauptamt verstärkte sich, dem Streifendienst kam eine immer bedeutendere Rolle bei der Verfolgung von Regimegegnern zu 50 Verhaftungen durch die Gestapo erhöhten sich zwischen 1942 und 1944 um 500 Prozent,
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Götz Aly, Hitlers Volksstaat Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus 2 Aufl Frankfurt a M 2005, 86–90 Zum Kontext z B : Jürgen Reulecke, The battle for the young Mobilising youth in Wilhelmine Germany, in: Mark Roseman (Ed ), Generations in Conflict Youth Revolt and Generation Formation in Germany 1770–1968 New York u a 1995, 92–104; Derek S Linton, „Who Has the Youth, Has The Future“ The Campaign to Save Young Workers in Imperial Germany New York u a 1991, vor allem 139–164 Bekanntmachung betreffend Jugendfürsorge, 14 1 1916, in: Archiv im Rheinkreis Neuss (ARKN), Bürgermeisterei Dormagen, 5110/1 Militärpolizeimeister der Festung Cöln u a an die Landräte, 5 4 1916, in: ARKN, Bürgermeisterei Dormagen, 5110/1 Verhandlung über die Einrichtung des Jugendschutzes in Zons, 11 1 1918, in: ARKN Stadt Zons 830 Polizeiverordnung zum Schutz der Jugend, 9 3 1940, zit nach Jahnke/Buddrus, Deutsche Jugend (wie Anm 38), Nr 197 Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 369–388
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der Anteil von Jugendlichen stieg rasant 1939 wurde die Todesstrafe für Jugendliche eingeführt, 100-mal kam sie bis 1945 zur Anwendung 51 Immer mehr Minderjährigen drohte wegen Vergehen „gegen die Arbeitsdisziplin“ [und] gegen den Kriegseinsatz“52 die Einlieferung in ein Arbeitserziehungslager Letzthin brachte der Krieg die Einrichtung von Jugendkonzentrationslagern im niedersächsischen Moringen (für Jungen) und im brandenburgischen Uckermark (für Mädchen) 53 Auch mit dem Frontgeschehen waren Kinder im Zweiten Weltkrieg weitaus stärker konfrontiert als zwischen 1914 und 1918 Spiel und existenzieller Ernst vermischten sich spätestens, nachdem die britische Regierung im Februar 1942 beschlossen hatte, Flächenbombardements gegen deutsche Städte durchzuführen Kinder spielten in Trümmern, sammelten Bomben- und Flaksplitter, nahmen Blindgänger auseinander und bastelten aus einzelnen Teilen Feuerwerkskörper Für sie war es normal, dass Fenster und Türen nachts vollständig verdunkelt, dass Auto-, Fahrrad- und Straßenbahnscheinwerfer bis auf einen schmalen Schlitz abgedeckt werden mussten Sie wussten, dass vor Luftangriffen Dachböden geleert, Sandsäcke vorbereitet, Eimer und Badewannen mit Wasser gefüllt werden sollten, sie wussten, dass die in den Bombenkeller geflohene Familie immer Zahnbürsten, Essgeschirr, Besteck und wichtige Papiere, vor allem die Lebensmittelkarten, parat haben musste Sie wuchsen mit dem Dröhnen der Luftschutzsirenen, dem Krach von Flugzeugmotoren, mit Feueralarm, Detonationen, und Zerstörungen auf Seit dem Vorrücken der Alliierten wurden die Tiefflieger eine immer größere Gefahr Niemand im Freien war mehr sicher, oft flogen die Flugzeuge so niedrig, dass Kinder die Piloten in ihren Glaskanzeln klar erkennen konnten 54 Lediglich in deutlich kleinerem Umfang gab es auch im Ersten Weltkrieg eine Aufhebung der Trennung von Front und Heimat Verdunkelungsmaßnahmen, Luftalarme und der Aufenthalt in Schutzräumen gehörten für zehntausende von Kindern, insbesondere in (Süd-)Westdeutschland und Städten wie Freiburg, Stuttgart, Karlsruhe oder Bonn zum Alltag Bei einem besonders dramatischen Angriff auf Karlsruhe, das als Sitz zahlreicher Militärdienststellen sowie der Deutschen Waffen- und Munitionsfa-
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Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 408 Zit nach Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 409 Bericht des Reichssicherhauptamtes über die Einrichtung von Konzentrationslagern für Jugendliche, 11 5 1943, in: Jahnke/Buddrus, Deutsche Jugend (wie Anm 38), Nr 241; Martin Guse, Die Jugendschutzlager Moringen und Uckermark, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg ), Der Ort des Terrors Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager Bd 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager München 2009, 100–114 Zur Alltagsgeschichte des Krieges aus Kinderperspektive z B : Karla Poewe, Childhood in Germany during World War II New York 1988; Nicholas Stargardt, Witnesses of War Children’s Lives Under the Nazis London 2005 (Deutsch: „Maikäfer flieg!“ Hitlers Krieg und die Kinder München 2006); Margarete Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten Frankfurt am Main 2007; Hester Vaizey, Surviving Hitler’s War Family Life in Germany, 1939–48 Basingstoke 2010
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brik ein wichtiges strategisches Ziel der Ententemächte darstellte, kamen am 22 Juni 1916 120 Menschen, darunter 85 Kinder, ums Leben Sie hatten eine Zirkusvorstellung besucht 55 In beiden Weltkriegen gehörte folglich die Konfrontation mit Leid und Tod zu den kindlichen Kardinalerfahrungen, wobei die Ausmaße im Zweiten Weltkrieg alle bis dahin gültigen Vorstellungen sprengten Beerdigungen, Trauerfeiern und schwarz gekleidete Frauen gehörten ebenso zum Kinderalltag wie Kriegsversehrte mit „nur mehr eine[m] Arm oder Fuß“ oder „mit apfelgroßen Löchern im Gesicht“56 Immer wieder kamen Kinder in unmittelbaren Kontakt mit Leichen, oft sahen sie Altersgenossen sterben: „Die Schule wurde getroffen und fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen Da sah ich das erste Mal in meinem Leben Tote, zerdrückte, verstümmelte Menschen und hörte die Entsetzensschreie und das Stöhnen der Verwundeten “57 Allein durch Luftangriffe kamen zwischen 1939 und 1945 etwa 74 000 Kinder ums Leben 58 Viel stärker waren Minderjährige des Zweiten Weltkrieges zudem Rachehandlungen ausgesetzt Diese gingen von den Alliierten aus – an erster Stelle sind die Massenvergewaltigungen am Kriegsende zu nennen, die auch zahllose Mädchen betrafen59 – und den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: In den deutschen Ostgebieten oder im Sudentenland kam es zu massiven Gewalthandlungen gegen die deutsche Bevölkerung im Allgemeinen und Kinder im Besonderen Die massenhafte Konfrontation mit Flucht und Vertreibung – auf den Gewaltmärschen Richtung Westen verloren zahlreiche Kinder ihr Leben – gehört ohnehin zu den speziellen Kennzeichen des Zweiten Weltkrieges 60 Nicht weniger gilt dies für den regulären Kampfeinsatz der Jugend Im Laufe des Ersten Weltkriegs steigerte sich der Anteil minderjähriger Soldaten an den ordentlichen Truppen enorm Während zu Beginn 21 Jahre als Mindestrekrutierungsalter galt, wurden in der zweiten Kriegshälfte verstärkt unter 18-jährige eingezogen Die Todesrate unter jugendlichen Soldaten war besonders hoch, weil sie in überdurchschnittlichem Maße in den gefährlichen Sektoren und Einheiten zum Einsatz kamen Sie lag
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Bomben auf die Manege (https://www swr de/geschichte-des-suedwestens/zeitstrahl/1916__ers ter-weltkrieg-karlsruhe-bomben-auf-die-manege/-/id=15448514/did=15719460/nid=15448514/ j5fmah/index html [letzter Zugriff: 25 10 2019] Ernst Buchner, (Eduard Mayer), 1914–1918 Wie es damals daheim war Das Kriegstagebuch eines Knaben Leipzig 1930, 70 Herbert N , zit nach Dörr, Der Krieg (wie Anm 54), 168 Jörg Echternkamp (Hrsg ), Kriegsschauplatz Deutschland 1945 Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden Feldpost aus der Heimat und von der Front Paderborn u a 2006, 65 Dazu z B : Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs 2 Aufl München 2015 Ingo Esser, „Schwaches Element“ Kinder als Leidtragende von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus Polen und dem früheren Ostdeutschland 1944–1949, in: Carsten Gansel / Paweł Zimniak (Hrsg ), Kriegskindheiten und Erinnerungsarbeit Zur historischen und literarischen Verarbeitung von Krieg und Vertreibung Berlin 2012, 89–106
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mit knapp 30 Prozent teilweise doppelt so hoch wie der Gesamtanteil der Verstorbenen an den kämpfenden Truppen 61 Im Innern wollte der Staat außerdem Jugendliche zum paramilitärischen Einsatz verpflichten So schuf er ab August 1914 mit der sogenannten Jugendwehr eine Organisation, welche die „noch nicht militärpflichtigen Leute für das Militär vorzubereiten“ hatte 62 Ziel war die „Förderung der körperlichen und sittlichen Kräfte der männlichen Jugend, zunächst zu Nutzen der einzelnen Person […], sodann zur Hebung der gesamten Volkskraft und hierdurch mittelbar zur Stärkung der Wehrkraft“ 63 In der Folge standen für etwa 14–17-jährige Jungen („bei der Zulassung kräftiger junger Leute [sollte] nicht pedantisch gerechnet werden“)64 regelmäßige Wehrübungen auf dem Programm Die Teilnahme an den Jugendwehren war indes freiwillig und ihre Probleme nahmen sich beträchtlich aus: Oft fehlte es „an einem geeigneten Leiter“ 65 Zumal für gewöhnlich nicht mit regulären Waffen trainiert wurde und der Klassendünkel beträchtlich war, hatten viele „Jungens […] gar kein Interesse an der Sache“ 66 Über allem stand außerdem der Mangel Die Ausstattung der Jugendwehr wurde zunehmend unzulänglicher Geradezu sinnbildlich erscheint es, wenn 1917 für ihre Wehrturnwettkämpfe „mit Rücksicht auf die Schonung der Kleider und des Schuhzeugs“ bestimmt wurde, „daß beim Hindernislauf das Kriechen fortfällt “67 Eltern, Arbeitgeber, Kirchenvertreter, Pädagogen und Parteien, vor allem die SPD, übten daher unmissverständliche Kritik und im Lauf des Krieges wurden Präferenzen für sozialpolitische Maßnahmen immer deutlicher artikuliert: „Schützt den jugendlichen Körper vor Ausnützung, Hunger und Krankheit […]: damit beginnt und endigt die Wehrhaftmachung der Jugend!“68 So nimmt es nicht wunder, dass Ende 1914 rund 600 000 Jugendliche an der vormilitärischen Ausbildung teilnahmen, Anfang 1917 jedoch nur noch knapp 260 000 69 Im Zweiten Weltkrieg gestaltete sich die Situation völlig anders: Der Anteil Minderjähriger in der Wehrmacht war lange Zeit verhältnismäßig gering, die Militarisierung der Jugend jedoch viel weiter vorangeschritten und bei den Kämpfen am Ende 61 62 63 64 65 66 67 68 69
Stephane Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, in: Gerhard Hirschfeld u a (Hrsg ), Enzyklopädie Erster Weltkrieg 2 Aufl Paderborn u a 2004, 135–141, hier 135 f Chronik der Schule zu Nettesheim-Butzheim [1915], in: ARKN 1 Preußisches Kriegsministerium, 7 4 1918, in: Staatsarchiv Münster, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt, 235 Badischer Jugendwehrausschuss an die Bezirksämter, 30 9 1914, in: GLA, 235, 19011 Der Bürgermeister von Dormagen an den Landrat in Neuss, 9 7 1915, in: ARKN Bürgermeisterei Dormagen, augias 1258 J P an den Bürgermeister zu Dormagen, 22 8 1915, in: ARKN Bürgermeisterei Dormagen, augias 1258 Württembergische Jugendwehr Arbeitsausschuss an die Herren Bezirksvorsitzenden, Kreisoffiziere und ihre Stellvertreter, 6 6 1918, in: Staatsarchiv Ludwigsburg, F 184 I, 316 Otto Glöckel, Die Wehrhaftmachung der Jugend Wien 1916, 21 Ausführlich zur Jugendwehr im Krieg: Christoph Schubert-Weller, „Kein schönrer Tod …“ Die Militarisierung der männlichen Jugend und ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg 1890–1918 Weinheim/ München 1998, 217–326
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des Krieges stand diese „in vorderster Linie“70 Der Schießunterricht der Hitlerjugend erfuhr unter Ägide von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst eine weitere Professionalisierung 71 Ab Mai 1942 wurden flächendeckend Wehrertüchtigungslager der HJ eingerichtet72, in denen als „Vorschule für deutsches Soldatentum“ grundsätzlich jeder 15-Jährige Junge in dreiwöchigen Schulungskursen eine intensive Schieß- und Geländeausbildung erhalten konnte 73 1943 begann der „Kriegshilfeeinsatz der Jugend bei der Luftwaffe“, der männliche Jugendliche, später auch Mädchen auf ihren Dienst bei Flakartillerie vorbereitete 74 1944 füllten Wehrmacht und Waffen-SS angesichts der großen Verluste erstmals in großem Stil Verbände mit 18–20-Jährigen auf, von denen viele innerhalb kürzester Zeit ihr Leben verloren Die SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“, die aus 17- und 18-jährigen Jungen bestand, büßte 1944 über die Hälfte ihres Bestandes ein 75 In der zweiten Jahreshälfte wurde die Rekrutierung von 17- und 16-Jährigen forciert, zugleich richtete man Wehrertüchtigungslager für BDM-Mädchen ein76 1945 wurden schließlich auch Hitlerjungen und BDM-Mädchen „in schnell gebildeten Kampfgruppen“ an Frontabschnitten eingesetzt 77 Am 27 Februar erging die Order, den Jahrgang 1929 dem „Volkssturm“ einzugliedern, wobei eine Unterscheidung zwischen Wehrmacht und „Volkssturm“ zu diesem Zeitpunkt kaum mehr möglich war Es wurden allerorten immer jüngere Kinder zum Dienst verpflichtet, nicht wenige HJAngehörige kämpften freiwillig Im Kampf um Berlin waren sogar zwölfjährige Pimpfe im angeblichen „Ringen um Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes“78 im Einsatz, die trotz „unüberwindliche[r] Materialüberlegenheit“ des Feindes gegen sowjetische Panzer zu kämpfen versuchten79 Genaue Opferzahlen sind kaum zu bestimmen Die Todesquote minderjähriger Soldaten lag ähnlich hoch wie im Ersten Weltkrieg, bezogen auf die letzte Kriegsphase deutlich darüber In den Kämpfen um Berlin kamen mehrere tausend Hitlerjungen ums Leben 80 Von den größtenteils 1944/45 einberufe-
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Artikel aus „Der Pimpf “, Glaube der Jugend – Unterpfand des Sieges, Juli/August 1944, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 20 Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 195–199 Bis April 1943 entstanden 163 Wehrertüchtigungslager, in denen knapp 246 000 Jugendliche ausgebildet wurden: Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 204–215 Besuch im Wehrertüchtigungslager der HJ, in: Wormser Tageszeitung, 5 9 1943 Anordnung über den Kriegseinsatz der deutschen Jugend in der Luftwaffe, 26 1 1943, in: Jahnke/ Buddrus, Deutsche Jugend (wie Anm 38), Nr 236 Brief des Reichsführers der SS Heinrich Himmler an den Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl zur Aufstellung der SS-Panzerdivision „Hitler-Jugend“, 21 7 1944, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 11 Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), 19 Bericht über die Verpflichtung zur HJ durch den Reichsjugendführer Artur Axmann, 26 3 1945, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 84 Adolf Hitler, 19 3 1945, zit nach Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), 244 Bericht über die Verpflichtung zur HJ durch den Reichsjugendführer Artur Axmann, 26 3 1945, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 84 Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), 26
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nen 15–17jährigen Jungen der Jahrgänge 1927 bis 1929 sind fast sechzigtausend zu Tode gekommen, unter den Jahrgängen 1920 bis 1929 waren es über 1,5 Millionen 81 III. Die Schulen Im Hinblick auf das Schulwesen wirkte der Krieg vor allem als Beschleuniger der Vorkriegsentwicklungen So setzte sich die systemische Nazifizierung fort Während sich die Schulorganisation im Ersten Weltkrieg nicht veränderte, kam es zwischen 1939 und 1945 durchaus zu substantiellen institutionellen Veränderungen Dazu zählt etwa die flächendeckende, teilweise stark befehdete, teilweise ohne Widerstand hingenommene Abschaffung der Konfessionsschulen82, die Einrichtung der Deutschen Heimschulen als der SS unterstelltes, mit der NS-Ideologie konformes Surrogat für private, zumeist kirchliche, Internate83 oder das von Adolf Hitler persönlich vorangetriebene Experiment der unentgeltlichen Hauptschule, die anstelle der Mittelschule, insbesondere in ländlichen Gegenden, breitere Schichten zur Hochschulreife bringen und dabei „frühzeitig eine nationalsozialistische Berufshaltung vorzubereiten […] und die Ausrichtung des Lebens nach der germanisch-deutschen Wertordnung anzubahnen“ hatte 84 Auch die Volksschullehrerausbildung reformierten die Nationalsozialisten im Sinne einer umfassenderen Ideologisierung Sie wurde durch die Auflösung der Hochschulen für Lehrerbildung Anfang 1941 und die Schaffung von Lehrerbildungsanstalten (LBA), in denen Volks- und Hauptschulabgänger fünf Jahre unter Internatsbedingungen zum Lehrberuf geführt werden sollten, wieder entakademisiert 85 Die Aufnahme neuer Auszubildender vollzog sich dabei im Rahmen zehntägiger Musterungslager der HJ („Ausgangspunkt der neuen Lehrerbildung ist das Lager“86), bei denen u a Erbanlagen und „Haltung“ überprüft wurden Einer soliden ideologischen 81 82
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Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), 35; Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), XXXII f Z B Joachim Maier, Schulkampf in Baden 1933–1945 Die Reaktion der katholischen Kirche auf die nationalsozialistische Schulpolitik, dargestellt am Beispiel des Religionsunterrichts in den badischen Volksschulen Mainz 1983; Maria Anna Zumholz, Das NS-Regime und der Kreuz- und Schulkampf im Oldenburger Land, in: dies (Hrsg ), Katholisches Milieu und Widerstand Der Kreuzkampf im Oldenburger Land im Kontext des nationalsozialistischen Herrschaftsgefüges Münster 2012, 95–130 Z B Anke Klare, Die Deutschen Heimschulen 1941–1945 Zur Gleichschaltung und Verstaatlichung kirchlicher, privater und stiftischer Internatsschulen im Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 9 (2003), 37–58 Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Hrsg ), Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule Berlin 1942 Zwischen 1940 und 1943 wurden 257 Lehrerbildungsanstalten errichtet: Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 868 Alfred Bäumler, zit nach Stefanie Fleck, Die Wiener Lehrerbildungsanstalten in der Zeit des Nationalsozialismus Wien 2012, 40
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Schulung sollten neue Lehrfächer wie Wehrgeografie, Grenzland- oder Rassenkunde förderlich sein Bezeichnenderweise bildeten die weltanschaulichen Grundlagen der NS-Erziehung im zweiten Referendarjahr das Leitthema und im Rahmen der pädagogischen Prüfung war eine Stellungnahme zur politischen Einstellung obligatorisch 87 In Bezug auf den Unterricht in den allgemeinbildenden Schulen erschien das kriegspädagogische Bemühen in beiden Weltkriegen beträchtlich Zwischen 1914 und 1918 nahm es einen noch größeren Umfang an, wobei zu bedenken ist, dass der Grad an Ideologisierung und damit Militarisierung bereits vor 1939 sehr hoch war und außerdem die Hitlerjugend als weitere Sozialisationsinstanz bestand Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges sollte beispielsweise das Soldaten- und Kampflied gepflegt werden, der Unterricht wunschgemäß mit einem solchen beginnen An jeder Schule gab es einen Vertrauenslehrer für wehrgeistige Erziehung, der mit dem jeweils zuständigen Standortoffizier für Schulfragen eng zusammenarbeiten musste Der Krieg war in den Klassen mit Wandschmuck, mit Büchern, Zeitschriften, Vorträgen und Filmen präsent Er bestimmte die Vergabe von Aufsatzthemen, militärische Inhalte in Abschlussprüfungen waren verpflichtend Schillers „Wilhelm Tell“ durfte in Schulen nicht mehr aufgeführt werden88, dafür sollten „die Taten der Ritterkreuzträger in geeigneter Weise im Schulunterricht behandelt werden“89 Täglich wurden Kriegsnachrichten mit den Schülerinnen und Schülern besprochen, sie waren angehalten über das Bericht zu erstatten, was sie gelesen oder im Radio gehört hatten In vielen Schulen traten Frontsoldaten, vor allem Offiziere von Wehrmacht und SS, auf – „zur Förderung der Kriegsmoral“90 und um den Kindern „den Kampf unserer tapferen Soldaten vor Augen zu führen“ 91 Wenn irgend möglich, kamen – zur großen Begeisterung der Kinder – aus der Umgebung stammende Ritterkreuzträger zu Besuch Jenseits des eigentlichen Unterrichtsgeschehens war der Krieg nicht minder präsent So gab es zahlreiche vaterländische Feiern, die z B unter dem Motto „Dulce et decorum est pro patria mori“ stattfanden 92 Zwischen 1914 und 1918 wurde „der ganze Unterrichtsbetrieb […] dem Zeitgeschehen angepaßt “ In den meisten Klassenräumen hingen Landkarten der Kriegsschauplätze, Schülerinnen und Schüler setzten die Namen von gefallenen Soldaten an die
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Hermann Giesecke, Hitlers Pädagogen Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung 2 Aufl Weinheim/München 1999, 149 Anweisung Adolf Hitlers, 3 6 1941, in: Jahnke/Buddrus, Deutsche Jugend (wie Anm 38), Nr 206 Anordnung Adolf Hitlers, 20 9 1941, in: Jahnke/Buddrus, Deutsche Jugend (wie Anm 38), Nr 212 Zum Kult um die Ritterkreuzträger und die damit einhergehenden Probleme: Colin Gilmor, „Autogramm bitte!“ Heldenverehrung unter deutschen Jugendlichen während des Zweiten Weltkrieges, in: Denzler u a (Hrsg ), Kinder und Krieg (wie Anm 2), 131–150 Alfred Hirt, Erinnerungen, 2001, in: Stadtarchiv Neustadt, Bestand A 5620 Front und Jugend in treuer Kameradschaft, in: Wormser Tageszeitung, 8 5 1944 Heinz Aulfes, „Ihr seid die beste Jugend des tüchtigsten Volkes“ Kindheit und Jugend eines Bramscher Schülers im Dritten Reich Berlin 2013, 151
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Wände, bauten Kriegerdenkmäler oder -altäre für „gefallene Helden“ und stellten Kriegstrophäen und Fotos von Generälen aus, die in offiziellen Kriegsschulmuseen gezeigt wurden Aus den Kriegskommuniqués pflegten Lehrerinnen und Lehrern mit nationalistischem Pathos deutend vorzulesen „Überhaupt alle Fächer g[a]ben willkommene Gelegenheit, auf die großen Zeitereignisse Bezug zu nehmen“93: Der Erdkundeunterricht nahm die Frontverläufe ins Visier, in Griechisch und Latein wurden die Militärstrategien der Perser- oder Punischen Kriege auf ihre Aktualität hin abgeklopft Im Kunstunterricht malten die Kinder Kriegsbilder, sie bastelten Feldpostkarten, modellierten Kriegsschiffe, töpferten Soldatenfiguren und übten sich im Geländezeichnen In Mathematik wurden Dreisatz und Prozentrechnung anhand von Einberufungen, Maschinengewehren und Kriegsgefangenen eingeübt 94 Chemielehrer besprachen Sprengstoffe und im Musikunterricht wurden Kriegsfassungen von bekannten Volksliedern wie „Maikäfer flieg“ („Flieg, Kugel flieg, Du hilfst uns gut im Krieg Du hilfst uns gut im Belgierland, Antwerpen ist bald überrannt, Flieg, Kugel flieg“) gesungen oder neue Lieder eingeübt („Auf denn zum heil’gen Krieg“95 oder „Heil dir, o Hindenburg, schieß alle Russen tot“96) Im Deutschunterricht verfassten Schülerinnen und Schüler Briefe an Soldaten oder Kinderzeitschriften, sie schrieben Kriegsgedichte und Diktate zu Themen wie „Der Krieg als Erzieher unseres Volkes“, „Im Marschieren haben unsere Soldaten bisher Unglaubliches geleistet“, „Für Ehre und Pflicht, bis die Klinge bricht“ oder „Der Krieg, eine Quelle des Segens“ 97 Vieles geschah auf Eigeninitiative von Schulen und Lehrkräften, der Staat brauchte relativ wenig eigene Aktivität zu entfalten Im Amtsblatt des preußischen Kultusministers erschienen beispielsweise nach 1914 nicht einmal zehn Erlasse Stattdessen sprach er Empfehlungen für Lehrmittel aus und gründete ein „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht“, das am 21 März 1915 mit einer enorm frequentierten Ausstellung zu „Schule und Krieg“ erstmals in die Öffentlichkeit trat und entsprechende Angebote massenhaft parat hielt Erste Handreichungen für Lehrkräfte mit Kriegslektionen 93 94
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Chronik der Schule zu Gohr, zit nach Heinz Pankalla (Bearb ), Der erste Weltkrieg Berichte aus Dormagener Schulchroniken Köln 1980, 56 Beispiele: „a) Ein Maschinengewehr verfeuert in der Sekunde 8 Schuß In welcher Zeit sind die 300 Stück Patronen eines Maschinengewehrstreifens verfeuert? b) Wenn im Durchschnitt 5 Schuß in der Sekunde gefeuert wird, wie viel Patronen wurden dann während eines abgeschlagenen Angriffs von 17 Minuten von einem einzigen Maschinengewehr verbraucht?“; „In der Altmark wurden 30000 Russen […] zur Trockenlegung von Sumpfstrecken, Urbamachung von Ödland und Deichbau verwandt Die Gesamtkosten betrugen pro Morgen 7 M, die Ertragssteigerung 35 M Mit wieviel % Gewinn lohnt sich die Gefangenenverwendung?“ (zit nach Jens Flemming u a (Hrsg ), Lebenswelten im Ausnahmezustand Die Deutschen, der Alltag und der Krieg, 1914–1918 Frankfurt a M 2011, 231) Zit nach Flemming u a , Lebenswelten (wie Anm 94), Nr 130 Zit nach Demm, Deutschlands Kinder (wie Anm 12), 55 Verena Gruber, Versuche ideologischer Beeinflussung Aufsatzthemen und Maturarbeiten an Tiroler Gymnasien, in: Hannes Stekl u a (Hrsg ), Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg Wien 2015, 180–204
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existierten schon kurz nach Kriegsbeginn, bald kamen komplette Lehrmittelsätze und eigene Kriegsschulbücher auf den Markt (Titel z B : „Die Trommel schlug zum Streite“ oder „Im Geiste der großen Zeit“) Gleichsam selbstverständlich wurden diverse Schülerwettbewerbe zum Thema Krieg ausgeschrieben Auch die Schulfeiern standen im Zeichen des Krieges Immer wieder fanden sogenannte Kriegserbauungsstunden statt Bei größeren Siegen der deutschen Armee fiel der Unterricht aus und die Schule veranstaltete eine Feier, „bei welcher die Klassenleiter der Bedeutung des Sieges entsprechende Ansprachen hielten und von den Kindern Gedichte und vaterländische Lieder vorgetragen wurden“98 Wenn darüber hinaus beispielsweise die 100-jährige Zugehörigkeit des Rheinlands zu Preußen zelebriert wurde, dann sangen Schülerinnen und Schüler Lieder wie „Deutschland, Deutschland über alles“, „Die Wacht am Rhein“ oder „So hab ich Deutschland nie gesehen,“ und es standen Deklamationen wie „100 Jahre Preußen“ und „Dem Kaiser“, aber auch „Zum Kampfe“ oder Freiwillige vor“ auf dem Programm 99 Die traditionelle Feier des Kaisergeburtstags begingen die Schulen mit einem Festspiel, das z B „Alldeutschlands Dank und Gelübde am Kaisertag 1916“ betitelt war, und diversen Gesangs- sowie Gedichtvorträgen Diese hießen z B „Der Weltkrieg und unsere Hoffnung“, „Im Schützengraben“ oder „Wie mein Hauptmann fiel“ 100 Es gibt triftige Argumente für die Rolle der Schulen als Agenten der Kriegspropaganda Es ist z B der sogenannte Kriegseinsatz der Schulen anzuführen, d h ihre Rolle als „Liebesstäter“ und ihr Engagement für die Kriegswirtschaft: Die Schulen in beiden Weltkriegen besaßen wesentliche Bedeutung hinsichtlich der Sammel- und Hilfsaktionen für Soldaten, deren Angehörige sowie Kriegsgeschädigte „Gleich mit Beginn des Krieges setzte eine rege Liebestätigkeit […] ein“ und unter den Schulkindern herrschte alsbald „ein reger Wettbewerb“: Da wurde genäht, gehäkelt und gestrickt und „Knaben wie Mädchen beteiligten sich lebhaft an [der] Sammlung von Liebesgaben “101 Im Ersten Weltkrieg nahmen Millionen Kinder an aufwendig, mit patriotischen Reden und Liedern choreografierten Schulnagelungen teil, bei denen mit einem Nagelschlag ein Beitrag zur Kriegsfinanzierung geleistet werden konnte Dass Schulkinder ebenso als Adressat wie Akteur der Propaganda zu betrachten sind, zeigte sich darin, dass sie in jede Veranstaltung zu Gunsten der Soldaten und ihrer Angehörigen eingebunden waren Gleichermaßen geschah es nicht zufällig, dass im Ersten Weltkrieg für die Kriegsanleihen im Klassenraum geworben wurde und die Schulkinder selbst diese zeichneten Bewusst ließen die Behörden auch Feldpostpaketen einen „von Kinderhand“ geschrieben Brief beilegen mit der Bitte „um kleine Schilderungen
98 99 100 101
Chronik der Schule zu Nievenheim, zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 14 Chronik der Schule zu Stürzelberg, zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 91 Schulchronik von Hackenbroich, 104, in: ARKN, 8 Chronik der Schule zu Dormagen, zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 35
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aus dem Kriege, welche im Unterricht verwertet werden sollen“ 102 Bisweilen regten die Schulen regelrechte Brieffreundschaften zwischen Kindern – zumeist jungen Mädchen – und Frontsoldaten an 103 Denn selbst hartgesottene Männer konnten ihre Rührung nicht verbergen: „Es erfreut immer das Herz eines Kriegers, etwas aus der Heimat zu hören: Es erfreut aber umsomehr, wenn es das unschuldige Kinderherz ist, das uns eine solche Freude macht “104 Die schulische Unterstützung der Kriegswirtschaft war in beiden Weltkriegen breit angelegt „Immer und immer wieder“ mussten Lehrerinnen und Lehrer „im Unterricht darauf hinweisen, daß Sparsamkeit im Verbrauch von Lebensmitteln heute das Lebensgebot der Deutschen ist“ Außerdem sollten Elternabende veranstaltet werden, „auf denen Vorträge gehalten werden insbes über den Ernst der wirtschaftlichen Lage […] sowie über Mittel und Wege, welche zu solcher Sparsamkeit führen “105 Das praktische Vorbild lieferten Schülerinnen und Schüler gleich mit Durch das Anlegen von Gemüsebeeten und ihre verstärkte Arbeit in der Landwirtschaft trugen sie beispielsweise zur „Lösung der Lebensmittelversorgung“ bei – „eine Frage, die […] zu den wichtigsten vaterl[ändischen] Aufgaben“ zählte 106 Zudem waren sie fortwährend an kriegswirtschaftlichen Sammlungen beteiligt – sei es Laubheu (für Pferdefutter), Kupfer, Messing oder Gold, seien es Blechdosen, Gummischläuche, Reifen, Bucheckern, Pflaumenkerne oder Weidenrösschen Es ist dabei klar ersichtlich, dass die Nationalsozialisten an die Sammlungsaktivitäten des Ersten Weltkrieges anknüpften und diese zugleich entsprechend ihrer ideologischen Überzeugungen weiterführten Sie hatten bereits vor Kriegsausbruch eine engmaschigere Organisation geschaffen und ließen dann im Krieg verstärkt jüngere Schüler und Mädchen sammeln Mittels eines ausgeklügelten Prämiensystems wurde auf den kompetitiven Geist abgezielt, die Sammlungsvorgaben nahmen im Laufe des Krieges enorm zu 107 Des Weiteren wurde der Kontrolldruck immer weiter erhöht So führte die HJ „schwarze Listen“ derjenigen Schülerinnen und Schüler, die sich z B Erntearbeiten und Sammlungstätigkeiten verweigerten Diese wurden dann an die Schulen weitergegeben, damit diese geeignete disziplinarische Maßnahmen ergreifen konnten 108 Wichtige Argumente für die Propagandafunktion der Schulen betreffen die Haltung der Lehrkräfte („Es kommt darauf an, daß wir den Krieg gewinnen Es kommt im
102 103 104 105 106 107
Schulchronik von Hackenbroich, 88, in: ARKN 8 Stargardt, Maikäfer (wie Anm 54), 56 Schulchronik von Hackenbroich, 88, in: ARKN 8 Chronik der Schule zu Nievenheim, zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 17 Chronik der Schule zu Zons, zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 72 Lisa Lüdke, Schulische Sammlungen in Mainz und Worms Eine vergleichende Studie zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Kathrin Kiefer u a (Hrsg ), Kinder und Krieg Rheinland-Pfälzische Perspektiven Berlin 2018, 135–160 108 Stargardt, Maikäfer (wie Anm 54), 61
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Augenblick nicht darauf an, daß wir unsere Lehrziele erreichen“109) und vor allem die Perspektive der Schülerinnen und Schüler Schulaufsätze, aber auch Ego-Dokumente, die nicht im Hinblick auf eine Benotung verfasst wurden, lassen für beide Weltkriege eine hohe politisch-ideologische Konformität aufscheinen In einem Schulaufsatz über „Die Frau im Weltkrieg“ schrieb beispielweise eine Vierzehnjährige: „So wie die Männer auf dem Schlachtfelde für Haus und Herd kämpfen, so kämpft auch die deutsche Frau“ 110 In anderen Schularbeiten wurde behauptet, dass „ein guter Schütze […] nicht verzagt […], wenn der Feind auch in dichten Massen vorstürmt, sondern [dass] er […] den Gegner aufs Korn [nimmt] und […] den einen nach dem andern kampfunfähig [macht]“ 111 Unverblümt repetierten Schülerinnen und Schüler nationalistisches Pathos: „Nicht ruhen und nicht rasten wollen wir, bis deutscher Geist gesiegt und zwar ganz und vollständig Und in jedes deutsche Herz möge es dringen und jedes Herz entflammen dieses eiserne Lied: wir bleiben fest, wir bleiben fest “112 Ein Schüler notierte in seinem Tagebuch: „Der liebe Gott hat die Deutschen am liebsten und hilft immer zum Siege Ich bin froh, daß Deutschland mein Vaterland ist Und ich liebe mein Vaterland “113 Ein kleines Mädchen hielt fest: „Die Engländer sind gar keine Menschen mehr, sie sind gar nicht wert, daß sie auf der Welt sind “114 Sinnfälligerweise sind für den Ersten Weltkrieg auch Fälle von Schulkindern überliefert, die sich aus vermeintlicher Kriegsbegeisterung dem Sanitätsdienst verpflichteten oder gar zur Front durchschlagen wollten 115 Das Geschlecht spielte in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle Laut einer Umfrage aus dem Jahre 1915 gaben z B ein Viertel aller Münchener Schülerinnen an, gerne Offizier werden zu wollen – drei Jahre zuvor hatten sich dies lediglich drei Prozent gewünscht 116 Im Zweiten Weltkrieg gab es zahllose Schülerinnen und Schüler, die privatim „den „Stand der deutschen Truppen […] nach jeden Nachrichten mit kleinen Hakenkreuzfähnchen“ absteckten,117 die begeistert waren, „dass die Russen Dresche kriegen“118, die den „Führer […] ganz großartig“ fanden und bei seinen Reden „vor Freude“ mitschrien119, die von ihrem neuen Lehrer schwärmten:
109 Zit nach Uwe Schmidt, Hamburger Schulen im „Dritten Reich“ 2 Bde Hamburg 2010, 575 110 Eberhard Demm, „Maikäfer flieg’, dein Vater ist im Krieg“ Wie Berliner Familien den Ersten Weltkrieg erlebten, in: Berliner Zeitung, 15 /16 1 2005, Magazin, 1–2 111 Zit nach Gruber, Versuche (wie Anm 97), 196 112 Zit nach Gruber, Versuche (wie Anm 97), 197 113 Buchner (wie Anm 65), 1914–1918, 35 114 Nessis Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg, zit nach http://www zenker se/History/nessi_ tagebuch shtml#Januar_1915, 9 6 1915 u 19 10 1915 [letzter Zugriff: 25 10 2019] 115 Eberhard Demm, Kinder und Propaganda Eine transnationale Perspektive, in: Denzler u a , Kinder und Krieg (wie Anm 2), 105–130, hier 124–126 116 Donson, Youth (wie Anm 10), 84 u 87 117 Liese an ihren Vater, 13 9 1939, in: Herta Lange / Benedikt Burkard (Hrsg ), „Abends wenn wir essen fehlt uns immer einer“ Kinder schreiben an ihre Väter, 1939–1945 Tübingen 2000, 22 118 Zit nach Dörr, Der Krieg (wie Anm 54), 123 119 Liese an ihren Vater, 5 9 1939, in: Lange/Burkard, Abends (wie Anm 117), 18
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„Unser Professor ist überhaupt so lustig und ein echter Nationalsozialist “120 Das Menetekel des Ersten Weltkrieges beförderte nur den Durchhaltewillen So hielten Teenager Ende 1943 in Tagebüchern fest: „Und wenn alle untergehen sollten, es kommt kein 1918 mehr Adolf Hitler, ich glaube an dich u den deutschen Sieg “121 Die durchschlagende Wirkung der NS-Propaganda wird deutlich, wenn eine 15-Jährige im Januar 1944 schrieb: „Ich muss des deutschen Soldaten würdig sein Der hat auch den Tod vor Augen Eigentlich ist ja auch alles nicht so schlimm […] So will ich tapfer sein im Leben u im Sterben, will ein preussisch deutsches Mädchen sein, will tapfer sein, wie alle Soldaten “122 Ein gleichaltriges Mädchen vertraute im April 1943 ihrem Tagebuch an: „Unser Leben heißt Kampf! Und ich danke Gott, dass ich in solch eine Zeit hineingeboren bin, wo die Parole Kampf heißt “123 „Zuchtanstalten für den Krieg“124 waren die Schulen trotz allem nur bedingt Die Vorstellung einer „Schulfront“125 muss für beide Weltkriege – teilweise aus ähnlichen, teilweise aus deutlich unterschiedlichen Gründen – differenziert werden Nicht an jeder Schule war das Reden über den Krieg von nationalem Eifer geprägt Die Milieuabhängigkeit der Schulen ist unbedingt in Rechnung zu stellen Dies gilt für die politischen Ansichten der Lehrerinnen und Lehrer wie für die Wahrnehmung der Betroffenen Sozialdemokratisch geprägte Kinder taten sich z B mit dem Militarismus schwerer 126 Angesichts des eminenten Verfolgungsdrucks und der unzweifelhaften Erfolge der Volksgemeinschaftsideologie spielten soziale Differenzierungen im Zweiten Weltkrieg zweifelsohne eine geringere Rolle Aber auch hier galt: „Das Fehlen von Kindern aus der Arbeiterklasse führte […] dazu, dass das National-Rechtsgerichtete deutlich hervortrat “127 Es ist außerdem nicht zulässig, von der Quantität der Kriegspropaganda auf deren Wirkung zu schließen Die meisten Kinder zeigten kein Verweigerungsverhalten gegenüber den ihnen gestellten Aufgaben, aber auch keinen Kriegsenthusiasmus Einschlägige Erhebungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges führen vor Augen, dass die Masse der Kinder den Krieg von Anfang an und mit der Fortdauer
120 Rosemarie an ihren Vater, 30 1 1940, in: Lange/Burkard, Abends (wie Anm 117), 42 121 Tagebuch von Liselotte G , 8 11 1943, zit nach Ingrid Hammer / Susanne zur Nieden (Hrsg ), Selten habe ich geweint Briefe und Tagebücher aus dem zweiten Weltkrieg von Menschen aus Berlin Zürich 1992, 282 122 Zit nach Susanne zur Nieden, Alltag im Ausnahmezustand Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943–1945 Berlin 1993, 143 f 123 Tagebuch von Gertraud L , zit nach Margarete Dörr, „Wer die Zeit nicht miterlebt hat …“ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach Frankfurt am Main 1998, Bd 1, 273 124 Karl Liebknecht, 1916, zit nach Demm, Kinder (wie Anm 115), 106 125 Christa Hämmerle, Von „patriotischen“ Sammelaktionen, „Kälteschutz“ und „Liebesgaben“ Die „Schulfront“ der Kinder im ersten Weltkrieg, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 24 (1994), 21–29 126 Doris Kachulle, Die Pöhlands im Krieg Briefe einer sozialdemokratischen Bremer Arbeiterfamilie aus dem 1 Weltkrieg Köln 2006, 37 127 Aulfes, Ihr seid (wie Anm 92), 158
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der Kampfhandlungen in zunehmendem Maße als „etwas Schreckliches, Furchtbares, Ernstes, Trauriges“ betrachtete Nur eine kleine Minderheit erkannte „eine Prüfung, Strafe, Heimsuchung […] zur Besserung der Menschen“, noch einmal deutlich weniger glaubten an ein „Geschenk Gottes“ Als mit Abstand wichtigsten Grund für ihre Einschätzung gaben die Kinder an: „weil so viele tapfere Soldaten ihr Leben verlieren“ 128 Eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 1916, die vor allem die Wirkung von kriegsbezogenen Texten, Fotografien und Liedern auf Kinder untersuchte, kam zu dem markanten Ergebnis: „Die vaterländische Begeisterung bildet beim Kriegserlebnis der Kinder gegenüber der allgemeinen Orientierung an Menschlichkeitsgefühlen nur eine Episode “129 Selbst in Schulaufsätzen wurde dieses Leidmotiv immer wichtiger In der zweiten Kriegshälfte schrieben Kinder davon, dass „die Wunden, die [der Krieg] in den Herzen von Gattinnen, Kindern, Eltern und Geschwistern geschlagen hat, […] ein schreckliches Andenken sein [werden] an den Krieg, den Zerstörer “130 Sie klagten an: „manche Mutter hat all ihre Söhne verloren Wieviel hundert Frauen haben ihren Mann nicht mehr Eine solche Familie ist ruiniert Und in welcher Familie steht nicht wenigstens ein Glied dem Tode gegenüber “131 Durchaus exemplarisch erscheint, wenn ein Mädchen laut ihrem Tagebuch im August 1914 noch darüber räsonierte, wie traurig sie sei, sich nicht als Kriegsfreiwilliger melden zu können,132 und im Februar 1918 mahnend ihre Stimme erhob: „Wir dürfen nicht mehr auf den Schwindel reinfallen, den uns die Alten vorgezaubert haben “133 Im Zweiten Weltkrieg gestaltete es sich ungleich schwerer, die Legitimität des Krieges in Frage zu stellen Dennoch geschah dies, beispielsweise in Feldpostbriefen jugendlicher Soldaten („Wenn nur dieser unsinnige Krieg nun mal ein Ende nehmen würde Dieses grausige Menschenmorden ist ja fürchterlich“134) oder im Verhalten von Eltern, die z B fleißig Entschuldigungsschreiben für die Hitler-Jugend verfassten135 oder das Mutterkreuz ostentativ auf den Misthaufen warfen136 Und auch im Kontext Schule offenbarte sich Resistenzverhalten, wenn auch häufig mittelbar, durch das, was
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Schulkinder im Krieg Eine Befragung 12–14jähriger in München (1915), zit nach Flemming, Lebenswelten (wie Anm 94), 229 f Rudolf Schulze, Unsere Kinder und der Krieg Experimentelle Untersuchungen aus der Zeit des Weltkrieges Leipzig 1917, 144 Zit nach Gruber, Versuche (wie Anm 97), 200 Zit nach Gruber, Versuche (wie Anm 97), 200 f Jo Mihaly, … da gibt’s ein Wiedersehn Kriegstagebuch eines Mädchens Freiburg/Heidelberg 1982, 17 Mihaly, Kriegstagebuch (wie Anm 132), 341 Brief des Gefreiten Karl B an seine Mutter, 20 7 1944, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 10 Zeitzeugengespräch (ZzG) mit Gebhard H (geb 1933, aufgewachsen in Gebhardshain) vom 15 11 2014, durchgeführt (dgf ) v Julia Brandts; ZzG mit Wiltrud S (geb 1933, aufgewachsen in Darmstadt), vom 14 10 2014, dgf v Kathrin Kiefer Sieglinde P , zit nach Dörr, Der Krieg (wie Anm 54), 243
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man tat oder unterließ So berichtete eine Emdener Zeitzeugin für die zweite Kriegsphase: „Nach dem Eintritt Russlands und Amerikas in den Krieg gab es eine Art ingrimmigen Ausharrens, […] An den ‚Endsieg‘ glaubte man nicht mehr Unsere Handarbeitslehrerein pflegte zu sagen: ‚Kinderchen, der Führer wird’s schon machen‘ Die Klasse schwieg “137 In Einzelfällen betrieben Schülerinnen und Schüler – ob gewollt oder aus jugendlichem Überschwang – offene politische Opposition, sei es, dass sie sich in Kleidung, Sprache und Auftreten zur Swing-Bewegung bekannten, in Aufsätzen die Hitlerjugend attackierten („Ist es nicht ganz gleich, ob sich einer für oder gegen den Nationalsozialismus entscheidet?“) oder NS-Größen beleidigten („Goebbels macht mich verrückt; er hat eine große Klappe“) 138 Schule war eben neben der Funktion als Propagandaorgan in erster Linie auch Spiegel des Zeitgeschehens: Hinsichtlich der Jahre 1914 bis 1918 waren der Stellungskrieg und die verheerenden Materialschlachten an der Westfront für einen anschaulichen Unterricht ebenso wenig geeignet wie für Erbauungsgebete Siegesfeiern erübrigten sich bald und je länger der Krieg dauerte, desto größer wurde in der Bevölkerung die Unlust, diesen fortzuführen Die mentale Entfremdung offenbarte sich im allmählichen Zurückweichen des Krieges aus dem Schulunterricht Kriegslektionen wurden weniger, die alten Schulbücher demgegenüber wieder stärker nachgefragt Auch im Zweiten Weltkrieg hatte der Verlauf der Kampfhandlungen entscheidende Rückwirkungen auf Schule: Zum einen verschwand der Krieg nach der deutschen Niederlage in Stalingrad weitgehend aus dem Schulunterricht Zum anderen radikalisierte sich der Kriegseinsatz der deutschen Jugend Dazu gehörte, dass die Hitlerjugend – trotz Personal- und Organisationsproblemen insbesondere im ländlich-katholischen Raum139 – „nach dem Willen des Führers“ einen „totale[n] Führungsauftrag“ erhalten hatte140 und zuungunsten von Schule noch mehr an Relevanz gewann Seit 1941 war festgelegt, dass die Vormittage sämtlicher Wochentage der Schule, die Nachmittage aber vor allem der HJ gehörten und zwei Tage grundsätzlich befreit von Schulaufgaben sein sollten HJ-Führer mussten bei Bedarf gleichsam selbstverständlich freigestellt werden,141 wobei zu bedenken ist, dass die Sonderformationen schon seit 1939 zu zusätzlichem Dienst verpflichtet waren und die professionalisierte Militarisierung der Hitlerjugend, vor allem die Wehrertüchtigungslager, enorme Kapazitäten banden Gemäß der Maxime „Haltet Euch bereit, der Führer braucht alle!“142 wurden HJ-Angehörige in wachsendem Umfang zu kriegswichtigen Sonderdiensten verpflichtet, z B Sammlungen, Ernteeinsätze, Kurier- und Wachtätigkeiten, Feuerwehrdienste inklusiHelga P , zit nach Dörr, Der Krieg (wie Anm 54), 172 Schmidt, Hamburger Schulen (wie Anm 109), 654–677 Klönne, Jugend (wie Anm 22), 140–142 Bericht über die 2 Vollsitzung der Gauarbeitsgemeinschaft für Jugendbetreuung in Düsseldorf, 29 6 1944, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 9 141 Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 864 142 Wormer Tageszeitung, 8 9 1939
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ve z T hoch belastenden Aufräumungs- und Bergungsarbeiten nach Luftangriffen143, Hilfe bei Post, Bahn oder in Telefonzentralen, bei der Entladung von Lebens- und Kohlenzügen, der Zustellung von Waren oder in Betrieben, Kindergärten und Großküchen, in der Betreuung von Soldaten(-familien), Verwundeten und Evakuierten, ferner bei – teilweise lebensgefährlichen – Schanzarbeiten an den Reichsgrenzen144 Ab 1940 befanden sich überdies tausende BDM-Mädel im „Osteinsatz“, d h sie sollten im Rahmen der gewaltsam-segregierenden Kolonisierung Osturopas u a neue, als „germanisierungswürdig“ erachtete Kinder vormaliger polnischer oder slowenischer Staatsbürger unterrichten und auch deren Eltern „deutsche Kultur“ beibringen, zwecks „Rückgewinnung deutschen Blutes, das im fremden Volkstum aufgegangen ist“ 145 Einschneidende Bedeutung für die Schulen besaß der „Kriegshilfeeinsatz der Jugend bei der Luftwaffe“ Er sorgte bei den Betroffenen für drastisch verkürzte Unterrichtszeiten und die grundsätzliche Streichung von Ferien, oft kamen die Lehrer in die Flakstellungen Im Interesse der Jugendlichen wurden Notprüfungen abgehalten, um einen gewissen Abschluss sicherzustellen 146 So wurde die Schule in beiden Weltkriegen immer mehr zum Lastenträger – ungeachtet des Umstandes, dass der Schulapparat im Zweiten Weltkrieg lange Zeit besser funktionierte, allerdings anders als im Ersten Weltkrieg auch Monate vor Kriegsende in sich zusammenbrach: Der Lehrermangel war derart dramatisch, dass etwa auf dem Land mehrere Dorfschulen von einer Person betreut werden mussten Verzweifelt versuchten die Behörden durch die Einstellung von Pensionären, Kriegsversehrten oder unausgebildeten Aushilfslehrern bzw die Herabsetzung der Eingangsvoraussetzungen für das Lehramtsstudium Abhilfe zu schaffen In beiden Weltkriegen rieten die Behörden unablässig zur Schonung von Rohstoffen und oft musste der Schulunterricht wegen „Kohlennot“ ausgesetzt werden 147 Es kam auch vor, dass er erst um neun Uhr beginnen konnte – „mit Rücksicht auf die Knappheit an Heiz- und Beleuchtungsmaterial“148, z T mussten Klassen zusammengelegt oder in einem Gebäude im
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Es sei nur auf einen Zeitzeugenbericht verwiesen: „Da die große Hitze die geteerten Straßen aufgeweicht hatte, war es für alle entsetzlich, die verkohlten Leichen zu sehen Die Jungen mussten sich häufig abwenden, denn es sah unvorstellbar grausam aus“: Marga R , zit nach Dörr, Der Krieg (wie Anm 54), 169 Es sei exemplarisch auf den Bericht eines Zeitzeugen verwiesen, der im September 1944 zum Westwall an den Kaiserstuhl abkommandiert wurde: „Wir bauten Schützengräben von morgen sechs bis abends sechs Wir waren ein ganzer Sonderzug mit 1 600 Mann, alles HJ-Jugendliche Ungefähr um zehn Uhr kamen die ersten Tiefflieger und bearbeiteten uns mit ihren Bordwaffen und Bomben“: Eugen B , zit nach Dörr, Der Krieg (wie Anm 54), 246 Zit nach Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm 39), 813 Zum Kontext: ebd , 742–851 Zu den Luftwaffenhelfern z B : Hans-Dietrich Nicolaisen, Luftwaffenhelfer und Marinehelfer im zweiten Weltkrieg Berlin u a 1981; Rolf Schörken, Luftwaffenhelfer und Drittes Reich Die Entstehung eines politischen Bewusstseins 2 Aufl Stuttgart 1985 Chronik der Schule zu Nievenheim, zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 28 Chronik der Schule zu Gohr, zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 59
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Schichtbetrieb unterrichtet werden Während Zeitungen im Zweiten Weltkrieg eher vorsorgend dafür warben, dass der Säugling „keine Schuhe und Strümpfe“ brauche, dass das Kleinkind und das Schulkind „soviel wie möglich barfuß laufen“ sollten149, ließ die Bekleidungsnot im Ersten Weltkrieg Kinder im Sommer tatsächlich barfuß in die Schule gehen, „im Winter erdröhnte das endlose Geklapper der vielen Holzpantinen“150 Ein spezifisches Phänomen des Ersten Weltkrieges war ferner, dass viele Schülerinnen und Schüler die Hausaufgaben nicht mehr ordentlich erledigen konnten oder morgens zu spät und/oder völlig übermüdet zum Unterricht kamen, weil sie um Lebensmittel hatten anstehen müssen In beiden Weltkriegen litt der Schulbetrieb unter Einquartierungen des Militärs, der Umfunktionierung von Schul- in Sanitätsräume oder der sogenannten „Kinderlandverschickung“, die allerdings im nationalsozialistischen Deutschland einen deutlich größeren Umfang besaß und verantwortet von der HJ auch der gezielten ideologischen Schulung dienlich sein sollte 151 Nicht minder prägend waren die Ansprüche der Kriegswirtschaft Jede Woche halfen Schülerinnen und Schüler „an verschiedenen Nachmittagen“ bei der Landarbeit 152 Bisweilen wurden sogar die Herbstferien ausgedehnt, weil die Kinder die Kartoffelernte unterstützen sollten 153 Auch die Sammlungen fanden gerade gegen Kriegsende bevorzugt zu Unterrichtszeiten statt Einen besonderen Höhepunkt erreichten die kriegswirtschaftlichen Begehrlichkeiten in einer Mitteilung des Erziehungsministers vom August 1944, nach der von den Berufs- und Fachschulen 115 200 Schülerinnen, 81 800 Schüler und 5 893 Lehrer für einen Einsatz in der Rüstungsindustrie zur Verfügung gestellt werden 154 „Infolge dieser Inanspruchnahme […] mußte der Unterrichtsbetrieb stark sinken “155 Im Zweiten Weltkrieg hatte die letzte Kriegsphase dramatische Implikationen In der deutschen „Zusammenbruchgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) wirkten sich die allgemeine Lebensmittelknappheit, die Verteuerung, der Kollaps des Transportsystems und nicht zuletzt der Bombenkrieg derart gravierend aus, dass kaum mehr an konventionellen Schulunterricht zu denken war Vor allem die Kriegslage im Osten löste „eine große Umquartierungsbewegung“ aus, so dass Schulen zwecks „Unterbringung von Lazaretten, zur Aufnahme von Schwangeren, von Frauen mit Kleinkindern,
149 Barfußlaufen ist gesund, in: Wormser Tageszeitung, 20 Juni 1941 150 Bericht über Barmbeker Gemeindeschulen, zit nach Martin Kronenberg, Die Bedeutung der Schule für die „Heimatfront“ im Ersten Weltkrieg Sammlungen, Hilfsdienste, Feiern und Nagelungen im Deutschen Reich Göttingen 2010, 339 151 Schmidt, Hamburger Schulen (wie Anm 109), 562–604 152 Zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 44 153 Zit nach Pankalla, Der erste Weltkrieg (wie Anm 93), 45 154 Brief des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust zum totalen Kriegseinsatz von Schülern und Studenten an Joseph Goebbels als Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz, 3 8 1944, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 17 155 Chronik der Volksschule zu Dormagen, 128 f , in: ARKN 1
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Alten und Gebrechlichen“ geschlossen werden mussten156 Weniger für die Kriegszeit als für die letzten Kriegsmonate erscheint es typisch, dass in vielen Regionen kein ordentlicher Schulbetrieb mehr stattfand157, dass Jungen Mädchenschulen besuchten, dass Kinder lediglich zum Hausaufgabenabholen das Schulgebäude betraten158 oder Eltern einfach den ausfallenden Unterricht übernahmen, denn „sonst lern[t]en [die Kinder] gar nichts mehr“159 IV. Fazit Sowohl zwischen 1914 und 1918 als von 1939 bis 1945 war der Alltag der Schulkinder in hohem Maße durch das Kriegsgeschehen beeinflusst Sie figurierten als Ziel und Instrument einer ebenso intensiven wie mannigfaltigen Kriegspropaganda, sie hatten unter enormen Versorgungsmängeln zu leiden, wurden mit dem Frontgeschehen konfrontiert, erlebten Verletzung, Krankheit und Tod, das Gesicht des Sterbens im Krieg wurde in beiden Weltkriegen immer jünger Die Schule war kriegsübergreifend Spiegel des Zeitgeschehens, Propagandaorgan und Lastenträger Kriegspädagogik wurde großgeschrieben, der Staat spannte Schülerinnen und Schüler in großem Stil für seine kriegswirtschaftlichen Interessen und die Betreuung der Soldaten ein Die Schule litt unter Einberufungen und dem allgemeinen Mangel Für beide Weltkriege lässt sich nachweisen, dass staatliche Begehrlichkeiten und Binnensichten der Schülerinnen und Schüler durchaus kongruierten, aber zu keinem Zeitpunkt und erst recht in der zweiten Kriegshälfte nicht deckungsgleich waren Ohne weiteres lässt sich demnach nicht von einer „Schulfront“ oder einem „ideologischen Brandbeschleuniger“ sprechen Trotz aller Ähnlichkeiten sind aber auch die Unterschiede zwischen den Weltkriegen und namentlich das Besondere des Nationalsozialismus zu bedenken Die Pfadabhängigkeiten waren eminent, viele Entwicklungen der Vorkriegszeit verstärkten sich, wurden auf die Spitze getrieben, überschritten ihren Zenit oder entgrenzten sich Die Nationalsozialisten hatten aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges ihre Lehren gezogen und betrieben eine umfassendere Sozialpolitik, die u a zu einer soliden Versorgung von Soldatenfamilien und einer Vermeidung von Nahrungskrisen bis kurz vor Kriegsende führte Die kriegswirtschaftlichen Anstrengungen der Schulen vollzogen sich nach 1939 wesentlich strategischer, die Jugendpropaganda erreichte bis zuletzt ein 156 157 158 159
Rundschreiben 16/45 des Leiters der Partei-Kanzlei Martin Bormann zur Schließung von Schulen, 21 1 1945, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 57 Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust zum totalen Kriegseinsatz an den Berufs- und Fachschulen, 1 9 1944, in: Jahnke, Hitlers letztes Aufgebot (wie Anm 41), Nr 23 Detlef an seinen Vater, 14 11 1944, in: Lange/Burkard, Abends (wie Anm 117), 105 Agatha D an ihren Ehemann, 19 1 1945, in: Echternkamp, Kriegsschauplatz (wie Anm 58), 126
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frappierendes Ausmaß Anders als im Ersten Weltkrieg gab es zwischen 1939 und 1945 im Sinne einer verstärkten Nazifizierung auch institutionelle Veränderungen im Schulsystem Das nationalsozialistische Kontroll- und Repressionsregime war bereits vor Kriegsbeginn gewaltig und wurde nach 1939 noch einmal massiv ausgebaut In beiden Weltkriegen verlor die Schule mit Fortdauer der Kampfhandlungen an Bedeutung für die Kriegspropaganda – was im Ersten Weltkrieg freilich vornehmlich der Kriegslage geschuldet war, beruhte im Zweiten Weltkrieg zu beträchtlichen Teilen auf den breit gefächerten Bemühungen, sich dieser durch eine Totalmobilisierung der deutschen Jugend und einer entsprechenden Aufwertung der Hitlerjugend skrupellos entgegenzustellen Der Grad an Gewaltbereitschaft und (Selbst-)Vernichtungswillen, wie er sich etwa in der hohen Zahl von „Kindersoldaten“ manifestierte, wurde letzthin zwischen 1914 und 1918 nicht annähernd erreicht
Geschwisterbeziehungen im Zweiten Weltkrieg Zur Bedeutung von Familienmitgliedern in Krisenzeiten Kathrin Kiefer I. Einleitung Die Kriegskinderforschung erlebt seit einigen Jahren eine Hochkonjunktur – besonders in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg Zahlreiche Studien sind entstanden, die den kindlichen Kriegsalltag in verschiedenen Dimensionen ausleuchten, Kinder als Adressaten und Multiplikatoren von Propaganda in den Blick nehmen, oppositionelles Verhalten von Jugendlichen betrachten und die langfristigen Auswirkungen des Krieges mit Schwerpunkt auf transgenerationale Folgen untersuchen 1 Wenig Beachtung finden hingegen zwischenmenschliche Beziehungen von Kindern im Krieg Gerade familiäre Beziehungen sowie die kindliche Rolle im innerfamiliären Kontext wurden bislang überwiegend am Rande und nur wenig systematisch in Augenschein genommen Mutter-Kind-Beziehungen sind zumeist Gegenstand sozialwissenschaftlicher Arbeiten, häufig im Hinblick auf geschlechtsspezifische Diskurse oder bezüglich der Wirkung und Umsetzung nationalsozialistischer Erziehungsratgeberliteratur2; Vater-Kind-Beziehungen werden lediglich marginal und primär im Zusammenhang
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Zu einem aktuellen und interdisziplinären Forschungsstand zu Kriegskindheiten, der sowohl die internationale Perspektive beinhaltet als auch über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinausgeht siehe Alexander Denzler u a , Kinder und Krieg Ein epochenübergreifender Zugriff, in: Ders u a (Hrsg ), Kinder und Krieg Von der Antike bis in die Gegenwart (HZ, Beih 68) Berlin/Boston 2016, 1–34, bes 3–22 Z B Ute Benz, Frühe Kindheit im Nationalsozialismus Der Mythos Mutter im Hitlerreich und seine Folgen, in: Psychosozial 14/3, 1991, 30–42; Gudrun Brockhaus, Lockung und Drohung Die Mutterrolle in zwei Ratgebern der NS-Zeit, in: Miriam Gebhardt / Clemens Wischermann (Hrsg ), Familiensozialisation seit 1933 Verhandlungen über Kontinuität (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd 25) Stuttgart 2007, 49–68; Miriam Gebhardt, „Lehret sie, dass sie nicht um ihrer selbst willen sind “ Frühkindliche Sozialisation im Nationalsozialismus, in: Jutta Ecarius u a (Hrsg ), Familie und öffentliche Erziehung Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen Wiesbaden 2009, 221–244
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mit dem Soldatentum und vorherrschenden Männlichkeitsparadigmen behandelt 3 Während inzwischen allerdings erste Forschungen zu Eltern-Kind-Beziehungen aus akteurszentrierter Perspektive zu verzeichnen sind, wurde vor allem die Bedeutung von Geschwistern während des Zweiten Weltkriegs von der Geschichtswissenschaft weitgehend vernachlässigt 4 Versucht man jedoch zu verstehen, welche Auswirkungen der „totale Krieg“ „als individuelle Extremerfahrung“5 auf die Gesellschaft hatte, ist es unerlässlich, die Bedeutung der Familie und der einzelnen Familienmitglieder während des Krieges einzubeziehen – zumal aus sozialwissenschaftlicher Sicht gerade Geschwister in „physisch[er], kognitiv[er] und emotional[er]“6 Hinsicht zentrale Bezugspersonen füreinander sind Dementsprechend wird im Folgenden untersucht, wie sich Geschwisterbeziehungen im Zweiten Weltkrieg gestalteten und welche Bedeutung Geschwister im familiären Kontext besaßen Im Blickpunkt stehen die politische, die emotionale und die erzieherische Beziehungsebene von Geschwisterkindern:7 Inwiefern sprachen Geschwister in der totalitären Diktatur über Politik, den Kriegsverlauf und die nationalsozialistische Ideologie? Thematisierten Kinder angesichts der jeweiligen Kriegserfahrungen ihre Gefühle? In welcher Form übernahmen Geschwister in der Heimat Verantwortung füreinander und inwiefern versuchten Soldatenbrüder von der Front aus, Einfluss auf Zukunft, Bildung und Sozialverhalten der Geschwister auszuüben? Gemäß dem gegenwärtigen Postulat der Kriegskinderforschung, Kinder nicht mehr nur „als Opfer der Geschichte, sondern als ihre aktiven Gestalter“8 zu betrachten, sieht 3
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Z B Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945 (Krieg in der Geschichte, Bd 1) Paderborn u a 1998; Ralf Schoffit, „Viele liebe Grüße an meine Kinderle, sollen recht brav bleiben“ Väter und die Wahrnehmung der Vaterrolle im Spiegel von Feldpostbriefen 1939–1945 Tübingen 2010 Zu Eltern-Kind-Beziehungen aus akteurszentrierter Perspektive z B Julia Brandts u a , Von Kontinuität und Wandel Die Eltern-Kind-Beziehungen in den beiden Weltkriegen, in: Denzler u a , Kinder und Krieg (wie Anm 1), 245–272; Fabian Benkowitsch u a , Die Soldatenfamilie aus Kindersicht Ein Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der beiden Weltkriege in akteurszentrierter Perspektive, in: VSWG 3, 2016, 287–315; Kathrin Kiefer / Markus Raasch, Die Familie in der Krise? Ein Beitrag zur Erfahrungsgeschichte der beiden Weltkriege, in: Dies u a (Hrsg ), Kinder im Krieg Rheinland-pfälzische Perspektiven vom 16 bis zum 20 Jahrhundert Berlin 2018, 107–134 Die beiden letzten Aufsätze beziehen dabei auch Geschwisterbeziehungen in beiden Weltkriegen mit ein Darüber hinaus wurden Geschwisterbeziehungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs lediglich aus psychoanalytischer Perspektive betrachtet, indem beispielsweise die seelischen Auswirkungen bei kriegsbedingtem Verlust eines Geschwisterteils analysiert oder Bewältigungsstrategien von vertriebenen Kindern aus dem Osten beschrieben wurden, siehe z B Carsten Gansel / Paweł Zimniak, Kriegskindheiten und Erinnerungsarbeit Zur historischen und literarischen Verarbeitung von Krieg und Vertreibung Berlin 2012 Bernhard Kroener, Art Krieg, in: Enzyklopädie der Neuzeit 7, 2008, 137–162, hier 156 Hans Sohni, Geschwisterdynamik (Analyse der Psyche und Psychotherapie, Bd 4) 2 Aufl Gießen 2014, 22 Zu einem Überblick über den lebensweltlichen Alltag von Geschwistern siehe einführend Benkowitsch u a , Soldatenfamilie (wie Anm 4), 305–307; Kiefer/Raasch, Familie (wie Anm 4), 122–124 Denzler u a , Kinder und Krieg (wie Anm 1), 10
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sich diese Untersuchung einem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz verpflichtet und argumentiert von einem kindlichen Blickwinkel aus Auf einer Basis von rund 3 000 Selbstzeugnissen in Form von Feldpostbriefen, Tagebucheinträgen und schriftlichen Kriegserinnerungen wurden über 100 Geschwisterbeziehungen hermeneutisch-kritisch analysiert Ergänzend wurden knapp 40 Zeitzeugeninterviews mit „Kriegskindern“ des Zweiten Weltkriegs geführt und ausgewertet 9 Der hier zugrundeliegende Kindheitsbegriff orientiert sich dabei an der soziologischen Definition von Kindern als „soziale[r] Kategorie“10 innerhalb der Kernfamilie Der lexikalisch-neuzeitliche Kindheitsbegriff, nach dem Kindheit „um das 21 Lebensjahr endet“11, sowie der Terminus „Kriegskind“, der zumindest im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg die Geburtsjahrgänge zwischen 1930 und 1945 umfasst12, wurden somit zu einer Auslegung erweitert, die sich vorwiegend an der Bedingung orientiert, dass mindestens ein Kind noch keine eigene Familie gegründet hat Im Fokus der Betrachtung stehen nur Geschwisterkinder, die während der nationalsozialistischen Herrschaft keiner verfolgten Gruppe angehörten und von denen ungeachtet der Familienkonstellation mindestens ein Geschwisterkind prinzipiell im Elternhaus wohnhaft war 13 II. Politik Die geschwisterliche Kommunikation über Politik im Zweiten Weltkrieg beinhaltete vornehmlich neutral gehaltene Schilderungen über die gegenwärtigen Kriegsvorkommnisse Konkrete politische Maßnahmen und ideologische Überzeugungen wurden nur selten diskutiert, was zum einen an den Zensurbestimmungen lag und zum anderen an dem Umstand, dass vor allem jüngere Kinder früh lernten, dass Politik keine Sache von Relevanz für Kinder sei („Die [Eltern] waren der Meinung, wir sind Kinder, das braucht uns nicht zu interessieren“14) Nicht selten brachen Eltern das Ge9
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Die Interviews wurden von der Autorin im Rahmen der Mainzer Forschergruppe „Eltern und Kinder im Krieg“ mittels eines halbstandardisierten Verfahrens in den Jahren 2014 bis 2018 geführt Befragt wurden Zeitzeugen der Jahrgänge 1924 bis 1941, die während der NS-Zeit in unterschiedlichen Gebieten Deutschlands bzw im Gebiet zwischen Oder, Neiße und Weichsel aufwuchsen Zur Forschergruppe siehe , letzter Zugriff am 09 08 2019 Rosemarie Nave-Herz, Ehe- und Familiensoziologie Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde 3 Aufl Weinheim/Basel 2013, 195 Claudia Jarzebowski, Art Kindheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit 6, 2007, 570–579, hier 571 Jörg Echternkamp, Kriegsschauplatz Deutschland 1945 Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden Feldpost aus der Heimat und von der Front Paderborn u a 2006, 65 Eine kriegsbedingte, temporäre Abwesenheit eines Geschwisterteils aufgrund von Fronteinsatz, Arbeitsdienst, Kinderlandverschickung oder Ähnlichem ist dabei grundsätzlich denkbar und liegt in den meisten der untersuchten Fälle vor Zeitzeugengespräch (ZzG) mit Lydia M (geb 1931, aufgewachsen bei Oppeln, Interview am 19 10 2014) Ähnlich ZzG mit Norbert B (geb 1930, aufgewachsen in Gießen, Interview am
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spräch sofort ab, wenn ihre Kinder politische Diskussionen unbeabsichtigt störten,15 oder ignorierten die Fragen ihrer Kinder, die etwa wissen wollten, wohin die jüdischen Stadtbewohner gebracht wurden In der Folge gewöhnten sich die Kinder ab, Fragen zu stellen 16 Daher bezog sich der politische Austausch zwischen Geschwistern in Feldpostbriefen primär auf Beschreibungen der Versorgungslage, Erörterungen von Kriegsentwicklungen, Strategien und Prognosen zur Dauer des Krieges sowie Berichterstattungen der aktuellen Kriegserlebnisse Jüngere Geschwister benachrichtigten die abwesenden Soldatenbrüder von der „Heimatfront“ aus über Bombardierungen des Wohnortes, über Sachschäden am Haus oder zählten auf, wer dem letzten Angriff zum Opfer gefallen war 17 Soldatenbrüder berichteten von Kampfhandlungen, ausgestandenen Gefechten und dem Taktieren mit dem Feind Gewöhnlich erzählten sowohl die Soldatenbrüder als auch die zuhause befindlichen Geschwister in ihren Berichten nicht, wie sie Zeugen der Zerstörung, des Chaos, der Verwundungen und des Sterbens von Kameraden oder Nachbarn wurden Das Auslassen solcher Schilderungen ist zum Teil auf das propagandistische Vorgehen der NS-Regierung zurückzuführen, die dafür warb, dass Briefe von der „Heimatfront“ die Empfänger nicht beunruhigen, sondern ihnen eine Freude bereiten und ihren Kampfwillen stärken sollten18 („Verzagte Briefe schreibt man nicht: Die Front erwartet Zuversicht!“19) Für die Soldaten an der Front war die innere Zensur hingegen von enormer Bedeutung Sie thematisierten zwar ihre Kriegserlebnisse, relativierten und pauschalisierten diese jedoch zugleich, um ihren Familien nicht zu viel zuzumuten („Ich erzähle sowieso nicht gern etwas vom Kriegsgeschehen, und außerdem möchte ich Euch und auch mir eine Schilde-
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13 10 2016), Georg R (geb 1934, aufgewachsen bei Neuss, Interview am 07 07 2016); zu einem Überblick über politisches Reden in Abhängigkeit vom sozialen Milieu siehe Heidi Rosenbaum, „Und trotzdem war’s ne schöne Zeit“ Kinderalltag im Nationalsozialismus Frankfurt am Main 2014, 78–83, 564–566 ZzG mit Margret D (geb 1931, aufgewachsen in Germersheim, Interview am 09 08 2016), Maria K (geb 1926, aufgewachsen bei Neuwied, Interview am 06 10 2014), Arnold M (geb 1937, aufgewachsen bei Bad Bergzabern, Interview am 10 08 2016) ZzG mit Eckehardt D (geb 1935, aufgewachsen am Bodensee, Interview am 12 10 2016), Lothar F (geb 1927, aufgewachsen bei Koblenz, Interview am 14 10 2016), Gert Z (geb 1938, aufgewachsen bei Görlitz, Interview am 08 08 2016) Z B Reinhard Gröper an seinen Bruder, 07 03 1944, in: Reinhard Gröper, Erhoffter Jubel über den Endsieg Tagebuch eines Hitlerjungen 1939–1945 Sigmaringen 1996, 99–101 Schoffit, Väter (wie Anm 3), 17; Inge Marszolek, „Ich möchte Dich zu gern mal in Uniform sehen“ Geschlechterkonstruktionen in Feldpostbriefen, in: Werkstatt Geschichte 22, 1999, 41–59, hier 41; Ortwin Buchbender / Reinhold Sterz, Das andere Gesicht des Krieges Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945 München 1982, 26 Bunter Bilderbogen, zitiert nach: Friederike Valet / Benedikt Burkard, Abends wenn wir essen fehlt uns immer einer Kinder schreiben an die Väter 1939–1945 Heidelberg 2000, 60 Die Wirkung wird auch sichtlich an der Nachricht von R S , die dem Bruder vom Tod eines Bekannten berichtete: „wir reden nicht davon, es verbittert mich u ich will Dir doch schöne Briefe schreiben“, R S an ihren Bruder, 23 04 1942, in: Bibliothek für Zeitgeschichte (Bf Z) N: Schnepf N 13 3/23
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rung der vergangenen Tage ersparen“20) Ungeachtet ihrer politischen Orientierung pflegten sie in der Post, die an die gesamte Familie gerichtet war, eine bedachtsame Berichterstattung, wenn sie von Kämpfen und der Frontsituation erzählten Gerade Schwestern gegenüber wählten sie oftmals einen besänftigenden Sprachstil, der durch einen ironischen Unterton die Wirkung der eigentlichen Information entschärfte Ein Bruder berichtete beispielsweise von einer Bombardierung auf sein Lager, bei der die Fenster der Unterkunft zersplitterten, und schloss mit dem Kommentar: „Jetzt haben wir eine feine luftige Wohnung “21 Brüder, die ebenfalls als Soldaten kämpften, erhielten hingegen schonungslosere Darstellungen des Kriegsgeschehens Ihnen gegenüber beschrieben die Soldaten ihre Erlebnisse freimütiger als in Briefen, die die Eltern und Schwestern zuhause erhielten Aufgrund ähnlicher Erfahrungen an der Front konnten die Soldaten ein gewisses Verständnis ihrer Brüder für die Schilderungen von Kriegserlebnissen voraussetzen In rein männlichen Konversationen traten daher nicht nur vermehrt detailreiche und unverblümte Berichterstattungen von erlangten Siegen und dem Umgang mit dem Feind auf, die bisweilen von „typisch militärischen Termini“22 geprägt waren („In einer Nacht haben wir […] zwei Handelsdampfer und 2 U-Jäger vernichtet“23; „Die Leute schlagen oft dem Russen mit dem Spaten den Schädel ein Gestern zogen an einem MG hinten der Landser und vorn der Russe Eine Handgranate machte ihm ein Ende!“24) Auch das Thema Tod und Sterben wurde hier unverhohlener behandelt Wie die Germanistin Isa Schikorsky in einer Untersuchung über den Sprachstil in Kriegsbriefen bereits feststellte, wurden Schilderungen über Tod und Sterben den Eltern sowie generell weiblichen Adressaten gegenüber euphemistischer ausgedrückt als männlichen Personen 25 Margarete Dörr konstatierte ebenso, dass die prozentual wenigen Männer, die ihren Ehefrauen und Kindern nach ihrer Heimkehr überhaupt von ihren Erlebnissen im Krieg berichteten, dies nur partiell taten und überwiegend militärische Erfolge oder schöne Begebenheiten innerhalb der Truppe akzentuierten, während „von der eigentlichen, schrecklichen, auch beschämenden Kriegswirklichkeit kaum die Rede“ gewesen sei 26 20 21 22 23 24 25 26
Walter Kahre an seine Familie, 29 11 1942, in: Jens Ebert (Hrsg ), Feldpostbriefe aus Stalingrad November 1942 bis Januar 1943 3 Aufl Göttingen 2007, 85 Johann Lauer an seine Schwestern, 11 06 1944, in: Landeshauptarchiv Koblenz (LhA Ko) 700,153/60 Gerald Lamprecht, Feldpost und Kriegserlebnis Briefe als historisch-biographische Quelle (Grazer zeitgeschichtliche Studien, Bd 1) Innsbruck 2001, 58 Ottfried Benz an seinen Bruder, 21 10 1940, in: Jörg Benz (Hrsg ), Bombennächte und Frontschicksale Briefwechsel einer Kieler Familie 1939–1945 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd 60) Husum 2008, 123 f Hans Joachim Martius an seinen Bruder, 15 11 1942, in: Ebert, Stalingrad (wie Anm 20), 58 Isa Schikorsky, Kommunikation über das Unbeschreibbare Beobachtungen zum Sprachstil in Kriegsbriefen, in: Wirkendes Wort 42, 1992, 295–315, hier 304 Margarete Dörr, „Wer die Zeit nicht miterlebt hat …“ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach, Bd 3 2 Aufl Frankfurt am Main 2007, 50–52
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Analog zu diesen Forschungsergebnissen zeigt sich die Sonderstellung, die Soldatenbrüder im Reden über den Krieg einnahmen Martin Humburg exponierte etwa, dass das „Schreiben als kathartische Methode […] den Soldaten weder von dem, was erlaubt war noch von ihren eigenen Möglichkeiten her zu Gebote [stand]“27 Briefe, die exklusiv an die Brüder gerichtet waren, zeugen allerdings von einem anderen Phänomen: Die innere Zensur schien unter Soldatenbrüdern bisweilen nachrangig Kampfhandlungen, Tod und Sterben wurden hier drastischer artikuliert als anderen Familienmitgliedern gegenüber Die ähnliche Situation des Soldatenbruders, seine faktische Kenntnis über das Frontgeschehen sowie das familiäre Vertrauensverhältnis ermöglichten nach einer erlebten Grenzerfahrung die eigenen Gedanken anstelle der Rücksichtnahme auf die Besorgnis der Eltern oder Schwestern in den Vordergrund zu stellen Ein Beispiel: Der 19-jährige Soldat Herbert, der sich kurz nach Kriegsbeginn freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte, verfasste am 1 Juli 1941 zwei Briefe – einen an seinen Bruder, der sich ebenfalls im Feld befand, und einen an die Eltern sowie die jüngere Schwester Darin berichtete er, wie seine Truppe eine abgeschnittene Einheit aus einer Einkesselung durch die russische Armee befreien sollte, was jedoch kurzfristig aufgrund eines Schadens am Fahrzeug scheiterte Die Gefahr, die die militärische Operation barg, verhehlte er dabei nicht Während er in seinem Brief an den Bruder allerdings Formulierungen wie „Todesfahrt“ und „nicht mehr heimkommen“ äußerte, sprach er den Eltern und der Schwester gegenüber eher vorsichtig anmutend von einer potentiell „letzte[n] Fahrt“ und ließ beruhigende Elemente wie „Zeichen des Himmels“ und „gerettet“ einfließen Auch die Intention der Briefe variiert: Herbert erklärte seinen Eltern am Ende der Nachricht, sie dürften angesichts einer gefährlichen Unternehmung „nie das Schlimmste annehmen“ Seinem Bruder schrieb er jedoch, selbst „das schlimmste befürchtet“ zu haben Im Zentrum der Nachricht an die Familie stand folglich die Beschwichtigung der in der Heimat Verbliebenen Im Zentrum der Nachricht an den Bruder stand hingegen die mentale Auswirkung der geplanten Mission, die zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben führte 28 Vereinzelt finden sich in brüderlichen Korrespondenzen auch Aussagen, die die Selbstzensur insbesondere den Eltern gegenüber freiheraus thematisieren: „Ich halte von Daheim jede Lage fern Wenn ich […] [mit den Schwestern] manchmal interne Fragen u Gedanken austausche, so tu ich nur was nötig ist u ich weiß, die sprechen 27 28
Martin Humburg, „Jedes Wort ist falsch und wahr – das ist das Wesen des Worts “ Vom Schreiben und Schweigen in der Feldpost, in: Veit Didczuneit u a (Hrsg ), Schreiben im Krieg, Schreiben vom Krieg Feldpost im Zeitalter der Weltkriege Essen 2011, 75–85, hier 83 Herbert Veigel an seine Familie, 01 07 1941, sowie Herbert Veigel an seinen Bruder, 01 07 1991, in: Herbert Johannes Veigel, Christbäume Briefe aus dem Krieg Berlin 1991, 54 f Ähnlich z B Helmut Stetter an seine Familie, 29 02 1944, sowie Helmut Stetter an seinen Bruder, 29 02 1944, in: Rolf Göppel (Hrsg ), „Wie schön wäre es, wenn auf der ganzen Welt die Menschen solche Liebe und Güte zueinander hätten …“ Feldpostbriefe eines jungen deutschen Soldaten aus den Jahren 1942–1944 (Materialien zur historischen Jugendforschung) Weinheim/Basel 2014, 70
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zu Haus [bei den Eltern] nicht drüber “29 Angesichts der Sorge der Familienmitglieder um die Soldaten kam so mancher Soldat zu dem Schluss: „wenn ich gewusst hätte, dass ich Euch […] [damit] einen solchen Schreck einjage, hätte ich es Euch doch wohl lieber nicht geschrieben “30 Brüder gestanden sich zwar auch ihre gegenseitigen Sorgen, konnten aber die Tragweite des brieflichen Inhalts aufgrund ihres eigenen Fronterlebens besser fassen Sie versicherten einander ohne viele Worte, den anderen gänzlich zu verstehen und wurden somit im Reden über das eigene Kriegserleben oftmals zur größten Bezugsperson („das kennst Du ja alles aus ureigenster Erfahrung“31; „deshalb habe ich vollstes Verständnis“32) Geschwister waren jedoch nicht nur Bezugspersonen für die Auseinandersetzung mit Kriegserlebnissen Insbesondere in regimetreuen oder kriegsbegeisterten Familien fungierten sie auch als Multiplikatoren der Propaganda, wenn sie Kriegsstimmung verbreiteten, propagandistische Phrasen, Feindbilder und Siegesparolen wiederholten oder die Notwendigkeit des Krieges aus Liebe zum Vaterland betonten 33 Gerade die jüngeren Kinder entwickelten angesichts der kindadressierten Propaganda und der zumindest anfänglich euphorischen Schilderungen des älteren Bruders über das Leben als Soldat das Bedürfnis, einen Beitrag zur Unterstützung des Krieges zu leisten Entsprechend den propagierten Erwartungen des Regimes, Kinder sollten die Soldaten durch erfreuliche Feldpostbriefe und Pakete aufmuntern, betonten sie immer wieder, wie stolz sie seien, „einen Soldatenbruder an der Front zu haben“34 Sie sandten selbstgemalte Bilder von Kriegsschiffen oder Panzern an die Front,35 zeichneten nach der Beförderung des älteren Bruders viele Male das Eiserne Kreuz auf Postkarten36 und schrieben feierlich „Ich gratuliere Dir, ich gratuliere Dir, ich gratuliere Dir“37 darunter Beeindruckt von der Leistung der „Vaterlandsverteidiger“38 und deren Würdigung an
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K K an seinen Bruder, 11 03 1942, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/23 Geert Westphal an seine Mutter, 08 06 1943, in: Dirck Westphal / Jürgen Westphal (Hrsg ), Feldpostbriefe im 2 Weltkrieg Briefwechsel von Grete Westphal und ihren 5 Söhnen im Krieg Norderstedt 2010, 166 Arnold Kämpf an seinen Bruder, 14 05 1942, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HSA S) Q 3/59 Bü 17 Anton Bayer an seinen Bruder, 29 05 1944, in: Museumsstiftung Post und Telekommunikation (MSPT) 3 2002 7570 Z B P S an die Familie, 19 11 1939, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/22; H S an ihren Bruder, 09 09 1943, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/22; Eberhard Zwicker an seinen Bruder, 05 09 1944, in: August Schick (Hrsg ), Karl Eberhard Zwicker Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg an seine Eltern Wilhelm und Luise Zwicker und seinen Bruder Ulrich Oldenburg 1993, 116; Gerhard Veigel an seinen Bruder, 26 04 1941, in: Veigel, Christbäume (wie Anm 28), 58 Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 23 06 1940, in: Stadtarchiv Worms (StA Wo) 189,100 Gebhard von Heyl an seinen Bruder, 28 09 1941, in: StA Wo 189,091; siehe auch die Kinderzeichnungen in Valet/Burkard, Abends wenn wir essen (wie Anm 19), 79 Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 02 11 1941, in: StA Wo 189,100; Gebhard von Heyl an seinen Bruder, 02 11 1941, in: StA Wo 189,091 Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 02 11 1941, in: StA Wo 189,100 Helmut Stetter an seine Schwester, 22 11 1942, in: Göppel, Feldpostbriefe (wie Anm 28), 32
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der „Heimatfront“ versuchten sie bereits im Kindesalter an das soldatische Ideal heranzureichen Sie wünschten sich „aus Solidarität mit der kämpfenden Truppe einen Strohsack in […] [ihrem] Bett anstelle einer verweichlichten Matratze“39, sehnten sich offenherzig nach „eine[r] baldige[n] Einberufung“40 und ordneten ihre Bedürfnisse denen des Vaterlandes unter („solche Gelüste sind ja nicht zeitgemäß Wir müssen erst einmal diesen Krieg gewinnen“41; „dieses Opfer wurde von uns gefordert und wir werden es ertragen“42) Selbst die jüngsten Geschwister gaben bisweilen militärische Überlegungen kund Der knapp zwölfjährige Gebhard unterbreitete dem fronterfahrenen Bruder beispielsweise Empfehlungen in der strategischen Kriegsführung und kommentierte das feindliche Taktieren: „da kann ich Euch nur wünschen, daß Ihr den Russen mal gehörig dadurch auf die Hosen geht, indem Ihr sie von Hinten her einkreist […] Nur müßten wir sehr starke Kräfte haben […] Haben wir das? Wenn, dann befolgt meinen Rat Das rate ich Euch“43; „Haltet uns aber bloß die Russen vom Leibe[,] wir haben schon mit den Engländern und Amerikanern genug zu tun da unten Das ist sehr frech da unten Kommen die einfach da angefahren und besetzen da unten so viel sie können“44 Überzeugt von der „Legitimität des Krieges“45 begründeten manche Kinder die massiven Kriegsverletzungen oder gar den Tod der Geschwister ideologisch Vor allem bei den jüngeren Kindern schien der vom NS-Regime betriebene Heldenkult, demzufolge die gefallenen Soldaten zum Sieg der NS-Bewegung beigetragen hätten,46 Resultate erzielt zu haben In der Schülerzeitschrift „Hilf mit!“ wurden bereits in der Vorkriegszeit der Heldengedenktag und der Opferwille der Soldaten des Ersten Weltkriegs regelmäßig thematisiert,47 was nach 1939 auf die gegenwärtige Kriegssituation übertragen wurde Beständig wurde in den Artikeln betont, welch „unbändiger Stolz
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Doris Ziegenrücker, „Betteninspektion!“, in: Jürgen Kleindienst / Ingrid Hantke (Hrsg ), Gebrannte Kinder Kindheit in Deutschland 1939–1945 (Zeitgut, Bd 1) Berlin 2006, 60–68, hier 65 f Henning Westphal an seinen Bruder, 18 06 1940, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 21 Margareta Schoon an ihren Bruder, 26 09 1944, in: Andreas Wojak (Hrsg ), „Wir werden auch weiterhin unsere Pflicht tun …“ Kriegsbriefe einer Familie in Deutschland 1940–1945 Bremen 1996, 153 Wolfhilde von König, Tagebucheintrag vom 15 08 1943, in: Sven Keller (Hrsg ), Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939–1946 (Vf Z, Bd 111) Berlin/Boston 2015, 149 Gebhard von Heyl an seinen Bruder, 29 11 1942, in: StA Wo 189,091 Gebhard von Heyl an seinen Bruder, 15 11 1942, in: StA Wo 189,091 Thomas Jander, Gefährliche Worte Dissens und Desertion in Kriegsbriefen deutscher Soldaten, in: Didczuneit u a , Schreiben im Krieg (wie Anm 27), 441–455, hier 443 Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945 (Kölner Beiträge zur Nationsforschung, Bd 2) Greifswald 1996, 71 Z B Joh v Leers, Unsere Helden starben für Deutschlands Ehre, in: Hilf mit 6, 1935, 162; F Sch , Zum Heldengedenktag, in: Hilf mit 6, 1939, 174; Titelseite in Hilf mit 6, 1940
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[das Volk] auf die Heldentaten“48 der Soldaten empfinde und wie ehrenwert der Verlust des einzigen Sohnes im Kampf für den „Führer“ sei49 In Schulbüchern wurde immer wieder Bezug auf germanische Heldensagen genommen, Lieder der Hitlerjugend enthielten Verse wie „die Fahne ist mehr als der Tod“50 Auch die zahlreichen Festveranstaltungen, die mit „militärische[n] Kunststücke[n] sowie Tanzvergnügen“ das Heldenpathos als „unterhaltendes Erlebnis für die ganze Familie“ zelebrierten,51 beeindruckten vermutlich viele Kinder Obwohl Katrin A Kilian anmerkte, dass sich „in den Briefen die Sprache des Nationalsozialismus nicht so wieder[findet], wie sie die Massenmedien verbreiteten“52, frappieren die Formulierungen in Kinderbriefen, in denen die Verwundungen oder der Tod des Soldatenbruders gehäuft mit dem Heldenkult in Verbindung gebracht wurden So erklärte ein 16-Jähriger seinem 23-jährigen Bruder, dem nach einer schweren Verwundung ein Bein amputiert wurde: „Du kannst unendlich stolz darauf sein Was Schöneres gibt es nach meiner Meinung doch nicht für einen deutschen Soldaten, als alles für Deutschland hinzugeben “53 Ähnlich schrieb der gleichaltrige Jürgen nach dem Tod des ältesten Bruders: „Er ist einen so schönen, edlen Tod gestorben, dass wir so unendlich stolz auf ihn sein können “54 In einem Fall wurde der gefallene Soldatenbruder als Gegengewicht zu den Widerstandskämpfern des 20 Juli heroisiert: „Es war der 20 Juli[, an dem der Bruder fiel], also der Tag, an dem das Attentat auf den Führer verübt wurde – als ob Geert gerade an dem Tag seine unerschütterliche Treue beweisen sollte“55 Durch ihre Überzeugung, die Soldatenbrüder seien für ihr Vaterland gefallen, trugen manche Kinder ihren Eltern bisweilen auf: „Ihr, liebe Eltern, müßt auch mit dazu beitragen und allen Miesmachern und Nörglern aufs Maul schlagen! Unsere Lieben dürfen nicht umsonst gefallen sein!“56
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O A , Heldengedenken, in: Hilf mit 6, 1940, 89 Franz Bauer, Der Tod für’s Vaterland ist ewiger Verehrung werth, in: Hilf mit 6/7, 1942/43, 257 f Liedtext „Vorwärts! Vorwärts!“, zitiert nach: Michael Jung (Hrsg ), Liederbücher im Nationalsozialismus, Bd 2, Dokumente Frankfurt am Main 1989, 531 René Schilling, „Kriegshelden“ Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813– 1945 (Krieg in der Geschichte, Bd 15) Paderborn u a 2002, 354 f , 366 Katrin A Kilian, Kriegsstimmungen Emotionen einfacher Soldaten in Feldpostbriefen, in: Jörg Echternkamp (Hrsg ), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945 Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 9,2) München 2005, 251–288, hier 287 Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 20 03 1944, in: StA Wo 189,100 Jürgen Westphal an seinen Bruder, 12 09 1944, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 261 Henning Westphal an seine Mutter, 14 09 1944, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 263 Herbert Veigel an seine Eltern, 25 05 1943, in: Veigel, Christbäume (wie Anm 28), 201
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III. Emotionen In den wenigsten Feldpostbriefen wurden negative Gefühle direkt benannt Üblich war zwar die gegenseitige Zusicherung, wie sehr man sich vermisste („man kann garnicht oft genug schreiben, wie sehr man sich liebt, sich entbehrt und sich nach Dir sehnt“57; „ich muß so viel an Dich denken“58) sowie die eng mit der Sehnsucht verknüpfte Sorge um die Familienmitglieder, die gerade dann verstärkt aufkeimte, wenn nach einem Luftangriff die Kommunikationsnetze zusammengebrochen waren und Nachrichten über das Befinden der Angehörigen längere Zeit ausblieben („Ich kann immer nur hoffen, dass wenigstens Euch nichts passiert ist Der ganze Krieg hier macht mir bestimmt nichts aus, aber die Luftangriffe auf Berlin kosten mich Nerven“59) Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Angstzustände und Depressivität in Bezug auf die eigenen Kriegserfahrungen wurden den Erkenntnissen der Feldpostforschung zufolge hingegen nicht explizit kommuniziert Gerald Lamprecht konstatierte beispielsweise, dass die Schreiber ihre beklagenswerte Verfassung nur unterschwellig anmerkten und sogleich wieder relativierten 60 Sönke Neitzel und Harald Welzer stellten fest, dass deutsche Soldaten, die in alliierter Kriegsgefangenschaft heimlich abgehört wurden, untereinander „äußerst selten über [individuelle] negative Gefühle“ sprachen 61 Martin Humburg belegte anhand von Wortfelduntersuchungen, dass Soldaten an der Ostfront in ihren Feldpostbriefen an die Eltern und Ehefrauen Begriffe wie „Verzweiflung“ fast überhaupt nicht verwendeten und Emotionen wie „Angst“ nur mit weiblichen Gesprächspartnern assoziierten,62 während sie persönliche Ängste vor den Gefechten, vor Verletzungen und dem Tod nicht äußern konnten 63 Da der Nationalsozialismus Männlichkeit über das Ideal des furchtlosen, tapferen und harten Soldaten definierte,64 konnten Soldaten 57 58 59 60 61 62
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Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 25 11 1942, in: StA Wo 189,100 Herbert Veigel an seinen Bruder, 01 07 1941, in: Veigel, Christbäume (wie Anm 28), 55 Heinz Sartorio an seine Schwester, 03 12 1943, in: MSPT 3 2002 0827 Lamprecht, Feldpost (wie Anm 22), 55 Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben 5 Aufl Frankfurt am Main 2011, 209 Martin Humburg, Das Gesicht des Krieges Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941–1944 Opladen/Wiesbaden 1998, 241 Katrin A Kilian fügte wiederum an, dass sich Angst „in vielfältiger Ausprägung in den Feldpostbriefen“ zeigte, führte jedoch nicht aus, ob und inwiefern Soldaten ihre eigenen Ängste thematisierten, siehe Kilian, Kriegsstimmungen (wie Anm 52), 275 Humburg, Gesicht (wie Anm 62), 245, 254 Zur Schwierigkeit von Soldaten, über ihre Gewalterfahrungen und die damit verbundenen Ängste zu sprechen siehe Klaus Latzel, Töten und Getötet-werden Ambivalenzen von Erfahrung, Gewalt und Verletzbarkeit, in: Ulrich Herrmann / Rolf-Dieter Müller (Hrsg ), Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen (Materialien zur historischen Jugendforschung) Weinheim/München 2010, 113–136, hier 134–136 Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm 3), 312, 315; Frank Werner, „Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser“ Soldatische Männlichkeit im deutschen Vernichtungskrieg 1941–1944, in: Anette Dietrich / Ljiljana Heise (Hrsg ), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus Formen,
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keine Gefühle wie Angst oder depressive Verstimmungen zeigen, die im Gegensatz zu der geforderten Furchtlosigkeit und Härte standen, sofern sie nicht als „schwach“ oder „unmännlich“ wahrgenommen werden wollten 65 Im Hinblick auf die Kommunikation über Gefühle zwischen Geschwistern trifft dies nur bedingt zu Sicherlich vermieden Soldaten auch in den Korrespondenzen mit ihren Geschwistern ausführliche Beschreibungen von Todesängsten und ihrer Verzweiflung angesichts der Kriegslage Dennoch wurden negative Gefühle insbesondere in ungleichgeschlechtlichen Geschwisterkorrespondenzen thematisiert Soldaten informierten ihre Schwestern über ihre Probleme, sich in der Einheit einzufügen,66 schilderten, sich nach der Versetzung des besten Freundes nun „so einigermaßen wieder gesammelt“67 zu haben, klagten über ihre Gesundheit, wegen der es ihnen „gar nicht gut“68 gegangen sei, oder benannten Krankheiten, vor denen sie „erheblich Angst“69 hatten Nach dem Tod des Schwagers offenbarten sie, „noch nie […] so schmerzlich berührt“ worden zu sein und dass ihnen „die Tränen […] in die Augen gekommen“ seien 70 Sie beschrieben depressionsähnliche Zustände („Ach man könnte weinen, zu elend ist mir zumute“71; „mir ist das Leben noch nie so trostlos vorgekommen wie zur Zeit“72; „Mir schmeckte kein Mittagessen mehr und ich war seelisch völlig zerknittert“73) Einige Soldaten formulierten Zukunftsängste („Ich fürchte mich jedenfalls vor der Zeit nach dem Krieg“74), die sich mitunter zu Todesängsten verschärften oder mit regelrechtem Lebensüberdruss einhergingen („ich habe es satt, wir müssen alle damit rechnen, dass unsere Stunde früher o[der] später kommt Die Zukunft ist für uns schwarz geworden und die Hoffnung schwindet dahin Wir haben eben Osterfahrung und müssen hier sterben oder siegen Damit haben wir uns alle schon abgefunden“75; „mein eignes Leben [ist] mir soviel wert […] wie der Dreck an meinen Klamotten […] Und somit erhäl[t]st Du die Nachricht, wenn es soweit ist, das[s] mir nichts mehr weh tut Ich glaube es wird mir nicht schwer fallen“76) Die Verbalisierung von Todesängsten ging bisweilen so weit, dass Schwestern mit Bitten konfrontiert
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Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis (Zivilisation & Geschichte, Bd 18) Frankfurt am Main 2013, 45–63, hier 46–50 Neitzel/Welzer, Soldaten (wie Anm 61), 214; Werner, Noch härter (wie Anm 64), 55; Schikorsky, Kommunikation (wie Anm 25), 303 Heinz Sartorio an seine Schwester, 28 03 1942, in: MSPT 3 2002 0827 Walter Buhrkamp an seine Schwester, 20 11 1939, in: MSPT 3 2002 7333 Heinz Sartorio an seine Schwester, 28 03 1942, in: MSPT 3 2002 0827 Heinz Sartorio an seine Schwester, 11 03 1944, in: MSPT 3 2002 0827 Josef Gester an seine Schwester, 03 03 1944, in: MSPT 3 2002 1353 Herbert Vogt an seine Schwester, 24 12 1943, in: MSPT 3 2002 0300 Ludwig Sauter an seine Schwester, 20 12 1941, in: MSPT 3 2002 0877 Heinz Sartorio an seine Schwester, 11 11 1942, in: MSPT 3 2002 0827 Heinz Sartorio an seine Schwester, 05 05 1942, in: MSPT 3 2002 0827 Ludwig Sauter an seine Schwester, 25 08 1942, in: MSPT 3 2002 0877 Gottfried Fabian an seine Schwester, 01 04 1945, in: MSPT 3 2002 0299
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wurden, die sie nach dem Ableben des Bruders realisieren sollten und die den Eltern oder den Partnerinnen nicht zugemutet werden sollten Ein Soldat schrieb etwa seiner Schwester im Januar 1943 von der Ostfront: „Bitte erschrecke nicht über diese Zeilen Nur Dir allein schreibe ich es, wir befinden uns hier in einer hoffnungslosen Lage Jeden Augenblick können wir in den Händen der Russen sein Solltest Du zwei Monate weiter gerechnet, keine Post mehr von mir erhalten, so kannst Du mit Sicherheit annehmen, daß ich nicht mehr bin […] Bitte schweige vorläufig darüber, u wenn die von mir gesagte Zeit vorüber ist, bereite mein l[iebes] Hildchen [= Partnerin] darauf schonend vor “77 Gewiss zeigten auch Soldatenbrüder gegenseitiges Verständnis und boten sich als Ansprechpartner an 78 Aufgrund ihrer oftmals ähnlichen Situation als Soldat konnten sie einander ungeschminkt ihre Kriegserlebnisse berichten und die Emotionen des anderen dabei nachvollziehen Sie bestätigten zu wissen, „wie einem da zu Mute ist“, wenn nach einem Fronturlaub das „alte[] Soldatenleben […] wieder begonnen“ hatte 79 Gelegentlich erklärten sie dem Bruder, in ihm jemanden zu sehen, „dem ich alles vertrauen kann, dem ich mein Herz öffnen kann […], weil wir zwei von der Familie das meiste erlebt haben “80 In Einzelfällen wurden auch in Feldpostbriefen zwischen Brüdern Suizidgedanken geäußert 81 Allerdings bezog sich eine aufrichtige Bekenntnis der eigenen Empfindungen zwischen Brüdern in erster Linie auf die Gefühle, die in unmittelbarem Zusammenhang mit signifikanten Kriegsereignissen standen wie etwa der Verlust eines Kameraden oder die Erfahrung einer Dorfevakuierung 82 Den Schwestern teilten die Soldaten hingegen auch ihre generelle Stimmung über längere Zeiträume mit, während die Thematisierung von Emotionen in brüderlichen Korrespondenzen nur punktuell und in Ausnahmefällen erfolgte
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Otto Kirschner an seine Schwester, 19 01 1943, in: Ebert, Stalingrad (wie Anm 20), 312 f Die Mitteilung, dass es sich bei einem Brief um das letzte Lebenszeichen handeln könnte, ist indes kein Spezifikum, das nur die ungleichgeschlechtliche Geschwisterkorrespondenz betraf, sondern gilt für alle Geschwister, siehe z B Heinrich Held an seine Geschwister, 15 02 1945, in: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e V (Hrsg ), Letzte Lebenszeichen II Briefe aus dem Krieg Kassel 2013, 78; Horst Möckel an seinen Bruder, 05 10 1943, in: ebd , 119 („Ich will Dir in Eile noch ein paar Zeilen widmen, denn ich weiß nicht, ob ich überhaupt nochmal dazu kommen werde Es wird also ein sogenannter Abschiedsbrief […] Bitte Trini nichts von den Zeilen sagen, denn es könnte ja sein, dass ich doch mehr Glück habe, aus diesem Dreck zu kommen!“) Geert Westphal an seine Brüder, 24 03 1943, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 150; Hans-Albert Giese an seinen Bruder, 09 04 1940, in: Konrad Elmshäuser / Jan Lokers (Hrsg ), „Man muß hier nur hart sein …“ Kriegsbriefe und Bilder einer Familie (1934–1945) Bremen 1999, 38 Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 01 05 1943, in: StA Wo 186,805 Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 21 10 1943, in: StA Wo 189,100 K K an seinen Bruder, 11 03 1942, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/23 Anton Bayer an seinen Bruder, 29 05 1944, in: MSPT 3 2002 7570; Hans Joachim Martius an seinen Bruder, 15 11 1942, in: Ebert, Stalingrad (wie Anm 20), 58 f
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Das Spezifikum der geschwisterlichen Kommunikation über negative Emotionen ist auf das aus psychologischer Sicht beschriebene symmetrische Verhältnis zwischen Geschwistern zurückzuführen Demnach sei aufgrund ihrer „ähnlichen psychosozialen Organisation“83 und des meist nur geringen Altersunterschiedes „eine größere Intimität“84 als zu den Eltern möglich Dies zeigt sich beispielsweise an der stetigen Mahnung der Geschwister, den Eltern gegenüber ihr tatsächliches Befinden nicht offenzulegen, um diese nicht zu beunruhigen („Den Eltern brauchst Du nichts davon zu erzählen“85; „Ich erzähle [den Eltern], daß es Dir sonst gut geht“86) Allerdings finden sich in den Briefen mehrfache Belege dafür, dass die Soldaten zu den Geschwistern auch aufrichtiger als zu den Partnerinnen waren, sodass die weitreichende Offenheit nicht nur auf ein ähnliches Alter zurückzuführen ist, sondern explizit im Zusammenhang mit der speziellen Beziehungskonstellation zwischen Geschwistern zu stehen scheint Darüber hinaus luden vor allem Schwestern zu einem Gespräch über die eigene Befindlichkeit ein Zwar stellt eine dezidiert auf Frauenbriefe ausgerichtete Feldpostforschung bislang noch immer ein Forschungsdesiderat dar, sodass quantifizierende Aussagen über weibliche Sprachmuster in den Briefen schwer zu treffen sind;87 gleichwohl scheint es, als hätten Schwestern ihr Befinden mehrheitlich auf emotionale Weise zum Ausdruck gebracht Sie schrieben, es gebe an der „Heimatfront“ nur noch „Kummer und Leid“88, gestanden, „es manchmal auch sehr schwer“89 zu haben und wie „grenzenlos verlassen und einsam“90 sie sich fühlten Auch ihre Angst um die Familienangehörigen an der Front gaben sie uneingeschränkt zu91 und bekannten, von den Nachrichten des Bruders, die „so zu Herzen geh[en]“, „immer gerührt“ zu sein 92 Wenngleich viele Brüder ihre Gefühle nicht immer eindeutig benannten, nahmen vor allem Schwestern den negativen Grundtenor der Briefe wahr Sie fragten ausdrücklich nach den Befindlichkeiten des Bruders, was einen aufrichtigen Austausch über die Gefühlswelt ermöglichte, und versicherten ihr Verständnis für die brüderlichen
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Sohni, Geschwisterdynamik (wie Anm 6), 22 Jürg Frick, Ich mag dich – du nervst mich Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben 4 Aufl Bern 2015, 175 f Eberhard Zwicker an seinen Bruder, 05 06 1944, in: Schick, Karl Eberhard Zwicker (wie Anm 33), 105 Hans-Albert Giese an seinen Bruder, 09 04 1940, in: Elmshäuser/Lokers, Kriegsbriefe und Bilder (wie Anm 78), 38 Christa Hämmerle, Entzweite Beziehungen? Zur Feldpost der beiden Weltkriege aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Didczuneit u a , Schreiben im Krieg (wie Anm 27), 241–252, hier 243; Echternkamp, Kriegsschauplatz (wie Anm 12), 5 A K an ihren Bruder, 22 05 1942, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/23 M K an ihren Bruder, 31 05 1942, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/23 Sophie von Heyl an ihre Geschwister, 24 09 1944, in: StA Wo 189,099 R S an ihren Bruder, 13 04 1940, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/23 H S an ihren Bruder, 14 09 1943, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/22
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Empfindungen („Wie geht es Dir mit Deiner Angst?“93; „Ich […] kann so gut Deine Verzweiflung verstehen über die so dunkle Zukunft“94) Ihre stellenweise sehr freimütige Artikulation der Gefühle konnte die Brüder unter Umständen dazu veranlassen, ebenso offenherzig Emotionen zu äußern, wodurch die Korrespondenz mit den Schwestern für die Soldaten zum Ventil für das wurde, „was sich an Enttäuschung, Schmerzen, Sehnsüchten angesammelt […] hatte“95 Wie Frank Werner in seinen Studien zum soldatischen Männlichkeitsparadigma anmerkte, war bei der Demaskierung der eigenen Gefühle vor allem relevant, „wem die Soldaten was sagten – oder bewusst nicht sagten“, da dies „häufig auch ihr Selbstverständnis als Mann [berührte]“ 96 Nicht so sehr um ihr Ansehen und ihre virile Ehre bedacht wie in den Gesprächen mit den Partnerinnen, den Eltern oder anderen Soldaten räumten die Brüder den Schwestern gegenüber unverstellt ein, die Anforderungen des soldatischen Lebens nicht immer bewältigen zu können, was von einer tiefen Vertrauensbasis zu den Schwestern zeugt Aufgrund ihres Zuhörens, ihrer Anteilnahme und ihrer Trostversuche wurden Schwestern in emotionaler Hinsicht essenziell für den Durchhaltewillen der Soldatenbrüder im Krieg, was deren Reaktionen belegen: „Mit niemandem kann man sich so aussprechen wie mit dir Verständnisvoll stehst du mir mit Rat und Tat beiseite und bist für dein Brüderlein alles, was dir möglich ist Du, immer werde ich dir l[ie]b[en] Herzens denken für alles Gute und Schöne“97 IV. Erziehung Bereits in der Vorkriegszeit übernahmen insbesondere die älteren Geschwister aus kinderreichen Familien eine Erziehungsfunktion Zumeist wurden sie von ihren Eltern offiziell mit der Erziehung der Jüngeren betraut Für einige Geschwister war die Sorge um die jüngeren eine Selbstverständlichkeit; nicht selten empfanden die älteren
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Margareta Schoon an ihren Bruder, 10 08 1944, in: Wojak, Kriegsbriefe einer Familie (wie Anm 41), 146 Marie-Elisabeth von Heyl an ihren Bruder, 22 02 1942, in: StA Wo 186,801 Angela Schwarz, „… whenever I feel depressed I dash off a page or two of scribble“ Briefe in die Heimat als Überlebensstrategie britischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg, in: Didczuneit u a , Schreiben im Krieg (wie Anm 27), 209–218, hier 214 Frank Werner, Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg Geschlechtsspezifische Dimensionen der Gewalt in Feldpostbriefen 1941–1944, in: Didczuneit u a , Schreiben im Krieg (wie Anm 27), 283–294, hier 284 Herbert Vogt an seine Schwester, 05 10 1944, in: MSPT 3 2002 0300 Darüber hinaus sind auch außerhalb der Kindheitsforschung pädagogisch-psychologische Studien zu berücksichtigen, denen zufolge es insbesondere „im Alter das Wohlbefinden [steigert, wenn man eine Schwester hat], weil damit mehr psychologische Unterstützung und eine geringere Depressionsneigung verbunden sind“, siehe Gabriele Gloger-Tippelt, Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehung, in: Jutta Ecarius (Hrsg ), Handbuch Familie Wiesbaden 2007, 157–187, hier 174
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Kinder diese Verpflichtung jedoch auch als „eine Zumutung“98, während die jüngeren Kinder die Autorität der älteren Geschwister aufgrund der normalerweise großen Altersdifferenz weitestgehend akzeptierten 99 Durch den Krieg kam es zu einer Akzentverschiebung: Als Folge der Fronttätigkeit vieler Väter und der dadurch notwendig gewordenen Erwerbstätigkeit vieler Mütter wurden nun auch Kinder zur Erziehung bevollmächtigt, die nur ein oder zwei unwesentlich jüngere Geschwisterteile hatten Unabhängig vom Geschlecht wurden vor allem dem ältesten Geschwisterkind Aufgaben übertragen, die zuvor ausschließlich den Eltern oblagen Häufig wurden nun Sechsjährige mit der alleinigen Beaufsichtigung der dreijährigen Schwester beauftragt, wenn die Mutter tagsüber arbeiten musste und es keine andere Möglichkeit zur Betreuung gab 100 Besuchte die Mutter den Vater im Dienst, war die 13-jährige Tochter tagelang zur Erziehung der jüngeren Geschwister autorisiert 101 Aufgrund der prinzipiellen Härte vieler Mütter, die unter ihrer vielseitigen Inanspruchnahme im Krieg litten und ihre Kinder körperlich sanktionierten,102 wurden bisweilen die älteren Geschwister anstelle der Mütter zu den bevorzugten Ansprechpersonen für Kümmernisse 103 Die Autonomie der Kinder, die sich durch die kriegsbedingte Abwesenheit der Eltern alleine organisieren und füreinander sorgen mussten, konnte Konflikte zwischen
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ZzG mit Paul D (geb 1933, aufgewachsen bei Germersheim, Interview am 09 08 2016) ZzG mit Brigitte H (geb 1925, aufgewachsen in Oberschlesien, Interview am 11 10 2016), Alois S (geb 1924, aufgewachsen in Neustadt an der Weinstraße, Interview am 27 07 2016), Karola S (geb 1928, aufgewachsen in Germersheim, Interview am 09 08 2016), Hildegard W (geb 1930, aufgewachsen in Landau, Interview am 17 10 2016) 100 Ingrid Kohl-Willmanns, Die böse Sirene, in: Jürgen Kleindienst / Ingrid Hantke (Hrsg ), Kriegskinder erzählen Zwischen Sirenengeheul und Granatsplittern 1939–1945 (Zeitgut, Bd 27) Berlin 2013, 165–169, hier 167; Rita Braun, „Bitte kümmere Dich um meine Kinder!“, in: Jürgen Kleindienst / Ingrid Hantke (Hrsg ), In schweren Zeiten braucht man Glück Erinnerungen 1939–1952 Berlin 2013, 11–20, hier 15 101 ZzG mit Inge F (geb 1930, aufgewachsen in Hamburg, Interview am 24 11 2014, durchgeführt von Julia Brandts im Rahmen der Mainzer Forschergruppe „Eltern und Kinder im Krieg“) Auch Jürgen Zinnecker verwies darauf, dass „Kinderarbeit […] im Zweiten Weltkrieg eine Renaissance als Familienarbeit [erlebt]“ habe, siehe Jürgen Zinnecker, Kindheit als Heimatfront Das Familienmoratorium der Kinder auf dem Prüfstand der europäischen Kriegsgesellschaft, in: Sabine Hering / Wolfgang Schröer (Hrsg ), Sorge um die Kinder Beiträge zur Geschichte von Kindheit, Kindergarten und Kinderfürsorge Weinheim/München 2008, 213–230, hier 213 f 102 Kiefer/Raasch, Familie (wie Anm 4), 117 f , Benkowitsch u a , Soldatenfamilie (wie Anm 4), 295 f ; Brandts u a , Kontinuität (wie Anm 4), 150 f ; zu Erinnerungen an die geringe emotionale Zuwendung von Müttern siehe Johannes Kiess u a , Erinnertes elterliches Erziehungsverhalten und politische Einstellungen in den Generationen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit – Ergebnisse der „Mitte-Studien“, in: Insa Fooken / Gereon Heuft (Hrsg ), Das späte Echo von Kriegskindheiten Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensläufen und Zeitgeschichte Göttingen 2014, 147–179, hier 156 103 ZzG mit Lydia M (wie Anm 14); Erika Tappe, Maikäfer flieg!, in: Jürgen Kleindienst / Ingrid Hantke (Hrsg ), Gebrannte Kinder, zweiter Teil Kindheit in Deutschland 1939–1945 (Zeitgut, Bd 7) 3 Aufl Berlin 2015, 119–137, hier 123
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den Geschwistern verursachen Viele jüngere Kinder akzeptierten den offiziellen Erziehungsauftrag und die verpflichtende Unterordnung unter die nur geringfügig älteren Geschwister nicht ohne Weiteres Eine 1937 geborene Zeitzeugin, deren Schwester einen Erziehungsauftrag von der Mutter erhalten hatte, berichtete: „da hat die [Schwester] immer gemeint, sie ist meine Mutter Und ich hab mir das aber nicht bieten lassen […] Ich hab dann Zeter und Mordio geschrien, weil – nicht dass sie mich geschlagen hat – aber weil ich immer alles […] machen musste, und ich wollte das nicht “104 Eine andere Zeitzeugin gab zu: „Wir waren aufeinander angewiesen […] Schlimm war es, wenn wir uns gezankt haben, dann haben wir uns auch geprügelt “105 Zugleich war das eigenständige Bemühen um Verantwortungsübernahme bei vielen Kindern stark ausgeprägt Sie versuchten, die Jüngeren in jeglicher Hinsicht vor den Kriegsauswirkungen und vor brenzligen Situationen zu schützen Ein Elfjähriger erklärte beispielsweise seinen Geschwistern, die Mutter sei im Krankenhaus, nachdem er am Morgen miterlebt hatte, dass sie von der Gestapo abgeholt worden war 106 Ein Neunjähriger war bei Fliegeralarm alleine für den Schutz des vierjährigen Bruders auf dem Weg zum nächstgelegenen Bunker zuständig, während die Mutter die Habseligkeiten der Familie zu retten versuchte 107 Ein anderer riss seine Schwester von den Wrackteilen eines abgestürzten Flugzeugs weg, nachdem er „den toten Piloten auf der Erde“ gesehen hatte, dessen Anblick er ihr ersparen wollte 108 Auch die Feldpost zeigt das Bemühen der Geschwister, trotz ihrer kriegsbedingten Trennung Einfluss aufeinander auszuüben Kinder nutzten die Feldpost dazu, auf die schulischen Leistungen der Geschwister einzuwirken, sich gegenseitig hinsichtlich beruflicher Perspektiven zu beraten, allgemeine Verhaltensweisen anzuregen und das Moralsystem ihrer Geschwister zu stärken Ungefähr gleichaltrige Kinder bedienten sich dabei oftmals einer subtilen Erziehungstaktik, bei der sie den Geschwistern keine direkten Anweisungen gaben, sondern vielmehr an deren Vernunft appellierten Wollten sie beispielsweise die kindliche Unterstützung der Mutter im Haushalt anregen, gaben sie von der Front aus zu Bedenken: „Mutti ist sicher auch froh wenn sie jemanden hat, der ihr im Haushalt hilft und ab und zu einmal die Suppe kocht “109 Sorgte 104 ZzG mit Edith E (geb 1937, aufgewachsen in Frankfurt am Main, Interview am 07 06 2016) 105 ZzG mit Lore J (geb 1924, aufgewachsen in Tiegenhof, Interview am 25 07 2016) 106 Rita Braun, „Bitte kümmere Dich um meine Kinder!“, in: Kleindienst/Hantke, In schweren Zeiten (wie Anm 100), 15 107 Helmut Faust, Onkel Adam, in: Kleindienst/Hantke, Gebrannte Kinder (wie Anm 103), 218–221, hier 218 108 Rosemarie Armerding, „Guten Tag“ sagt man nicht, in: Kleindienst/Hantke, Kriegskinder erzählen (wie Anm 100), 87–92, hier 91 Zu einem Überblick über anhaltende psychosomatische Beschwerden von Kindern als Langzeitfolge des Krieges und der frühen Verantwortungsübernahme siehe z B Hartmut Radebold, Kriegsbeschädigte Kindheiten (1928–1929 bis 1945–48) Kenntnisund Forschungsstand, in: Ders (Hrsg ), Kindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen (Psyche und Gesellschaft) 3 Aufl Gießen 2012, 17–29 109 K H an seine Schwester, 31 10 1942, in: LhA Ko 700,153/254
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sich die Mutter, weil sie länger keine Nachricht mehr von ihrem Soldatensohn erhalten hatte, erklärte der jüngere Bruder, wie notwendig regelmäßige Lebenszeichen in Form von Briefen für die Mutter waren: „Du weist ja, dann wird Mutter leicht aufgeregt und sorgt und bangt sich um Dich Das Beste ist, ihr schreibt so oft ihr Zeit habt, denn das ist für Mutter immer der Halt, den sie gebraucht “110 Dieser subtilen Erziehungstaktik stand eine „‚befehlsorientiert[e]‘ und autoritär[e]“111 Ausdrucksweise gegenüber Je größer der Altersabstand zwischen den Geschwistern war, desto mehr traten die Brüder an der Front als tonangebende Erzieher auf, wenn sie den Jüngeren etwa schrieben, „einen Bericht über das [zu erwarten], was Du z B in Mathematik in der Penne gelernt hast!“112, verschiedene Lektüren empfahlen113 oder schulische Leistungen lobten („Über Deine guten Zeugnisse habe ich mich sehr gefreut“114; „Prima prima hast du das gemacht“115) Ihre Vorgehensweise, wenn sie bestimmte Verhaltensmuster der Geschwister herbeiführen wollten, glich dabei deutlich dem Erziehungsbemühen der Soldatenväter Ähnlich wie die Soldatenväter, deren erzieherischen Instruktionen besonders häufig die kindliche Unterstützung der Mutter betrafen,116 wiesen sie die Geschwister knapp und im Imperativ zur häuslichen Hilfe an („Sei aber auch zu Hause fleißig und sei Mutter immer behilflich“117), maßregelten die Streitigkeiten der Schwestern („vertragt Euch gegenseitig, und tut dies wenigstens meiner lieben Mutter zur Liebe!“118), wiesen die jüngeren Geschwister zurecht, den Eltern nicht zur Last zu fallen („Vater lässt du auch in Ruhe Bist schließlich doch kein
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Ewald Giese an seinen Bruder, 04 09 1941, in: Elmshäuser/Lokers, Kriegsbriefe und Bilder (wie Anm 78), 127 Klaus Peter Horn, „Immer bleibt deshalb eine Kindheit im Faschismus eine Kindheit“ – Erziehung in der frühen Kindheit, in: Ders / Jörg-W Link (Hrsg ), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit Bad Heilbrunn 2011, 29–56, hier 45; Benkowitsch u a , Soldatenfamilie (wie Anm 4), 310 f Paul Wortmann an seinen Bruder, 06 10 1942, in: MSPT 3 2002 0935 Heinz Sartorio an seine Schwester, 26 04 1942, in: MSPT 3 2002 0827; Paul Wortmann an seine Geschwister, ohne Datum, 1942/1943, in: Ebert, Stalingrad (wie Anm 20), 229 Geert Westphal an seinen Bruder, 02 08 1941, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 25 K H an seinen Bruder, 30 08 1941, in: LhA Ko 700,153/247 Soldatenväter beschränkten sich dabei meistens auf knappe erzieherische Anweisungen am Ende ihrer Briefe, z B Lieses Vater an Liese, 22 09 1939, in: Herta Lange / Benedikt Burkard (Hrsg ), Abends wenn wir essen fehlt uns immer einer Kinder schreiben an die Väter 1939–1945 Hamburg 2000, 23 („Sei lieb zu Hause!“); Richards Vater an Richard, 20 12 1942, in: ebd , 225 („Sei nur immer recht artig und hilf der lieben Mutter immer recht fleissig“) Ralf Schoffit bezeichnete dieses Phänomen als „Grußpädagogik“, siehe Schoffit, Väter (wie Anm 3), 316 Siehe auch Benkowitsch u a , Soldatenfamilie (wie Anm 4), 307 f Geert Westphal an seinen Bruder, 01 11 1941, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 57 A F an seine Schwester, 05 05 1940 (Hervorhebung im Original), in: Bf Z N: Sterz, Briefe von und an A F ; Hester Vaizey, Surviving Hitler’s War Family Life in Germany, 1939–48 (Genders and Sexualities in History Series) Basingstoke 2010, 138
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kleines Kind mehr“119) und gaben charakterliche Hinweise („Sei nur immer ein frisches, energisches, aber auch liebes Mädel“120) Im Wesentlich tangierten die Anliegen, Ratschläge und Verhaltensregeln, die Kinder ihren Geschwistern gegenüber äußerten, drei Bereiche Erstens: Geschwister bemühten sich um ein funktionierendes Familienleben Trotz ihrer Abwesenheit wiesen Soldatenbrüder die Geschwister in der Heimat an, sich nicht zu streiten Stattdessen sollten sie die Eltern entlasten, wobei damit nicht nur die Hilfe im Haushalt, sondern auch eine moralische Unterstützung intendiert wurde Psychisch schwerwiegende Informationen sollten sie den Eltern vorenthalten, um diese nicht zu beunruhigen („Was ich dir jetzt sage, erwähne bitte nicht in Deinen Briefen, da es Mama nicht wissen soll“121; „Bitte, laß Denen Daheim nichts merken“122) Wenn die Geschwister zuhause durch ihr Auftreten für familiäre Unruhe oder gar Streit sorgten, kritisierten Soldatenbrüder ihr Benehmen und rekurrierten auf die eigene, ungleich ernstere Situation an der Front: „Ich stehe hier im Westen, und ich muß auch meine Pflicht gegenüber meiner Vorgesetzten und fürs Vaterland erfüllen Und seine Eltern muß man in Ehren halten, und Ihnen nichts zu leide zu tun […] Es würde mir keine Freude machen wenn ich im Unfrieden nach Hause käme Also bitte!!!“123 Umgekehrt wiesen die zuhause befindlichen Geschwister ihre Soldatenbrüder zurecht, wenn diese in ihren Briefen von schwerwiegenden Verletzungen berichteten, die Frontsituation zu detailliert beschrieben oder sich über einen längeren Zeitraum nicht gemeldet hatten („zu Hause vergeht Mutter fast aus Sorge um Dich Du kannst Dich also nur dadurch entschuldigen, daß Du vielleicht schon wieder versetzt worden bist oder daß Du Postsperre hast Wehe, wenn das nicht der Fall ist!!!“124; „Du hast Mama eine ziemliche Sorge gemacht mit Deinem Gerede“125) Manche Kinder merkten eher sachte an: „Ein Glück, dass ich den Brief geöffnet habe So kann ich Mutti vorsichtig darauf vorbereiten “126 Geschwister nahmen somit im innerfamiliären Kontext eine verantwortungsreiche Rolle ein, da sie selbst aus der Distanz versuchten, alle Familienangehörigen in jeglicher Hinsicht zu schützen Zweitens: Geschwister erteilten einander Ratschläge in schulischen, zukunftsbezogenen und alltäglichen Fragen Besonders den älteren Soldatenbrüdern war es ein 119 K H an seine Schwester, 20 04 1943, in: LhA Ko 700,153/254 120 Helmut Stetter an seine Schwester, 22 11 1942, in: Göppel, Feldpostbriefe (wie Anm 28), 31 121 Julie Schlosser an ihre Schwester, 06 03 1945, in: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (SA Da) O 59 Ritsert 34 122 K K an seinen Bruder, 19 06 1942, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/23 123 A F an seine Schwester, 05 05 1940, in: Bf Z N: Sterz, Briefe von und an A F 124 Eberhard Zwicker an seinen Bruder, 06 05 1941, in: Schick, Karl Eberhard Zwicker (wie Anm 33), 16 125 Margareta Schoon an ihren Bruder, 10 08 1944, in: Wojak, Kriegsbriefe einer Familie (wie Anm 41), 146 126 Dirck Westphal an seinen Bruder, 05 01 1944, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 210 Gemeint war damit die mentale Vorbereitung der Mutter auf die Verwundung des Bruders
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Bedürfnis, die jüngeren Geschwister von ihren Erfahrungen profitieren zu lassen, sie „vor all den Gefahren, die [sie] […] als solche erkannt“ hatten, „zu warnen“ und sie als Berater auf das Leben vorzubereiten – „nicht wie ein Spießer oder Weltweiser, sondern wie ein älterer Kamerad“ 127 Ihre Lebensweisheiten und Empfehlungen waren dabei einerseits allgemeingültiger Art: „Lieber Bruder, man muß die Menschen doch so nehmen, wie sie sind und nicht so, wie man sie sich wünscht“128; „Spiele nie weiter, weil Du verloren hast, denn dann wirst Du leichtsinnig und verlierst immer mehr“129; „wenn Dich jemand zum Bösen überreden will, oder eine Versuchung lockt, so höre auf Dein Gewissen Bist Du einmal im Zweifel was Du tun sollst, so frage Dich, was würden Vater und Mutti dazu sagen“130 Andererseits formulierten die Soldatenbrüder auch individuelle Ratschläge, die durchaus mit einer präzisen Erwartungshaltung einhergingen Ein 20-jähriger Soldat riet seinem 14-jährigen Bruder zu Fleiß in der Schule, „[d]a Du doch wohl vorhast, später zu studieren“131 Ein anderer legte seiner Schwester nahe: „Wann fängst Du Dein Studium an und was wirst Du alles nehmen? Hoffentlich auch ein bisschen ausübende Kunst Hoffentlich München Ich kenne nur nette Leute dort “132 Die beratende Funktion, die die Soldatenbrüder ungeachtet ihres Alters einnahmen, wurde von den Geschwistern in der Heimat bereitwillig angenommen, mithin sogar ausdrücklich eingefordert Die Zuhausegebliebenen baten beispielsweise ausdrücklich um Ratschläge in finanziellen Angelegenheiten und zu beruflichen Plänen 133 Da die Schule in der Lebenswelt der Kinder einen großen Raum einnahm,134 erzählten Kinder in ihren Briefen an die Soldatenbrüder nicht nur davon, welche Lehrer sie mochten und welche nicht, was sie gelernt, welche Leistungen sie erbracht hatten, sondern fragten auch hier nach Tipps und Hilfestellungen 135 Manche Soldatenbrüder fügten daher ihren Briefen etwa Mathematikaufgaben oder kleine Rätsel bei 136 Darüber
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Herbert Veigel an seine Schwester, 28 03 1942, in: Veigel, Christbäume (wie Anm 28), 145 Hans Wendtland an seinen Bruder, 28 02 1943, in: MSPT 3 2002 0393 Ottfried Benz an seinen Bruder, 14 02 1941, in: Benz, Bombennächte (wie Anm 23), 147 Geert Westphal an seinen Bruder, 21 11 1941, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 63 Geert Westphal an seinen Bruder, 21 11 1941, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 63 Ludwig von Heyl an seine Schwester, 30 07 1941 (Hervorhebung im Original), in: StA Wo 189,103 Wilhelm Hauk an seinen Bruder, 05 06 1943, in: MSPT 3 2002 7219; K H an seinen Bruder, 29 01 1943, in: LhA Ko 700,153/247; Reinhard Schmidt an seinen Bruder, 01 06 1943, in: MSPT 3 2002 0574 Klaus Latzel, Kriegsgespräche Feldpostbriefe zwischen Kindern und Vätern im Zweiten Weltkrieg, in: Valet/Burkard, Abends wenn wir essen (wie Anm 19), 119–127, hier 123 Maximilian von Heyl an seinen Bruder, 08 11 1942, in: StA Wo 189,100; Margareta Schoon an ihren Bruder, 05 09 1944, in: Wojak, Kriegsbriefe einer Familie (wie Anm 41), 149; Geert Westphal an seinen Bruder, 24 11 1941, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 64 Helmut Stetter an seinen Bruder, 05 11 1942, in: Göppel, Feldpostbriefe (wie Anm 28), 26; Geert Westphal an seinen Bruder, 23 10 1941, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 54
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hinaus vergewisserten sich Geschwister, ob sie Briefe „richtig“137 geschrieben hätten Manche jüngeren Kinder beschwerten sich bei ihrem Soldatenbruder über die nächstälteren Geschwister zuhause 138 Die Autorität und Anerkennung des Soldatenbruders als Erzieher ging bisweilen soweit, dass eine Schwester nach einer spontanen sexuellen Begegnung mit einem Unteroffizier bei einer alkoholreichen Feierlichkeit ihren Bruder darum bat, „nicht böse“ zu sein und sie hinsichtlich ihrer nun anstehenden Hochzeit nicht zu verurteilen 139 Drittens: Geschwister erteilten einander Ratschläge für ein angemessenes Verhalten im Krieg Soldatenbrüder lobten von der Front aus vorbildliches Handeln der Geschwister während eines Fliegerangriffs in der Heimat („Von Euch ist es jedenfalls äußerst vernünftig in den Keller zu gehen“140) Sie bestärkten die Geschwister darin, „die Splitterwirkung von Bomben und Granaten […] nicht [zu] unterschätzen“141 und bewirkten dadurch ein sicheres Handeln der jüngeren Kinder in Krisensituationen Die Geschwister an der „Heimatfront“ rieten gleichermaßen den Soldatenbrüdern, im Kampf an der Front „viel Kraft“ zu haben und „sehr tapfer“ zu sein 142 Die umfassendsten Empfehlungen sprachen sich jedoch Soldatenbrüder untereinander aus Insbesondere vor ihrem ersten Fronteinsatz und in der Anfangsphase ihres Soldatenlebens erhielten jüngere Brüder Hinweise und Unterstützung der erfahrenen Soldatenbrüder, die sie auf die neuen Anforderungen des Lebens vorbereiten sollten Der 20-jährige Ludwig ließ seinem 16-jährigen Bruder eine Liste mit „allgemeine[n] Ratschläge[n]“ zukommen, nachdem dieser geklagt hatte, keinen Anschluss unter den Kameraden zu finden 143 Ein anderer bekräftigte: „Nur nicht ärgern, denn dann zeigt man dem andern, dass es einem nicht passt, und er weiß, wie er Dich klein kriegen kann “144 Der 1923 geborene Helmut erinnerte sich nach dem Tod seines Bruders Herbert in einem Brief an die Familie: „Herbert war bemüht, wo er nur konnte, mir die erste Zeit hier draußen an der Front so leicht wie möglich zu machen Er besorgte mir alles, was ich noch an Ausrüstung usw brauchte “145 Der 20-jährige Paul wählte indessen eine sarkastische Wortwahl, mit der er jenseits der Propaganda einen Einblick in die Schattenseiten des Soldatenseins gewährte: „Du wirst ganz bestimmt mit Sehnsucht an jene Zeit zurück137 138 139
H S an ihren Bruder, 31 10 1941, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/22 Gebhard von Heyl an seinen Bruder, 29 09 1944, in: StA Wo 189,091 O A an ihren Bruder, 18 02 1945, in: Anatoly Golovchansky u a (Hrsg ), „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“ Deutsche Briefe von der Ostfront 1941–1945 2 Aufl Wuppertal 1991, 287 140 Geert Westphal an seinen Bruder, 06 06 1940, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 20 141 Geert Westphal an seinen Bruder, 02 07 1940, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 24 142 Marie-Elisabeth von Heyl an ihren Bruder, 08 03 1942, in: StA Wo 186,801 143 Ludwig von Heyl an seinen Bruder, 28 06 1940, in: StA Wo 186,805 144 Ottfried Benz an seinen Bruder, 27 02 1940, in: Benz, Bombennächte (wie Anm 23), 72 145 Helmut Worm an seine Familie, 12 04 1944, in: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e V (Hrsg ), Letzte Lebenszeichen Briefe aus dem Krieg Kassel 2010, 232
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denken, wo Du noch differenzieren und Vokabeln lernen durftest, wenn Du schweißund schlammbedeckt mit müden Knochen keuchend und mit heraushängender Zunge am Boden liegst Nimm zu Deiner kommenden Soldatenzeit eins mit: Humor und viel Geduld!“146 Für kinderreiche Familien ist ein Sachverhalt augenfällig: Die älteren Kinder sprachen bisweilen mehr wie Eltern denn als Geschwister über die jüngeren Familienmitglieder Vergleichbar mit den Erziehungsverhältnissen an der „Heimatfront“ leiteten sie die jüngeren Kinder an, sorgten sich um sie und sahen sich mit in der Hauptverantwortung für sie Eine Schwester forderte beispielsweise ihren fronterfahrenen Bruder auf, den gerade erst einberufenen jüngeren Bruder zu ermutigen und informierte wenig später: „Um Leonhard kannst Du jetzt ganz ohne Sorge sein Er ist innerlich bereit und wird es schaffen “147 Manche Geschwisterpaare diskutierten die Eignung der Zukunftspläne des jüngeren Bruders148, wieder andere resümierten: „Auf unsere beiden Kleinen können wir wirklich stolz sein […] Für solche Jungs lohnt es sich, in den Krieg zu gehen Neben mir liegt Jürgens Zeugnis, das er heute bekam; fast alles Zweien, auch zwei wertvolle Einsen “149 Die Erziehungs- und Vorbildfunktion, die die Geschwister einnahmen, wird auch hier wieder deutlich, wenn die Mutter etwa kommentierte: „Die beiden ‚Kleinen‘ habe ich ja eigentlich gar nicht zu erziehen brauchen Sie richten sich in allem nach dem Beispiel von Euch Großen “150 Doch nicht nur Soldatenbrüder handelten in Krisenzeiten trotz ihrer Abwesenheit wie Väter Für gewöhnlich versuchten auch die Geschwister zuhause, alle Familienmitglieder zu entlasten Stellvertretend für ihre Eltern übernahmen sie Aufgaben, zu denen sie in der Regel gar nicht erst aufgefordert werden mussten Sie informierten über den Tod von Bekannten und verfassten Briefe, wenn den Eltern aufgrund ihrer kriegsbedingten Beanspruchung die Zeit fehlte 151 Vor allem Schwestern packten Pakete mit Büchern, Lebensmitteln, selbstgestrickten Handschuhen, Ohrenschützern und Pullovern für den Bruder an der Front, der den Empfang stets mit großer Dankbarkeit quittierte 152 Sie behielten den Überblick über den Inhalt der gesendeten Pakete und
146 Paul Wortmann an seinen Bruder, 20 11 1942, in: Ebert, Stalingrad (wie Anm 20), 92 147 Marie-Elisabeth von Heyl an ihren Bruder, 14 06 1942, in: StA Wo 189,106; Benkowitsch u a , Soldatenfamilie (wie Anm 4), 309 148 Wilhelm Hauk an seinen Bruder, 05 06 1943, in: MSPT 3 2002 7219; Albert Frank an seine Eltern, 04 02 1942, in: Walter Frank (Hrsg ), Verführt, verheizt … Auszüge aus den Feldpostbriefen meines Bruders Albert Frank (Erzählen ist Erinnern, Bd 59) Kassel 2006, 140 149 Henning Westphal an seinen Bruder, 14 04 1943, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 156 150 Grete Westphal an ihren Sohn, 10 01 1944, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm 30), 211 151 Z B Albert Schoon an seine Mutter, 25 12 1943, in: Wojak, Kriegsbriefe einer Familie (wie Anm 41), 124 152 P S an seine Familie, 27 01 1942, in: Bf Z N: Schnepf N 13 3/22; Marie-Elisabeth von Heyl an ihren Bruder, 09 03 1942, in: StA Wo 189,106
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fragten regelmäßig, welche Lebensmittel der Bruder bereits aufgebraucht und an welchen Utensilien er Bedarf an Nachschub habe 153 Im Wissen um die Zuverlässigkeit der Schwestern baten manche Brüder infolgedessen vorzugsweise ihre Schwestern anstelle der Eltern um bestimmte Gebrauchsgegenstände – etwa wenn die Unterkunft des Bruders zerstört worden war, wovon die Eltern nichts erfahren sollten („Meine sämtlichen Sachen sind mir verbrannt […] Mama brauchst Du davon nichts erzählen“154) Die konstatierte schwesterliche Hingabe für die Bedürfnisse des Soldatenbruders steht im Einklang mit anglo-amerikanischen Forschungsarbeiten: Nicholas Stargardt konturierte am Beispiel von Kindern in nationalsozialistischen Erziehungsheimen den Stellenwert von Postsendungen als „emotional life-line“155 Für den Ersten Weltkrieg konnte Michael Roper aus soziologischer Sicht feststellen, dass britische Mütter maßgeblich zum „emotional survival“ ihrer Soldatensöhne an der Westfront beitrugen, indem sie unter anderem die soldatische Verbindung zur Heimat mithilfe von Feldpostpaketen aufrechterhielten, die speziell auf die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben der Söhne abgestimmt waren 156 In ähnlicher Weise versuchten auch die Schwestern im Zweiten Weltkrieg ihren Soldatenbrüdern die Trennung von der Familie und ihre Erlebnisse im Krieg zu erleichtern Die Pakete, die sie mit großer Sorgfalt richteten, enthielten nicht nur notwendige Dinge, sondern sollten dem Bruder in den „sicher nicht leichten Stunden“157 an der Front eine Freude sein Marie-Elisabeth schickte ihrem Bruder beispielsweise ein Drama von Schiller, das sie gemeinsam mit ihm als Aufführung gesehen hatte und erinnerte somit an gemeinsame Erlebnisse 158 Anna bemühte sich um eine Möglichkeit, ihrem Bruder an der Ostfront ein eingelegtes „Kottlet“ zukommen zu lassen („das mochtest Du ja auch gern“) 159 Durch ihre Fürsorge kümmerten sich Schwestern nicht nur um das Wohlbefinden der Soldaten in materieller Hinsicht, sondern leisteten aktiv einen Beitrag zum brüderlichen Überdauern des Krieges V. Schlussbemerkung Unzählige Familien und Geschwisterpaare wurden während des Zweiten Weltkriegs durch Fronteinsätze, Arbeitsdienste, Kriegsauswirkungen und Kampfhandlungen
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Anna o A an ihren Bruder, 20 10 1942, in: Golovchansky, Deutsche Briefe (wie Anm 139), 103; Maria o A an ihren Bruder, 05 06 1942, in: ebd , 80 Bernhard Hülsmann an seine Schwester, 03 10 1944, in: Martin Meyer (Hrsg ), Feldpost nach Damme Die Briefe des Füsiliers Bernhard Hülsmann an seine Familie Vechta 2007, 134 Nicholas Stargardt, Witnesses of War Children’s Lives under the Nazis London 2006, 64 Michael Roper, The Secret Battle Emotional Survival in the Great War (Cultural History of Modern War) Manchester 2010, 93–101 Marie-Elisabeth von Heyl an ihren Bruder, 11 08 1942, in: StA Wo 189,106 Marie-Elisabeth von Heyl an ihren Bruder, 09 03 1942, in: StA Wo 189,106 Anna o A an ihren Bruder, 20 10 1942, in: Golovchansky, Deutsche Briefe (wie Anm 139), 103
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temporär oder gar endgültig entzweit Über 30 Prozent der deutschen Bevölkerung waren Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren;160 nicht wenige von ihnen zählten zu den ca 18,2 Millionen einberufenen Soldaten, die für Deutschland kämpften161 Welche Rolle wurde Geschwistern also angesichts des Ausnahmezustands „Krieg“ aus kindlicher Sicht zuteil? Zum einen übernahmen Geschwister im Kriegsalltag sowohl von der Front als auch zuhause Verantwortung füreinander Sie gerierten sich selbstständig als Beschützer in Extremsituationen, wirkten in allen lebensweltlichen Fragen als Berater, dienten einander als Vorbild und kümmerten sich um die emotionalen Belange des jeweils Anderen Dadurch waren sie von substantieller Bedeutung für das Funktionieren der Institution Familie Zum anderen förderte die Beziehung zwischen Geschwistern die Verarbeitung der Kriegserfahrungen Dabei lassen sich vor allem in soldatischen Briefen Unterschiede im geschlechtsspezifischen Diskurs feststellen Während Schwestern als bevorzugte Ansprechpartner für die depressiven Stimmungen und (Todes-)Ängste der Soldaten fungierten, waren Brüder die bevorzugten Adressaten für einschneidende Darstellungen über Frontgeschehnisse und lebensgefährliche Kampfeinsätze Dementsprechend bot die geschwisterliche Korrespondenz auch die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit Vor dem Hintergrund der einschlägigen Feldpostund Männlichkeitsforschung stellt die weitreichende Offenheit zwischen Geschwistern im Reden über ungeschönte Kriegserfahrungen und negative Gefühle somit ein Spezifikum dar, das die elementare Bedeutung von geschwisterlichen Beziehungen manifest werden lässt Darüber hinaus sind zwei Sachverhalte vordringlich: Erstens: In der Forschung wurde bisweilen die These aufgestellt, die Familie sei in der Zeit des Nationalsozialismus angesichts der Weltkriegserfahrungen und der Omnipräsenz des Regimes in allen Lebensbereichen der Menschen in einer „strukturelle[n] Krise“162 gewesen Sie habe sich mit der „Aufhebung der Privatsphäre“163 konfrontiert gesehen und „den Status der gegen die Außenwelt abgeschirmten und nach innen zentrierten, Geborgenheit schaffenden Einheit [verloren]“164 Ein solches Krisenszenarium kann im Hinblick auf einen erfahrungsgeschichtlichen Zugang nicht bestätigt werden Bestehende Forschungsergebnisse mit klassisch sozialhistorischem 160 Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg ), Bevölkerungsentwicklung 2013 Daten, Fakten, Trends zum demografischen Wandel Wiesbaden 2013, 12 161 Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg o A 1999, 316 162 Gebhardt, Frühkindliche Sozialisation (wie Anm 2), 221; Claus Mühlfeld / Friedrich Schönweiss, Nationalsozialistische Familienpolitik Familiensoziologische Analyse der nationalsozialistischen Familienpolitik Stuttgart 1989, 66 163 Riccardo Bavaj, Der Nationalsozialismus Entstehung, Aufstieg und Herrschaft (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd 1749) Bonn 2016, 112 164 Horn, Erziehung (wie Anm 111), 35
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Ansatz sollten demnach mit Hilfe von lebensweltlichen Zugriffen ergänzt und ausdifferenziert werden 165 Zweitens: Der Blick auf die Kinder sowie die Erschließung kindlicher Quellen führt zu einer vielschichtigen Gesellschaftsgeschichte des „Dritten Reichs“ Gerade das Beispiel der Geschwister und ihrer Sonderstellung in Kriegszeiten verdeutlicht, dass Kinder als aktive Gestalter von Geschichte wahrgenommen werden sollten Was sich inzwischen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Forschung etabliert hat – nämlich dass „Studien zu Geschwistern […] seit einigen Jahren Teil einer historisch und historisch-anthropologisch orientierten Verwandtschaftsgeschichte“166 sind –, sollte in Zukunft auch verstärkt für das 20 Jahrhundert angegangen werden Nur mittels historisch vergleichender, transnationaler und interdisziplinärer Untersuchungen kann verifiziert werden, ob und inwiefern die hier betonte Spezifik von Geschwisterbeziehungen im Zweiten Weltkrieg auch darüber hinaus eine überzeitliche Konstante darstellt
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Z B die Studie von Hester Vaizey, die im Gegenzug dazu exponierte, der Zusammenhalt der Familie sei im Krieg gestiegen, siehe Vaizey, Surviving (wie Anm 118), 150 166 Michaela Hohkamp, Leibliche Schwestern und Schwägerinnen in der frühneuzeitlichen Fürstengesellschaft des Heiligen Römischen Reiches (15 bis 19 Jahrhundert), in: L’homme Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 28/2, 2017, 15–33, hier 15
Forum
Bericht des Kommandanten der Festung Landau vom Jahre 1831 über Desertionen Michael Martin Der Titel der nachstehend transkribierten Akte aus dem Kriegsarchiv München1 Desertionen nach Frankreich betreffend ließ im zeitlichen Kontext zu der Juli-Revolution von 1830 einen kausalen Zusammenhang vermuten Umso mehr überrascht, dass es ganz andere, fast banale Gründe für vermehrte Desertionen gab Die Zahl der Deserteure war jedenfalls so auffällig hoch, dass sich der Kommandeur des in Landau stationierten 6 Infanterieregiments Herzog Wilhelm, Oberst Heinrich Adolph von Zwanziger2, bemüßigt sah, die Ursachen weiter zu melden und die vorgesetzten Stellen diesen Bericht auch an den König weiterleiteten Beschwerden von Deserteuren über schlechte Behandlung, ungenügendes Essen oder allgemeine Klagen über den Militärdienst gibt es viele Dass allerdings die Missstände im Heeresdienst von einem Offizier in aller Deutlichkeit geschildert werden, ist doch eine Seltenheit Deshalb verdient das Memorandum, publiziert zu werden Trotz oder gerade wegen des negativen Befundes, dass es eben nicht die politischen Zeitumstände waren, die zu Desertionen führten, ist das Hambach Jahrbuch das geeignete Forum
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BayHStA/Abtl IV A XIII 1 Bd 80 Heinrich Adolph Zwanziger, ab 1787 von Zwanziger (1776 – 1835), bis zur Pensionierung 1833 Kommandeur des 1 Bayerischen Infanterie-Regiments „König“
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Landau, den 16ten July 1831 Das 6te Linien Infanterie Regiment Herzog Wilhelm An Das Königlich bayrische II Infanterie Brigade Commando der 4ten Armeedivision praes am 18 Juli 1831 Nr 1576 Desertionen nach Frankreich betreffend Wenn zwar seit jener Zeit als sich das 6 Linieninfanterieregiment, Jahr 1818, in der Garnison Landau befindet, die Desertion häufiger vorkommt als bei den Regimentern und Abteilungen in den jenseitigen Kreisen, so dürfte dieses mitunter besonders was die Desertion nach Frankreich betrifft, der kaum 5 Stunden von hier entfernten Grenze, der Verbindung unter den beiderseitigen Landesbewohnern, und hauptsächlich auch der Errichtung und den Werbungen für die bestandenen Schweizer Regimente und das Regimente Fürst Hohenlohe3 zugeschrieben werden Allein seit den Ereignissen im Monate Juli vorigen Jahres, wo diese Regimenter aufgelöst wurden, und das Regiment Hohenlohe seine Bestimmung in Griechenland fand, hatte die Desertation nach Frankreich fast gänzlich aufgehört, wozu auch noch das bestandene Militärkartell seinen (S 2) Einfluss äußerte, obgleich nicht sehr häufig Auslieferungen stattfanden Seit Aufhebung des Militärkartells mit diesem Nachbarstaate und namentlich seit dem 02 Februar diesen Jahres, an welchen Tagen die beiden Korporäle Friedrich Zimmermann und Conrad Bendle entwichen sind, nimmt die Desertion nach Frankreich nicht bloß von diesseitigem Regimente, sondern auch von anderen Abteilungen der Garnison Landau einen auffallenden Charakter an Anfangs musste man auf die Idee fallen, als hätten Werbungen statt, allein trotz allen Nachforschungen durch die vertrautesten Unteroffiziere und Soldaten des Regiments, trotz allen Beobachtungen von Seiten der Offiziere bei den Untergebenen, und ungeachtet alles schriftlichen und mündlichen Benehmens mit den Justiz- und Administrationsbehörden da hier war auch bis jetzt nicht der geringste Verdacht einer Falschwerbung auszumitteln, und es
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Die Regimenter Hohenlohe-Bartenstein und Hohenlohe-Schillingsfürst waren Keimzellen des Regiments Hohenlohe, das 1831 in der französischen Fremdenlegion aufging
Bericht des Kommandanten der Festung Landau vom Jahre 1831 über Desertionen
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ist in der ganzen Garnison offenkundig, dass bei den Franzosen für keinen Deserteur Handgeld gegeben werde Es war auch bis jetzt nicht zu ermitteln, dass ein besonderes Komplott, namentlich bei dem diesseitigen Regimente stattfand, (S 3) in dem bis jetzt, soweit Erkundigungen möglich waren, die Desertionen Einzeln unternommen wurden, was auch umso wahrscheinlicher ist, als Desertionen im großen Haufen von den vielen Zoll- und Sicherheitsgendarmen entdeckt werden müssten Bis zur Stunde wurde noch nicht ein Deserteur, welcher nach Frankreich zu entweichen vorhatte, aufgegriffen, wenigstens gab es keiner in seinem Verhör an, und sohin war auch bis jetzt die wahre Ursache der häufigen Desertionen nicht zu entdecken Alle Deserteure, welche teils aufgegriffen wurden, teils sich sistierten4, befanden sich entweder in ihrer Heimat, oder in den derselben nahegelegenen Gegend Es war abzusehen, daß mit Aufhebung des Cartels mit Frankreich5 schlecht konduitizierte6 Leute, erst- und zweitmalige Deserteure, und mitunter diejenigen, welche dort schon dienten, nach dem nahegelegenen Frankreich desertieren werden, weil solche Leute aus Unzufriedenheit mit ihrem Stande, der strengen Beobachtung müde, und aus Hang nach der in Frankreich gepriesenen Freiheit hier das ihnen lästige Joch der Beobachtung abzuschütteln suchten, und (S 4) und weil derlei Leute im Wahne stehen, anderswo sei es besser als hier und dort würden sie dem Auge ihrer Beobachtung eher entgehen Allein schon ein paar Wochen nach Verfluss des aufgehobenen Cartels hat sich gezeigt, dass nicht bloß Leute von tadelhafter Aufführung, sondern selbst Soldaten mit guter Conduite, und darunter sogar Einsteher7 desertierten und es ist die Zahl der vom 2 ten Februar bis heute entwichenen Unteroffiziere und Soldaten des Regiments auf 116 angewachsen Es ist von Seite des Regiments, des Compagnie-Commandanten und der Offiziere nichts unterlassen worden, was den guten Geist erhalten und erheben könnte, man hat zur öffentlichen Kenntnis gebracht, dass das Los der Deserteure zur Annahme französischer Kriegsdienste nur beklagenswert sein könne, in dem der Ausländer stets dann dahin versendet werde, wohin der Eingeborene nicht will, dass der Meineidige nirgends Schutz und Vertrauen finde, und dass auch im Lande der Franzosen keine unbeschränkte Freiheit und Ungebundenheit existieren könne Trotz allem diesem und obgleich be- (S 5) kanntlich die Deserteure schon an der ersten Grenzstadt zu Weissenburg durch den dortigen Kommandanten mit aller Verachtung behandelt werden, nimmt die Desertion nach Frankreich mehr zu, als ab, und es findet sich der Gehorsamsunterfertigte unter Bezug auf das allerhöchste Reskript vom 20 königlicher
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= sich ergaben Aufhebung der „Militär-Cartel-Convention“ zwischen Bayern und Frankreich vom 10 März 1827 „über die Militärpflichtigkeit hinsichtlich der Auswanderungen“ am 22 April 1831 Amts- und Intelligenzblatt vom 25 April 1831 Soldaten mit schlechtem Benehmen Freiwilliger Stellvertreter eines Wehrpflichtigen
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Divisionskommandoorder vom 23 Nummer 1804 und königlicher Brigadekommandoweisung vom 27 vergangenen Monats verpflichtet, die eingezogenen Erfahrungen und mutmaßlichen Ursachen zu diesen Desertionen zur höheren Anzeige zu bringen Um nicht einseitig zu Werk zu gehen, habe ich für zweckdienlich erachtet, zunächst sämtliche Compagnie – Commandanten zur Erklärung aufzufordern, bei Dienstespflicht und unter Beobachtung möglichster Sorgfalt und ohne Aufsehen zu erregen, bei vertrauten Unteroffizieren und Soldaten Nachforschung zu halten und halten zu lassen, was wohl der Grund zu diesen häufigen Desertieren sein möge In der Zwischenzeit kam mir zur Kenntnis, dass der hiesige bürgerliche Glasermeister Johann Washeim8 in Straßburg gewesen sei, wo ihn diesseitige Deserteure die Ursache ihrer Entweich- (S 6) ung angaben Die hierüber von den 12 Kompanien eingegangenen Meldungen und die eidliche Vernehmung des Glasers Washeim sind im Originale zu etwa nötigen Einsicht Gehorsams angebogen9 Zur näheren Beleuchtung der von den Kompanien und vom Glaser Washeim angeführten Hauptmomente als Desertionsveranlassung, muss ich nachstehendes anführen: I Eine der ersten Klagen der gesamten Mannschaft der hiesigen Garnison namentlich des diesseits Regiments soll hiesiger Festungsdienst sein Jeder Sachkundige weiß, dass der Dienst in einer Festung, selbst in den Zeiten der Ruhe, wenn nicht beschwerlich, doch anstrengender sei, als jener in einer offenen Stadt In einer Festung sind viele Posten in Außenwerken, an tiefliegenden und erhöhten Plätzen und größtenteils an solchen, wo die Schildwache im Winter, weder vor Kälte, noch im Sommer vor großer Hitze geschützt ist Das Schilderhaus genügt (S 7) aus dem Grund nicht immer, weil der Eingang in das Selbe oft der Wetterseite ausgesetzt ist, und häufig nicht gebraucht werden kann, um sowohl bei Tag als bei Nacht das vorgeschriebene Beobachten zu können In einer offenen Stadt sind der Posten wenige und diese sind womöglich vor Hitze, Frost und Ungewitter geschützt Seit einem Jahr rückt die hiesige Garnison mit Sack und Pack auf die Wache aus und kehrt nach seiner Ablösung in die Kasernen zurück, um entweder die Reserve zu übernehmen oder zum Feuer in Bereitschaft zu sein, welche beide Dienste beim Ausrücken, was wenigstens des Tags einmal geschieht, mit Sack und Pack gemacht werden müsse Durch diese Dienste, welche immer mit dem Tornister auf dem Rücken geschehen, gehen nicht nur die Kleidungsstücke vor der Zeit zu Grunde, sondern viele Leute sind gezwungen, um einigermaßen bestehen zu können, durch Lohnwachen, das Nötige nachzuschaffen Nebst dem ausreitenden Dienste gibt es
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Johann Washeim Im Akt nicht vorhanden
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Arbeiten der Menge, als Holzmachen, Strohfassen, Holzwagen, Strohsäcke ausleeren, im Militär (S 7) Spitale u(nd) d(er) g(leichen) m(ehr) II Nebst dem häufigen Dienste sind die Lokalitäten sowohl in den Kasernen als auf der Wache nicht von derjenigen Beschaffenheit, welche dem Soldaten nach vollzogenem Dienste Ruhe oder Erholung verschaffen könnten Die Kasernen der Garnison sind größtenteils höchst mittelmäßig mitunter schlecht, und gewähren für die viele präsente Mannschaft nur kärglichen Raum zur Unterkunft, sodass alle Zimmer dicht mit Bettlagen bestellt, und außerdem noch mit sogenannten Rollirstrohsäcken10 belegt sind, die Abend auf den Boden hingelegt und von der Mannschaft zur nötigen Ruhe gebraucht werden Nicht selten trifft es sich, dass die Kasernenspeicher und gegenwärtig noch einige Kasernengänge mit Mannschaft belegt werden Bei solchen Gelegenheiten kann es nicht fehlen dann das Ungeziefer über Hand nimmt und auf die Reinlichkeit nicht mit nötiger Sorgfalt gehalten werden kann Viele Zimmer sind nicht plafoniert11, sodass der Staub von den oberen Zimmer dem unten wohnenden Soldaten auf den Kopf, auf das Bett und in die Schüßel (S 9) fällt Ein Hauptbedürfnis für so viele Leute ist der Abtritt Dieser ist in jeder Kaserne mangelnd und solche sind auf den Wellen angebracht, wohin der Soldat zur Tag- und Nachtzeit, bei Regen und bei Schneegestöber, in gesundem und kränklichen Zustande oft mehrere 100 Schritt zu gehen hat, und sich zur Nachtzeit oft eine Krankheit und selbst den frühen Tod zuziehen kann Wie lästig ein solches Zusammengepfropftsein den Mannschaft sein müsste und wie störend das Ungeziffer bei so vielen zusammen wohnenden Menschen auf die Nachtruhe auswirke, endlich wie gesundheitsstörend die weite Entfernung der Abtritte außerhalb der Kasernen sei, fällt nur zu deutlich in die Augen III Der Soldat hat außer seiner Löhnung und seinem Brote hier wenig oder gar keinen Verdienst, da er alle 3 Tage auf die Wache kommt, dann 24 Stunden die Reserve erhält, während welcher Zeit er die Stadt nicht verlassen darf, und am 3 Tage entweder zum Feuerpiquet12 oder zum Heeresdienst kommandiert wird, in welchem ersteren Falle gleichfalls das Verbot, die Stadt zu verlassen, vorliegt Hat auch (S 10) hie und da einer Gelegenheit, eine Lohnwache zu machen, so geht das Augenmerk der Compagnie – Commandanten schon auf Verbesserung der Montur Der Soldat legt vier Kreuzer in die Menage und erhält dafür um halb elf Uhr ein Stückchen Fleisch, von dem das Pfund zu 28 Lot bayerisches Gewicht 8 Kreuzer kostet und etwas Suppe An Gemüse kann er fast nicht mehr denken, da solches wie jedes andere Lebensmittel hier seit mehreren Wochen wenigstens um das Drittel gestiegen ist Mit dieser Kost muss die im Wachsen begriffene Mann10 11 12
verschalt Wechselstrohsack Feuerwache
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schaft 24, und wenn sie auf die Wache kömmt, oft 27 Stunden zureichen, und hat außer seinem Brote weiter nichts zur Nahrung Es bleiben zwar von der Löhnung noch 3 ½ Kreutzer übrig, allein diese verschlingen Schuhmacher, Schneider, und Näherlohn, der Ankauf von Putzwachs, Anstrichkreide, Schuhnägel, Schuhwix oder Schmier, Halsstreifchen, Nadel und Faden und mancherlei unentbehrlicher Kleinigkeiten Ein großes Bedürfnis zur Sommerzeit ist das Waschen der (S 11) weißen Pantalons, welche hier fast täglich in jedem Dienste getragen werden Keine dieser Hosen kann der Soldat über 24 Stunden tragen und geringe gerechnet müssen 2 Kreuzer für Wasch- und Bügellohn entrichtet werden Angenommen nun der Mann behält im Durchschnitte einen oder zwei Kreuzer übrig, so kann er sich weder Wein noch Bier, welches letztere fast nicht verdient, zu seiner Stärkung ankaufen, und er kann sich höchstens um einen Kreutzer Brandwein – dieses für die Mannschaft so sehr verderbliche Getränk – anschaffen Rauch- und Schnupftabak und andere noch nötige Lebensbedürfnisse darf der Soldat unter diesen Verhältnissen ohnehin nicht kennen IV Ausser der Menage hat der Mann zu seinem Unterhalt täglich 1 ½ Pfund Brot Hier herrscht, wenn nicht mehr in vielen Garnisonen des Königsreiches die Abgabe des Kommissbrotes Gegen die Beschaffenheit des Kommissbrotes erheben nicht bloß sämtliche Com- (S 12) mandanten in ihren Meldungen Klage, sondern diese Deserteure geben als die nächste Veranlassung zur Entweichung mitunter nach Aussage des Glasers Washeim das Brot an Es ist zwar richtig, dass mehrmals schon über einzelne Leibchen sich beschwerend geäußert wurde, allein allgemeine Klage wurde nie gestellt, bis auf die letzte Zeit wo von Seiten des königlichen Festungskommandos so viel möglich Abhilfe geleistet wurde Da jedoch die Beschaffenheit des vorhandenen Mehles und Getreides nicht immer die Beste sein soll, so konnte bis jetzt allen Klagen und Beschwerden nicht ganz vorgebeugt werden V Eine der ersten Klagen soll Mangel der Beurlaubung der Mannschaft sein Wenngleich der Soldat während seiner 6 Dienstjahren die ganze Zeit hindurch sich zu jedem seinen Stande gemäßen Verrichtung gebrauchen lassen muss, so ist doch auf der anderen Seite notwendig, dass eine Gleichstellung sämtlicher dienstpflichtiger Mannschaft (S 13) des Königsreichs nach Möglichkeit beobachtet werde Ein ganzes Jahr hindurch laufen fast täglich Gesuche um Urlaub zum Dienste präsent gehaltener Mannschaft von Eltern, Anverwandten, Bürgermeistereien und selbst Landkommissariaten ein, worunter nicht selten dringende Familienangelegenheiten, Unterstützung hilfloser Eltern und Geschwister und Dergleichen vorliegen Während die Konzipierenden des Rheinkreises, welche der Zufall zur jenseitigen Regimente bestimmte, Monate fast jahrelang einen Urlaub genießen ist der Soldat der hiesigen Abteilungen präsent gehalten zum strengen Dienste verwendet und sieht sich sohin gegen seine Kammeraden, die nichts als
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der bilde Zufall einem anderen Regiment einverleibt zu sein voraus haben verkürzt Dieses verursacht nicht selten Missmut, Gleichgültigkeit zum Dienst und Mangel an Gehorsam Es ist eine alte Erfahrung, dass der Mensch, besonders der Ledige und noch nicht in das reife Alter getretene Mann nach Veränderungen strebt Als das 10te Linien- (S 14) Infanterie Regiment seine Bestimmung nach Amberg erhielt, stellte sich die auch dort eingetretene Desertion nach Frankreich ein, und vom Tage der Entscheidung der Marschorder ist nicht ein Mann nicht mehr entwichen Das hier gelegene 2 Jägerbataillon hat seine Bestimmung nur 7 Stunden von hier nach Speyer erhalten, mit Übernahme des Kommandos Germersheim, Oggersheim und Kaiserslautern So bedeutend auch die Desertion bei diesem Bataillon anfangs war so hat solches Zeit seinem Abmarsch bekanntlich nur mehr 3 Meineidige, und es ging allgemein die Sprache, dass die Mannschaft mit dieser Veränderung vollkommen zufrieden sei Dieses Verhältnis möchte fast auf den Schluss führen, dass die hiesige Garnison eine Ablösung im Dienste sehnlich wünsche, und das nur dieses stets festgehalten sein in einer Festung Veranlassung zur Entweichung gebe Zu diesem Schlusse mögen noch der weitere Umstand führen, dass bei den jenseitigen Regimentern die Desertion zu den seltenen Vergehen (S 15) gehöre, wovon das in hiesige Garnison verlegte Infanterieregiment früher wenig wusste, hier aber den übrigen Abteilungen nach und nach gleichzukommen scheint Einen weiteren Beweis möchte vielleicht noch der Umstand liefern, dass, solange die Sprache ging, auch das 6 Linieninfanterieregiment erhalte eine andere Bestimmung, die Desertion bedeutend nachließ Von dem Augenblicke an aber, als die Hoffnung zur Versetzung verschwand, solche wieder zunahm, und nun stets fortsetzt VI Eine auffallende Erscheinung bleibt es immer, dass nicht bloß diensttuende Mannschaft, sondern selbst Beurlaubte und Einsteher entweichen Es ist zwar schwer zu ergründen woher dieses Verhältnis rühren möge Bei reiferer und sorgfältiger Überlegung dürfte man den Grund hiervon im HEG13 finden Dieses gestattet jedem Konskribierten und jedem Umstand und für jeden Zeitraum der Dienstpflichtigkeit die Stellung eines Ersatzmannes Auf- (S 16) fallend ist es, dass fast kein Tag vergeht wo Nichteinstellungsgesuche eingereicht werden Jeder Konspirierte, der nicht besondere Neigung zum Militärstande hat, und nur einiges Vermögen besitzt, sucht alles Mögliche auf, um entweder ständigen Urlaub zu erhalten und erreicht hier seinen Zweck nicht, einen Ersatzmann zu stellen Nicht selten traf es sich schon, dass im Augenblicke der Verpflichtung, wo der Konspirierte die Bitte um ständigen Urlaub nicht gewährt erhielt, die Erklärung abgab er wolle sich einen Mann stellen; – ja es ist der Fall schon vorgekommen, dass vermögenslose Konspirierte von ihren Anverwandten das Einstandskapital
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Nicht geklärt
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vorgeschossen erhielten – man will sogar behaupten, dass das Einstandskapital sogar gelehnt wurden Nachdem nun zur Einreihung bloß die ärmere und ungebildetere Klasse der jungen Leute übrig bleibt, so lässt sich wohl denken, weil die vermögenden Ersatzleute stellen oder bei den Conscriptionsbehörden eher Gründe zur ständigen (S 17) Beurlaubung aufbringen können, dass jene wenig Interesse für das Vaterland und den Dienst haben, und bei jeder Unbehaglichkeit ihr Verhältnis zu verändern suchen Der arme und oft elternlose Soldat, wenn er seine Freiheit, die er im Zivilstande genoss, hier verkürzt sieht, sucht sein Los zu verbessern, ohne zu bedenken, welche nachteilige Folgen dieses nach sich ziehen möge, gibt den Vorspiegelung liederlicher Soldaten und vielleicht Alter bei den französischen Armee gestandene von Freiheitsschwindel beseelte Individuen Gehör geht nach dem nahegelegenen Frankreich und glaubt dort sein geträumtes Glück zu finden Der beabschiedete Soldat, welcher häufig vermögenslos ist, wird durch den längeren Dienst der Arbeit als Bauernknecht entwöhnt und versucht einzustehen, was hier im Rheinkreise umso leichter ist, als in jeder Garnison von verschiedenen Gegenden her sich Mäkler befinden, die sich rein mit diesem Geschäfte abgeben, davon leben, und die Mannschaft zum Einstellen mitunter aufheizen Das (S 18) Einstandskapital für einen Infanteristen beträgt 150 Gulden Bekanntlich wird für einen Einsteher unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen die Summe von 300 Gulden und noch mehr bezahlt Wenige und fast gar keine Einständevertrag kam noch vor in welchem die Kaution von 150 Gulden überschritten wäre Der Mäkler, schon vorher für seine Bemühungen hinlänglich honoriert, geht mit dem Einsteher zum Notar, schließt den Einstandsvertrag auf 150 Gulden ab, verschweigt ungeachtet jedes Vorhaltes über die Nachteile der Verheimlichung einer höheren Einstandssumme, den mit dem Einsteher abgeschlossenen Privatvertrag, zahlt diesem 150 Gulden und noch mehr auf die Hand und der Einsteher lässt sich verpflichten Kurze Zeit fällt das auf diese Art erworbene Geld an und sobald solches verprasst, und er auf seine Löhnung beschränkt ist tritt der Missmut ein und er sucht anderswo sein Heil Es kam auch schon der Fall vor, daß (S 19) der am Morgen verpflichtete Einsteher am Abend entwichen war Das auf die Hand erhaltene Geld war für diesen ein gefundenes Geld, durch einen falschen Eid leicht verdient, und es reichte zu um im Auslande sein Glück zu versuchen, wenn es auch keinen anderen Vorwand geben sollte, als die Welt zu sehen Nach eingezogenen Nachrichten sollen aber nicht alle Deserteure französische Kriegsdienste annehmen, im Gegenteil viele als Bauernknechte oder als Handwerksburschen sich beschäftigen Sehr wünschenswert möchte es daher erscheinen, wenn das Einstellen erschwert und das Handwerk der Mäkler, wogegen nur die allgemeine Stimme herrscht, niedergelegt werde
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VII Ein besonderes Hilfsmittel zur guten Ordnung und zur Mannszucht sind gute und brauchbare Unteroffiziere An diesen fängt es nun an nach und nach sehr zu mangeln Die stete Beschäftigung in der Kaserne der Mannschaft, das fast tägliche Exerzieren, das ganze Jahr hindurch wegen den immerwähren- (S 20) den Nachstellungen von Conscibierten, der Festungsdienst nehmen ihn fast immer in Anspruch und so sucht jeder, welcher einigermaßen befähigt glaubt, sein Los in der Gendarmerie zu verbessern und es wird dem Regimente schwer gut geübte und gedient Unteroffiziere zu erhalten VIII Die Erfahrung hatte schon vielfältig gezeigt, dass die ungebildete Klasse von Menschen nur durch die Furcht vor Strafe von Vergehungen abgehalten werde Die Strafen der erst- und zweitmaligen Desertion erscheinen äußerst gelinde und es hat sich oft bewährt, dass mit dem Eid für den Dienst gleichsam nur gespielt werde Der Begriff der Ehre ist bei der unteren Klasse von Menschen noch bei weitem nicht rege genug, und nur diffus kann sie von dem Schritte zur Desertion zurückhalten Die Erneuerung der Dienstzeit bringt ein solcher Mann wenig in Anschlag und die Vermögenskonfiskation im Falle der Aufgreifung oder der Sistierung14 nach 6 Wochen (S 21) kann nicht nachteilig einwirken, weil gewöhnliche solche Deserteure nichts besitzen IX Bei dieser Gelegenheit dürfte nicht unberührt bleibe, dass auch der enge Festungs-Rayon dahier einigen Druck auf die Mannschaft verursache, indem außer den Gärten ein paar unbedeutende Wirtshäuser jedes Dorf selbst Queichheim, eine viertel Stunde von der Stadt entlegen, ausgeschlossen ist Der Soldat ist sohin gezwungen einzig und allein sich in der Stadt aufzuhalten und auch nicht das geringste ländliche Vergnügen unter seinesgleichen bei Kirchweihen oder Tanzbelustigen zu genießen, was ihn auf der anderen Seite seinen Geist erheitern und den oft eingebildeten Druck vergessen machen würde Diese vorbemerkte Momente möchten teils einzeln, teils im Zusammenhange die einzige oder mitunter doch einigermaßen die Veranlassung zu den häufigen und fortgesetzten Desertionen sein Der Glasermeister Washeim bringt in seinen eidlichen Vernehmungen zwei Umstände vor, welche die Mannschaft des Regiments (S 22) bewegt zu entweichen, nämlich harte Behandlung der Soldaten durch einige Unteroffiziere und Misshandlung durch Stockstreiche Was den ersten Punkt betrifft, so ist bis zur Stunde noch nicht die geringste Beschwerde vorgekommen, die ich auf der Stelle untersucht und beahndet hätte Ich werde mir alle Mühe geben diesem Vorbringen auf den Grund zu gehen und wenn sich Spuren derlei Misshandlungen zeigen sollten sie abzustellen und streng zu bestrafen Was den zweiten Punkt, nämlich die Bestrafung durch Stockstreiche betrifft, so tritt diese Art von Be-
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Verhaftung
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ahndung gegenwärtig äußerst selten ein Vor mehreren Jahren hat die Stadt die Nachtschwärmerei und das mutwillige Wegbleiben von den Kompanien zu sehr überhandgenommen, dass ich die strengsten Maßregeln eintreten lassen musste, um diesen Unfuge zu steuern Ich verordnete damals, dass jeder derlei Expedient 25 Stockstreiche beahndet werde Nach kurzer Zeit haben diese Exzesse nachgelassen und ich habe auch mit dieser Beahndung eingehalten und gegenwärtig diese Übertretung nur bei denjenigen Individuen mit Stockstreichen bestraft bei welchen alle anderen Arreststrafen fruchtlos blieben Es ist sehr (S 23) leicht der Fall, dass Washeim gerade zufällig auf ein Individuum stieß, welches auf diese Art bestraft wurde, oder dass solches seine Desertion hierdurch zu beschönigen suchte Weder diesseits noch höherer Orts werden Klagen über Überschreitungen der Strafbefugnisse oder zweckwidrige Anwendung derselben vorliegen Der allerhöchsten Weisung zufolge nämlich auszumitteln, inwiefern Werbungen und Desertionsverleitungen stattfinden, glaube ich schon im Eingange des gegenwärtigen Berichtes gehorsamst entsprochen zu haben In Betreffe des Briefes des Korporals Bendle an seinen Bruder ist das Nötige mit den königlichen Staatsbehörde Kaiserslautern eingeleitet, und es wird der Erfolg hierüber in Anzeige gebracht werden Hinsichtlich der vorgebrachten Motive des Korporals Bendle die ihn zur Desertation veranlassten, dass er nämlich unter französischer Herrschaft geboren sei, dass er sich glücklich fühle für die Freiheit zu kämpfen etc , hierüber hat sich noch keine Spur ähnlichen Äußerungen oder Überredungsmittel an den Tag gegeben, und es war durch mündlichen Benehmen mit den übrigen Commadeurs dahier und mit (S 24) den Zivilbehörden kein Resultat zu gewinnen Im Gegenteil darf man annehmen, dass die Äußerung dieses Bendle mehr ein Ausbruch überspannter Ideen sei, oder vielleicht gar der Brief in einem exaltierten Zustand geschrieben wurde, da in demselben vom edlen Rebensaft der Champagne erwähnt wird Zur näheren Würdigung dieses Mannes wird dessen Grundliste mit Leumundszeugnis und Strafauszug gehorsamst angeschlossen15 Außerdem war in der Grundliste aufgeführt wird, kann über Bendle nichts besonders Nachteiliges berichtet werden Seine Desertion war durchaus nicht mit anderen Umständen verbunden, als dass er sich mit Korporal Friedrich Zimmermann aus der Garnison entfernte nach Zweibrücken begab und dort seine Militärkleidung mit Zivilkleidern vertauschte und so sein Vaterland verließ Herr Hauptmann Tünnermann hat den angezogenen Brief erhalten und solchen mit der Bemerkung übergeben die Erlaubnis zu erheben, über dem höchst unwahren Inhalt eine schriftliche Erklärung vermittels dem allerhöchsten Stelle vortragen zu dürfen
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Nicht in der Akte
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Da dieser dienstwidrig erscheint, so wurde dem Herrn Hauptmann dagegen bemerkt, seine allenfallsige Gründe hierzu anzu- (S 25) zeigen, was aber bis jetzt unterblieb Ein weiteres Verfahren muss sofort dem höheren Ermessen anheimgestellt werden Durch den gegenwärtigen gehorsamsten Bericht glaubt der gehorsamst Unterzeichnete nach Möglichkeit alles erschöpft zu haben, was bis jetzt diese häufigen Desertionen veranlasst haben möge, und schließt mit dem gehorsamsten bemerken, dass alles vorgetragene auf Tatsachen beruhe, dass hierin keine Übertreibung vorliege, im Gegenteil bei strenger und parteiloser Untersuchung dasselbe Resultat erfolgen müße Randbemerkungen S 1 Die 2te Infanterie Brigade An Das Königliche 4t4 Armee Divisions Commando Der hier neben vorgetragene Bericht erschöpft seinen Gegenstand so vollständig, dass sich demselben nur noch, die Versicherung mit ganz gleicher Ansicht mit dem Zusatz beifügen kann, ein Gleiches von dem Kommando des wredischen Infanterieregiments16 ebenfalls behaupten zu können Die körperlichen Strafen betreffend, (S 2) von denen hier auch die Rede ist, habe ich mir bei der unlängst beendigten Frühjahrsinspizierung die Überzeugung verschafft, dass dieselben durchaus nur nach dem Sinne der hierüber bestehenden Verordnungen und zwar sehr mäßig verhängt werden Klagen über Brot sind bei dieser Gelegenheit nur von einzelnen vorgekommen, die vielen hierüber Befragten waren damit zufrieden Zur Vermeidung, ja vielleicht gänzlichen Aufhören der Desertion in Landau dürften meiner vollsten Überzeugung nach folgende die einzigen, aber sichersten Mittel sein: 1 Verminderung des offenbar übertriebenen Garnisonsdienstes, 2 Eine Menagezulage17 und 3 Erhöhung der Monturraten18
16 17 18
9 Infanterie-Regiment „Wrede“ war ein Verband der Bayerischen Armee mit Friedensstandort in Würzburg Zulage zur Lebensführung Bekleidungszuschuß
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Die Kosten hierfür würden sicher durch jene eines abermaligen Garnisonswechsels der bekanntlich das Übel keineswegs gehoben hat, überstiegen werden Landau, den 19 Juli 1831 Theobald19 (General) (S 3) Das 4 Divisionskommando an seine Königliche Majestät von Bayern (Kriegsministerium) Das königliche 6 Infanterieregiment, Herzog Wilhelm, hat durch nebigen Bericht vom 16 dies die Veranlassung zur Desertionen, deren Zahl sich seit 02 Februar diesen Jahres auf 116 beläuft, umständlich erörtert und zugleich die Mittel angedeutet, wodurch die Desertion zu Landau vermieden oder doch wenigstens vermindert werden sollten Diesen Bericht samt den vom Brigadekommando hierüber geäußerten Ansichten und den Belegen bringe ich hiermit alle untertänigst in Vorlage Womit in tiefster Ehrfurcht erstirbt Würzburg, den 23 Juli 1831 Alleruntertänigst treu gehorsamster Tieberger20
19 20
Generalmajor Carl von Theobald, im Februar 1832 Kommandeur der 4 Armeedivision Nicht zu identifizieren
Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser Dr Thomas Fandel studierte Geschichte, katholische Theologie und Slawistik an der Theologischen Fakultät sowie der Universität Trier Er wurde dort mit einer Arbeit über „Konfession und Nationalsozialismus Evangelische und katholische Pfarrer in der Pfalz 1930–1939“ promoviert Nach einem Volontariat bei der Kirchenzeitung für das Bistum Speyer „Der Pilger“ arbeitete er von 1994 bis 2013 als Referent in der Bischöflichen Pressestelle Speyer 2014 übernahm er die Leitung des Bistumsarchivs Speyer Seit 2015 wirkt er zudem als Dozent für Diözesangeschichte am Bischöflichen Priesterseminar St German in Speyer Forschungsschwerpunkt ist das Verhältnis der beiden großen christlichen Konfessionen zum Nationalsozialismus Dr Dirk Hecht wurde 1968 in Hannover geboren Er studierte von 1993 bis 1999 Urund Frühgeschichte, Vorderasiatische Archäologie und Klassische Archäologie an der Universität Heidelberg Er schloss das Studium mit einer Magisterarbeit über die endneolithische Besiedlung des Atzelberges bei Ilvesheim ab 2005 promovierte er über das „Schnurkeramische Siedlungswesen im südlichen Mitteleuropa“ Hecht nahm an zahlreichen Ausgrabungen im In- und Ausland teil und war von 1996 bis 2009 freiberuflicher Mitarbeiter bei den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim Seit 2009 ist er Leiter des Stadtarchivs von Schriesheim, seit 2014 zudem Gemeindearchivar von Edingen-Neckarhausen Tobias Hirschmüller, M A , hat an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Neuere und Neuste Geschichte, Alte Geschichte und Politikwissenschaft studiert Seit 2011 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt „Edition der Akten der provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/49“ unter der Leitung von Professor Dr Karsten Ruppert In diesem Rahmen arbeitet er an seiner Promotion über Erzherzog Johann von Österreich als Reichsverweser Er hat bereits mehrere Veröffentlichungen zu deutschen Erinnerungskulturen im 19 und 20 Jahrhundert, zur Regionalgeschichte des Ersten Weltkrieges sowie zur deutschsprachigen jüdischen Presse vorgelegt Richard Höter hat nach einem Bachelorstudium der Philosophie und Geschichtswissenschaften an der Universität Greifswald ein Masterstudium der Geschichtswis-
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Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser
senschaften aufgenommen, das er nach einem Aufenthalt an der Leibniz Universität Hannover an der Universität Greifswald abgeschlossen hat Sein Beitrag ist eine Zusammenfassung seiner Masterarbeit Nach seinem Studium hat er bei der Historischen Kommunikation der Volkswagen AG gearbeitet Eine dort erstellte Studie wurde Ende 2018 mit dem Ivan-Hirst-Preis ausgezeichnet Auch der Beitrag von Kathrin Kiefer, M A , ist die Zusammenfassung einer umfangreicheren Untersuchung, die sie als Mitglied der Forschergruppe „Eltern und Kinder im Krieg“, die unter Leitung von PD Dr Markus Raasch am Arbeitsbereich Zeitgeschichte der Universität Mainz angesiedelt ist, anfertigte Dort hat sie auch ihr Studium der Fächer Geschichte, Theologie und Germanistik sowohl mit einem Master of Arts als auch einem Master of Education abgeschlossen Seit 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Prof Dr Katja Patzel-Mattern) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und verfasst im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts “Frühe Kindheit im Wandel” eine Dissertation zur Kleinkindbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland Ebenfalls an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz hat Michael Martin, geb 1947 in Baden-Baden, Geschichte studiert, dazu Französisch wie Buch-, Schrift- und Druckwesen Nach der Promotion von 1978 hat er die Ausbildung zum Archivar des Höheren Dienstes absolviert Er war zunächst Stellvertretender Leiter des Stadtarchivs Mannheim und dann von 1988–2012 Leiter des Stadtarchivs und Museums in Landau Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Stadt Landau wie der Pfalz und die deutsch-französischen Beziehungen PD Dr Markus Raasch studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf Dort 2006 mit einer Arbeit zur Mentalitätsgeschichte der deutschen Industriegesellschaft am Beispiel des rheinischen Dormagen zwischen 1917 und 1997 promoviert Seit 2006 war er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte (Prof Dr Karsten Ruppert) der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Diese Laufbahn schloss er 2012 mit der Habilitationsschrift „Der Adel auf dem Feld der Politik Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890)“ ab Danach arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter Zeitgeschichte der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz bei Prof Dr Michael Kißener Zuletzt vertrat er dessen Lehrstuhl und den für die Geschichte der Neuzeit an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität Bonn Zur Zeit leitet er ein Projekt über die Stadt Neustadt an der Weinstraße in der Zeit des Nationalsozialismus Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u a Adel, (politischer) Katholizismus, Geschlechterverhältnisse sowie Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, vor allem Kinder im Krieg
Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser
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Ulrich Andreas Wien, geboren 1963 in Speyer, studierte Alte, Mittlere und Neue Geschichte, Politische Wissenschaften und Anglistik in Mannheim und Freiburg, dazu Evangelische Theologie in Heidelberg und Tübingen Es folgten das Vikariat in der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche) und die anschließende Ordination 1997 Im Jahr danach wurde er bei Prof Dr Dr h c mult A M Ritter an der Universität Heidelberg mit einem Thema zur siebenbürgisch-sächsischen Kirchlichen Zeitgeschichte promoviert Seit 1998 ist er Akademischer Rat und seit 2015 Akademischer Direktor am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Er ist Mitglied mehrerer landes- und kirchengeschichtlicher Arbeitskreise wie Kommissionen Seine Forschungsschwerpunkte sind Siebenbürgische Landeskunde der Frühen Neuzeit und des 20 Jahrhunderts und Regionalkirchengeschichte der Pfalz im 16 und 20 Jahrhundert Hannes Ziegler, geboren 1953 in Landau, hat in Freiburg, Wien und Mainz Germanistik, Geschichte und Politik studiert In Mainz wurde er 1984 mit einer Arbeit über „Die Jahre der Reaktion in der Pfalz (1849–1853) nach der Mairevolution von 1849“ promoviert Nach dem höheren Schuldienst in Rheinland-Pfalz hat er sich 2018 in Berlin niedergelassen Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Pfalz
Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.)
Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort Weimarer Schriften zur republik - band 6 XXVI, 326 Seiten mit 3 s/w-Abbildungen € 49,– 978-3-515-12219-1 kartoniert 978-3-515-12230-6 e-book
Im Jahr ihres Zentenariums hört die Novemberrevolution zusehends auf, eine „vergessene Revolution“ (Alexander Gallus, 2010) zu sein. In Wissenschaft und Öffentlichkeit wächst die Einsicht, dass der Aufbruch in die erste parlamentarische Demokratie Deutschlands mehr war als eine halbe, stecken gebliebene oder gar verratene Revolution. Stattdessen gelang es, unter der Last eines verlorenen Krieges und seiner bedrohlichen Friedensverhandlungen, unter den Bedingungen sozialer Not und Ungewissheit und unter beständiger politischer Unruhe und der Gefahr eines revolutionären Bürgerkrieges die am 9. November 1918 ausgerufene ‚deutsche Republik‘ zu konsolidieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes leisten eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme der aktuellen Forschungen zur November-
revolution und weisen neue Fragestellungen und Herangehensweisen aus. Sie untersuchen zudem, warum die erste erfolgreiche demokratische Revolution bislang einen so schweren Stand im Erinnerungshaushalt der Deutschen hatte und fragen danach, ob sie nicht doch ein demokratischer Erinnerungsort sein könnte. mit beiträgen von Andreas Braune & Michael Dreyer, Lothar Machtan, Detlef Lehnert, Gleb J. Albert, Walter Mühlhausen, Jens Hacke, Kirsten Heinsohn, Peter Keller, Ingrid Sharp, Wolfram Pyta, Nadine Rossol, Mark Jones, Heidrun Kämper, Manfred Baldus, Daniel Siemens, Helmuth Kiesel, Karl Heinrich Pohl, Wolfgang Niess, Martin Sabrow
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
Patrick Rössler / Klaus Kamps / Gerhard Vowe
Weimar 1924 Wie Bauhauskünstler die Massenmedien sahen Die Meistermappe zum Geburtstag von Walter Gropius WeImArer schrIften zur republIk - bAnd 7 2019. 208 Seiten mit zahlreichen Farb- und s/w-Abbildungen 978-3-515-12281-8 gebunden
Zum 41. Geburtstag im Jahr 1924 schenkten sechs Bauhaus-Meister ihrem Direktor Walter Gropius eine Mappe mit eigens geschaffenen Bildern. Auf Anregung von László Moholy-Nagy variierten Lyonel Feininger, Wassili Kandinsky, Paul Klee, Georg Muche, Oskar Schlemmer und er selbst ein Motiv des Pressefotografen John Graudenz. Dies zeigte die erste öffentliche Übertragung von Ergebnissen einer Reichstagswahl durch das Radio in Berlin. Entstanden ist ein Meisterwerk im wahrsten Sinne des Wortes: ein Kaleidoskop unterschiedlicher Sichtweisen dieses Übergangs von der Pressewelt in eine Radiowelt – und gleichzeitig Schlüsselbilder für die moderne Demokratie und die Gemeinschaft von Künstlerpersönlichkeiten. Die Mappe für Walter Gropius bildet den Ausgangspunkt für diese multiperspektivische Studie. Sie widmet sich zum einen der Darstellung von Politik und Massenkommu-
nikation durch Künstler der Avantgarde. Zum anderen dient die Mappe als Projektionsfläche für weitergehende Überlegungen bis in die Gegenwart hinein. Insofern wiederholen die Autoren dieses Bandes das Vorgehen der Bauhauskünstler mit dem Foto: eine Reflexion jedes einzelnen Bildes aus der individuellen Sicht von Politik, Medien- und Kunstgeschichte. Aus dem InhAlt Zur Einführung | Der Fotograf: John Graudenz (1884–1942) | Der Initiator: László Moholy-Nagy (1895–1946) | Der Anatom: Oskar Schlemmer (1888–1943) | Der Rufer: Paul Klee (1879–1940) | Der Dirigent: Georg Muche (1895–1987) | Der Musiker: Wassily Kandinsky (1866–1944) | Der Träumer: Lyonel Feininger (1871–1956) | Die Gemeinschaft | Anmerkungen | Literatur
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Sebastian Schäfer
Rudolf Olden – Journalist und Pazifist Vom Unpolitischen zum Pan-Europäer. Moralische Erneuerung im Zeichen moderner Kulturkritik WeImArer schrIften zur republIk - bAnd 8 2019. 438 Seiten 978-3-515-12393-8 kArtOnIert 978-3-515-12398-3 e-bOOk
Rudolf Olden war einer der führenden liberalen Redakteure der Zwischenkriegszeit. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1926 aus Wien nach Deutschland zurückgekehrt, engagierte sich der Journalist des Berliner Tageblatts auch als Jurist und Schriftsteller gegen den neuen Nationalismus und für Demokratie und Menschenrechte. Als Rechtsanwalt vertrat Olden an prominenter Stelle den Pazifisten Carl von Ossietzky während des Weltbühne-Prozesses – dennoch dürfte er einem breiteren Publikum bis heute gänzlich unbekannt geblieben sein. Sebastian Schäfer würdigt mit dieser Biographie Rudolf Olden als einen politischen Intellektuellen und verknüpft dabei die historische Friedensforschung mit der Intellektuellengeschichte. Schäfer zeichnet Oldens Rolle als Pazifist in der heterogenen Friedensbewegung der 1920er Jahre nach. Anhand innen- und außenpolitischer Diskurse der Weimarer Republik arbeitet er dessen
Vorstellungen einer friedlichen Gesellschaft heraus, erfragt intellektuelle Prägungen und prüft die Repräsentativität seiner Positionen – und zeigt so den engen Zusammenhang von Oldens pazifistischer Grundidee mit dem europäischen Einigungsgedanken auf. Aus dem InhAlt Die bürgerliche Utopie zerbricht – Pazifismus im Weltkrieg | Der Literat – Olden und das junge Wien | Der Soldat – Politisierung im Schützengraben? | Wiener Jahre (1919–1926) | Berliner Jahre (1926–1933) | Ausblick – Londoner Exil (1933–1940) | Bibliographie der AutOr Sebastian Schäfer, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte mit Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz und der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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Aufsätze Hannes Ziegler Der Weg zur Pfälzischen Mairevolution von 1849 Richard Höter „Freiheit einem Jedem, vor Allem aber uns!“: Das Publikum der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Tobias Hirschmüller Ein Maßstab für die transatlantische Kooperation? Die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika in der westdeutschen Erinnerungskultur an die Revolution von 1848/1849 Ulrich A. Wien Entwicklung von Nationalbewusstsein und ethnischer Identität in Südosteuropa: Das Beispiel des Karpatenbogens
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Dirk Hecht Diplomatie, Krieg und Waffenstillstand: Das Leben des Diplomaten Alfred Graf von Oberndorff Thomas Fandel „Denn im Konzentrationslager ist man bald!“: Die Aufzeichnungen des Königsbacher Pfarrers Jakob Martin im „Dritten Reich“ Markus Raasch Schule im Weltkrieg: Eine vergleichende Perspektive Kathrin Kiefer Geschwisterbeziehungen im Zweiten Weltkrieg: Zur Bedeutung von Familienmitgliedern in Krisenzeiten Forum Michael Martin Bericht des Kommandanten der Festung Landau vom Jahre 1831 über Desertionen
ISBN 978-3-515-12767-7
9 783515 127677