Innovationsuniversität Halle?: Neuheit und Innovation als historische und als historiographische Kategorien 9783110682076, 9783110668209, 9783110682212, 2020944109

Found in 1694, the University of Halle is considered the birthplace of the German Enlightenment. Which claims to new kno

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German Pages 334 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Innovationsuniversität Halle? Einleitende Bemerkungen
Vorstellungen und Wahrnehmungen von Neuerung/Innovation – historisch und historiographisch
Innovation durch Innovationsansprüche. Prä-, proto- und anti-aufklärerische Selbstpositionierungen in der Frühzeit der Fridericiana
Novationes und Novatores. Zum Wandel in der Bewertung des Neuen im Kontext der Frühzeit der Universität Halle
„Wie es denn leichter ist, eine neu angelegte academie in eine gute ordnung zu setzen als die alte zu reinigen“ – Philipp Jakob Speners Überlegungen zur Verbesserung der Kirche auf dem Weg zur Universität Halle als ‚Reformuniversität‘
The Wunderkind, redefined: Jean-Philippe Baratier’s projects and Halle’s “culture of innovation”
Die Fridericiana in der Krise? Frequenz und Flor als Kriterien für den Erfolg einer frühneuzeitlichen Universität am Beispiel der Alma Mater halensis
Fakultäten und Lehrgebiete
When Innovation Goes out of Fashion: Joachim Lange’s (1670–1744) Lectures to Empty Benches
Naturrecht als Grundlage. Die Naturrechtslehren in der Anfangsphase der Fridericiana
Die Universitäten Halle und Wittenberg – Aufbruch versus Beharrung? Ein Vergleich der Vorlesungsverzeichnisse der Juristischen Fakultäten (1694–1740)
The Powers of the Soul. Tradition and Innovation in the Medicine of 18th Century Halle
Die Historia literaria als Lehrfach an der Fridericiana
„daß mich Gott der Universität gewiedmet hätte“. Christian Wolff und die Erfindung der allgemeinen praktischen Philosophie
Zwischen innovativem Republikanismus und orientalischem Atheismus. Zur (Vor-)Geschichte des Streites um die chinesische Philosophie in der Frühzeit der Universität Halle
Innovative Wirkungen in die Stadt hinein?
Freimeister und Entrepreneurs. Innovation und Konkurrenz in Wirtschaft und Gewerbe der jungen Universitätsstadt Halle
Abbildungsnachweis
Personenregister
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Innovationsuniversität Halle?: Neuheit und Innovation als historische und als historiographische Kategorien
 9783110682076, 9783110668209, 9783110682212, 2020944109

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Innovationsuniversität Halle? Neuheit und Innovation als historische und als historiographische Kategorien

Herausgegeben von Daniel Fulda und Andreas Pečar

De Gruyter

Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth Décultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Ottfried Fraisse, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Heiner F. Klemme, Till Kössler, Andreas Pečar, Jürgen Stolzenberg, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Anke Berghaus-Sprengel, Albrecht Beutel, Ann M. Blair, Michel Delon, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Brigitte Mang, Steffen Martus, Laura Stevens Redaktion: Andrea Thiele Druckvorlage: Nancy Thomas

ISBN 978-3-11-066820-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068207-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068221-2 ISSN 0948-6070

Library of Congress Control Number: 2020944109 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt

DANIEL FULDA / ANDREAS PEČAR Innovationsuniversität Halle? Einleitende Bemerkung ................................................... 1

Vorstellungen und Wahrnehmungen von Neuerung/Innovation – historisch und historiographisch DANIEL FULDA Innovation durch Innovationsansprüche. Prä-, proto- und anti-aufklärerische Selbstpositionierungen in der Frühzeit der Fridericiana..............................................................................................................17 KAY ZENKER Novationes und Novatores. Zum Wandel in der Bewertung des Neuen im Kontext der Frühzeit der Universität Halle ....................................................................53 KLAUS VOM ORDE „Wie es denn leichter ist, eine neu angelegte academia in eine gute ordnung zu setzen als die alte zu reinigen“ – Philipp Jakob Speners Überlegungen zur Verbesserung der Kirche auf dem Weg zur Universität Halle als ‚Reformuniversität‘ ..................................................................................................89 KELLY J. WHITMER The Wunderkind, redefined: Jean-Philippe Baratier’s projects and Halle’s “culture of innovation” ................................................................................................105 MARIANNE TAATZ-JACOBI Die Fridericiana in der Krise? Frequenz und Flor als Kriterien für die Innovativität einer frühneuzeitlichen Universität am Beispiel der Alma mater hallensis ........................................................................................... ..127

Fakultäten und Lehrgebiete SIMON GROTE When Academic Innovation Goes out of Fashion: Joachim Lange’s (1670–1744) Lectures to Empty Benches .........................................................................................147

VI

Inhalt

FRANK GRUNERT Naturrecht als Grundlage. Die Naturrechtslehren in der Anfangsphase der Fridericiana ......................................173 ANDREAS PEČAR Die Universitäten Halle und Wittenberg – Aufbruch versus Beharrung? ein Vergleich der Vorlesungsverzeichnisse der Juristischen Fakultäten (1694–1740) .............................................................................................................. ..195 FRANCESCO PAOLO DE CEGLIA The Powers of the Soul. Tradition and Innovation in the Medicine of 18th Century Halle ......................................................................................................227 FRANK GRUNERT Historia literaria als Lehrfach an der Fridericiana ........................................................239 HEINER F. KLEMME „daß mich Gott der Universität gewiedmet hätte“. Christian Wolff und die Erfindung der allgemeinen praktischen Philosophie.............................................261 AXEL RÜDIGER Zwischen innovativem Republikanismus und orientalischem Atheismus. Zur (Vor-)Geschichte des Streites um die chinesische Philosophie in der Frühzeit der Universität Halle ...........................................................................275

Innovative Wirkungen in die Stadt hinein? ANDREA THIELE Freimeister und Entrepreneurs. Innovation und Konkurrenz in Wirtschaft und Gewerbe der jungen Universitätsstadt Halle.................................................................................................303

Abbildungsnachweis....................................................................................................321 Personenregister ..........................................................................................................323

DANIEL FULDA / ANDREAS PEČAR

Innovationsuniversität Halle? Einleitende Bemerkungen Die Universität Halle ist, gemessen an ihrem Alter, innerhalb des Alten Reiches eine späte, die dreiunddreißigste Gründung. In Brandenburg-Preußen ist sie die viertälteste Universität, nach Frankfurt an der Oder (gegründet 1506), Königsberg (1544) und Duisburg (1655). Auch im unmittelbaren Umland gab es bereits prominente Universitäten: in Erfurt (1392), Leipzig (1409), Wittenberg (1502) und Jena (1558). Doch in der Universitätsgeschichte wird Halle nicht in die Tradition bereits bestehender Universitäten eingeordnet. Stattdessen sieht man in der 1694 gegründeten Fridericiana in Halle einen Neubeginn.1 Mit ihr sei die erste „Reformuniversität der Aufklärung“ ins Leben gerufen worden – später seien dann Göttingen (1737) und schließlich Berlin (1810) gefolgt.2 Dieser Neubeginn wird in desto helleren Farben gemalt, je schwärzer man ansonsten den Zustand der deutschen Universitäten um 1700 beschreibt. Notker Hammerstein spricht für die Zeit um 1700 von der „dahinsiechenden Universität“ und von „verrufenen Anstalten“,3 auch in den Handbüchern zur Bildungsgeschichte hat sich das Bild etabliert, die Universität sei zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine sozial und intellektuell erstarrte Einrichtung gewesen, von der keine geistigen Impulse mehr ausgingen.4 Der Universität Halle und ihrem geistigen Gründer, Christian Thomasius, wurde die Rolle zuerkannt, dieser erstarrten Universität neues Leben eingehaucht zu haben: „Die Fridericiana wurde insoweit nicht nur Vorbild für alle protestantischen Universitäten des Reichs, sondern sie verjüngte, sie belebte die ‚verstaubte‘, ‚barbarische‘ abständig scheinende Institution Universität insgesamt“.5 1

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So zumindest Notker Hammerstein: Zur Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Ders.: Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, hg. v. Ulrich Muhlack u. Gerrit Walther. Berlin 2000, S. 11–42, hier S. 11. So das historiographische Muster z.B. bei Anton Schindling: Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich im Zeitalter der Aufklärung. In: Notker Hammerstein (Hg.): Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, S. 9–19, hier S. 15–17, die Zitate S. 19. Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, S. 148. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert: vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, hg. v. Notker Hammerstein u. Ulrich Hermann. München 2005, S. 369–399. Hammerstein: Die deutschen Universitäten im Zeitalter der Aufklärung, in: Ders.: Res publica litteraria, S. 160–174, hier S. 161. Ähnlich auch noch Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 107. Siehe auch: Günter Schenk u. Regina Meÿer: Die Philosophische Fakultät der Fridericiana: von ihrer Gründung 1694 bis zur Schließung 1806 – ein Überblick. Halle 2011 (mit nützlichen Kurzbiographien, einer Aufstellung der von den Professoren herausgegeben Zeitschriften und weiteren Listen).

https://doi.org/10.1515/9783110682076-001

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Daniel Fulda und Andreas Pečar

Es werden in der Universitätsgeschichte ganz unterschiedliche Bereiche genannt, in denen der Universität Halle innovative, modernisierende Impulse zugeschrieben werden, und unterschiedliche Akteure identifiziert, denen man Reform- und Neuerungsabsichten unterstellt. 1. War es die Absicht des Gründungsherrn und Namensgebers der Universität, Friedrichs III., mit der Gründung der Universität zugleich ein Reformprojekt zu verwirklichen? Steffen Martus deutet die Gründung der Universität Halle als „politisches Experiment“ und sieht in ihr eine Einrichtung, die gut zu den „Reformideen Friedrichs III. passte“.6 Das Kurfürstentum sieht er bestimmt durch eine „neue Politik auf dem Weg zur Aufklärung“, und der Universität Halle schreibt er für diese neue Politik eine zentrale Rolle zu.7 Ältere Deutungen zur Gründungsgeschichte der Universität Halle betonen in diesem Zusammenhang gleichfalls die Reformabsichten von Landesherrn und Regierung in Brandenburg-Preußen, legen den Akzent aber besonders auf die Förderung praktisch wirksamer Frömmigkeit im Zeichen des Pietismus.8 2. Als der eigentliche Urheber innovativer Reformideen, die bei der Gründung der Universität in Halle Wirklichkeit wurden, wird in der Forschung beinahe unisono Christian Thomasius genannt. Für Hammerstein ist er aufgrund der von Halle ausgehenden Innovationen ein „zweiter Praeceptor Germaniae“, dem die deutschen Universitäten letztlich ihre Rettung verdankten.9 Ihr besonderes Profil und das schnell erworbene Renommee habe die Universität Halle gerade dadurch gewonnen, dass sie bewusst anders konzipiert worden sei als die bereits etablierten Landesuniversitäten: mit einem galanten Wissenschaftsideal, mit einem an Praxistauglichkeit und Nützlichkeit orientierten Lehrprofil, mit einer Zurückweisung des exklusiven Wahrheitsanspruchs der Theologie, insbesondere seitens der lutherischen Orthodoxie.10 3. Die neuen Verhältnisse an der Universität Halle zeigen sich, folgt man der gängigen Universitätsgeschichtsschreibung, auch darin, dass jahrhundertelange Traditionen ins Wanken gerieten und neue Hierarchien sich etablierten. Dies wird insbesondere für die Hierarchie der Fakultäten und den damit einhergehenden epistemologischen Status der in Halle gelehrten akademischen Fächer beha uptet. 6 7 8

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Martus: Aufklärung, S. 107. Ebd. S. 110. Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiössoziale Reformbewegung. Göttingen 1971; Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.). Göttingen 1961; hierzu skeptisch Veronika Abrecht Birkner, Udo Sträter: Lutherische Orthodoxie in Halle – theologische Profile, Frömmigkeit und die Auseinandersetzung mit den Pietisten. In: Werner Freitag, Andreas Ranft (Hg.): Geschichte der Stadt Halle. Bd. 1–2. Halle 2006, Bd. 1, S. 333–349, hier S. 344–346; Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2014. Hammerstein: Jus und Historie, S. 149. Ebd., S. 148–155.

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In Halle habe die Juristische Fakultät die Theologische Fakultät an der Spitze abgelöst, so lautet eine immer wiederkehrende These, die mit der höheren Besoldung der Juraprofessoren begründet wird.11 In Halle seien ferner neue Fächer und Inhalte zum Durchbruch gelangt – Naturrecht, Reichsgeschichte, Kameralistik, Pädagogik – und hätten damit über ein Jahrhundert lang die Lehre an allen protestantischen Universitäten geprägt.12 Die Universität Halle wurde zur Verkörperung zeitgenössischer Strömungen und Weltbilder erklärt, von denen sich insbesondere das Begriffspaar Aufklärung und Pietismus als Beschreibung des Markenkerns dieser Universität bis heute durchgesetzt hat.13 In Halle hätten sich schließlich neue, zukunftsweisende Einrichtungen etabliert wie das Seminarium Praeceptorum, das innerhalb des neu gegründeten hallischen Waisenhauses der Lehrerausbildung diente.14 4. Zur Erzählung von der Reformuniversität Halle in der Universitätsgeschichte gehört allerdings auch, dass die Zeitspanne, in der man Halle Innovation und Neuerungsimpulse für die deutschen Universitäten insgesamt bescheinigte, begrenzt war. Je nach Autor endete die Glanzzeit der Universität entweder 1723 mit der Vertreibung des Mathematikprofessors und Philosophen Christian Wolff aus Halle und Preußen oder aber mit Beginn der 1730er Jahre. Als Krisenursachen werden ausgemacht: die Beschneidung der akademischen Lehrfreiheit durch die hallischen Pietisten im Zusammenspiel mit einem hochschulpolitisch überforderten König, Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg-Preußen, der Tod der großen Heroen der Universität, allen voran Christian Thomasius’ und August Hermann Franckes, sowie weiterer großer Gelehrter aus der Gründungsgeneration, die nicht mehr adäquat ersetzt werden konnten, und schließlich der Verlust des eigenen Status als aufgeklärter Leuchtturm; eine Funktion, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts an die neue Universität Göttingen übergegangen sei.15

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Vgl. Notker Hammerstein: Halles Ort in der deutschen Universitätslandschaft der Frühen Neuzeit. In: Günter Jerouschek u. Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Zur Dreihundertjahrfeier im Auftrag des Rektors hg. unter Mitarb. von Michael Beintker [u.a.]. Hanau, Halle 1994, S. 18–29, hier S. 25 sowie den Beitrag von Andreas Pečar in diesem Band. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2, S. 376f. Vgl. Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989. Vgl. hierzu Berthold Ebert: Das „Seminarium praeceptorum“ August Hermann Franckes. Zur Geschichte der Lehrerbildung in den Franckeschen Stiftungen, in: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Halle (Saale) 1997, S. 105–121. Vgl. nur exemplarisch die klassische Darstellung zur Universitätsgeschichte; Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde. Berlin 1894, hier Bd. 1, S. 219–226 und 269. Vgl. ferner den Beitrag von Marianne Taatz-Jacobi in diesem Band.

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Daniel Fulda und Andreas Pečar

Wenn im Zusammenhang mit der Universität Halle von der „damals modernsten Universität“16 die Rede ist und man sie, wie gerade dargelegt, in Zusammenhang mit Innovation in zahlreichen unterschiedlichen Bereichen bringt, dann sollte eine Erörterung dieser Annahme mit einer vorläufigen Klärung der verwendeten Begriffe beginnen. Das Diktum von der „damals modernsten Universität“ in Deutschland rückt die neugegründete Universität in Halle in einen Zusammenhang mit einem neuzeitlichen Universitätsverständnis, das diese Institution untrennbar verknüpft sieht mit der Einheit von Forschung und Lehre, mit der Vorstellung von der Freiheit der Wissenschaft, mit der akademischen Aufgabe, kritisches Denken zu fördern, also dadurch Erkenntnis zu generieren, dass althergebrachte Traditionen, Ansichten und Routinen sowie Autoritäten geprüft und gegebenenfalls auch in Frage gestellt werden. Erstmalig wird die Verwirklichung einer solchen Konzeption von Universität und Wissenschaft für die Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität angenommen, die nach den Vorstellungen Wilhelm von Humboldts gegründet worden sei. Diese Universität verdanke sich, so die gängige Erzählung in der Universitätsgeschichte, zwei älteren Vorläufern, nämlich Halle und Göttingen. Wenn Halle um 1700 die „damals modernste Universität“ gewesen sei, so wird dies um 1750 für Göttingen behauptet und um 1810 für Berlin. Um diese Genealogie einer kritischen Prüfung zu unterziehen, müsste man neben der Universität Halle auch die Universitäten in Göttingen und in Berlin in die Betrachtung mit einbeziehen. Dies war nicht die Aufgabenstellung des hier vorliegenden Bandes. Uns geht es im Folgenden darum, das Phänomen und den Begriff der Innovation zur Beschreibung akademischer Diskurse und Praktiken in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts genauer in den Blick zu nehmen. Die etablierte Erzählung von der besonderen Rolle der Universität Halle für die Modernisierung der Universitäten insgesamt, wie sie bereits dargelegt wurde, fußt auf zahlreichen Innovationsbehauptungen. Der Begriff Innovation selbst wird indes nur selten verwendet, und eine Reflexion dieses Begriffs und der mit ihm einhergehenden Implikationen findet gleichfalls nicht statt. Daher bedarf es hier einiger grundsätzlicher Überlegungen. Innovation heißt zunächst schlicht Erneuerung. Belegt ist der Begriff bereits in der Frühen Neuzeit, aber er wird zunächst nicht mit emphatischem Akzent verwendet, sondern hat einen pejorativen Beiklang.17 Terminologisch scheint der 16 17

Michael Stolleis: Reichspublizistik und Policeywissenschaft: 1600–1800 (Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1). München 1988, S. 298f. Vgl. beispielsweise Wolf Helmhard von Hohberg: Georgica Curiosa […]. Nürnberg 1682, Bd. 1, S. 34: „Unter den Regalien/ die/ vom Landes-Fürsten/ den Land-Ständen und Vasallen verliehen werden/ sind die Land-Gerichte/ Forst-Recht/ Wild-Bahn/ Fischereyen/ Mauten/ Affterlehenschafften und dergleichen/ doch daß bey den alten hergebrachten Gebräuchen sein Verbleiben/ auch keiner Macht habe/ neue Mauten und Zöll/ oder sonst einige Innovationen anzurichten.“ Mehr zur frühen Begriffsgeschichte im Beitrag von Daniel Fulda.

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Begriff zuerst in der Nationalökonomie verwendet worden zu sein. Insbesondere Joseph Schumpeter geht in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung der Frage nach, wie sich in der Wirtschaft Neues durchsetzt – neue Produkte ebenso wie neue Produktionsverfahren. Nicht die Erfindung selbst steht für ihn im Zentrum des Interesses, sondern die Umsetzung neuer Ideen in Produkte und Produktionsverfahren. Für Schumpeter ist es insbesondere der Unternehmer, der als Urheber von Innovation zu gelten hat.18 Eingebettet ist diese Konzeption in eine letztlich modernisierungstheoretische Weltsicht, in der Wandel und Veränderung als Fortschrittsprozess gedeutet werden und es darum geht, die treibenden Kräfte dieses Fortschritts ausfindig zu machen. Deren Leistung wird mit dem Begriff Innovation gekennzeichnet. In der klassischen Ideengeschichte sind es insbesondere das Auftauchen und das Formulieren neuer Ideen, wissenschaftlicher Konzepte und Deutungen, worauf sich die Forscher konzentrieren. Diese neuen Ideen werden in der Regel als persönliche Leistung großer Denker verbucht, d.h. Ideengeschichte ist zu einem großen Teil eine Heroengeschichte großer Geister. Bücher mit Titeln wie „Staatsdenker in der Frühen Neuzeit“ sind die Ergebnisse dieser Art von Geschichtsbetrachtung.19 In diesem Band finden immerhin zwei Professoren der Universität Halle Aufnahme: Christian Thomasius und Christian Wolff. Die Ideengeschichte ist bemüht, die vielfältigen Äußerungen, Schriften und Deutungen eines Autors als Werk, als persönliche Lebensleistung zu verstehen und auf Kohärenz bzw. auf Veränderungen hin zu prüfen, die dann meist als Folge biographischer Entwicklungen gedeutet werden. Diese Autor- und personenzentrierte Perspektive hat in den vergangenen Jahrzehnten aus unterschiedlichen Richtungen Kritik erfahren.20 In der bis heute etablierten Erzählung von der Universität Halle als Neubeginn und von Christian Thomasius als geistigem Urheber des Reform- und Innovationsprogramms ist diese ältere Konzeption von Ideengeschichte aber lebendig geblieben. Eine Art Spezialfall der Ideengeschichte ist die Wissenschaftsgeschichte. Die Entwicklungsgeschichte der (Natur)-Wissenschaften in der Frühen Neuzeit trug lange den Titel ‚wissenschaftliche Revolution‘.21 Der Durchbruch neuer Weltbilder und Erklärungsmuster für die belebte wie die unbelebte Natur im 17. und 18. Jahrhundert wurde als Revolution verstanden, und es war bereits im 18. Jahrhundert 18

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Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 9. Aufl., unveränderter Nachdruck der 1934 erschienenen 4. Aufl. Berlin 1997 [1934]. Die erste Auflage erschien 1911. Michael Stolleis: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. München 1995. Vgl. nur exemplarisch Quentin Skinner: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, in: Ders.: Visionen des Politischen, hg. v. Marion Heinz und Martin Ruehl, Frankfurt a.M. 2009, S. 21–63; Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund? Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002. Vgl. Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. A. d. Amerik. von Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 1998 [amerik. Orig. 1996].

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üblich, als Vorkämpfer dieser Revolution einige Gelehrte besonders hervorzuheben: Francis Bacon, Galileo Galilei, Isaak Newton für die Physik, Baruch de Spinoza, René Descartes, John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz für die Philosophie. Auch wenn diese Helden in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Universität Halle stehen, so wird insbesondere der ersten Generation der hallischen Professoren in zahlreichen Fällen das Prädikat zuerkannt, zur Entwicklungsgeschichte ihrer jeweiligen Fächer einen grundlegenden Beitrag geleistet zu haben: seien es Georg Ernst Stahl und Friedrich Hoffmann in der Medizin, Samuel Stryk, Nicolaus Hieronymus Gundling oder Johann Peter von Ludewig in der Jurisprudenz, August Hermann Francke und Joachim Justus Breithaupt in der Theologie und Christian Thomasius nicht nur für die Rechtswissenschaft, sondern auch für die Philosophie sowie für die Universität und deren Wissenschaftsverständnis generell.22 Das Neue wird im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte und der Geschichte der einzelnen Fachdisziplinen immer dann hervorgehoben und als Erkenntnisleistung herausgestellt, wenn man es einbetten kann in eine länger andauernde Entwicklungsgeschichte, die sich dann als Wirkungsgeschichte der herausgestellten Ideen darstellen lässt. Ideen, denen die gegenwärtige Forschung keine solche Wirkungs- und Entwicklungsgeschichte attestiert, bleiben hingegen unbeachtet oder werden als marginal eingestuft. In den drei genannten Wissenschaftsfeldern – der Wirtschaftswissenschaft, der Ideengeschichte und der Wissenschaftsgeschichte; die Technikgeschichte ließe sich ergänzen – spielt die Suche nach dem Neuen auf unterschiedliche Art und Weise eine wichtige Rolle. Allerdings, so meinen wir, bleiben dabei grundlegende Fragen ungestellt, deren Erörterung aber für die Bewertung des Neuen, der Innovation, im Rahmen einer Universitätsgeschichte der Frühen Neuzeit von großer Bedeutung sind. Wir erachten es für notwendig, bei der Klassifikation von Neuem oder von Innovationen immer auch die Beobachterposition zu reflektieren. Ist es der forschende Wissenschaftler, der rückblickend neue Ideen oder neue Verfahren und Einrichtungen konstatiert, oder haben bereits die Zeitgenossen auf bestimmten Feldern Neuerungen ausgemacht? Wurde von den Zeitgenossen über die Wertschätzung von Neuerungen gestritten? Haben die Akteure, denen heutige Wissenschaftler attestieren, Neuerungen gedacht und hervorgebracht zu haben, ihrerseits ihre Ideen bzw. ihre Anliegen innerhalb der Universität als neu und innovativ herausgestellt oder aber zu deren Legitimation bekannte Autoritäten und etablierte Traditionen bemüht? Diese Fragen zielen auf eine grundsätzliche Bewertung, ob die Kategorien des Neuen und der Innovation bereits im Bewusstseinshorizont der Akteure ihren Platz hatten. Gegen die von Hans Blumenberg etablierte communis opinio,

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Vgl. hierzu nur die Darstellungslogik der klassischen Universitätsgeschichte zur Universität Halle; Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde. Berlin 1894.

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die Neuzeit starte mit einer allgemeinen Neugier auf das Neue,23 ist neuerdings entschieden Einspruch erhoben worden. Ab wann war gleichwohl weniger das Neue als das Traditionelle legitimationsbedürftig? Gab es Wissensräume, in denen Innovation unproblematisch erschien, und andere, in denen Neuerungen aus normativen Gründen als illegitim galten? Ab wann hielt man auch substantiell Neues für möglich oder gar erstrebenswert? Erwartete man, dass sich das Neue in die Welt, wie man sie kannte, einfügte? Oder dynamisierte sich dadurch, über bislang etablierte Deutungsmuster hinausgehend, die Weltsicht insgesamt? Dieser grundsätzlichen Frage nach dem Stellenwert von Innovation im Verständnis der Zeitgenossen um 1700 wollen wir im Rahmen dieses Bandes insbesondere für die Mitglieder der Fridericiana sowie für die mit dieser Institution befassten außeruniversitären Akteure nachgehen. Grundsätzlich wird zu diskutieren sein, welche Rolle Neuheit und Innovation in den vielfältigen universitären Auseinandersetzungen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts spielten. War die Idee einer Reform oder Erneuerung der Institution Universität im Zusammenhang mit der Gründung bei den damit befassten (politischen) Akteuren maßgebend? Welchen Anteil hatte die Idee des Neuen und der Innovation bei der Selbstinszenierung der in Halle versammelten Gelehrten? Welche Begriffe wurden hierfür jeweils verwendet? Wurden solche Strategien der Selbstinszenierung programmatisch ausgearbeitet und zu inhaltlichen Programmen verarbeitet? Lassen sich dabei fachoder fakultätsspezifische Entwicklungen und Konkurrenzverhältnisse nachweisen? Schlugen sich Innovationsansprüche im Lehrprogramm der Universität nieder? Welche Reichweite und welche Dynamik schrieben die einzelnen Akteure dem Neuen jeweils zu, und in welchem Maß war man bereit, dafür etablierte Autoritäten, Normen und Deutungsmuster in Frage zu stellen? Wie reagierte die außeruniversitäre Öffentlichkeit oder die preußische Regierung auf die Denkfigur des Neuen? Die Beiträge dieses Bandes werden aus unterschiedlichen Perspektiven Stellung nehmen zur Frage, inwiefern die Deutungsfigur von der Universität Halle als Stätte wissenschaftlicher und universitärer Innovation mit zeitgenössischen Ansprüchen und Denkweisen im Einklang steht oder ob sie nachträglich konstruiert wurde, um der Universität im Rahmen einer allgemeinen Aufklärungsgeschichte der Gelehrsamkeit im Alten Reich eine besondere Bedeutung zuzuschreiben und diese Universität – gemeinsam mit den später gegründeten Universitäten in Göttingen und Berlin – einem neuen Typus ‚Reformuniversität‘ zuzuordnen, dem im Rahmen einer allgemeinen Modernisierungserzählung der Universität eine entscheidende Rolle zugekommen sei. Ziel ist es, ‚Innovation/Neuheit‘ nicht unreflektiert als Kategorie der Wissenschaftsgeschichte zu verwenden, sondern die Differenz zwischen der Leitfunktion dieser Kategorie in der modernen, retrospektiven 23

Vgl. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, dritter Teil. Frankfurt a.M. 1973.

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Daniel Fulda und Andreas Pečar

Wissenschaftsgeschichtsschreibung auf der einen Seite und ihrer keineswegs selbstverständlichen, sondern immer erst festzustellenden Orientierungsfunktion in der historischen Praxis der Gelehrten, Studenten und Wissenschaftler, der weltlichen und geistlichen Autoritäten sowie des Publikums auf der anderen Seite im Auge zu behalten. Je nach gewählter Perspektive gelangen die Autoren dieses Bandes zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen darüber, wie innovativ man die Universität Halle oder einzelne Aspekte der Universitätsgeschichte bewerten sollte. Die Aufsätze präsentieren daher kein definitives Ergebnis, sondern lassen sich als Beiträge zu einer offenen, unabgeschlossenen Debatte verstehen. Die Vielfalt der verhandelten Themenfelder und der eingenommenen Perspektiven macht aber auch deutlich, welche Aspekte in einer Debatte über Innovation in der Universitätsgeschichte berücksichtigt werden müssen. Vorstellungen und Wahrnehmungen von Neuerung / Innovation – historisch und historiographisch Daniel Fulda geht in seinem Beitrag der Frage nach, seit wann man die Universität Halle mit Vorstellungen von Innovation und einer Reform des Bestehenden verknüpfte, und sieht hier in Johann Peter von Ludewigs erster Universitätsgeschichte einen wichtigen Bezugspunkt. Fulda sucht bei den hallischen Gelehrten sowie weiteren mit der Universität Halle befassten Akteuren nach Spuren einer Aufklärungsprogrammatik avant la lettre und wird auf vielfältige Weise fündig: in der Begriffsgeschichte von ‚Neuheit‘ und ‚Innovation‘ sowie in Bildmotiven, Metaphern, Gedichten und intertextuellen Bezügen. In der bisher wenig beachteten Inaugurationsrede des Geheimen Rats Paul von Fuchs von 1694 erkennt er Innovationsansprüche ebenso wie Aufklärungsvorstellungen, obschon der Begriff ‚Aufklärung‘ damals noch nicht zur Verfügung stand. Fuldas These lautet, dass einige prominente hallische Gelehrte um 1700 ein dezidiertes, ja kämpferisches Selbstverständnis als ‚Aufklärer‘ kultivierten, wenngleich weder das Nomen Agentis noch das deverbale Abstraktum bereits in Gebrauch waren. Damit seien eine starke Neuerungsemphase und ein Innovationsanspruch verbunden gewesen, der sich auf die Anwendung neuer Methoden stützte. Bei Thomasius und seinen Anhängern sei beides mit einem spezifisch modernen Historizitätsbewusstsein einhergegangen, das die eigenen Innovationsleistungen in einem dynamischen Wandlungsprozess stehen sah, der das Wissen und die Welt insgesamt betreffe. In dem Prozess ständiger Veränderung, als den sie die Geschichte begriffen, hätten sich die hallischen ‚Aufklärer‘ an einer ganz besonderen Stelle gesehen: dort, wo es „lichte“ wird. Fulda resümiert, dass das eigentlich Neue an der neugegründeten Universität Halle der Neuerungsanspruch war, der von einigen ihrer Protagonisten erhoben wurde. Kay Zenker widmet sich dem Gegenstand von Innovationsbehauptungen, indem er danach fragt, wie der Begriff des Neuen jeweils in Gelehrtendebatten ver-

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wendet wurde. Grundsätzlich lässt sich insbesondere seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern eine Konjunktur von Neuigkeitsbehauptungen ausmachen, wurde das Adjektiv „neu“ vielfältig zur Selbstbeschreibung eigener Beiträge eingesetzt. Zenker weist nach, dass diese Konjunktur auch vor Halle nicht Halt machte und Gelehrte aller Fakultäten mit Neuigkeitsansprüchen in der Gelehrtenwelt auftraten, ablesbar an den Titeln des akademischen Schrifttums, bei denen das Wort Neu als Signalwort mit Marketingcharakter verwendet wurde. Anhand von Lexikoneinträgen misst Zenker den Bedeutungsraum der Begriffe Neu und Neuerung aus und geht dabei auch der Frage nach der zeitgenössischen Bewertung des Neuen nach. Insbesondere bei den Frühaufklärern wurde weder dem Neuen noch dem Alten prinzipiell der Vorrang zuerkannt, vielmehr gelte es in beiden Fällen, sich bei der Abwägung der Vor- und Nachteile nicht von bloßen Vorurteilen leiten zu lassen, sondern allein Vernunft- und Nützlichkeitsgründe anzulegen. Klaus vom Orde fragt danach, wie sich die Gründung der Universität Halle in den Augen Philipp Jakob Speners ausnimmt, und welche Hoffnung er mit dieser Institution im Hinblick auf künftige bessere Zeiten verbunden haben könnte. Speners grundsätzliches Anliegen war die sittliche Verbesserung der Gläubigen, die Reformation des Lebens. Hierbei bedurfte es zunächst eines verbesserten Klerus, der dann auf die Lebensführung der Gläubigen positiv einwirken sollte. Und bei der Verbesserung des Klerus kam die Universität ins Spiel, insbesondere die theologische Fakultät. Schon in seiner Position als Oberhofprediger in Dresden hatte Spener – vergeblich – Versuche unternommen, auf die Theologenausbildung in Wittenberg, Leipzig und Jena Einfluss zu nehmen. Als er dann seine Stelle in Dresden gegen das Amt des Propstes von Berlin eintauschte, ergaben sich für ihn Einflussmöglichkeiten bei der personellen Zusammensetzung der theologischen Fakultät. Vom Orde unterstreicht, dass Spener mit seinen Vorschlägen zugleich Reformhoffnungen für die Theologenausbildung verband, die dann eine Reformation des Lebens befördern sollten; in diesem Sinne, aus der Perspektive Speners, ist es durchaus folgerichtig, die Universität in Halle als Reformuniversität zu benennen. Kelly Whitmer verdeutlicht in ihrem Beitrag gleichfalls an einem Einzelfall, wie Innovationsbehauptung an der Universität Halle eine große Rolle spielt und welche Instanzen als Autoritäten galten, um über Innovation zu urteilen. Sie präsentiert mit Jean Philippe Baratier den interessanten Fall eines Wunderkindes, das bereits mit 14 Jahren an der Universität Halle seinen Magister erwarb, sein Wissen in einer öffentlichen Disputation unter Beweis stellte und hierfür außerordentliche Aufmerksamkeit erhielt. Sein Fall weckte sogar das Interesse König Friedrich Wilhelms I., der Baratier für einige Wochen an seinen Hof bat und sich dort als dessen Gönner zeigte. Baratier begnügte sich aber nicht mit seiner prominenten Rolle eines minderjährigen Wunderkindes, sondern er richtete seinen Ehrgeiz darauf, in der internationalen Gelehrtenwelt als Schöpfer und Erfinder, als Urheber

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neuer Erkenntnisse anerkannt zu werden. Mehrfach richtete er sich daher mit seinen Erkenntnissen an die Royal Society in London sowie an die Akademie der Wissenschaften in Paris, um für seine Entdeckungen Anerkennung zu finden. Diese Versuche schlugen indes fehl, man sah in seinen präsentierten Befunden keine wirklich neuen Erkenntnisse. Seinem Renommee an der Universität Halle tat dies keinen Abbruch, hier galt er als Muster eines innovativen Denkers, der mit seinen Projekten stets nach Verbesserung strebte. Innovation wurde in Halle – wie an anderen Orten zu dieser Zeit – von zahlreichen Gelehrten behauptet. Marianne Taatz-Jacobi geht der Frage nach, ob denn die Universität Halle auch vom Geldgeber, der preußischen Regierung, daran gemessen wurde. Dazu untersucht sie anhand der Debatte der frühen 1730er Jahre die Frage, ob die Universität Halle in eine Krise geraten sei. Sie nimmt hierbei die wesentlichen Akteure dieser Debatte in den Blick, insbesondere die Zentralbehörden (Generaldirektorium, Oberkurator) in Berlin, die Provinzialregierung in Magdeburg sowie den Kanzler der Universität, Johann Peter von Ludewig. Der Streit um die Leistungsfähigkeit und das Renommee wurde vornehmlich mit zwei Argumenten geführt, der Zahl der immatrikulierten Studenten einerseits und des „Flors“ der Universität andererseits. Im letztgenannten Begriff des Flors spielten zahlreiche Elemente eine Rolle: die Anerkennung der in Halle lehrenden Professoren, die geburtsständische Zusammensetzung der Studenten, aber auch die Einhaltung der Ordnung und die von allen Beteiligten gewahrte Disziplin im Umgang miteinander sowie mit der Stadtbevölkerung. Von den Gelehrten wurde insbesondere erwartet, dass sie ihr Pensum erfüllen und das gängige Lehrspektrum abdecken. Innovation war weder ein Anspruch, der in dieser Debatte an die lehrenden Professoren herangetragen wurde, noch war es eine Qualität, die Ludewig seinerseits herausstrich. Während also einzelne Gelehrte der Universität gegenüber den Studenten in Lehrankündigungen oder gegenüber der Gelehrtenwelt in ihren Büchern durchaus regelmäßig betonten, Neues zuwege gebracht oder entdeckt zu haben, so schien dieses Argument in der politischen Debatte ausgespart worden zu sein. Fakultäten und Lehrgebiete Thematisierten all die bisher genannten Aufsätze die Universität Halle insgesamt, so wird das Thema Innovation in den folgenden Beiträgen für die unterschiedlichen Fakultäten der Universität diskutiert. Den Anfang macht Simon Grote, der in seinem Aufsatz über Joachim Langes Lehrveranstaltungen dessen neuartigen Lehrmethoden nachspürt, die wohl das ihre dazu beigetragen haben, ihn bei zahlreichen Studenten in ein schlechtes Licht zu rücken. Seine Neuerung bestand darin, dass er in seinen Vorlesungen auf ein wörtliches Diktat verzichtete und von den Studenten statt bloßem Mitschreiben aktives Mitdenken sowie Vorbereitung, Aufmerksamkeit und Nachbearbeitung verlangte. Auch daher präsentierte er seinen

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Zuhörern keinen fertigen Text. Grote sieht Lange hier in der Lehrtradition der Neuerer Thomasius und Francke – aber diese Tradition kam in Halle aus der Mode, und Lange selbst stand ohne Publikum da. Langes Idee einer allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden korrespondierte Grote zufolge mit der Suche des unsicheren Menschen in Erwartung von Gottes Gnade. Mit diesem pietistischen Lehrkonzept war er indes der akademischen Konkurrenz eines Christian Wolff nicht gewachsen, dessen selbstsichere Performance mit seiner Idee einer Befähigung des Menschen zur Gotteserkenntnis kraft eigenen Zutuns korrespondierte. Grote präsentiert mit dieser Interpretation, in der Lehrkonzept und vermittelte Inhalte miteinander verwoben werden, letztlich sowohl Lange als auch Wolff als Neuerer, als Vertreter jeweils eigener Lehrparadigmen, die sich allerdings gegenseitig ausschlossen. Frank Grunert streicht in seinem Aufsatz zum einen die große Bedeutung heraus, die die Lehre des Naturrechts an der Universität Halle seit ihrer Gründung hatte, und zwar sowohl in der juristischen als auch in der philosophischen Fakultät, zum anderen zeichnet er die neuen und eigenständigen Wege der Theoriebildung in Halle nach, mit einem besonderen Fokus auf Christian Thomasius und dessen beiden Werken zum Naturrecht, seinen Institutiones jurisprudentiae divinae von 1688 sowie seinen Fundamenta iuris naturae et gentium. Grunert fragt sowohl nach der Neukonzeption der Fundamenta als auch nach der kritischen und produktiven Auseinandersetzung von Thomasius insbesondere mit der Naturrechtslehre Pufendorfs. Vor diesem Hintergrund wertet er Thomasius’ Fundamenta als „neues Kapitel des Naturrechts“, verbunden mit dem Anspruch des Autors Thomasius, diese Disziplin gleichsam ins Licht geführt zu haben. Innovation habe in diesem Zusammenhang die stetige Verbesserung des Gegebenen bedeutet, also der Lehre vom Naturrecht, und hieran habe die Universität Halle im Verlauf des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Anteil gehabt. Anhand der Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten in Halle und in Wittenberg der Jahre zwischen 1694 und 1740 prüft Andreas Pečar manche der Innovationsbehauptungen der Universitätsgeschichtsschreibung mit Bezug auf die Universität Halle. Dabei beschränkt er sich auf die Auswertung der Lehrveranstaltungen in der Juristischen Fakultät. Der Vergleich mit der Universität Wittenberg, der für das 18. Jahrhundert in gängigen Darstellungen zur Universitätsgeschichte wenig Neuerungspotential zugesprochen wird, dient dazu, den Befund zu Entwicklungstendenzen an der Universität Halle ins Verhältnis zu anderen Universitäten im Reich zu setzen. Im Einzelnen fragt Pečar nach der Rangfolge der Fakultäten in Halle, nach der Sprache der Lehrveranstaltungen, vor allem aber nach den angegebenen Lehrbüchern, sofern sie in den Vorlesungsverzeichnissen ausdrücklich genannt wurden. Hierbei zeigen sich im Vergleich von Wittenberg und Halle große Gemeinsamkeiten bei den Lehrveranstaltungen zum römischen Recht nach dem usus modernus, da oftmals dieselben Lehrbücher zu Rate gezogen wurden. Im Kirchenrecht ging Halle mit Justus Henning Böhmer und seinen Schriften zum

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Kirchenrecht neue Wege, die in Wittenberg zunächst nicht beschritten wurden. Im Naturrecht überwog sowohl in Wittenberg als auch in Halle die Lehre nach den Klassikern, zunächst insbesondere Grotius, später dann zunehmend Pufendorf. Die hallischen Gelehrten boten zwar in großer Zahl Lehrveranstaltungen zum Naturrecht an und steuerten außerdem eigene Lehrbücher für dieses Wissensfeld bei – keines dieser Lehrbücher konnte aber im Betrachtungszeitraum in Wittenberg oder in Halle als Klassiker Pufendorf ersetzen und an dessen Stelle treten. Francesco Paolo de Ceglia widmet sich in seinem Beitrag der Medizinischen Fakultät. Er blickt insbesondere auf die beiden gänzlich unterschiedlichen Erklärungsmodelle Georg Ernst Stahls und Friedrich Hoffmanns über die Ursachen von Gesundheit und Krankheit und die damit einhergehenden Vorstellungen zur Heilung. Gerade die Spannung der beiden Gelehrten sieht de Ceglia als Ursache dafür an, dass die Medizin in Halle zu Lebzeiten der beiden Mediziner Stahl und Hoffmann europaweite Aufmerksamkeit genoss. Stahl war Vertreter eines animistischen Verständnisses von Gesundheit, der die Bedeutung der Seele für Gesundheit und Krankheit betonte. Hoffmann hingegen vertrat ein eher mechanistisches Konzept vom menschlichen Körper, gleichsam eine physiologische Spielart der angelsächsischen Körperphysik. Die Konkurrenz beider Zugänge zur Medizin wertet de Ceglia als Ursache für einige in Halle entstandene Innovationen auf dem Feld der Medizin. Frank Grunert stellt für die Gelehrsamkeitsgeschichte, die Historia literaria, die Frage, ob und gegebenenfalls wie diese Gattung an der Universität Halle neue Impulse erfuhr. Dabei stellt er zugleich die generelle Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen der Abbildung und Erfassung der erzielten Erkenntnisse der Gelehrten einerseits und den noch zu erzielenden Erkenntnissen für die Zukunft andererseits. In Halle war es insbesondere ein Gelehrter, Nicolaus Hieronymus Gundling, der in seiner Lehrtätigkeit kontinuierlich diese Gattung bediente. Gundling sah im historischen Blick auf die Gelehrsamkeit die Grundvoraussetzung dafür, neues Wissen zu schaffen bzw. eine Vermehrung der Wissenschaften zu ermöglichen. Sein Beitrag zur Historia literaria blieb denn auch nicht ohne Wirkung: Grunert sieht seine Lehrveranstaltungen auf diesem Feld als eine wesentliche Ursache dafür an, dass bei der neugegründeten Universität in Göttingen sogar ein Lehrstuhl für die Historia litararia eingerichtet wurde. Für die Philosophische Fakultät demonstriert Heiner Klemme, wie Christian Wolffs wissenschaftliche Karriere und sein Renommee wesentlich auf eine nachdrücklich von ihm selbst propagierte Innovation zurückging: die Nutzung der mathematischen Methode für die praktische Philosophie, die „allgemeine praktische Weltweisheit“. Die Mathematik ermöglicht die Entdeckung der geltenden Prinzipien der Welt, und diese Entdeckung ist die eigentlich innovative Leistung, die Philosophen zu erbringen haben. Wolff versteht sich selbst als derjenige, der dies in der Philosophie geleistet und damit die allgemeine praktische Philosophie

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zu allererst begründet habe. Klemme betont die epochemachende Bedeutung dieser Innovation für Halle wie für die Aufklärung insgesamt. Axel Rüdiger nimmt in seinem Beitrag gleichfalls auf Christian Wolff Bezug und fragt danach, inwiefern dessen Bezug auf China als Musterland von Tugend und Rechtschaffenheit als Folge der philosophischen Lehre des Konfuzius in seiner berühmt-berüchtigten Rektoratsrede als innovativ gelten könne. Hierzu bettet Rüdiger Christian Wolffs positives Chinabild in eine Debatte ein, die bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückreicht und in die Jesuiten ebenso involviert waren wie Philosophen aus halb Europa, darunter Pascal, Descartes und schließlich auch Lessing. Auch in Halle war das China-Verständnis seit der Gründung der Universität Gegenstand der Auseinandersetzung. August Hermann Francke zählte zu den größten Bewunderern von China als Tugendmodell, Christian Thomasius und Johann Franz Budde hingegen nahmen eher relativierende bzw. abwertende Positionen ein. Die Fronten der Auseinandersetzung über den epistemologischen Stellenwert des Konfuzianismus verliefen an der Universität also keineswegs eindeutig zwischen Aufklärern und Pietisten, zwischen Theologen und Philosophen, wie Rüdiger deutlich machen kann. Erst als Wolff mit dem Verweis auf China grundsätzliche Ansprüche für die Philosophie in Abgrenzung zur Theologie verband, entstanden die bekannten Lager, die Wolffs Ausweisung begünstigten. Gleichwohl blieb diese auf Emanzipation der Philosophie bedachte Nutzung Chinas als Argument einer vorbildlichen Ordnung infolge philosophischer Autorität bis zum Ende des 18. Jahrhunderts aktuell – und war Wolffs Beitrag zu dieser lang anhaltenden Debatte innovativ. Innovative Wirkungen in die Stadt hinein? Im abschließenden Beitrag geht es um die Frage, inwiefern die Universitätsgründung auch dazu beitrug, innovative Impulse in die Stadt Halle hinein zu vermitteln. Andrea Thiele widmet sich der Universitätsstadt Halle und der wachsenden Dynamik von Handel und Gewerbe zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Die zunehmende Prosperität und wirtschaftliche Betriebsamkeit führt sie auf besondere Impulse von außen zurück: die aktive Wirtschaftsförderung der neuen Obrigkeit, die Etablierung der Universität in Halle, die nicht nur zahlreiche neue Konsumenten anlockte, sondern mit ihren Freimeistern zusätzliche Handwerker in die Stadt lockte, und schließlich die angeworbenen konfessionsfremden Reformierten, die gleichfalls zur zunehmenden wirtschaftlichen Dynamik beitrugen. Wenn im Sinne Schumpeters insbesondere der Typus des Unternehmers zu Innovation beitrug, so nahm die Anzahl solcher Unternehmer in Halle mit der Universitätsgründung und der wiederholten Ansiedlung reformierter Glaubensflüchtlinge deutlich zu und brachte dann auch die gewünschten Effekte.

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Die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf zwei Tagungen zurück, die am 16./17. Juni 2016 in Engi (Glarus) sowie am 23./24. November 2016 in Halle stattfanden. Die Tagung in Engi wurde von Hanspeter Marti mitveranstaltet und von der dortigen Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen finanziell unterstützt. Dafür und für die gute und anregende Zusammenarbeit bedanken wir uns herzlich bei Hanspeter Marti und der von ihm geleiteten Arbeitsstelle. Wir bedauern, dass nicht auch der Tagungsband gemeinschaftlich publiziert werden konnte.

Vorstellungen und Wahrnehmungen von Neuerung/Innovation – historisch und historiographisch

DANIEL FULDA

Innovation durch Innovationsansprüche. Prä-, proto- und anti-aufklärerische Selbstpositionierungen in der Frühzeit der Fridericiana I. Thomasius als Kristallisationsfigur universitätsgeschichtlicher Neuerungsemphase Die erste Historie der Friedrichs-Universität erschien 1734, 40 Jahre nach der feierlichen Inauguration, verfasst von Johann Peter von Ludewig (1668–1743). Ludewig hatte 1695 an der Fridericiana zu lehren begonnen, zunächst als Professor für Philosophie und seit 1703 als Ordinarius für Geschichte, bevor er 1705 in die juristische Fakultät aufstieg. Ihm zufolge war das Profil der neuen Universität entscheidend durch den aus Leipzig vertriebenen und vom brandenburgischen Kurfürsten nach Halle berufenen Philosophen und Juristen Christian Thomasius (1655–1728) geprägt worden: Es „schickte sich sein ganzes Wesen und Leben, zu diesen Hallischen Anstalten [der 1688 eröffneten Ritterakademie und ihrem Ausbau zur Universität; D. F.], sehr wohl. Er liebte, im Lesen und Schreiben, die Freyheit und […] war zu allen Neuerungen geneiget“.1 Herauszustellen, welche Neuerungen im akademischen Betrieb ebenso wie im gelehrten Wissensbestand Thomasius im Sinn hatte, ist Ludewigs Hauptabsicht in diesem Teil seiner Darstellung. Aus den zwei engbedruckten Folioseiten können hier bloß einige Sätze zitiert werden:

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Consilia Hallensivm Ivresconsvltorvm. T. 2: In Sachen Des Teutschen Fürsten-Rechtes In Dem Heiligem Römischem Reich. Nebst einer Historie der Hallischen Universität, 1531 biß 1692 und 1694. Von dero Cantzler, Johann Peter von Ludewig. Halle 1734, 1. Paginierung, S. 41. Gut ein Drittel der 96 Seiten umfassenden Universitätsgeschichte sind dem ersten halleschen Universitätsgründungsversuch durch Kardinal Albrecht von Brandenburg gewidmet. Zu Thomasius’ Berufung nach Halle, vgl. Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2014, S. 130. – Holger Trauzettel: Eigengeschichte gegen die Krise? Johann Peter von Ludewigs Historie der Friedrichs-Universität Halle [1734] im Kontext akademischer Imagepolitik. In: Renko D. Geffarth, Markus Meumann u. Holger Zaunstöck (Hg.): Kampf um die Aufklärung? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts. Halle 2018, S. 81–98, hat Ludewigs Universitätsgeschichte kürzlich plausibel als Beitrag zur universitären „Imagepflege“ interpretiert, die „Halle als exzellente Ausbildungsstätte für den Adel und potentielle Staatsdiener“ ausweisen sollte (S. 83, 97). „Dabei ging es nicht um eine Zurschaustellung von vermeintlicher Modernität oder Innovationspotential“, fügt Trauzettel hinzu (S. 97). Das scheint mir ein voreiliges Urteil zu sein. – Für kritische Lektüre und hilfreiche Anregungen danke ich Helmut Zedelmaier, Heinz Thoma und Frank Grunert.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-002

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Daniel Fulda Und, wie er sonderlich die Leidenschafften der Menschen, im Geblüthe und Gemüthe, zu erforschen, sich beflissen und, aus der Kunst, andere Menschen zu erkennen, eine eigene Wissenschafft machte: so eröffnete er, seinen Zuhörern, die Erkenntniß seiner selbsten und setzte der Wahrheit alle andere Absichten nach. […] Er lehrete die Philosophie, in Teutscher Sprache und hielte die Zeit übel angewendet, gutes Latein zu schreiben. […] Die Logic nennete er die Hof-Weisheit (philosophiam aulicam); um dardurch jungen Leuten, darzu, ein Belieben zu machen. […] In dem Rechte der Natur, gienge er zwar Pufendorfen nach; er gienge aber viel weiter und freyer heraus. Absonderlich in denen Stücken, worüber jener zum Ketzer und Atheisten gemachet werden sollen. Er disputirte auch Teutsch und war der Meinung; daß mancher verständiger Bauer öffters besser und vernünfftiger schliessen und die Lateiner auslachen würde. […] Bey diesen Umständen nun, lieffen ihme Studenten und gemeine Bürger-Leute häuffig zu; verwunderten und entsatzten sich, über seiner neuen Lehre. Die anders heraus käme; als anderer Schrifftgelehrten, auf hohen Schulen.2

Die heftigen Reaktionen auf Thomasius – contra ebenso wie pro – beglaubigen in dieser Darstellung die Neuheit des von ihm Gelehrten und Getanen: „Die, für Eyfer, brennende, Clerisey warnete Eltern und Kinder, vor die Höllischen Lehren, mit welchem Worte sie die Hallischen ben[en]neten. Weil dieselbe, ihrem Lästern nach, den Weg, zum atheismo oder deismo, bahneten […].“3 Jedoch hätten viele gerade wegen der vom gewohnten akademischen Betrieb abweichenden Verhältnisse „ihre Kinder nach Halle“ geschickt, denn „der Umgang mit Menschen, absonderlich den Frantzösischen Flüchtlingen,4 wäre [dort] freyer und artiger; die Thomasische Lehren säuberten die Gemüther von Vorurtheilen; sie mertzten, was von keinem Gebrauch wäre, aus […].“ Ebenfalls der Unterstreichung des Neuen dienen eingeschobene Verweise auf die üblichen Mängel des herkömmlichen Studiums, die in Halle überwunden seien, zumindest in der Wahrnehmung der an die neue Ritterakademie Strömenden: viele Pedanterey unter den Professoren; der Zwang, in den Lehren, auf der alten Leyer zu spielen und, mehr den alten Fratzen; als Lauterkeit und Wahrheit, zu Gefallen zu seyn; […] der Aberglaube hätte die Oberhand; man quälete sich und junge Leute, mit dem Latein und fremde Hof-Sprachen blieben liegen; […] des gezwungenen Wesens und der Vorurtheile nicht zu gedenken, die ihren [der Studenten] Verstand mehr verfinsterten, als aufkläreten und erläuterten […].5

Ob die traditionelle Universität tatsächlich so dysfunktional und die Verhältnisse in Halle so anders waren, kann und muss an dieser Stelle offenbleiben. Bereits Ludewig war vorsichtig genug, relativierend von Thomasius’ Neuerungsambitionen sowie einem entsprechenden Eindruck des Publikums zu schreiben. Festhalten lässt sich gleichwohl, dass wir es bereits 1734 mit einer Darstellung der Universitätsgründung als großer Neuerung, als Reformunternehmung und Innovation zu tun haben. Die neue Universität sollte, nach dem Willen von Thomasius (in der Dar2 3 4 5

Consilia Hallensivm Ivresconsvltorvm. T. 2, 1. Paginierung (wie Anmerkung 1), S. 41f. Ebd., S. 42. Das folgende Zitat ebd. Zur Aufnahme von Hugenotten in Halle und deren Innovationsbeiträgen vgl. den Aufsatz von Andrea Thiele in diesem Band. Consilia Hallensivm Ivresconsvltorvm. T. 2, 1. Paginierung (wie Anmerkung 1), S. 42.

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stellung Ludewigs), nicht bloß eine weitere Universität, sondern von neuer Art und grundlegend besser sein: durch Gegenwarts- und Gesellschaftsbezug, durch Autoritäts- und Vorurteilskritik, durch den Abbau ihrer kastenartigen Abgeschlossenheit, durch die praktische Nützlichkeit des dort Gelehrten. Profiliert habe sich das Neue und Bessere (bzw. das als solches Ausgegebene) durch Absetzung vom Üblichen, das durch die Qualifizierung als „alt“ gleich dreifach pejorisiert erscheint, nämlich als einer vergangenen Zeit entstammend, als in Traditionen feststeckend und als überholt. Die Mängel des Alten habe Thomasius überwinden wollen und tatsächlich – in einem von Ludewig nicht näher bestimmten Ausmaß – überwunden. Kurzum: Mit Thomasius als Kristallisationsfigur der Universitätsgründung stellt Ludewig die Fridericiana als scharf profiliertes und dezidiertes Innovationsund Reformunternehmen dar. Aber bleiben wir kurz stehen und überdenken unseren Begriffsgebrauch! Von „Neuerungen“ und dass Thomasius generell dazu „geneiget“ gewesen sei, spricht Ludewig explizit, von ‚Innovation‘ und ‚Reform‘ jedoch nicht. Wortgeschichtlich wäre dies immerhin möglich gewesen. Als Fremdwort aus dem Französischen wanderte Reforme gegen Ende des 17. Jahrhunderts in die deutsche Sprache ein; der Dichter und Lexikograph Kaspar Stieler expliziert es 1695 als „Veränderung/Besserung“.6 Innovation finden wir nicht bei Stieler, wohl aber innoviren im Sperander’schen Fremdwörterbuch von 1728, und zwar mit der Explikation „verneuren, verändern“.7 Anders als heute waren ‚Reform‘ und ‚Innovation‘ jedoch noch keine Schlüsselbegriffe des politischen oder wissenschaftlichen bzw. des wissenschaftspolitischen Diskurses. Die uns geläufige (und nicht selten misstrauisch stimmende) Emphase und der adhortative Charakter, die mit beiden Begriffen

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[Kaspar von Stieler:] Zeitungs Lust und Nutz/ Oder: derer so genanten Novellen oder Zeitungen/ wirckende Ergetzlichkeit/ Anmut/ Notwendigkeit und Frommen; Auch/ was bey deren Lesung zu lernen/ zu beobachten und zu bedencken sey? Samt einem Anhang/ Bestehend: In Erklärung derer in den Zeitungen vorkomenden fremden Wörtern. […] Entworffen von dem Spaten. Hamburg 1695, S. 639. Vgl. Eike Wolgast: Reform, Reformation. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1–8 (in 9). Stuttgart 1972–1997, Bd. 5, S. 313–360, hier S. 340. Sperander: A la Mode-Sprach der Teutschen, Oder Compendieuses Hand-Lexicon, In welchem die meisten aus fremden Sprachen entlehnte Wörter und Redens-Arten, So in denen Zeitungen, Briefen und täglichen Conversationen vorkommen, Klar und deutlich erkläret werden. [...] Nürnberg 1728, S. 314. Die in den Katalogen übliche Auflösung des Pseudonyms Sperander durch den Namen des Hallensers Friedrich Gladov (†1715) ist wahrscheinlich falsch. Der älteste Beleg für Innovation im Deutschen Textarchiv findet sich bei Wolf Helmhard von Hohberg: Georgica Curiosa […]. Nürnberg 1682, Bd. 1, S. 34, mit der Bedeutung ‚etwas Neues‘, ohne jede positive Emphase, vielmehr eher negativ konnotiert, nämlich in folgendem Kontext: „neue Mauten oder Zöll/ oder sonst einige Innovationen“ im Gegensatz zu „den alten hergebrachten Gebräuchen“. Im Englischen hat bereits Francis Bacon (Essays, 1625) den Begriff zum Thema gemacht.

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Daniel Fulda

seit etwa 1960 verbunden sind,8 eignet ihnen in der Frühgeschichte der halleschen Universität noch nicht. Trotzdem erscheint es angemessen und treffend, sie im vorliegenden Zusammenhang zu verwenden, und zwar in ihrer heutigen Bedeutung: Innovation im Sinne einer Leistungssteigerung durch substantielle Überschreitung des Gegebenen9 und Reform im Sinne eines intendierten, geplanten und gesteuerten (wenn auch nicht vollständig steuerbaren) Verbesserungsprozesses in Reaktion auf festgestellte Mängel und Dysfunktionalitäten. Denn beide Bedeutungen sind impliziert, wenn Thomasius von Ludewig als „zu allen Neuerungen geneiget“ charakterisiert wird und dass er „Feuer in sich [hatte], Muth und Unmuth sehen zu lassen“,10 und dann zahlreiche ‚Neuerungen‘ aufgezählt werden. „Neuerungen“ haben wir hier als einen emphasegeladenen Begriff zu verstehen, der im Gegenwartsdeutschen mit derselben Buchstabenfolge nicht hinreichend wiedergegeben wäre. Vielmehr meinte er 1734 etwas, das wir als Innovation und Reform bezeichnen. Ob es auch schon zur Zeit und im Zusammenhang mit der Universitätsgründung 40 Jahre zuvor eine Innovationsemphase gab, werde ich weiter unten diskutieren (Abschnitt VI).

II. „vermeintlich innovativ[]“:11 Die Universitätsgründung in der neueren Forschung Wie passt dies zu der Kritik am „Begriff von der Reformuniversität Halle“,12 die in der Forschung seit der Jahrtausendwende mehrfach vorgetragen worden ist, zum Teil auf intensiver Quellenforschung beruhend? Dass der Universitätsgründung „ein intendiertes innovatives Konzept“ zugrunde gelegen hätte,13 haben Veronika Albrecht-Birkner, Udo Sträter, Andreas Pečar und Marianne Taatz-Jacobi – übrigens lauter (ehemalige) Hallenser – überzeugend widerlegt, soweit es sich um die Intentionen des Gründers, also des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., und seiner Regierung handelt: „Die Annahme, Kurfürst und Regierung hätten beabsichtigt, eine durch Pietismus und Aufklärung geprägte ‚Reformuniversität‘ zu 8

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Zu Innovation vgl. Gerhard Strauß, Ulrike Hass u. Gisela Harras: Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin, New York 1989, S. 636–639. Der heute häufigen, wenn auch keineswegs zwingenden Zuordnung von Innovation zum technischen oder wirtschaftlichen Bereich schließe ich mich nicht an. Consilia Hallensivm Ivresconsvltorvm, T. 2, 1. Paginierung (wie Anmerkung 1), S. 41. Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anmerkung 1), S. 301. Mit Fokus auf die politischen und konfessionspolitischen Entscheidungsprozesse im Kontakt mit der Berliner Regierung stellt Taatz-Jacobis die ausführlichste Untersuchung zur Universitätsgründung dar. Ebd., S. 22. Ein rezentes Beispiel für die Einstufung Halles als „Reformuniversität“ ist Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Bd. 1: Moderne aus dem Untergrund. Göttingen 2018, S. 35. Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anmerkung 1), S. 24.

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gründen, gehört in das Reich der Legenden, auch wenn letztlich dieser Effekt unfreiwillig erzielt wurde.“14 Berlin ging es vielmehr darum, den brandenburgischen Pfarrernachwuchs von den kämpferisch lutherischen Universitäten Wittenberg (damals im Kurfürstentum Sachsen) und Leipzig abzuziehen, um Spannungen zwischen der auch in Brandenburg fast vollständig lutherischen Bevölkerung und dem seit 1613 reformierten Herrscherhaus der Hohenzollern abzubauen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen.15 Wie Taatz-Jacobi argumentiert hat, waren dabei nicht einmal Ideen von konfessioneller Toleranz maßgeblich, wie sie zu dieser Zeit gesamteuropäisch aufkamen; vielmehr habe die Gründung der Fridericiana ganz in der langfristigen Tradition der Hohenzollern’schen Konfessionspolitik gestanden, die auf die „Selbst-Reformation der Lutheraner bei gleichzeitiger Förderung der Reformierten“ zielte. „Die Förderung der innerlutherischen Vielfalt an der Friedrichs-Universität durch eine vermeintlich innovative, auf Pietisten und Frühaufklärer ausgerichtete Personalstrategie war nur ein Umweg zum Erreichen dieses Ziels.“16 Zusammengefasst finden sich die für uns entscheidenden Punkte der von der aktuellen Forschung vorgetragenen Revision einer undifferenzierten Rede von der ‚Reform- oder Innovationsuniversität Halle‘ bei Andreas Pečar: Es gab für die Universitätsgründung in Halle keinen Masterplan. Der Weg von der 1688 gegründeten Ritterakademie war von Zufällen bestimmt […]. Thomasius wurde nicht als Aufklärer gefördert, sondern als profilierter Professor, der verfügbar war und außerdem zahlreiche Zeichen des Einverständnisses mit dem Herrscherhaus und dem religionspolitischen Kurs in Brandenburg-Preußen ausgesandt hatte. […] Die Idee einer „Reformuniversität Halle“ muss daher relativiert werden. Von Thomasius’ Reformideen, wie er sie in seinen Gutachten formuliert hatte, wurden nur wenige in die Tat umgesetzt – in Berlin hatte man Thomasius’ Reformeifer offenkundig nicht geteilt.17

Mit Blick auf die Absichten der Berliner Regierung verbietet es sich demnach, von Reform und Innovation zu sprechen – so der aktuelle Stand der Debatte. TaatzJacobi hält die Regierung nur insofern für interessiert an Thomasius’ „innovativen 14

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Veronika Abrecht-Birkner u. Udo Sträter: Lutherische Orthodoxie in Halle – theologische Profile, Frömmigkeit und die Auseinandersetzung mit den Pietisten. In: Werner Freitag, Andreas Ranft (Hg.): Geschichte der Stadt Halle. Bd. 1–2. Halle 2006, Bd. 1, S. 333–349, hier S. 344. Vgl. ebd. Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anmerkung 1), S. 301. Taatz-Jacobis Argumentation zielt auch darauf, die gängige These vom Bündnis zwischen Preußentum und Pietismus (Carl Hinrichs) zu relativieren, indem gezeigt wird, dass August Hermann Francke und die Pietisten keineswegs schon um 1690 gefördert wurden. Zu den Reform-Hoffnungen, die Philipp Jakob Spener in die Universitätsgründung setzte, vgl. den Beitrag von Klaus vom Orde. Andreas Pečar: Die Universitätsgründung der Fridericiana in Halle. Eine Motivsuche. In: Frank Göse u. a. (Hg.): Preußen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft. Erste Brandenburgische Landesausstellung Schloss Doberlug 2014, S. 60–67, hier S. 66. Vgl. auch seinen Beitrag im vorliegenden Band. Zu Thomasius’ Reformidee und deren sehr begrenzter Realisierung vgl. auch Axel Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2005, S. 72–78.

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Ideen und Methoden“, als man darin ein geeignetes Mittel gesehen habe, Studenten nach Halle zu ziehen.18 Die Fridericiana war keine „Reformuniversität“, wie es in jüngerer Zeit etwa Bielefeld sein sollte, wobei das Beispiel Bielefeld zugleich daran erinnern mag, wie sehr sich auch bei dezidierten Reformintentionen (‚Forschungsuniversität‘) eine Lücke zum schließlich Erreichten (‚Massenuniversität‘) auftun kann.19 Anders sieht es aus, wenn man auf die Intentionen von Christian Thomasius schaut, der „für das Gründungsgeschehen der halleschen Universität eine zentrale Rolle“ spielte (so Pečar trotz seiner eben zitierten Einschränkung),20 sowie auf den Reform-„Effekt“ (Albrecht-Birkner/Sträter) der ‚reformintentionslos‘ entstandenen Institution. Um das uneinheitliche Bild, das sich aus diesen divergierenden Feststellungen ergibt, zu ordnen, macht Marianne Taatz-Jacobi methodologisch ganz zu Recht geltend, man dürfe von dem Wissen, dass Halle enorm wichtig war bzw. wurde für die Ausbreitung von Aufklärung und Pietismus in Deutschland,21 nicht zurückschließen auf entsprechende Intentionen der obrigkeitlichen Entscheider.22 Ebenso gilt indes umgekehrt, dass der Befund, die obrigkeitlichen Entscheider hätten keine solchen Absichten gehegt, nichts darüber besagt, ob andere Akteure (wie Thomasius) durch Reform-, Innovations- und Aufklärungsintentionen motiviert waren bzw. ob die hallesche Universität und ihre Akteure von Beobachtern in Verbindung mit solchen Intentionen gebracht wurden. In jedem Fall zu vermeiden ist, dass die Einsicht in die traditionell konfessionspolitischen Motive der Berliner Regierung dazu führt, die Dynamik, aus der die Universität entstand und die sie wiederum auslöste, auf ein Schema zu verkürzen, das die Urheberschaft geschichtlicher Prozesse bei den Entscheidungsbefugten verortet. Eine weitere Frage, für deren Beantwortung die Intentionen oder der weltbildliche Horizont der Akteure, seien es die Regierung, Thomasius oder andere, nicht maßgeblich sind, ist die nach der faktischen Innovativität, Reformleistung oder Aufklärungswirkung der neuen Universität. Tatsächlich wird die zentrale Rolle der 18 19 20

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Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie, S. 130. Vgl. Peter Lundgreen (Hg. [und Verf. des zit. Abschnitts]): Reformuniversität Bielefeld 1969– 1994. Zwischen Defensive und Innovation. Bielefeld 1994, S. 23–30. Pečar: Die Universitätsgründung der Fridericiana (wie Anm. 17), S. 62. Günter Jerouschek: Arbeit am Mythos. Thomasius und die Gründung der Universität Halle. In: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728) – Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hildesheim 2006, S. 317–325, hier S. 325 schreibt dagegen, wohl überkritisch: „Gründungsvater, Spiritus Rector der Universitätsgründung wäre er wohl gerne gewesen, er war es aber nicht.“ Dies haben vor allem Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989; Günter Jerouschek u. Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Zur Dreihundertjahrfeier. Im Auftr. des Rektors hrsg. unter Mitarb. von Michael Beintker [u. a.]. Hanau 1994 sowie Notker Hammerstein (Hg.): Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995 herausgestellt. Vgl. Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 1), S. 25.

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Fridericiana für die deutsche Aufklärung ebenso wie für den Pietismus auch von der „Legenden“-kritischen Forschung unterstrichen – als „Effekt“ oder, wie TaatzJacobi formuliert, als „sich erst entwickelnde Prägekraft der Universität“.23 Unbeantwortet ist bislang jedoch die Frage geblieben, wie es zu diesem Effekt gekommen ist und ob die konstatierte Prägekraft etwas mit Reform-, Innovations- oder Aufklärungsintentionen wenn nicht der Berliner Regierung, so womöglich anderer Akteure zu tun hat. Ob es solche Intentionen – und den entsprechenden weltbildlichen Horizont – gegeben hat, ist die Leitfrage des vorliegenden Aufsatzes. Wie wir im I. Abschnitt gesehen haben, wurden die Konzepte ‚Innovation‘ und universitäre ‚Reform‘ nicht erst von modernen Forschern zur Charakterisierung der Frühgeschichte der Fridericiana verwandt, sondern schon von einem seinerzeitigen Akteur. In welchem Maße es sich um Konzepte handelt, die das Selbstverständnis und die Selbstpositionierung der Halle aufbauenden Akteure prägten (und nicht bloß von einem zurückschauenden Historiographen und Laudator im eigenen institutionellen Interesse wie Ludewig auf die ‚Gründer‘ projiziert wurden), verdient indessen weitere Nachforschung. Dasselbe gilt für die damalige Wahrnehmung der neuen Universität und ihrer Akteure von außen. Besondere Aufmerksamkeit verlangt die Frage, in welchem Maße und in welcher Form es bereits in der Frühgeschichte der Fridericiana Intentionen auf ‚Aufklärung‘ gegeben hat. Der Begriff ist, als ‚intellektuelle Verbesserung‘ verstanden, zum ersten Mal 1695 belegt,24 und es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis sein Gebrauch in Schwung kam. (Ludewig verwendet, wie oben zitiert, das äquivalente Verb, wenn er Thomasius als Kämpfer gegen die „Vorurtheile“ präsentiert, „die ihren [der Studenten] Verstand mehr verfinsterten, als aufkläreten“.) Es ist daher zu fragen, wo die Zuordnung eines Autors, Gedankens oder anderen Phänomens zur Aufklärung ‚nur‘ als historiographische Einordnung in eine Epoche erfolgt (was legitim sein kann, auch wo historisch noch gar keine Rede von Aufklärung war) und wo bereits in historischer Zeit ein Aufklärungsbewusstsein feststellbar ist (was ebenfalls nicht unbedingt voraussetzt, dass der Begriff Aufklärung verwandt wurde). Anders formuliert, geht es bei dieser Frage darum, ob ‚Aufklärung‘ oder das entsprechende Verb oder Adjektiv in Bezug auf die Gründungs- und Frühphase der Fridericiana allein historiographische Beschreibungskategorien sein können, oder ob sie auch Konzepte im historischen Gebrauch waren.

III. Aufklärungsprogrammatik avant la lettre Was genau ist damit gemeint, wenn wir nach dem aufklärerischen Selbstverständnis eines Akteurs oder der Aufklärungsprogrammatik eines Textes fragen? Hier 23 24

Ebd., S. 24. Vgl. [Stieler:] Zeitungs Lust und Nutz (wie Anm. 6), S. 337.

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soll, wie gesagt, damit nicht die Zuordnung eines Akteurs oder Textes zu einem retrospektiv gebildeten Epochenkonzept vorgenommen werden, die sich dadurch begründen ließe, dass ein Akteur oder Text zu den vorausgesetzten Gehaltsmerkmalen des Epochenbegriffs passt, zum Beispiel weil Vernunftautonomie gefordert wird oder ein Appell an die Öffentlichkeit der Autoren und Leser erfolgt.25 Sondern es geht darum, ob beim jeweiligen Autor oder im jeweiligen Text eine Vorstellung von Aufklärung als Verbesserung des Verstandes und Steigerung seiner Maßgeblichkeit, als kritische ‚Beleuchtung‘ aller Dinge und Verhältnisse, als Aufdeckung von Missständen sowie als Korrektur bzw. Bekämpfung falscher Ansichten feststellbar ist, denn diese gedanklichen wie praktischen Operationen verbinden sich im Deutschen mit den Wörtern aufklären und Aufklärung (im übertragenen, nicht mehr meteorologischen Sinne). Von einem Selbstverständnis als Aufklärer können wir sprechen, wo es eine Vorstellung von Aufklärung oder dem Aufklären als spezifischer Tätigkeit mit den gerade genannten Kennzeichen gibt. Keine notwendige Voraussetzung dafür bildet der Gebrauch des Begriffs Aufklärung oder des entsprechenden Verbs oder Adjektivs oder auch nur ihr Vorhandensein im jeweils zeitgenössischen Wortschatz.26 Es kann, so die These, Intentionen auf Aufklärung und ein entsprechendes Selbstverständnis avant la lettre geben, und es gab sie in der Frühzeit der halleschen Universität, während der Begriff Aufklärung erst im Laufe des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts in Gebrauch kam. In den Quellen der Zeit um 1700 finden wir zuhauf konkret sinnliche und/oder aktoriale Vorstellungen wie das Klar- und Hellwerden, das aktive Beleuchten und das Sichtbarwerden oder Aufdecken, ebenso Metaphern und Bilder des „Aufklärens“ in der ursprünglichen meteorologischen Bedeutung, die der Teutsche Sprachschatz von – wiederum – Kaspar Stieler als „Das Wetter kläret sich auf / nubes dissipantur, cœlum fit serenum [die Wolken werden auseinandergetrieben, der Himmel wird heiter/hell; Übers. D. F.]“ expliziert.27 Diese und ähnliche Vorstellungen haben unterschiedliche Quellen, stehen sachlich und von ihrem Gebrauch

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Faktisch erfolgt die Zuordnung nicht selten sogar ohne eine derartige Begründung, nämlich wenn ein Epochenbegriff wie ein Container verwandt wird: Alles, was innerhalb der jeweils vorausgesetzten oder üblichen Zeitgrenzen liegt, ‚darf‘ dann hineingenommen, d. h. mit dem Begriff belegt werden. Einen Begriff der Aufklärung (als Bewegung und Epoche), der sich derart an Selbstverständnis und Diskursstrategie der Autoren bzw. am Vokabular der Texte oder an entsprechenden Bildlichkeiten orientiert, schlage ich vor in meiner Rezension von Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. Berlin 2015. In: Das achtzehnte Jahrhundert 41,1 (2017), S. 102–111, hier S. 109f. Der vorliegende Beitrag stellt eine Probe dar, ob sich Präzisionsgewinne erzielen lassen, wenn man nach der Aufklärungsvorstellung der historischen Akteure fragt. Damit ist nicht die Forderung verbunden, der Begriff Aufklärung möge stets nur so restriktiv verwandt werden. Als historiographischer Begriff kann er auch da angemessen und treffend sein, wo er historisch nicht in Gebrauch war oder ganz außerhalb des Horizonts lag. [Kaspar Stieler:] Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs, oder Teutscher Sprachschatz [...]. Nürnberg 1691, Sp. 968.

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her aber in einem recht engen Zusammenhang. Darin gewinnt das Abstraktum „Aufklärung“ (mit ins Kognitive übertragener Bedeutung) erst allmählich Präsenz und noch später Dominanz. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, treten jene konkreten Vorstellungen des ‚Aufklärens‘, ‚Beleuchtens‘, ‚Hellwerdens‘ usw. früher auf als der ins Kognitive übertragende Aufklärungsbegriff.28 Dafür, dass einige prominente Akteure der frühen Fridericiana Aufklärungsintentionen hegten und über ein entsprechendes Selbstverständnis verfügten, sind sie die entscheidenden Indikatoren, sei es in sprachlicher oder bildlicher Form. Das wichtigste Bildmotiv im semantischen Feld der noch nicht oder selten so genannten Aufklärung ist die Sonne, die an einem Himmel aufstrahlt, an dem sich die Wolken verziehen. Als Bild finde ich es zum ersten Mal in der Titelvignette der 45-bändigen Reihe Gundlingiana, die 1715 bis 1732 erschien, einer Sammelschrift kleinerer Beiträge des halleschen Juristen, Philosophen und Historikers Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1739), eines der prominentesten ThomasiusSchüler.29 Dramatischer könnte die Bildgestaltung kaum sein: Die Wolken sind überaus dunkel, und dass sie von der Sonne vertrieben werden, wird eigens noch einmal gesagt: „Dispellam“ (ich werde oder möchte [die Wolken] auseinandertreiben). Noch ist der dargestellte Himmel nicht hell, vielmehr überwiegt das dunkle Gewölk. Die mit einem Gesicht versehene, also einem Kopf angenäherte, anthropomorphisierte Sonne sieht sich dadurch offensichtlich umso mehr herausgefordert, ihre Kraft wirksam werden zu lassen und die „trüben Irrthums-Wolcken“ zu vertreiben, wie Gundling in seiner Vorrede schreibt.30 Ganz im Sinne der von Stieler notierten Bedeutungsübertragung vom Meteorologischen ins Kognitive stehen die Sonne und ihr ‚heller Kopf‘ für intellektuelle Verbesserung, die hier einen ausgesprochen kämpferischen Zug erhält. Wo Gundling in seiner Vorrede die Bildlichkeit der Titelvignette aufgreift, deutet er das „Licht, welches alle erleuchtet“, in diesem Sinne als „die Wahrheit […]: Sie vertreibet alle Finsternüß“.31 Dass er mit seinen Aufsätzen dazu beitrage, ist der Anspruch, den er mit dem gewählten Aufklärungsbild verkündet. Entsprechend kann die erste Person Singular der Bildinschrift nicht allein auf die Sonne, sondern auch auf den Autor des

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Methodologisch zur Metaphorik als „Vorfeld des Begriffs“, vgl. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Ausw. u. Nachw. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, S. 139–171, hier S. 139. Ausführlicher, als es hier möglich ist, und mit Abbildungen versehen lege ich die frühe Bildgeschichte von ‚Aufklärung‘ mit dem meteorologischen Bildmotiv als Repräsentation kognitiver Verbesserung andernorts dar, vgl. Daniel Fulda: Bildmedien und die Programmatik der Aufklärung. In: Liina Lukas [u.a.] (Hg.): Medien der Aufklärung. Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext. Berlin u. Boston [in Vorb.]. [Nicolaus Hieronymus Gundling]: [Vorrede]. In: [Ders.:] Gundlingiana […]. Bd. 1. Halle 1715, n. pag, hier S. [)(4v]. Ebd., S. )(4r.

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Bandes bezogen werden. Dass der provokationslustige Gundling32 mit dieser unbescheidenen Selbstpositionierung auf positive Resonanz stieß, belegt die gesungene Serenade, die 1719 zu seiner Einführung als Pro-Rector Magnificus aufgeführt wurde. Der Gegensatz zwischen Sonne und „Sturm und Blitzen“ durchzieht hier den gesamten Text, der von dem galanten Dichter und Romanautor Menantes (d. i. Christian Friedrich Hunold; 1681–1721) stammte, der in Halle Privatseminare hielt. Im letzten Rezitativ heißt es in kühner Parallelisierung von Gundlings „Klugheit“ und Gottes „Seegen“: Der klare Himmel wird Durch Deiner Klugheit helles Licht Und durch ein Wort, so Gott im Seegen spricht, In steter Schönheit bleiben. Die Wetter müssen sie vertreiben, Die manchmal sich aus Unverstand gethürmt […].33

Ein programmatisches Motiv ist die siegreich vom Himmel strahlende Sonne auch bei Christian Wolff (1679–1754), der sie gleich mehrfach als Motiv für die Frontispize seiner Werke gewählt hat, beginnend mit der ‚Deutschen Metaphysik‘ von 1720 mit nahezu einem Dutzend Auflagen.34 Dort heißt es auf einem in das Bild integrierten Spruchband: „Lucem post nubila reddit.“ In der Frage, wer nach dem trüben Wetter das Licht zurückbringt, lässt das Lateinische nicht nur den Bezug auf die ungenannt bleibende Sonne zu, sondern ebenso andere sinnvoll zu ergänzende Subjekte, darunter auch, wie bei „dispellam“, den Autor. Weitere von der Bildtradition der Sonne her naheliegende Subjekte wären ein Herrscher35 oder Gott – die Sonne war keineswegs ein exklusiv aufklärerisches Symbol, sondern unterlag teilweise schon von der Antike her ganz anderen semantischen Besetzungen, gegen die sich eine ergänzende oder ersetzende Neucodierung zuallererst durchsetzen musste. Tatsächlich wurde der Kurfürst (der seit 1701 König Friedrich I. in Preu32 33

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Vgl. Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Bd. 2: Clandestine Vernunft. Göttingen 2018, S. 145. Menantes [d. i. Christian Friedrich Hunold]: Als der Herr Geheime-Rath Nicol. Hieronym. Gundling auf der Hochlöblischen Friedrichs-Universität Pro-Rector Magnificus ward. In: [Ders. (Hg.):] Auserlesene und noch nie gedruckte Gedichte unterschiedener Berühmten und geschickten Männer. 16. Stück. Halle 1719, S. 476–480, hier S. 479. Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen/ Auch allen Dingen überhaupt. Halle 1720. Weitere Werke mit ‚meteorologischen‘ Frontispizen sind Ders.: Von der Menschen Thun und Laßen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. Halle 1720; Ders.: Anmerckungen über die vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Frankfurt am Main 1724; ders: Gesammlete kleine philosophische Schrifften. Bd. 4. Halle 1739. Die unterschiedliche Motivgestaltung reflektiert nicht zuletzt, wie Wolff seine jeweilige Position im Konflikt mit seinen Gegnern sah, vgl. Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 87–93 (mit Abb.). Vgl. Sibylle Appuhn-Radtke: Sol oder Phaeton. Invention und Imitation barocker Bildpropaganda in Wien und Paris. In: Wilhelm Hofmann u. Hans-Otto Mühleisen (Hg.): Kunst und Macht. Politik und Herrschaft im Medium der bildenden Kunst. Münster 2005, S. 94–127.

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ßen war) in einer Art historischem Führer durch Halle und die Fridericiana von 1709 als strahlende „Sonne“ angesprochen, und das Frontispiz des Bändchens zeigt ein Stück Bannerfahne mit den Siegeln der Universität und ihrer Fakultäten – mit dem thronenden Stifter im Zentrum – als gleich einer Sonne strahlenden Himmelskörper, der über der Stadt aufgegangen ist.36 Was wiederum Gott angeht, so spricht Wolff in seinen Werken oder Briefen viel von der göttlichen Providenz, der er sich unterstellt sieht.37 Hinsichtlich des Frontispizes zu seiner Metaphysik war er gleichwohl selbstbewusst genug, expressis verbis zu verkünden, dass die lichtbringende Sonne mit seinem eigenen Verstand zu identifizieren sei. In der Ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schrifften von 1726 schreibt er, wegen der von ihm gepflegten Methode ‚geometrischer‘ Argumentation dürfe er mit Recht behaupten, „ich hätte in dieser Disciplin angefangen es lichte zu machen“: es wird sich niemand verständiges darüber ärgern können / daß ich vor mein Buch die Sonne stechen lassen / wie sie aus denen sich brechenden Wolcken hervor kommet und Hoffnung macht / es werde das Gewölcke nach und nach gantz vertrieben werden.38

Der mit dem Sonnenbild verbundene Aufklärungsanspruch ist bei Wolff noch größer als bei Gundling: Unterhalb des Widerstreits zwischen Sonne und Wolken (soll heißen: zwischen richtiger Einsicht und irrigen Meinungen) wird in seinem Frontispiz die vom wiederkehrenden Licht erhellte Welt sichtbar. Über den Streit unter Gelehrten hinaus ist Erkenntnis hier als Welterkenntnis konzipiert und sogar mit einer Perspektive auf Weltgestaltung versehen – Weltgestaltung, wie sie die Bauwerke im unteren Bildteil symbolisieren. Dass Wolff ein Selbstverständnis als Aufklärer hatte und ebenso ein Programm, das er als Aufklärung im ganz konkreten Sinne begriff, lässt sich angesichts seiner Bildpolitik kaum in Abrede stellen, obschon er sich der entsprechenden Worte nicht bediente. Und Thomasius? Der Hauptinnovator der Gründungsphase der Fridericiana griff oft und gerne zu Metaphern von Licht und Finsternis. Meteorologische Aufklärungsbildlichkeit verwandte er, soweit ich sehe, deutlich seltener, aber schon recht früh: „Incipiebam fere eodem tempore dispellere nebulas quasdam, quæ hactenus intellectum meum obfuscaverant“, schreibt er 1688, also noch in Leipzig, im Rückblick auf seine Studienzeit und ein durch Pufendorfs Natur- und Völker36 37 38

[Caspar Gottschling:] Kurtze Nachricht Von Der Stadt Halle, Und absonderlich Von der Vniuersität daselbst. [Halle] 1709, das Zitat S. 22. Im vorliegenden Band vgl. dazu den Beitrag von Heiner Klemme. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben/ auf Verlangen ans Licht gestellet. Frankfurt 1726, 313f. (§ 113). Vgl. ebd., 229f. (§ 78): „Ich meine nun aber in die Grund-Wissenschaft Licht gebracht zu haben / da vorher Finsternis darinnen war. Jedoch halte ich es erst für den ersten Durchbruch der Sonne und glaube / es seyn noch viele Wolcken zurücke / die noch müssen vertrieben werden.“ Zu Wolffs extensivem Gebrauch von Lichtmetaphorik (mit Sonne, Wolken, Schatten, Dunkelheit usw.) vgl. Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 215–220.

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recht bewirktes ‚Erweckungserlebnis‘.39 In der deutschen Übersetzung von 1709 lautet der Satz so: „Ich fieng eben damahls an einige dunckele Wolcken zu verjagen / welche bißhero meinen Verstand verfinstert hatten.“40 Im selben Band lobt einer seiner Schüler, der damals gerade 26-jährige Ephraim Gerhard (1682–1718), die in den letzten 100 Jahren „auffgesteckt[en]“ Lichter und den dadurch „aufgeklährtern Verstand“.41 Überdies lässt sich an Thomasius’ Beispiel belegen, dass die Lichtmotivik und ebenso die Sonnenmetapher auch für die Wahrnehmung der Hallenser von außen eine Rolle spielten. Der Kieler Medizinprofessor Johann Ludwig Hannemann (1640–1724) lobt 1699, Thomasius habe „ein neues Licht angezündet“, und bekennt durchaus unironisch: es „wundert mich / daß sich Leute finden / welche diese neue auffgehende Sonne in philosophia naturali & morali mit ihrem philosophemate ex Tyrannide præjudiciorum oriundo zu verdunckeln […] sich unterstehen.“42 Das Tätigkeitsideal der Aufklärung und ihre auf Lichtverbreitung abhebende Selbstbeschreibungsmetaphorik liegen hier, um es in derselben Sprache zu formulieren, ‚klar vor Augen‘, auch wenn das Stichwort ‚aufklären‘ oder seine Ableitungen nicht fallen, weil sie vermutlich (noch) nicht zum aktiven Wortschatz des Autors gehörten.

IV. Um 1700 entstehen neuartige Innovationsansprüche Mit der Formulierung, er habe „in dieser Disciplin angefangen es lichte zu machen“, erhebt Wolff zugleich sehr deutlich den Anspruch auf Innovativität, und er gibt auch an, worin das Innovative seiner Philosophie besteht: Im Sinne des modernen Innovationsbegriffs, der sich Innovation von neuen Verfahren (bei Wolff der geometrischen Methode) verspricht, die das bisher Bekannte hinter sich lassen und zu besseren Ergebnissen führen, beansprucht er, durch lückenlose Argumentation das sicherste jemals erreichte Wissen gewonnen zu haben.43 Freilich beansprucht Wolff ebenso, dadurch die entscheidende Innovation geleistet zu haben, 39 40

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Christian Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae. Frankfurt, Leipzig 1688, S. 7. Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 4: Göttliche Rechtsgelahrheit. Vorw. von Frank Grunert. Personen- und Sachreg. von Kay Zenker. [Nachdr. der Ausg. Halle 1709.] Hildesheim, Zürich, New York 2001, Vorrede (1. Paginierung), S. 5. Ephraim Gerhard: Von denen Hindernüssen der Auffnahm der natürlichen Rechts-Gelahrheit. In: Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, n. Pag., S. a 3r, vgl. S. a 2r. Johann Ludewig Hannemann: I. Continuation Oder Fortsetzung der Verthädigung der Astrologie Metoposcopie und Chiromantie &c. […]. Hamburg 1699, S. 57. Vgl. die Vorrede zur zweiten Auflage von Christian Wolff: Gesammelte Werke. Abt. 1: Deutsche Schriften. Bd. 2: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Mit e. Einl. u. e. krit. App. von Charles A. Corr. [Nachdr. der (11.) Ausg. Halle 1751.] Hildesheim, Zürich, New York 1983, S. [)( 6r]: „Ich habe in diesem Buche die wichtigsten Wahrheiten in einer beständigen Verknüpfung mit ei[n]ander vorgetragen, und sowohl in der Moral, als Politick überflüßig gewiesen, was dadurch für ein Licht in allen übrigen Disciplinen angezündet worden, und wie endlich die Gewißheit aller Erkäntniß auf diesem Grunde beruhet.“

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auf die lediglich ein Ausbau des Wissens auf der von ihm gelegten Grundlage, aber keine weitere Innovation von demselben Gewicht folgen werden. Für etwas immer wieder Nötiges hält er Innovation noch nicht. Immerhin setzt er voraus, dass Innovation möglich ist und dass Neuerungen, die notwendig Änderungen des Gewohnten sind, weniger unter dem Aspekt zu betrachten sind, dass sie die Gefahr von Unordnung mit sich bringen, denn als Chance zur Verbesserung. Das ist im frühen 18. Jahrhundert noch keine allgemein konsensfähige Position. In diesem Sinne kommentiert Wolff in seiner auf den 24. Dezember 1721 datierten Vorrede zur zweiten Auflage der ‚Deutschen Metaphysik‘ mit ein wenig Selbstgefälligkeit, aber keineswegs unzutreffend die habituelle Abwehr des Neuen in der Vormoderne: Es haben die Welt-Weisen zu allen Zeiten starcken Widerspruch gefunden, wenn sie neue Wahrheiten vorgebracht und von dem gemeinen Vortrage abgegangen, und damit die Widersprecher de sto eher bey Unverständigen Beyfall finden möchten, haben sie ihre Lehren für gefährlich ausgegeben.44

Wie die Belege in der Datenbank des Deutschen Textarchivs in großer Fülle zeigen, war „Neuerung“ im 17. Jahrhundert noch fast durchweg negativ belegt, es sei denn, dass von der Neuerung des auf Gott ausgerichteten Geistes oder der Seele, also von religiöser Umkehr die Rede ist. Begründet wurde die Neuerungsabwehr oder zumindest -skepsis damit, dass die alte Ordnung die legitime sei, während Veränderung eine schädliche Unruhe erzeuge und keineswegs gewährleistet sei, ob sich das Neue als das Bessere erweist. Selbst ein anerkanntermaßen schlechter Zustand ließ sich so gegen Veränderungsabsichten immunisieren, wie ein Epigramm Friedrich von Logaus (1605–1655) mit keineswegs ironisch gemeinter Entschiedenheit zeigt: 90. Neuerung gefährlich. Das böse wol gestellt laß stehen wie es steht/ Es ist noch vngewiß wie neues abegeht.45

Erst im späten 17. Jahrhundert lockerte sich dieser habituelle Konservatismus. So findet sich im Hausväterbuch Wolf Helmhard von Hohbergs (1612–1688) neben zahlreichen Belegen zum herkömmlichen pejorativen Gebrauch eine vorsichtige Öffnung: „Und ist nicht leichtlich zu rahten / daß man von der alten Weise / wann sie nur ein wenig zu erdulden / soll abweichen / ausser wann sie schädlich / und die

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Ebd. Friedrich von Logau: Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend. Breslau 1654, S. 214. Zu Logaus Idealisierung des ‚guten Alten‘ vgl. Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung. 1570–1740. München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 5), S. 219.

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Neuerung merckliche Besserung zeiget / und durch anderer Leute Beyspiel sich beglaubigen machet.“46 Ein prinzipieller Umschwung stellte sich wenig später mit der querelle des anciens et des modernes ein, also der in Frankreich 1687 begonnenen und rasch nach Deutschland ausstrahlenden Debatte darüber, ob der Antike eine dauerhafte Vorbildlichkeit zukomme oder ob sie von den ‚Neueren‘ übertroffen werden könne.47 War die gegen das ‚finstere Mittelalter‘ gerichtete Neuheitsemphase des Humanismus und der Renaissance noch in einer Orientierung an alter Größe gefangen, die sie nicht an eine offene, das heißt potentiell wesentlich andere Zukunft denken ließ,48 so wendet sich Thomasius 1691 gegen diejenigen, „die uns alle Augenblick in die Ohren ruffen / daß wir uns von der Meinung des Ehrwürdigen Alterthumbs nicht solten lassen abwendig machen / daß wir alle Neuerungen ärger als di[e] Pest meiden solten“.49 Während Ludewig ihm 1734 eine offensive Lust „zu allen Neuerungen“ attestieren sollte, muss sich Thomasius hier freilich noch verteidigen, und er tritt dabei deutlich defensiver auf als Wolff 30 Jahre später. Mit selbstbewusster oder gar selbstverständlicher Emphase sprachen die Protagonisten der Fridericiana erst im Laufe der Zeit von „Neuerungen“, oder genauer: taten dies manche Protagonisten, aber keineswegs alle. So betonte der Mediziner Georg Ernst Stahl (1659– 1734), dass die Schöpfung selbst sich nicht ändere; wechseln und wachsen könne nur, was von der Wahrheit bekannt ist.50

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Helmhard von Hohberg: Georgica Curiosa. Oder: Des auf alle in Teutschland übliche Landund Haus-Wirthschafften gerichteten/ hin und wieder mit vielen untermengten raren Erfindungen und Experimenten versehenen/ auch einer mercklichen Anzahl Kupffer gezierten Adelichen Land- und Feld-Lebens Anderer Theil. Nürnberg 1682, S. 20. Zur langsamen „Gewöhnung an Innovation“ in der Frühen Neuzeit vgl. auch den Überblick bei Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Teilbd. 1–2. Frankfurt a. M. 1997, Teilbd. 2, S. 1001–1004, das Zitat S. 1004. Vgl. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. Der Anspruch, „neu zu sein in dem Sinne des ganz Anderen, gar Besseren gegenüber der Vorzeit“, setzte sich laut Koselleck „erst im Zeitalter der Aufklärung durch“ (Reinhart Koselleck: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, S. 300–348, hier S. 310). Vgl. S. 315: „Um die eigene Zeit als einschneidend neu im Gegensatz zur vorausgegangenen und insofern alten Geschichte zu bestimmen, bedurfte es nicht nur einer unterscheidenden Einstellung zur Vergangenheit, sondern mehr noch zur Zukunft.“ Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 8: Einleitung zur Vernunftlehre. Vorw. von Werner Schneiders. Personen- und Sachreg. von Frauke Annegret Kurbacher. [Nachdr. der Ausg. Halle 1691.] Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. 309f. Georg Ernst Stahl (Praes.), Johann Michael Glaschke (Resp.): Disputatio Medica Inauguralis, De Novitatibus Medicis In Genere. Halle 1704, S. 6: „UNam esse veritatem, & illam quidem circa res naturales ab ipsa harum productione firmam & immutabilem, nemo credo dubitaverit […]. Ita quidem eo ipso nihil novi circa veritatem hanc expectandum esse, pariter agnoverit; circa veritatem inquam realem, prout in ipsis rebus fundatur. Bene vero circa manifestationem ejus, ut publice quoque dilucescat & innotescat.“ Zu Stahl vgl. den Beitrag von Francesco Paolo de Ceglia.

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Ein Frontispiz, das den „Novator“ plakativ über den „Veterarius“ stellt, enthalten 1711 die Institutiones Eruditionis von Andreas Rüdiger (1673–1731), einem weiteren Thomasius-Schüler.

Abb. 1: Andreas Rüdiger: Institutiones Eruditionis, Seu Philosophia Synthetica, Tribus Libris De Sapientia, Justitia, Et Prudentia […]. Halle 1711, Frontispiz.

In einem soliden und höchst ordentlichen Ladenlokal bietet der Neuerer Waren an, die der Sache wie dem Aussehen nach gefallen („re specieque placent“), und zieht damit vornehme, höfisch gewandete Kundschaft an. Für die altväterische Kleidung im benachbarten Verkaufsschuppen des Traditionalisten interessiert sich dagegen niemand. Zur klaren Wertung, die das Bild vornimmt, tragen außerdem das Größenverhältnis zwischen den beiden Läden und die Helligkeitsverteilung bei. Dass der Laden des Novators, obwohl er im Haus liegt, als heller dargestellt wird als das praktisch auf der Straße hängende Angebot des Veterarius, wirkt auf den zweiten Blick allerdings unwahrscheinlich und erscheint dadurch als besonders demonstrativ – oder auch ein wenig gewaltsam. Ein Indiz dafür, ab wann die öffentliche Stimmung umschlug zugunsten von ‚Neuerungen‘, stellt die gegen 1720 einsetzende Polemik gegen Neuerungsverweigerer dar. Bei Julius Bernhard von Rohr (1688–1742), einem Wolff-Schüler, der

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sich als Autor eines Unterrichts von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen (1713) auch im Fahrwasser von Thomasius bewegte, tritt sie als Psychologie der Neuerungsabwehr auf: Wolle jemand eine heilsame und nützliche Neuerung nicht zulassen, […] so lieget entweder eine grobe Einfalt oder arglistige Boßheit, Neid und Eigennutz darunter, und würde mancher nicht so hart widersprechen, wenn er nur Autor von solcher Neuerung und neuen Project wäre, und sein interesse reichlich darbey zu finden wüste.51

Einen anderen Ansatzpunkt, in die Offensive zu gehen, hatte der Kirchenrechtler Johann Georg Pertsch (1694–1754), ein Schüler von Justus Henning Böhmer (1674–1749) sowie Thomasius, Gundling und Wolff. Er scheute sich 1721 auch nicht, die Adressaten seiner mit absichtlich falschem Latein gewürzten Polemik zu benennen: „die meisten von der Geistlichkeit hangen unter dem Titul der Beständigkeit als eine Klette. Sie sagen: Sum, es, est, lasts bleiben/ wies gewest. Sum, sus, sut, Neurung thut kein gut.“52 Parallel zum allgemeindiskursiven Stimmungsumschwung gegenüber dem Neuen wurde im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert eine bemerkenswert lebhafte gelehrte Debatte über die theoretische Möglichkeit und die ethische Bewertung des Neuen geführt. Wie Reimund Sdzuj in einem einlässlichen Aufsatz über die zahlreichen novitas-Traktate dieses Zeitraums gezeigt hat, war dies um 1700 ein ‚heißes Thema‘. Wie ließ sich das Bibelwort „nihil sub sole novum“ (Eccl 1,9) mit den Entdeckungen der Naturwissenschaften und anderen Veränderungen vereinbaren? An der religiös-metaphysischen Voraussetzung, dass die göttliche Schöpfung vollendet ist, hielt man lange fest, mit der Konsequenz, dass die Möglichkeit eines substantiell Neuen weiterhin verneint wurde – wenngleich ein Zuwachs des menschlichen Wissens möglich sei, wie sich beobachten lasse;53 so die vorhin zitierte Position von Stahl noch 1704. „Ein grundlegender Richtungswechsel in der Behandlung des Neuen“ erfolgte, so Sdzuj, erst „mit der Absage der Aufklärung an die Barockpolyhistorie“.54 In einer Dissertation von 1729 bedarf „die Schaffung von Neuartigem […] keiner Legitimation mehr, sondern im Gegenteil das fehlende

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Julius Bernhard von Rohr: Einleitung Zur Staats-Klugheit, Oder: Vorstellung Wie Christliche und weise Regenten zur Beförderung ihrer eigenen und ihres Landes Glückseeligkeit Ihre Unterthanen Zu beherrschen pflegen. Leipzig, 1718, S. 978f. Johann Georg Pertsch: Das Recht Der Beicht-Stühle/ Darinnen Der Ursprung und Fortgang der geheimen Beichte Aus denen Kirchen-Geschichten unpartheyisch gezeiget/ und was dabey absonderlich unter denen Protestirenden gebräuchlich ist und seyn solte, gründlich untersucht wird […]. Halle 1721, S. ):( ):( 2 (Vorrede). Vgl. Reimund Sdzuj: Die Figur des Neuerers und die Funktion des Neuen in den gelehrten Disziplinen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 155–183, hier S. 166f. u. 173. Ebd., S. 173.

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Bemühen darum.“55 In Halle nimmt unter anderem Gundling Stellung in der Debatte um die Möglichkeit des Neuen. Mit Berufung auf Leibniz begreift er die Schöpfung als etwas Dynamisches, weshalb er nicht nur neue Erkenntnisse über die prinzipiell gleichbleibende Welt erwartet, sondern auch Erfindungen, die der Welt etwas Neues, soll heißen bislang Inexistentes hinzufügen: Leibniz hatt mir wohlgefallen, wenn Er, in seiner Theodicée, saget: So lange die Welt stünde, würden immer neue Veritates und neue Inventa produciret werden. Wenn wir, nach 1000. Jahren, wieder, in diese Welt, kommen solten, so würden wir vielleicht observiren können, wie die Lufft-Schiffe im Schwange wären. Man wird noch Inventiones machen, daß die Leute können lauffen, wie die Hirsche.56

V. Zwischenresümee: Innovation durch Innovationsbewusstsein Versuchen wir ein Zwischenresümee der bisherigen Beobachtungen: Bei einigen prominenten Gelehrten der Frühphase der halleschen Universität finden wir ein dezidiertes, ja kämpferisches Selbstverständnis als ‚Aufklärer‘ oder, anders formuliert, als Vorkämpfer der Aufklärung, wenngleich weder das Nomen Agentis noch das deverbale Abstraktum bereits in Gebrauch waren. Mit Ian Hunter kann man auch sagen, dass einige Akteure die ‚Persona‘ des Aufklärers schufen, die sich durch Bindung bestimmter lichtemphatischer Redeweisen oder einer entsprechenden Bildpolitik sowie eines sehr selbstbewussten Kommunikationsverhalten „an ein Selbst“ auszeichnet.57 Damit verbunden waren eine starke Neuerungsemphase und ein Innovationsanspruch, der sich auf die Anwendung neuer Methoden stützte. Bei Thomasius und seinen Anhängern ging beides einher mit einem spezifisch modernen Historizitätsbewusstsein, das die eigenen Innovationsleistungen in einem dynamischen Wandlungsprozess stehen sieht, der das Wissen und die Welt insgesamt betrifft. In dem Prozess ständiger Veränderung, als den sie die Geschichte begriffen, sahen sich diese ‚Aufklärer‘ zugleich an einer ganz besonderen 55

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Ebd., S. 174. Sdzuj bezieht sich hier auf eine Dissertation von Johann Friedrich Crell (Praes.), Heinrich Blumbach (Resp.): De Obligatione Ad Inventionem Novorvm Consentiente Sophorvm Ordine. Leipzig 1729. Nicolaus Hieronymus Gundling: Vollständige Historie der Gelahrheit, Oder Ausführliche Discourse, So er in verschiedenen Collegiis Literariis, so wohl über seine eigenen Positiones, als auch vornehmlich über [...] Christophori Avgvsti Hevmanni Conspectum Reipublicae Literariae gehalten [...]. Bd. 1–4. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1734–1736, Bd. 1, S. 26 (2. Paginierung). J[ürgen] Moltmann: Neu, das Neue I. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1–12. Basel 1972–2004, Bd. 6, Sp. 725–727 datiert den Durchbruch neuzeitlicher Neuheitserwartungen dagegen deutlich später: „Erst bewußt neuzeitliche Geschichtsphilosophie hat das N. als Eigenart geschichtlicher Zukunft wieder freigesetzt.“ Wie auch sonst zu beobachten, beruht solche ‚Sattelzeit-Orthodoxie‘ auf geringer Kenntnis frühaufklärerischer Quellen. Ian Hunter hat dieses Konzept für die „Persona des Philosophen“ in der Frühaufklärung entwickelt, s. I. H.: Die Geschichte der Philosophie und die Persona des Philosophen. In: Martin Mulsow u. Andreas Mahler (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010, S. 241–283, hier S. 259.

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Stelle arbeiten: dort, wo es „lichte“ wird. Aus dem Geschichtsbewusstsein ihres Denkens folgte wiederum, dass sie Aufklärung nicht als einmalig-gewaltiges Ereignis verstanden (dazu neigte Wolff), sondern ebenfalls als Prozess – der auch Rückschläge erleiden kann: „Die Welt ist in einigen Stücken schon klüger als vor 100. Jahren. Die trübe Irrthums-Wolcken werden nicht auf einmahl zertheilet,“ schreibt Gundling zur Erläuterung seines Aufklärungsfrontispizes und fügt hinzu, jederzeit könnten „neue Ungewitter aufziehen“.58 Zum Teil – das sei aus andernorts dargelegten Forschungen ergänzt – geschah diese Historisierung bereits unter der weltbildlichen Voraussetzung, dass die Zukunft offen und vom Menschen gestaltbar sei.59 Kein bloßes Wortspiel ist es zu summieren, dass das eigentlich Neue an der neugegründeten Universität Halle der Neuerungsanspruch war, der von einigen ihrer Protagonisten erhoben wurde. Ebenso lässt sich zuspitzend sagen, dass die Innovationsleistung zuallererst darin bestand, dass einige Gelehrte der Fridericiana über ein Konzept von ‚Innovation‘ verfügten bzw. dieses ausbildeten (wieder ohne sich dieses Worts zu bedienen) und es auszuführen unternahmen, im Fall Wolffs mit bisher unbekannter Beharrlichkeit. Ähnliches gilt für die Kategorisierung Halles als erste Aufklärungsuniversität: Dies war sie bereits in der Perspektive mancher historischer Akteure oder Beobachter und zuallererst deswegen, weil sich an ihr, dichter als irgendwo sonst, eine Vorstellung von Aufklärung als intellektuellem Verbesserungsprojekt ausbildete, zunächst in Bildern (sprachlichen wie manifesten) und schließlich zum Begriff geronnen. Neuerungsansprüche, Innovationsstreben und Aufklärungsprogrammatik waren um 1700 ganz generell im deutschen Sprachraum etwas, das neu war oder, was die ziemlich alte Rede vom Neuen angeht,60 ein neues, modernes Fundament erhielt. Sie gehörten noch nicht zur mentalen Normalausstattung von Wissenschaftsinstitutionen, sondern wurden allererst dazu, und dies nicht an allen Orten gleichmäßig.

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[Gundling:] Vorrede (wie Anm. 30), S. [)(4v]. Auf das in der halleschen Frühaufklärung ausgebildete Geschichtsdenken, das sich – so meine These – auf eine neuartig offen erscheinende Zukunft orientierte, bin ich an anderer Stelle ausführlicher eingegangen, vgl. Daniel Fulda: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor.“ Eine deutsch-französische Bild-Geschichte. Halle 2017, bes. S. 45–47, 56–90, 179–181. Das Programm-Bild einer ‚Fackel der Geschichte‘, die in die Zukunft weist (soll heißen: eines historischen Wissens, dass die Gegenwart zu erhellen in der Lage ist und Wegweisung leistet), hat sich in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts unter Hallensern und mit ihnen verbundenen Gelehrten herausgebildet und stellt damit ebenfalls eine von dort kommende Neuerung dar. – Zentral für die ältere Forschung ist Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, der auf die Aufwertung der Historie als Hilfswissenschaft im Reichsrecht abhebt. Zu den in der Frühen Neuzeit gängigen Neuheitsansprüchen, die nicht selten auch oder vor allem als Selbstwerbung zu verstehen sind, vgl. den Beitrag von Kay Zenker im vorliegenden Band.

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In Halle vollzog sich die Formulierung solcher Ansprüche, solchen Strebens und solcher Programmatik doppelt früh: Das lässt sich einerseits wagnislos feststellen, weil es um die Frühphase der Universität geht. Andererseits – nämlich soweit es den Vergleich mit anderen Universitäten betrifft – drängt sich ebenfalls der Eindruck einer Avantgarderolle der Fridericiana auf, wenngleich dieser Eindruck durch gründlichere Vergleiche untermauert werden müsste. Das eine wie das andere weist Neuerungsansprüche, Innovationsstreben und Aufklärungsprogrammatik als besonders charakteristisch für Halle aus. Selbstverständlich erfolgte ihre Ausformulierung nicht allein durch hallesche Gelehrte; vielmehr wurde sie zum Teil lediglich von diesen aufgenommen (auch dies verdiente mehr Aufmerksamkeit61). Vor allem aber waren hallesche Gelehrte prominente und führende Vorantreiber jener Tendenzen. Ein begünstigender Faktor war dabei, dass die Gründung und der Aufbau der Universität in eine Dynamisierungsphase des europäischen Weltverständnisses fielen.62 An einer in dieser Zeit neugegründeten Universität öffneten sich leichter als an anderen Orten und zu anderen Zeiten neuartige Möglichkeiten des Selbstverständnisses, der Selbststilisierung und auch des Wirkens in die Gelehrtenwelt wie in die Gesellschaft hinein. Die Protagonisten der Fridericiana haben diese Chance in allen drei genannten Dimension genutzt.

VI. Die Inaugurationsrede von Paul von Fuchs: ein Regierungsvertreter als Aufklärer? Es klingt ein wenig flapsig, dürfte aber historisch korrekt sein, wenn der 2010– 2018 amtierende hallesche Rektor sein Plädoyer, bei der Charakterisierung historischer Institutionen und Akteure eine quellenfern großzügige Anwendung von Kategorien wie ‚Reform‘, ‚Innovation‘ oder ‚Aufklärung‘ zu vermeiden, in den Satz münden lässt, Kurfürst „Friedrich hatte keine Ahnung, dass er eine Aufklärungsuniversität gestiftet hatte.“63 Trotzdem scheint die von der neuesten Forschung gepflegte Negierung jeglichen Innovationsdenkens bei der brandenburgischen Regierung zu weit zu gehen. Zumindest bei der feierlichen Eröffnung der neuen Universität am 1. Juli 1694 (alten Stils), einem Sonntag und zugleich dem siebenunddreißigsten Geburtstag des mit Prunk eigens angereisten Kurfürsten,

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Eine Publikation zu den internationalen Quellen der halleschen Aufklärungsprogrammatik bereite ich vor. Zur ‚Öffnung‘ des Weltverständnisses um 1700 in einer ganzen Reihe von Hinsichten vgl. Daniel Fulda u. Jörn Steigerwald (Hg.): Um 1700: Die Formierung der europäischen Aufklärung. Zwischen Öffnung und neuerlicher Schließung. Berlin, Boston 2016. Udo Sträter: „eine wunderliche conjunctio Planetarum zu Halle“ – oder: wie eine Reformuniversität entstanden ist. Investiturrede, gehalten anlässlich der feierlichen Investitur des 262. Rektors der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 8. 10. 2010. Halle 2012, S. 18.

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erhob der Regierungsvertreter, der die Inaugurationsrede hielt, durchaus Innovationsansprüche und schlug auch Aufklärungstöne an, wie nun gezeigt werden soll. In der Forschung hat die vom späteren Kurator der Universität Paul von Fuchs (1640–1704) gehaltene Rede erstaunlich wenig Beachtung gefunden, abgesehen von den performativen Akten wie Insignien-, Schlüssel-, Privilegien- und Zepterübergabe, die Fuchs im letzten Drittel der Rede vollzog.64 Die in ihrer inventio aufschlussreiche, in dispositio wie elocutio ausgefeilte und, wie berichtet wird,65 auch in Fuchs’ actio eindrucksvolle Rede wurde auf Latein gehalten und wiederholt (nach)gedruckt, aber auch in deutscher Übersetzung verbreitet.66 All dies spricht für ein hohes Bekanntmachungsbedürfnis ebenso wie für einiges öffentliches Interesse. Im Vergleich der beiden Fassungen werden wir sehen, wie das Vokabular der jeweiligen Sprache Ausdrucksmöglichkeiten disponiert und Assoziationspotentiale eröffnet. Fuchs hatte an der Universität Duisburg den Lehrstuhl für Jurisprudenz innegehabt und war dort zu den Reformierten konvertiert, bevor er 1682 in den Geheimen Rat, die oberste Staatsbehörde, eintrat. Gerhard Oestreich nennt ihn den „ersten, sogleich sehr bedeutenden ‚Kultusminister BrandenburgPreußens‘“;67 er hatte sowohl an der Gründung der Fridericiana großen Anteil als auch später an der Förderung August Hermann Franckes (1663–1727) und seiner Anstalten.

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Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, S. 138ff. analysiert ausführlich die Inaugurationsfeierlichkeiten, geht aber nur auf jene Handlungen ein (S. 146f.). Vgl. [Johann von Besser:] Beschreibung Der Ceremonien, Mit welchen Die Neue Chur-Fürstl. Brandenb. Friderichs Universität zu Halle Im Hertzogthumb Magdeburg/ Den 1/11ten Iulii 1694. inauguriret worden. Halle 1694, n. pag. (fol. 18 des Digitalisats der ULB Halle). Vgl. Paul von Fuchs: Oratio Quam Iussu Serenissimi atque Potentissimi Electoris Brandenburgici [...] In Inauguratione Solenni Universitatis Halensis, Ipso Kalendarum Iul. auspicatissimo Natali Suae Serenitatis Electoralis facta habuit Paulus a Fuchs. Berlin 1694 (hieraus wird im Folgenden zitiert); Monatliche Unterredungen einiger guter Freunde von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten Juli 1694, S. 560–581; Christoph Cellarius (Hg.): Inauguratio Academiae Fridericianae Potentissimi Principis Friderici III Marchionis Et Electoris Brandenburgici Etc. Serenissimis Auspiciis Natali Ipsius Die Calendis Iuliis MDCXCIV Dedicatae. Halle 1698, S. 129–149; Paul von Fuchs: Rede/ Welche auff Befehl Des [...] Churfürstens zu Brandenburg [...] Bey prächtiger Einweyhung der Universität zu Halle/ [...] Am ersten Iulii, als am Höchst-erwünschten Gebuhrts-Tage Sr. Churfürstlichen Durchlauchtigkeit/ In Lateinischer Sprache gehalten/ Und hernach [...] ins Deutsche übersetzet worden. Berlin 1694. Von der Übersetzung liegt ein Nachdruck vor in: Ralf Georg Bogner (Hg.): Labyrinth der Rhetorik. Ausgewählte Reden des frühen 18. Jahrhunderts. Mit einem Nachw. St. Ingbert 1999, S. 7–25, nach dem zitiert wird. Dass der lateinische Text, der gelehrten Textproduktion der Zeit entsprechend, das Original ist, zeigt sich auch daran, dass die deutsche Fassung deutlich weniger dicht formuliert ist. Gerhard Oestreich: Fuchs, Paul Freiherr von. In: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 682f. [Online-Version]. URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118703404.html#ndbcontent [15. 03. 2019]; zu Fuchs vgl. auch Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 1), S. 178f. u.ö.

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Fuchs beschreibt die Fridericiana nicht als eine neuartige Universität,68 wohl aber als eine neue Universität, von der dreierlei erwartet wird: Fortschritte in den Wissenschaften, neues Wissen als Instrument menschlicher Gestaltung einer sich wandelnden Welt sowie eine ‚Erleuchtung‘, die die Studenten erst zu rechten Menschen macht. Zwar geht er nicht so weit wie (später) die halleschen Professoren, die ihre Studien als Durchbruch der Aufklärung präsentieren. Aber er artikuliert ein Geschichtsbewusstsein mit Fortschrittswahrnehmung und weiteren Fortschrittserwartungen („scilicet in ingenio atque industria sensim ad summum artium ac disciplinarum ascenditur“, fol. B; „nemlich durch klugen Verstand und hurtigen Fleiß wird es mit den Künsten und Wissenschafften allmählig auffs höchste gebracht / und ist leicht und angenehm / wenn man zu dem / was allbereit erfunden worden / noch mehr hinzuthun kan“, S. 10). Von einem regelrechten Fortschrittsbewusstsein statt bloß von der Vorstellung einer Wissensakkumulation im Laufe der Zeit kann man bei Fuchs sprechen, weil er den Wandel der Weltverhältnisse und ebenso den reichen praktischen Nutzen betont, der aus neuem Wissen resultierte. Einer der dafür angeführten Beispielbereiche ist die „Schiff-Fahrt“, wo es die Erfindung des Kompasses ermöglicht habe, „daß vor nunmehro 200. Jahren die neue Welt entdecket worden“ (S. 10). Für einen brandenburgischen Geheimen Rat scheint die Wahl dieses Beispielbereichs nicht unbedingt nahezuliegen, anders als die von Fuchs an erster Stelle angeführte „Krieges-Kunst“ (S. 9). Für den von den Wissenschaften erhofften (Erkenntnis-)Fortschritt stellten die Ausfahrt über den Ozean und die Entdeckung Amerikas jedoch ein etabliertes Modell dar – kanonisch gemacht hatte es Francis Bacons Instauratio magna (1620) durch ihr berühmtes Titelkupfer zweier Schiffe, die über das jenseits der Säulen des Herkules (als Grenzen der alten Welt und des traditionellen Wissens) sich öffnende Meer segeln, durch wiederholte explizite Vergleiche der zu reformierenden Wissenschaften mit einer Fahrt über den Ozean, die durch den Kompass möglich geworden sei, sowie durch den Verweis auf die vorbildliche Leistung des Kolumbus.69 Für uns wichtig ist: Indem sich Fuchs auf die durch Wissenschaft ermöglichte Entdeckung der „neuen Welt“ beruft, spezifiziert er die Emphase, mit der er die neue Universität feiert, als eine spezifisch moderne, die vom Aufbruch ins Unbekannte mehr erhofft 68

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Ob die Verfassung der Universität neuartig war, ist in der Forschung umstritten. Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 1), S. 135 spricht sich dagegen aus; Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung (wie Anm. 17), S. 40–46 legt dar, inwiefern die Universitätsstatuten und das landesherrlichen Privileg vom 04. 09. 1697, das die Rechtsstellung der Fridericiana nach außen regelte, eine „Neudefinition der alten Universitätsgenossenschaft als öffentliche Körperschaft“ unter direkter Regierung des den Staat verkörpernden Fürsten bedeutet (Zitat S. 41). Vgl. Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch – deutsch. Hg. u. mit e. Einl. von Wolfgang Krohn. Teilbd. 1–2. Hamburg 1990, S. 1 (Frontispiz) 12 u. 26 (Praefatio zur Instauratio Magna, an der zweiten Stelle mit dem Verweis, dass erst der Magnet-Kompass die Entdeckung der neuen Welt ermöglicht habe), 40 (Distributio operis), 180 (Aph. I 84), 206 (Aph. I 92 mit dem Verweis auf Columbus).

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als befürchtet, ja nicht weniger als die Selbstvollendung des Menschen erwartet (zu diesem anthropologischen Motiv gleich etwas mehr).70 Wenn Fuchs sodann einen Schnelldurchlauf durch die Verbesserungen folgen lässt, welche die Wissenschaften von den Hebräern über Griechen und Römer sowie die Zeiten Karls des Großen und der ersten Universitäten bis zu Humanismus und Reformation herbeigeführt haben (vgl. S. 10–13), so artikuliert sich in dem Ausruf „Quantum mutata ab illis!“ (S. B 2; „Wie sehr hat es sich vom vorigen Zustande geändert!“, S. 11) nicht bloß ein Erstaunen über das Ausmaß des Wandels im Laufe der Zeit, sondern Bewunderung für und Stolz auf die durch die Wissenschaften – und das heißt durch menschliche Geistestätigkeit – erreichten Fortschritte. Thomasius’ Neuerungsemphase, die uns im ersten Abschnitt in der retrospektiven Darstellung Ludewigs beschäftigte, wurde von seinem Berliner Gönner offenkundig geteilt, wenn auch weit vorsichtiger artikuliert. Spezielle Aufmerksamkeit verdient die ins semantische Feld von ‚Aufklärung‘ hineinreichende Lichtmetaphorik, derer sich Fuchs an zentraler Stelle und immer wieder bedient. Gleich der erste Satz der Rede ist ein wohlüberlegtes Wortkunstwerk mit diversen Lichtvokabeln und -motiven. Er verbindet zunächst den strahlenden Tag, an dem Fuchs spricht, mit dem Geburtstag, an dem der Kurfürst das Tages-Licht zuerst erblickt hat, und schließt dann geschickt das Lebens-Licht an, das der Kurfürst vom Himmel empfangen habe und nun als herrscherliche Gabe an die aufleuchtende Universität vermittle. Deren etwas ungewöhnliche Bezeichnung als lat. lyceum enthält überdies selbst schon eine Lichtkonnotation (von griech. leukos = ‚leuchtend, hell‘): SI ullus [dies] lætus, felix, festus, faustusque illuxit, hic sane est; quo Tu, Magne Princeps, Pater Patriæ Optime, ante triginta septem annos in lucem editus, & quo eodem, quam à Cœlo accepisti lucem atque auram vitalem, Illustri huic Lyceó […] commodare voluisti. (fol. A 2r) Wenn der gütige Himmel […] jemahls einen erfreulichen und gedeyhlichen / einen glücklichen und gesegneten Tag hat erscheinen lassen / ist es gewiß der gegenwärtige; An welchem Se. Churfürstl. Durchl. unser gütigster Landes-Vater nunmehr vor sieben und dreysig Jahres dieses Tages-Licht erblicket / und an welchem sie ebenfalls das vom Himmel empfangene Licht und Leben dieser neu-herfürleuchtenden hohen Schule […] gnädigst mitzutheilen sich entschlossen. (S. 7)71

Spezifisch aufklärerisch ist die Lichtmotivik in diesen ersten Sätzen noch nicht, im Gegenteil. Akzentuiert wird die Abkunft von Licht und, dem Bedeutungsspektrum von lat. lux entsprechend, Leben von den höchsten Autoritäten: dem Himmel und dem Herrscher. Einige Absätze weiter jedoch, als Fuchs zum ersten Mal sein Pub70

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Zum Entgrenzungsmotiv bei Bacon und dessen Idee einer „Selbstkreation der Menschheit durch Wissenschaft“ vgl. Hans Schelkshorn: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs der Moderne. Weilerswist 2009, S. 411–470. Zur Abrundung der Rede wird dieser Gedanke im letzten Absatz noch einmal wiederholt, bereichert um die Zukunftsperspektive, der Kurfürst möge sich zeit seines hoffentlich langen Lebens daran erinnern, der Universität „das erste Licht mitgetheilet“ zu haben (S. 24f.; „commodasse lucem“, fol. 41 des Digitalisats der Staatsbibliothek zu Berlin).

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likum anspricht („Auditores omnium Ordinum Honoratissimi“, S. [A 4r]), setzt ein weiterer lichtemphatischer Satz einen geradezu gegenteiligen Akzent, denn er hebt auf die ‚erleuchtende‘ Wirkung der artes liberales ac disciplinae ab, auf die kein Mensch verzichten könne. Nun steht nicht der Herrscher, sondern das einzelne Subjekt im Mittelpunkt, während das Licht von der Universität und den Wissenschaften ausgeht, die im Eingangssatz noch die ihrerseits bedürftigen Empfänger waren: Præclara quævis indoles, nisi artium liberalium ac disciplinarum splendore illustretur, intra tenebras errorum hærebit, & tandem innata ac squallida illuvie sua obfuscabitur. (fol. [A 4r]) Auch ein sonst herrlicher Verstand / wofern er durch den Glantz der freyen Künste und Wissenschaften nicht erleuchtet wird / bleibet in der Finsterniß der Jrrthümer bestecken / und wird endlich durch den angebohrnen schwartzen und dicken Nebel-Dunst gantz verdunckelt. (S. 9)

Die als Gegenpol des gefeierten Lichtes angesprochenen tenebrae legen die Frage nahe, ob Fuchs, als Reformierter, die calvinistische Devise Ex tenebras lux vor Augen hatte. Hat die Lichtmetaphorik, die seine Rede durchzieht, ein religiöses Fundament? Tatsächlich schreibt Fuchs, hierin ganz bibelkonform (Gen 1,3 u. 16), dem Licht einen himmlischen Ursprung zu, und damit ist nicht sky, sondern heaven gemeint, wie die unmittelbar vorausgehende Anrufung Gottes klarstellt (vgl. fol. 41, S. 24). Darüber sowie über andere pflichtschuldige Erwähnungen Gottes und der Religion hinaus spielen religiöse Perspektiven aber keine Rolle in seiner Rede. So darf man trotz der religiösen Bezugnahmen konstatieren, dass die Verbesserungen, die Fuchs von einer Universität erwartet, Leistungen des säkularen Geistes sind. Bezeichnend sind in den zuletzt angeführten Zitaten die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen. Im lateinischen Text wird der Mensch in seiner ‚Naturanlage‘ von den Wissenschaften ‚erleuchtet‘, im deutschen hingegen ist es, etwas spezifischer, der menschliche „Verstand“, dem dies zuteil wird. Zudem ist es auf Latein ein geradezu pleonastisch unsauberer Schmutz, Schlamm oder Kot, der den wissenschaftsfernen Menschen im Finstern hält, während diese Gefahr im Deutschen von einem dicht-dunklen Nebel ausgeht.72 Um die Glanz–Schmutz- bzw. Hell–Dunkel-Opposition, mit der Fuchs für die Wissenschaften wirbt, bildlich zu konkretisieren, bringt die deutsche Übersetzung demnach ein meteorologisches Phänomen ins Spiel. Auf derselben Linie folgt wenige Zeilen später ein Lob der Gelehrsamkeit, die „allerley Lehrreiche Beyspiele gleichsam am hellen Tage dargelegt vor sich sehe[]“ (S. 9). Damit sind die meteorologischen Kernkomponenten von ‚Aufklärung‘ bereits versammelt, nämlich „Dunst“ (Nebel oder Wolken) und dagegen sich durchsetzende Himmelshelligkeit (von ‚Sonne‘ ist auch in Stielers

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Dessen behauptetes Angeborensein stellt freilich einen Bildbruch dar – der durch das halbherzige Abrücken der Übersetzung vom originalen Subjekt ‚Naturanlage‘ zustande kommt.

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Wörterbuch keine Rede; er paraphrasiert „aufklären“ als „cœlum fit serenum“73). Die lateinische Formulierung „in illustri“ (fol. [A 4r]) kann man zwar gleichfalls als Tages- oder auch Himmelshelligkeit verstehen, aber ihr dunkler Gegenpol ist nicht meteorologisch konkretisiert. Auf das Licht im Allgemeinen legt freilich auch der Originaltext großen Wert. Hier fällt der ‚helle Tag‘ der zuletzt zitierten Stelle noch einmal stärker auf, wenn man aus Fuchs’ Satz die fast wortgleiche Vorlage aus Livius’ Praefatio zu seiner Römischen Geschichte heraushört, einem kurzen Text, dessen Kenntnis bei Gelehrten vorausgesetzt werden darf. Denn dort heißt es: „in inlustri posita monumento“ (‚in einem leuchtenden Denkmal aufgestellt‘; Übers. D. F.), während Fuchs das Substantiv gestrichen hat, so dass „in illustri posita“ übrig bleibt und ein semantischer Umschwung von einem konkreten Gegenstand, der leuchtet, zum hellen Tageslicht im Allgemeinen erfolgt.74 Darf man all dies so verstehen, dass hier schon eine Idee von Aufklärung zugrunde liegt, obwohl (in der Übersetzung) das Wort „aufklären“ oder eine Ableitung davon nicht vorkommen? Die Vorstellung des nützlichen, ja notwendigen ‚Hellmachens‘ im Sinne von bewusster und verstärkter Erkenntnisbemühung mit Fortschrittserwartung stellt in der Tat den roten Faden von Fuchs’ Lob der Wissenschaften im Allgemeinen und seiner Erwartungen an die neue Universität im Besonderen dar. Insofern kann man von einem aufklärerischen Denken und Anliegen sprechen. Wie für das lateinische Original der Rede nicht anders zu erwarten, findet sich dort allerdings nicht die meteorologische Bildlichkeit, die für den deutschsprachigen Aufklärungsdiskurs – und nur für diesen!75 – charakteristisch ist. Umso auffälliger ist, dass die deutsche Übersetzung diese Bildlichkeit hinzufügt. Machte sie damit lesbar, was die Fuchs’sche Rede zwar den Argumenten und dem Denkstil nach enthielt, aber in der gewählten Sprache nicht ausdrücken konnte? Wer die Übersetzung anfertigte, ist nicht bekannt. Eine naheliegende Vermutung zielt auf den brandenburgischen Zeremonienmeister Johann von Besser (1654–1729), der für die Inaugurationsfeierlichkeiten verantwortlich gewesen war und umgehend eine hymnische Beschreibung derselben verfasste; sie machte die in 73 74

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[Stieler]: Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs (wie Anm. 27), Sp. 968. „O quam salubre ac frugiferum est, omnis exempli documenta in illustri posita intueri, ut inde sibi quisque suæque Reipublicæ quod imitetur, capiat, inde fœdum incœptu, fœdum exitu, quod vitet.“ (fol. [A 4r], vgl. Titus Livius: Ab urbe condita, Praefatio 10) Grammatisch ändert Fuchs die direkte Ansprache des Lesers in der zweiten Person bei Livius zu einer Aussage über „jede[n]“ (S. 9) Lernenden in der dritten Person. Das Lateinische hat für das Changieren zwischen Licht-Bildlichkeit und kognitiver Bedeutung (‚offenbar‘) nicht einmal ein „gleichsam“ nötig. Zur Unterschiedlichkeit der Aufklärungsbegriffe in den verschiedenen europäischen Sprachen, vor allem im Deutschen und Französischen, und besonders mit Blick auf die unterschiedlichen Wortfelder, aus denen sie stammen, vgl. Ulrich Ricken: Begriffe und Konzepte für Aufklärung. Zur Problematik einer Begriffsgeschichte als vergleichende Lexikologie der Aufklärung. In: Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach (Hg.): Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hamburg 1992, S. 95–105.

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einer Präsenzöffentlichkeit vollzogene Universitätsgründung nachvollziehbar für die Nachwelt und die Nichtanwesenden.76 In seiner Beschreibung sieht Besser sogar das Wetter beitragen zum perfekten Ablauf der Inauguration: Es habe „alle Nächte zwar geregnet / aber sich doch alle Morgen wieder auffgekläret / und [sei] bis zu Ende der des Tages vorgehabten Handlung auffgeklärt geblieben.“77 Doch enthält die Beschreibung keinerlei Indiz dafür, dass dem Verb ‚aufklären‘ eine metaphorische (Neben-)Bedeutung von intellektueller Programmatik abzulesen ist. Allenfalls bahnt sich an der zitierten Stelle ein übertragener Gebrauch an, denn das gute Wetter soll zweifellos als positives Signal für das Gelingen des ganzen Unternehmens verstanden werden, womöglich gar als ‚Himmelszeichen‘.78 Vor Interpretationen, die semantische Differenzen zwischen der Zeit um 1700 und unserer Gegenwart nicht beachten, gilt es sich zu hüten. Geht man von Besser als Übersetzer der Fuchs’schen Rede aus, so spricht die bei ihm noch nicht ins Intellektuelle übertragene Bedeutung von aufgeklärt eher dagegen, dass die dortige zaghaft meteorologische Metaphorik den Hintergrund einer Idee von ‚Aufklärung‘ als intellektuellem Unternehmen hat. Auch ohne eindeutige Vorstellung von ‚Aufklärung‘ propagiert Fuchs’ Rede indes eine Idee von Universität als Innovationsinstitution, durch die sich der Mensch phylogenetisch (im Laufe einer als Fortschritt begriffenen Geschichte) wie ontogenetisch (durch Steigerung über seine animalische Natur hinaus) verbessern kann. Die Verbindung von Innovationsansprüchen mit einer nichts weniger als bescheidenen Licht-Bildlichkeit ist ohnehin deutlich genug, und zwar im lateinischen Original wie in der deutschen Übersetzung.

VII. Ein innovativer Externer als produktiver Spiegel der halleschen Konstellation: Jacob Friedrich Reimmann Während offenbleiben muss, ob Fuchs und/oder sein Übersetzer bereits eine Vorstellung von ‚Aufklärung‘ als ‚Nebel/Dunst/Wolken-vertreibender‘ geistiger Tätigkeit hatten, finden wir fünf Jahre später in einem Widmungsgedicht an und auf den „Churfürstl. Brandenb. würcklichen geheimden Etats-Rath [und] Des Consistorii Præsidenten“79 eine unmissverständliche Charakterisierung seines Wirkens als 76

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79

Außer der bereits zitierten Halleschen Ausgabe von Bessers Beschreibung Der Ceremonien gibt es zwei ebenfalls 1694 erschienene Berliner Drucke sowie eine auf das internationale Publikum berechnete Übersetzung ins Französische, die 1695 in Amsterdam erschien. [Besser:] Beschreibung Der Ceremonien (wie Anm. 65), n. pag. (fol. 18 des Digitalisats der ULB Halle). „Der Himmel sandte Epochenzeichen“, kommentiert Martus: Aufklärung (wie Anm. 26), S. 113. Martus’ Aperçu übersteigt – wohl augenzwinkernd – den Horizont der Akteure, da ‚Aufklärung‘ damals keinesfalls schon ein Epochenbegriff war. Jacob Friedrich Reimmann: Critisirender Geschichts-Calender Von der Logica, Darin das Steigen und Fallen Dieser hoch-vortrefflichen Disciplin von Anfang der Welt biß auf das Jahr nach Christi Geburt 1600 entworffen […]. Frankfurt a. M. 1699, n. pag. Widmung. Stellennachweise erfolgen im Haupttext mit Vers- oder Strophenangabe.

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Aufklärung im übertragenen Sinne, ausgedrückt durch meteorologische Metaphern, die zur Veranschaulichung geistiger Leistungen und Wirkmächtigkeit dienen – ganz wie 20 Jahre später in der Rektorats-Serenade für Gundling, aus der in Abschnitt III zitiert wurde. Das Gedicht umfasst 15 Strophen à acht Zeilen mit doppelten Kreuzreimschema und streng eingehaltenem Wechsel von weiblicher und männlicher Kadenz. Es lobt Fuchs als glanzverbreitende Sonne und setzt sich dabei gleich zu Anfang vom topischen Lob des Herrschers als „Sonnen [!] der Gerechtigkeit“ ab (V. 18), denn Fuchs’ Amtsträger-„Glantz komt nicht aus eigner Macht“ (V. 24), sondern ist, wie der Leser ergänzen kann, abgeleitet vom Fürsten, in dessen Dienst der zu Lobende steht – daher blendet der Laudator ihn aus. Weiterhin stellt er klar, dass mit Fuchs’ Ansprache als Sonne, die „groß und klein bestrahlt“ (V. 48), keinerlei Zweifel daran verbunden ist, dass das ewige Heil allein von Gott kommen kann (Str. 9). Das Lob des Gedichts bezieht sich ausschließlich auf das Licht, das Fuchs mit seinen eigenen menschlichen und persönlichen „Gaben“ (V. 9) verbreite. Indem nur von ihnen die Rede sein soll, werden sie zugleich enorm aufgewertet: Ich will anitzo nur berühren Den unvergleichlich-hellen Geist Den du vor andern lässest spüren Wenn sich was dunckeles erweist Denn dieser heist die Sonne schauen. Wie sie durch einen Nebel bricht Und diese Wort in Marmel hauen: Der Dunst verschwindet in dem Licht. (V. 25–32)

Der semantische Kern von Aufklärung im meteorologischen Sinne ist hier deutlich präsent, wird typographisch sogar eigens hervorgehoben und bildet das Hauptargument. In der vorletzten Strophe wird er noch einmal wiederholt und als Wunsch formuliert: „Daß mein geliebtes Sonnen-Licht / Mich mag mit Gaben überschütten / So offt es aus den Wolcken bricht“ (V. 106–108). In diesen Sprachbildern eine verbale Vorwegnahme der Titelvignette der Gundlingiana zu sehen liegt ebenso nahe, wie die Verse „Da können wir die Sonn erblicken / Die Welt und Feld mit Golde krönt“ (V. 37f.) in den Frontispizen Wolffs wiederzuerkennen. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Panegyrikus auf Fuchs jene Bilder von Aufklärung irgendwie beeinflusst hätte. Festgestellt werden kann jedoch: Bereits vor der Jahrhundertwende gab es eine dichte und keineswegs (wie in der Übersetzung von Fuchs’ Rede) nur beiläufige Assoziation von Bildern der nebelvertreibenden Sonne mit Idealen ebenso nutzbringender wie machtvoller geistiger Durchdringung auch gegen Widerstände. Wenig überraschen kann daher, dass der Autor des Panegyrikus, der damalige Halberstädter Rektor Jacob Friedrich

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Reimmann (1668–1743), einige Jahre später der erste war (soweit wir wissen), der von der „Auffklärung unsers Verstandes“ als einem gelehrten Programm schrieb.80 Mit den frühen Aufklärern in Halle verband Reimmann nicht nur seine Bemühung um Protektion durch den als innovationsfreundlich bekannten Minister, der die Friedrichs-Universität inauguriert hatte. Mit dem von ihm bewunderten Thomasius stand Reimmann in lebhaftem Briefkontakt, aber er kritisierte ihn auch, insbesondere weil Thomasius bei der „Erleuchtung des Verstandes“ unlogisch argumentiere – so schreibt Reimmann 1697, ausgehend von lat. illuminare oder illustrare.81 Wenn er einige Jahre später von der „Auffklärung unsers Verstandes“ spricht, ist dasselbe gemeint, nun in der uns geläufigen Begrifflichkeit. Beide favorisierten eine historische Inventur des gelehrten Wissens als Vehikel künftiger Erkenntnisfortschritte: die Historia literaria.82 Indem Reimmann sich von der Autorität der „Alten“ distanzierte und darauf bestand, „daß in der orbe Scientiarum noch hundert tausend neue Welten zu entdecken/ und also noch viele gelehrte Columbi in denselben vonnöthen“ seien,83 lag er ebenfalls auf der von der Bacon herkommenden Linie des halleschen Strebens nach Innovation und gelehrtem Fortschritt. Eine institutionelle Beziehung zur Fridericiana hatte Reimmann nicht; insofern kann er als Außenstehender gelten, der die hallesche Neuerungsemphase rezipierte – und deren Attraktivität dem retrospektiven Forscher bezeugt. Als Adept und Korrespondenzpartner der Hallenser war er zugleich indes ein produktiver Teil der dynamischen Gelehrtenwelt in und um Halle herum. In dem über Jahrzehnte sich hinziehenden Prozess der Herausbildung und Ingebrauchsetzung

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Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam Insgemein und derer Teutschen insonderheit. Bd. 1–3 (in 6). Halle 1708–1713, Bd. 1, S. 145, ebenso Bd. 3,1 (1709), S. 440. Jacob Friedrich Reimmann: Unvorgreifflicher Concept von der Wahren Gelehrsamkeit, Darinnen Vornehmlich die Gedancken des S.T. Herrn Christiani Thomasii […], Die er in seiner Introductione in Logicam Cap. I. von dieser Materi geführet, Mit gebührender Bescheidenheit und Liebe untersuchet und unmaßgeblich gewiesen wird: 1., Worinn die wahre Erudition bestehe? 2., Wie weit man anitzo durch das Licht der Natur darinnen avanciren könne? [o. O.] 1697, S. 32. Zu Reimmanns Verhältnis zu Thomasius vgl. Martin Mulsow: Die Paradoxien der Vernunft. Rekonstruktion einer verleugneten Phase in Reimmanns Denken. In: Ders. u. Helmut Zedelmaier (Hg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Tübingen 1998, S. 15–59, hier S. 16–26. Zu Reimmanns Eintreten für die Historia literaria und deren Orientierung auf Zukunft vgl. Fulda: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“ (wie Anm. 59), S. 56–66. Zur Historia literaria als besonders in Halle gepflegter Gattung vgl. den diesbezüglichen Beitrag von Frank Grunert. Jacob Friderich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam Antediluvianam d. i. In die Geschichte der Gelehrsamkeit und derer Gelehrten vor der Sündfluth darinnen Dieselbe Methodo Scientifica entworffen/ und dergestalt eingerichtet ist/ daß ein curieuses Gemüthe die Haupt-Articul dieser hochnöthigen und höchstnützlichen Wissenschafft alsofort in einem kurtzen begriff vor Augen haben/ Und sich also nebst der Sache auch den Nutzen derselben und die eigentlichen Hülffs-Mittel zu beyden mit guter Manier zu gelangen/ um so viel klärer/ deutlicher und gründlicher vorstellen kan. Halle 1709, n. pag. Vorrede.

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des Aufklärungsbegriffs war er nach derzeitigem Erkenntnisstand sogar ein besonders innovativer Faktor.

VIII. Zur Rolle der Fridericiana in der Frühphase des Aufklärungs-Vokabulars Eine Vorstellung von ‚Aufklärung‘ als verbesserter, ja neuartiger Erkenntnis spielte, wie wir sahen, in der Frühphase der Fridericiana an zentralen Punkten eine wichtige Rolle. Es liegt daher nahe, die quasi umgekehrte Frage zu stellen, welchen Anteil Halle an der Ausbildung dieser Vorstellung und schließlich auch des Begriffs „Aufklärung“ hatte. Die Klärung dieser Frage könnte dazu beitragen, die Position Halles im größeren Feld der deutschen Frühaufklärung näher zu bestimmen. Sie ist allerdings mit der im Rahmen eines Aufsatzes kaum zu bewältigenden Schwierigkeit konfrontiert, dass es keine zuverlässige Rekonstruktion der Entstehung und Etablierung des (deutschen) Aufklärungsbegriffs gibt, geschweige denn eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, die das von bedeutungsähnlichen Metaphern gebildete Vor- und Umfeld der Begriffsentstehung sowie äquivalente Bilder einbeziehen würde, wie dies in den Abschnitten III und VI versucht wurde. Der recht umfangreiche Aufklärungs-Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen behandelt die Zeit vor 1750 durchaus stiefmütterlich; die oben zitierten Belege bei Stieler 1695 und Reimmann 1708/1709 etwa fehlen, dasselbe gilt für die adjektivische Verwendung bei Gerhard 1709. Stattdessen heißt es, „nicht vor der Mitte des 18. Jahrhunderts“ sei das meteorologische Hellwerden „auf das menschliche Gemüt“ übertragen worden und habe sich mit dem Substantiv Aufklärung „die Vorstellung des Aufhellens, Aufdeckens und Klarmachens eines Sachverhalts“ verbunden.84 Derzeit bloß ein Notbehelf und dennoch aufschlussreich ist das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erarbeitete, als Instrument der sprachhistorischen Forschung gedachte Deutsche Textarchiv (DTA) mit seinen guten Recherchemöglichkeiten auf allerdings noch schmaler Quellengrundlage, das künftig „ein hinsichtlich der repräsentierten Textsorten und Disziplinen ausgewogenes Korpus“ bieten soll.85 Die frühesten bekannten Belege fehlen (derzeit) auch dort. Für uns von Nutzen ist das DTA aber trotzdem, weil es zahlreiche Belegstellen enthält, von denen die begriffsgeschichtliche Forschung zur Aufklärung bisher keine Notiz genommen hat.

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Horst Stuke: Aufklärung. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1–8 (in 9). Stuttgart 1972–1997, Bd. 1, 243–342, hier S. 247. Über die Prinzipien der Textauswahl und den jeweils aktuellen Bestand informiert die Website http://www.deutschestextarchiv.de; das Zitat findet sich auf http://www.deutschestextarchiv.de/ doku/textauswahl [30. 03. 2019].

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Etwas verbreitern lässt sich das Material durch Hinzunahme des Verbs und des Adjektivs/Partizips. Das DTA führt bei einer Suche nach „Aufklärung/aufklären/aufgeklärt“ überdies auch Belege für „Ausklärung/ausklären/ausgeklärt“ an – wortgeschichtlich korrekt, denn die Präfix-Differenz ist um 1700 semantisch nicht signifikant; dementsprechend behandelt Stieler beide Varianten als Synonyme („Ausklären idem quod Aufklären“).86 Früher und öfter als das Substantiv treten im DTA das Verb und das Adjektiv auf – das entspricht im Prinzip dem bisherigen Kenntnisstand, doch sind die ersten Belege älter, als man bisher annahm,87 und zwar auch für die ins Mentale übertragene Bedeutung. Unabhängig von der Wortform haben die ältesten Belege eine meteorologische Bedeutung (als Substantiv „Ausklärung“: Sandrart 1675, Lohenstein 1689); ebenso kann sich Wasser „aufklären/ausklären“. Vor allem im 17. Jahrhundert gibt es außerdem die Bedeutung religiöser ‚Verklärung‘ (Mühlpfordt 1686: „dermahleinst dein Fleisch wird auffgekläret seyn“). Der erste Beleg mit Bezug auf den menschlichen Geist ist eine adjektivische Verwendung 1679 bei dem Maler, Stecher und Kunstschriftsteller Joachim von Sandrart (1606–1668), der ein Bildsymbol als „die rechte gesunde und aufgeklärte Vernunfft“ decodiert, die über die Wollust siegt.88 Auf das menschliche Gemüt bezogen (aber weniger auf den Verstand als auf die Affekte) findet sich das Verb auch 1689 in Daniel Casper von Lohensteins Roman Arminius, mit einem „Nebel der Bedenklichkeit“ bzw. mit „grimmigen Zorn-Wolcken“ als Widerparten.89 Von den ‚Aufklärungs‘-Vorstellungen im intellektuellen Dunstkreis von Halle, denen wir vorhin nachspürten, unterscheiden sich diese ersten Belege in drei Hinsichten: Der Verwendungskontext ist ein künstlerischer, kein philosophisch-gelehrter; im Gegenstandsbezug zielen sie nicht auf eine nachhaltige intellektuelle Verbesserung, sondern auf Besonnenheit in einer konkreten Herausforderungssituation; und es handelt sich nicht um eine programmatisch entwickelte Vorstellung, sondern das Wort fällt en passant. Von einer Aufklärungs-Vorstellung annähernd im Sinne unseres heutigen Begriffs kann bei den frühen Wort-Belegen bei Sandrart (1679) und Lohenstein (1689) demnach noch keine Rede sein. Was im DTA nach den beiden meteorologischen Substantivbelegen folgt, sind 25 Belege aus Joachim Langes Apostolischem Licht und Recht, einer zweibändigen 86 87

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[Stieler]: Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs (wie Anm. 27), Sp. 969. Vgl. Stuke: Aufklärung (wie Anm. 84), S. 247f.; Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 3, 4. Lieferung. Stuttgart 2002, Sp. 559, s. v. aufklären. Joachim von Sandrart: L’Academia Todesca della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste. Bd. 2,3. Nürnberg 1679, S. 95. Bei dieser Verwendung liegt eine Kombination mit „Heiterkeit“ nahe, die ebenfalls sowohl meteorologisch als auch mental verstanden werden kann, vgl. Johann Leonhard Rost: Leben und Thaten Derer berühmtesten Englischen Coquetten und Maitressen […]. Nürnberg 1721, S. 436: „[…] bemühete sie sich, ihre Leidenschafft zu stillen und die grausamen Stürme ihres Gemüths in eine ausgeklärte und sanffte Heiterkeit zu verwandeln.“

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Exegese der im Neuen Testament enthaltenen Briefe von Paulus u. a., die der als streitbarer Gegner Christian Wolffs bekannte hallesche Theologe 1729 publiziert hat. 32 weitere Belege aus diesem Werk hat das DTA für Verb und Adjektiv. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (im vorläufig sehr schmalen Korpus des DTA wohlgemerkt) gibt es ansonsten nur in Barthold Heinrich Brockes’ Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott, deren neun voluminöse Bände 1721–1748 erschienen,90 eine vergleichbare Massierung der Belege, dort ausschließlich für das Verb oder Adjektiv (insgesamt 35 Mal) – aber vorwiegend mit meteorologischer Bedeutung, die bei Lange an keiner einzigen Stelle gemeint ist. Bei Brockes (1680–1727), dem literarischen Hauptvertreter der Hamburger Frühaufklärung,91 überrascht die Präsenz des Stichworts aufgeklärt nicht. Allerdings ist nur in wenigen Fällen eine Verbesserung der Erkenntnisfähigkeit gemeint, wie man es von Stieler und Reimmann her erwarten könnte. Eine der am weitesten in diese Richtung gehenden Verwendungen lautet so: Hingegen erndtet man ein ganz gewisses Glück, Wenn man den aufgeklär’ten Blick Mit Achtsamkeit auf alles lenket, Weil alles schön, was die Natur uns schenket, Und, wenn man des Geschöpfs sich freut, Bey ihrer Herrlichkeit Zugleich auch an den Schöpfer denket.92

Was aber fand ein kämpferischer Pietist wie Joachim Lange (1670–1744), der den menschlichen Sinnen keineswegs traut, an dem Wort aufklären/Aufklärung, dass er es so massiv einsetzte? Aufklärung ist für Lange etwas, das Gott leistet und das allein von ihm kommen kann. Von den beiden „Lichte[rn]“, die der Mensch laut Thomasius und anderen von Gott erhalten hat – nämlich dem „natürlichen Licht oder dem Verstand“ und dem „übernatürlichen“ Licht, das von „Göttlicher Offenbahrung“ herrührt93 –, erkennt Lange nur das von Gott kommende an, das entweder in der Heiligen Schrift zu fassen oder dem geistlich Erleuchteten zuteil geworden sei. Denn der menschliche Verstand sei durch den Sündenfall „sehr verdunckelt worden“.94 Mit diesem typisch lutherischen Grundgedanken positioniert sich Lange scharf gegen die von seinen Professorenkollegen Thomasius und Wolff vertretenen Ansprüche 90 91 92 93

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Der erste Band ist im DTA derzeit allerdings nicht enthalten. Vgl. Marc Chraplak: B. H. Brockes’ fröhliche Physikotheologie. Poetische Strategien gegen Weltverachtung und religiösen Fanatismus in der Frühaufklärung. Bielefeld 2015. Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten […]. Bd. 2. Hamburg 1727, S. 74. Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 8: Einleitung zur Vernunftlehre. Vorw. von Werner Schneiders. Personen- und Sachreg. von Frauke Annegret Kurbacher (Nachdr. der Ausg. Halle 1691). Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. 80. Joachim Lange: Apostolisches Licht und Recht/ Das ist Richtige und erbauliche Erklärung Der sämtlichen Apostolischen Briefe […]. Bd. 1–2, Halle 1729, Bd. 1, S. 516.

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auf säkulare Welterkenntnis. Gegenüber dem Naturrechtler Thomasius – bei dem er vor seiner Berufung als Hauslehrer gearbeitet hatte – betont er immer wieder, dass der gefallene Mensch das von Gott gestiftete „Gesetz der Natur“ gar nicht richtig erkennen könne, so dass „desselben Aufklärung, welche wir in der heiligen Schrift haben“, hinzukommen müsse, „welche so vortreflich ist, daß sie kein menschlicher Verstand vor sich erreichen kann“.95 Durch die „Evangelische Morale“ werde „das Licht und Recht der Natur erst wieder recht aufgekläret, und kömmt wieder nach und nach zu seiner Integrität, welche es im Stande der Unschuld gehabt hat“.96 Gegenüber Wolff hält Lange den „freyen Willen“ hoch – dem Philosophen hatte er 1721 in Reaktion auf dessen Sineserrede97 vorgeworfen, die geometrische Methode, die für alles einen zureichenden Grund anzugeben beansprucht, konstruiere eine lückenlos kausaldeterminierte Welt und laufe auf die Leugnung der Willensfreiheit und damit der moralischen Verantwortlichkeit des Menschen hinaus.98 Der Verstand, auf den Wolff vertraut, sei wiederum „durch die Sünde verfinstert[]“ und werde nur „durch das Licht wieder aufgekläret“, das von Gott kommt.99 Überdies setzt Lange die Vokabeln Aufklärung/aufklären/aufgeklärt dort ein, wo er vom allmählichen Sichtbarwerden des göttlichen Heilsplans handelt: Die Gnade, die Gott durch Christus schenkt, sei eine „viel herrlicher[e] Aufklärung […], als sie vorhin in den Verheissungen“ (den Prophezeiungen des Alten Testaments) angekündigt wurde. „Aufklärung“ hat bei Lange demnach auch eine ‚historische‘ Bedeutung, oder genauer: eine heilsgeschichtliche. Lange setzte das Aufklärungs-Vokabular planvoll und engagiert ein und sogar so planvoll und engagiert wie kein anderer im DTA erfasster Autor vor 1750. Kann man ihn deshalb als Aufklärer bezeichnen? Was ihn zum ausdauernden Einsatz jener Vokabeln an gedanklich zentraler Stelle motivierte, wird klarer, wenn man bedenkt, dass es an keiner der beschriebenen Stellen den Bedarf nach einem neuen Wort gab. Vielmehr standen wohletablierte theologische Begriffe bereit: „Offenbarung“, „Erleuchtung“ sowie „Oeconomie“ (mit der heute verschwundenen Bedeu-

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Ebd., Bd. 2, S. 84. Ebd., Bd. 1, S. 419. Zur besonderen Rolle des Naturrechts für die Fridericiana und vice versa vgl. den diesbezüglichen Beitrag von Frank Grunert sowie: Dominik Recknagel u. Sabine Wöller (Hg.): „Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind!“ Naturrechtslehre in Halle. Katalog zur Ausstellung im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Halle (Saale), 10. Oktober 2013 bis 6. Januar 2014. Halle 2013. Zur um 1700 geführten Debatte um die Konfuzianische Ethik und ihrer Anschlussfähigkeit an eine Philosophie auf der Höhe der Zeit, vgl. den Beitrag von Axel Rüdiger im vorliegenden Band. Lange: Apostolisches Licht und Recht (wie Anm. 94), Bd. 1, n. pag. Vorrede (§ 7). Vgl. Martin Kühnel (Hg.): Joachim Lange (1670–1744), der „Hällische Feind“ oder: Ein anderes Gesicht der Aufklärung. Ausgewählte Texte und Dokumente zum Streit über Freiheit – Determinismus. Halle 1996, S. 17–19. Zu den Konflikten zwischen Lange und Wolff, die sich aus unterschiedlichen Lehrmethoden ergaben, vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Simon Grote. Lange: Apostolisches Licht und Recht (wie Anm. 94), Bd. 1, n. pag. Vorrede (§ 7).

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tung der allmählichen Austeilung des Heils und Enthüllung des Heilsplans nach Eph 1,10), und Lange benutzte diese Begriffe auch, teilweise in praktisch pleonastischer Kombination mit „Aufklärung“, wie er sie verstand: „Offenbarungen und Aufklärungen“, „mehrere Erleuchtung und Aufklärung“, „Aufdeckung und Aufklärung, welche in Christo zur Zeit der Evangelischen Oeconomie geschehen ist“.100 Lange hat nicht einen neuen (d. h.: noch nicht etablierten) Begriff für einen neuen Gedanken oder ein neues Anliegen gesucht und gefunden, sondern er versuchte, einen seinerzeit neuen (d. h.: erst vor wenigen Jahren geprägten, gerade in Gebrauch kommenden) Begriff zu besetzen, und zwar mit alten (d. h.: traditionell theologischen) Inhalten. Sein Begriffsgebrauch ist recht innovativ – in dem Sinne, dass er noch keineswegs gängig war –, dient jedoch der Abwehr von Innovation in Philosophie, Recht, Gelehrsamkeit, ja, wie man sagen kann, im europäischen Weltbild. Der Philosophie, der Wolff ein Aufklärungs-Bild vorangestellt hatte, und dem Naturrecht, für dessen Ausarbeitung sich Thomasius auf das ‚natürliche Licht‘ seines Verstandes berufen hatte, setzte Lange eine Theologie der, wie es mehrfach heißt, „rechten“ und „viel grössern Aufklärung“101 entgegen. Ebenso konterte er das innovations- und fortschrittsoptimistische neue Geschichtsdenken Gundlings und anderer, indem er auf der letztlich alleinigen Maßgeblichkeit des göttlichen Heilsplans insistierte. Kurzum: Mit seinem intensiven Gebrauch von Aufklärung/aufklären/aufgeklärt machte Lange Front gegen die säkularen Protagonisten der halleschen Aufklärung, und wir dürfen annehmen, dass er sich dieses Vokabulars genau deshalb bediente, weil er seine Gegner damit auf ihrem eigenen Vorstellungsterrain treffen konnte. Dass er sich des neuen Vokabulars so ausgiebig, aber ohne Not bediente, zeigt seine dezidiert anti-aufklärerische Intention an. Wäre es nur um die Artikulation einer Position gegangen, die gegen die ‚Verstandesaufklärung‘ geltend macht, dass die für den Christen entscheidenden Einsichten und Güter allein von Gott kommen können, so wäre „Erleuchtung“ der am nächsten liegende Begriff gewesen; Langes Lehrer Francke hatte dafür in seiner Predigt „Die Lehre von der Erleuchtung“ von 1698 ein Beispiel gegeben.102 Nichts jedoch konnte den konfrontativen Grundzug seiner Theologie besser zur Geltung bringen als die linguistische Aneignung der gegnerischen Leitvorstellung. Langes Bibelexegese war ein Teil des Kampfes um die Aufklärung, der in Halle über Jahre und Jahrzehnte hinweg ausgefochten wurde. Dass Lange gegen andere schrieb,103 ist wichtig für das Bild, das sich aus dem schmalen Belegmaterial des DTA ergibt: Auf den ersten Blick vermittelt sein 100 101

Ebd., Bd. 2, S. 349; Bd. 1, S. 418; Bd. 1, 371. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 606, 626, 673, Bd. 2, S. 307; Bd. 2, S. 380. 102 Vgl. August Hermann Francke: Die Lehre von der Erleuchtung. In: Ders.: Predigten I. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1987, S. 380–399. 103 Zu Langes hartnäckigem Kampf gegen Wolff, den er erst Ende der 1730er auf Regierungsdruck aufgab, vgl. Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, S. 426–441.

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extensiver Gebrauch des Aufklärungs-Vokabulars den Eindruck, dieses habe am Ende der 1720er Jahre vor allem religiöse Bedeutungen gehabt. Bei näherem Hinsehen ist darin jedoch die Reaktion auf ein säkulares ‚Aufklärungs‘-Programm zu erkennen, das sich, wie wir oben sahen, nur selten dieses Begriffs bediente, wohl aber durch entsprechende Bilder und Metaphern Profil gewonnen hatte. Wir können Langes pietistische Rede von „Aufklärung“ daher zugleich als Beleg dafür interpretieren, dass die von ihm bekämpften Positionen von Thomasius, Wolff und Gundling von ‚außen‘ – in diesem Fall von einem Gegner an derselben Universität – mit ‚Aufklärung‘ assoziiert wurden. In seinen Angriffen erscheinen die Programme dieser Autoren wie in einem Spiegel – und die gemeinsame Signatur ‚Aufklärung‘ wird sichtbar. Kehren wir zur Ausgangsfrage dieses Abschnitts zurück: An welchen Orten im deutschsprachigen Raum war Aufklärung im frühen 18. Jahrhundert ein Thema, und welche Rolle spielte dabei Halle? Die Belegdichte des DTA ist derzeit leider zu gering, um darauf eine zuverlässige Antwort zu geben. Immerhin sind die bekannten Orte der deutschen Frühaufklärung mit einigen Belegen vertreten: Hamburg durch Brockes (mit allerdings weit weniger philosophisch-reformorientierter als meteorologischer Bedeutung, und diese zum Teil wiederum mit physikotheologischer Ausdeutung104), Leipzig durch die von Wolff beeinflussten Johann Andreas Fabricius105 und Gottsched („Die Welt ist nunmehro viel aufgeklärter“106); Zürich lässt sich mit einem Zitat aus den Discoursen der Mahlern ergänzen (mit einem Vorwurf an gelehrte Vielleser, die „die Bücher nicht [lesen]/ daß sie dadurch ihren Verstand aufklähren“107). Einen gehäuften Einsatz von Aufklärungs-Vokabeln, der als Indiz für Streit um diese Wörter bzw. mittels dieser Wörter verstanden werden kann, gibt es jedoch allein in Halle. Sofern man hier schon von einem Befund sprechen kann, entsprechen die Sprachquellen der Befundlage hinsichtlich einer aufklärungsprogrammatischen Bildlichkeit, die gleichfalls stark an Halle gebunden zu sein scheint. Programmatische Qualität wurde dem Aufklärungs-Vokabular und entsprechenden Bildern vor allem an der Fridericiana und deren intellektuellem Umfeld zugemessen. Übrigens stammt auch der Beleg, der im DTA auf Langes Apostolisches Licht und Recht folgt, von einem (ehemaligen) Hallenser, nämlich

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Vgl. Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott […]. Bd. 3. 2. Aufl. Hamburg 1730, S. 646f.: „Wenn in Besitz der ew’gen Seeligkeit / Die Seele nun sich wird begabet finden / Mit solcher dauernden Beschaffenheit, / Mit so geschäfftigen und reinen Lebens-Geistern; / Wie aufgeklärt, wie lebhafft werden nicht / Derselben Kräffte seyn? Als wie ein schnelles Licht, / Wird sie die dickste Dunckelheit / Des Zweifels schnell durchdringen und bemeistern.“ Den zweiten Band eröffnet ein Gedicht über die Pracht des sich aufklärenden Himmels („Der Wolken- und Lufthimmel“, S. 3–11). Das lyrische Ich erkennt darin die Vollkommenheit und unendliche Liebe Gottes. 105 Vgl. Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie […]. Leipzig 1724, S. 378. 106 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen […]. Leipzig 1730, S. 151. 107 Die Discourse der Mahlern 1 (1723), n. pag. Schluss (24. Discours), [S. Aa2v].

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von Johann Ernst Philippi (ca. 1700–1758), der 1731–1734 an der Fridericiana deutsche Beredsamkeit lehrte und sich dann in Satirenkämpfe verstrickte, die ihn sein Amt kosteten. In seinen parodistischen Maximen von dem gesunden Witz und guten Geschmacke von 1743 wird bereits als Platitude präsentiert, dass jemand schreibt: „Folglich gehöret die Aufklärung des Verstandes, dadurch man eine Fertigkeit erlanget, richtig zu denken, zu den Wahrheiten vom öbersten Range“.108

IX. Ein zweites Resümee, mit Ausblick Innovation und Reform sind Topoi der Universitätsgeschichtsschreibung. Innovativ zu sein und Reformen ins Werk zu setzen (primär in der Wissenschaft, aber auch darüber hinaus), gilt in der Forschung als genuine Aufgabe der Universität, und diese Kategorien werden meist völlig selbstverständlich auch auf vormoderne Zeiten und Akteure angewandt, obwohl bei diesen nicht vorausgesetzt werden kann, dass eine Vorstellung von Innovation und zukunftsorientierter Reform überhaupt existierte, seien es das Mittelalter oder die Frühe Neuzeit.109 Einen prinzipiellen Einwand gegen diesen verbreiteten Anachronismus möchte ich nicht erheben, denn historische Rekonstruktion geht immer von ihrer Gegenwart und deren Denk- und Benennungsmöglichkeiten aus. Diese epistemologische Basisbedingung erübrigt es jedoch nicht, die historische Angemessenheit der eingesetzten Begriffe zu reflektieren. Der vorliegende Beitrag sollte zeigen, dass es sich lohnt, die Frage nach den Vorstellungen der historischen Akteure von Innovation und Reform und nach der seinerzeitigen Orientierungsfunktion dieser Kategorien zu stellen. Hinsichtlich der Universität Halle in ihrer Frühphase hat sich ergeben, dass hier starke Ansprüche auf Innovation und grundlegende Verbesserung bestanden – bei führenden Professoren der Fridericiana, aber auch bei einem maßgeblichen ‚Minister‘ wie Fuchs – und dass die gelehrten Akteure ihren Innovationsanspruch als seinerzeit neuartig ausgaben, indem sie ihn mit einem Anspruch auf ‚Aufklärung‘ verbanden, der die eigene Zeit als epochalen Aufbruch begriff. Thesenhaft zog ich daraus den Schluss 108

Johann Ernst Philippi: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie; samt bündigem Erweis des hohen Vorzugs derselben vor der, heut zu Tage gerühmten, natürlichen, männlichen und erhabenen Dichterey. Altenburg 1743, S. 220. 109 Vgl. Olaf Pedersen: Tradition und Innovation. In: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa Bd. 1–4. München 1993–2010, Bd. 2, S. 363–390 über das 12. bis 17. Jahrhundert; Jens Bruning: Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. In: Ders. u. Ulrike Gleixner (Hg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. Wolfenbüttel 2010, S. 23–37, bes. S. 26f. Dass ‚Reform‘ eine Standarderwartung an Universitäten darstellt, zeigt sich schön in folgendem Satz (S. 26): „Helmstedt fügt sich so ein in die Reihe der bedeutenden Reformuniversitäten, deren Linie von Wittenberg als ‚Mutteruniversität‘ der Reformation im frühen 16. Jahrhundert über Helmstedt und Jena im späten 16. und 17. Jahrhundert nach Halle und Göttingen im 18. Jahrhundert und letztlich sogar bis zur Berliner Universitätsgründung im frühen 19. Jahrhundert führt.“

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(vgl. Abschnitt V), das primär Neue an der neugegründeten Universität Halle sei der Neuerungsanspruch gewesen, der von einigen ihrer Protagonisten erhoben wurde, und ihre Innovationsleistung habe zuallererst darin bestanden, dass sie ein Konzept von ‚Innovation‘ ausbildeten und es auszuführen unternahmen. Ebenso gilt für Halle als ‚erste Aufklärungsuniversität‘, dass ihr diese Bezeichnung deshalb zukommt, weil sich an ihr, dichter als irgendwo sonst, eine Vorstellung von Aufklärung als intellektuellem Verbesserungsprojekt ausbildete. Dazu trugen auch anti-aufklärerische Besetzungen des neuen Begriffs bei, wie in Abschnitt VIII gezeigt. Wieviel stärker die festgestellten Innovationsansprüche und Aufklärungsvorstellungen mit Halle um 1700 als mit anderen Orten und Zeiten verbunden waren, wird sich zuverlässig erst durch ähnliche Untersuchungen zu anderen intellektuellen Zentren und anderen, früheren Zeiten feststellen lassen. Dass die halleschen Entwicklungen nicht völlig singulär sind, darf vorausgesetzt werden und ist in Teilaspekten bereits deutlich; so waren an der von Sdzuj rekonstruierten novitasDiskussion fast alle protestantischen Universitäten beteiligt. Ebenso hat der programmatische Einsatz von Licht-Finsternis-Metaphorik in säkular-intellektueller Absicht seine Vorläufer. Zumindest in französischer Sprache ist er zwei, drei Jahrzehnte älter als der hallesche und diente diesem womöglich als Vorbild. Die programmatische Ausrichtung auf Frankreich bei Thomasius110 sowie die von Martin Mulsow konstatierte „durchgängige Orientierung“ Gundlings an Pierre Bayle111 stellt in dieser Hinsicht einen zwar nicht sicher belegbaren, aber recht wahrscheinlichen Rezeptionskanal dar. Zur Begriffsgeschichte von aufklären/aufgeklärt/Aufklärung, aber auch zur vorbegrifflichen Vorstellungs- und Bildgeschichte von ‚Aufklärung‘ unternahm der vorliegende Beitrag mehrere Vorstöße in unerforschtes Gelände. Deren Ergebnisse können, da Quellenmaterial wie Analyseraum limitiert sind, bloß vorläufige Gültigkeit beanspruchen, doch in dem Bild, das sich abzeichnet, stellt sich die Fridericiana als im deutschsprachigen Bereich wichtigster Kristallisationsort dar. Nicht nur in Halle, aber vor allem dort wurden von einer ganzen Reihe von Akteuren als ‚aufklärerisch‘ präsentierte Programmatiken entwickelt, und in ihrem Wettbewerb bzw. im durchaus agonalen Streit um sie setzte sich schließlich der Begriff „Aufklärung“ durch.

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Vgl. Daniel Fulda: Gallotropische Historiographie. Anthropologie und Interaktionsmodell der deutschen Universitätshistorie im 18. Jahrhundert. In: Euphorion 110 (2016), S. 421–443. 111 So Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720 (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 141. In Bayles Zeitschrift Nouvelles de la republique des lettres (April 1686, S. 208) heißt es bereits sehr ähnlich, wie in der Vorrede zu den Gundlingiana die Gegenwart beschrieben wird: „Ainsi nous voila dans un Siécle qui va devenir de jour en jour plus éclairé, de sorte que tous les Siécles précedens ne seront que ténebres en comparaison.“

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Novationes und Novatores. Zum Wandel in der Bewertung des Neuen im Kontext der Frühzeit der Universität Halle I. Dimensionen des Neuen: Anspruch, Faktum, Beurteilung Die junge Universität Halle wird sowohl in der neueren Forschungsliteratur als auch in populärwissenschaftlichen Kreisen häufig als ‚Reformuniversität‘ charakterisiert.1 Ebenso oft wird sie – meist in direktem Zusammenhang mit dem Vorigen – als erste deutsche Universität betrachtet, in der, wenn auch nicht in allen Fakultäten und bei allen Mitgliedern gleichermaßen, ein frühaufklärerisches Programm zum Tragen kam. Darauf, wie die Verknüpfung dieser beiden Deutungen zustande gekommen ist und warum sie, wenn nicht falsch, so doch problematisch ist, hat jüngst Marianne Taatz-Jacobi eindringlich hingewiesen.2 Auf die Genese dieser Deutung braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, wichtig ist aber, dass zwischen den Motiven, die den brandenburgischen Kurfürsten zur Gründung der Fridericiana veranlasst haben, und den mutmaßlich oder tatsächlich auf Reformen abzielenden Bestrebungen der ersten Gelehrten, die an ihr gewirkt haben, klar unterschieden werden muss. Dass die Gründung einer Universität immer einen Akt der Neuschöpfung darstellt, ist so richtig wie trivial. Ob eine Universität hingegen einen Ursprungsort des Neuen darstellt oder zumindest als solcher betrachtet wurde, ist hingegen eine gänzlich andere und wesentlich komplexere Frage. Denn hier kommen Bewertungskriterien ins Spiel, die zuvor außer Acht gelassen werden konnten. Auf den ersten Blick kann die Frage, ob die Universität Halle in ihrer Frühphase ein Ursprungsort des Neuen gewesen ist, unproblematisch erscheinen. Dass ihr erster Hauptorganisator Christian Thomasius (1655–1728) von einem ausgeprägten Reformwillen beseelt war,3 ist bekannt und könnte als erstes und zugleich wichtiges Indiz gelten, um sie positiv zu beantworten. Andere Entwicklungen, wie die

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U. a. von Anton Schindling: Bildungsreformen im Reich der frühen Neuzeit – vom Humanismus zur Aufklärung. In: Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag. Hg. v. Armin Kohnle u. Frank Engelhausen. Stuttgart 2001, S. 11–25, hier: S. 18. Vgl. Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2014, S. 20–25. Vgl. Hanspeter Marti: Ausbildung. Schule und Universität. In: Richard van Dülmen u. Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Unter Mitwirkung von Meinrad von Engelberg. Köln,Wien u. Weimar 2004, S. 409–412.

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Etablierung der deutschen Sprache als zweite Lehrsprache neben der lateinischen (ebenfalls vor allem von Thomasius maßgeblich vorangetrieben), die dezidierte Orientierung der Jurisprudenz am ‚neuen‘ Naturrecht (von Thomasius aufgegriffen und von ihm und seinen Kollegen in Halle etabliert), die Kritik am scholastischen Aristotelismus, aber auch an der ‚neuen‘ Philosophie des Cartesianismus in der Philosophie (beides bei Thomasius besonders deutlich greifbar), die damit verknüpften Versuche, neue Methoden in einer als Grundlagenwissenschaft verstandenen Philosophie einzuführen (erst die eklektische, wenig später die sogenannte ‚philosophische‘ Methode), die Aufwertung historischen Wissens, die Entwicklung einer neuen Psychologie, einer modernen Chemie und Medizin, die Etablierung Halles als Zentrum des sich selbst durchaus als reformatorisch charakterisierenden Pietismus – all dies und noch mehr legt prima facie erst recht eine positive Antwort nahe. Im Detail stellt sich die Sachlage aber, wie so oft, wesentlich komplizierter dar, als es zunächst den Anschein hat. Taatz-Jacobi hat darauf hingewiesen, dass die Charakterisierung der Universität Halle als ‚Reformuniversität‘ in der älteren Literatur nirgends auftaucht, sondern erst ein Ergebnis von Wertungen und Interpretationen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist.4 Damit ist freilich keineswegs ausgeschlossen, dass die junge Fridericiana aus Sicht der Zeitgenossen als Ursprungsort des Neuen gegolten hat. Aber galt sie tatsächlich als solcher? Um diese Frage, mit der die Selbst- und Fremdwahrnehmung historischer Personen ebenso wie die Wahrnehmung einer Forschungs- und Bildungsinstitution in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird, angemessen beantworten zu können, muss zunächst geklärt werden, was seinerzeit überhaupt als Neuerung betrachtet wurde, und zwar sowohl in formaler (nämlich vor allem begrifflicher) wie auch in inhaltlicher Hinsicht, und nach welchen Kriterien Neuerungen bewertet wurden. Diese Klärung müsste zudem nicht nur im Hinblick auf damalige Charakterisierungen von (a) Personen als Neuerer oder von (b) Wissenschafts- und Lehrmethoden als Neuerungen, sondern auch von (c) Institutionen, hier einer Universität, erfolgen. Auch wäre zu fragen, welche Vertreter der ersten Generation von Gelehrten an der Fridericiana in Bezug auf ihre Methoden und Inhalte Neuerer waren und ob sie als Neuerer galten, und es müsste zudem geklärt werden, ob sie, wenn überhaupt, dem Anspruch nach oder der Wirkung nach Neuerer gewesen sind – oder beides. Die Fragen, die sich durch diese zunächst nur formalen Überlegungen ergeben, können hier nicht beantwortet werden. Sie sollen lediglich verdeutlichen, wie komplex sich das Thema ‚Neuerungen‘ in historischer Perspektive darstellt. Diese Komplexität gehörte im 17. Jahrhundert zum Untersuchungsgegenstand der Philosophie5 und blieb auch Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts bewusst. Dabei spielt 4 5

Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 2), S. 21f. Ein prägnantes Beispiel bildet Johann Christoph Becmann (Praes.), Johann Schmidt (Resp.): Dissertatio de novitate […]. Francofurti 1693. In: Johann Christoph Becmann: Dissertationum

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ihre Sicht auf jene Epoche, die von ihnen selbst als eine ‚neue Zeit‘, die einem ‚mittleren Zeitalter‘ folgt, betrachtet wurde und der sie sich selbst zugehörig fühlten, vermutlich eine nicht unerhebliche Rolle. Auch ist es nicht abwegig, anzunehmen, dass gerade ihre aus heutiger Sicht geringe historische Distanz zu den Ereignissen und den Personen, von denen sie berichten und die sie als Zeichen eines neuen Abschnitts der menschlichen Geschichte interpretierten, zu einer höheren Sensibilität für den Begriff der ‚Neuerung‘ führte und entsprechende Differenzierungen provozierte. Hinzu kommt ein zweiter Aspekt. Das, was im 17. und 18. Jahrhundert als ‚neu‘ proklamiert wurde, seien es Hypothesen, seien es Entdeckungen oder Methoden, wurde keineswegs nur als ‚neu‘ in Absetzung von dem bezeichnet, was vor dem Beginn der ‚neuen Zeit‘ anerkannt war, sondern konnte auch auf eine Absetzung von dem abzielen, was ursprünglich selbst schon neu sein sollte, nämlich seinerseits bereits auf eine Überwindung oder einen Bruch mit dem abgezielt hatte, was der ‚alten‘ oder ‚mittleren‘ Zeit entstammte. Damit konnte eine ablehnende Haltung (und damit eine negative Bewertung) ebenso zum Ausdruck gebracht werden wie eine anerkennende Haltung (und damit eine positive Bewertung), was zugleich mit dem Willen zur Erneuerung im Sinne einer Optimierung, Weiterführung und Ausarbeitung verbunden werden konnte. So sind beispielsweise Leibniz’ Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1704 fertiggestellt, 1765 publiziert) zwar ausdrücklich ‚neu‘, aber das „nouveaux“ richtete sich bekanntlich weniger gegen die traditionelle Schulphilosophie als das ‚Alte‘, sondern vielmehr gegen Lockes Essay concerning human understanding (1690), der seinerseits – nicht dem Titel, aber der Sache nach – selbst schon nicht der traditionellen Schulphilosophie, also ebenfalls nicht dem ‚Alten‘, zugerechnet werden konnte. Jedenfalls erhielt die ohnehin schon uneindeutige Verwendung des Begriffs des Neuen durch die skizzierte Gemengelage eine zusätzliche Dimension, und es dauerte nicht lange, bis ein Bewusstsein für diese Mehrdimensionalität entstanden war. Exemplarisch genannt sei die Historia critica philosophiae Johann Jakob Bruckers (1696–1770),6 deren Struktur sich an der Unterscheidung zwischen (1.) der Wiederbelebung alter philosophischer Traditionen, (2.) der Genese einer modernen und vor allem in methodischer Hinsicht neuen Philosophie und (3.) der Etablierung einer ebenfalls als neu verstandenen eklektischen Philosophie orientiert. Insbesondere die Differenzierung zwischen den Ebenen 2. und 3. spiegelt die angesproche-

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academicarum volumen novum varias materias singulares exibens […]. Francofurti & Lipsiae 1699. Vgl. Reimund Sdzuj: Die Figur des Neuerers und die Funktion von Neuheit in den gelehrten Disziplinen des 17. und des 18. Jahrhunderts. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wolfenbütteler Forschungen. Bd. 109. Wiesbaden 2005, S. 155–182, hier: S. 166f. Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. 4 Bde. u. Appendix. Lipsiae 1742–1767 (Repr.: Hildesheim [u. a.] 1975 = Historia philosophiae. Bd. 4). Problematisch ist zudem – für uns –, dass (nicht nur von Brucker) Neuerungen nicht Institutionen, sondern Personen oder Gruppen (‚Sekten‘, ‚Schulen‘) zugeschrieben werden.

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ne Mehrdimensionalität des Begriffs des Neuen durchaus wider. Aber nicht nur Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts haben der Vielschichtigkeit des Neuen eine hervorgehobene Bedeutung für die Wissenschafts- und Philosophiehistorie zuerkannt, auch die jüngere Forschung teilt diese Einschätzung ausdrücklich.7

II. Novität als Etikett: Europa, Deutschland, Halle 1. Alles ‚neu‘ – Karriere eines Ausdrucks Das Streben nach einem differenzierteren Umgang mit der Kategorie des Neuen hat vermutlich einen wesentlichen Grund in der zunehmend inflationären Verwendung des Ausdrucks ‚neu‘ (novus) und verwandter Ausdrücke in wissenschaftlichen Schriften der frühen Neuzeit, die sich schon in den Werktiteln zeigt. Lynn Thorndike hat 1951 eine zahlreiche Schriftentitel umfassende Übersicht vorgelegt,8 der zu entnehmen ist, dass diese Ausdrücke in Einzelfällen zwar bereits im 13. und 14. Jahrhundert in ihnen auftauchen, sich ihre verbreitete Verwendung aber erst in den Namensgebungen für bis dato unbekannte Orte, das heißt für Orte der ‚Neuen Welt‘, etabliert hat. In den Titeln wissenschaftlicher Schriften tauchen sie Thorndike zufolge hingegen erst während des 16. Jahrhunderts in signifikant großer Zahl auf, bevor sie im 17. Jahrhundert in enormer Häufigkeit Verwendung gefunden haben. Thorndikes Einschätzung, dass sich diese Entwicklung zuerst im Feld der Medizin und der ihr nahestehenden wissenschaftlichen Gebiete zeige, aber nicht in anderen Disziplinen,9 muss allerdings korrigiert werden. Schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, genauer gesagt, schon um und kurz nach 1500, finden sich entsprechende Titel, von denen wiederum die frühesten keineswegs der Medizin, sondern der Philosophie zuzuordnen sind.10 Im Laufe des 16. Jahrhunderts findet 7

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Vgl. dazu die lehrreiche Untersuchung von Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5); vgl. ferner: Michael North: Novelty. A History of the New. Chicago 2013 (weitere Ausg.: 2015); Lynn Thorndike: Newness and Craving for Novelty in Seventeenth-Century Science and Medicine. In: Journal of the History of Ideas 12 (1951), S. 584–598 (neu gedruckt in: Roots of Scientific Thought. A Cultural Perspective. Hg. v. Philip P. Wiener u. Aaron Noland. New York 1957, S. 443–457). Vgl. Thorndike: Newness and Craving for Novelty (wie Anm. 7). Hier ist die Rede von einer ‚neuen Medizin‘, von ‚neuen Krankheiten‘, einer ‚neuen Chirurgie‘ sowie von einer ‚neuen Interpretation‘ der hippokratischen Aphorismen. Vgl. Thorndike: Newness and Craving for Novelty (wie Anm. 7), S. 584. Die Bestandsaufnahme, auf der Thorndikes Einschätzung beruht, bedarf ohnehin einer Revision, denn es lassen sich für das 16. Jahrhundert wesentlich mehr Schriften finden, die sich mit dem Etikett ‚neu‘ auszeichnen, als Thorndike identifiziert hat. Genannt seien hier exemplarisch: Jodocus Wetzdorff: Ars memorandi Nova secretissima. [Straßburg ca. 1500]; [Bernhard Perger]: Grammatica nova. Straßburg 1501; Baldus [de Ubaldis]: Margarita nova baldi Singularia seu Repertorium baldi. Lugduni 1502; Johannes Stöffler: Almanach nova plurimis annis venturis inservientia. Venetijs 1504; Giovanni de Concoregio: Practica Nova

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sich die Verwendung des Begriffs ‚neu‘ auch vermehrt in Werktiteln zur Astronomie und Physik; die Rede ist hier von ‚neuen Sternen‘, ‚neuen Himmeln‘, sogar von der ‚neuen Erde‘.11 Und, wiederum Thorndike ergänzend, auch von ‚neuen Methoden‘ ist schon im 16. Jahrhundert – lange vor Descartes – in Bezug auf ganz unterschiedliche wissenschaftliche Bereiche die Rede.12 Ebenfalls noch im späten 16. Jahrhundert schrieb man bereits von einer ‚neuen Geometrie‘ und von einer ‚neuen Philosophie‘.13 Eine im Vergleich zu den vorigen Jahrhunderten geradezu inflationäre Verwendung findet das Etikett ‚neu‘ im 17. Jahrhundert. Im Feld der Medizin wird wiederholt von neuen Methoden der Behandlung von Verletzungen, von neu erfundenen Methoden, über medizinische Themen zu schreiben, medizinisches Wissen zu lernen und zu lehren und Ähnlichem mehr geschrieben.14 Auch in der Physik und der Naturphilosophie, die seinerzeit noch eng miteinander verknüpft waren, findet sich vermehrt die Auszeichnung ‚neu‘ in Werktiteln, in denen jetzt unter anderem von einer ‚neuen Anatomie der sublunaren Welt‘ und ‚neuen Beobachtungen von himmlischen und irdischen Dingen‘ berichtet wird. In der Astro-

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medicine. Papie 1509; [Gregor Reisch]: Margarita Philosophica Nova. Argentorati 1508 (weitere Aufl.: 1512); Symphorien Champier: Practica nova in medicina. [Lyon] [nach 1508]; Nicolaus Perottus: Grammatica nova. Vienna [um 1510] – um nur einige der frühen Schriften zu nennen. Thorndike: Newness and Craving for Novelty (wie Anm. 7), S. 584. Z. B. Johann Wirdung: Nova medicinae methodus, nunc primum & condita & aedita, ex Mathematica ratione morbos Curandi. Hg. v. Johann Sinapius. Ettelingae 1532; Erasmus Sarcerius: Nova Methodus in praecipuos Scripturae divinae locos. Basileae 1546 (weitere Aufl.: 1555); Rudolf Battink: Nova quaedam et compendiosa usus Astrolabij methodus. Parisiis 1557; Antoine Mizauld: Cosmographiae, Seu Mundi Sphaerae, Libri Tres, nova methodo & dilucida conscripti. Lutetiae 1567; Étienne de Malescot: De Nuptiis Liber Paradoxicus, nova & recenti methodo compositus. Basileae 1572 (weitere Aufl.: 1590); Nicolas Clénard: Nova Methodus docendi pueros analphabeticos, brevis omnino temporis spatio Latinè loqui. Francofurti 1576; Pierre Grégoire: Syntagma Iuris Universi, Atque Legum Pene Omnium Gentium, Et Rerumpublicarum praecipuarum. In tres partes digestum; In quo divini, & humani Iuris totius, naturali, ac nova methodo per gradus, ordinéque, materia universalium & singularium rerum, simúlque iudicia explicantur. Lugduni 1582; Albertus Hero: De providentia Dei libri quinque, in quibus immensi et aeterni Dei providentia, nova methodo, et novis plerisque argumentis contra impios philosophos, et totum populum Atheorum defenditur. Coloniae 1582; Giovanni Battista Gemma: Methodus rationalis novissima, atque dilucidissima curandi bubonis, carbunculique pestilentis […]. Graecij Styriae 1584 (weitere Aufl.: 1588); Simón de Tovar: De Compositorum Medicamentorum Examine Nova Methodus. Antverpiae 1586; Lorenz Rhodoman: Tabulae Graecae Etymologiae Novae. Quibus praeter alia antiqua & genuina pronunciandi, communis[que] declinandi & coniugandi ratio, nova & iuventuti scholasticae commodissima methodo, breuiter & perspicuè, proponitur. Lipsiae 1590; Philips van Lansbergen: Triangulorum Geometriae Libri Quatuor. In quibus novâ & perspicuâ methodo, & apodeixei tota ipsorum Triangulorum doctrina explicatur. Lugduni Batavorum 1591; Girolamo Capivaccio: Nova Methodus medendi. Francofurti 1593; Valentin Naibod: Nova & Facilis Sphaericorum Elementorum Methodus. Venetiis 1593; Johann Jacob Beurer: Synopsis historiarum, et methodus nova. Hanoviae 1594 (21599). Francesco Patrizi: Nova De Universis Philosophia. Ferrariae 1591. Thorndike: Newness and Craving for Novelty (wie Anm. 7), S. 585.

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nomie werden immer wieder ‚neue Sterne‘ und ‚neue Kometen‘ entdeckt, ‚neue astronomische Instrumente‘ entwickelt und sogar eine gänzlich ‚neue Astronomie‘ in Aussicht gestellt. Es wird von ‚neuen Systemen der Himmel‘ und ‚neuen Hypothesen und Beobachtungen am Mond‘ gehandelt, und selbst die Gegner der ‚neuen‘ Hypothese der Erdrotation legen ihrerseits ‚neue Beweise‘ für die Bewegungslosigkeit der Erde und – in Anlehnung an Ptolemäus – einen ‚neuen Almagest‘ vor.15 In der Naturphilosophie werden mit enormer Wirksamkeit ‚neue Wissenschaften‘ (Galilei) und – in Absetzung von der aristotelischen Philosophie – ein ‚neues Organon‘ (Bacon) proklamiert. Das, was später als Kopernikanische Wende und Naturwissenschaftliche Revolution bezeichnet wurde, ist der Sache nach schon von Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts als etwas Neues erkannt und oft begrifflich markiert worden, und zwar sowohl von Anhängern wie von Gegnern des jeweils ‚Neuen‘. Die Etikettierung ‚neu‘ brach sich, vermutlich auch weil sie werbewirksam war, rasch in allen wissenschaftlichen Bereichen Bahn: in der Medizin und Chemie, in der Naturphilosophie, Astronomie und Physik, in der Botanik und Zoologie, in den Sprachwissenschaften ebenso wie in der Mathematik und den fachspezifischen Methodenlehren.

2. Alles ‚neu‘ – auch in Deutschland Was für die beschriebene Entwicklung der sogenannten westlichen Wissenschaft und Philosophie des 17. Jahrhunderts im Ganzen gilt, das gilt auch für die Wissenschaft und Philosophie in den deutschen Territorien. Unter den Schriften zur Alchemie stechen die des Johann Rudolph Glauber (1604–1670) hervor, der in seinem mehrteiligen und übrigens zuerst in deutscher Sprache veröffentlichtem Werk Furni Novi Philosophici unter anderem die Beschreibung einer New-erfundenen Distillir-Kunst vorlegte (Th. 1).16 Im Rahmen seines ebenfalls mehrteiligen deutschsprachigen Werks Pharmacopaeae spagyricae verspricht er ein „New auffgangnes Licht“ und einen „Schlüssel zur Philosophischen Wahrheit“.17 Die Lichtmetapher wird von Glauber im selben Jahr auch in einer anderen Schrift mit dem Begriff des Neuen verknüpft, nämlich im Novum Lumen Chimicum. Oder eines new-erfundenen [...] Secreti offenbahrung, in dem er nachzuweisen versuch-

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Ebd., S. 587ff. Johann Rudolph Glauber: Furni Novi Philosophici. 5 Theile. Amsterdam 1646–1650. Das Werk wurde bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts an verschiedenen Orten (Frankfurt a. M., Prag u. a.) mehrfach neu aufgelegt, zudem wurde es ab 1651 ins Lateinische und im selben Jahr auch ins Englische übersetzt. Johann Rudolph Glauber: Pharmacopaeae spagyricae. 7 Theile u. 3. App. Amsterdam 1656– 1668 (Th. 1: Nuernberg 1654, später auch Amsterdam 1668), hier: Th. 6 mit dem Untertitel Oder New auffgangnes Licht und starcker Schluessel zur Philosophischen Wahrheit […] (1664).

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te, daß in der gantzen Welt [...] die warhafftige Materia Lapidis Philosophorum zu finden sei.18 Von neuen chemischen Experimenten berichteten 1671 der Speyerer Johann Joachim Becher (1635–1682 o. 1685) und der Jenaer Georg Wolfgang Wedel (1649–1721).19 Der rheinland-pfälzische Mediziner Johann David Portius (Lebensdaten unbekannt) verfasste ein Jahr später eine Vini Rhenani in specie Bacharacensis Anatomia Chymica, die auf „neuen Prinzipien“ beruhen sollte.20 Sein Hamburger Fachkollege Johann Segerus Weidenfeld (Lebensdaten unbekannt) veröffentlichte wenig später vier Bücher De secretis adeptorum, in denen er, wie er im Untertitel deutlich macht, nach „neuester Methode“ vorgehe.21 Und die posthum veröffentlichte Schrift Chimia Rationalis ac experimentalis curiosa des Leipziger Mediziners Michael Ettmüller (1644–1683) wurde, nachdem sie 1684 in Leiden erschienen war, neun Jahre später in französischer Sprache unter dem offenbar als werbewirksamer angesehenen Titel Nouvelle Chymie Raisonnée gedruckt.22 Im Bereich der Medizin taucht der Begriff des Neuen in Werktiteln vergleichsweise selten auf; dies gilt auch für den deutschen Raum. Der Rostocker Sebastian Wirdig (1613–1687) veröffentlichte 1673 eine „neue Medizin der Geister“, die „per [...] magnetismum seu sympatheismum“ wirken sollte.23 Der Lübe-

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Ders.: Novum Lumen Chimicum. Oder Eines new-erfundenen und der Weldt noch niehmalen bekandgemachten Hohen Secreti offenbahrung. Ambsterdam 1664. Johann Joachim Becher: Experimentum Chymicum Novum. Francofurti 1671 (dt. Übers.; [Frankfurt a. M.] 1680, Repr.: Hg. v. Hans-Werner Schütt, Hildesheim [u. a.] 2002); Georg Wolfgang Wedel: Specimen experimenti chimici novi. De sale volatili plantarum. Francofurti 1671 (weitere Aufl.: 1672, Ienae 1682). – Becher hatte zudem ein Jahr zuvor eine Schrift Novum, Breve, Perfacile, & Solidum Organum Pro Verborum Copia veröffentlicht (Francofurti 1671, 21674). Zudem erschienen von ihm: Experimentum novum ac curiosum de minera arenaria perpetua. Francofurti 1680 (Suppl.-Bd. 3 zu: Ders.: Actorum Laboratorii Chymici Monacensis. Seu Physicae Subterraneae Libri Duo, weitere Aufl.: 1703); De nova temporis Dimetiendi Ratione, et Accurata Horologiorum constructione. Theoria [et] Experientia. Londini 1682. Johann David Portius: Vini Rhenani in specie Bacharacensis Anatomia Chymica. Ex novis Principiis potius Principiatis Acido & Alcali resolute. Heydelbergae 1672. Johann Segerus Weidenfeld: De Usu Spiritus Vini Lulliani Libri IV. Opus Practicum. Per concordantias Philosophorum inter se discrepantium, tam ex antiquis, quàm modernis Philosophiae adeptae Patribus mutuò conciliatis summo studio collectum, & novissima concinnè methodo ita digestum, ut vel tyrones possint discernere, vegetabilium, animalium, mineralium praeparationes supposititiassophisticásve à veris, sive pro re medica, sive metallicâ, atque sic cavere sibi à vagabundis deceptoribus, imaginariis processibus & suarum pecuniarum dilapidatione. Londini 1684 (weitere Aufl.: Hamburgi 1685, engl. Übers. u. d. T. Four Books [...] Concerning the Secrets of the Adepts, London 1685). Bei dem „Spiritus Vini Lulliani“ handelt es sich offenbar um Aceton. Michael Ettmüller: Chymia rationalis ac experimentalis. Hg. v. Johann Christoph Ausfeldt. Lugduni Batavorum 1684 (frz. Übers. u. d. T.: Nouvelle Chymie Raisonnée, Lyon 1693). Sebastian Wirdig: Nova Medicina Spirituum: Curiosa Scientia & doctrina, unanimiter hucusq[ue] neglecta, & à nemine meritò exculta. Medicis tamen & Physicis utilissima […]. 2 Bde. Francofurti 1673 (weitere Aufl.: Hamburgi 1673, 1688). Über die Schrift entbrannte ein

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cker Arzt Hermann Grube (1637–1698) legte 1674 eine „neue Analyse der Transplantation von Krankheiten“ vor,24 Johann George Greulich (Lebensdaten unbekannt) entwickelte 1681 eine „wahre Methode zur Behandlung der Wassersucht, die er aufs Neue aus Beobachtung und Erfahrung abgeleitet“ habe.25 Auch in Schriften deutscher Autoren zur Mechanik und Experimentalphysik findet sich die Etikettierung ‚neu‘. Der in Frankfurt am Main arbeitende Georg Andreas Böckler (Lebensdaten unbekannt) publizierte 1661 sein Theatrum Machinarum Novum.26 Der Kieler Georg Pasch (1661–1707) veröffentlichte sein zunächst unter dem Titel Schediasma De Curiosis Huius Seculi Inventis, Quorum Accuratiori Cultui Facem Praetulit Antiquitas erschienenes Werk in der zweiten Auflage als De Novis Inventis [...] Tractatus,27 an dessen Beginn er erklärt, dass ein novator als inventor anzusehen sei, aber nichts absolut Neues schaffe, weil dies dem Menschen prinzipiell nicht möglich sei,28 und signalisiert damit den Beginn einer philosophischen Debatte über die Genera des Neuen. Im Feld der Experimentalphysik veröffentlichte Kaspar Schott (1608–1666) die Ergebnisse zahlreicher Versuche, die, wie der Titel angibt, „größtenteils neue Experimente“ darstellten; 1672 erschienen die ungleich bekannter gewordenen Experimenta nova Magdeburgica de vacuo spatio des Otto von Guericke (1602–1686).29 Zwischenzeitlich hatte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) – seinerzeit an der Universität in Altdorf tätig – mit seiner Hypothesis physica nova eine seiner ersten physikalischen Abhandlungen vorgelegt.30 Der Nürnberger Johann Franz Griendel (Lebens-

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in mehreren Schriften der Kontrahenten dokumentierter Streit zwischen Wirdig und Michael Siricius. Hermann Grube: Curandi Hydropis Vera Methodus, Quam Ex causis sibi noviter observatis deduxit, perque Experientiam confirmavit. Francofurti 1681. Johann Georg Greulich: Curandi Hydropis Vera Methodus, Quam Ex causis sibi noviter observatis deduxit, perque Experientiam confirmavit. Francofurti 1681. Georg Andreas Böckler: Theatrum Machinarum Novum, Das ist: Neu-vermehrter Schauplatz der Mechanischen Künsten […]. Nürnberg [1661] (weitere Aufl.: 1673, 1703, lat. Übers. v. Heinrich Schmitz u. d. T.: Theatrum machinarum novum, exhibens aquarias, alatas, ivmentarias, manuarias, pedibus, ac ponderibus versatiles, plures, et diversas molas […]. Coloniae Agrippinae 1662). Georg Pasch: Schediasma De Curiosis Huius Seculi Inventis, Quorum Accuratiori Cultui Facem Praetulit Antiquitas, Kiloni 1695 (2. Aufl. u. d. T.: De Novis Inventis, Quorum Accuratiori Cultui Facem Praetulit Antiquitas, Tractatus. Lipsiae 1700). Vgl. Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5), S. 168. Otto von Guericke: Experimenta (ut vocantur) Magdeburgica De Vacuo Spatio. Primùm à R. P. Gaspare Schotto [...], Nunc verò ab ipso Auctore Perfectiùs edita, variisque aliis Experimentis aucta. Amstelodami 1672. G. G. L. L. [d. i. Gottfried Wilhelm Leibniz]: Hypothesis Physica Nova, Quâ Phaenomenorum Naturae plerorumque causae ab unico quodam universali motu, in globo nostro supposito, neque Tychonicis, neque Copernicanis aspernando, repetuntur. Moguntiae 1671. (Derzeit als ND mit dt. Übers. u. Anm. im Erscheinen, hrsg. v. Otto Schönberger u. Eva Schönberger. 2 Bde. Würzburg).

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daten unbekannt) stellte 1687 der Micrographia Robert Hookes (1635–1703) eine eigene Micrographia nova (1665) gegenüber.31

3. Alles ‚neu‘ – auch in Halle? Dieselbe Etikettierung als ‚neu‘, die sich in den Werktiteln deutscher Gelehrter andernorts finden lässt, zeigt sich auch in den Schriften von Gelehrten der jungen Universität Halle. Schon Christian Thomasius (1655–1728), der, obgleich Jurist und als solcher Mitglied der Juristischen Fakultät, auch einen breiten Teil der philosophischen Lehre übernahm, offerierte 1691 – noch vor Gründung der Fridericiana – seinem neuen Landesherrn Friedrich III. die neue Erfindung einer [...] Wissenschafft, Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen, aus der täglichen Conversation zu erkennen.32 Wenig später stellte er in Aussicht, dass seine Einleitung Zu der Vernunfft-Lehre, das heißt seine Logik, die Möglichkeit eröffne, neue Warheiten zu erfinden.33 Auch Thomasius ging offenbar

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Johann Franz Griendel: Micrographia nova: Sive Nova & Curiosa Variorum Minutorum Corporum Singularis cujusdam & noviter ab Autore inventi Microscopii Ope Adauctorum & miranda magnitudine repraesentatorum Descriptio. Norimbergae 1687 (offenbar zugleich in dt. Sprache erschienen u. d. T.: Micrographia Nova: oder neu-curieuse Beschreibung verschiedener kleiner Körper welche vermittelst eines absonderlichen von dem Authore neuerfundenen Vergrösser-Glases verwunderlich groß vorgestellt werden. Nürnberg 1687). Griendel bezieht sich auf: Robert Hooke: Micrographia: or some Physiological Descriptions of minute bodies made by magnifying glasses with Oberservations and Inquiries thereupon. London 1665. Christian Thomasius: Dem Durchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friderich dem III., Marggraffen zu Brandenburg, […], Offeriret in Unterthänigsten Gehorsamb die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft, Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen, aus der täglichen Conversation zuerkennen. Halle [ca. 1691], wieder abgedruckt in: Ders.: Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften. Halle 1701 (Repr.: Hg. v. Werner Schneiders, Hildesheim [u. a.] 1994 = Christian Thomasius. Ausgewählte Werke. Hg. v. Werner Schneiders. Bd. 22), S. 449–490. 1692 folgte noch – als Reaktion auf die Einwände Wilhelm Ernst Tentzels (vgl. Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annemlichen Geschichten, vom März 1692, S. 200–209) – Thomasius’ Weitere Erleuterung durch unterschiedene Exempel des ohnlängst gethanen Vorschlags wegen der neuen Wissenschafft, Anderer Menschen Gemüther erkennen zu lernen. Halle 1692 (weitere Aufl.: 1711). Vgl. dazu Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam Derer Teutschen. 3. Theil, 2. Hauptst. Hall im Magdeburgischen 1734, S. 636–639 (Anm. b). Christian Thomasius, Einleitung Zu der Vernunfft-Lehre. Worinnen durch eine leichte, und allen vernünfftigen Menschen, waserley Standes oder Geschlechts sie seyn, verständliche Manier der Weg gezeiget wird, ohne die Syllogistica das wahre, wahrscheinliche und falsche von einander zu entscheiden/ und neue Warheiten zu erfinden. Halle in Magdeburg 1691 (21699, 31705, 41711, 51719, Repr. d. 1. Aufl.: Hg. v. Werner Schneiders, Hildesheim [u. a.] 1998 = Ausgewählte Werke. Bd. 8), lat. Übers. u. d. T.: Introductio In Logicam. In qua facili methodo, & quam omnes homines ratione praediti, cuiuscunq[ue] tandem conditionis aut sexus sint, intelligant, via monstratur, absque Arte Syllogistica, verum, verosimile & falsum

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davon aus, dass der explizite Hinweis auf die Novität seiner wissenschaftlichen Leistungen wohlwollendes Interesse hervorrufen werde. Jedenfalls folgt auch er der schon verbreiteten Strategie, das Stichwort ‚neu‘ als Ausdruck eines Qualitätsmerkmals zu verwenden. Auch eine andere Dimension des Neuheitsbegriffs wurde in Halle früh Gegenstand der Reflexion, nämlich die Einordnung der eigenen Institution als Novität. Dass nach der Gründung der Universität unter einigen ihrer führenden Mitglieder schon früh ein Bewusstsein dafür entstanden ist, dass die neue Akademie als solche zwar einer alten Tradition verbunden war, aber bestimmte Eigenarten aufwies, die sie als nova Academia im doppelten Sinne auszuzeichnen schien, belegt eine Dissertation Johann Peter Ludewigs von 1693, in der er einen Vergleich zwischen der Platonischen Akademie und der „neuen Halleschen“ Akademie vornimmt.34 Ludewig hebt darin die Vorzüge der provinziellen Strukturen Halles und seines Umlandes hervor und erblickt darin eine Art Parallele zum Archetyp aller Akademien. Insofern deutet er die neue Universität – wenn es erlaubt ist, den Begriff in diesem Sinne zu verwenden – tatsächlich als eine Art reformierte Akademie. Die Reformation besteht hier in der Zurückgewinnung einiger Charakteristika der Platonischen Akademie, die als Vorbild aller Akademien und damit als Wegweiser des Reformprozesses betrachtet wird. Von einer intendierten Reform bei der Gründung der Universität kann deshalb freilich trotzdem (noch) keine Rede sein. Das ‚Neue‘ trat in Halle vielmehr ebenso wie andernorts vor allem als Etikettierung von Schriften auf. Medizin. Am stärksten trifft dies in der Frühzeit der Fridericiana auf die Schriften der Mediziner zu. Friedrich Hoffmann (1660–1742), der erste Professor der Medizinischen Fakultät, hat sich explizit mit den Grundlagen gewisser „neuer Hypothesen“ aus dem Feld der Naturphilosophie befasst, in denen die Auffassung vertreten worden war, dass „alle natürlichen Körper aus Materie und Geist bestehen“.35 Außer im Schnittfeld zwischen Naturphilosophie und Theologie (die in

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discernendi, & novas veritates inveniendi. Francofurti/Lipsiae/[Halle] 1694, Repr.: Hg. v. Werner Schneiders, Hildesheim [u. a.] 1993 = Ausgewählte Werke. Bd. 1). Johann Peter Ludewig (Praes.), Theophilus Michael Miculci (Resp.): De prima academia, Villa Platonis, cum nova Halensium collate. Halae 1693. Friedrich Hoffmann (Praes.), Johann Nicolaus Röper (Resp.): Theoremata Physica Convellentia fundamenta novae hypotheseos: Omnia Corpora Naturalia Constare Ex Materia & Spiritu. Halae 1694. Thomasius wandte sich übrigens in einem Pamphlet gegen Hoffmanns Abhandlung: [Christian Thomasius]: Sincerus Veritatis Indagator Viro Celeberrimo, Autori Novae Philosophiae Elastico-Corpuscularis, Fundamenta Verae, Antiquissimae, Et Ex Philosophia Mosaica Desumtae Hypotheseos: Corpora Naturalia Constare Ex Materia Et Spiritu, Positionibus quibusdam Physicis convellere volenti, Quaestiones aliquot, ad eliciendam eius claram & distinctam, sibique ipsi non contradicentem sententiam, cum Thesibus, Eius positionibus oppositis, ut & Conditiones sincerae & placidae collationis, sincere & placide proponit. Halae Magdeburgicae [1694]. Hoffmann reagierte auf Thomasiusʹ Kritik mit der Schrift: Ad Celeberrimi Cuiusdam Viri Fundatoris Novae Philosophiae Spiritualis Scriptum brevis & modesta responsio cum Vindicatione Philosophiae experimentalis mechanicae. Halae [1694].

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diesen Auseinandersetzungen stets eine nicht unwesentliche Rolle spielte) trat Hoffmann freilich vor allem im Feld der Medizin hervor, indem er die Behandlungsmöglichkeiten „neuer Fieber“ erforschte und neue Entdeckungen in den Gebieten der Chirurgie und Anästhesie vorlegte.36 Auch der 1694 nach Halle berufene Kollege Hoffmanns, Georg Ernst Stahl (1659–1734), befasste sich immer wieder mit Neuheiten, vor allem mit der „neuen Pathologie“ und neuen Heilmethoden epidemischer Fieber,37 und verfasste zudem eine Einleitung Zu der Neuen Meteroscopie, Oder Witterungs-Deutung,38 die von William Cock (Lebensdaten unbekannt) entwickelt und von Matthäus Schlüter (1649–1719) in Anwendung gebracht worden war;39 gleichzeitig hob er den erkenntnisrelativen Aspekt des Begriffs ‚Neuheit‘ hervor, auf den schon Becmann hingewiesen hatte, demzufolge Neuerungen zwar Entdeckungen bislang unerkannter Wahrheiten sind, aber absolute Neuerungen unmöglich sind.40 Unter diesem Paradigma, das allerdings fast nie explizit gemacht wurde, wurde die Beschäftigung mit neuen Entdeckungen und neuen Theorien ebenso wie die eigene Suche nach Neuem in der Folgezeit von den Medizinern an der Universität Halle fortgesetzt. So legte Andreas Ottomar Gölicke (1671–1744), der seit 1699 in Halle tätig war, im Jahr 1713 nicht nur eine Disputatio Anatomico-Chirurgica Exhibens Novum Artificium Curandi Procidentiam Uteri

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Friedrich Hoffmann (Praes.), Christoph Wilhelm Sattler (Resp.): Disputatio Inauguralis Medica Sistens Novam Febrium Intermittentium Hypothesin. Ex ipsis Principiis Mechanicis deductam. Halae 1694; Friedrich Hoffmann (Praes.), Johann Nicolaus Röper (Resp.): Dissertatio Inauguralis Medico-Chirurgica, De Fistularum Nova, Tuta Ac Compendiosa Sanatione. Halae Magdeburgicae 1697; Friedrich Hoffmann (Praes.), Jacob Descazalz (Resp.): Dissertatio Inauguralis Medica De Opiatorum Nova Eaque Mechanica Operandi Ratione. Halae Magdeb. 1700. Georg Ernst Stahl (Praes.), Georg Gottlieb Köhler (Resp.), Dissertatio Inauguralis Medica Tradens Novam Pathologiam Calculi Renum, Halae Magdeb. 1697 (weitere Aufl.: 1723, 1724); Georg Ernst Stahl (Praes.), Johann Conrad Tieffenbach (Resp.), Disputatio Medica Inauguralis De Podagrae Nova Pathologia, Halae Magdeburgicae [1698]; Georg Ernst Stahl, Historia febris epidemicæ petechizantis, et hinc desumtae methodi ad curationem ejusdem nec non nova ejus curatio per purgationem Breviter delineata, Halae Magdeburgicae [zw. 1698 u. 1714]. Georg Ernst Stahl: Einleitung Zu der Neuen Meteroscopie, Oder Witterungs-Deutung. Nach William Cocks Grund-Reguln Und Tit. Herrn Matthaei Schlüters [...] Curieusen Anmerckungen. Halle 1716. Vgl. William Cock: Meteorologiae, or the true way of foreseeing and judging the inclination of the air and alteration of the weather in several regions. London 1671 (dt. Übers. u. d. T.: Meteorologia Oder Der rechte Weg Vorher zu wissen, Zu beurtheilen Die Veränderung der Lufft Und Abwechselung des Wetters In verschiedenen Landern. Hamburg 1691; neue Ausg.: Hg. v. Hans Kayser, Leipzig 1924); Matthäus Schlüter: Ursachen Des am Ende des 1694. und im Anfange des 1695. Jahres eingefallenen sehr strengen Winters, Genommen aus dem Sternen-Lauff, Nach William Cocks [...] gantz neuen, und leichten Principiis, oder GrundRegelen […]. Hamburg 1695 (Fortsetzung in zehn weiteren Vorstellunge[n] folgten noch im selben Jahr). S. dazu Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5), S. 167; vgl. Georg Ernst Stahl (Praes.), Johann Michael Glaschke (Resp.): Disputatio medica inauguralis, de novitatibus medicis in genere […]. Halae Magdeburgigae 1704, S. 6.

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Veram vor,41 sondern auch wissenschaftsgeschichtliche Überblickswerke zur neuen und alten Anatomie und Chirurgie unter ausdrücklicher Berücksichtigung selbst der neuesten Schriften.42 Michael Alberti (1682–1757), seit 1711 in Halle, handelte von neuen und neuesten Heilmitteln sowie von neuen forensischen und klinischen Fällen.43 Der ab 1716 in Halle forschende Georg Daniel Coschwitz (1679–1729) publizierte 1724 seinen Ductus Salivalis Novus, dem weitere Schriften zum selben Thema folgten.44 Heinrich Baß (1690–1754) legte 1720 einen Bericht von Bandagen [...] nach der neuesten Façon und Erfindung vor und stellte in einem anderen Werk viel neue Inventa und Instrumenta aus dem Feld der Chirurgie vor.45 Ausdrücklich über das „Studium der Neuheiten in der Medizin“ sowie „in der Anatomie und Physiologie“ schrieb Peter Gerike (1693–1750).46 Er relativierte den Neu41

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Andreas Ottomar Gölicke (Praes.), Johann Georg Preunel (Resp.): Disputatio Anatomico-Chirurgica Exhibens Novum Artificium Curandi Procidentiam Uteri Veram. Halae Magdeburgigae 1710 (weitere Aufl.: 1755). Andreas Ottomar Gölicke (Hg.): Historia anatomiae nova aeque ac antiqua, seu conspectus plerorumque, 6 Period. Halae 1713 (P. 1), Francofurti ad Viadrum 1717–1720 (P. 1–6); Andreas Ottomar Gölicke: Historia chirurgiae recentior seu series presorumque scriptorum novissimorum, qui seculo decimo sexto et circa initium decimi septimi Chirurgicen operibus suis illustrarunt. Halae Magdeburgicae 1713. Michael Alberti (Praes.), Johann Georg Schüller (Resp.): Dissertatio Inauguralis Medica De Morbo Endemio Hagyma'z, Oder Hitzigen Haupt-Kranckheit. Addito in fine Novo & Specifico Remedio in hoc Morbo Patriae usuali. Halae Magdeburgicae 1726; Michael Alberti: Systema jurisprudentiae medicae. 6 Bde. Bde. 1–3: Schneebergae, ab Bd. 4: Lipsiae 1729–1747, Bd. 3: Novis Casibus Forensibus Et Clinicis Locupletatus [...] (1733), Bd. 4: Luci Edita Multis Aliis, Novis Et Sonticis Casibus Forensibus [...] (1737), Bd. 5: In Publicum Usum Emissa Denuo Novis Et Delectis; Casibus Mixtix Jvdicialibus, Bd. 6: Completa peractio jurisprudentiae medicae [...] quo denuo novi casus medici forenses et clinici additis variis observationibus ac scriptis memorabilibus physico-medicis (1747); Michael Alberti (Praes.), Emanuel Benjamin Schmolck (Resp.): Dissertatio Inauguralis Medica, De Quatuor Novissimis Medicis. Halae Magdeburgicae 1736. Georg Daniel Coschwitz: Ductus Salivalis Novus, Per Glandulas Maxillares, Sublinguaeles, Linguamqve Excurrens, Cum Vasis Lymphaticis Variis Communicans, Et In Lingua Locum Excretionis Habens. Halae Magdeburgicae 1724 (weitere Aufl.: 1741); Georg Daniel Coschwitz (Praes.), Peter Christian Wagner (Resp.): Dissertatio Anatomico-Medica Sistens Ductum Salivalem Noviter Detectum. Halae Magdeburgicae 1724; Georg Daniel Coschwitz: Ductus Salivalis Novus, Pluribus Observationibus Illustratus Confirmatusque, Simulatque A contradictionibus Vindicatus Et Liberatus. Halae Magdeburgicae 1729. Heinrich Baß: Gründlicher Bericht von Bandagen. Darinnen enthalten: Eine ausführliche Beschreibung, wie so wohl ein Medicus, als auch Chirurgus [...] einen [...] Verband nach der neuesten Façon und Erfindung [...] appliciren könne. Leipzig 1720; Ders.: Erläuterter Nuck, oder Gründliche Anmerckungen über Des berühmten [...] Anthon Nucks Chirurgische Hand-Griffe und Experimente, Worinnen viel Neue Inventa und Instrumenta vorgestellet werden […]. Halle 1728 (weitere Aufl.: 1744, 1755). Die zuletzt genannte Schrift bezieht sich auf: Anton Nuck: Operationes et experimenta chirurgica. Lugduni Batavorum 1692 (weitere Aufl.: 1696, Ienae 1698, Lugduni Batavorum 1714, Franckfurt a. M. 1725, Lugduni Batavorum 1733; dt. Übers. u. d. T.: Des berühmten D. Anthonii Nuck [...] Chirurgische Handgriffe und Experimenta, Lübeck 1709). Schon Nuck hatte in mehreren seiner Schriften ausdrücklich das Etikett neu (nova) verwendet. Peter Gerike (Resp.): Dissertatio Inauguralis Medica De Studio Novitatis In Medicina. Altdorfii Noricorum [1721]; Peter Gerike (Praes.), Johann Christian Weidenheim (Resp.):

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heitsbegriff als einer von wenigen so ausdrücklich, wie Becmann und Stahl dies vor ihm getan hatten, dahingehend, dass er Novitäten lediglich als Erkenntnisse einer objektiv unveränderlichen und daher nicht durch Neuheiten ergänzbaren Wahrheit bestimmte.47 Zeitgleich mit Gerike hatte 1729 Johann Juncker (1679– 1759) in Halle seine Tätigkeit aufgenommen, der um 1730 das Propempticon Inaugurale De Discreto Sensu Circa Nova Medica verfasste und 1741 De Calculi Curatione Nova und über eine neue Heilmethode für Epilepsie disputieren ließ.48 Philosophie. Auch an der Philosophischen Fakultät wurde, wie schon bei Thomasius zu sehen war, der Anspruch erhoben, Neues nicht nur entdecken zu können, sondern auch schon entdeckt zu haben und sich zudem mit neuen Hypothesen auseinanderzusetzen. Christoph Cellarius (1638–1707), der 1693 nach Halle berufen wurde, hatte schon 1686 seine Geographia Antiqua iuxta & Nova vorgelegt, ließ sie aber, nachdem sie 1687 bereits in zweiter Auflage erschienen war, 1698 in dritter Auflage und 1706 nochmals auch in Halle drucken.49 Zudem verfasste er in Halle seine berühmte und im 18. Jahrhundert vielfach aufgelegte Historia Nova, die das 16. und 17. Jahrhundert als Geschichte der neuen Zeit behandelte – in Absetzung von der Antike und dem Mittelalter, womit Cellarius bekanntlich diese dreiteilige Periodisierung in der historischen Wissenschaft endgültig etabliert hat.50 Johann Sperlette (1661–1725) hatte, schon bevor er 1695 nach Halle gekommen war, eine „neue Physik“ verfasst; in Halle stellte er ihr eine „neue Logik und Metaphysik“ zur Seite.51 Christian Benedikt Michaelis (1680–1764) befasste sich 1709 mit „neuen philologischen Hypothesen“ zur hebräischen Etymologie.52 Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729), der zeitweise wie Thomasius sowohl der Juristischen als auch der Philosophischen Fakultät angehörte, verkündete 1711, viele Neuheiten in Bezug auf die mittelalterliche Geographie und Historie des

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Dissertatio Medica De Studio Novitatis In Anatomia Et Physiologia. Halae Magdeburgicae [1724]. Vgl. Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5), S. 167f. Johann Juncker: Propempticon Inaugurale De Discreto Sensu Circa Nova Medica. [s. l.] [1730]; Johann Juncker (Praes.), Johann Andreas Eichrodt (Resp.): Dissertatio Inauguralis Medica Qua De Calculi Curatione Nova. Halae Magdeburgicae 1741; Johann Juncker (Praes.), Abraham von Heimbach (Resp.): Dissertatio Inauguralis Medica De Nova Methodo Curandi Epilepsiam Sine Specificis. Halae Magdeburgicae 1741. Christoph Cellarius: Geographia Antiqua iuxta & Nova. 2 Bde. Cizae 1686–1687 (bis 1745 mind. sieben weitere Aufl.). Christoph Cellarius: Historia Nova, Hoc Est XVI Et XVII Saeculorum, Qua Eiusdem Auctoris Historiae, Antiqua Et Medii Aevi, Ad Nostra Tempora Continenti Ordine Proferuntur. Halae Magdeburgicae 1696 (bis 1753 mind. zehn weitere Aufl.). Johann Sperlette: Physica nova sive philosophia naturae. Berolini 1694 (weitere Aufl.: Halae Magdeburgicae/Berolini 1703); Ders.: Logica et Metaphysica novae. Berolini 1696 (weitere Aufl.: Halae Magdeburgicae/Berolini 1703). Christian Benedict Michaelis (Praes.), Conrad Andreas Günther (Resp.): Dissertationem Philologicam, Qua Nova Hypothesis Etymologica Hebraea De Vocum Seminibus, Ac Litterarum Significatione Hieroglyphica. Halae Magdeburgicae 1709 (weitere Aufl.: 1717).

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Mittelalters zu Tage gefördert zu haben;53 dieselbe Wendung findet sich in einer Dissertation von 1715.54 In der Erklärung des römischen und deutschen Rechts, auch in der Darstellung des Naturrechts sowie in seinen Via Ad Veritatem behauptete er ausdrücklich, nach einer „neuen Methode“ vorzugehen.55 Sein Kollege an der Philosophischen Fakultät, Johann Friedemann Schneider (1669–1733), proklamierte 1728 ebenfalls, nach „neuer Methode“ (gemeint ist hier die Methode der Eklektik) vorzugehen, und zwar in der Logik.56 Und auch der schon erwähnte Ludewig handelte 1730 Nova Ratione von den Akten und Monumenten des Mittelalters.57 Jurisprudenz. In welchen philosophischen Schriften Christian Thomasius schon im Titel auf das Neue Bezug genommen hat, wurde bereits gesagt. An der Juristischen Fakultät war er nicht der Einzige, der auf diese Weise auf das Neue in seinen Werken hinwies. Samuel Stryk (1640–1710), neben Thomasius der erste Lehrer an der jungen Universität und ihr erster Rektor, hatte schon lange vor seinem Amtsantritt in Halle ein in der Folge vielfach gedrucktes Werk zum Feudalrecht verfasst, in dem er alles Wichtige „aus dessen neuesten Interpreten“ versammelte;58 darüber hinaus befasste er sich mehrfach mit Gegenüberstellungen des 53

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Nicolaus Hieronymus Gundling: De Henrico Aucupe Franciae Orientalis Saxonumque Rege Liber Singularis In Quo Reipublicae Facies Ex Genuinis Rerum Documentis Diplomatibus Tabulis Chartis Scriptoribusque Aequalibus In Luce Collocatur Errores Clarissimorum Virorum Modeste Confutantur Multa Nova Ex Medii Aevi Geographia Atque Historia Deducuntur Ac Cognita Denique Melioribus Argumentis Testimoniisque Illustrantur. Halae Magdeb. 1711. Nicolaus Hieronymus Gundling (Praes.), Georg Gottfried Bönigke (Resp.): Diatriba Ex Iure Feudali Atque Publico De Feudis Vexilli Vulgo Fahn-Lehn. In Qua Multa Nova Deteguntur Multi Errores Virorum Clarissimorum Ostenduntur Haud Pauca Vero Distinctius Ac Copiosius Proponuntur. Halae Magdeburgicae 1715. Nicolaus Hieronymus Gundling: Digesta in quibus rationis principia, Jus Romanum et Teutonicum e genuinis fontibus simul ac pragmatica connexa ratione, expenduntur, confusaque novâ et accurata methodo seperantur. Halae Magdeburgicae 1723; Ders.: Ius Naturae Ac Gentium Nova Methodo Elaboratum Et A Praesumtis Opinionibus Aliisque Ineptiis Vacuum. Halae Magdeburgicae 1715 (2. Aufl.: 1728 u. d. T.: Ius naturae ac gentium connexa ratione novaque methodo elaboratum et a praesumtis opinionibus aliisque ineptiis vacuum); Ders.: Via Ad Veritatem Cujus Pars Tertia Iurisprudentiam Naturalem Nova Methodo Elaboratam Et A Praesumtis Opinionibus Aliisque Ineptiis Vacuam Sistit. Halae Magdeburgicae 1715. Johann Friedemann Schneider: Fundamenta Philosophiae Rationalis, Seu Logicae, In Quibus Doctrina De Intellectu Humano Eiusque Facultatibus, Viribus, Operationibus, Ac Singularum Vitiis, Contra Haec Remidiis, Itemque Virtutibus Intellectualibus Methodo Novo Eaque Electica Proponitur, Et Cunta Ad Vitae Usum Adplicantur. Halle 1728. Johann Peter von Ludewig: Singularia Iuris Publici Germanici Imperii, Tomus I.: Habentur [...] Cetera: Nova Ratione Fideque Diplomatum Et Medii Aevi Monumentis Adornata […]. Halae Salicae 1730. Samuel Stryk: Examen Iuris Feudalis. Ex novissimis eius Interpretibus in gratiam Studiosae Iuventutis collectum, ac methodo Institutionum dispositum. Francofurti Ad Viadrum 1675 (bis 1739 mind. fünfzehn weitere Aufl., dt. Übers. u. d. T. Examen über das Lehn-Recht. Durch kurtze Fragen und dererselben Beantwortung, Seinen Zuhörern zum Besten aus den allerneuesten Auslegern dieses Rechts zusammen getragen, und nach Art deren Institutionen eingerichtet. Franckfurt an der Oder 1713).

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alten und des „neuesten Rechts“.59 Johann Georg Simon (1644–1696) gab Hugo Grotius’ berühmtes Werk De Jure Belli ac Pacis heraus, und zwar mit novis Animadversionibus & adiectionibus.60 Justus Henning Böhmer (1674–1749) schrieb De Actionibus Ad Praxin Hodiernam Et Novissimam Ordinationem Processus Electoralis Saxonici Accommodata,61 und Jakob Brunnemann (1674–1735) befasste sich mit den „neuesten Gesetzen“.62 Theologie. Auch in der höchsten Fakultät findet sich das Schlagwort des Neuen in mehreren Werktiteln aus der Frühzeit der Fridericiana, sei es in Bezug auf die Aufstellung „neuer Hypothesen“ und der Ausformulierung „neuer Verteidigungen“ bei Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) und Paul Anton (1661–1730),63 sei es in der Auseinandersetzung mit „neuen Vorzeichen“ und mit der „neuesten Historie“ der evangelischen Kirche (womit hier die letzten zwanzig Jahre vor Erscheinen des betreffenden Werkes gemeint sind).64 Joachim Lange (1670–1744), der 59

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Samuel Stryk (Praes.), Joachim Friedrich Dörrien (Resp.): Differentiarum Juris Veteris Et Novissimi Disputatio[nes]. Francofurti Ad Viadrum 1668 (weitere Aufl.: 1672, 1683, [ca. 1700], Halae Magdeburgicae 1712); Samuel Stryk: Tabulae Synopticae De Successione Ab Intestato. Ad Ius Novissimum Novellae sc. 118. eiusq[ue] usum accomodatae. Rostochii 1688; Samuel Stryk (Praes.), Wolf Dietrich von Beichling (Resp.): Disputatio Iuridica Exhibens Collationem Iuris Saxonici Novissimi & Romani. Francofurti ad Viadrum 1689 (weitere Aufl.: 1704). Simon, Johann Georg (Hg.): Hugonis Grotii De Iure Belli ac Pacis Libri Tres, nunc vero novis Animadversionibus & adiectionibus locorum concordantium illustrati, allegatione Scriptorum distinctiori, Ienae 1680; vgl.: Ders. (Hg.): Guilielmi Grotii de principiis juris naturalis enchiridion. Novis animadversionibus, Ed. 2. Jenae 1682. Justus Henning Böhmer: Succincta expositio doctrinae de actionbius ad praxin hodiernam accommodatae in usum lectionum academicarum. Halae Magdeburgicae 21718 (31725, 41728, 5 1730 u. d. T.: Doctrina De Actionibus Ad Praxin Hodiernam Et Novissimam Ordinationem Processus Electoralis Saxonici Accommodata, 61734, 71738, weitere Aufl.: 1739, Francf. 1745, Halae 1749, 91756, 1765, 1771). – Böhmer befasste sich darüber hinaus bekanntlich auch intensiv mit dem sog. usus modernus pandectarum, dessen Bezeichnung für eine spezifisch frühneuzeitliche Entwicklung in der europäischen Rechtsgeschichte auf den schon erwähnten Samuel Stryk verweist. Allerdings darf usus modernus hier, vor allem wegen seiner fachspezifischen Bedeutung, nicht ohne weiteres mit „moderner Gebrauch“ im alltagssprachlichen Sinn übersetzt werden, sondern bedarf einer wesentlich differenzierteren Einordnung, als an diesem Ort geleistet werden kann. Jakob Brunnemann: Jurisprudentia Publica. In qua Status S. Romano-German. Imperii praesens Juxta leges novissimas in specie Capitulationes Leopoldi & Josephi delineatur, & Hodiernae illustriores Controversiae Principum adjiciuntur. Halae Magdeburgicae 1701 (21714, 3 1722, 41737). Joachim Justus Breithaupt (Praes.), Christian Breithaupt (Resp.): Disputatio Apologetica De Nervis Pelagianismi in Hypothesi illa nova. Halae Magdeburgicae [1710]; Paul Anton: De pathmo Lutheri in arce Warteburg prope Isenacum, animadversiones historico-theologicae adversus Card. Pallauicinum aliosque historiographos Romanenses. Accedunt nova quaedam apologetica, scandalis hodiernis ecclesiasticis tollendis accomodata. Halae Magdeburgicae 5 1710 (in: Christoph Cellarius: Dissertationes Academicae. [Halle 1710], in dieser Aufl. erstmals mit der angehängten Abhandlung, weitere Aufl.: 1730). Johann Heinrich Michaelis: Ad Novae Benedictionis Auspicia Ex Promissione Spiritus S. Amplectenda Peramanter Hortatur. Halae Magdeburgicae [1713]; Joachim Lange: Apologetische Erläuterung der neuesten Historie bei der Evangelischen Kirche von 1689 bis 1719. Halle 1719.

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Verfasser besagter Historie, hat sich in mehreren Schriften mit dem System der neuen Philosophie, der neuen Mechanischen Philosophie und der neuen Mechanischen Morale auseinandergesetzt,65 in der er nahezu überall Atheismus erkannte und die er vor allem durch die Philosophie Christian Wolffs repräsentiert sah. Lange betrachtete insofern seinen Kollegen von der Philosophischen Fakultät durchaus als Vertreter einer neuen Philosophie, die er allerdings scharf ablehnte. Eine vergleichbare Konstellation innerhalb der Fridericiana hatte sich bereits in der Auseinandersetzung zwischen Thomasius und Hoffmann gezeigt. Im Zuge seiner Kritik an Wolff verfasste Lange auch eine „Neue Anatomie“ der wolffischen Metaphysik66 und trat insofern selbst als Schöpfer von Neuem auf. Dies gilt auch für Johann Jakob Rambach (1693–1735), der für die Überarbeitung seiner Exercitationes Hermeneuticae „viele neue Beobachtungen“ angestellt und auch im Feld der Bibelexegese versucht hat, ein „neues Licht“ anzuzünden.67 Wie sich zeigt, war die Selbstetikettierung als Neuerer, als Erfinder oder Finder von Neuem wie auch die Etikettierung anderer Autoren einschließlich der Universitätskollegen den Gelehrten an der jungen Fridericiana alles andere als fremd. Mehrheitlich handelt es sich um eine spezifische Verwendungsweise des Neuheitsbegriffs, die auf eine signifikante wissenschaftliche Leistung hindeuten, vor allem aber das Interesse an einem wissenschaftlichen Werk hervorrufen sollte. Der Begriff ‚neu‘ wurde zum Signalwort einer literarischen Werbestrategie, die bereits auf der Annahme beruhte, dass Neuheiten als positiv oder doch zumindest als interessant wahrgenommen werden. Diese Strategie hatte sich auch in Halle schon durchgesetzt, als die theoretische Debatte über das Neue und seine Bewertung, die Reimund Sdzuj in seinem grundlegenden Beitrag untersucht hat,68 noch kontrovers mit den Fragen befasst war, inwiefern Neues überhaupt möglich sei und welchen 65

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Joachim Lange: Placidae vindiciae Modestae Disquisitionis De Systemate Philosophiae Novo. Halae Saxonum 1723; Ders.: Modesta Disquisitio novi philosophiae systematis de Deo, mundo et homine, et praesertim de harmonia commercii inter animam et corpus praestabilita. Halae Saxoniae 1723; Ders.: Caussa Dei Et Religionis Naturalis Adversus Atheismum, Et, Quae Eum Gignit, Aut Promovet, Pseudophilosophiam Veterum Et Recentiorum. Praesertim Stoicam Et Spinozianam, E Genuinis Verae Philosophiae Principiis Methodo Demonstrativa Adserta. Halae Saxonum 1723 (2. Aufl. mit dem veränderten Untertitel: Praesertim Stoicam, Spinozianam Ac Wolfianam. Una Cum Nova Systematis Wolfiani Analysi, 1727); Ders.: Hundert und dreyßig Fragen Aus der neuen Mechanischen Philosophie. Halle 1734; Ders.: Philosophische Fragen Aus der neuen Mechanischen Morale. Halle 1734. Joachim Lange: Nova Anatome, Seu Idea Analytica Systematis Metaphysici Wolfiani. Francofurti/Lipsiae 1726; vgl.: Ders.: Neue Schriften über die Angegebene Irrthümer welche in der Philosophie Des Herrn Hof-Rath Wolffs enthalten seyn sollen. Leipzig 1736. Johann Jakob Rambach: Exercitationes Hermeneuticae, In Academia Ienensi Publicis Ventilationibvs Expositae. Nunc Iunctim Recusae, Multisque Novis Observationibus Auctae, Et Indicibus Instrctae. Ienae 1728 (weitere Aufl.: 1738); Ders.: Exercitatio epistolica, ad Gottlob Frider. Gudium [...] qua de problematibus eius exegeticis de Iobo, incarnationis Christi vate, et de urbe Sichem, sale conspersa, mentem suam exponit, ac novam aliquam lucem istis scripturae locis adfundere studet, denique mysticum miraculorum Iesu Christi sensum paucis defendit. Halae Magdeburgicae 1730. Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5).

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Wert dem Streben oder Suchen nach Neuem im Allgemeinen sowie in spezifischen disziplinären Kontexten zuzuschreiben sei. In gewisser Weise griff die novatorische Werbestrategie damit einem Urteil der theoretischen Auseinandersetzung vor oder begleitete sie, wobei sie, offenbar mit gutem Grund, aber weitgehend unabhängig von den Relativierungen des Neuheitsbegriffs, die die philosophische Debatte bestimmten, davon ausging, dass eine positive Bewertung des Neuen und des Neuerers im Allgemeinen dem Urteil der Adressaten entsprach. Gleichwohl gab es auch weiterhin immer wieder Fälle, in denen die von einem Autor proklamierten Neuerungen zwar von den Adressaten als Novitäten anerkannt wurden, diese Anerkennung aber nicht positiv, sondern negativ konnotiert war, wie unter anderem die Kontroversen zwischen Thomasius und Hoffmann sowie die zwischen Lange und Wolff belegen.

III. Begriffsanalysen und Wertungskriterien Die Auswertung von Werktiteln liefert zwar die Möglichkeit einer oberflächlichen Annäherung an das Selbstverständnis der ersten Universitätslehrer in Halle, bildet aber keine hinreichend stabile Basis für dessen Beurteilung. Daher ist es notwendig, andere Zugänge zur Erklärung des beschriebenen Phänomens zu berücksichtigen. Es offenkundig, dass das semantische Feld um den Begriff des Neuen äußerst komplex ist,69 zumal ihm auch mehrere Fremdwörter zugerechnet werden müssen, die ihrerseits unterschiedliche und komplexe Entwicklungslinien aufweisen und deren Aufnahme in den deutschen Wortschatz teilweise ein gewisses Maß an Polysemie bewirkt hat. Exemplarisch seien hier die deutschen Begriffe modern, (re)formieren und Innovation genannt – die Liste ließe sich freilich stark erweitern – und ebenso sei auf ihre Entsprechungen in anderen Sprachen einschließlich des Lateinischen als der traditionellen Gelehrtensprache verwiesen. Schon eine bloße Titelrecherche, wie sie hier zum Begriff des Neuen erfolgt ist, würde unter Berücksichtigung dieses Begriffsfeldes eine geradezu unüberschaubar große Zahl an Schriften zu Tage fördern. Zudem haben diese Begriffe im Einzelnen wiederum ihre eigenen Entwicklungen durchlaufen, wobei sie in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedliche Assoziationen hervorrufen konnten oder sogar hervorrufen mussten. Einige dieser Begriffe weisen auf die Wissenschaftstradition und die mit dieser eng verknüpfte Theologie des europäischen Mittelalters zurück, andere haben erst in der Frühen Neuzeit ihre Kontur gewonnen. In manchen Fällen entstammen die etablierten Bezeichnungen für einzelne Epochen und Bewegungen sogar unmittelbar diesem semantischen Feld, wie zum Beispiel die Begriffe Re69

Zur historischen Entwicklung des Begriffs vgl. J. Moltmann u. N. Rath: Art. Neu, das Neue. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd. 6. Basel u. a. 1984, Sp. 726–731 (allerdings sehr knapp und selektiv).

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naissance und Reformation. Auch der Begriff der Neuzeit entstammt bekanntlich der historischen Wissenschaft jener Epoche, die damit in Absetzung vom Mittelalter bezeichnet wurde. Ähnliches gilt für den Begriff des Modernen. Im Folgenden wird durch die stichprobenartige Sichtung einiger einschlägiger Quellen versucht, die Begriffe neu und Neuerung, wie sie im frühen 18. Jahrhundert in Deutschland und insbesondere im Umfeld der deutschen Frühaufklärung geläufig waren, näherungsweise zu rekonstruieren.70 Einen zweckmäßigen Zugang bietet die kurze Betrachtung einiger Lexikonartikel, denn sie ermöglicht (1.) einerseits den Zugriff auf ein im 18. Jahrhundert in Deutschland offenbar weitgehend akzeptiertes Verständnis vom Begriff des Neuen (insbesondere in formaler Hinsicht) und verweist (2.) unter anderem auch an den Ort, der hier von vorrangigem Interesse ist, nämlich an die junge Universität Halle. Um einen Vergleichsmaßstab zu haben, ist zuvor jedoch ein kurzer Blick auf die entsprechenden lexikalischen Artikel aus dem 17. Jahrhundert sinnvoll. Im Artikel Novatum seines Lexicon philosophicum von 1613 unterscheidet Rudolph Goclenius (1547–1628) zunächst zwischen drei Bedeutungsebenen dieses Begriffs. Er diene als Bezeichnung entweder von etwas neu Erfundenem oder einer irgendwie veränderten Bedeutung eines Begriffs oder der neuen Zusammensetzung bzw. Erweiterung eines Begriffs. Darüber hinaus verweist Goclenius lediglich auf die unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexte, in denen der Begriff des Neuen von Bedeutung ist: auf die Naturphilosophie, in der er etwa zur Bezeichnung neu entdeckter Himmelskörper verwendet wird; auf die Philosophie im engeren Sinne, in der die Begrifflichkeit novissima causa einen terminus technicus für die Bezeichnung eines ‚verwirklichenden Grundes‘ darstellt, und auf die Politik, in der es, sofern sie auf Gesetze abzielt, nie um völlige Neuerungen gehe, sondern lediglich um renovatio. Der Begriff des Neuen bezieht sich hier primär auf Novata verba und nur sekundär (und zudem sehr beschränkt) auf neue Erkenntnisse oder ‚Dinge‘.71 Laurens Beyerlinck (1578–1627) weist in seinem monumentalen Magnum Theatrum Vitae Humanae (1631) im Artikel Novitas ebenfalls auf die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs hin: Er diene zur Bezeichnung dessen, was zum ersten Mal geschieht, hinsichtlich des Zeitpunktes wie auch des Ereignisses als solchem; eine Neuheit kennzeichne zudem, dass ihr entweder nichts Gleiches vorausgegangen oder dass sie dem „gewohnten Gang der Natur zuwider“ sei (contra consuetudinem

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Die für die folgenden Ausführungen wichtigen Ergebnisse, die Sdzuj in seinem Beitrag: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5) erarbeitet hat, werden hier nicht wiederholt. Francofurti 1613 (Repr.: Hildesheim 1964) S. 772. Goclenius’ Referenzautoren sind übrigens v. a. Personen der Antike (Terenz, Apuleius, Martianus Capella, Sidonius Apolinaris), darüber hinaus wird lediglich auf Erasmus und Reuchlin verwiesen.

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cursus naturae).72 Es wird sich noch zeigen, dass der Begriff der Gewohnheit später in anderer Hinsicht wieder wichtig wird. Im Lexicon philosophicum von Johannes Micraelius (1597–1658) aus dem Jahr 1653 finden sich die Artikel novum und novare.73 Novum wird definiert als Bezeichnung für „das, was zuvor noch nicht da war, wie neue Gesetze, Tafeln, Bauhölzer, Menschen“;74 novare wird gleichgesetzt mit immutare, wobei auf die primäre und zudem spezifische Bedeutung dieses Begriffs für die Jurisprudenz verwiesen wird.75 Stellen wir diesen Artikeln nun eine Kombination zweier einschlägiger Beispiele aus dem 18. Jahrhundert gegenüber, nämlich das Philosophische Lexicon Johann Georg Walchs (1693–1775) und das Grosse vollständige Universal-Lexikon Johann Heinrich Zedlers (1706–1751). Bei Walch findet sich ein Artikel Neuerung, Novatio, der von der ersten Auflage des Lexikons von 1726 bis zu dessen vierter Auflage von 1775, also im Laufe von etwa fünfzig Jahren, keinerlei Änderung erfahren hat.76 Zwischenzeitlich (1740) war er zudem, wie auch viele andere Artikel aus Walchs Lexikon, in Zedlers Universal-Lexikon übernommen worden.77 Walchs Erläuterungen – und damit die eines Thomasianers der zweiten Generation – scheinen also prima facie für das Verständnis des Begriffs Neuerung im Rahmen der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts einschlägig geblieben zu sein.78 Das Universal-Lexikon Zedlers führt allerdings zusätzlich zu dem aus Walchs Lexikon übernommenen Artikel Neuerung noch einen weiteren, wesentlich kürzeren Artikel Neu an, dessen Autor unbekannt ist. Darin heißt es: Neu, heisset alles dasjenige, was allererst, oder doch vor noch nicht gar langer Zeit, seine Würcklichkeit erlanget hat, z. E. ein neues Buch, nemlich das allererst oder vor kurtzem aus der Presse gehoben worden ist. Dieses ist der gemeine Begriff, den man mit dem Worte: Neu, verknüpffet. Es hat aber eben dieses Wort noch viele gantz verschiedene Bedeutungen, nachdem es bald zu dieser oder jener Sache gesetzet wird [...]. In denen Rechten wird Neu oder Neuerlich überhaupt alles dasjenige genennet, welches entweder bisher noch gantz und gar 72 73 74 75 76

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Laurens Beyerlinck: Magnum Theatrum Vitae Humanae, tom. V. Coloniae Agrippinae 1631. ed. novissima, Lugduni 1678 (danach zit.), S. 873. Johannes Micraelius (Hg): Lexicon philosophicum terminorum philosophis usitatorum. Jenae 1653, Sp. 720. Ebd.: „[…] quod ante non fuit, ut novae leges, tabulae, tigna, homines.“ Ebd.: „Hinc novatio apud Jctos est prioris debiti in aliam obligationem translatio.“ (Sp. 720). Art. Neuerung. Novatio. In: Philosophisches Lexicon. Hg. v. Johann Georg Walch. Leipzig 1726, Sp. 1888–1890; ebd., 4. Aufl. in 2 Theilen. Leipzig 1775 (Repr.: Hildesheim 1968), 2. Theil, Sp. 262–264. Dort wurden Walchs Ausführungen allerdings durch einen, die spezifisch juristische Begriffsbedeutung klärenden Teil ergänzt, der offenkundig von anderer Hand stammt. Für unser Rahmenthema sind sie zudem von hervorgehobener Bedeutung, weil Walch schon während seiner Studienzeit in Leipzig und seit 1718 auch in Jena maßgeblich vom Thomasianismus beeinflusst worden war. Walch hatte zunächst in Leipzig studiert, vornehmlich bei den Thomasianern Andreas Rüdiger, Gottfried Polycarp Müller und Gottlieb Gerhard Titius; seit 1718 war er in Jena als Professor tätig und stand dort unter dem Einfluss Buddes, der ein Kollege und Mitstreiter von Thomasius gewesen war.

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Kay Zenker nicht bekannt, oder doch sonst nicht gebräuchlich gewesen. [...] Bisweilen aber heisset dennoch ein Ding neu, wenn gleich von dem alten annoch etwas übrig ist, und bloß nur eines und das andere neues hinzu gethan worden.79

Die hier angeführte Unterscheidung zwischen sprachlich und ontisch Neuem findet sich auch in Walchs Artikel Neuerung, sie wird dort allerdings mit einem anderen Aspekt verknüpft: Neuerung, Heißt dasjenige Unternehmen der Menschen, wenn sie bey dem, so sie bisher im Gebrauch gehabt, eine Veränderung vornehmen, und etwas einführen, so bishero nicht gewöhnlich gewesen. Dergleichen Neuerungen sind unterschiedlich. Einige betrachten solche erstlich in Ansehung des Objects, wo sie statt haben, welches entweder die Sprache und Worte, oder die Sachen wären.80

Zunächst ist also festzuhalten, dass hier zwischen Neu und Neuerung unterschieden wird – eine Unterscheidung, die in den angeführten älteren Lexikonartikeln nirgends auftauchte. Während sich etwas Neues im Allgemeinen dadurch auszeichnet, dass es gerade erst wirklich geworden ist, also vorher nicht existiert hat, wird die Neuerung als die Einführung von etwas bislang Ungewöhnlichem bestimmt, nämlich entweder von ungewöhnlichen Worten oder von ungewöhnlichen Sachen. Die Frage, ob etwas neu ist, scheint, da sie sich auf den ontologischen Status einer Sache richtet und daher nicht graduell beantwortet werden kann, eindeutiger ent79

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Art. Neu. In: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Hg. v. Johann Heinrich Zedler. Bd. 24 (1740), Sp. 1. Bemerkenswert ist, dass der Art. Antiquitas in Zedlers Lexikon als Bezeichnung für „die alte Zeit, was über 100. Jahr alt ist“ aufgeführt wird (Bd. 2 [1732], Sp. 653); einen Artikel alt beinhaltet das Lexikon nicht. Vgl. stattdessen aber den Art. Modernus. In: Ebd.. Bd. 21 (1739), Sp. 727: „Modernus, Moderne, so viel als neu, neuerlich, nach der jetzigen Mode, Façon, Tracht, Manier, Art, Weise oder Gewohnheit [...]. Daher die Redens-Arten à la moderne, nach der neuesten Art und Façon; Modernus imperator, Pontifex, der jetztlebende Kayser, Pabst u. s. w.“ ‚Modern‘ wird hier nahezu als Synonym für ‚neu‘ bestimmt, während der weitaus umfangreichere Art. Mode. Ebd., Sp. 700–712, den Akzent auf sich verändernde Sitten und Gebräuche legt und zugleich vor bloßer „Moden-Sucht“ warnt (Sp. 709, vgl. Sp. 70f.). Aber auch hier wird zwischen „neue[n] Moden“ und „alten“ unterschieden und es für „eine erschreckliche Thorheit“ gehalten, neue Moden nur deshalb anzunehmen, weil man glaubt, immer wieder „auf etwas neues [...] bedacht“ sein zu müssen. (Sp. 702). Als besonders gefährlich gelten „Moden, die wider GOtt, und sein Wort, und also unvernünfftig sind“, womit die Ablehnung der christlichen Religion unter bloßem Verweis auf ihr Alter gemeint ist. Es gebe zwar „manche gute und vernünfftige Moden“, aber auch – und zwar in allen Bereichen der Gesellschaft – „das thörichte Vorurtheil der Moden“. Oft sei die Erfindung einer Mode durch Affekte (Geld- und Ehrgeiz) motiviert. Mode wird hier als ein meist negativ zu bewertendes gesellschaftliches Phänomen dargestellt, dem die ebenso unvernünftige, aber weniger stark verbreitete „unmäßige Liebe vor das Alterthum“ – sowohl bei Gelehrten als auch Ungelehrten, in den „Wissenschafften“ ebenso wie den „Künsten“ und den „verschiedenen Handlungen des menschlichen Lebens“ – gegenübersteht (Sp. 709). Vgl die ganz ähnliche Bestimmung von ‚Mode‘ bei Julius Bernhard von Rohr: Einleitung Zu der Klugheit zu leben. Leipzig 1715 (21719, 31730 [danach zit.]), Cap. 28, Abs. 9–16 (S. 589–592); sowie Ders.: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen. Berlin 1728 (21730 [danach zit.]). I. Theil, Cap. II (Von der Mode, S. 33–54), auf dessen Ausführungen der Artikel Mode bei Zedler offenkundig hauptsächlich basiert. Walch: Neuerung (wie Anm. 76), Sp. 1888–1890.

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schieden werden zu können als die auf traditionell und gesellschaftlich etablierte Konventionen abzielende Frage, ob etwas eine Neuerung darstellt, denn letztere kann, aufgrund des Bezuges auf das Gewöhnliche, nur in Form einer Relation beantwortet werden. Das Kriterium der Gewöhnlichkeit ist allerdings nicht die einzige Veränderung. Walch unterscheidet – durchaus traditionell – zwischen Neuerungen im Bereich der Sprache und Worte einerseits und Neuerungen in Bezug auf die Dinge andererseits. Im Unterschied zur Tradition stellt er dieser Einteilung aber die Kategorie der Moralität bzw. Amoralität gegenüber, auf deren Differenzierung noch einzugehen ist. Der genannten allgemeinen Einteilung Walchs schließt sich, der Programmatik des Lexikons folgend, eine thematische Eingrenzung an, nämlich eine Fokussierung auf das Problem der Neuerungen in der Philosophie. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig, sich den Philosophiebegriff Walchs klar zu machen, wie er ihn hier andeutet.81 „Ächte Philosophie“ soll seiner Auffassung nach „allgemeine wahre Gelehrsamkeit“ sein,82 das heißt, Walch operiert, wie seinerzeit nicht unüblich, mit einem sehr weit gefassten Begriff von Philosophie.83 Wenn man Walchs Philosophiebegriff in Verbindung mit seiner Bestimmung der Neuerung als der Einführung von bislang Ungewöhnlichem in Bezug setzt, so zeigt sich, dass es ihm nicht nur um die bloße Darstellung von Neuerungen geht, sondern auch um das Problem ihrer Rechtfertigung. Der Begriff der ‚echten Philosophie‘ impliziert, dass Walch diese von ‚unechter‘ Philosophie, also von bloßer Scheinphilosophie, unterscheidet, und es liegt auf der Hand, dass eine Neuerung, die in der Ablösung einer zwar gewohnten, aber falschen Philosophie durch eine echte, wenn auch ungewohnte Philosophie besteht, nicht als unzulässig betrachtet werden soll. Dabei muss es – wenn man sich den Unterschied zwischen neu und Neuerung vergegenwärtigt – nicht notwendigerweise um eine im ontologischen Sinn neue Philosophie gehen, das heißt um eine bislang noch gar nicht dagewesene, nicht wirklich gewordene Philosophie, sondern eben um echte Philosophie (die entweder völlig neu oder, als Modifikation der gewohnten Philosophie, ungewohnt und insofern nicht neue, sondern erneuerte Philosophie ist).84 Das zweite Unterscheidungskriterium, das in Walchs Darstellung hinzukommt, ist das der Moralität, das von ihm unmittelbar mit den Aspekten der Rationalität, Nützlichkeit und Klugheit verknüpft wird: Neuerungen sind nützlich, weil sie vernünftig sind (bzw. unnütz, weil sie unvernünftig sind), und sie sind legitim und zugleich klug, weil sie nützlich sind. Vernünftige, nützliche und kluge Neuerungen sind nach Walchs Auffassung notwendigerweise auch durch das höchste Gesetz, 81 82 83 84

Vgl. auch Walch: Art. Philosophie. In: Philosophisches Lexikon. Hg. v. dems., Sp. 1977–1990. Walch: Neuerung (wie Anm. 76), Sp. 1889. Vgl. ebd., Sp. 1890. Wenn man Walchs Unterscheidung zwischen neuer Philosophie und erneuerter Philosophie folgt, stellt sich allerdings in Bezug auf die neue Philosophie (als nicht nur erneuerte Philosophie) die Frage, ob sie überhaupt möglich ist, und wenn ja, wie.

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nämlich das göttliche, legitimiert.85 Faktisch führt dieses Schema zu einer Bewertung, die Walch mit vielen seiner Zeitgenossen teilte: Die alte Philosophie ist, im Ganzen betrachtet, entweder voll von Irrtümern oder unnütz – oder beides. Genauer gesagt: Die in chronologischer Abfolge erste (ex post betrachtet somit älteste und insofern ontologisch betrachtet neue) Philosophie, mit der hier vor allem auf die antike griechische Philosophie verwiesen wird, ist aufgrund der zahlreichen Irrtümer, die sie enthält, unvernünftig; die scholastische (als jüngere, aber – aus Walchs Perspektive – bereits überholte) Philosophie ist aufgrund der zahlreichen ‚Grillen‘, die sie enthält, unnütz, nicht dem göttlichen Willen gemäß, unklug, unvernünftig, schädlich und auch unmoralisch. Wenn eine solche Einschätzung aber jetzt aus einer letztlich moralisch-theologischen Perspektive erfolgt und zu einem derartig negativen Ergebnis führt, wird nachvollziehbar, dass Neuerungen in der Philosophie von Walch nicht nur als akzeptabel, sondern – wenn eine philosophische Lehre einmal als ‚unechte Philosophie‘ entlarvt worden ist – auch als moralisch (und zugleich göttlich) geboten betrachtet werden müssen.86 Mehr noch: Mit der Akzentuierung von Moralität, Nützlichkeit und Legitimität von Neuerungen tritt der zeitliche Aspekt im Hinblick auf die Beurteilung von Vergangenem und Neuem in gewisser Weise in den Hintergrund. Es spielt für eine solche Beurteilung keine entscheidende Rolle, ob das, was beurteilt wird, neuer oder älter ist als das, womit man es vergleicht. Die heidnische und die scholastische Philosophie sind nicht deshalb schlechter als die neue Philosophie, weil sie älter als diese sind, sondern ausschließlich deshalb, weil sie unvernünftiger und unmoralischer sind.87 Eine philosophische Lehre ist nicht unvernünftig oder unmoralisch, nur weil sie alt ist, und keine Philosophie ist vernünftig oder moralisch, nur weil sie neu ist. Die Attribute alt und erneuert werden lediglich zum Zweck der historischen Einordnung verwendet; der Begriff Neuerung dient ausschließlich zur Benennung einer Veränderung, die als solche nur zeitlich aufgefasst werden kann und deshalb in einen historischen Darstellungszusammenhang eingebettet werden muss. Damit hat sich nicht nur die Bestimmung des Neuen seit den Zeiten von Goclenius, Beyerlinck und Micraelius sichtbar verändert, sondern die Frage nach der

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Wichtig ist hier allerdings, dass diese Legitimation nicht aus der biblischen Offenbarung deduziert wird, sondern offenkundig aus naturrechtlichen Überlegungen. Als Paradebeispiel führt Walch die Neuerungen an, die Samuel von Pufendorf (1632–1694) in die Naturrechtslehre eingeführt hat und durch die diese gründlich von den Mängeln der Scholastik befreit worden sei. Vgl. Walch: Neuerung (wie Anm. 76), Sp. 1889. Dieses Beurteilungskriterium gilt natürlich auch ganz allgemein für Neuerungen in der Wissenschaft. Hier unterscheidet Walch zwischen Neuerungen, die auf eine Veränderung der Wissenschaft selbst durch eine Neubestimmung oder bessere ‚Einrichtung‘ ihrer Prinzipien zielen, und Neuerungen, die sich auf die Methode der jeweiligen Wissenschaft, d. h. auf die Art, wie in ihr eine Sache vorgetragen wird, beziehen. Es liegt nahe, dass sich der Verweis auf mögliche Neuerungen der Methode auf Wolff bezieht; möglich sind aber auch andere Bezüge, etwa auf Descartes, Spinoza, Hobbes oder Thomasius.

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Bewertung von Neuerungen rückt seit dem späten 17. bis ins frühe 18. Jahrhundert zunehmend in den Kontext der rationalen und moralischen Bewertung sowohl des Alten als auch des Neueren und Gegenwärtigen. Gleichzeitig ist nun ein formaler Rahmen für eine solche Bewertung vorgegeben, der es ermöglichen soll, ganze Philosophieepochen sowie die Haltungen einzelner Personen gegenüber den Neuerungsbestrebungen Anderer zu bewerten (und zwar nicht nur im Feld der Philosophie). Immer gilt: Die Ablehnung oder Zustimmung zu einer Neuerung muss mit Verweis auf deren Rationalität und Moralität erfolgen. Faktisch würden aber – jedenfalls nach Walchs Einschätzung – häufig andere, mithin inadäquate Kriterien für diese Bewertung herangezogen, was dazu führe, dass „Leute wegen ihrer Neuerungen“ auch dann, wenn diese vernünftig sind, verfolgt, verschmäht und „aus Verachtung NOVATORES“ genannt würden.88 Diejenigen, die eine solche inadäquate Etikettierung vornehmen, wiesen aber ein ganz bestimmtes Verhalten auf: Sie „kleben mit einem unzeitigen Eifer [am] Alterthum“, sie sind vom „Vorurtheil menschlicher Autorität […] eingenommen“. Die Verachtung der Neuerer ist nach Walchs Auffassung also ein Vorurteil, und was für die Vertreter dieses praeiudicium antiquitatis gelte, das gelte freilich auch für die des praeiudicium novitatis, nämlich für die „Leute, die […] dazu geneigt sind, […] entweder aus einer wollüstigen Unbeständigkeit; oder aus Ehrgeitz immer was neues und besonderes haben [zu] wollen“.89 Aber während das praeiudicium antiquitatis in der affektbedingten, irrationalen Hypostasierung der alten Autoritäten bestehe, gründe das praeiudicium novitatis in einer als akut erkannten „Noth“, nämlich in der durchaus rationalen Erkenntnis, dass Reformen der Gelehrsamkeit in konkreten historischen Situationen erforderlich seien. Problematisch werde die Sachlage, wenn diese Erkenntnis umschlägt in eine „Begierde zu reformiren“,90 also in eine ebenfalls affektbedingte Irrationalität, die einen erheblichen Schaden für die Gelehrsamkeit und die Gesellschaft im Ganzen nach sich ziehen kann. In seiner Analyse verbindet Walch einerseits die phänomenale Deutung von Neuerungen in der Wissenschaft mit der Vorurteilstheorie: Dem Kampf gegen praeiudicia antiquitatis folge nicht selten deren bloße Ersetzung durch praeiudicia novitatis, und zwar, so sei vorausgreifend ergänzt, aufgrund des verbreiteten praeiudicium praecipitantiae, also aufgrund von Übereilung. Als Hauptursache für die Verbreitung dieser Vorurteile gelten die Affekte – Walch selbst nennt Eifer, Wollust und Ehrgeiz. Andererseits wird der Begriff der Neuerung mit dem des Reformierens verknüpft: Eine Neuerung, die sich, wie eingangs verdeutlicht, durch ihren Grad an Ungewöhnlichkeit auszeichnet, gilt Walch zugleich als Korrektur des Bestehenden. 88 89 90

Walch: Neuerung (wie Anm. 76), Sp. 1890 (Hervorh. v. Walch). Ebd. Ebd.

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Trotz der Verknüpfung von Überlegungen zur angemessenen Bewertung von Neuerungen mit der Vorurteilskritik liefert Walch selbst keine Vorurteilstheorie, sondern präsentiert lediglich fünf Leitsätze. 1) dencke man nicht, die alten wären allein klug gewesen; man halte sie aber auch nicht vor Narren: 2) prüfe man alles, und behalte das Beste: 3) glaube man nicht, es könte nichts gesagt werden, was nicht schon gesagt worden: 4) will man was neues entdecken und einführen, so untersuche mans vorher, obs besser sey, als das alte: 5) in practischen indifferenten Sachen sey man nicht eigensinnig, und richte sich nach dem Urtheil und Gewohnheit anderer vernünfftigen Leute.91

Walch greift damit erkennbar auf Kerngedanken des thomasischen Eklektizismus zurück, aber dieser Rückgriff bezieht sich nicht nur auf den Gedanken der vernünftigen Auswahl, sondern auch auf die damit verbundene Fähigkeit zur vernünftigen Kritik, genauer gesagt, auf die Fähigkeit, Vorurteile zu erkennen und zu überwinden. Der Leitsatz, die „Alten“ weder allein für klug noch für Narren zu halten, richtet sich unmittelbar gegen das praeiudicium antiquitatis bzw. novitatis und letztlich gegen das praeiudicium auctoritatis; die Warnung vor Eigensinn richtet sich gegen affektbedingte Vorurteile und gegen das praeiudicium praecipitantiae als einem aus Selbstliebe gefällten Vorurteil. Dass Walch damit auf die Vorurteilstheorie von Christian Thomasius verweist, die von Budde (Elementa philosophae instrumentalis, 1703) schon in Halle übernommen und dann auch in Jena bekannt gemacht worden war, ist offenkundig und wird überdies durch den Artikel Vorurtheil belegt.92 Wie Thomasius betrachtet Walch die Vorurteile als falsche Prinzipien und als Irrtümer. Die hier von ihm präsentierten Leitsätze stellen insofern die Kerngedanken der praktischen Anwendung von Thomasius’ Vorurteilstheorie dar, und zwar in Bezug auf die Bewertung von Neuerungen. Walchs Stellungnahme bildet einen für die Frühaufklärung thomasianischer Prägung typischen Standpunkt ab, dessen Fundament – um es geographisch auszudrücken – nicht in Jena und auch nicht ausschließlich in Halle, sondern noch früher in Leipzig gelegt worden war. Es ist daher ein kurzer Blick zurück notwendig. Erst dadurch wird verständlich, warum Walch verlangt, Neuerungen nicht nur nach Kriterien der Rationalität, sondern auch der Moralität zu beurteilen. Dass er diese Kriterien als dermaßen eng miteinander verbunden in Anschlag bringt, hat seinen Grund darin, dass Vorurteile im Rahmen der Affektenlehre, die Thomasius in der Sittenlehre (1696) entfaltet hat, nicht nur als prinzipiell formal falsche Urteile betrachtet werden, sondern – weil ihr Ursprung in der Verderbtheit des menschlichen Willens zu suchen sei – zugleich auch als moralische Verfehlungen. Und auch Walchs Verweis auf die Affekte (Eifer, Wollust und Ehrgeiz) als dasjenige, auf das alle unbegründete Verachtung gegenüber vernünftigen novationes und 91 92

Ebd. Johann Georg Walch: Art. Vorurtheil. In: Philosophisches Lexikon. Hg. v. dems., Sp. 2794– 2798.

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novatores zurückzuführen sei, erklärt sich erst durch den Rückbezug auf die thomasische Affektenlehre.

IV. Ein Blick zurück: Neuerungsbewertungen im Wandel Sollte die zuletzt formulierte Deutung zutreffend sein, stellt sich die Frage, warum Walch in seinem Artikel weder auf Thomasius noch auf Budde verweist, sondern auf Dissertationen von Adam Rechenberg,93 Bonifacius Heinrich Ehrenberger,94 Johann Jakob Lehmann95 und Johann Konrad Arnoldi.96 Der Verweis auf Rechenberg erklärt sich dadurch, dass ihm schon damals eine Schlüsselposition in der Debatte um die Neuerungen zugeschrieben wurde. Für alle anderen Autoren, auf die Walch verweist, bildet Rechenberg den Ausgangspunkt.97 Streng genommen besteht die Bedeutung Rechenbergs hier allerdings nicht in seiner Leistung als Autor, sondern lediglich als praeses von Disputationen. Bereits 1679 – in dem Jahr, in dem Thomasius von Frankfurt an der Oder nach Leipzig zurückkehrte – hatte Rechenberg der Disputation über eine von Sebastian Gottfried Benewitz (1657–1701) verfasste Dissertation De novitate in republica noxia präsidiert.98 Es war durchaus üblich, bei dem Verweis auf eine Dissertation den jeweiligen Präses als ihren Autor zu nennen und den Respondenten nicht einmal zu erwähnen, selbst wenn dieser faktisch der Autor gewesen ist. Rechenberg mag zur Wahl des Themas den Anstoß gegeben und in seiner Haltung auch mit den Thesen der Dissertation übereingestimmt haben; die Leistung aber, in den Differenzierungen des Neuerungsbegriffs deutlich über seine Vorläufer hinausgegangen zu sein, sollte primär dem Autor, also Benewitz, zugeschrieben werden.99 Benewitz unterscheidet auf formaler Ebene zwischen novitates in verbis ac phrasibus und novitates in rebus quaerenda (Cap. I, § 1), auf inhaltlicher Ebene zwischen novitates in rebus sacris, die entweder offenbarungstheologische Dogmen oder den zeremoniellen Ritus betreffen, und novitates in Civilibus, die sich 93 94 95 96 97 98 99

Adam Rechenberg (Praes.), Johann Elias Weise (Resp.): [Dissertatio Academica] De Studio Antiquitatis & Novitatis, Ad Barclaj. Argenid. Lib. III. Cap. 12. Lipsiae [1698]. Bonifacius Heinrich Ehrenberger (Praes.), Gottffried Keyser (Resp.): Dissertatio academica de studio novitatis in philosophia. Jenae [1712]. Johann Jakob Lehmann (Praes.), Adam Friedrich Glafey (Resp.): Dissertatio Moralis De Eo Qvod Ivstvm Est Circa Novitates. Jenae [1712]. Johann Konrad Arnoldi (Praes.), Johann Ludwig Rhumbel (Resp.): Exercitatio Academica De Novitate Philosophandi. Gissae [1724]. Vgl. Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5), S. 166, S. 169. Sebastian Godofred[us] Benewizius (Autor u. Resp.), Ad[am] Rechenberg (Praes.): De novitate in republica noxia. Lipsiae [1679]. Über diesen aus Freiberg in Sachsen stammenden Theologen ist kaum etwas bekannt. Laut seiner Grabinschrift, die auch seine Lebensdaten verrät, war Benewitz Diakon in Geithain (südöstlich von Leipzig) und später Prediger an der Nikolaikirche in seiner Heimatstadt Freiberg. Vgl. Johann Samuel Grübler: Ehre Der Freybergischen Todten-Grüffte. Anderer Theil. [Leipzig] [1731], S. 110f.

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entweder auf doctrina publica oder auf das Handeln der Menschen beziehen (§§ 2– 4). Die doctrinae betreffen entweder die Künste (artes liberales) und Sprachen oder die anderen Wissenschaften (Jurisprudenz und Staatslehre, Naturlehre und Mathematik, § 5). Um die Praxis geht es, wenn Neuerungen zur Regelung des gesellschaftlichen Lebens, etwa im Recht oder der Ämterstruktur, eingeführt werden, sich die Regierungsform ändert, alte Gesetze abgeschafft, eine neue Religion eingeführt oder vergleichbare Veränderungen der Sitten herbeigeführt werden (§ 6). Schon damit, aber auch im Folgenden geht Benewitz über ältere Differenzierungen deutlich hinaus. Vor allem unterzieht er die geläufige Begriffsverwendung von novitas einer Kritik. Häufig werde dieser Begriff in unangemessener Weise benutzt, zum Beispiel wenn von der ‚neuen Welt‘ oder der Entdeckung ‚neuer‘ Sterne die Rede ist. Unzulässig sei diese Verwendung deshalb, weil es eigentlich nicht um Neues gehe, sondern um die Entdeckung von bereits Existierendem. (Neu wäre dann nur die Entdeckung oder Erkenntnis.) Adäquat sei die Verwendung des Begriffs nur als Bezeichnung von originär Neuem, das heißt von Erfindungen bislang noch nicht vorhandener Dinge (z. B. Buchdruck und Schießpulver, § 7). Aber nicht das Interesse an derartigen Unterscheidungen steht im Zentrum der Abhandlung, sondern die Frage nach der möglichen Schädlichkeit von Neuerungen und damit, wie später auch bei Walch, die Frage nach den Kriterien für deren Bewertung. Benewitz geht zunächst vom Begriff des Schädlichen (noxium) aus. Das Schädliche sei dem Schlechten verwandt und, je nach dem Objekt, auf das es sich richtet, in drei Arten zu differenzieren: (1.) physische Schädlichkeit, die sich auf Krankheiten und andere natürliche Übel bezieht, (2.) ethische oder moralische Schädlichkeit, die den guten Geist oder die Seele beeinträchtigt, (3.) politische Schädlichkeit, die den Staat zum Beispiel durch schlechte Gesetze, schlechte Sitten, die Übel des Krieges usw. gefährdet (Cap. II, §§ 1f.). Diese letzte Art der Schädlichkeit, nämlich die politische, ist es, die Benewitz besonders interessiert, und er stellt deshalb die Frage, welche Neuerungen einem Staat schädlich sind (Cap. III, § 1), und zwar zuerst im Hinblick auf die novitates in verbis ac phrasibus. Hier könne man wiederkehrende Neuerungsversuche auf zwei Ebenen beobachten: Zum einen werde versucht, in der ‚heiligen Lehre‘ neue Wörter und Redewendungen einzuführen, um etwas Neues in der Religion einzuführen, also novitates in rebus sacris; zum anderen werde versucht, in der Philosophie und Philologie neue Sätze und Unterscheidungen einzuführen. Neuerungen in rebus sacris lehnt Benewitz grundsätzlich ab mit der Begründung, dass sie die Ursache aller Irrlehren und Spaltungen der Kirche seien.100 Religionsneuerer würden meist behaupten, dass man von der alten Redeweise abweichen dürfe, weil die damit verbundenen Neuerungen nicht die Lehren selbst beträfen, sondern nur die Worte. 100

Mit Verweis auf den biblischen Ausspruch: „Der unheiligen Schwätzereien aber entschlage dich; denn sie fördern nur noch mehr die Gottlosigkeit, und ihr Wort frisst um sich wie ein Krebsgeschwür.“ (2. Tim., 2, 16).

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Dem hält Benewitz entgegen, dass gerade die Worte und Sätze es seien, durch die Neuerungen in der Religion erzeugt werden, und dass Neuerungen auf sprachlicher Ebene daher immer die Gefahr der Verfälschung der wahren Lehre mit sich führten. Die meisten Menschen könnten dies oft nicht durchschauen und seien daher für solche schädlichen Neuerungen anfällig. Deshalb hätten die Anführer der protestantischen Kirchen in den sogenannten symbolischen Büchern Vorschriften gegeben, wie man in Glaubensdingen zu sprechen habe, und es sei durchaus ein Verbrechen, von diesen Regeln abzuweichen (Cap. III, § 2). Für die aus seiner Sicht verheerenden Folgen häretischer Wortverdrehungen liefert Benewitz ein einschlägiges Beispiel, nämlich die Bibelauslegung des Sebastian Castellio (1515– 1563), eines französischen Humanisten, der sich der calvinistischen Reformationsbewegung angeschlossen hatte. Dieser habe unter anderem folgende Umdeutungen vorgenommen: babtizare/baptismus zu lavare/lotio, idola zu Deastros, Angeli zu Genius, fides zu fiducia, mediator zu sequester, hypocrites zu histriones, Ecclesia zu respublica.

Dass derartige Umdeutungen weitreichende theologische wie auch politische Konsequenzen haben können, liegt in der Tat auf der Hand. Castellio wird von Benewitz als nur eines von vielen möglichen Beispielen präsentiert; es gebe zahlreiche ‚Neuprägungen‘ dieser Art, die doch erwiesenermaßen den Kirchenschriftstellern unbekannt gewesen seien – von den unerhörten Neuerungen, welche die Sozinianer in der deutschen Version des Neuen Testaments an Worten und Sätzen angestellt hätten, ganz zu schweigen (Cap. III, § 3). Neuerungen in der Glaubenslehre seien jedenfalls stets Verfälschungen und deshalb grundsätzlich und ausnahmslos abzulehnen. Für die Philosophie und die Wissenschaften gilt Benewitz’ Urteil allerdings nicht. Ihnen wird durchaus eine weitreichendere Befugnis zu Neuerungen zuerkannt, deren Umfang allein durch das Kriterium der Unschädlichkeit für den Staat begrenzt sein solle, was eine gewisse Behutsamkeit erfordere.101 Neuerungen in den Wissenschaften sollten nur zugelassen werden, wenn sie nach dem Urteil der ‚Gelehrteren‘ nützlich wären (Cap. V, § 2). Neuerungen in der natürlichen Theologie seien zulässig, solange sie vernünftig sind, das heißt, wenn sie nicht die Offenbarungstheologie erschüttern. Dieser Gedanke findet sich später – wie schon gezeigt – auch bei Walch: Neuerungen in der instrumentellen Philosophie seien zulässig, wenn sie nicht „die alten Grenzen der Wissenschaften gänzlich untergra101

U. a. um die „grammatikalischen Kriege“, wie sie Petrus Ramus’ neue Logik verursacht habe, zu vermeiden.

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ben und in allem die Ruhe stören“, wie dies der Cartesianismus in den Niederlanden getan habe (Cap. V, § 3). Und in der praktischen Philosophie seien Neuerungen nur dann zulässig, wenn sie nicht die Moral in einem Gemeinwesen umzustürzen drohen oder die göttliche Legitimation fürstlicher Herrschaft in Frage stellen, womit sich Benewitz gegen die sogenannten Monarchomachen und besonders gegen Hobbes wendet und lobend auf deren Bekämpfung durch Grotius und Pufendorf hinweist. Im Gebiet der praktischen Philosophie sieht Benewitz die größte Gefahr, denn diese richte sich auf die „Einrichtung des menschlichen Lebens“ und insofern auf das Gemeinwesen insgesamt. Deshalb seien in der Ethik „die neuen Ergüsse der Moralisten und Jesuiten nicht zu ertragen, die nicht nur frivole Fragen und Albernheiten vorlegen, sondern auch offenkundig Scheußlichkeiten lehren“ und „sich um das Gemeinwohl überaus schlecht verdient machen“, indem sie „die Jugend zur Fahrlässigkeit“ animieren „und auf diese Weise das Studium von Unsinnigkeiten befördern“ (Cap. V, § 4). Ausdrücklich lobt Benewitz in diesem Zusammenhang Papst Innozenz XI. (1676–1689) dafür, die Lehren der Moralisten und Jesuiten öffentlich verdammt zu haben.102 Darüber hinaus lehnt er die staatsphilosophischen Lehren der sogenannten Monarchomachen ab, wobei sich seine Kritik bemerkenswerterweise ausschließlich gegen eine bestimmte Gruppe von Autoren des 16. Jahrhunderts richtet: Sie alle waren vom katholischen zum protestantischen Lager übergetreten. Genannt werden François Hotman (1524–1590), George Buchanan (1506–1582), Philippe de Mornay (1549–1623) und Hubert Languet (1518–1581). Die Lehren der Monarchomachen werden abgelehnt, weil sie mit ihren Neuerungen „dem Königreich geschadet und die auf soliden Vernunftgründen stehende Lehre zerstört“ hätten. Der schlimmste von ihnen sei Thomas Hobbes (1588–1679) gewesen, der mit seiner Behauptung, dass „alles Recht von der menschlichen Macht ausgeht“, in seiner „neue[n] Politik [...] den Fürsten nicht mehr als diese und damit kein göttliches Recht zukommen lässt“, und der in seinen Büchern De Cive und Leviathan den Keim des Epikureismus ausstreue (Cap. V, § 5). Die Tatsache, dass die Abwehr dieser Strömung durch Hugo Grotius (1583– 1645) und Samuel von Pufendorf (1632–1694) im Rahmen von Naturrechtskonzeptionen erfolgten, die ihrerseits als Neuerungen wahrgenommen wurden, wird von Benewitz bezeichnenderweise nicht beachtet; er verweist vielmehr auf Grotius’ Ausspruch, dass „jene neue Lehren, die auf alle Weise Rechtschaffenheit und den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit erkennen lassen“, nicht zu fürchten seien. Das neue Naturrecht fällt nach seiner Auffassung offenbar unter diese Rubrik.103 102

In der Tat hatte der Papst 1679 fünfundsechzig „laxistische“, d. h. nicht der katholischen Morallehre entsprechende Sätze aus den Schriften verschiedener Jesuiten verboten; 1684 untersagte er den Jesuiten wegen ihrer Morallehre zeitweise sogar die Aufnahme von Novizen. 103 Vgl. Hugo Grotius: De Iure Belli ac Pacis libri tres. Parisiis 1625 (Repr.: Hildesheim [u. a.] 2006), lib. II, Cap. XX, § 49: „Nec admittendae excusationes, nova omnia metuenda, praesertim coetus: nam neque metuenda sunt dogmata quamvis nova, si modo ad honesta

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Im Jahr 1698 präsidierte Rechenberg einer weiteren Disputation. Die daraus hervorgegangene Dissertation De Studio Antiquitatis & Novitatis, Ad Barclaj. Argenid. Lib. III. Cap. 12.,104 auf die in den späteren Lexika immer wieder verwiesen wird, stammt aber – wie schon die eben besprochene Abhandlung – ebenfalls nicht von ihm, sondern vom Respondenten des Disputs, dem sonst fast völlig unbekannten Johannes Elias Weise.105 In etlichen Punkten orientiert sich Weise an der Abhandlung von Benewitz, die freilich auch er stets als Praesidis mei Dissertatio, das heißt als Rechenbergs Schrift, anführt. Der wesentliche Unterschied zwischen Benewitz’ und Weises Abhandlungen besteht in ihrer jeweiligen Vorgehensweise. Als Ausgangspunkt dienen Weise einige Stellen aus John Barclays (1582–1621) Hauptwerk Argenis (1621), einer historischen Allegorie mit Bezügen auf die religiösen Konflikte im Frankreich des ausgehenden 16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts, die, wie schon Benewitz’ Dissertation, vor allem gegen die ‚Monarchomachen‘ gerichtet ist. Aber weder der historische Rahmen noch die staatsphilosophische Ausrichtung von Barclays Werk ist für Weise von besonderem Interesse, sondern die – aus seiner Sicht richtige – Haltung bei der Bewertung des Alten, die durch die Figur des Cleobulos vertreten wird. Der als besonders weise charakterisierte Cleobulos plädiert in einer Rede dafür, das längst vergangene Zeitalter der Vorfahren, deren beeindruckende Spuren noch in Festungsbauten zu erkennen seien, nicht über die Maßen zu glorifizieren, und warnt zugleich eindringlich davor, sich auf ewig an die alten, überlieferten Satzungen und Meinungen zu binden, denn dies sei absurd. Allerdings, so Cleobulos, sei es auch ein Zeichen unangemessenen Stolzes, die Weisheit der Alten in Gänze zu bestreiten und nichts von ihnen lernen zu wollen.106 Weise greift den Grundgedanken dieses Plädoyers auf (§ II), stellt ihn aber in einen anderen Kontext. Er plädiert, wie schon Benewitz, für eine rational begrünomnia atque ad exhibendam superioribus obedentiam ducant, nec suspecti esse debent coetus proborum hominum, & qui latere non quaerunt nisi cogantur.“ – „Denn neue Glaubenssätze braucht man nicht zu fürchten, wenn sie nur zu allem Guten und zum Gehorsam gegen die Vorgesetzten führen, noch brauchen die Versammlungen frommer Leute gefürchtet zu werden, die nur die Heimlichkeit suchen, wenn sie dazu gezwungen werden.“ Grotius bleibt auch im Hinblick auf die Bedeutung von Neuerungen für das „praktische gesellschaftliche Leben“ Benewitz’ zentraler Bezugsautor. Er vertritt die Auffassung, dass alle Neuerungen, von denen die bestehende Herrschaftsform betroffen wäre, abzulehnen seien, zumindest solange die Zustände nicht extrem schlimm seien (vermutlich eine Anspielung auf die Tyrannis). Neuerungen in einem Staat sollten, wie die Geschichte zeige, prinzipiell nicht sprunghaft, sondern gradweise vorgenommen werden, und zwar nur durch den Herrscher (Cap. V, § 6). 104 Johann Elias Weise (Autor u. Resp.): De Studio Antiquitatis & Novitatis (wie Anm. 93). 105 Das Titelblatt der Dissertation verrät, dass Weise aus Weißenfels stammte. 1704 wurde er in Erfurt zum Doctor juris promoviert. Vgl. Johann Elias Weise: Disputatio inauguralis juridica, De Errore non Nocivo. Erfordiae [1704]. 106 Weise: De Studio Antiquitatis & Novitatis (wie Anm. 94). II., mit Bezug auf die Stelle bei John Barclay: Argenis. III, 6. Barclays Werk ist zuletzt mit engl. Übers. ediert worden: Mark Riley u. Dorothy Pritchard Huber: Argenis. 2 Bde., Tempe. AZ, 2004 (Neo-latin Texts and Translations, Medieval and Renaissance. Texts and Studies. Vol. 273).

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dete, am Nutzen für die eigene Zeit orientierte, vernünftig-eklektische und zugleich der Religion verpflichtete Haltung gegenüber dem Alten und dem Neuen. Im Fokus steht für ihn die Kritik an der aus seiner Sicht irrationalen, nämlich dogmatischen Überhöhung des Alten, die er, wie auch die ebenso irrationale Überhöhung alles Neuen, als affektbedingtes Vorurteil deutet (§ V, vgl. § VIII). Was ihn von Benewitz, mit dessen Thesen er übereinstimmt, hauptsächlich unterscheidet, ist seine Methodik. Weise führt zwar etliche neuere Autoren an, die seine Auffassung teilen, wie insbesondere Francis Bacon, aber vor allem zieht er fundierte Kenner antiker Autoren bzw. fachkundige Interpreten antiker Schriften heran.107 Er präsentiert zahlreiche Äußerungen und Verhaltensweisen antiker Personen, um zu belegen, dass die Weisen unter ihnen gegenüber ihrer Vergangenheit und ihren Vorfahren selbst eine vorurteilsfreie, rationale und am Nutzen für die eigene Zeit ausgerichtete Haltung angestrebt hätten.108 Schon sie seien Neuerungen gegenüber – freilich mit der angemessen Behutsamkeit – aufgeschlossen gewesen, ohne das Alte zu verdammen, aber auch ohne es zu überhöhen. Damit versucht Weise ganz offenkundig, der uneingeschränkten Wertschätzung des Alten die argumentative Grundlage zu entziehen. Denn wer die Weisheit des Altertums als Ideal betrachtet und sich deshalb auf die antiken Dogmen als allgemeingültig beruft, muss nun – so Weises Ansatz – erkennen, dass die Aufforderung zur Relativierung dieser Allgemeingültigkeit selbst ein solches Dogma darstellt. Das Festkleben am Alten verbietet sich gewissermaßen selbst. Schon für Weise gründet die Überhöhung des Alten in einem Vorurteil, das dazu führt, dass auch alles Unvollkommene, wenn es nur alt genug ist, verehrt wird. Hier findet sich bereits die Identifikation dessen, was bei Thomasius als das praeiudicium antiquitatis Eingang in die Vorurteilstheorie gefunden hat. Sogar auf die Verknüpfung dieses Vorurteils mit dem übermäßigen Streben nach honestas macht schon Weise aufmerksam (§ XI), also mit einem der drei Affekte Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust, die Thomasius als Hauptaffekte betrachtet hat. Dem übermäßigen Nachahmungseifer im Hinblick auf das Alte wird von Weise die ebenfalls auf Affekte zurückgeführte übermäßige Neigung zu allem Neuen unter gleichzeitiger pauschaler Abwertung alles Alten gegenübergestellt. Dieser Affekt besteht nach 107

Nämlich Francis Bacon (1561–1626), David Peifer (1530–1602), Gerhard Johann Voss (1577– 1649), Justus Lipsius (1547–1606), Lorenz Möller (gest. um 1598), Hermann Conring (1606– 1681), Girolamo Cardano (1501–1576), Gottlieb Spitzel (1639–1691), Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692), Jacques Auguste de Thou (1553–1617), Johann Christoph Becmann (1641–1717), Abraham van Wicquefort (1606–1682), Willam Camden (1551–1623), Johan Loccenius (1598–1677), Hugo Grotius (1583–1645), Gabriel Barthélemy de Gramond (1590– 1654), Samuel von Pufendorf (1632–1694), Johannes Sleidanus (1506–1556), Gerardus de Roo (gest. 1590), Johannes van Meurs (1579–1639), Giovanni Battista Birago Avogadro (17. Jh.), Georges Fournier (1592–1652), Claude Saumaise (1588–1653), Christoph von Forstner (1598– 1667) und natürlich sein praeses Adam Rechenberg. 108 Auch diese Bezüge sind zahlreich: Tacitus, Libanius, Ammianus Marcellinus, Macrobius, Valerius Maximus, Symmachus, Ambrosius, Plinius d. J., Horaz, Velleius Paterculus, Sueton, Quintilian, Lucian, Cicero, Seneca, Florus, Platon.

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Weise im Hochmut (§ XVII, vgl. § XXIII). Den Affekten könne nur mit Tugend begegnet werden, womit hier vielleicht eine ausgewogene Haltung im Sinne der aristotelischen Tugendlehre, mit größerer Wahrscheinlichkeit aber im Sinne der stoischen Ethik gemeint ist (§ XXV). Man solle sich sowohl gegenüber Altem als auch Neuem vorurteilsfrei und ohne Abneigung verhalten und nach einem klugen Urteil streben. Bei Neuerungen müsse stets beachtet werden, worauf sie sich richten sollen. Um zu einem solchen Urteil unter allen Umständen kommen zu können, formuliert Weise abschließend sieben Klugheitsregeln (§§ XL–XLVI), die wiederum eine starke Nähe zu den Auffassungen von Benewitz zeigen.

V. Nützlichkeit, Denkfreiheit, Vorurteilslosigkeit: Der Einfluss des Thomasianismus auf den Wandel der Neuerungsbewertung Benewitz’ und Weises Abhandlungen mit ihren neuen Differenzierungen, die mit ‚pragmatisch-normativen‘ Begründungsmethoden verknüpft sind, dienten allen anderen von Walch genannten Schriften als Ausgangsbasis. Bei diesen Autoren kommt aber ein neuer Umstand hinzu: Sie alle verfassten ihre Schriften unter dem Einfluss des Thomasianismus, meist vermittelt durch Budde, aber auch durch die selbständige Lektüre von Thomasius’ Schriften, die sie alle explizit zitieren und von denen sie bisweilen sogar zentrale Begriffe entlehnen. Vor allem standen sie, wie auch Walch selbst, ausnahmslos unter dem Einfluss der von Thomasius entwickelten und von Budde übernommenen Vorurteils- und Affektenlehre, was sich auch in ihren Schriften zum Problem der Neuerungen deutlich bemerkbar macht. Am Beispiel einiger Autoren sei dies kurz erläutert. Bonifacius Heinrich Ehrenberger (1681–1759) hatte in Jena Philosophie studiert, spätestens seit 1705 als unmittelbarer Schüler Buddes. Seine Dissertation De studio novitatis in philosophia verfasste er 1712 anlässlich seiner Ernennung zum Adjunkt der Philosophischen Fakultät. Die wichtigsten Bezugsautoren sind Bacon, Pufendorf, Rechenberg (der Präses von Benewitz’ und Weises genannten Dissertationen) und Thomasius (insbesondere dessen Introductio ad philosophiam aulicam von 1688). Bei seiner Bestimmung dessen, was eine Neuerung ausmacht, bewegt er sich in den Bahnen, die schon Benewitz und Weise vorgegeben hatten, betrachtet aber „das Erscheinen einer bislang unbekannten Lehre terminologisch und sachlich als etwas dem Ursprung nach Neues“.109 Er plädiert unter anderem mit dem Argument, dass auch schon die Philosophie des Altertums von Neuerungen geprägt war und dass man insbesondere Aristoteles als Neuerer betrachten müsse, gegen die Neuerungsfeindlichkeit, die von scholastischer Seite vertreten werde. Auch er zieht die Grenze der Zulässigkeit von Neuerungen dort, wo sie gesellschaftliche Unruhen provozieren, und wie Benewitz nennt er als Beispiele den 109

Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5), S. 174, vgl. S. 176–178.

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Cartesianismus und den Coccejanismus (§ V). Eine weitere Parallele besteht darin, dass sich auch Ehrenberger in die Traditionslinie des neuen Naturrechts (Pufendorf) stellt. Johann Jakob Lehmann (1684–1740) hatte in Erfurt studiert, besuchte anschließend im Rahmen einer perigrinatio academica Ober- und Niedersachsen, aber auch Leipzig, Helmstedt und Halle, und lehrte ab 1709 an der Philosophischen Fakultät in Jena. Aus seinen späteren Schriften geht deutlich seine Prägung durch den vor allem von Budde an ihn vermittelten Thomasianismus hervor, aber auch schon in der hier in Rede stehenden Abhandlung wird dieser Einfluss deutlich. Ausdrücklich übernimmt Lehmann die Definition von consuetudo (Gewohnheit, Sitte) von Thomasius, also gerade jene Definition, die dann bei Walch eine entscheidende Bedeutung erhält.110 Ferner bezieht sich Lehmann auf Ehrenbergers oben genannte Abhandlung, auf verschiedene Schriften Buddes111 und auf Benewitz.112 Und auch die Anknüpfung an die Traditionslinie des neuen Naturrechts (Grotius, Pufendorf, Thomasius) fehlt nicht.113 Lehmann betont bereits den praktischen Nutzen als das entscheidende Bewertungskriterium für den Wert aller Gelehrsamkeit, hinter das der Aspekt des Neuen oder Alten zurücktritt. Johann Konrad Arnoldis (1658–1735) Exercitatio academica de novitate philosophandi (Gissae [1724]) entstand bereits in einem deutlich veränderten Kontext.114 Die Debatte über Neuerungen stand nun vor allem unter dem Einfluss des Eklektizismus thomasischer Prägung, der mit einer enormen Aufwertung der Historie verbunden ist. Arnoldi schreibt über weite Strecken eine Historia Novitatis philosophandi, wobei er gewissermaßen zwischen graduellen Neuerungen (als dem Normalfall) und prinzipiellen Neuerungen (wie zum Beispiel dem Cartesianismus) unterscheidet. Aber seine Abhandlung steht auch unter dem Eindruck der Debatte über die libertas philosophandi, ohne die, wie er betont, keine Neuerungen in der Philosophie möglich wären, die aber ein richtiges Philosophieren (recte philo-

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Lehmann: Dissertatio Moralis De Eo Qvod Ivstvm (wie Anm. 95), § XIII; wörtlich übernommen aus Christian Thomasius (Praes.), Petrus Herff (Resp.): Dissertatio inauguralis, sistens coniecturas de iure consuetudinis et observantiae. Halae [1699], § 16. (Thomasius’ Dissertation erschien übrigens 1740 bereits in 6. Aufl., es handelt sich um eine seiner einflussreicheren Hochschulschriften.) Dort heißt es: „Consuetudines […] sunt […] actiones plures uniformes hominum in una societate civili, familia majore viventium, quatenus in illa societate vivunt.“ – „Gewohnheiten sind viele gleichförmige Handlungen von Menschen, die in großen Familien bzw. in einem Gemeinwesen zusammenleben, insoweit sie in jener Gemeinschaft leben.“ 111 Ders.: Institutiones theologiae moralis. Lipsiae 1711; Ioan. Franciscus (Praes.), Heinrich Johann Gottfried Pflüger (Resp.): Dissertatio Politico-Moralis de Eo Quod Decet Circa Solennia Principum. Halae Magdeb. 1701. 112 Benewitz’ Abhandlung De novitate in republica noxia bestimmt sogar maßgeblich die Struktur von Lehmanns Text. 113 Vgl. Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5), S. 164. 114 Vgl. Sdzuj: Die Figur des Neuerers (wie Anm. 5), S. 164, 172f.

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sophandi) erfordere.115 (Auch hier ist von einem weitgefassten Philosophiebegriff die Rede.) Die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Philosophieren war von Budde in die Denkfreiheitsdiskussion eingeführt worden, während sich die Verbindung von Denkfreiheit und der Freiheit zur Einführung von Neuerungen bereits bei Thomasius findet. Schon von diesem war sie nicht nur in theoretischer, sondern in ganz praktischer Hinsicht eingefordert worden, vor allem in Hinblick auf die Reform der Studien und der Universitäten. (Auf Thomasius geht übrigens auch die für die Aufklärung keineswegs selbstverständliche Assoziation dieser Reformbestrebungen mit der lutherischen Reformationsbewegung zurück.) Ein genuiner Wert wird der Neuerung in diesem Zusammenhang allerdings dennoch nicht zugeschrieben; vielmehr wird nun die Möglichkeit zur Neuerung als notwendig für die angestrebten Reformen betrachtet. Die Neuerung wird nach wie vor nicht als absoluter Wert betrachtet, die Zustimmung zum Neuen soll vielmehr im Hinblick auf deren zweckmäßige Nützlichkeit gegeben oder verweigert werden – aber die Zustimmung muss prinzipiell erlaubt sein, mithin auch das freie Denken, das einer entsprechenden Beurteilung vorausgehen soll. Arnoldi hebt daher die Notwendigkeit, ja die Unvermeidbarkeit von Neuerungen in der Philosophie deutlich hervor. Die praejudiciorum vacua des Geistes müssten durch „richtiges Denken“ (recte cogitare) gefüllt werden, und zwar ohne alle Übereilung und Starrsinnigkeit (S. 43). Es geht nun – ganz im Sinne des thomasischen und letztlich auch ‚Jenaer‘ Eklektizismus (Budde, Walch) – um die systematische Prüfung der Neuerungen auf ihren ‚Wert‘ hin. Ein hierfür dienliches Schema an Kriterien hat zuerst Weise und, wie wir gesehen haben, nach ihm Walch entworfen. Aus diesen kurzen Bemerkungen wird bereits deutlich: Durch den Einfluss des Thomasianismus, insbesondere durch Thomasius’ Vorurteilstheorie und Affektenlehre, haben sich bis 1712 die Kriterien, nach denen Neuerungen bewertet worden sind, nachhaltig verändert. Diese Modifizierung, die als solche freilich auf bereits Vorhandenes zurückgriff, erlaubte nicht nur einen gewissermaßen methodisch geschärften Eklektizismus, sondern auch die argumentative Legitimierung der eigenen Neuerungsbestrebungen. In Bezug auf die Frage, ob die frühesten Protagonisten der Fridericiana ihre Universität als „Ursprungsort des Neuen“ betrachtet haben, würde dieser Befund dazu führen, dass die Frage zwar mit ‚ja‘ beantwortet werden kann, aber mit der Einschränkung, dass sich diese Bewertung, zumindest vorläufig, nur auf bestimmte Elemente des Thomasianismus beziehen lässt. Für weiterreichende Antworten sind allerdings umfassendere Untersuchungen auf einer wesentlich breiteren Quellenbasis nötig, als sie hier vorgelegt werden können. Dass die junge Universität Halle von einem ungezügelten Streben nach Neuerungen im Fahrwasser des Thomasianismus beflügelt gewesen wäre, kann man nicht mit guten Gründen behaupten; vielmehr wäre an einer solchen Behauptung 115

Vgl. dazu vom Verf.: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 33. Hamburg 2012, S. 376–382.

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beinahe alles falsch. Thomasius selbst war keineswegs ein Befürworter aller Neuerungen – im Gegenteil: Er bekämpfte das praeiudicium novitatis ebenso sehr wie jedes andere Vorurteil. Schon in seinem berühmten Discours welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle (1687) hatte er sich zwar gegen eine allgemeine Verweigerung gewandt, die geltenden „Sitten und Manieren“ in einer Gesellschaft zu verändern, aber zugleich zur Vorsicht gemahnt. Aenderungen sind wohl ins gemein gefährlich, aber deswegen nicht allemahl zuverwerffen, weil man auch daß gute selten ohne Gefahr erhalten kan. Dannenhero ist ungereimbt, wenn man ein geändertes Leben bloß wegen der Aenderung tadeln will [...].116

Schon hier ging es also um vernünftiges Urteilen und Auswählen. In einem ganz ähnlichen Sinne warnte er später vor der seiner Überzeugung nach besonders bei Mathematikern und Physikern anzutreffenden Anfälligkeit für die „Begierde […] immer was neues zu erfinden“, und warf denselben vor, ihre „neuen Wahrheiten für das gröste Gut auszugeben“.117 Aber nicht nur die Mathematiker und Physiker wurden von Thomasius kritisiert, er richtete sich auch gegen die „Art und Weise der neuen Philosophen“, über bloße Worte „unnöthigen Streit“ anzufangen und dabei die Sache, um die es eigentlich geht, aus den Augen zu verlieren.118 Dabei legte Thomasius denselben Maßstab durchaus auch bei sich selbst an. Wenn er sich in der Ausübung der Sittenlehre zunächst um eine Bestimmung des Wesens der Affekte bemüht, so weist er gleich zu Beginn dezidiert darauf hin, dass er zwar einerseits „ohne Ansehung auff einige Menschliche Autorität“ demjenigen folgen wolle, was er selbst erkennt, er aber andererseits vermeiden wolle, „nur aus Liebe zu Neuerungen, alten Dingen neue Nahmen zu geben, oder blosse Wortstreite zu erregen“.119 Schon von Thomasius wurde der alte Streit über die Vorzüglichkeit des Alten (Antiken) oder des Neuen (Modernen) in den Kontext der Vorurteilskritik überführt, was auch bei seinen Anhängern faktisch zu einer Veränderung der Problemstellung geführt hat. Im Abschlusskapitel der Einleitung zur Vernunftlehre (1691), das von den menschlichen Irrtümern und ihrem Ursprung handelt, hat Thomasius die Vorurteile als „Quell aller falschen Meinungen“ identifiziert.120 Als ursprüngliches und daher gefährlichstes Vorurteil gilt ihm das auf einer unvernünftigen Liebe 116

Christian Thomasius: Discours welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? In: Ders.: Kleine Teutsche Schrifften (wie Anm. 32), S. 1–70, hier: S. 4. 117 Christian Thomasius: Einleitung Zur Sitten Lehre. Halle [1692] (Repr.: Hg. v. Werner Schneiders, Hildesheim [u. a.] 1995 = Ausgewählte Werke. Bd. 10), 2. Hauptst., §§ 50f. (S. 79). 118 Ebd., § 86 (S. 94). 119 Christian Thomasius: Ausübung Der Sitten Lehre. Halle 1696 (Repr.: Hg. v. Werner Schneiders, Hildesheim [u. a.] 1999 = Ausgewählte Werke. Bd. 11), 3. Hauptst., § 1 (S. 73). 120 Vgl. Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung Abt. II. Bd. 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 95f.

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beruhende praeiudicium auctoritatis.121 Die Bekämpfung der Vorurteile hält Thomasius für möglich, aber auch für überaus schwer, unter anderem deshalb, weil sogar „diejenigen, die uns in diesem Stück mit guten exempeln vorgehen, und uns zur Ablegung unserer Irrthümer anmahnen solten“, den Kampf gegen die Vorurteile oft untergraben würden.122 Man finde daher in der Tat fast niemanden, der gegen die praeiudicia kämpft, aber dafür „wohl tausend, die uns alle Augenblick in die Ohren ruffen, daß wir uns von der Meinung des Ehrwürdigen Altherthumbs nicht solten lassen abwendig machen, daß wir alle Neuerungen ärger als di[e] Pest meiden solten“.123 Insofern wird schon von Thomasius die Auffassung vertreten, dass eine allgemeine Ablehnung von Neuerungen auf die praeiudicia auctoritatis zurückzuführen sei, und wenn man bedenkt, dass er seine Vorurteilstheorie dahingehend weiterentwickelt hat, dass Vorurteile letztlich immer auch moralisch verwerflich sind, wird deutlich, dass auch eine allgemeine Ablehnung von Neuerungen aus seiner Sicht als unmoralisch erscheinen muss. Während diese Bestimmung der Neuerungsfeindlichkeit im ersten Teil der Logik noch formal bleibt, nennt Thomasius in ihrem zweiten Teil, der Ausübung der Vernunftlehre (ebenfalls 1691), Namen. Nach einer Kritik am unangemessenen, nämlich unsachlichen Umgang mit Autoren, deren Ansichten nicht der allgemeinen und traditionellen Meinung entsprechen, zählt er die prominentesten Opfer des praeiudicium auctoritatis auf: Der gute Cartesius, Gassendus, Digby, Plato, Epicurus u. s. w. werden entweder als schädliche novatores, oder wohl gar als gefährliche vergifftete Lehrer bey der Jugend ausgeschrien, und sie inniglich gewarnet, sich für dieser Leute ihren Schrifften ärger als für den ärgsten Giffte zu hüten.124

Es dürfte klar sein, dass Platon und Epikur hier nicht als „novatores“ gelten sollen, sondern als diejenigen, die zu Unrecht „als gefährliche vergifftete Lehrer ausgeschrien werden“. Als eigentliche Neuerer, die deshalb freilich nicht als weniger gefährlich gegolten haben und bekanntlich scharf angegriffen worden waren, kommen daher vor allem Descartes, Gassendi und Digby in Betracht. Dass Thomasius ausgerechnet sie als Neuerer und als prominente Opfer der auf einem Vorurteil beruhenden Neuerungsfeindlichkeit, also gewissermaßen eines irrationalen Konservativismus, betrachtet hat, ist allerdings nicht notwendigerweise erst das Ergebnis seiner eigenen philosophiegeschichtlichen Analysen. Zum einen war die 121

Das praeiudicium auctoritatis beruht auf einer unvernünftigen Liebe zu anderen, das praeiudicium praecipitantiae hingegen auf unvernünftiger Selbstliebe. 122 Christian Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre. Halle 1691 (Repr.: Hg. v. Werner Schneiders, Hildesheim [u. a.] 1998 = Ausgewählte Werke. Bd. 8), 13. Hauptst., § 57 (S. 309f.). 123 Ebd. 124 Christian Thomasius: Auszübung Der Vernunfft-Lehre. Halle [1691] (Repr.: Hg. v. Werner Schneiders, Hildesheim [u. a.] 1998 = Ausgewählte Werke. Bd. 9), 2. Hauptst., §§ 59f. (S. 98f.).

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Absetzung von der aristotelisch dominierten Schultradition ein schon im 17. Jahrhundert geläufiges Motiv, das sich bekanntlich unter anderem bei Bacon, Descartes und Hobbes findet. Zum anderen – und dies dürfte speziell im Hinblick auf Thomasius von nicht geringer Bedeutung sein – war die Spannung zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Philosophie ein Thema, mit dem schon Thomasius’ Vater Jakob Thomasius (1622–1684) konfrontiert worden war. Dessen berühmter Schüler Leibniz hatte sich 1668 mit der Frage an seinen Lehrer gewandt, was dieser „von einer Erneuerung der Philosophie halte, die auf de Raeys Einsicht beruhe“.125 Jean de Raey (1622–1702) war zwar ein Cartesianer der ersten Stunde gewesen, hatte aber auch schon (1654) die Möglichkeit einer philosophia „AristotelicoCartesiana“ im Sinne einer „Philosophia novantiqua“ proklamiert.126 Übrigens hat auch Digby versucht, den Aristotelismus als vereinbar mit dem neuen Atomismus zu erweisen.127 Leibniz hatte seinerseits auf eine solche, im Wesentlichen synkretistische Verbindung der aristotelischen Philosophie mit den Lehren Galileis, Bacons, Gassendis, Hobbes’, Descartes’ und Digbys durch den älteren Thomasius gehofft. Dass dieser eine solche Verbindung mit Verweis auf die allzu großen Unterschiede der Philosophien für unmöglich hielt, ist hier nicht von Belang; wichtig ist, dass die Polarisierung zwischen alter und neuer Philosophie schon in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts auch dort geläufig war, wo Christian Thomasius seine Ausbildung erhalten hat, nämlich in Leipzig, also dort, wo – während Thomasius’ Studienzeit und der ersten Phase seiner akademischen Karriere – die Debatte über Neuerungen von Benewitz, Weise und Rechenberg in der beschriebenen Weise neue Impulse erhalten hatte. Die Bestimmung dessen, was als gesellschaftliche, politische, wissenschaftliche, sittliche oder theologische Neuerung betrachtet wurde, sowie die damit verknüpften Bewertungskriterien wurden dort just in dieser Phase – wie gezeigt – intensiv erörtert. Diese Debatten fanden zwar noch einen gewissen Nachklang in den deutschen Lexika des 18. Jahrhunderts, vor allem im Hinblick auf einige begriffliche und thematische Differenzierungen, aber inhaltlich sind sie bereits klar von der Verknüpfung mit Thomasius’ Vorurteilstheorie gekennzeichnet. Neuerungen sollten – wie auch alles Alte – nun nach den Maßgaben der Vernunft bewertet werden.

125

Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Quaestiones. Bd. 5. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 299f. 126 Johannes de Raei: Clavis philosophiae naturalis, seu introductio ad naturae contemplationem, Aristotelico-Cartesiana. Lugd. Batav. 1654 (Amstelodami 21677). Vgl. Albrecht: Eklektik (wie Anm. 125), S. 220f. 127 Kenelm Digby (1603–1665), Freibeuter, Diplomat, Naturforscher, Mitbegründer der Royal Society und Philosoph, hat in zwei Abhandlungen das erste ausgearbeitete System der mechanistischen Philosophie in englischer Sprache vorgelegt. Vgl. John Henry: Atomism and Eschatology. Catholicism and Natural Philosophy in the Interregnum. In: The British Journal for the History of Science 15 (1982), No. 3, S. 211–239, hier: S. 225; Paul S. MacDonald: Introduction. In: Kenelm Digby: Two Treatises: Of Bodies and of Man’s Soul. Ed. and with an Introd. by Paul S. MacDonald, New York 2013, S. 5–40, hier S. 10.

KLAUS VOM ORDE

„Wie es denn leichter ist, eine neu angelegte academie in eine gute ordnung zu setzen als die alte zu reinigen“ – Philipp Jakob Speners Überlegungen zur Verbesserung der Kirche auf dem Weg zur Universität Halle als ‚Reformuniversität‘ Die im Jahr 1694 gegründete Universität Halle als Reformuniversität zu verstehen, wie es häufig geschieht, ist in jüngster Zeit von Marianne Taatz-Jacobi mit guten Gründen kritisch diskutiert worden.1 Dabei ist die Sicht des Brandenburgischen Kurfürsten und seines Staates vornehmlich in Blick genommen worden und zu Recht wurde kritisiert, dass die Beschreibung der Fridericiana als Reformuniversität zu stark von den dortigen Akteuren und deren intendierten oder realisierten Überlegungen her betrachtet betrachtet wurde.2 Die theologische Fakultät spielt dabei eine zentrale Rolle.3 Auch aus der Sicht der Kirchengeschichte – und im Speziellen der Forschung zur Geschichte des Pietismus – ist diese Frage nach den Erwartungen und nach der Bedeutung der Friedrichs-Universität außerordentlich wichtig. Es kann als unumstritten gelten, dass der Pietismus in seiner besonders wirkmächtigen Form von Halle ausging und damit eng verbunden war mit der dort gegründeten Hochschule.4 Der Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen ist nicht in Halle zu suchen, sondern bei der Frage nach der Bedeutung von Universitäten für eine Frömmigkeitsbewegung, der ihre Gegner schon zu Beginn nachsagten, sie halte die Gelehrsamkeit mindestens für zweitrangig,5 wenn nicht gar hinderlich für das 1

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Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik. Motive, Verfahren, Mythos (1680–1717). Berlin 2014. Ebd. Ebd. Dies gilt, auch wenn die These einer „planvollen Implantierung“ des Halleschen Pietismus in die dortige Universität als widerlegt gelten muss (Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie [wie Anm. 1], S. 37). Der Vorwurf wurde schon im Sommer 1689 erhoben, als die damals als „pietistisch“ bezeichnete Bewegung in Leipzig auf ihrem Höhepunkt war. Der Leipziger Theologieprofessor Johann Benedict Carpzov attackierte anlässlich einer Leichpredigt scharf: „Wer demnach jungen Leuten das vorschwatzet / daß sie nicht eben so sehr sich in den Locis Theologicis vertieffen dürfften / weil einem Prediger genung sey / zum heiligen Leben anzumahnen / und nur von guten Wercken predigen / der verführet sie / daß sie einmahl / wenn sie ins Ampt kommen / das Werck Evangelischer Prediger nicht recht thun. Die erste und fürnehmste Sorge muß auff die Lehre des Glaubens / die andere auf die übung guter Wercke gerichtet seyn.“ (Johann Benedict Carpzov: Bey Christlichem Begräbnüß Herrn Martin Borns/ von Belgard aus Pommern/ der H. Schrifft Studiosi, Den 7. Augusti Anno 1689 Gehaltene Leich=Predigt.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-004

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fromme Individuum.6 Man muss also einen weiten Blick auf die Zeit vor der Gründung der Universität Halle werfen, um deren Bedeutung für die Spenerschen Überlegungen zur Verbesserung der Kirche zu erkennen – oder besser: wie die Friedrichsuniversität dazu werden konnte. Die folgenden Überlegungen skizzieren also aus der Sicht der Spenerschen Reformbewegung den Weg, der mit Entstehung und Ausgestaltung der Universität Halle, vornehmlich der theologischen Fakultät, einen bedeutenden Etappenpunkt erreicht. Meist wird die Vorrede zu einer Postille Johann Arndts, die Philipp Jakob Spener (1635–1705), zur Zeit der Abfassung Senior der lutherischen Geistlichkeit in Frankfurt a. M., geschrieben hatte, als die ‚Grundschrift des Pietismus‘ bezeichnet.7 Wenige Monate nach der Veröffentlichung dieses Predigtbandes (1675) erschien die Vorrede als selbständiges Werk, ergänzt durch zwei Gutachten aus der Feder Anderer – nun unter dem Titel Pia Desideria oder Hertzliches Verlangen zu Verbesserung der wahren evangelischen Kirche (1676).8 Vergegenwärtigt man sich

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Sampt Herrn L. Joachim Fellers/ […] damahls verfertigten Epicedio, Worauf die Inquisition wider die Pietisten angegangen. O. O. 1692, S. 28. – Die Formulierung satis pius, sed satis indoctus ist nicht, wie häufig in der Literatur behauptet, wörtlich dieser Predigt entnommen, sondern stellt Speners Zusammenfassung des dort gemachten Vorwurfs dar; zum ersten Mal findet sie sich in dessen Vorwort zu: [Veit Ludwig von Seckendorff]: Bericht und Erinnerung/ Auff eine neulich im Druck […] ausgestreuete Schrifft/ im Latein Imago Pietismi, zu Teutsch aber Ebenbild der Pietisterey/ genannt. O. O. 1692, unpag. Vorrede. Erneut verwendet wird sie in: Philipp Jakob Spener: Warhafftige Erzehlung/ Dessen was wegen des so genannten Pietismi in Teutschland von einiger Zeit vorgegangen. Frankfurt a. M. 1697, S. 69 [21698: S. 71]. Der Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit wurde Spener aber auch schon früher gemacht (vgl. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 6. Hg. v. Udo Sträter u. Johannes Wallmann, in Zusammenarbeit mit Claudia Drese und Klaus vom Orde. Tübingen 2019, Brief Nr. 196; Z. 4–8: „Ich bin biß daher von ihrer vielen theils boßhafftigen feinden mit wissentlicher meiner intention verkehrung, theils andern aus leichtglaubigkeit, die den andern alsobalden beygefallen, vor einen abgesagten feind aller Universitäten und erudition gehalten worden, daran mir aber offenbahres unrecht geschihet.“ Zu Speners Klage darüber, dass nicht nur die Frömmigkeit, sondern auch die Gelehrsamkeit unter den Theologiestudenten in Abgang gekommen sei, s. im selben Band Brief Nr. 70, Z. 37–39: „Decrescens ubique, iam non dicam pietas, quae etiam ludibrio plerisque est, sed eruditionis soliditas malum est, forte non omnibus obvium, sed eo periculosius.“ (Hervorhebung KvO). Zur Vorstellung, dass Gelehrsamkeit hinderlich für die Frömmigkeit sei, s. den Beleg in Anm. 10. Johann Arndt: Postilla. Erster Theil. Das ist: Geistreiche Erklärung Der Evangelischen Texte/ durchs gantze Jahr/ auff alle Sonn= und andere Fest= und Apostel=Tage: Sampt einer dreyfach=durchgehenden Betrachtung über die gantze Passions=Historia […] Nebens einer neuen Vorrede an den Leser von gegenwertiger Edition H. Philipp Jacob Speners. Franckfurt am Mayn 1675. – Die Vorrede Speners wird – in Unterscheidung zu den Pia Desideria – meist „Postillenvorrede“ genannt (vgl. dazu Johannes Wallmann: Postillenvorrede und Pia Desideria Philipp Jakob Speners. Einige Beobachtungen zu Veranlassung, Verbreitung und Druck der Programmschrift des Pietismus. In: Ders. [Hg.]: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III. Tübingen 2010, S. 22–39 [Erstveröffentlichung: 1975]). Philipp Jakob Spener: Pia Desideria Oder Hertzliches Verlangen/ Nach Gottgefälliger besserung der wahren Evangelischen Kirchen/ sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen. Sambt angehengten zweyer Christlichen Theologorum darüber gestelten und zu mehrer aufferbauung höchst=dienlichen Bedencken. Franckfurt am Mayn

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den Buchtitel genau, muss ein weiteres, häufig tradiertes Merkmal pietistischer Frömmigkeit kritisch unter die Lupe genommen werden: die Behauptung nämlich, alles käme einzig auf die individuelle Gottesbeziehung und die persönliche Frömmigkeit an.9 Die Kirche als äußere Gestaltwerdung eines gemeinsamen Bekenntnisses sei bestenfalls ein mehr oder weniger brauchbares, jedenfalls ein zweitrangiges Werkzeug, für Vertreter des sogenannten „radikalen Pietismus“ stelle sie sogar ein Hindernis für die Frömmigkeit des Einzelnen dar.10 Der Titel der Pia Desideria spricht dagegen eine völlig andere Sprache. Spener geht es in seinen Ausführungen ganz offenbar um die ‚wahre evangelische Kirche‘ und deren Besserung. Für ihn ist dies die Kirche der Reformation Martin Luthers, also die lutherische Kirche. Durch sie ist das Licht des Evangeliums, das in der „babylonischen Gefangenschaft der Kirche“11 verdunkelt worden war, wieder zum Erstrahlen gebracht worden. Die ‚wahre evangelische Kirche‘ ist „die versamlung aller gleubigen, bey welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sacrament laut des Evangelii gereicht werden“.12 Sie ist für Spener also nicht, wenigstens nicht nur, die unsichtbare Gemeinschaft der Glaubenden, die eigentlich nur Gott selbst bekannt ist.13 Für ihn spielt dieser Gedanke höchstens am Rande seiner Theologie

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1676. Die meist verwendete Ausgabe der Pia Desideria ist die von Kurt Aland besorgte Edition: Philipp Jakob Spener: Pia Desideria (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen. Bd. 170). Berlin 31964 [im Folgenden abgekürzt: PD]; die jüngste ist die zweisprachige Ausgabe: Pia Desideria. Deutsch-lateinische Studienausgabe. Hg. v. Beate Köster. Gießen 2005). – Dass die Pia Desideria in Wirklichkeit schon im Herbst 1675 erschien und nicht erst im Jahr 1676, wie auf dem Titelblatt vermerkt ist, ist erläutert in: Wallmann: Postillenvorrede (wie Anm. 7), S. 30–32. Z. B. Karl Holl: Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. III. Tübingen 1928, S. 347: „[…] er [Spener, KvO] verzichtet – wenn nicht grundsätzlich, so doch tatsächlich – darauf, die Kirche als Ganzes zu erneuern.“ Als Beispiel sei verwiesen auf den „Studenten=Gesang“, gedichtet von dem Mitherausgeber der radikalpietistischen Berleburger Bibel, Johann Friedrich Haug, in: Theosophia pneumatica, oder/ Geheime GOttes=Lehre. 1710, unpag. „Nachklang“; erneut ediert und kommentiert in: Klaus vom Orde (Hg.): Pietas et Erudition. Pietistische Texte zum Theologiestudium (Edition Pietismustexte. Bd. 8). Leipzig 2016, S. 191–197, 266; vgl. dazu Hans-Jürgen Schrader: Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ als „Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“. In: Ders.: Literatur und Sprache des Pietismus. Ausgewählte Studien. Hg. v. Markus Matthias u. Ulf-Michael Schneider (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 63). Göttingen 2019, S. 633–655. Martin Luther: De Captivitate Babylonica Ecclesiae pareludium. 1520 (M. Luther, Werke. Kritische Gesammtausgabe. Bd. 6. Weimar 1888, S. [482]497–573). Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition. Hg. v. Irene Dingel. Göttingen 2014, S. 102, Z. 8–10. Die Vorstellung, die Kirche sei als Versammlung der Glaubenden zum Hören des Evangeliums und zum Empfang der Sakramente sichtbar, steht freilich in völligem Gegensatz zu der – unter sog. „radikalen Pietisten“ vorkommenden Meinung, die „sichtbare Kirche“ sei an der durch einen entsprechenden Habitus erkennbare wahre Bekehrung konstituiert – und nötig! (s. dazu Veronika Albrecht-Birkner und Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Wolfgang Breul, Marcus Meier u. Lothar Vogel [Hg.]: Der radikale Pietismus.

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eine Rolle, nämlich dann, wenn er betont, dass auch unter den Gliedern anderer Konfessionskirchen als der lutherischen (er selbst spricht im Stile seiner Zeit von „Religionen“) vereinzelt wahre Kinder Gottes sein können.14 Für seine Ekklesiologie ist dies jedoch nicht konstitutiv.15 Die wahre Kirche, die die Sendung Christi in die Welt fortführt (vgl. Mt 28,19f), benötigt ein Doppeltes: Eine Botschaft und eine konkrete Gestaltwerdung. Das Erste ist für Spener in Form des Evangeliums vorhanden und in den lutherischen Bekenntnisschriften exemplarisch und im Einzelnen dargestellt. Das Zweite ist die „Versammlung aller Gläubigen“,16 also die Gemeinschaft derjenigen, die durch Verkündigung der Botschaft in Wort und Sakrament, nicht aber durch die Heiligkeit der jeweiligen Individuen, die dieser Versammlung zugehören, konstituiert wird.17 Damit soll dem donatistischen18 Verständnis der Kirche gewehrt werden, als wäre diese nur dann Kirche im Vollsinn, wenn es in ihr keinerlei Heuchler und offensichtliche Sünder gebe.19 Allerdings droht damit eine andere ‚Gefahr‘, nämlich diejenige des Doketismus.20 In Bezug auf die Kirche könnte dies, wie schon gezeigt, zu einer Abwertung der sichtbaren Versammlung der Glaubenden gegenüber der als ‚wahr‘ geglaubten, unsichtbaren führen. In Bezug auf das glaubende Individuum könnte das Missverständnis auftreten, die rein äußere Zugehörigkeit zur Kirche und zu dem mit dieser verbundenen Be-

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Perspektiven der Forschung [Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 55]. Göttingen 2010, S. 65–67). So etwa in Bezug auf die römisch-katholische Kirche: „Da gleichwol ob wir schon nicht in abrede seynd, daß in der sichtbaren päbstischen kirchen der Allweise Gott die seinige annoch erhalten hat, welche aber unter jenem sichtbarlichen eusserlichen hauffen keine sonderbare sichtbare, sondern allein unsichtbare kirche gemacht, wir doch nimmer mehr gestehen können, daß, wie solche päbstische kirche damal sichtbar gewesen, sie die rechte wahre kirche geweßt.“ (Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 2. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Markus Matthias u. Martin Friedrich. Tübingen 1996, Brief Nr. 74, Z. 292–297). Allerdings bestreitet er, dass „die rechte wahre kirche allezeit müsse sichtbar seyn“ (Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 2 [wie Anm. 14], Brief Nr. 74, Z. 295f; Hervorhebung KvO). Congregatio sanctorum (Confessio Augustana, Art. 8, Bekenntnisschriften [wie Anm. 12], S. 103, Z. 6). Dieser zweifachen Weise der christlichen Kirche entsprechen die beiden nicht zu trennenden Artikel 7 und 8 der Confessio Augustana (Bekenntnisschriften [wie Anm. 12], S. 102f.). Benannt nach der nordafrikanischen Kirchenspaltung, die – nach der Diokletianischen Verfolgung im 4. Jahrhundert – die Reinheit der Kirche durch den Ausschluss der Abgefallenen (lapsi, traditores) sichern wollte (vgl. Bernhard Kriegbaum: Art. Donatismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Hans Dieter Betz u. a., 4. völlig neu bearb. Aufl. Bd. 2. Tübingen 1999, Sp. 939–942). Confessio Augustana 8 (Bekenntnisschriften [wie Anm. 12], S. 102, Z. 20–22). Ein aus der Christologie entnommener Terminus, der verschiedene Arten von Lehren meint, nach denen das wahre Menschsein des Gottessohnes bestritten wird (Winrich Löhr: Art. Doketismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart [wie Anm. 18], Sp. 925–927).

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kenntnis sei zum Heil hinreichend. Ob die Botschaft des Evangeliums sich auf die konkrete Gestaltung auswirken kann oder gar sollte, wäre somit irrelevant.21 Für Philipp Jakob Spener jedoch ist die fehlende habituelle Folge der Evangeliumsverkündigung bei den Glaubenden das Grundübel der ‚wahren evangelischen Kirche‘ seiner Zeit. Ohne die Vorstellung der durch Wort und Sakrament konstituierten Kirche aufzugeben, erhält so das Individuum in Speners Reformüberlegungen seinen besonderen Charakter. Dennoch bleibt das von ihm formulierte Ziel bestehen: die Verbesserung der Kirche – und damit auch der ganzen Gesellschaft.22 Wenn Spener auf die sittliche Verbesserung des Individuums insistiert, braucht er aber keine neue ‚Werkgerechtigkeit’ zu fürchten, weil er die habituelle Veränderung des Individuums aus dem Glauben an das Evangelium erwartet. Sie ist also keine Voraussetzung für den Glauben, sondern eine lebensreale Folge des Evangeliums.23 Spener nennt dies einen „lebendigen Glauben“24 im Gegensatz zu dem „toten“, „erdichteten“ Glauben.25 21

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Dies ist ein Grund für den gegenüber den Pietisten gemachten Vorwurf, sie verrieten mit dem Hinweis auf einen christlichen Habitus die reformatorische Deutung des Evangeliums und fielen in den römischen Katholizismus zurück. Die deutende Zusammenfassung der Wirksamkeit August Hermann Franckes als „Weltverwandlung durch Menschenverwandlung“ (Martin Schmidt: Pietismus. Stuttgart u. a. 1972, S. 76) ist bei Spener angelegt (vgl. Martin Schmidt: Speners Pia Desideria. Versuch einer theologischen Interpretation. In: Ders.: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus [Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 2]. Witten 1669, S. 141 mit Anm. 141). Der als untrennbar wahrgenommene Konnex zwischen Kirche und Gesellschaft wird im Übrigen nicht nur von den Theologen des ausgehenden 17. Jahrhunderts hervorgehoben, sondern auch von Juristen und Politikern dieser Zeit. Als Beispiel verweise ich auf: Veit Ludwig von Seckendorff: Christen=Stat. In Drey Bücher abgetheilet. Leipzig 1685; und Johann Schilter: De Libertate Ecclesiarum Germaniae Libri Septem. Jena 1683. Vgl. den Brief Speners an Johann Schilter 12. 8. 1685: „Id vero certum est legem et Evangelium concurrere [i. S. von “miteinander laufen”, nicht wie im modernen Gebrauch “konkurrieren”; KvO] in renato et utrumque suo fungi officio: imo vix partem esse vitae Christianae, in qua non utriusque sit usus, ita ut communes habeant effectus plures, e. g. opera bona effectus sunt legis tanquam ab ea praecepta et ad eius normam directa, ac Evangelii, uti ex hoc fides est, omnium radix, et virtus Spiritus S[ancti] per Evangelium accipi soliti, sine qua nullum opus est.” (Philipp Jakob Spener: Consilia et Iudicia theologica. Pars Prima. Frankfurt a. M. [Nachdruck: Hildesheim 1989], S. 70; s. Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 7. Hg. v. Udo Sträter u. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde [in Vorbereitung]). Spener schreibt am 20. 1. 1689 an einen Wittenberger Theologiestudenten: „Je gemeiner denn die thörichte einbildung von der seligkeit, diese durch einen todten oder wahn=glauben zu erhalten, ist, so viel hertzlicher freuet mich, so oft von einer seele höre, die aus diesem schlaf aufwachet“ (Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Bd. 4. Hg. v. Udo Sträter u. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2017, Brief Nr. 8, Z. 34–37). „[…] wünschte ich, daß […] solche materie von dem seligmachenden glauben selbst, und wie solcher von dem aus eigener vernunfft machenden oder vielmehr erdichteten glauben und fleischlicher einbildung zu unterscheiden seye, noch mit mehrerem ausgeführet würde […]“ (Philipp Jakob Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 4. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich u. Peter Blastenbrei. Tübingen 2005, Brief Nr. 133,

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Die Diagnose, die der Kirche seiner Zeit in den Pia Desideria gestellt wird, lässt Spener nun die Inkonsistenz zwischen Botschaft und konkreter Lebensgestalt der ‚wahren evangelischen Kirche‘ erkennen. Die Ursachen für diese Diskrepanz sind leicht aus den fünf ‚Therapievorschlägen‘ im zweiten Teil des Textes ablesbar. Die Liste beginnt mit einem Hinweis auf die Bedeutung des Wortes Gottes26 und hat in dem Hinweis auf eine Reform des Theologiestudiums ihre Klimax.27 Spener knüpft somit an das Evangelium als Kern der wahren evangelischen Kirche an und fragt nach den Hindernissen und deren Behebung in der sichtbaren wahren evangelischen Kirche. Verschiedene zeitgenössische Ansätze zur Kirchenverbesserung erscheinen ihm nicht zielführend zu sein. Eine Kirchenreform von oben, also eine von der politischen Obrigkeit herbeigeführte Verbesserung hält er für untauglich,28 weil äußere Veränderungen keine nachhaltenden Folgen zeitigen, wenn die Verkündigung als Grundlage und Kern der Veränderung nicht gegeben ist.29 ‚Lebendiger

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Z. 110–113). – Spener bezieht sich mit dieser Formulierung auf die Vorrede Martin Luthers zum Römerbrief (Martin Luther: Vorrede zum Römerbrief 1522/1546 (WA.DB 7, S. 10, Z. 2–13). „Dahero noch zu gedencken stehet / ob nicht der Kirchen wol gerathen wäre / wann nebens den gewöhnlichen Predigten über die verordnete Text noch auff andere weiß die leute weiter in die Schrifft geführet würden“ (Spener: Pia Desideria [wie Anm. 8], S. 54, Z. 26–28). „Solle man aber dergleichen tüchtige Personen zu dem Kirchendienst beruffen / so muß man auch solche haben / und daher in den Schulen und auff Universitäten erziehen. Ach GOTT gebe gnädiglich / […] daß die Academien / wie es seyn solte / auch recht als Pflantzgärten der Kirche in allen Ständen und Werckstätte deß Heiligen Geistes“ seien. (Spener: Pia Desideria [wie Anm. 8], S. 67, Z. 18–20, u. S. 96, Z. 4–6). – Zu dem Bild der „Werkstätte für den Heiligen Geist“, s. Speners Predigt zur Eröffnung der Universität Halle: Philipp Jakob Spener: Christlicher Buß=Predigten Besonderer Dritter Theil/ Samt Einem starcken Anhang Auserlesener Danck= und Gedächtnus=Predigten/ […]. Frankfurt a. M. 1710, (neupagin.) Anhang S. 86–103; vgl. dazu: Dietrich Blaufuß: „Pflantzgarten des Glaubens und dessen Früchten“. Philipp Jacob Speners Predigt anläßlich der Eröffnung der ‚pietistischen‘ Universität Halle. In: Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. v. Wolfgang Sommer u. Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 53–75. Vgl. das Geständnis, das er einem Amtsbruder ablegt: „Es bemercket mein werther bruder gar wol eine starcke hindernüß, wo nemlich Moses den Aharon nicht unter die arme greifft, sondern wol gar denselben mit fleiß hindert. […] Deßwegen vielmehr davor gehalten habe, daß wir auff eine andere art der reformation anfangs zu reflectiren hätten, worinnen wir keiner eusserlichen gewalt oder Obrigkeitlicher autorität bedörffen, sondern allein trachten möchten, durch sorgfältigen fleiß so unsers amts und allein vermittels des Göttlichen worts an denjenigen, welche ohne das zu dem guten willig sind und keines zwangs nöthig haben, dahin zu arbeiten, daß wir rechtschaffene Christen, und solten es nur ein und andere in jeglicher gemeinde seyn, machen und zu wegen bringen könten, durch dero exempel und vorgang andere allgemach auch bewogen und unser amt an solchen desto fruchtbarer gemachet werden möchte.“ (Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 6 [wie Anm. 5], Brief Nr. 78, Z. 10–27). Im Anklang an die Geschichte Israels steht „Mose“ für die geistliche und „Aaron“ für die weltliche Obrigkeit. Dies gilt, obwohl Spener – im Anschluss an seinen Lehrer Johann Conrad Dannhauer und die gesamte lutherische Lehrtradition – der politischen Obrigkeit eine „Ammenfunktion“ für die Kirche beimisst (Spener: Pia Desideria [wie Anm. 8], S. 14, Z. 10–12). An den Burggrafen zu Friedberg, Hans Eitel Diede zu Fürstenstein, schreibt Spener noch vor Veröffentlichung der

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Glaube‘ kann durch politische Maßnahmen bestenfalls flankiert und unterstützt werden. Ein Beispiel dafür ist die Reformarbeit des Herzogs Ernst des Frommen (1601–1675) in Sachsen-Gotha.30 Als „Reformation des Lebens“ muss sie aber als gescheitert angesehen werden.31 Dass Spener die politische Obrigkeit freilich nicht aus ihrer Verantwortung entlässt, benennt er sehr deutlich in seinem ersten Brief an den Kanzler und Konsistorialpräsident in Zeitz, Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692), der im Jahr 1692 der Gründungskanzler der Universität Halle werden sollte: Jedoch ist von E. Excell. gründlich gezeigt (und freuets mich, daß ich von langen zeiten in solcher meinung gestanden bin), es seye die schuld bey den beyden obern ständen. Den underscheid under denselben habe bißher so bey mir gefasset: das meiste verderben komt unmittelbar her von unserem ordine, daß die meiste weder wollen ihr amt thun, noch solches thun können, alß denen es selbst aller orten manglet. Aber solche schuld fället mittelbar auf die obrigkeit, daß sie nicht treulicher sorget, wie recht tüchtige leut auf hohen und niederen schulen aufferzogen und bereitet, so dann solche allein befördert und alle ärgerliche under denselben, die in diensten stehen, da sie auff etzlichmahlige correction sich nicht bessern, abgeschafft werden.32

Spener widerspricht aber auch dem spiritualistischen Weg. Danach muss sich der einzelne Mensch seines Gottesverhältnisses bewusst werden. An einer Verbesserung der sichtbaren Kirche war den Vertretern des Spiritualismus im Grunde nicht gelegen. Die sichtbare Gemeinschaft der Glaubenden hatten sie nicht nötig. Spiritualisten seiner Zeit, angefangen von Jakob Böhme bis zu dessen Adepten Friedrich Breckling und anderen frommen Individuen, konnten Spener einige Anregungen im Einzelnen geben, aber boten keine wirkliche Lösung, die Kirche des Evangeliums in dieser Welt zu verbessern.

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Pia Desideria als Separatausgabe der „Postillenvorrede“ auf dessen positive Ausführungen zu der Reformschrift des Frankfurter Seniors: „Jedoch hoffe, es werden einige gottselige Theologi seyn, die ihres orts nicht ermangeln werden, etwas davon in übung zubringen. Wie dann es auch lauter solche vorschläge sind, die fast von jedem Theologo und prediger, auffs wenigste gantzem ministerio, seines orts etlicher massen werckstellig gemacht werden mögen und nicht nöthig haben, daß erst anderwertliche hilffe dazu erwartet werde. Indem ich sehe, daß wo man auff solche warten will, so versäumet man endlich alles, weil dasjenige, worauff man wartet, doch nicht geschicht. Daher für dißmahl fast nichts mit unter mischet habe, worinnen man des weltlichen und obrigkeitlichen stands und seines arms sonderlich benötiget wäre: sondern lauter solche dinge, da es allein bedarff, daß ein treuer diener GOttes sein amt fleißig thue und anfangs etliche, allgemach aber andere mehrere in seiner gemeinde gewinne.“ (Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 2 [wie Anm. 14], Brief Nr. 32, Z. 8–20). Vgl. auch Martin Kruse: Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 10). Witten 1971, S. 17: „Jeder Hinweis, was denn die Obrigkeit zur Besserung [scil. der Kirche] beitragen könne, fehlt.“). Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum. Leipzig 2002. Albrecht-Birkner: Reformation (wie Anm. 30), S. 526. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 5. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2010, Brief Nr. 80, Z. 81–90.

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Aber auch ein dritter Weg scheint – wenigstens in einer einseitigen Radikalität – nicht gangbar zu sein: eine Kirchenreform von unten, also eine rein ‚demokratische‘ (im Sinne des Kirchenvolks) Veränderung der Verhältnisse. Danach ginge eine Kirchenreform von – zunächst wenigen – Einzelpersonen aus, die durch ein vorbildliches Christenleben auf Andere Einfluss nähmen und somit eine Verbesserung der Kirche herbeiführten.33 Der ‚therapeutische‘ Teil der Pia Desideria zielt auf einen anderen Weg. Spener ist nämlich viel zu realistisch, als dass er an den Geistlichen als ‚Influencern‘ vorbeischauen und an ihn vorbei gehen könnte.34 Es ist somit völlig konsequent, dass sich allein drei der fünf Vorschläge in den Pia Desideria mit den Geistlichen und deren Ausbildung beschäftigen.35 Die pietistische Reform der Kirche ist mithin immer eng mit der Gestaltung bzw. Reform der Universität, im Speziellen der theologischen Fakultät, verknüpft. Bei Spener lässt sich dies an verschiedenen Stellen erkennen. Er war sichtlich bemüht, die Pia Desideria nicht nur in Gemeinden tätigen Geistlichen zukommen zu lassen, sondern insbesondere Angehörigen der theologischen Fakultäten. Obwohl er selbst in keiner Universitätsstadt tätig war, versuchte er darauf hinzuwirken, dass Theologen, die sein Anliegen unterstützten, entweder in die Lehre wechselten oder sich wenigstens an Orte berufen ließen, in denen es Universitäten gab. Er selbst bot in Frankfurt am Main,36 Dresden und Berlin37 für Studenten bzw. Pfarramtskandidaten, die sich für unterschied33

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Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 2 (wie Anm. 14), Brief Nr. 32, Z. 53–55: „Ihr gut exempel, die unter sich übende brüderliche liebe und bezeugungen aller christlichen pflichten gegen jederman wird bald andere bewegen, sich auch dazu zuschicken […].“ (vgl. auch das Zitat in Anm. 28). Freilich muss hierbei daran erinnert werden, dass auch in diesem Zusammenhang dem Geistlichen eine fundamentale Aufgabe zugewiesen wird, nämlich „[…] daß er die allermeiste mühe nehme, an denen jenigen gliedern seiner gemeinde zu arbeiten, die er erkennet, daß sie ohne das schon von GOtt den meisten trieb und gute intention haben, ihrem Christenthum als dem einignothwendigen vor allem abzuwarten […]“ (im selben Brief, Z. 35–39). Man beachte, dass insbesondere die Pia Desideria als Separatausgabe der Postillenvorrede (s. Anm. 29) an „Der gesampten Christ=Evangelischen Kirchen treuen Vorstehern und Hirten“ (Spener: Pia Desideria [wie Anm. 8], S. 2, Z. 1–4), also an die Geistlichen, gerichtet ist. Dies gilt sogar für den zweiten Reformvorschlag, in dem auf das „geistliche Priestertum aller Glaubenden“ hingewiesen wird. Er betrifft insofern auch die Führung des geistlichen Amtes, als dieses die Gemeindeglieder nicht von der geistlichen Verantwortung untereinander – und wenn nötig, sogar in Bezug auf den Pfarrer! (s. Spener: Pia Desideria [wie Anm. 8], S. 60, Z. 1–4) – befreit. Dieses wird von Spener ausführlich beschrieben in seinem Brief an Ahasver Fritsch vom 6. 7. 1676 (Philipp Jakob Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 2 [wie Anm. 14], Brief Nr. 92, Z. 19–27). – Joachim Justus Breithaupt, der sich vom Dezember 1683 bis April 1684 in Frankfurt aufhielt, nahm vermutlich an solchen Collegia teil (zu dem Eindruck, den Spener auf ihn machte, s. Christian Polycarp Leporin: Memoria Caplatonia, Oder: Lebens=Beschreibung Zweener Breithaupten. O. O. 1725, S. 55f.). Philipp Jakob Spener an die Kurfürstinwitwe Anna Sophia von Sachsen am 23. 9. 1691 (Archiv der Franckeschen Stiftungen, AFSt/H A 143:147): „Kan an den studiosis nach belieben frucht schaffen, wie sie schon auff die art alß in Dreßden in meinen hauß under meiner inspection ein collegium biblicum under sich halten, und nun ein examinatorium

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lich lange Zeit in seiner Nähe aufhielten, studentische Collegia an, eine Art Collegium pietatis für Theologen. Eine in Tübingen durchgeführte Studienreform im Jahr 1688 wurde von Spener beratend begleitet.38 Bei der Besetzung der durch den Tod von Johann Musaeus (1613–1681) vakant gewordenen Professur in Jena beriet er Herzog Johann Georg I. von Sachsen-Eisenach (1634–1686).39 Einer der Gründe, wieso Spener den Ruf, als Oberhofprediger nach Dresden zu kommen, annahm, bestand vermutlich darin, dass er in diesem Amt für zwei bzw. drei Universitäten zuständig war: Wittenberg, Leipzig und – im weiteren Sinne – Jena. Hier hoffte er, Einfluss nehmen zu können auf die Besetzung der Professorenstellen,40 und war durchaus auch Ansprechpartner für Theologiestudenten. Kaum in Dresden angekommen, wurde er in der Tat von dem damals in Leipzig studierenden Paul Anton, später einer des ‚Hallischen Dreigestirns‘, um Rat gefragt, wie man ein studentisches Collegium sinnvollerweise gestalten könne.41 Es handelte sich dabei um das sogenannte Collegium philobiblicum, das eine Keimzelle der pietistischen Bewegung in Leipzig im Jahr 1689 werden sollte.42 Die Hoffnung auf eine Reform des Theologiestudiums in den sächsischen Landesuniversitäten zerschlug sich – spätes-

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verlangen.“ (demnächst in: Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Berliner Zeit. Bd. 1. Hg. v. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Marcus Heydecke, Brief Nr. 18); vgl. auch seinen Bericht darüber im Brief an Johanna Margarete Lingk vom 16. 10. 1691 im gleichen Band. Vgl. dazu den Brief an den Vizedirektor des Stuttgarter Konsistoriums Johann Georg Kulpis (Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Bd. 1. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde, Peter Blastenbrei u. Martin Friedrich. Tübingen 2003, Brief Nr. 153, Z. 7–82). – Zu der Württembergischen Studienreform s. Martin Brecht: Konzeptionen der Theologenausbildung in Württemberg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Ders.: Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2: Pietismus. Stuttgart 1997, S 235–237. Vgl. Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 6 (wie Anm. 5), Brief Nr. 49 (1.6.1682). Wie der Briefwechsel Speners mit dem Dresdner Superintendenten Samuel Benedikt Carpzov, einem Bruder des Leipziger Theologieprofessors Johann Benedikt (s. Anm. 5) erweist (s. die Briefe aus dem ersten Halbjahr des Jahres 1686, die im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu finden sind [AFSt/H, C 145]), hatte Spener schon vor seinem Amtsantritt in Sachsen die Post zwischen Dresden und dem Straßburger Theologen Balthasar Bebel (1632–1686) besorgt, in denen es um dessen Berufung nach Wittenberg an die Stelle Abraham Calovs ging. Bebel hatte vorher wiederholt ehrenvolle Berufungen ausgeschlagen und es steht zu vermuten, dass Spener einen wichtigen Beitrag dazu leistete, dass sein Straßburger Studienfreund dem Wittenberger Ruf Folge leistete. Zu Speners großem Bedauern verstarb Bebel jedoch wenige Wochen nach Ankunft Speners in der sächsischen Residenz (s. Spener: Briefe aus Dresdner Zeit. Bd. 1 [wie Anm. 38], Brief Nr. 30, Z. 84–87). Spener: Briefe aus Dresdner Zeit. Bd. 1 [wie Anm. 38], Brief Nr. 23. – Auch Paul Anton war im Jahr 1681 nach Frankfurt gereist und hatte dort vielleicht Speners studentisches Collegium kennengelernt (Johann Heinrich Reitz: Historie der Wiedergebohrnen. VII. Theil, Berleburg: Joh. Jac. Haug 1745, S. 237f. [Nachdruck: Tübingen 1982]). Eine knappe Skizze über die Entstehung des Collegium philobiblicum findet sich im in Anm. 41 genannten Brief Speners, dort in Anm. 7; über den Beginn im Jahr 1686 unterrichtet bisher immer noch am ausführlichsten: Christian Friedrich Illgen: Historiae Collegii Philobiblici Lipsiensis. Pars 1. Leipzig 1836 (vgl. auch Otto Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus. In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus. Hg. v. Dietrich Blaufuß [Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 13]. Bielefeld 1975, S. 174–177). – Ein Gründungsmitglied dieses Collegiums war August Hermann Francke.

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tens nachdem in Leipzig im Sommer 1689 die Frömmigkeitsbewegung unter maßgeblicher Leitung von August Hermann Francke, die auf die Bibellektüre und ein durch das Evangelium bestimmtes Leben drängte, unter den Studenten und Bürgern Zulauf fand, aber größtenteils an den Professoren vorbeiging.43 Auf eine positive Einflussnahme auf die Entwicklung durch Spener war nicht mehr zu rechnen, nachdem dieser bei dem sächsischen Kurfürsten in Ungnade gefallen war.44 Speners Augenmerk war aber inzwischen auch auf andere Universitäten gerichtet. Vornehmlich kam Gießen in Frage. Durch die Nähe zu Frankfurt hatte er ohnehin schon lange einen guten Einblick in die dortige Situation. Seit 1678 regierte Landgräfin Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt (1640–1709), eine Tochter des Herzogs von Sachsen-Gotha, Ernst des Frommen (1601–1675), an Stelle ihres noch unmündigen Sohnes das Land und war damit auch für die Gießener Universität mitverantwortlich. Ob sie den Spenerschen Reform- und Frömmigkeitsbemühungen nahestand, ist umstritten.45 Aber als im Jahr 1688 Ernst Ludwig die Regierungsgeschäfte übernahm und seine Frau Dorothea Charlotte, die als „entschiedene Pietistin“46 bezeichnet werden kann und mit der Spener in direktem Kontakt stand, den Landgrafen in Religionsangelegenheiten zu beeinflussen wusste, wurden wichtige Positionen in der Landgrafschaft mit Anhängern der Spenerschen Reformbewegung besetzt. So wurde im Jahr 1689 Johann Heinrich May (1653–1719) zur Freude Speners als Theologieprofessor an die hessen-darmstädtische Landesuniversität berufen. Spener kannte ihn schon lange und war nicht nur von dessen Konzentration auf die Exegese angetan, sondern auch von dessen Bemühen um die Frömmigkeit der Studenten.47 War es in Sachsen nicht gelungen, eine Reform der theologischen Fakultäten herbeizuführen, dann war dies – vor allem unter den günstigen Bedingungen der Regierung der Landgrafschaft – vielleicht in Gießen 43

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Vgl. dazu: Klaus vom Orde: Der Beginn der pietistischen Unruhen in Leipzig im Jahr 1689. In: Hanspeter Marti u. Detlef Döring (Hg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Basel 2004, S. 359–378. Vgl. dazu Speners Einschätzung des Zusammenhangs zwischen seiner Stellung zum Kurfürsten und den Angriffen gegen ihn und die Pietisten an einen Bekannten, der vermutlich in Straßburg lebte, in: Spener: Letzte Theologische Bedencken. Bd. 3, Halle a.S. 1711 [21721], S. 549. Rüdiger Mack: Forschungsbericht. Pietismus in Hessen. In: Pietismus und Neuzeit Bd. 13, 1987, S. 191, hält es für „falsch, sie als Pietistin zu bezeichnen“ (dort Anm. 44) gegen Walther Köhler: Die Anfänge des Pietismus in Gießen 1689 bis 1695. Gießen 1907. In: Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Festschrift zur dritten Jahrhundertfeier. Hg. von der Universität Gießen. Gießen 1907, S. 147. Zu der ganzen Entwicklung in Gießen, ausführlich und durch zahlreiche Quellenbelege Köhler ergänzend: Rüdiger Mack: Die Gießener Theologen und der Pietismus in Hessen-Darmstadt. In: Ders.: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984, S. 25–205 (bes. S. 39– 65). Mack: Forschungsbericht (wie Anm. 45), S. 191f. S. Speners Brief an Johann Wilhelm Petersen vom 21. 11. 1689: „Giessae lacertos movet optimus L. Maius hoc demum anno Professor Theologiae constitutus et omni studio hoc agit, ut Theologia biblica et cum hac pietas praecipua discentium sit […].“ (Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Bd. 3. Hg. v. Udo Sträter u. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2013, Brief Nr. 116, Z. 10–13).

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eher möglich. Neben May wurde bald auch Johann Christoph Bilefeld (1664– 1727) 1692 als Oberhofprediger, Superintendent und Konsistorialbeisitzer nach Darmstadt48 und 1693 gleichzeitig als Theologieprofessor nach Gießen berufen,49 ebenfalls ein junger Theologe aus Sachsen, auf den Spener große Hoffnungen setzte.50 Anders als in Leipzig gab es also in Gießen Professoren, die die Spenersche Reform des Theologiestudiums – und damit im Sinne der Kirchenreform – aktiv voranzutreiben versuchten. Nach anfänglichen Erfolgen51 konnten die Bemühungen begrenzte Früchte tragen, weil die Widerstände anderer Kollegen und zahlreicher Geistlicher, auch der Gießener Bevölkerung, im Lande heftig spürbar wurden.52 Zwar gingen die Pietisten in den Streitigkeiten dieser Jahre zunächst als Sieger über ihre Gegner hervor, aber Bilefelds Machtpolitik vergraulte nicht nur die Gegner des Pietismus, sondern auch Personen aus dem eigenen Lager.53 Nach dem Tode Dorothea Charlottes (1705) verlor der Pietismus an Einfluss in der Landgrafschaft und blühte erst später, als der aus Halle kommende Johann Jakob Rambach für kurze Zeit als Professor in Gießen wirkte (1731–1735), erneut auf,54 um schließlich von Vertretern der ‚Spätorthodoxie‘ wiederum abgelöst zu werden.55 Bald nach den ersten Erfolgen pietistischer Frömmigkeit in Gießen ereigneten sich aber andernorts Dinge, die Speners Ideen in die Hände spielten, ohne dass er 48

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Als Oberhofprediger kam er an die Stelle von Johann Ulrich Wild (1640–1691), einem Schwager Speners (zu dessen Berufung dorthin, die Speners „Besetzungspolitik“ spiegelt, s. Klaus vom Orde: Zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Kirche Christi. Philipp Jakob Speners Gutachtertätigkeit bei der Neubesetzung der Hofpredigerstelle in Hessen-Darmstadt im Jahr 1687. In: Pietismus und Neuzeit Bd. 21 [1995], S. 104–130). Er kam an die Stelle Philipp Ludwig Hannekens, der im gleichen Jahr nach Wittenberg gewechselt war (Köhler: Anfänge des Pietismus [wie Anm. 45], S. 203f.). Die ersten – bekannten – Briefe an Bilefeld stammen aus dem Jahr 1690 (Spener: Dresdner Briefe. Bd. 4 [wie Anm. 24], Briefe Nr. 72 und Nr. 108). Vgl. Köhler: Anfänge des Pietismus [wie Anm. 45], S. 202: „Der Pietismus hatte in der milden Form der Einbauung in die hessische Kirchenverfassung zum Zweck ihrer Neubelebung sein Existenzrecht in ganz Hessen-Darmstadt sich errungen. Gießen war die erste Universität, die der neuen Spenerschen Bewegung Wohnrecht gewähren durfte, den Vorwurf der ‚neuen Sekte‘ ausdrücklich ablehnte, freilich es nicht wagte, das Kind beim rechten Namen: Pietismus zu nennen.“ Köhler: Anfänge des Pietismus [wie Anm. 45], S. 203–235. – Einen stärker prägenden Einfluss auf die Universität Gießen erhielten die Pietisten erst später: Gottfried Arnold und andere. Der Pietismus an der Universität Gießen für die nachfolgende Zeit ist bislang skizzenhaft dargestellt, wartet aber noch auf eine gründliche analytische Darstellung (Am ausführlichsten beschrieben in: Mack: Gießener Theologen [wie Anm. 45], S. 124–151). So etwa Johann Reinhard Hedinger, ein Württemberger, der von 1694 bis 1699 als Professor für Naturrecht in Gießen wirkte und diese Stelle möglicherweise durch Speners Einfluss erhielt (s. Wolfgang Schöllkopf: Johann Reinhard Hedinger [1664–1704]. Württembergischer Pietist und kirchlicher Praktiker zwischen Spener und den Separatisten [Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 37]. Göttingen 1999, S. 53–58). Mack: Forschungsbericht (wie Anm. 45), S. 193. Ders: Gießener Theologen (wie Anm. 45), S. 152–167. – Zu J. J. Rambach s. Peter Zimmerling u. Helge Stadelmann (Hg.): Johann Jakob Rambach (1693–1735). Praktischer Theologe und Schriftausleger. Leipzig 2019. Mack: Forschungsbericht (wie Anm. 45), S. 194.

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sie zu diesem Zeitpunkt hätte beeinflussen, geschweige denn initiieren können. In Halle hatte der Gedanke zur Errichtung einer Universität greifbare Gestalt angenommen. Der in Leipzig unliebsam gewordene Christian Thomasius war dorthin gegangen.56 Spener ereilte – nach einer mehrjährigen ‚Hängepartie‘ – der Ruf durch den brandenburgischen Kurfürsten, als Propst nach Berlin zu kommen. In dem Land unter reformierter Herrschaft und mit weitgehend lutherischer Bevölkerung war dies eines der einflussreichsten geistlichen Ämter der lutherischen Kirche. Seine gute Vernetzung mit den (lutherischen und reformierten) Hofbeamten half ihm, auf die Gestaltung der neuen Universität und vor allem auf die Besetzung der theologischen Lehrstühle Einfluss zu nehmen. Ungeachtet der Motive, die den brandenburgischen Kurfürsten zur Gründung der „Friedrichsuniversität“ trieben,57 ergab sich für Spener eine neue Möglichkeit, seine Reformbemühungen zu realisieren, die andernorts mehr oder weniger deutlich gescheitert waren oder mit Widerständen zu kämpfen hatten. Aus dem Blickwinkel der Spenerschen oder pietistischen Anliegen war die Universität Halle also eine echte ‚Reformuniversität‘, in dem Sinne, dass es für ihn den Anschein hatte, als könnten die Reformen, die er für eine Verbesserung von Kirche und Gesellschaft reklamiert hatte, hier am ehesten realisiert werden. Dies lässt sich etwa in Speners Brief vom 12. Juli 1694 an Johann Wilhelm Beier erkennen, als dieser von Jena nach Halle berufen worden war.58 Vor diesem hier skizzierten Hintergrund scheint es nur eine zufällige Koinzidenz glücklicher Umstände gewesen zu sein, dass die in der Gründungsphase befindliche Universität in Halle ein für die pietistische Bewegung schon lange gesuchtes Instrument darstellen konnte. Diese Einschätzung ist freilich zu einfach. Taatz-Jacobi hat die „Konfessionalisierungsabsicht“59 des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg sorgfältig aufgezeigt. In diesen Gedankenzusammenhang ist auch der Vorschlag Speners in den Pia Desideria einzubinden, bei einer Reform des Theologiestudiums sei auf lieblose „Religionsstrittigkeiten“ zu verzichten.60 56

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Zum Wechsel von Thomasius nach Halle s. Taatz-Jakobi: Erwünschte Harmonie [wie Anm. 1], S. 127–130. Deren Überlegung, dass „in der hallischen Bildungslandschaft […] eine akademische Gestalt installiert [wurde], die an der Universität Leipzig die Studenten durch innovative Ideen und Methoden angezogen hatte“ (S. 130), mag – bis hin zum Gebrauch der deutschen Sprache – auch für Theologiestudenten gelten, die schon im Jahr 1690 August Hermann Francke nach Erfurt (wo damals auch J. J. Breithaupt wirkte) hinterherzogen. Dies wurde von Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 1) ausführlich dargestellt. „Cum etiam, qui aliarum Academiarum sunt, vel temporis vitio invaluere, defectus facilius a nova arceantur, quam in veteribus corrigantur, sitque Serenissimi nostri Electoris illa seria voluntas, ut quae ipsius autoritate introducta est, aliis exemplum praebere possit, quod sequantur, vix aliud publico utilius, Vobisque gloriosius optare novi, quam ut Tuo dignissimorumque Collegarum prudentia et vigili cura universa, quae docentes discentesve attinent, in eum ordinem, legibus institutisque et horum solicita observantia redigantur, quem alii non solum collaudent, verum sibi etiam imitandum proponent […]” (Philipp Jakob Spener: Consilia theologica. Pars Secunda. Frankfurt a. M. 1709, S. 154). Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 1), S. 30. Vgl. den vierten Therapievorschlag in den PD.

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Freilich war dieser wenig durch ein konfessionsirenisches Interesse begründet. Vielmehr ist sie für Spener eine Konkretion der aus der Gottesliebe erwachsenen Nächstenliebe bei den Christen. So sehr er im Ringen um die Wahrheit der theologischen Kontroverse ihren Platz belässt,61 so sehr ist er der Überzeugung, dass das durch die Liebe zu Gott und dem Nächsten geprägte Leben ein besseres ‚Argument‘ für die Wahrheit sei,62 der aus ‚unionistischen‘ Gründen freilich nichts abgemarktet werden darf. Auch wenn Speners Zielrichtung in eine völlig andere Richtung deutet, konnte in diesen Überlegungen ein Ansatzpunkt gefunden werden, der zu den Motiven des brandenburgischen Kurfürsten bei Gründung der Friedrichsuniversität passte. Hier stellt sich die Frage, in welchem Maße die Entwicklung für Spener vorhersehbar war. Seit dem Februar 1689 war es nicht mehr zu übersehen, dass er im Kurfürstentum Sachsen keine Möglichkeiten einer positiven Entwicklung von Kirche und Universität haben konnte. Der Inhalt eines seelsorgerlichen Briefes, den Spener als Beichtvater des Kurfürsten geschrieben hatte, war durch Indiskretion, vermutlich von Hofbediensteten, an die Öffentlichkeit gelangt. Dass für Spener die Zeit in Dresden abgelaufen war, wurde sehr schnell durch das ganze Reich publik. Neben anderen Anfragen63 kam auch eine erste aus Brandenburg, ob er sich als Propst nach Berlin berufen lassen wolle. Spener berichtet, dass schon wenige Wochen nach Bekanntwerden des Zerwürfnisses mit Johann Georg III. „ein Chur-Brandenb. Cavallier zweymal“64 inkognito bei dem Oberhofprediger in Dresden vorgesprochen habe. Dieser Gesandte war kein Geringerer als der kurbrandenburgische Geheimrat Franz von Meinders, der dann ein Jahr später auch die Verhandlungen führen sollte, die Spener endgültig nach Berlin brachten. Spe61 62

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Spener: Pia Desideria [wie Anm. 8], S. 64, Z. 25: „Also achte ich […], daß nicht alles disputiren nützlich und gut […].“ Der vierte Vorschlag in den Pia Desideria, in dem es um die „Religionsstrittigkeiten“ geht (Spener: Pia Desideria [wie Anm. 8], S. 62, Z. 14 bis S. 67, Z. 17), nennt – neben einem rechten Disputieren! – als geeignete Mittel: 1. das Gebet um Erkenntnis der Wahrheit für die Irrgläubigen (S. 62, Z. 22–31), 2. das beispeilhafte Leben, das kein Ärgernis hervorruft (S. 62, Z. 32f.), 3. die „bescheidene und nachdrückliche vorstellung unserer wahrheit“ (S. 62, Z. 38f.) und eine ebensolche Widerlegung der Irrtümer, die erkennen lässt, dass alles „auß hertzlicher Liebe gegen sie [diejenigen, die im Irrtum verhaftet sind, KvO] und ohne fleischliche und unziemliche affecten“ geschieht (S. 63, Z. 5), 4. die „übung hertzlicher liebe (S. 63, Z. 23) in allen „dingen/ welche zu menschlichem leben gehören“ (S. 62, Z. 25f.), aber nicht – so betont Spener ausdrücklich – den Irrtum der Andersgläubigen befestigt oder gar befördert. Auf zwei Anfragen soll hier verwiesen werden: 1. Auf die Superintendentenstelle in Lübeck, die schon seit 1683 vakant war und die schließlich mit dem späteren Gegner Speners, August Pfeiffer, besetzt wurde (Spener: Briefe aus Dresdner Zeit. Bd. 3 [wie Anm. 47], Brief Nr. 45, Z. 18–26). Spener war schon im Jahr 1683 für dieses Amt im Gespräch gewesen (Spener: Briefe aus Frankfurter Zeit. Bd. 6 [wie Anm. 5] Brief Nr. 180, Z. 6–38). 2. Über Samuel Pufendorf war sondiert worden, ob er sich als Pastor an die deutsche Gemeinde in Stockholm berufen lassen würde (Spener: Briefe aus Dresdner Zeit. Bd. 3 [wie Anm. 47], Brief Nr. 64). Spener: Briefe aus Dresdner Zeit. Bd. 3 [wie Anm. 47], Brief Nr. 45, Z. 27; vgl. Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit Adam Rechenberg. Hg. v. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Claudia Neumann. Tübingen 2019. Bd. 1, Brief Nr. 142, Z. 12f.

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ner lehnte es zu diesem Zeitpunkt (also im Jahr 1689) ab, über einen Wechsel ins Kurfürstentum Brandenburg zu verhandeln – mit dem Hinweis, er sei von Gott nach Sachsen berufen worden und ohne ein deutliches Zeichen, das ihm die Gewissheit für eine Änderung verschaffe, werde er bleiben – und dies trotz der Ächtung des Kurfürsten. Zwei Jahre später wurde der Ruf nach Berlin erneuert. Inzwischen hatte Johann Georg III. von Sachsen sogar damit geliebäugelt, seine Residenz von Dresden nach Torgau zu verlegen, um – dem offenbar renitenten – Spener nicht mehr über den Weg laufen zu müssen. Wieso hielt dieser nun den erneuten Ruf aus Brandenburg – anders als vorher – auf einmal für göttlich? Spielten die Entwicklungen, die in Halle zur Gründung einer Universität führen sollten und die dem Dresdner Oberhofprediger nicht verborgen bleiben konnten, dabei eine Rolle? Immerhin waren inzwischen ‚Reformer‘ wie Christian Thomasius nach Halle berufen worden.65 Gerade dieser – durchaus streitbar, so dass Spener sich darüber beklagte66 – hatte in ähnlicher Weise Kritik an den Universitäten geübt, die „Brutstätten des konfessionellen Unfriedens“67 seien, und sich in diesem Kontext explizit auf Spener berufen.68 Vielleicht spielte für Spener aber auch die Hoffnung auf zukunftsträchtigere Möglichkeiten im aufstrebenden Brandenburg eine Rolle. Wenige Jahre später, als nämlich August der Starke (1670–1733) zum römischen Katholizismus konvertierte, um König von Polen werden zu können, wurde die sächsische Oberhofpredigerstelle als die des ‚höchsten Geistlichen‘ in der lutherischen Kirche obsolet. Zwar behielt Sachsen offiziell noch den Vorsitz im corpus evangelicorum, dem Zusammenschluss der lutherischen und reformierten Reichsstände, aber das Direktorium wurde nun in das reichsrechtlich unbedeutende Herzogtum von Sachsen-Weißenfels verlagert.69 Der brandenburgische Kurfürst, dessen ‚Aufstieg‘ in die Königswürde eine knappe Dekade später erfolgen sollte und der später durchaus einen Anspruch auf den Vorsitz im corpus evangelicorum erhob, war reformiert. Deswegen konnte es keinen lutherischen Oberhofprediger geben. Somit war aber das Amt des Berliner Propstes durchaus so etwas wie das leitende geistliche Amt der lutherischen Kirche im Kurfürstentum.70 Außerdem gab es unter den einflussreichen brandenburgi65 66 67 68

69 70

Bestallung am 4. 4. 1690 (s. Taatz-Jakobi: Erwünschte Harmonie [wie Anm. 1], S. 123). Z. B. Spener: Rechenberg-Briefwechsel (wie Anm. 64), Brief Nr. 139, Z. 20–25. Taatz-Jakobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 1), S. 125. „[…] prostant publice et cum maximo gaudio, sed tranquillo et Christiano, leguntur scripta Domini Speneri huc respicientia fere omnia, praecipue vero eiusdem pia desideria, et non ita pridem typis impressa vere Theologica praefatio, de impedimentis Studii Theologici […].“ (Christian Thomasius: Felicitas subditorum Brandenburgicorum ob emendatum per edicta electoralia statum ecclesiasticum politicum. [Halle a. S.]: Christoph Salfeld 1690. S. 15). – Es böte sich – nicht nur wegen des expliziten Hinweises in diesem Zitat – an, diese Schrift von Thomasius unter dem Aspekt zu untersuchen, welche Ähnlichkeiten sie mit Speners Reformschriften aufweist. Für kurze Zeit vorher nach Sachsen-Gotha. Zwar war auch Franz Julius Lütken (1650–1712) Propst (Cölln), aber Spener versah im Grunde die jahrzehntelang vakant gebliebene Generalsuperintendentur im Kurfürstentum Brandenburg.

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schen Beamten etliche, die Speners Anliegen der Kirchenverbesserung unterstützten. Jedenfalls nutzte er in den folgenden Jahren seine Verbindung zu diesen intensiv, um die von ihm vertretenen Interessen durchzusetzen. Ob diese Beobachtungen den Motiven Speners, nun doch dem Ruf nach Berlin zu folgen, wenigstens teilweise entsprechen, muss eine genauere Analyse der Quellen – insbesondere seiner Briefe aus der Berliner Zeit noch zeigen. Derzeit bleiben noch zahlreiche Fragen offen. Die Erwartung einer konfessionsmoderaten Universität in Halle musste für Spener jedenfalls am ehesten Möglichkeiten erkennen lassen, seine Überlegungen zur Reform des Theologiestudiums mit allen von ihm erwünschten Folgen für eine Verbesserung der Kirche zu realisieren. Dies galt umso mehr, als keine langjährigen Strukturen verändert werden mussten, sondern neue zu schaffen waren. Dass dabei wie schon in Gießen die Personalbesetzung ein wichtiger Hebel war, ist selbstredend. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Spener mit aller Macht versuchte, Francke nach Halle zu bringen. Schon vorher war sein langjähriger Vertrauter Joachim Justus Breithaupt als Professor nach Halle berufen worden und im Jahr 1695 folgte Paul Anton. Mit Veit Ludwig von Seckendorff als Gründungskanzler hatte Spener sich schon im Jahr 1681 über eine Verbesserung der theologischen Ausbildung ausgetauscht und in weiten Teilen Übereinstimmung gefunden.71 Spener hatte also eine Vorstellung darüber, wie eine Universität allgemein und eine theologische Fakultät insbesondere sein sollte, damit sie der Ehre Gottes und dem Wohl des Nächsten – so sein prinzipieller Maßstab für die Ethik eines Christen – und somit der Verbesserung der wahren evangelischen Kirche dienlich sein könnte. Er hatte jedoch keine Möglichkeit, die Neugründung in Halle auf den Weg zu bringen oder die Motive zu bestimmen, die den Initiatoren – in diesem Fall vor allem dem brandenburgischen Kurfürsten – im Sinn war. Er konnte einzig in Halle eine für seine Vorstellungen günstige Entwicklung vorausahnen. In diesem Fall konnte der zweite Antrag an ihn, als Propst nach Berlin zu gehen, anders als beim ersten Mal bewertet werden und er nun die innere Gewissheit, dem Willen Gottes zu folgen, nachkommen. Was ist in diesem Falle eine ‚Reformuniversität‘? Aus Speners Sicht war eine Reform – im Zentrum das Theologiestudium – nötig. In Halle ergab sich obiter incidentia die Möglichkeit – oder wie er eher gesagt hätte voluntate Dei. Ob und in welchem Sinne jemand anderes die Hallische Universitätsgründung als ‚Reform-

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Ein Zeichen für die Hoffnung, die Spener sich über von Seckendorffs Wirken in Halle gemacht hatte, zeigt seine Reaktion auf die Nachricht von dessen Tod: „Ich habe vorgestern unsers lieben Herrn von Seckendorff unverhofften todesfall mit billicher betrübnus verstanden, und bin nochmal mit diesem, wie so vielen andern, exempel bekräfftigt worden, daß wo ich anfange ein sonderliches vertrauen hinzutragen, daß es alßdann gemeiniglich am nechsten dabey seye, das mir Gott solche entziehen wolle.“ (Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, Brief Nr. 66, Z. 4–8).

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universität‘ verstand, war ihm dabei recht gleichgültig. Aber die Chance, die ihm gegeben war, nutzte er nach Möglichkeiten.

KELLY J. WHITMER

The Wunderkind, redefined: Jean-Philippe Baratier’s projects and Halle’s “culture of innovation”

Fig. 1: “Jean-Philippe Baratier presented to Minerva” by Antoine Pesne; oil painting original c. 1735 and an engraving produced after this, c. 1741

“[…] he had been always surrounded with a Heap of Books, relative to the different Projects he had in View; for he was perpetually forming some new Scheme, [...]”.1

In 1741, Johann Heinrich Samuel Formey (1711–1797), a professor of philosophy in Berlin’s Collège français who would later become the secretary of the Berlin Academy, wrote a detailed account of the life of Jean-Philippe Baratier (1721– 1740), a “Master of Arts and a Member of the Royal Society of Sciences in Berlin.”2 Young Jean-Philippe had died in Halle (Saale) the previous year at the age of 1

2

Jean Henri Samuel Formey, The life of John Philip Baratier: The prodigy of this age of genius and learning; Created, at Fourteen Years old, Master of Arts, and Fellow of the Royal Society at Berlin […] (London, 1745), 296. Jean Henri Samuel Formey, Maître ès Arts & Membre de la Sociéte Royale des Sciences de Berlin (Utrecht: Chés Etienne Neaulme, 1741). Four years later Formey’s account was translated into English and published as The life of John Philip Baratier: The prodigy of this

https://doi.org/10.1515/9783110682076-005

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nineteen after having been admitted to the University as a Master of Arts when he was fourteen and acquiring a far flung reputation as a child prodigy. “History has mentioned several celebrated Children,” Formey wrote: but none appears to be compared with this, as I hope to convince the Reader. Curiosity alone is sufficient to claim our Attention to such a Prodigy. But a philosophical Mind, which can be at Pains to trace the Progress, the boundless Views, the unwearied Researches and, in a Word, all the prodigious Studies of this extraordinary Youth, will find ample Ground for Reflection [...]. I describe at once the History of a Philosopher and a Child. Both these Characters will discover themselves alternatively, and serve to heighten and set off each other.3

Indeed, it was Jean-Philippe’s status as a young prodigy in “an age of genius and learning” — a child and a philosopher — that set him apart. Formey argued this made his life story worth retelling, made him worthy of contemplation. But to what end? Apart from the sensational, even astounding parts of Jean-Philippe Baratier’s story, why spend so much time enumerating various aspects of this ‘Philosopher-Child’s’ exemplary character and accomplishments? Why encourage readers to spend time and energy reflecting on his short life? Answering these questions requires some reflection on what it meant to be a “Philosopher-Child,” a “child prodigy” or Wunderkind by the turn of the eighteenth century. For much of the early modern period, the term “prodigy” was used to describe “a disturbing and unusual event, one apparently contrary to nature and therefore attributable directly to God.”4 Child prodigies were monsters — giant babies, conjoined or three-legged twins, anomalies notable for their dramatic departure from the natural order of things — whose marvelous features were described and made visible in prodigy books, broadsides and medical treatises.5 As prodigies, they portended future events, so they had something in common with the child prophets and witches that had become increasingly important to particular religious groups in the seventeenth century; but they were not the same things.6 By

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age for genius and learning (London, 1745). For an introduction to Formey, see Jannis Götze, Jean Henri Samuel Formey: Wissensmultiplikator der Berliner Aufklärung (Hannover: Wehrhahn Verlag, 2016). Formey, The life of John Philip Baratier, 244–245. Lorraine Daston and Katherine Park, “Unnatural Conceptions: The Study of Monsters in Sixteenth- and Seventeenth-Century France and England,” Past & Present 92 (1981): 25, 20– 54. Interest in ‘monsters as prodigies’ underlay the creation of new ’prodigy book’ genre, which saw the publication of the popular Histoires prodigieuses, a six volume series published between 1560 and 1598. See Daston and Park, “Unnatural Conceptions,” 30ff. For more on the relationship between wonder, facts and evidence in the early modern period see Lorraine Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen: Zur Geschichte der Rationalität (Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 2001) and Lorraine Daston and Katherine Park, Wonders and the order of nature: 1150–1750 (New York: Zone Books, 2001); Eugen Holländer, Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt: In Einblattdrucken des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts; kulturhistorische Studie (Stuttgart: Enke, 1921). Lyndal Roper, “Child Witches in Seventeenth-Century Germany,” in Childhood and Violence in the Western Tradition, edited by Laurence Brockliss and Heather Montgomery (Oxford:

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the early eighteenth century, it became increasingly common to use the phrase ‘child prodigy’ to denote a young person with a particular kind of “greatness of mind.”7 This greatness manifested itself as proficiency in multiple languages, advanced contributions to knowledge projects such as translations, also original musical compositions and more.8 With the publication of Andrien Baillet’s catalogue of exemplary learned children in 1688, the idea of the child prodigy as genius became increasingly popular among intellectuals.9 By 1700, Ann Jefferson explains, the use of the term ‘genius’ reflected “a desire to articulate admiration for exceptional human achievement” and was implicitly linked to youth.10 Two etymologies associated with the terms “genius” and “ingenium” converged by the early eighteenth century and gave way to a spectrum of meanings associated with superiority and “an exceptional creative capacity distinguished by originality.”11 Contemporary accounts of Baratier reflect this new set of meanings. Formey and others who described their encounters with him used the term genius and child prodigy interchangeably; they praised his ability to offer original insight and to make new contributions. For them, Baratier’s ability to innovate, to develop his own scholarly and techno-scientific projects meant he was well poised to contribute to a “culture of innovation” that had emerged in the city.

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Oxbow, 2010), 292–299. For examples of child prophets, see G. Cosmos, Huguenot Prophecy and Clandestine Worship in the Eighteenth Century: The Sacred Theatre of the Cevennes (London: Ashgate, 2005), 28, 155; and N. Smith, “A Child Prophet: Martha Hatfield as The Wise Virgin,” in Gillian Avery and Julia Briggs, eds., Children and Their Books: A Celebration of the Work of Iona and Peter Opie (Oxford: Clarendon Press, 1989), 79–94. See Peter Kivy’s discussion of “greatness of mind” in his book Handel, Mozart, Beethoven and the Idea of Musical Genius (Yale: Yale University Press, 2001), 13–21. By the middle of the eighteenth century, the child prodigy was increasingly associated with remarkable proficiency in composing and performing music (see Kivy, Handel, Mozart, Beethoven). Baratier, frequently described as a prodigy, was not known for any special abilities in music. In fact, Formey noted that he “could not bear Music, at least near hand, saying it either stunn’d him, tir’d him, or made him sleepy. For this Reason he avoided all Companies where it was encourag’d. He had himself no Voice, or Inclination for singing.” In Formey, The life of John Philip Baratier, 304–305. See Adrien Baillet, Des enfans devenus célèbres par leurs êtudes ou par leur écrits. Traite historique (Paris: chez Antoine Dezalier, 1688). German works based on this text include David Schultetus, Schau-Bühne der gelehrten Jugend [Theatrum juventutis eruditae] (Hamburg: Liebezeit, 1708); Johann Heinrich von Seelen, De praecocibus eruditis (Flensburgi sumtibus et operis Vogelianis, 1713) and Johann Klefeker, Bibliotheca Eruditorum Praecocium (Hamburgi: Liebezeit, 1717). For some discussion of this, see Ingrid Bodsch und Otto Biba, eds., Beethoven und andere Wunderkinder: Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung (Bonn: Stadtmuseum, 2003), 251. Ann Jefferson, Genius in France: An Idea and its Uses (Princeton: Princeton University Press, 2015), 2, 61–162. “The association between genius and childhood was already implicit in the image of innate genius in the eighteenth century, gearing it essentially to youth. As Peter Kivy notes, Longinus’s rediscovered theory of genius defines it as a power of expression that grows, flourishes and must perforce decline, and this endows genius with an organic trajectory that privileges youthful vigor over venerable old age.” Jefferson, Genius in France, 3.

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In recent years, many scholars have shown that a preoccupation with innovation and project making was a defining feature of eighteenth-century communities.12 Marcus Popplow defines a “culture of innovation” as a context where innovation, especially technological advancement, “was explicitly promoted as a desirable aim in early modern Europe,” often via initiating incremental improvements to existing technologies and better managing information.13 It was a culture linked to the growth of capitalism and a new “knowledge economy,” to entrepreneurship and to project making as a communal endeavor. All members of the University community (philosophers and mathematicians, theologians, jurists and physicians) were implicated in Halle’s “innovation culture” in some way, even if they studied historical examples and translated texts. Indeed, it was Jean-Philippe Baratier’s remarkable abilities as a scholar — a reader, researcher, note-taker, translator — and a practitioner of practical mathematics, especially astronomy, the mechanical arts and the navigational sciences that made him exemplary. He could devise projects that promoted practical, technological advancement and innovations while study history, writing commentaries and translating texts. As I will show, Halle’s scholars were drawn to the example of Jean-Philippe, because he was able to consistently apply the universality of his abilities — “his head contained a real Cyclopedia, or universal system of the Arts” — to make decidedly original contributions.14 Or, as Formey put it, he was able to “make new Systems in everything he undertook” and consistently “found what was new in any Author, or essential in each Branch of Knowledge.”15 Accounts of young Jean-Philippe stress his ability to make “new discoveries” and to get involved in 12

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The literature on projects and projecting in the eighteenth century is vast; for an introduction, see Maximillian Novak, ed., The Age of Projects (Toronto: University of Toronto Press, 2008); Ulrich Troitzsch, “Erfinder, Forscher und Projektemacher: Der Aufstieg der praktischen Wissenschaften,” in Macht des Wissens: Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, edited by Richard van Dülmen and Sina Rauschenbach (Cologne, 2004), 439–464; Jan Lazardzig, “Masque der Possibilität: Experiment und Spektakel barocker Projektenmacherei,” in Spektakuläre Experimente: Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, edited by Helmar Schramm and Ludger Schwarte (Berlin, 2006), 176–212; Krajewski, Markus, ed., Projektemacher: Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns (Berlin, 2004). For more on the “knowledge economy,” see Joel Mokyr, The Gifts of Athena: Historical Origins of the Knowledge Economy (Princeton: Princeton University Press, 2002); Larry Stewart, “Experimental Spaces and the Knowledge Economy,” History of Science (2007): 155–177; Marian Füssel, “Die Ökonomie der Gelehrtenrepublik: Moral — Markt — Wissen,” in Sandra Richter and Guillaume Garner, eds., “‘Eigenutz’ und ‘gute Ordnung’: Ökonomisierung der Welt im 17. Jahrhundert,” (Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2016), 301–322. See Marcus Popplow, “Formalization and Interaction: Toward a Comprehensive History of Technology-Related Knowledge in Early Modern Europe,” Isis 106 (2015): 848–856, 854 and Marcus Popplow, “Die Ökonomische Aufklärung als Innovationskultur des 18. Jahrhunderts zur optimierten Nutzung natürlicher Ressourcen,” in Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens: Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, edited by Popplow (Münster: Waxmann Verlag, 2010), 2–48. Formey, The life of John Philip Baratier, 302. Formey, The life of John Philip Baratier, 302.

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techno-scientific projects and schemes.16 Specifically, he studied the theoretical problems that underlay the navigational sciences and collected observations using an instrument associated with Halle’s Orphanage: an inclinator (also referred to as a dipping needle) that was on display in its Kunst und Naturalienkammer throughout the 1720s and 30s.17 Jean-Philippe’s efforts to undertake a very specific combination of scholarly and scientific projects as a young prodigy helped to articulate an idealized standard of innovation that was of great interest to all members of the university community.

Baratier, a child prodigy in the making Jean-Philippe Baratier was born in Schwabach, near Nuremberg, on January 19, 1721 to a French Protestant (Huguenot) family.18 His father, François, was born in France — in the town of Romans-sur-Isère — but his family was persecuted and sought refuge in Switzerland shortly after the revocation of the Edict of Nantes in 1685. When François was seventeen (in 1699), he went to Berlin to study at the Collége français (Französisches Gymnasium), where he worked with the charismatic French Cartesian philosopher Étienne Chauvin (1640–1725) and a variety of other Huguenot intellectuals who had sought refuge there.19 After serving as a military chaplain for several years, François accepted a call to serve as the preacher of a French Calvinist church in Schwabach in 1719. There he married Anne Charles, also from a French Protestant family, and had three sons, two of whom died very young. Jean-Philippe was the youngest and, because of the early deaths of his older brothers, grew up as an only child. In 1726, when Jean-Philippe was only five, his father François began writing to his friend and colleague Paul Emile Mauclerc (1698–1742) — also a French Reformed preacher, but based in Stettin (now Szczecin, Poland) — about his talented son and the special methods he was using to educate him. This friend, Mauclerc, published excerpts from these letters in various scholarly journals, including Leip-

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Formey, The life of John Philip Baratier, 304. See “Chapter Five: An Observator and his Instrument,” in Kelly J. Whitmer, The Halle Orphanage as Scientific Community: Observation, Eclecticism and Pietism in the Early Enlightenment (Chicago: University of Chicago Press, 2015), 86–107. See Christoph Rückert, Jean Philippe Baratier: Das “Schwabacher Wunderkind”; ein Betrag zur Schwabacher Stadtgeschichte (Schwabach: Millizer, 1995). See Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1731–1754), s. v. “Baratier, Franz,” (Leipzig), 1460. For more on French circles in Berlin, see Sandra Pott, Martin Mulsow and Lutz Danneberg, eds., The Berlin refuge, 1680–1780: Learning and science in European context (Leiden/Boston: Brill, 2010). For Chauvin, see Eduard Alberti, “Chauvin, Etienne,” in Allgemeine Deutsche Biographie, vol. 4 (1876), 114; and Giuliano Gasparri, Étienne Chauvin (1640–1725) and his Lexicon philosophicum (Hildesheim: Georg Olms Verlag, 2016).

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zig’s Gelehrte Zeitungen, where they captured readers’ attention and prompted François to publish a more detailed account of his gifted son.20 Mauclerc translated François’ account, or his “curious news” (Merkwürdige Nachricht), into German and it appeared in both Stettin and Leipzig in 1728.21 He also penned an introduction to his friend François’ “curious news” in which he emphasized their mutual interest in creating a method for others to apply to the education of their own children. He stressed the extent to which the method was 1) natural, i. e. that young Jean-Philippe was never forced to learn anything he did not want to or was not ready to learn and that his health was never compromised through too much studying. He also stressed that the method was 2) effective and had been 3) verified by several individuals who had observed Jean-Philippe and to test the results of his father’s work.22 More specifically, Mauclerc mentioned that François had taken him to the court of Brandenburg-Anspach, where he interacted with the margrave and his wife, a court physician and a variety of other intellectuals in the area, all of whom supported making the public aware of Jean-Philippe’s unusual talents and abilities.23 The margrave went on to become Jean-Philippe’s first noble patron and agreed to help finance his studies at the University of Altdorf.24 What, specifically, could Jean-Philippe do that was so unusual? His father and Mauclerc’s “curious news” included evidence of particular kinds of abilities that later accounts of Jean-Philippe frequently mentioned; however, these were only one part of a broader effort to define him as a particular kind of young genius, whose remarkable abilities yielded real, or tangible, results. By the age of four, François reported his son knew how to read, to write, and spoke French with his mother, Latin with him and German with the maid.25 Indeed, every day, François wrote, he had deliberately intermingled Latin words into his interactions with his son, gradually building up his vocabulary until he was proficient.26 Using the same method, by the ages of five and six, Jean-Philippe had learned Greek and Hebrew 20

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See Paul E. Mauclerc, “Den 9 Mai 1726,” Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, auf das Jahr 1726 (Leipzig: Martini, 1726): 365–368, discussed in Grosses vollständiges Universal-Lexicon, s. v. “Baratier, Franz,“ 1462. See François Baratier, Merckwürdige Nachricht von einem sehr frühzeitig gelehrten Kinde: Nebst vielen zur Kinderzucht gehörig-nützlichen Anmerckungen, und einer Vorrede von gelehrten Kindern (Stettin/Leipzig: Bey Johann Kunckeln, 1728). See Baratier, Introduction [Vorrede] to Merckwürdige Nachricht, by François Baratier, esp. footnote (gg). See Baratier, Introduction [Vorrede] to Merckwürdige Nachricht, by François Baratier, esp. footnote (ee) and (ff). Formey, The Life of John Philip Baratier, 263–64. Jean-Philipp matriculated in 1731. The Margrave of Brandenburg-Ansbach granted Jean-Philippe “the privilege of whatever Books he wanted from the Anspach Library, together with a Pension of fifty Florins, which he enjoy’d for three Years.” See François Baratier, An account of the life of John Philip Barretier, who was Master of Five Languages at the Age of Nine Years (London: Printed for J. Roberts in Warwick-lane, 1744), 3; see also Grosses vollständiges Universal-Lexicon, s. v.“Baratier, Johann Philipp,” 1463. See Baratier, Merkwurdige Nachricht, 3.

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and had started reading the Old Testament in ancient Hebrew. At this point, Jean-Philippe was able to embark on a variety of scholarly projects. Contemporary accounts of young Jean-Philippe often likened him to the historical examples of the exemplary learned children described in Adrien Baillet’s catalogue and more recent accounts of child prodigies.27 Yet, they also tended to emphasize the ways in which Jean-Philippe’s abilities extended beyond those that came before him. For example, Christian Heinrich Heineken (1721–1725), a prodigy from Lübeck who was also famous during the four years of his life, was associated with a range of impressive abilities, including a powerful memory.28 In 1724, a short text showcasing his knowledge of Danish history and speeches he made in the presence of the Danish king during a visit to Copenhagen were published; however, he did not live long enough to make any fundamentally new scholarly contributions.29 Jean-Philippe, on the contrary, was able to do more. For example, François reported that by the time his son was eight years old, he had transcribed a substantial collection of Hebrew texts and “added to it a new Translation.”30 Additionally, he created his own, entirely new dictionary of the “most rare and difficult words of the Hebrew language, in which he interspersed a great Number of curious Remarks and critical Observations.”31 In 1732, at the age of eleven, Jean-Philippe began translating, from Hebrew into French, the travels of Binyamin ben Yonah, or Benjamin of Tudela (1130–1173), a detailed account of a Spanish Jewish man’s travels through the Holy Land, Persia, Egypt and North Africa. Two years later he finished the project — complete with his own notes and eight dissertations — and it was published in Amsterdam.32 At this point in his life, Jean-Philippe grew increasingly interested in the study of astronomy, practical mathematics, geography and the “doctrine of the globes.” By the end of 1734, he “had attained Ideas so clear and strong of all the Systems, as well ancient as modern, that he began to think of making new Discoveries.”33 To this end, he made an Astrolabe, “drew up astronomical Tables” and “invented new 27 28

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See Baillet, Des enfans devenus célèbres (1688); von Seelen, De praecocibus eruditis (1713); Klefeker, Bibliotheca Eruditorum Praecocium (1717). See Christian von Schöneich, Merkwürdiges Ehren-Gedächtniß, von dem Christlöblichen Leben und Tode, des weyland klugen und gelehrten Lübeckischen Kindes, Christian Henrich Heineken (Hamburg: Kißner, 1726). See Christian Heinrich Heinecken, Vorschmak der Alten, mitlern und neuen Dänischen Geschichte (Lübeck: Koop, 1724) and Christian Heinrich Heinecken, Des Berühmten Lübeckischen Säuglings, Christian Henrich Heineken, An- und Abschieds-Reden, an seine königliche Majestät zu Dännemarck und Norwegen, Friederich den Vierten (Lübeck, 1724). Baratier, An account of the life of John Philip Barretier, 5. It was a collection of Hebrew texts published by Henricus Opitius called Biblia Parva. Baratier, An account of the life of John Philip Barretier, 5. Binyamin ben Yonah, Voyages De Rabbi Benjamin Fils De Jona De Tudele [...] Par J. P. Baratier. Etudiant en Theologie (Amsterdam, Aux depens de la Compagnie, 1734). Baratier did not believe that Benjamin de Jona actually had traveled through the countries he describes, but rather had compiled several accounts of other travelers. Baratier, An account of the life of John Philip Barretier, 13.

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Methods of Calculation, or such at least as appeared new to him.”34 He even formed some “Schemes for finding Longitude,” which he sent to the British Royal Society for consideration in February of 1735.35 The “schemes” proposed “a way to find Longitude at Sea, by observing the Distance of the Moon from some fixed star, the nearer the star is to the Moon the better […]”.36 The experience was an eye-opening one in that it taught him the importance, and difficulty, of demonstrating the originality of a new project, instrument or method. Although willing to consider Jean-Philippe’s scheme, and surprised to receive such a detailed proposal from a 14-year old, the Royal Society membership was not convinced of the method’s originality; their main critique was that there was nothing new about it. Summarizing the group’s conclusions, a Mr. Hodgson wrote: The method he here proposes is an Old Method, and has been made use of by Astronomers to determine the Place of the Moon from Observations made on the Land, and is the Method that has been long recommended to our Navigatours, and would have been put in use long ago if proper Instruments could have been had and the Lunar Theory brought to greater perfection than it is at present; and to obtain this End, was the principal motive that induced King Charles the second to build the Royal Observatory, so that no new light is hitherto given us by this Method of his, toward the solution of that famous Problem […].37

Hodgson noted that Baratier had not actually produced any new observations, gave a “feigned example” and provided only a general account of tables he claimed could “render Astronomical Calculations of all kinds.”38 He attributed Baratier’s underdeveloped scheme to his not having had sufficient time — he was still so young — or means to do the work needed to generate something new, noting: When he wrote this Paper, he says, he was without Books, and very busy in preparing for a Journey to Stettin, in Pomerania, or Berlin, which was the reason he made use of a feigned Example […]39

Speaking for the group, Hodgson encouraged Baratier to continue his efforts and to resume contact with them when he made more progress:

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Baratier, An account of the life of John Philip Barretier, 13. Many scientific associations were focused on resolving a range of navigational problems by developing new observational tools and methods throughout this period. For a recent introduction to the topic, see Rebekah Higgitt and Richard Dunn, Finding Longitude: How Ships, Clocks and Stars helped solve the Longitude Problem (London: Collins, 2014) and Rebekah Higgitt, Richard Dunn and Peter Jones, eds., Navigational Enterprises in Europe and its Empires, 1730–1850 (Palgrave Macmillan, 2016). Repository: Great Britain (GB) 117, The Royal Society, Letter book original (LBO), LBO/21/101: “An Account of the Method, proposed by John Philip Baraterius for finding the Longitude at Sea,” as Communicated by him to the Royal Society, with some Remarks by James Hodgson, February 4, 1735. GB 117, The Royal Society, LBO/21/101: “An Account of the Method,” February 4, 1735. GB 117, The Royal Society, LBO/21/101: “An Account of the Method,” February 4, 1735. GB 117, The Royal Society, LBO/21/101: “An Account of the Method,” February 4, 1735.

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What I have here said relating to his Method of finding the Longitude will I hope no way turn to the prejudice of a youth, who has so distinguished himself in Learning, and who has given so early a proof of an uncommon genius in arriving at so great a knowledge in the science of Astronomy, at an Age when others are just beginning to Learn […].40

Complementary, yes, but the message about his method’s lack of originality made a big impression on Jean-Philippe. When he reached out to the Royal Society again two years later, he was careful to emphasize the incrementally innovative aspects of the methods and instruments he had made central to his project. The first half of 1735 was indeed a busy time for Jean-Philippe and his parents, who were faced with the prospect of a big move: not to Stettin as they had originally planned, but to the university town of Halle instead. While Jean-Philippe was studying the “science of globes,” navigation and astronomy, his father accepted a call to Stettin to lead that city’s French Protestant Church; he also hoped that a move would generate some new opportunities for his son. The family packed up and began their journey to Stettin, but stopped at several universities along the way, including the University of Altdorf, Jena, Leipzig and Halle.41 Formey and other accounts of their journey report that the family was most warmly welcomed in Halle, where they also had several acquaintances. Many of Halle’s professors were curious to meet the family because they had read François’s account (Merkwürdige Nachricht) of the methods he used to raise Jean-Philippe; according to Joachim Böldicke (1704–1757), who studied theology in Jena and Halle from 1726 to 1732, there even had been some effort to experiment with these methods in the Pädagogium.42 After arriving in Halle, the Baratiers met with Johann Heinrich Schulze (1687– 1744), a family friend with a variety of longstanding ties to Halle, the University and the Franckesche Stiftungen. Schulze had attended school in the Halle Orphanage starting in 1697 and, supported by August Hermann Francke (1663–1727), went on to study medicine and theology at the University.43 Schulze had also taught for a while in the Pädagogium and worked as an assistant, or Famulus, for Friedrich Hoffmann (1660–1742) before accepting a call to Altdorf as a Professor of Anatomy and Surgery in 1720. While in Altdorf he became friends with the 40 41 42

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GB 117, The Royal Society, LBO/21/101: “An Account of the Method,” February 4, 1735. See Formey, The Life of John Philip Baratier, 263–264. See Joachim Böldicke, Methodus Lockio-Barateriana (Berlin: Gäbert, ca. 1735). From the preface (Vorrede): “In dessen wurde im Paedagogio regio Hallensi gebrauchet, und bekam unter andern des Lockii Tractat von Erziehung der Kinder, und des Herrn Baratiers gelehrten Brief von Unterrichtung seines Herrn Sohnes, nunmehro hochgelehrten Magistri Philosophiae zu lesen. Dis war nun das Werck, welches mir die Augen öfnete, daher ich Gelegenheit nahm, so viel sichs in öffentlichen Anstalten wolte thun lassen, davon eine Probe zu machen. Ich fand alles gegründet […]”. Böldicke went on to direct a school in Königsberg, where he began his own series of educational experiments based on François’s methods and what he had observed as a student. See Hans-Dieter Zimmermann, “Schulze, Johann Heinrich“ in: Neue Deutsche Biographie vol. 23 (2007), 725–726.

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Baratiers but had returned to Halle to teach in 1732.44 Schulze introduced the Baratier family to the Chancellor of the University of Halle, Johann Peter von Ludewig (1668–1743), and thus began a kind of early recruitment effort to entice Jean-Philippe to attend the University of Halle.45 Impressed with the now fourteen-year-old prodigy, Ludewig invited Jean-Philippe to participate in an examination by Halle’s Philosophy faculty so that he could be awarded an honorary Masters degree. Jean-Philippe agreed, matriculated on March 8th, 1735 and was admitted to a public disputation that was held the next day in the public hall of the University.

Fig. 2: University Archive Halle-Wittenberg (UAHW), Rep. 46, Nr. 3 (1724–1741), Matrikeleintrag

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See Zimmermann, “Schulze, Johann Heinrich“ in: Neue Deutsche Biographie vol. 23 (2007), 725–726. Recounted in Johann Christoph Dreyhaupt, “Johann Philipp Baratier” in “Das 23 Buch: Lebens-Beschreibungen gelehrter und berühmter Leute, welche entweder zu Halle gebohren oder daselbst in Ehren-Ämtern und Bedienungen gestanden haben,” Pagus Neletici Nudzici, Teil 2, (Halle: Schneider, 1749–1750), 578 and Formey, The Life of John Philip Baratier, 264.

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Fig. 3: University Archive Halle-Wittenberg (UAHW), Rep. 21, Nr. 261, Magistereintrag

At least 2000 people turned up on March 9, 1735 to watch Jean-Philippe extemporaneously defend — for roughly three hours — fourteen theses on various subjects, including astronomy.46 Ludewig presided over the event and Johann Joachim Lange (1670–1744) served as the respondent, “at which appeared a crowded Audience of Students and other Persons of all Ranks.”47 Jean-Philippe reportedly displayed such “authentic Proofs of his Capacity” that he was “solemnly admitted Master of Arts, with universal applause,” by official proclamation.48 From Halle, the family traveled on to Berlin, where they spent several weeks at the court of King Friedrich Wilhelm I, who wanted to meet the now famous young prodigy. Interestingly, the previous Fall and Winter, only a few months before the 46 47 48

Johann Joachim Lange and Jean-Philippe Baratier, Theses Philosophicae Inaugurales Variae (Halle: Hendelii, 1735). Formey, Life of John Philip Baratier, 265. Formey, Life of John Philip Baratier, 265–266.

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Baratiers’ arrival, the king’s advisors had been closely monitoring a variety of reports circulating about another Wunderkind in the area: Johann Ludwig Hohenstein (1731–1736), who lived in a nearby village called Kehrberg.49 Friedrich Wilhelm’s direct involvement in the case was minimal as he was quite ill from roughly the end of September 1734, until the end of January 1735; yet, during this period he sanctioned a formal investigation of the child and his parents.50 Little Johann had become famous because of the special healing powers he reportedly possessed. Hundreds of people actually made pilgrimages to Kehrberg and claimed to have been cured by him of various ailments. However, court investigators concluded that four-year-old Johann was a fraud, that the methods he used were simple, often ineffective and, revealingly, that they did not result in anything new. In some but not all cases, those who visited young Hohenstein claimed to be restored to health, but experts detected no evidence of proficiency or learnedness on the child’s part (or on the part of his father, a blacksmith). Ultimately, Friedrich Wilhelm ordered the arrest and imprisonment of Hohenstein’s parents and sent Johann to an orphanage in Berlin. He was living here and his parents were pleading to be released when the Baratiers arrived in the city. Friedrich Wilhelm took Jean-Philippe’s special status as a child genius seriously and enjoyed his company. Almost every day, for roughly six weeks, Jean-Philippe was “ordered into the Royal Presence” for conversation, sometimes several times a day.51 The queen gave him money, “several volumes of Mathematics and Philosophy, handsomely bound” and had a portrait made of him by the King’s painter, Antoine Pesne.52 By the end of his stay he had become a member of the Berlin Academy of Sciences.53 More than anything else during this period, Jean-Philippe enjoyed spending time with astronomer Christfried Kirch (1694– 1740) in the Berlin Observatory. And even though the king “had no great Relish of Astronomy, and even would have disswaded our young Philosopher from it,” seeing how much he loved it, he “had the Bounty to present him 100 Crowns to 49

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See Hans Serner, Der Kehrbergische Wunderkind: Dokumentation einer Tragödie (Nordhausen: Bautz, 2013); Adam Spies, Umständliche und wahrhaffte Nachricht von dem so genanndten erstaunens-würdigen Kehrbergischen Wunderkinde (Berlin, 1734). During this period, the king was attended to by the Halle based professor of medicine, Friedrich Hoffmann, who was still at court and able to welcome the Baratiers when they arrived. See Ernst Ludewig Rathlef, Geschichte Jetztlebender Gelehrten, als seine Fortsetzung des Jeztlebenden Gelehrten Europa: Anderer Theil (Zelle: Deetz, 1741), 541–542; for detailed description of this illness, see the Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 46 K 2 Journal von Sr. Königl. Majestät Kranckheit, 1734–1735. See Formey, Life of John Philip Baratier, 266. See Formey, Life of John Philip Baratier, 267. According to Formey, she “placed it at Monbijou, a Pleasure House of her Majesty’s in one of the Suburbs of Berlin, amongst those of the celebrated Men, which she had collected with great Care and Expense.” See Formey, Life of John Philip Baratier, 268. The president of the Academy, Daniel Ernst Jablonski, invited him to join because of his work in the mathematical sciences, his efforts to solve the longitude problem and his correspondence with the British Royal Society. In Geschichte Jeztlebender Gelehrten: Anderer (2ten) Theil (1741), 544–545.

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buy Instruments, and ordered an astronomical Pendulum to be made for him at Potsdam, according to his own model.”54 Predictably, Friedrich Wilhelm maneuvered to ensure that the talents of his new favorite child prodigy were put to the best possible use. He and his court destroyed the reputation of the Hohenstein family, labeling them as frauds, while lifting up the Baratiers. Why would they do this? In short, Jean-Philippe’s talents were more versatile, more readily and consistently evident and more directed toward innovations and the expansion of a wide range of knowledge projects through his scholarship, observations and proficiency in practical mathematics and astronomy than Johann Hohenstein’s were. The king decided to take advantage of Jean-Philippe’s genius and to groom him for a career as a state official. He directed him to devote more of his time and energy to the study of the law. To this end, he had his father François appointed as the pastor of Halle’s French Reformed Church — instead of Stettin’s — and granted Jean-Philippe a full pension to study law at the University for four years.55 After their several weeks stay in Berlin, the family returned to Halle in April of 1735; the special astronomical Pendulum the king had made for Jean-Philippe in Potsdam was waiting when he arrived.56

Halle’s Culture of Innovation and Baratier’s projects When Jean-Philippe Baratier returned to Halle, where he spent the last four years of his life, he had already achieved celebrity status. At least 2000 people had witnessed him become a Magister in one of the most important rituals of the University and many more had heard stories of his special abilities. All eyes were on him, which made it possible for him to serve the crown’s interest by drawing more attention to particular kinds of projects and initiatives. Jean-Philippe became a new kind of exemplary child, a symbol of a young and engaged intellectual whose studies of ancient languages, history, philosophy, mathematics, astronomy and more yielded tangible results: translations, instruments, inventions and schemes that could be applied to the overall improvement of communities and eventually the state. In their recent summary of the scholarship on projecting and innovation culture, Vera Keller and Ted McCormick explain that throughout the early modern era “‘projects,’ ‘projecting,’ and the ‘projector’ had specific and contentious implications, linking new knowledge and technology with changing articulations of the

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Formey, Life of John Philip Baratier, 269. See Formey, Life of John Philip Baratier, 270. See Formey, Life of John Philip Baratier, 269.

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public good and the improvement of society.”57 In the German lands by the 1720s and 30s, Keller and McCormick note that cameralists came to share “an epistemology of the possible,” distinguishing themselves as “connoisseurs of projects” and managers of a culture of problem solving through the implementation of new ideas.58 Related to this preoccupation with projecting more generally was a particular interest in better understanding the processes through which gifted individuals became inspired to create new inventions.59 The period’s quintessential projector, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), developed a wide range of “sketches of thoughts and inventions,” including a “project of a scientific exhibition” that would showcase a range of new machines, technologies and more.60 Such an enterprise, focused as it was on innovation and newness, Leibniz viewed as intrinsically useful; indeed, he (and others) often used the terms interchangeably: The use of this enterprise to the public as well as to the individual would be greater than might be imagined. As to the public, it would open people’s eyes, stimulate inventions, present beautiful sights, instruct people with an endless number of useful or ingenious novelties. All those who produce a new invention or ingenious design might come and find a medium for getting their inventions known and obtain some profit for that […]61

While certain individuals and institutions were poised to benefit more from the constant creation of “useful or ingenious novelties” than others, central to the culture of projecting and innovation was the idea of public and personal improvement and the pursuit of “usefulness” as a form of self-cultivation.62 All eighteenth-century cultures of innovation had their own signature characteristics and Halle’s was no exception. Central features included a young Universi57 58

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Vera Keller and Ted McCormick, “Toward a History of Projects,” Early Science and Medicine 21 (2016): 2. For more on “project making,” see footnote 13. Keller and McCormick, “Toward a History of Projects,” 16. The literature on German cameralism is vast. For a provocative introduction to it, see Andre Wakefield, The disordered police state: German cameralism as science and practice (Chicago: University of Chicago Press, 2009). As Ann Jefferson explains, discussions of Genius in the period invited “speculation about its origins and operations, expressed in the question, ‘How do they do it?’” In Jefferson, Genius in France, 2. See also Alex Marr and Vera Keller, “The Nature of Invention,” Intellectual History Review Special Issue: Early Modern Invention 24 (2014): 283–286. For a recent study of Leibniz’s “wind machine” projects, see Andre Wakefield, “Leibniz and the wind machines,” Expertise (2010): 171–188. “The profit for the private individual would be great […]. Perhaps some curious Princes and distinguished persons would contribute some of their wealth for the public satisfaction and the growth of the sciences. In short, everybody would be aroused and, so to speak, awakened […]”. Translated by and quoted in Philip P. Wiener, “Leibniz’s Project of a Public Exhibition of Scientific Inventions,” Journal of the History of Ideas (1940): 238–239. For more recent work on Leibniz and projecting culture, see Martin Gierl, “Science, Projects, Computers and the State: Swift’s Lagadian and Leibniz’s Prussian Academy,” in Novak, ed., Age of Projects, 297–317. See Kelly J. Whitmer, “Imagining uses for things: Teaching ‘useful knowledge’ in the early eighteenth century,” History of Science 55 (2017): 37–60.

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ty whose statutes promised a less contentious approach to intellectual engagement and the Orphanage complex, famously described by the first director, Francke, as a “universal project” focused on the improvement of society.63 The Orphanage was designed to cultivate the talents of spiritually gifted children, such as Christian Lebrecht von Exter aus Zerbst, and to create a new generation of gifted, exemplary children.64 Its Kunst- und Naturalienkammer signaled the Orphanage’s status as a scientific institution and functioned as a semi-public museum throughout much of the early eighteenth century.65 It housed a variety of curious objects, architectural models and instruments, including a device for measuring longitude at sea called the inclinator (or dipping needle). As I have explained elsewhere, there was a great deal of interest in treating this inclinator as a symbol of the community’s commitment to educating scientific observers and promoting the development of new technologies.66 Two individuals with close ties to the Orphanage — Christoph Semler (1669–1740) and Christian Eberhard (1675–1750) — had built the inclinator together in Halle in the early 1720s; Eberhard had even traveled to London to present it to the British Royal Society, which remained unconvinced of its effectiveness yet conducted several tests with similar instruments at sea.67 Now based in Halle by the autumn of 1735, Jean-Philippe immediately began work on a variety of projects. He began “to read publick Lectures to the students” on the Book of Job, Astronomy and ancient Ecclesiastical history.68 Formey recounted that he “took great Pains to form a literary Society amongst the Gentlemen of that University: He even drew up a Plan, which he proposed to some of the Professors, offering himself to be Secretary to the Assembly. This Project not succeeding, or being defer’d from time to time, he associated with some Students of the Place, who were approv’d by his Parents. With these he read the Journals, and such Books as were newly publish’d, all which they jointly examin’d and gave their Opinions of. This Society he kept up as long as his Health allow’d or he found good Materials to keep it alive. Their Custom was to meet alternatively at each others House, or some Party of Pleasure out of Town. He also visited the Professors when their Conveniency allow’d.69

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See Whitmer, Halle Orphanage, chapter one. See August Hermann Francke, Eines zehen-jährigen Knabens Christlieb Lebrecht von Exter aus Zerbst (Halle: Waisenhaus, 1708); for more on this particular model child, see Kelly Whitmer, “Model Children and Pious Desire in Early Enlightenment Philanthropy,” in eds. Childhood and Emotion across Cultures, edited by Claudia Jarzebowski and Thomas Max Safley (New York: Routledge, 2014), 15–27. See Whitmer, The Halle Orphanage; Thomas Müller-Bahlke, Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen (Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 2012). See “Chapter Five: An Observator and his Instrument,” in Whitmer, The Halle Orphanage, 86–107. See “Chapter Five: An Observator and his Instrument,” in Whitmer, The Halle Orphanage, 86–107. See also Grosses vollständiges Universal-Lexicon, s. v. “Semler, Christoph,” 1775– 1776. Baratier, An Account of the Life of John Philip Barretier, 21. Formey, The life of John Philip Baratier, 304.

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While he technically followed the king’s orders to study law by attending the lectures of professors in that faculty, he “spent all his other Time upon different Studies” and focused on building a community of intellectuals with whom he could exchange ideas.70 Formey reported that throughout his entire first year in Halle Jean-Philippe continued to intensively study natural philosophy, mathematics and astronomy; he took care to note that “scarcely any Author, ancient or modern, that has treated on those Parts of Learning was neglected by him, nor was he satisfied with the Knowledge of what had been discovered by others, but made new Observations, and drew up immense Calculations for his own Use.”71 One of his primary instructors during this period was Johann Joachim Lange, with whom he “went through a Course of natural Philosophy.”72 Indeed that same year, 1735, Lange’s Elements of Natural Philosophy (Elementa Philosophiae Naturalis) appeared on the Halle Orphanage press.73 Although unacknowledged in accounts of his time in Halle, Jean-Philippe would have had ample opportunity to learn about Semler and Eberhard’s inclinator and the story of its journey to London. Both men were living in Halle when the Baratiers arrived and throughout the 1730s Semler continued to offer a Collegium in the mechanical sciences for University students in the city.74 Semler’s collegium included an introduction to the study of universal geography, practical mathematics, astronomy and his special “magnetical” instrument for measuring longitude at sea. Jean-Philippe may not have directly credited Semler (or Eberhard) for their efforts, but evidence of his familiarity with the inclinator and attempts to continue with this project emerged a couple of years later. In December 1737, he reached out from Halle to the members of both the British Royal Society and the Paris Academy of Sciences; he informed them that he had made progress with his research and that he had placed an inclinator at the center of his new schemes.75 In two letters to the Royal Society dated December 10, 1737, Jean-Philippe apologized for not following up after their earlier exchange, insisting he did not

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Baratier, An Account of the Life of John Philip Barretier, 21. Baratier, An Account of the Life of John Philip Barretier, 22. Formey, The life of John Philip Baratier, 273. Johann Joachim Lange, Elementa philosophiae naturalis: Dogmaticae et experimentalis (Halae: In Officina Orphanotrophei, 1735). See Johann Christoph Dreyhaupt, “Christoph Semler” in “Das 23 Buch,“ 719. There are also advertisements for Semler’s mechanical Collegium in the Wöchentliche hallische Anzeigen. In one of his 1737 letters to the British Royal Society, he asked the membership to send special greetings to Hans Sloane (1660–1753) and to Edmund Halley (1656–1742), whose work in the philosophy of magnetism he said “was the first that brought it out of darkness into Light and therefore will without doubt be pleased to see it carried on farther.” In Repository Great Britain (GB) 117 The Royal Society Archive: Early Letters: original manuscripts of letters to the Royal Society (1651–1740) (EL), EL/B3/65: “Translation of a letter from John Philip Baratier to Philip Henry Zollman,” December 10, 1737.

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want to waste the time of the membership until he truly had a “considerable new Discovery” to offer. He wrote: I was unwilling to write useless words to persons of such vast application; and I looked upon as useless all such words as do not tend to the improvement of the sciences. For which reason, I resolved to wait till I could adorn my Letter with some considerable new Discovery and thereby show my self not entirely unworthy of your Favour.76

Jean-Philippe acknowledged that his previous scheme had not been innovative enough mainly because he had been prevented from “reducing to Practice what [he] had then conceived in Theory.” He explained that he “did not want to relapse in the fault [he] had formerly committed of prescribing to Sailors such observations as were impracticable on a rough Sea.” Therefore, he resolved to demonstrate “how the Longitude may be sought” using “those Instruments and Observations, which are daily made use of by sailors.”77 Central to his approach was using the inclinator to measure magnetic variation in a variety of locations and to record these measurements on a geographical map — basically Semler and Eberhard’s approach as well. Yet, Baratier argued his innovation would be to more systematically organize the wide range of magnetic observations that already existed and to take even more reliable measurements with a better constructed instrument. In a similar letter he wrote to the Paris Academy membership, he said: “I have studied to contrive an Instrument by which we may instantly, by a single Observation, find at once the Meridian Line, the Elevation of the Pole and other Things: And I have a Friend, very skilfull in these Affairs who has already invented an Instrument of this Nature.”78 To the Paris Academy of Sciences membership he stressed: “By this you will see that my Projects are not chimerical, and I imagine, this Discovery is important enough to merit your Regard. It is at least new, if I am not much deceived.”79 Since he did not provide all the details of his new scheme though, only promised to send them later, the members of the British Royal Society were understandably skeptical. “Do inform him,” the Royal Society secretary wrote, “that the Society are not enabled to say anything concerning any Project whilst it is a Secret […];“ indeed, the members wondered how his Proposal differed — if it did at all — from “another made many years ago by Mr. Whiston here in England.”80 The 76 77 78

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GB 117 The Royal Society Archive: EL/B3/67 “Translation of a letter from John Philip Baratier to Philip Henry Zollman,” December 10, 1737. GB 117 The Royal Society Archive: EL/B3/67 “Translation of a letter from John Philip Baratier to Philip Henry Zollman,” December 10, 1737. Formey, Life of Baratier, 277. Although fuzzy on the details, this “friend” may have been Semler. Formey suggested it was possibly a family friend, a Mr. Bardin, who pastored a French Reformed church in Magdeburg at the time and was “a great Genius for the Mathematicks.” Formey, Life of Baratier, 280. Formey, Life of Baratier, 282: “Minute of the Royal Society, January 26, 1738, relating to Mr. Barattier’s Proposal.” William Whiston conducted a variety of tests with inclinators after meeting Eberhard, Semler’s collaborator, when he visited London.

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response from Paris was warmer; the secretary, Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1757) wrote to say that “Whatever M. Baratier thinks fit to send to the Academy, he may assure himself will be received, not only with Pleasure, but with a Kind of Prepossession in his Favour […]”.81 Jean-Philippe responded with a more thorough description of his project, which the Paris Academy members evaluated in turn; while enthusiastic, they concluded it was very similar to one proposed by a French geographer, A. Phérotee de la Croix (1640–1715), many years ago.82 While they described it as an “ingenious Scheme,” they also stressed that it would not be useful “(un)til we can render the Changes of the Needle’s Inclination uniform and sensible, or reduce them to some known Law. This M. Baratier is no doubt capable of doing, if the Thing be possible.”83 Jean-Philippe chose not to pursue this particular project any further. He seems to have become disheartened by the Paris Academy and British Royal Society’s conclusion that his efforts to build upon ideas associated with an earlier generation of projectors — la Croix, Whiston, Semler — were not enough; he generated some renewed interest among the membership but could not sustain a broader commitment to the new approach he claimed to be offering. Abandoning the project was a way for him to preserve his reputation and to escape the criticism that his various schemes in the field of practical mathematics, astronomy and navigation were not useful. He had recognized the potential and made some new suggestions. But instead of continuing his research, he turned his attention to other projects. Formey described how he chose to “employ his Genius on War and Fortification, examining, criticizing and comparing the Conduct of the greatest Commanders, ancient and modern; drawing up Rules and Maxims proper to this Science, and even inventing new Plans of Fortification and contriving new Instruments of War.”84 He also began a study of ancient Egyptian history (he was writing a book about “the Principles of Egyptian Astronomy” shortly before he died), a dissertation on the Chinese language and a new treatise on the study of medals.85 Jean-Philippe may have also chosen to abandon his work on the inclinator and further developing his navigational scheme because his health was rapidly declining. He developed a tumor in the thumb of his right hand in 1731 that was treated by various physicians and surgeons over the years. In the spring of 1739, another tumor appeared in his neck, along with a “troublesome cough” and bouts of ex-

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Formey, Life of Baratier, 283. Jean-Philippe was related to one of the members of the Paris Academy, a connection that helped him garner the attention that he did. See Formey, Life of Baratier, 285. A. Phérotee de La Croix was best known for authoring an influential work of universal geography called La Geographie Universelle (Lyon, 1688) or Geographi Geographia Universalis Das ist: Allgemeine Welt-Beschreibung Nach neuer Art und Weise (Leipzig, 1697). Formey, Life of Baratier, 285. Formey, Life of Baratier, 285. Formey, Life of Baratier, 288–296.

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treme exhaustion.86 After growing increasingly reclusive and less involved in the various projects and collaborations he had initiated with other scholars in town, he died on October 5, 1740. Various members of the University community sprang into action and “erected a literary monument” in his honor.87

Fig. 4: Left: Engraving from Johann C. Dreyhaupt, Pagus Neletici Nudzici, Teil 2 (Halle: Schneider, 1749–1750); Right: Titlepage engraving from Jean-Philippe Baratier, Anti Artemonius Seu Initium Evangelii Sancti Johannis Apostoli (Norimbergae: Rüdigerus, 1735).

Formey noted that this particular honor was “more generous on the side of the University, and more glorious to the Deceas’d, as he was a Foreigner, with respect to Country, and a different Communion”.88 The university paid for, “at the publick Charge, the academical Honours of his Funeral” and printed an account of his life story, “accompanied with an Elegy from every Professor. Thirty ocular Witnesses,

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Formey, Life of Baratier, 294. Formey, Life of Baratier, 310. Formey, Life of Baratier, 310.

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of undoubted Capacity, agreed to represent him as a Prodigy of Learning, which excited their joint Admiration.”89 Although he was already famous as a remarkable learned person, Jean-Philippe’s premature death, at age 19, was in some ways necessary to ensure the staying power of his reputation as a prodigy. In the elegy he gave at Jean-Philippe’s funeral, Halle University’s Chancellor, Ludewig, acknowledged that his singularity hinged on his ability to accomplish so much, in so many fields, in such a short time: I know that in all Ages early Geniuses have appeared, whose Characters and Names are commended in History. I mean not to detract from the Merit of these. But our Youth by his Writings and Conversation has convinced us that he deserves the Palm. Those who have made early Improvements in some particular Branch of Learning only, must yield the Wreath to him, who scarce past his Infancy, yet knew the whole circle of Learning. […] cut off by Death, he was snatch’d away from his Parents, from our University, and the learned World, a publick Loss! October 5, 1740. His remains I have taken into my Family Tomb […] that he whom I lov’d while living, may accompany me in the Grave, perhaps soon, for I am now above seventy. So is the Order of Nature revers’d.90

For Ludewig and other University literati, Jean-Philippe’s life and accomplishments marked a strange reversal of the “order of nature,” a nod to the older set of meanings surrounding prodigies as monsters and preternatural phenomena.91 Yet he was also a new kind of genius and, as Ludewig stressed, his accomplishments extended beyond what “early Geniuses” from previous Ages had produced. During his lifetime and throughout the decades following his death some contemporaries debated whether Jean-Philippe’s genius and upbringing, especially the special educational methods described by his father, François, were actually the underlying cause of his poor health and premature end.92 The impact of his learnedness on his body, physical strength and personal wellbeing became a subject of mounting concern. Yet, Ludewig, Formey and their colleagues were intent on portraying his death mainly as a public loss mainly because the techno-scientific innovations he was working on alongside a variety of scholarly endeavors could no longer be realized in the way that he had hoped. Those who stood to benefit from the projects he had left unfinished no longer would benefit. Still, his example signaled unending possibility, the potentiality that goes hand in hand with simply being young. Jean-Philippe must have understood the role that the king, his parents, teachers and friends believed he could play in Halle. According to Formey, while living there — he also tended to “wander from one Project to another” and

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Formey, Life of Baratier, 310–311. Formey, Life of Baratier, 312–313. See esp. Daston and Park, Wonders and the order of nature and the literature described in footnote 5. There is an interesting discussion of this specific issue in the footnotes of Lange and Baratier, Theses Philosophicae, 15ff.

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was said to have preferred it this way.93 Doing so allowed him to draw attention to a host of possibilities in all fields and to grow his network of collaborators, crucial to the success of an “innovation culture” in Halle — and beyond.

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Formey, Life of Baratier, 297.

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Die Fridericiana in der Krise? Frequenz und Flor als Kriterien für den Erfolg einer frühneuzeitlichen Universität am Beispiel der Alma Mater halensis Diagnose: Die Krise in der Sicht der Zeitgenossen und der Historiographie Universität im Verfall, so lautete das Urteil über die Friedrichs-Universität im Jahr 1730, das auf Seiten der für die Hochschulpolitik verantwortlichen Berliner Regierung gefällt wurde. Am 3. 5. 1730 forderte König Friedrich Wilhelm I. das Generaldirektorium in Berlin auf, Vorschläge zu erbringen, wie die Situation der Universität in Halle zu verbessern sei: Nachdem Sr. Königl. Majestaet in Preußen, unser allergnädigster Herr in sichere Erfahrung gebracht, welchergestalt dero vorhin so florisant gewesene Universitaet Halle von kurtzer Zeit her in großen Abfall gerathen, so gar daß der Numerus der itzo aldort befindlichen Studenten sich nur, außer denen in Glaucha sich aufhaltenden Theologen, auf 722 beläuft; so befehlen Sie dero General Ober-Finantz Krieges- und Domainen Directorio hiedurch in Gnaden, darauff ernstlich zu gedencken, und deßfalß Vorschläge zu thun durch was Mittel dieser Universität wieder geholfen werden könne.1

Dieselbe Anweisung erging auch an den gemäß den Statuten und Privilegien und anstelle des hier vom König ins Spiel gebrachten Generaldirektoriums eigentlich zuständigen Oberkurator Friedrich Ernst von Knyphausen.2 Den Anlass für die drastische Diagnose hatte ein Schreiben des Rats der Stadt Halle geliefert, das jedoch in den Akten nicht mehr überliefert ist.3 Aus einem späteren Rechtfertigungsschreiben der Universität an den König vom 21. 5. 17304 lassen sich die Vorwürfe jedoch rekonstruieren. So hatte die Stadt Halle die sehr niedrige Studentenzahl von nur 722 Personen moniert und den König damit offensichtlich in Alarmbereitschaft versetzt und den Eindruck ausgelöst, die Universität befände sich im Verfall. Vorwürfe aus der Landschaft Magdeburgs und der Stadt Halle 1 2 3

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Ordre an Generaldirektorium am 3. 5. 1730, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (= GStA PK), II. HA, Abt. 15,Tit. CXIII, Sekt. 13, Nr. 15, Bl. 1r–1v. Vgl. König an von Knyphausen am 3. 5. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723– 1768), Mappe 14, unpag. Es existiert ein Bericht der Deputation vom 13. 4. 1723, in der sich im Zusammenhang mit der Errichtung eines Pfandleihhauses kritisch über die finanzielle Disziplin der Studenten und das Schuldenmachen geäußert wurde, vgl. Bericht der Salz- und Bergwerksdeputation in Halle an die Kriegs- und Domänenkammer in Magdeburg am 13. 4. 1723, Landesarchiv Sachsen-Anhalt (= LASA), Abteilung Magdeburg (= MD), Rep. A9a, Hall U, Nr. 5, Bd. 1, unpag. Vgl. Apologie der Universität am 21. 5. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723– 1768), unpag.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-006

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gegen die Universität kannte man dort, vor allem jedoch aus der Anfangszeit der Alma Mater, als sich die Landschaft und die Stadt Halle gegen die neue Institution zur Wehr setzen.5 Der daraus resultierende Vorwurf des Königs gegenüber der Universität in Halle war jedoch etwas Neues, schien die Geschichte der Fridericiana bis dahin doch ein einziger Erfolg gewesen zu sein, womöglich nur mit Ausnahme der Geschehnisse um Christian Wolff und dessen Abgang aus Halle im Jahr 1723, in welchem Zusammenhang sich die Mitglieder der Berliner Regierung und der König intensiver als gewöhnlich mit der Fridericiana befassen mussten.6 Diese Episode des Jahres 1730 um die Verfallsvorwürfe und um den anschließenden Umgang mit diesen bietet eine Blaupause, um zu fragen, wie eine frühneuzeitliche Universität eigentlich bewertet wurde. Was machte ihren Erfolg und ihre Leistungsfähigkeit aus? An welchen Qualitätskriterien wurden sie gemessen? Welche Rolle spielte dabei die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Innovation, also die Innovativität der Professoren, wenn man diese als Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit der Institution annimmt? Die Universitätsgeschichte hat hier ein klares Urteil gefällt: Aus dem zeitgenössischen Verfallseindruck wurde in der universitätsgeschichtlichen Literatur die Diagnose einer regelrechten Krise der Fridericiana. Schon Johann Christian Förster kritisiert die steigende Anzahl der Extraordinarien, für deren Besoldung die universitären Einnahmen zu gering gewesen seien.7 Wilhelm Schrader lässt die erste „Blüte“ der Universität 1730 enden und diagnostiziert den „Rückgang der ursprüngl. Kraft“.8 Mehr und mehr wird das Jahr 1730 zu einer Zäsur in der Universitätsgeschichte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die den Niedergang der Fridericiana markiert. Der Verlust der Gründungspersönlichkeiten der Alma Mater und eine schlechte Personalpolitik werden dabei argumentativ miteinander verbunden. Nach Bernhard Weißenborn verdienen nur die Professoren der ersten Generation das Label der Außerordentlichkeit: „Nur die erste Gelehrtengeneration war so bedeutend, die zweite war bis auf ein paar Ausnahmen recht unfruchtbar.“9 Der Abgang bzw. das Absterben berühmter Professoren und die Besetzung der Stellen mit Personen, denen es an der nötigen Innovativität gemangelt habe, habe anschließend die Abnahme der Studentenzahlen nach sich gezogen. Zugleich habe 5

6

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Vgl. Marianne Taatz-Jacobi: „[…] von der Gedeylichkeit undt Ausnehmung der Universität Hall wenig Hoffnung zu machen.“ Die Finanzierung der Friedrichs-Universität Halle im Spannungsfeld von Integrations- und Konfessionspolitik (1691–1694). In: Elizabeth Harding (Hg.): Die Ökonomisierung der Universitäten. Wolfenbüttel 2016 (Wolfenbütteler Forschungen. Bd. 148), S. 113–129, hier S. 119–124. Vgl. dazu Andreas Pečar, Holger Zaunstöck u. Thomas Müller-Bahlke (Hg.): Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe. Halle 2015 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen, Bd. 15). Vgl. Johann Christoph Förster: Uebersicht der Geschichte der Universität Halle in ihrem ersten Jahrhunderte. Halle 1794, S. 130, S. 141. Vgl. Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität. Bd. 1. Halle 1895, S. VII–VIII, S. 273ff. Bernhard Weißenborn: Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg. O. O. 1730, S. 190.

Die Fridericiana in der Krise?

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sich die Zahl der Theologiestudenten gegenüber denen der Rechtswissenschaften und der Medizin drastisch erhöht, und der Adel habe die Universität Halle als Ausbildungsstätte gemieden, so der Tenor in der Literatur.10 Die Verstärkung der Garnison nach dem Abzug der Landesregierung nach Magdeburg und die Werbung von Soldaten in der Stadt, vor der die Studenten trotz anders lautender Edikte nicht sicher waren, hätten der Attraktivität der Universität ebenfalls geschadet, so abermals Förster.11 Auch Disziplinprobleme unter den Studenten werden der Universität negativ angelastet,12 wiewohl sie die Universitätsgeschichte von Anfang an prägten und keine Neuheit der Zeit um 1730 waren oder ein Spezifikum der hallischen Universität darstellten. Bei Notker Hammerstein steht der Verfall der Universität noch dazu in direktem Zusammenhang mit der Vertreibung des für wissenschaftliche Innovation stehenden Christian Wolffs im Jahr 1723, die den Niedergang unter anderem auch durch die damit faktisch beendete Lehrfreiheit in Halle eingeleitet habe.13 Mit dieser Krise der Fridericiana wird die Notwendigkeit der Gründung einer neuen Reformuniversität in Göttingen, die 1737 gestiftet wurde, begründet. Diese Reformuniversität habe als verbesserter Abkömmling den Staffelstab der Aufklärungsuniversitäten übernommen.14 Auch die besonders gute Finanzierung Göttingens mit 16800 Talern gegenüber der eher kärglichen Finanzierung Halles in Höhe von 6700 Talern aus landschaftlicher Kasse, Akzisekasse und hallischer Kammer wird als Argument für den Abstieg Halles angeführt. Insbesondere die oben erwähnte schlechte Ausstattung der Extraordinarien, habe die Entwicklung neuer berühmter Professoren aus der Universität – gleichsam als Kaderschmiede – nicht befördert.15 Eine ähnliche performative Kraft, die der Verfallsvorwurf in den zeitgenössischen 10

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Vgl. Monika Neugebauer Wölk: Der Kampf um die Aufklärung. Die Universität Halle 1730– 1806. In: Gunnar Berg u. Hans-Hermann Hartwich (Hg.): Martin-Luther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen. Opladen 1994, S. 27–56, hier S. 27f.; vgl. auch Axel Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2005, S. 47, S. 113. Vgl. Förster: Uebersicht (wie Anm. 7), S. 74f. Vgl. Johann Christoph von Dreyhaupt: Pagus Neletici et Nudzici, Oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr durch den westphälischen Friedens-Schluß secularisierten Herzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Creyses und aller darinnen befindlichen Städte, Schlösser, Aemter, Rittergüter, adelichen Familien, Kirchen, Clöster, Pfarren und Dörffer, Insonderheit der Städte Halle, Neumarckt, Glaucha, Wettin, Löbejün, Cönnern und Alsleben. Halle 1749/50. Nachdruck Halle 2002. Tl. 1, S. 61. Vgl. Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, S. 149; Ders.: Halles Ort in der deutschen Universitätslandschaft. In: Günter Jerouschek u. Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Hanau u. Halle 1994, S. 18–29, hier S. 25. Vgl. Heinz Kathe: Geist und Macht im absolutistischen Preußen. Zur Geschichte der Universität Halle von 1740 bis 1806. Halle 1981, S. 14f. Vgl. Förster: Uebersicht (wie Anm. 7), S. 76.

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Diskussionen gewinnt, wohnt also eigentümlicherweise auch den Forschungsmeinungen inne, welche den Niedergang der Fridericiana beschreiben und in der bis dahin so erfolgreichen Universitätsgeschichte im Jahr 1730 eine Zäsur setzen.

Symptome: Einbußen bei Frequenz und Flor Den Urteilen der Forschung gemeinsam ist, dass sie sich auf das apologetische Gutachten des Kanzlers der Universität Johann Peter von Ludewig vom 15. August 1730 und das Universitätsreglement vom 1. Januar 1731 als Antwortversuche auf die Verfallsdiagnose stützen. Die Vorgänge jedoch, die zwischen der Anzeige durch die Stadt Halle und der Regulierung von 1731 lagen, wurden nicht untersucht, sondern die Verfallsdiagnose wurde unhinterfragt übernommen. Fragen nach der Reaktion der Berliner Regierung wurden bisher nicht erörtert, eine Analyse der Eigendynamik der Vorwürfe, der politischen Zuständigkeiten und des Umgangs mit den Monita wurde ebenfalls nicht durchgeführt. An dieser Stelle werden die Vorwürfe, die Verteidigungsstrategie und die anschließend getroffenen Maßnahmen daher erstmals analysiert und interpretiert, sodass Aussagen über die Erfolgskriterien einer frühneuzeitlichen Universität am Beispiel der Fridericiana getroffen werden können. Wie Claudia Drese überzeugend dargelegt hat, beruhte die Einschätzung des Zustands der Fridericiana um 1730 auf zwei Kriterien: der Anzahl der Studenten – der Frequenz – und der Berühmtheit des Lehrpersonals – des Flors.16 Das Kriterium des Flors, nämlich seine akute Bedrohung, kann als Erklärung bereits hinreichen, warum die Situation an der Universität als problematisch wahrgenommen wurde. Die Zahl der renommierten Professoren, insbesondere der Gründungspersönlichkeiten, hatte sich in den vorangegangenen Jahren durch Abgänge oder Absterben tatsächlich deutlich verringert: „1723 ging, wenn auch unfreiwillig, Christian Wolff, 1727 starb August Hermann Francke, 1728 starb Christian Thomasius, im Dezember 1729 starb Nikolaus Hieronymus Gundling, während seines Prorektorats, 1730 starb Paul Anton […].“17 Das Renommee einzelner Professoren galt wiederum als Ursache dafür, dass eine Universität viele Studenten anzieht. Das Beispiel von Christian Thomasius in seiner Leipziger Zeit und zur Gründung der Universität in Halle zeugt davon.18 Das 16

17 18

Vgl. Claudia Drese: Hallesche Theologen. In: Renko Geffarth, Markus Meumann u. Holger Zaunstöck (Hg.): Kampf um die Aufklärung? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts. Halle 2018, S. 141–148, hier S. 141. Ebd., S. 1. Vgl. Johann Peter von Ludewig: Historie der Friedrichs-Universität Halle. Vom Jahr 1531, so dann 1692 und dero Einweyhung 1694 biß auf jetzige Zeiten. 1734 überhaupt sowohl, als auch vornehmlich der Juristen-Facultät; statt eines Vorberichtes in dem II. Theil der Rechtlichen Gutachten der Hallischen Rechtsgelehrten, aus eigener Erfahrung beschrieben von dero Cantzlern Johann Peter von Ludewig. [Halle] 1734, S. 43.

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bedeutet demzufolge, dass die Qualität – der Flor – sich unmittelbar auf die Frequenz auswirkt. Flor und Frequenz bestimmten in der zeitgenössischen Diskussion daher wenig überraschend maßgeblich das Image der Universität, ohne dass dabei die Fähigkeit der Universitätsmitglieder zu wissenschaftlicher Innovation besonders thematisiert worden wäre. Das bis dato positive Image der Fridericiana war der Wahrnehmung nach beschädigt, weil die Kriterien dafür – Frequenz und Flor – im Jahr 1730, so die Monita, nicht mehr erfüllt waren. Deutlich wird durch die persönliche Anweisung des Königs außerdem, dass sich die Zuständigkeit für die Universität verschoben hatte, was die Verhandlungen jetzt erschwerte: Noch immer stellte das Oberkuratorium als Teil des Geheimen Rats zwar diejenige Regierungsbehörde dar, die für die Universität direkt zuständig war. Im Jahre 1730 ist jedoch ein aktiv eingreifender König zu verzeichnen, der sich für den Zustand der Universität und maßgeblich für die harte Währung der Frequenz interessierte und persönlich Anweisungen erteilte, wie es für die Regierung aus dem Kabinett beschrieben wird.19 Diese ergingen jenseits der herkömmlichen Zuständigkeiten, das heißt eben nicht nur an den eigentlich zuständigen Oberkurator, sondern zuvorderst an das Generaldirektorium und von dort an die Provinzialbehörde der Kriegs- und Domänenkammer in Magdeburg. Der sich seit 1723 hinsichtlich der Verlagerung der Kompetenzen vom Geheimen Rat hin zum Generaldirektorium Zug um Zug veränderten Behördenarchitektur Preußens musste also auch die Hochschulpolitik Rechnung in Gestalt geänderter Kommunikationsabläufe tragen. Auf die Aufforderung des Generaldirektoriums an die Universitätsmitglieder sich zu erklären,20 reagierten diese am 21. 5. 1730 mit einer kurzen Verteidigungsschrift des Kanzlers Ludewig an den König, in der er auf beide Qualitätskriterien einging: Niemals sei die Alma Mater in einem größeren Flor gewesen (§2), kaum jemals habe es höhere Studentenzahlen gegeben (§3), während andere Universität deutlich abgenommen hätten (§5). Der Kanzler verband diese Richtigstellung mit Kritik am Stadtrat, der falsche Kalkulationen vorgelegt habe (§4).21 Am 27. 5. 1730 beschwerte sich die Universität außerdem beim Oberkurator von Knyphausen über die Anzeige. So seien die Vorwürfe nur aufgebracht worden, um eine „nicht geringere blame der hiesigen Universitaet“22 zu produzieren. Man wollte von Knyphausen als Verbündeten gewinnen und in Stellung bringen und ersuchte ihn daher, „den wahren Zustandt von hiesiger Universität ebenfalls an

19 20 21 22

Vgl. Wolfgang Neugebauer: Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit. In: Handbuch der Preußischen Geschichte. Hg. v. Dems. Berlin u. New York 2009, S. 258f. Vgl. Generaldirektorium an die Universität am 20. 5. 1730, GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. CXIII, Sek. 13, Nr. 15, Bl. 5r. Vgl. Apologie der Universität am 21. 5. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723– 1768), unpag. Universität an Oberkurator am 27. 5. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723– 1768), unpag.

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allerhöchst gedachte Sr. Königl. Majst. allerunterthänigst zu berichten“,23 während man zugleich versicherte, alles zu tun, „was zur Universitaet Besten und beständigen Flor gereichen könne“.24 Noch ließ man sich in Halle mit den Gegenmaßnahmen also Zeit und hatte womöglich den Ernst der Lage auch noch nicht vollständig begriffen. Von Knyphausen reagierte umgehend, indem er sich auf die Seite der Universität stellte und dem König am 2. 6. 1713 eine Zusammenfassung der Studentenzahlen und eine grundsätzliche positive Einschätzung des Zustands der Universität mitteilte, die ihm aus Halle schriftlich beigegeben worden waren.25 Inwieweit der Oberkurator sich deshalb so deutlich für die Universität positionierte, weil die Vorwürfe gegen die Universität auch für eine schlechte Aufsicht sprachen, oder eher weil er im Mai übergangen worden war und Terrain gegenüber dem Generaldirektorium zurückerobern wollte, kann nicht geklärt, beides aber berechtigterweise vermutet werden. Der Gewährsmann von Knyphausen geriet über den Sommer als Mitglied der englischen Partei am Hof jedoch ins Hintertreffen, wurde entlassen und durch Samuel von Cocceji ersetzt. Deutlich wird im Frühsommer 1730 also eine Zuständigkeitsverschiebung in Universitätsfragen hin zum Generaldirektorium. Die Universität agierte jedoch weiterhin auf dem seit der 1694 zur Inauguration erfolgten Übergabe der Statuten offiziellen Dienstweg über den Oberkurator, sofern sie nicht direkt an den König schrieb. Erst am 10. 6. 1730 wandten sich die Professoren mit der Mitteilung an das nun federführende Generaldirektorium, dieses sei einer groben Fehlinformation aufgesessen, die Uni stünde im Flor und man würde bald genauere Informationen dazu einreichen.26 Der Ernst der Lage dämmerte Mitte Juni. Am 17. 6. 1730 wandten sich die Professoren erneut an von Knyphausen und baten um eine ordnungsgemäße Untersuchung des Zustands der Fridericiana, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass von Knyphausen „als unseren Cheff in dieser Sache abgeruffen und [wir] vor andere Collegia gezogen werden wollen“, in der Hoffnung, der Oberkurator werde der Untersuchung wenigstens „bey wohnen“.27 Zu diesem Zeitpunkt lag bereits der Bericht der Kriegs- und Domänenkammer Magdeburg zur Lage der Universität vor, die am 13. 5. 1730 aufgefordert worden war, Vorschläge zu erarbeiten, wie die Universität wieder „in voriges Lustre geset-

23 24 25 26 27

Ebd. Ebd. Vgl. von Knyphausen an den König am 2. 6. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723–1768), unpag. Vgl. Universität an das Generaldirektorium, GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. CXIII, Sekt. 13, Nr. 15, Bl. 8r–9r. Universität an Oberkurator am 17. 6. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723– 1768), unpag.

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zet werden könne“.28 Am 26. 5. 1730 war diese Weisung an die Salzdeputation in Halle weitergereicht worden,29 die wiederum am 31. 5. 1730 antwortete. Die Salzdeputierten stellten fest, dass „der Verfall dieser sonst so berühmten Universität nicht gäntzl. vorhanden, dennoch die Decadance derselben augenscheinlich“ sei.30 Den Hauptkritikpunkt bildeten die schwierigen Geldverhältnisse der Universität. So hätten Professoren wie Cellarius, Thomasius, Stryk und andere ihre Einkünfte zur Förderung von begabten Studenten verwendet, diese Gelder seien aber inzwischen unter anderem zur Nutzung durch das Waisenhaus abgezogen worden.31 Ebenso wie hinter der Feststellung, dass die Aufgaben Wolffs in der Mathematik nach dessen Abgang nur unzureichend erfüllt worden seien,32 verbirgt sich hier neben der Kritik an Missständen seitens der Professoren auch eine an der unzureichenden Förderung durch die Regierung und an der stattdessen bereitgestellten hohen finanziellen Unterstützung der Glauchischen Anstalten.33 Angeführt wurden außerdem Mängel in der philosophischen Grundlagenausbildung, schlechte Aufstiegschancen der Extraordinarien, die deshalb Halle verließen.34 Schuldenmacherei und undisziplinierter Lebenswandel der Studenten und Abnahme der Freitische als weitere Probleme ließen die Deputierten zur der Empfehlung gelangen, „daß der Sachen durch eine nähere Untersuchung am besten gerathen wäre“35 – ein Vorschlag, der eine ausführliche Reaktion der Universität immer notwendiger machte, wollte man eine solche Untersuchung vermeiden.

Mangelnde Krankheitseinsicht: Die Verteidigung des Universitätskanzlers Die Reaktion bestand schlussendlich in einer umfangreichen Verteidigungsschrift des Kanzlers Johann Peter von Ludewigs vom 15. 8. 1730, mit der alle Vorwürfe entkräftet werden sollten.36 Wenig überraschend schätzte man an der Universität 28 29 30 31 32 33

34 35 36

König an die Kriegs- und Domänenkammer Magdeburg am 13.5.1730, LASA MD, Rep. A9a, Hall, U, Rep. A9a, Nr. 5, unpag. Kriegs- und Domänenkammer Magdeburg an die Salzdeputation, LASA MD, Rep. A9a, Hall U, Nr. 5, Bd. 1, unpag. Salzdeputation Halle an die Kriegs und Domänenkammer Magdeburg am 31. 5. 1730, LASA MD, Rep. A9a, Hall U, Nr. 5, Bd. 1, unpag. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Dabei handelte es sich um ein erheblich älteres Konkurrenzdenken zwischen Stadt und Landschaft auf der einen und dem Waisenhaus auf der anderen Seite (Vgl. Taatz-Jacobi: Finanzierung [wie Anm. 5], S. 124), welches hier erneut argumentativ bemüht wird. Vgl. Salzdeputation Halle an die Kriegs und Domänenkammer Magdeburg am 31. 5. 1730, LASA MD, Rep. A9a, Hall U, Nr. 5, Bd. 1, unpag. Ebd. Vgl. Gutachten des Univ.-Cantzlers und königl. preuss. Geh. Rathes Joh. Peter von Ludewig über die Zustände der Universität Halle. In: Emil Rössler (Bearb.): Die Gründung der Universität Göttingen. Göttingen 1855, S. 339–454.

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die Lage trotz einiger zugestandener Probleme anders als die Salzdeputation als grundsätzlich gut ein. Das Ziel der Universität und Ludewigs war es also, die Regierungsseite von ihrem Verständnis der Situation, nämlich einer in summa florierenden Fridericiana zu überzeugen und einen Konsens über die zu ergreifenden Maßnahmen zu erreichen. Der Kanzler Ludewig legte am Beginn der Apologie sein persönliches Prestige dar, um den Anspruch, dass er befähigt sei, die Situation der Universität richtig einzuschätzen, zu unterstreichen. So sei er seit mehr als vierzig Jahren an der Universität in Halle und hätte seitdem nahezu ununterbrochen gelehrt, Bücher verfasst, Disputationen, die von vielen Standespersonen gehalten worden seien, geschrieben, und nebenher noch Beratung verschiedener Fürsten in politischen Fragen betrieben. Sein guter Ruf zeige sich auch daran, dass seine Schüler inzwischen zu Professoren an anderen Universitäten berufen worden seien.37 Mit der Selbstdarstellung verband Ludewig einen Seitenhieb gegen seinen – anscheinend noch über dessen Tod hinaus – Rivalen Thomasius, der höchstens drei Stunden in der Woche gelesen habe, manches Mal auch gar nicht.38 Anschließend befasste sich Ludewig mit den Verfallsvorwürfen und spitzte seine Argumentation auf das Problem der Frequenz zu. Daran also – und nicht etwa an der Innovationsfähigkeit der Universität bzw. ihrer Professoren – maß sich die Leistung und Bedeutung der Universität vor allem anderen, und hier war dem Kanzler an einer ausführlichen Entkräftung durch belastbare Zahlen gelegen, eine argumentative Vorgehensweise, die in der Auseinandersetzung im Mai und Juni bereits erprobt worden war und hier ausgebaut wurde.39 Die Argumentation stützte sich auf zwei Punkte: Zum einen sei die Universität mit 785 Neuimmatrikulationen so stark wie kaum jemals zuvor, zumal die Stadt bei ihrer Zahlenerhebung viele Studentenstuben in neu errichteten Häusern und im Waisenhaus vergessen habe mitzuzählen.40 Zum anderen seien die Vergleichszahlen viel zu hoch angesetzt: „Folglich viel über 1000 Studenten in Halle niehmals gewesen sein mögen.“41 Dazu käme noch die natürliche Fluktuation, weil schließlich Studenten die Stadt Halle auch wieder verließen. Diese Angaben gilt es zu überprüfen. Die Auswertung der Immatrikulationszahlen im Universitätsarchiv, die Franz Eulenburg vorgenommen hat, ergeben für 37

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Ludewig verwies auf die Kollegen Simon Friedrich Hahn und Johann Daniel Gruber. Beide hatten bei Ludewig studiert. Hahn hatte seit 1711 in Halle mit Ausnahmegenehmigung gelesen, bevor er 1717 Professor in Helmstedt wurde. 1725 folgte eine Stelle als leitender Bibliothekar der Königlichen Öffentlichen Bibliothek in Hannover. Gruber war 1723 in Halle zum außerordentlichen Professor für Recht und Philosophie berufen worden, 1725 nach Gießen gegangen und 1727 zum hannoverschen Hof- und Kanzleirat in Celle ernannt worden. Vgl. ebd., S. 439f. Vgl. ebd., S. 439f. Vgl. ebd., S. 440–442. Vgl. ebd., S. 442. Ebd.

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das Jahr 1730: 778 Neuimmatrikulationen.42 Eine eigene Auszählung43 ergab für 1730 insgesamt 735 Neuimmatrikulationen, davon bis Ende Juli des Jahres 1730, also bis kurz vor Abfassung des Gutachtens, 527 neu immatrikulierte Studenten. Das bestätigt Ludewigs Vorwurf, dass die Gesamtzahl 722 aufgrund einer unzureichenden Zählung zustande gekommen sei. Denn zusätzlich zu den bis Ende Juli immatrikulierten 527 Studenten konnte der Kanzler weitere Immatrikulationen in den Folgemonaten erwarten. Außerdem müssen die in den Vorjahren nach Halle gekommenen und sich dort aufhaltenden Studenten dazugerechnet werden, deren genaue Zahl aufgrund der statistisch nicht erfassten Abgänge nicht bekannt ist. Die Schwankungen zwischen den verschiedenen Auszählungen der Immatrikulationen sind damit zwar nicht erklärt, die Gesamtzahl von 722 kann aber berechtigterweise ins Reich der universitätshistorischen Mythen geschickt werden. Eulenburg liefert noch weiteres Zahlenmaterial, mit dem die Situation von 1730 weiter geklärt werden kann. So habe es im Jahr 1728: 593 Neuimmatrikulationen gegeben, 1729 seien es 619 Neuimmatrikulationen gewesen.44 Der Trend für Halle war also sogar positiv, und das gilt auch für die niedrigere Zahl der eigenen Auszählung von 1730: 735. Die eigene Auszählung hat für das Jahr 1727: 513 Neuimmatrikulationen, 1728: 598 Neuimmatrikulationen und 1729: 597 Neuimmatrikulationen ergeben. Der positive Trend setzte sich noch 1731 mit 709 neu immatrikulierten Studenten fort, bevor es 1732 zu einem Einbruch auf 522 kam. Das vom Universitätskanzler gewählte Vergleichsjahr für die Gesamtzahl der Studenten war 1717, in dem August Hermann Franckes das Prorektorat innehatte – für Ludewig ein Gewährsmann für die erfolgreiche und berühmte Fridericiana, weswegen er dieses Jahr vermutlich auswählte. 1717 seien 1206 Studenten in Halle gewesen.45 Die eigene Auszählung ergab für 1717: 635 Neuimmatrikulationen, die Gesamtzahl ist wegen der nicht erfassten Abgänge ebenfalls nicht ermittelbar. Vergleicht man die Neuimmatrikulationen, waren die Jahre unmittelbar vor 1730 also keine schlechten, wenn auch schlechtere als das Vergleichsjahr 1717. Eulenburg erfasst die Zahlen hingegen nach Jahrfünften. Für das Jahrfünft 1716–1720 gibt er die durchschnittliche Zahl von 1089 Studenten an, wenn die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Halle auf 1,8 Jahre geschätzt wird.46 Zwischen 1726 und 1730 sei eine durchschnittliche Studentenzahl von 1202 Studenten zu verzeichnen.47

42 43 44 45 46 47

Vgl. Franz Eulenburg: Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Leipzig 1904. Nachdruck: Berlin 1994, S. 295. Alle eigenen Auszählungen vgl. Universitätsarchiv Halle-Wittenberg (= UAHW), Rep. 46, Nr. 3. Vgl. Eulenburg: Frequentz (wie Anm.42), S. 295. Vgl. Gutachten des Univ.-Cantzlers (wie Anm. 36), S. 442. Vgl. Eulenburg: Frequentz (wie Anm. 42), S. 144. Vgl. ebd., S. 165.

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Alles in allem ergeben diese Zahlen nicht das Bild eines steilen Niedergangs der Frequenz der Fridericiana vor 1730.48 Das Kriterium der Frequenz ist damit nicht geeignet, um das Jahr 1730 zu einer Zäsur der Universitätsgeschichte Halle zu deklarieren. Eine Krise der Fridericiana aufgrund von schlechten Studentenzahlen hat es nicht gegeben. Für den Flor der Universität war neben den berühmten Professoren auch die Frequenz der adligen Studenten entscheidend. Ludewig nennt für 1730: 63 Personen. Die Auszählung im Universitätsarchiv ergibt 47 adlige Studenten, wobei sich bis Ende Juli 1730 30 von ihnen immatrikuliert hatten. Die Quoten liegen also bei 8,02% (Ludewig für das Gesamtjahr), 6,39% (eigene Auszählung für das Gesamtjahr) und 5,69% (eigene Auszählung bis Ende Juli 1730). Laut Eulenburg hat die Zahl der Adligen in den ersten 50 Jahren der Fridericiana immer um die 8% gelegen.49 Der eigenen Auszählung folgend handelte es sich 1730 dann tatsächlich um ein weniger gutes Jahr. Für das Vergleichsjahr 1717 können 69 Adlige (10,87%) verzeichnet werden. 1727 waren 42 Adlige (8,19%) immatrikuliert, 1728 immerhin noch 48 (8,03%). 1729 studierten 65 Adlige (10,89%) in Halle. 1731 erfolgte ein Einbruch bei den adligen Studenten auf 27 (3,8%), bevor die Zahl 1732 wieder auf 40 (7,66%) anstieg.50 Bei dem vom Kanzler gewählten Vergleichsjahr 1717 handelte es sich also wirklich um ein Jahr, in dem die Fridericiana besonders gute Zahlen vorzuweisen hatte, ob nur verbunden mit dem Namen Franckes oder nicht. Die Zahlen der Jahre 1728 und 1729 mussten sich allerdings nicht dahinter verstecken, und Ludewig konnte im August 1730 zumindest bezüglich der Gesamtzahl der Studenten ein ähnlich gutes Jahr erwarten. Dem ebenfalls aufgekommenen Vorwurf, die Mehrheit der Studenten seien Theologen, erklärte Ludewig einfach für falsch und den Ruf der Alma Mater schädigend, ohne Zahlen vorzulegen.51 Der Vorwurf barg insofern ein Problem, weil Theologie im Gegensatz zur Rechtswissenschaft als Studium ärmerer Leute galt und somit zwangsläufig ökonomische Auswirkungen auf die Universität und die Stadt besaß. In der Tat erhöht sich der Anteil der Theologen nach Eulenburg von 27% (1693–1700) auf 42% (1723–1730) und auf 50% (1731–1740). Zugleich verringert sich der Anteil der Juristen von 68% (1693–1700) auf 49% (1721–1730) und auf 42% (1731–1740), während die Mediziner einen Sprung von 5% (1693–1700) auf 8% (1721–1730; 1731–1740) verzeichnen.52 Für die Verschiebungen zwischen Juristen und Theologen kann jedoch ein Grund benannt werden, der außerhalb der Einflussmöglichkeiten der Universität lag: Die Religionspolitik in Preußen setzte 48 49 50 51 52

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 67. Alle Angaben aufgrund von eigener Auszählung. Vgl. Gutachten des Univ.-Cantzlers (wie Anm. 36), S. 441. Beleg Eulenburg: Die Frequenz (wie Anm. 42), S. 310.

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auf die Förderung des Pietismus Franckescher Prägung in Gestalt von Waisenhaus und theologischer Fakultät. Die Ausbildung in Halle an der Universität und in Glaucha am Waisenhaus war attraktiv, und sie wurde mit Edikt von 1727/29, dass alle Theologen in Preußen in Halle studiert haben und von der dortigen Universität Testimonien beibringen mussten, normativ.53 Eine Beschwerde, dass sich in Halle zu viele Theologen aufhielten, zeugt also vor allem davon, wie sich verschiedene politische Ziele, hier die Religionspolitik und die Hochschulpolitik, im Weg stehen konnten. Die Besetzung frei gewordener Professuren war nach den Abgängen in den letzten Jahren neben den Studentenzahlen das zweite große Thema, denn hier ging es unmittelbar um den Flor der Fridericiana.54 Weniger die eigentlichen Fähigkeiten und Leistungen der Professoren als vielmehr klangvolle Namen war für den Kanzler entscheidend, denn berühmte Lehrstuhlinhaber in Halle zu installieren erhöhte den Flor der Universität und polierte ihr Image maßgeblich auf. Inwieweit sich mit Berühmtheit und Bekanntheit eines Gelehrten auch dessen Fähigkeit zu wissenschaftlicher Innovation verband, wurde dabei jedoch nicht thematisiert. Vor allem die Stellen von Thomasius und Gundling müssten deshalb, so Ludewig, unbedingt wiederbesetzt werden,55 wobei er für Gundling seinen Schüler Johann Daniel Gruber aus Braunschweig vorschlug.56 Was Halle als Hochburg des Naturrechts anbelangte, würde dieses jedoch permanent von so vielen Ordinarien gelesen, dass zumindest an dieser wichtigen Stelle kein Mangel herrsche. Das deckt sich mit dem Befund von Dominik Recknagel, der die Naturrechtsvorlesungen in Halle statistisch ausgewertet hat.57 Die Pflege der wissenschaftlichen Innovationen, für die die Fridericiana mit ihrem Namen gleichsam stand, wurde in Halle – so versuchte Ludewig den gegenteiligen Vorwurf der Stagnation zu entkräften – also nach wie vor geleistet, wenn auch Lücken bestanden: In der Mathematik bedauerte er hingegen recht offensiv den Abgang Wolffs, eine Lücke, die der junge Lange und Daniel Strähler nicht schließen könnten, hingegen Strähler in der Philosophie die gleiche Lücke decken würde. Zu guter Letzt stellte Ludewig fest, dass er ja selbst Geschichte und das Jus Publico lehren würde, so dass in diesen Fächern kein Bedarf an neuen Professoren bestehe.58

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Vgl. Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4. Hg. v. Martin Brecht u. a. Göttingen 2004, S. 49–121, hier S. 68f. Vgl. Gutachten des Univ.-Cantzlers (wie Anm. 36), S. 449. Vgl. ebd., S. 447. Erneut kam Ludewig nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass die beiden genannten Professoren Thomasius und Gundling eigentlich schon vor ihrem Absterben nicht den Flor der Universität gemehret hätten, da sie kaum je Lehrveranstaltungen gegeben hätten, „ob nun wohl man diesen männern ihren Ruhm wohl billig laszet“ (Ebd.). Vgl. ebd., S. 448. Vgl. Dominik Recknagel: Naturrecht in der Lehre. Naturrechtliche Vorlesungen an der Friedrichs- Universität zu Halle bis 1850. In: Ders. u. Sabine Wöller (Hg.): „Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind!“ Naturrechtslehre in Halle. Halle 2013, S. 9–19. Vgl. Gutachten des Univ.-Cantzlers (wie Anm. 36), S. 449–451.

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Disziplinprobleme waren der dritte Komplex, auf den Ludewig einging, vor allem auf Tumulte unter Studenten und studentische Schulden. Diese sogenannten studentischen Exzesse waren jedoch in der Universitätsgeschichte Halles nicht Neues, von dem ausgerechnet die Zeit um 1730 geprägt gewesen wäre, und sie waren im Übrigen auch nichts was nur Halle betroffen hätte. Sie bestimmten die hallische Universitätsgeschichte von Anfang an und waren insbesondere Inhalt der Diskussionen um den Zustand der Universität 1697, 1704/05 und 1713/14.59 Um sie zu regulieren, schlug Ludewig vor, die Jurisdiktion über die Studenten weg vom Prorektor zur juristischen Fakultät zu verlagern, um den Prorektor weniger angreifbar zu machen und Disziplinprobleme weniger zu verschleppen.60 Was die Schulden der Studenten anbelangte, riet er, zwischen Schulden des Lebensbedarfs und des Müßiggangs zu unterscheiden und nur den Geldverleih für das letztere zu verbieten, während Schulden für die Aufrechterhaltung des Studiums durch Ausgaben für Unterkunft und Nahrung oftmals unumgänglich seien.61 Nicht nur unter den Studenten herrschten Disziplinprobleme, sondern auch unter den Professoren. Wie deren Schmähungen untereinander zu verhindern seien, überlegte Ludewig, sah jedoch keine Möglichkeit, „diesem Übel, welches so tieffe wurzel geschlagen, abzuhelffen und damit einem schreken zumachen“,62 außer durch die längst praktizierten Geldstrafen und Suspensionen.63 Es blieb nun nur noch das Problem, die Universität wieder aus dem verschärften Augenmerk der Berliner Regierung herauszuführen. Dem Vorschlag, mehr Visitationen und Kommissionen durchzuführen, stand der Kanzler erwartungsgemäß ablehnend gegenüber, meinte gar, er wisse nicht, „ob dieses mittel mehr schaden als nutzen bringen möchte.“64 Andernorts, so in Frankfurt an der Oder und in Wittenberg, hätten sie den Ruf der jeweiligen Universität eher verschlechtert. Kommissionen seien nutzlos, denn „der Zwang daucht bei gelehrten leuten gar nicht und welcher professor sich zwingen läszet, an dem ist nicht viel gesezt, ob er

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Vgl. Privilegien in der Fassung vom 4. 9. 1697, abgedruckt bei: Schrader: Geschichte (wie Anm. 8). Bd. 2, S. 443–451; Kommission an den König am 1. 11. 1704, GStA PK, I. HA, Nr. 159 Nr. N11 (1694–1740), Bl. 1r–9v; mehrere Schriftstücke, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N11 (1694–1740), Fol. 68, Bl. 1r–16v; mehrere Schriftstücke, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N11 (1694–1740), Fol. 46, Bl. 1r–46v. Vgl. Gutachten des Univ.-Cantzlers (wie Anm. 36), S. 442f. Vgl. ebd., S. 445f. Ebd., S. 446. Die Forderung der Salzdeputation, die Professoren sollten Tische halten, damit die Studenten nicht anderweitig speisen müssten, behandelt Ludewig ebenfalls, ohne eine grundsätzliche Lösung zu offerieren. Es gäbe diese Tische zwar, damit einhergehend aber auch Probleme, die bedacht werden müssten. Dabei handele es sich um Disziplinprobleme, Vorwürfe der Kriegsund Domänenkammer über den Weinausschank an Studenten, Parteiungen und Streitigkeiten unter den Studenten an den Tischen, finanzielle Probleme der Professoren, die Tische hielten, eingehende Tische, weil die wohlhabenderen Studenten lieber in der Stadt in Wirtschaften aßen. (Vgl. ebd., S. 446f.). Ebd., S. 451.

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gehet oder bleibet.“65 Und für den Standort Halle sei eine Kommission nur von Übel, denn damit würde man die positive Entwicklung der Studentenzahlen nachgerade zunichtemachen: Da nun aber die commissiones bey Universitäten auch so dann von einem hazard und keinem nutzen seyn, wann der ort gleich abnimmet, als welchen man auf andere weise sicherer helffen kann: so dürffe es ja kaum vor Gott und Köngl. Maj. zuverantworten seyn, hiesigen ort, zu der zeit, da er in seinem guten wachsthum und flor ist, durch eine commission in üblen ruff bey den ausländern zu bringen und der professoren treue und Fleisz dardurch anrüchtig und stinckend zu machen.66

Im Übrigen sei die Universität 36 Jahre ohne Kommission ausgekommen und wäre gewachsen und hätte ihren Ruhm gemehrt.67 Er unterschlug dabei die Kommissionen von 1704 und von 1713,68 ganz zu schweigen von den Kommissionen in den diversen pietistischen Streitigkeiten bis 1713, die immer zugleich die Universität betroffen hatten.69 Zwei Qualitätskriterien ziehen sich durch die Apologie des Universitätskanzlers: Wichtig waren hohe Studentenzahlen und ein gut versorgtes, schuldenfreies und diszipliniertes Studentenkorpus, dem eine möglichst hohe Zahl adliger Studenten angehörte. Doch besaß eine Universität kein übermäßiges Prestige, wenn sie nicht über berühmte, friedfertige und fleißige Professoren verfügte. Diese beiden Kriterien erfüllte die Fridericiana nach Ludewig trotz einiger nachrangiger Probleme im laufenden Betrieb. Ihr Ruf und ihr Ruhm zeugten davon, Anwürfe oder gar Kommissionen schadeten hingegen ihrem Image. Sie galt es abzuwehren. Die Strategie war es also, den Verantwortlichen in Berlin deutlich zu machen, dass diese das Ihre leisten konnten, zum Erfolg der Universität beizutragen. Vorwürfe und Kommissionen gehörten für Ludewig ganz eindeutig nicht zu den Flor und Frequenz steigernden Lösungsansätzen.

Therapie? Das neue Universitätsreglement 1731 In Berlin hatte diese Argumentationsstrategie Ludewigs, eine Kommission unbedingt vermeiden zu wollen, tatsächlich vollen Erfolg und wurde adaptiert. Am 7. 9. 1730 erging ein Befehl des Generaldirektoriums an den neuen Oberkurator 65 66 67 68 69

Ebd. Ebd., S. 452. Vgl. ebd. Vgl. Anm. 59. Vgl. dazu grundsätzlich Veronika Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees (1692–1704). Tübingen 2004 (Hallesche Forschungen 15); Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik. Motive – Verfahren – Mythos (1680–1713). Berlin 2014 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 13), S. 184–287.

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Samuel von Cocceji, „ein gut Reglement für die Universität“ zu schaffen, dabei aber „die rechte Maße“ nicht zu verlieren, weil „eine ordentliche Untersuchung bey der Universität nicht eben rathsam“70 sei. Es handelte sich dabei um einen Vorschlag, den Cocceji wohl im Vorfeld selbst so gemacht hatte, wie das Generaldirektorium mit Verweis auf den 3. 9. 1730 feststellte. Statt der Einsetzung einer Kommission sei es entscheidend, dass es „auf eine beständige Besetzung mit genugsamen geschickten und berühmten Professoren, wenn es zu mangeln anfängt, ankomme, und daß also derer gesucht und in Vorschlag gebracht werden.“71 An dieser Stelle nun wurde eine weitere Beratungsinstanz in der Berufungspolitik in Spiel gebracht, nämlich die Königlich Preußische Societät der Wissenschaften. Cocceji solle entscheiden, ob es eine gute Idee sei, dass die Akademie in die Berufungspolitik eingreift: Wir stellen auch Sr. Excellentz Guthfinden anheim, ob dieselbe der hiesigen Societaet der Wissenschaften aufzugeben belieben wollen, von Ihren inländischen oder auswärtigen membris, die Ihnen am besten bekannt, einige vorzuschlagen, aus welche in denen nötigen nicht genug besetzten Professionibus reflektiret werden könnte; wie den [sic!], wen [sic!] Sr. Excellentz dergleichen Subjecta finden sollten, so nach Halle zu ziehen resolviren wolten, von ihnen Erkundigung eingezogen werden könte, was sie an tractament verlangten, und davon an seine Königl. Maj. referiret werden.72

Auch wenn diese Entscheidung dem Gutdünken des Oberkurators anheimgestellt wurde, zeigt sich hier doch eine gewisse Unzufriedenheit der Amtsführung des Vorgängers von Cocceji, wenn jetzt andere wissenschaftliche Institutionen dafür sorgen sollen, dass die Fridericiana mit neuen, möglichst berühmten Professoren versorgt werden würde. Neben dem Oberkurator war mit dem Generaldirektorium bereits eine nicht einfach zu umgehende Beratungs- und Kontrollinstanz getreten. Deutlich zeigt sich an dessen Einbeziehung, wie die Verfallsgerüchte den Einfluss des Oberkuratorenamtes gegenüber dem Generalsdirektorium verringerten und den Einfluss des Amts zurückstuften. Mit der Akademie der Wissenschaften als zusätzliche Beratungsinstanz wurde dieser Prozess noch verstärkt, auch wenn der Oberkurator nominell die Aufsicht behalten sollte. Cocceji folgte der freundlichen Aufforderung, und am 13. 9. 1730 erging das entsprechende Reskript an die Akademie.73 In den Protokollbüchern der Societät lassen sich allerdings zu keinem Zeitpunkt Beratungen über Personalfragen der hallischen Universität nachweisen. Insofern verblieb diese neue Regelung wohl im Reich der Theorie. Gleichzeitig war es wichtig, die kritischen Stimmen aus dem Herzogtum zu beruhigen. Am 27. 9. 1730 wurde deshalb nach Magdeburg reskribiert und ausdrück70 71 72 73

Generaldirektorium an Oberkurator Cocceji am 7. 9. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723–1768), unpag. Ebd. Ebd. Vgl. Reskript an die Societät der Wissenschaften am 13. 9. 1730, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723–1768), unpag.

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lich festgestellt, „daß die Universität in vorigem und jetzigem Jahre in keinem Verfall gerathen sey, sondern daß vielmehr dieselbe sich bisher in einem guten und konstanten Zustand sich befinde.“74 Am 9. 10. 1730 erging die Aufforderung an die magdeburgische Kriegs- und Domänenkammer, ein Reglement für die Universität zu entwerfen.75 Für das Amt des Oberkurators bedeutete diese Ordre eine weitere Schwächung, denn nun übernahm die Provinzial-Unterbehörde des Generaldirektoriums zumindest zeitweise die Lenkung der Universität. Cocceji bemühte sich dennoch, aber erfolglos gegenüber dem Generaldirektorium, zumindest die Erhöhung der finanziellen Mittel zu erreichen, um neue und berühmte Professoren berufen zu können: Weil aber Seine Königl. Mayt. fremde und berühmte Leute haben wollen, welches ohne einen neuen Fonds nicht geschehen kann, so habe ich einem hochpreislichen General Directorio anheim stellen wollen ob selbiges bey Sr. Königl. Mayt. dieserwegen das benötigste vorzustellen geruhen wolle, weil Seine Königl. Mayt. Accise hauptsächlich darbey interessiret ist.76

Durchsetzen konnte er sich mit diesem Vorschlag erwartungsgemäß jedoch nicht, obwohl hier doch ein Schlüssel für die Erhöhung des Flors der Alma Mater lag. Eine Erhöhung der Mittel war nicht vorgesehen. Das neue Reglement vom 1. 1. 1731 war dann angesichts der monierten Probleme nicht sehr weitreichend, und es bezog sich dezidiert nicht auf die Innovationskraft der Fridericiana, also nicht auf den Flor und nicht auf die Frequenz; diese Punkte wurden von der politischen Seite ausgespart.77 Acht der Vierzehn Punkte behandelten die Disziplin der Professoren, nur sechs die der Studenten. Die Professoren sollten ihre Lehrveranstaltungen abstimmen und ordnungsgemäß in Katalogen ankündigen und regelmäßig Disputationen abhalten (1, 5 und 6), die Ferien wurden eingeschränkt auf die üblichen Sonn- und Feiertage und die Leipziger Messe (2). Hier schlug sich sicherlich die Kritik Ludewigs an der Pflichtvergessenheit mancher seiner Kollegen nieder. Eingesandte Akten sollten pünktlich bearbeitet und die Gerichtstage regelmäßig abgehalten werden (3 und 10). Streitigkeiten unter den Ordinarien sollten grundsätzlich unterbleiben, andernfalls aber durch Geldstrafen in Höhe einer Monatsbesoldung geregelt werden (4). Extraordinarien und Doktoren sollten über ihre Lehre frei entscheiden dürfen (8). Die die Studenten betreffenden Regeln waren die bereits bekannten: Verbot der Kuppelei (9), Gebot der raschen Einschreibung innerhalb von vierzehn Tagen (11), Verbot der Geldleihe an Studenten in Höhe von mehr als fünf Talern (12), Verbot der Tumulte (13) und des Ausschanks nach 11 Uhr abends (14). Angesichts der vorausgegangenen 74 75 76 77

Ordre an die Magdeburgische Kriegs- und Domänenkammer am 27. 9. 1730 [Entwurf], GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723–1768), unpag. Vgl. Ordre an die Magdeburgische Kriegs- und Domänenkammer am 9. 10. 1730 [Entwurf], GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. 159 N1 (1723–1768), unpag. Cocceji an Generaldirektorium am 17. 10. 1730, GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. CXIII Sekt. 13, Nr. 15, Bl. 84f. Vgl. Reglement am 1. 1. 1731, in: Schrader: Geschichte (wie Anm. 8). Bd. 2, S. 464–467.

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Diskussionen um Flor und Frequenz mutet das Reglement einigermaßen überraschend an. Für die Behörden standen offensichtlich die Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin an der Fridericiana und die Beruhigung des Konflikts zwischen Universität und Stadt bzw. Landschaft an erster Stelle.

Schlussfolgerungen und Ausblick Es ging der Berliner Regierung am Ende der Auseinandersetzung über den Verfall der Universität um 1730 vornehmlich um die möglichst geräuschlose Wiederherstellung einer funktionierenden Universität, weswegen man sich auf die Alltagsprobleme konzentrierte, grundsätzliche Fragen wie die Professorennachfolge jedoch ausklammerte, bei denen nach dem Tod oder Abgang berühmter Gelehrter tatsächlich Handlungsbedarf bestanden hätte. Nach Möglichkeit sollte ein Eingriff in die Belange der Fridericiana zurückhaltend ausfallen. Kommissionen, so die sich durchsetzende Ansicht, konnten nicht das Mittel der Wahl sein, stifteten sie doch eher Unruhe. Unruhe jedoch konnte kaum zur Steigerung von Flor und Frequenz beitragen. Dass man nicht bereit war, neues Geld in die Hand zu nehmen, das nötig gewesen wäre, um die geforderten berühmten Leute nach Halle zu berufen, zeigt die ganze Inkonsequenz der Überlegungen. Summa summarum sind die Qualitätskriterien Frequenz und Flor bei genauer Überprüfung nicht dazu geeignet, der Forschungstradition zu folgen, die Universität sei in eine Art von Krise geraten und das Jahr 1730 sei eine entscheidende Zäsur in der Geschichte der Fridericiana. Denn die These von der Abnahme der Frequenz hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Hinsichtlich des Flors liegt die Sache zumindest diffiziler: Einbußen in der Lehre hat es wohl eher nicht gegeben, wohl aber fehlten die klangvollen Namen wie eben Thomasius und Francke. Es handelt sich dabei um einen Verlust an Ausstrahlungs- und Anziehungskraft – den Zahlen nach aber nicht für die Studenten, sondern für die Regierung. Dass Maßnahmen der Imagepflege und der geschickten Stellenbesetzung aber dringend notwendig waren, und sowohl die Berliner als auch hallische Seite dies internalisiert hatten, illustrieren auch drei Episoden in großer zeitlicher Nähe zu den Verfallsvorwürfen: 1. Mit dem neuen Reglement vom Jahresanfang 1731 war die Navigation der Universität aus dem Strudel der Verfallsvorwürfe noch nicht beendet. Holger Trauzettel hat darauf aufmerksam gemacht, dass die 1734 erschienene Universitätshistorie Johann Peter von Ludewigs im Kontext der Verfallsgerüchte von 1730 gelesen und als Imagepolitik für die Fridericiana verstanden werden muss, gerade

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angesichts der Konkurrenz durch die Neugründung in Göttingen.78 Besonderes Augenmerk legte Ludewig nach Trauzettel auf die Gewinnung adliger Studenten durch die Herausstellung der besonderen Merkmale der hallischen Universität: Hierzu zählten [...] Attribute, die Halle als exzellente Ausbildungsstätte für den Adel und potentielle Staatsdiener charakterisierten. Die an der Geschichte [der Universität; M. T.-J.] demonstrierten akademischen Freiheiten und die landesherrliche Fürsorge steigerten die Attraktivität dieses Selbstbildes. Dabei ging es nicht um eine Zurschaustellung von vermeintlicher Modernität oder Innovationspotential, sondern stets um die erfolgreiche Überwindung schädlicher und erstarrter Einflüsse, wie die fremden Rechte, Aberglaube, Vorurteile oder die lutherische ‚Orthodoxie‘.“79

Diese Aussage ist insofern kritisch zu hinterfragen, weil doch die Überwindung solcher sowohl unter den Zeitgenossen als auch in der Historiographie als erstarrt und als rückständig geltenden Traditionen und Ideologien grundsätzlich irgendeines innovativen Potentials bedurfte. Auch wenn dies vom Universitätskanzler hier gerade nicht nach außen gekehrt wurde, weil er es anscheinend als wenig werbewirksam und der politischen Debatte um die Universität wenig förderlich betrachtete, steht die Fridericiana in seiner Universitätshistorie dennoch als Kontrast zu diesem Überholten, Älteren für das Neue, Innovative. Damit steht sie gewissermaßen auch im Kontrast zu seiner Argumentation im Sommer 1730, in der Innovation als besondere Qualität der Universität gar keine Rolle spielte. 2. Der gegen die Widerstände beider vollzogene Tausch von Johann Lorenz Fleischer und Johann Gottlieb Heineccius zwischen den Universitäten in Halle und in Frankfurt an der Oder sollte den Verlust Christian Wolffs auffangen helfen, der auch vom Universitätskanzler moniert worden war. Heineccius’ guten Ruf – erworben in Franeker und Frankfurt an der Oder – zu nutzen, um das Ansehen der Fridericiana zu steigern, war das Anliegen der Berliner Regierung bei diesem aufwendigen Personaltransfer.80 3. Auch der letztlich misslungene Versuch, Johann Jakob Rambach im Jahr 1731 in Halle zu halten und ihm eine Absage an den Ruf nach Gießen durch die Vergabe der Besoldung des verstorbenen Paul Antons schmackhaft zu machen, kann im Rahmen der Restaurierungsmaßnahmen für die Alma Mater interpretiert werden. Rambach galt als Schüler Johann Franz Buddes und somit als hervorragender Hermeneutiker, offen für die Wolffsche Methodik und auch über Halle hinaus als anerkannt im Kollegenkreis. Inwieweit die Offenheit für den in Halle langsam geschätzten Wolffianismus beim Versuch, ihn in Halle zu halten, eine Rolle gespielt hat, lässt sich aus den Quellen nicht ablesen. Wahrscheinlich überwog das Kriterium seines generell einwandfreien fachlichen Rufs bei Kollegen und 78

79 80

Vgl. Holger Trauzettel: Eigengeschichte gegen die Krise? Johann Peter von Ludewigs Historie der Friedrichs-Universität Halle [1734] im Kontext akademischer Imagepolitik. In: Geffarth, Meumann u. Zaunstöck (Hg.): Was ist Aufklärung? (wie Anm. 16), S. 81–98, S. 81f, S. 85f. Ebd., S. 97. Zu Heineccius vgl. Schrader: Geschichte (wie Anm. 8). Bd. 1, S. 165–167, S. 281.

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Studenten.81 Sowohl für die Universität als auch für die theologische Fakultät war der Abgang Rambachs ein herber Verlust, denn er war geradezu das Paradebeispiel für die universitären Erfolgskriterien des Flors und der Frequenz.

81

Vgl. Drese: Theologen (wie Anm. 16), S. 148.

Fakultäten und Lehrgebiete

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When Innovation Goes out of Fashion: Joachim Lange’s (1670–1744) Lectures to Empty Benches In 2004, Ian Hunter offered what remains one of the most lucid and concise sketches of the University of Halle as a site of innovation at the turn of the eighteenth century.1 In line with the increasing tendency of scholars to apply the term Enlightenment, broadly defined, to a diverse array of eighteenth-century reform movements aiming at the perfection of individuals and society,2 Hunter describes Halle as the incubator of three such Enlightenments, each promoted by a different university faculty. The Law Faculty, represented by Christian Thomasius (1655– 1728), developed an “anti-scholastic civil philosophy” for the purpose of “providing the boys with a formation that would allow them to separate their civil office as future jurists of a desacralized state from their religious vocation as Christians seeking salvation.”3 The Theology Faculty, by contrast, represented by August Hermann Francke (1663–1727), espoused an “anti-scholastic theological Enlightenment” that rejected the separation of vocations advocated by Thomasius, aiming instead to reform the Lutheran clergy by fostering students’ spiritual rebirth and cultivating their insight into “the kernel of spiritual truth inside the scriptural husks of the Bible.”4 The Philosophy Faculty, represented by Christian Wolff (1679– 1754), also rejected Thomasius’ separation of vocations but promoted in its stead, by contrast with Francke’s focus on spiritual rebirth, a “culture of intellectual self-purification” based on instruction in a “neo-scholastic Leibnizian metaphysics” that “claimed the right to show how the whole of society should be reformed in accordance with the dictates of a rationalist perfectionism.”5 Leaving aside the thorny question whether all these faculties ought to be afforded membership in the Enlightenment, the case for characterizing them as competing centers of reform within the university appears unassailable. It would seem to find especially sturdy support in one of the best-known academic quarrels of the eighteenth century: between Wolff and colleagues of his in the Halle Theology Faculty, primarily Francke and Joachim Lange (1670–1744).6 As the quarrel has

1

2 3 4 5 6

See Ian Hunter, “Multiple Enlightenments: Rival Aufklärer at the University of Halle, 1690– 1730,” in The Enlightenment World, edited by Martin Fitzpatrick et al. (London: Routledge, 2004). E. g., as described by Martin Gierl, “Pietism, Enlightenment, and Modernity,” in A Companion to German Pietism, edited by Douglas H. Shantz (Leiden: Brill, 2015), 350–354. Hunter, “Multiple Enlightenments,” 576–577, 579. Hunter, “Multiple Enlightenments,” 577, 582. Hunter, “Multiple Enlightenments,” 577, 584. See Hunter, “Multiple Enlightenments,” 588–590.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-007

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conventionally been recounted, it expressed from beginning to end the contradictions between Wolff’s and the Halle theologians’ reform impulses and exemplified the heatedness of their struggle to impose their respective visions on the education of university students. Having espoused — in the classroom in the 1710s, in print by 1720, and then in a public oration in 1721 — metaphysical and ethical principles that seemed to call into question the validity of his theological colleagues’ educational program, so the story goes, Wolff eventually fell victim to those colleagues’ principled retaliation.7 Ultimately persuaded by Francke that Wolff’s philosophy posed a danger to religion, King Friedrich Wilhelm I (1668–1740, r. 1713–1740) in late 1723 ordered Wolff’s dismissal from the university and ex8 pulsion from his territories. It was a sensational end to the first, explosive phase of a conflict that continued to unfold for decades thereafter, pitting the allies of each side against one another in the pages of countless pamphlets and books throughout the Empire and the republic of letters. And yet it is far from clear that the root cause of this quarrel was a conflict as purely ideological as the familiar retelling would suggest. All the contemporary public debates about Wolff’s philosophy notwithstanding, a growing body of scholarship has shown that the two sides were happy to wield philosophical and theological arguments in the service of goals defined by family allegiances, institutional and territorial politics, and personal grievances.9 Especially given the remarkably bitter tone frequently adopted by the conflict’s two chief polemicists, Wolff and Lange, it is easy to imagine behind the façade of philosophical polemic an enormous pair of bruised egos, lashing out at one another in accordance with the norms of an academic culture whose fixation on honor made such spats inevitable.10 Indeed, Georg Volckmar Hartmann, author in 1737 of probably the tawdriest 7

8 9

10

This perspective is, broadly speaking, endorsed by two of the most authoritative recent accounts: Albrecht Beutel, “Causa Wolffiana: Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen Halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie,” in Reflektierte Religion, by Beutel (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007); and, more briefly, Michael Albrecht, “Christian Wolff und der Wolffianismus,” in Grundriss der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, v. 5, Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa, edited by Helmut Holzhey and Vilem Mudroch (Basel: Schwabe, 2014). See John Robert Holloran, Professors of Enlightenment at the University of Halle: 1690–1730 (Ann Arbor: Univ. Microfilms, 2000), 364–368. This perspective appears in John Holloran, “Wolff in Halle — Banishment and Return,” in Christian Wolff und die europäische Aufklärung, v. 5, edited by Jürgen Stolzenberg and Oliver-Pierre Rudolph (Hildesheim: Olms, 2010); James Jakob Fehr, “Ein wunderlicher nexus rerum”: Aufklärung und Pietismus in Königsberg unter Franz Albert Schultz (Hildesheim: Olms, 2005), esp. 140–143; Beutel, “Causa Wolffiana,” 128–144; Barbara Mahlmann-Bauer, “Wolffs Hochschulpolitik. Institutionengeschichtliche Hintergründe von Wolffs Vertreibung aus Halle,” in Christian Wolff und die europäische Aufklärung, v. 5, esp. 325–346; and Andreas Pečar, Holger Zaunstöck, and Thomas Müller-Bahlke, eds., Die Causa Christian Wolff: Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe (Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 2015). I owe this formulation to Clemens Schwaiger.

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and certainly the best-known eighteenth-century narrative account of the quarrel, encourages precisely this perspective.11 Even while emphasizing the depths of Wolff and Lange’s disagreement about metaphysics, Hartmann repeatedly suggests that the real source of Lange’s animus against Wolff was personal: the petty jealousy of a third-rate professor confronted with the well-deserved stardom of a colleague. As “Wolff’s acclaim grew day by day” in the 1710s, Hartmann explains, Lange’s own auditors drifted away, drawn to Wolff’s lectures by their manifest superiority to Lange’s. This caused Lange “to be inflamed with terrible jealousy, hatred, and enmity.”12 Hence his subsequent campaign against Wolff, founded rather on jealousy of Wolff and hatred of philosophy than on sound principle.13 Can Hartmann have been right? Of course his assassination of Lange’s character, crudely designed to undercut Lange’s arguments against Wolff’s philosophical principles by asserting, in the typical mode of his time, the utterly discreditable affects and prejudices that generated them, cannot be accepted at face value. And yet his account of the build-up to the conflict’s public outbreak in 1721 does seem to contain a telling factual kernel: the drift of students out of Lange’s lectures and into Wolff’s. This scenario, particularly arresting perhaps because of its power to produce a tinge of sympathetic anxiety in professors everywhere, seems to pose a major obstacle to understanding the quarrel between Wolff and his critics as an outgrowth of contradictions between their programs of educational reform. It likewise offers a basis for doubting the depth of those very contradictions in the years before the conflict ostensibly broke out. It therefore deserves careful investigation. Did students in fact abandon Lange’s lectures? If so, what were their reasons, how did Lange respond, and what did their departure have to do with the Theology Faculty’s subsequent campaign against Wolff? Disentangling the ideological from the more personal causes of the quarrel requires finding answers to these questions.

A Student’s Testimony At least partial answers lie in one of Hartmann’s putative sources: a book published in 1736, one year earlier than Hartmann’s, and offering a different and markedly more credible perspective.14 Brought to the attention of scholars in 2012 by Stefan Borchers, the anonymously authored, 134-page text bears a bland title — 11

12 13 14

See Georg Volckmar Hartmann, Anleitung zur Historie der Leibnitzisch-Wolffischen Philosophie (Leipzig, 1737, rept. Hildesheim: Olms, 1973). On Hartmann, see Simon Grote, “Religion and Enlightenment Revisited: Lucas Geiger (1682–1750) and the Allure of Wolffian Philosophy in a Pietist Orphanage,” Pietismus und Neuzeit 41 (2015): 32–56. Hartmann, Anleitung, 157–158, 636. This and all other English translations are my own. See Hartmann, Anleitung, 158–159. See Hartmann, Anleitung, 635–636; Stefan Borchers, “Johann Faccius (1698–1775) — Christian Wolffs anonymer Verteidiger von 1736,” Das achtzehnte Jahrhundert 41 (2017), 47– 48.

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Reasonable and Modest Remarks on the Controversies […] about the Wolffian Philosophy — that belies both its contemporary impact and the remarkable vividness of its recounting of events.15 The author, as Borchers has convincingly argued, was almost certainly Johann Faccius (1698–1775), a pastor from the Coburg region who had studied theology in Halle from 1720 to 1724 and whose claim to have witnessed what he describes therefore deserves credence.16 As the structure and content of the text make clear, Faccius was a partisan of Wolff’s who wished to rehabilitate Wolff’s theological credentials at a moment in the 1730s when the possible recall of Wolff to Halle had become the subject of heated debate at the Brandenburg-Prussian court, with Lange once again Wolff’s primary public adversary.17 To that end, Faccius offers readers several different bases for rejecting the attacks that Lange had been issuing throughout the thirteen years since Wolff’s expulsion from Halle in 1723. Prefacing his book with a critical sketch of Lange’s character, he begins the main text with an historical account of the quarrel’s origins, including a detailed account of Lange’s teaching; proceeds to dismantle Lange’s mode of anti-Wolffian argument as uncharitable and invalid; and concludes with a circumspect but insistent defense of Wolff from the charge, repeatedly advanced by Lange and others, that Wolff’s teachings are dangerous. Faccius’s partisanship for Wolff in this text is by no means rabid. In stark contrast to Hartmann’s raving, Faccius cultivates a believably unprejudiced persona by acknowledging the complexity of his subject. Refraining from painting the entire Halle Theology Faculty with a single, broad brush, and avoiding the kind of pejorative reference to an undifferentiated “Pietism” that could have antagonized its sympathizers unnecessarily, he asserts his admiration of Philipp Jakob Spener (1635–1705) and of Johann Daniel Herrnschmid (1675–1723), among other Halle theologians.18 He likewise offers a nuanced portrait of Lange himself: a gifted educator, school-reformer, and biblical exegete whose worthy qualities are too often overshadowed by “old Adam.” That is to say, all his talents notwithstanding, Lange cannot tolerate error, hates being contradicted, takes excessive pleasure in conflict, and too often overlooks others’ merits and assumes the superiority of his own judgment to theirs.19 15

16 17 18 19

[Johann Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen über die, wider die Wolffische Philosophie, und sonderlich die Metaphysic oder Haupt-Wissenschaft erregte, und bisher mit großer Heftigkeit geführte Strittigkeiten (Frankfurt/M. and Leipzig, 1736), rept. in Vier Schriften zum Ende von Wolffs erster Lehrperiode an der Universität Halle, edited by Stefan Borchers (Hildesheim: Olms, 2012). On the book’s impact: Borchers, “Johann Faccius (1698– 1775),” 47–48. My thanks to Stefan Borchers for bringing my attention to Faccius’s text and for supplying me with the manuscript of his article on it shortly before its publication. See Borchers, “Johann Faccius (1698–1775),” 49 et passim. Cf. [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, A6r–A6v. See Borchers, “Johann Faccius (1698–1775),” 47. See [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, A3v, A5v–A6r. [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, A2r –A3v. Cf. Friedrich Carl Gottlob Hirsching, Historisch-literarisches Handbuch, v. 4 (1799), s. v. “Lange, Joachim,” rept. in

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In Faccius’s account, this talented but all-too-human Lange, not Hartmann’s cartoonishly spiteful villain, bears responsibility for the conflict with Wolff. The problem, as Faccius describes it, was not simply that Wolff’s increasing popularity injured Lange’s pride. It was that the inadequacies of Lange’s teaching drove students away. His written texts, Faccius concedes, were “eloquent enough,” and his exegetical and church-history lectures passed muster,20 but his lectures on dogmatic theology were miserable: dry, incoherent, and barely audible. “His spoken lecturing,” Faccius recounts, is very disjointed; he often falters, ponders for a long while until something occurs to him, and generally repeats the last words of every statement, so that in the meantime he can again bring something else to mind. And at the same time, if he has not properly prepared to lecture, then his discourse is so thin and dry, and so unpleasant to listen to, that one cannot be sufficiently astonished by it.21

As a result, Faccius claims, the students “who took notes [einige, die nachschrieben] could not put anything coherent [nichts zusammenhangendes] onto the page” and usually went home with very little to show for their attendance.22 Lange simply lacked the ability to lecture about dogmatics without a prepared text. Nor did he seem to make much of an effort to prepare. This, Faccius recalls, was generally believed by students to be the result of Lange’s apparently non-stop writing, itself manifest in the steady stream of published books flowing from his quill.23 His domestic servants, Faccius claims, attested that Lange was sometimes so deeply engrossed in his writing during the hour before his lecture that he needed to be told when the clock had already struck, whereupon he would quickly stand up and look around for the textbook, eventually arriving at the lecture hall in a state of distraction, still thinking about what he had been writing. Nor did Lange do students the courtesy of filling more than half the allotted time. Scheduled to lecture for an hour each morning, he tended to arrive fifteen minutes late and leave fifteen minutes early.24 And so students gradually stopped attending Lange’s lectures on dogmatic theology. But because Lange was the only member of the faculty offering that subject, they had few if any alternatives. The faculty hardly lacked excellent lecturers,

20 21

22 23 24

Deutsches Biographisches Archiv, edited by Bernhard Fabian, microfiche ed. (Munich: K. G. Saur, 1982–1985). [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, A2v, 5, 8. [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 5: Allein der mündliche Vortrag ist sehr unterbrochen; er stocket oft, besinnet sich lange, ehe ihm etwas beyfallen will, und wiederholet insgemein bey einer jeden Aussage die letztern Worte; damit er sich unterdessen auf etwas anders wieder besinnen könne. Und wenn er sich zumal nicht recht zum Lesen vorbereitet hat, so ist seine Rede so mager und trocken, und so unangenehm zu hören, daß man sich nicht genug darüber verwundern kan. [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 6–7. See [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 8–9. See [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 6.

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Faccius explains, singling out Johann Heinrich Michaelis (1668–1738) and Johann Daniel Herrnschmid for special praise. But they lectured infrequently or on other subjects. So among those students who had given up on Lange, Faccius claims, the most pious ones simply stayed home to read Spener’s catechism on their own, while the ones who felt they needed a more “solid” — that is, logically more rigorous — presentation of dogmatics turned to instruction in philosophy. On the recommendation of fellow students and of “other distinguished and learned people,“ they began visiting lectures by Christian Wolff.25 With him they found what they had sought in vain from Lange: an eloquent, example-filled, practically applicable and logically rigorous presentation of how to use philosophy in defense of theological truths. And all this from a teacher whose friendliness, Faccius recalls, stood in clear contrast to the unfriendly impression left by Lange.26 This migration of theology students from Lange to Wolff did not immediately cause the conflict between Wolff and the theologians. The conflict rather arose, Faccius claims, when students who had been attending Wolff’s lectures fell in love with the clarity and rigor of philosophy and, instead of returning to their theological studies with the tools Wolff had given them, gave up on theology altogether. That these students were thereby “abusing” what they had learned and contradicting the intentions of Wolff himself, Faccius adds, did not mitigate the eventual consequences of that abuse. Upon discovering what was happening, the theologians began trying to coax their students back to theology by way of warnings and threats, calling Wolff a “seducer” and characterizing his teachings as dangerous. The unfairness of these attacks merely alienated the students further and provoked Wolff himself, who had until then been generally well disposed toward his colleagues in the Theology Faculty, to retaliate with similarly unfair counterattacks. The theologians, he sneered, were “enemies of sound knowledge [gründliche Erkenntnis]” who cannot interpret any biblical text properly, who blather on about things without any preparatory reflection on them, and who lace their sermons with tautologies. These counterattacks, just as Faccius and his fellow students feared, only made things worse, inflaming Lange and setting in motion the intrigues that ultimately led to Wolff’s expulsion.27 On the whole, this explanation of Lange’s conflict with Wolff appears far more plausible than Hartmann’s, even while anticipating some of its key elements. On the one hand, Faccius surpasses Hartmann in the complexity of his analysis and in the even-handedness with which he assigns blame. While acknowledging the role played by Lange’s anger, Faccius locates the cause of that anger not in Lange’s 25 26

27

[Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 11. See [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 11–12, 19. On Wolff’s own professed intention to serve the cause of theology, cf. Christian Wolff, Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, edited by Heinrich Wuttke (Leipzig, 1841), 120–122, 128–129, 134, rept. in Christian Wolff: Biographie (Hildesheim: Olms, 1980). [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 12–14, 16–20, 78–82.

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jealousy of Wolff’s popularity as a lecturer, but rather in Wolff’s pejorative comments about the Theology Faculty. These comments, Faccius explains, were themselves an unfortunate response to the theologians’ unfounded suspicion that Wolff was deliberately luring students away from the study of theology. The theologians’ suspicion was in turn aroused in large part by certain misguided students’ failure to return to theology after their encounter with Wolff. On the other hand, Faccius anticipates one of Hartmann’s argumentative thrusts. For Faccius, as for Hartmann, the source of the conflict was emphatically non-ideological — albeit with the metaphysical controversies it eventually inspired reflecting not genuine disagreement, as Hartmann would argue, but rather merely a mutual misunderstanding and lack of charity on the part of Wolff and his critics. To make this point, Faccius repeatedly plays down the complexity otherwise evident in his own account, asserting that the ultimate cause of the conflict was in fact quite simple. The entire quarrel could have been avoided, he asserts, if only Lange “had lectured on theology with as much clarity and abundance of substance [so deutlich und reichlich] as […] Wolff lectured on philosophy.”28 In other words, Lange set the conflict in motion by failing to fulfill a longstanding institutional need and to meet self-evident standards of clarity and substance in his teaching. Students in the 1710s and 20s, like all students, expected a clear and rigorous treatment of dogmatic theology, which Lange was simply unable or unwilling to provide. The key to enlisting Faccius’s extraordinary text effectively in our search for the real causes of Wolff’s conflict with the Halle theologians is to subject this last, apparently reductionist claim to critical scrutiny. Can Lange’s students really have departed simply because of his self-evident faults as a lecturer? Even Faccius’s own account, despite his best efforts to minimize the conflict’s intellectual substance, gives us good reasons to expect a negative answer to this question. But teasing this answer out of the materials he provides requires examining them in light of testimony by eyewitnesses with a perspective different from Faccius’s. These include, most importantly, Joachim Lange himself. Lange, too, attempted to account for theology students’ departure from his lectures. But his published and unpublished commentary on the matter point to a very different explanation. Especially when examined in conjunction with some of Faccius’s most arresting revelations about the climate of opinion among his fellow theology students, they suggest that what may have looked like a typical student response to a typical professorial failing in fact reflected the peculiar intellectual dynamics of the University of Halle in the 1710s and 20s. That is to say, the students’ departure reflected — and can therefore illuminate for us — precisely those subterranean disagreements about educational reform that have often been taken to have caused the controversy between Wolff and his critics.

28

[Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 14.

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Joachim Lange’s Testimony In Lange’s view, students abandoned his lectures not because he was failing to meet a self-evidently valid standard for good lecturing, but rather because his and their standards began to part ways. The clearest statement to this effect can be found in Lange’s 1744 Lebenslauf, an autobiography Lange expressly hoped would contribute to the “awakening” [Erweckung] of his students.29 To the surprise of the text’s readers then and now, Lange decided to make no direct mention of the conflict with Wolff that had brought him to the attention of the broadest public. He nonetheless did address — repeatedly, directly, and at great length — the very issue that Hartmann and Faccius had used to explain the genesis of that conflict: the depletion of his lecture audiences. According to Lange, the depletion increased steadily and eventually affected all his lectures, public and private, even those devoted to biblical exegesis. As of 1732, the year Lange suggests the exodus truly accelerated, he found himself lecturing to nearly empty benches.30 This situation presented Lange with an existential problem, in so far as it seemed to make the fulfillment of his pedagogical calling impossible. Directed by God’s providence, Lange explains, he had earlier in his career turned down at least two offers of pastorships in order to serve as a schoolteacher (an office of even greater importance to the Church, he thought, since teachers train pastors). He had then endured a significant salary-cut in order to accept his professorship at Halle in 1709.31 Now God had deprived him of the very auditors he needed to support his large family and fulfill the purpose that God had hitherto allowed to guide his life. Troubled but submissive to God’s will, Lange responded to the situation by immersing himself still more deeply in his writing. He hoped thereby to make up for lost income while serving the Church in the way that remained available to him.32 What Lange did not do, it seems, was interpret his loss of students as a God-sent opportunity publicly to reassess and modify his pedagogical methods. Insisting again and again in his autobiography that he himself bore no responsibility for students’ dwindling attendance — that they departed “without the slightest cause”33 — Lange casts his own lectures in a positive light. The implicit contrast with Faccius’s assessment of them could hardly be more stark. “[S]everal thousand living witnesses,” Lange defiantly asserts, could attest that his teaching was “vivid [lebhaft], clear [deutlich], well structured [ordentlich], and solid [gründlich].”34 And in his early years at the university, Lange informs his readers, he ran himself ragged in order to offer students lectures on a wide panoply of subjects. His exer29 30 31 32 33 34

Joachim Lange, Lebenslauf (Halle, 1744), )()(2r. See Lange, Lebenslauf, 96–97, cf. 99. See Lange, Lebenslauf, 45–46, 72–73, 78–82. See Lange, Lebenslauf, 96–98, 132–133, cf. 366. Lange, Lebenslauf, 98, cf. 96. Lange, Lebenslauf, 98.

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tions went well beyond his official obligations, were not financially remunerated, and taxed his strength.35 In Lange’s view, responsibility for the attendance problem lay not with his own failings but rather with a change in students’ attitudes. Over the years, Lange claims, he had observed students developing an increasingly rigid preference for lectures that could be recorded word for word. On principle, he declined to indulge them, so his students abandoned him.36 The practice of taking dictation in the university lecture hall was, of course, neither new nor unusual. Early modern university lecturing routinely involved a professor dictating from a book, often an unpublished manuscript of his own, section by section.37 The resulting dictates could then become for their possessors a source of income from students willing to pay for the privilege of copying them. The beneficiaries of this business included not only the auditors who had originally made the dictates but also, at some universities, shops that acquired and rented out sections or pecia to be copied.38 August Hermann Francke himself instituted a system of dictation within his schools for the purpose of recording sermons and lectures, principally so as to enable their dissemination and, in some cases, future publication by the schools’ press. Sixteen theology students in the schools’ employment, he explains in a report from 1700, are assigned to sit together in the church or auditorium. Each in turn transcribes as many words of the sermon or lecture as he can easily remember before signaling his neighbor to take over. By the time enough has been spoken to occupy the memories of all sixteen students, the first has finished his original transcription and is ready to begin another. In this manner the transcription proceeds, around and around the group of sixteen, until the speaker has finished. Afterwards, one or more students collate the transcriptions and produce a clean copy of the text from beginning to end.39 Notwithstanding its long university pedigree and its official use in Francke’s schools as a system of transcription, taking dictation in the lecture hall seemed to 35 36 37

38

39

See Lange, Lebenslauf, 88–99. See Lange, Lebenslauf, e. g., 96. See Rainer A. Müller, “Studentenkultur und akademischer Alltag,” in Geschichte der Universität in Europa, edited by Walter Rüegg, vol. 2 (Munich: Beck, 1996), 269–270; cf. Detlef Döring, “Anfang der modernen Wissenschaften: Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform, 1650–1830/31,” in Enno Bünz et al., Geschichte der Universität Leipzig, 1409–2009, vol. 1 (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2009), 680– 682. See Döring, “Anfang der modernen Wissenschaften,” 682; and on the pecia system, Lexikon des gesamten Buchwesens, 2nd ed. (1999), edited by Severin Corsten et al., vol. 5 (Stuttgart: Anton Hiersemann), s. v. “Pecia”; see Richard H. Rouse and Mary A. Rouse, “The Dissemination of Texts in Pecia at Bologna and Paris,” in Rationalisierung der Buchherstellung in Mittelalter und Frühneuzeit, edited by Peter Rück and Martin Boghardt (Marburg/Lahn: Institut für Historische Hilfswissenschaften, 1994): 69–77. See Peter Menck, Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten (Halle: Franckesche Stiftungen, 2001), 138–143. Cf. [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 102–105; and, on Faccius’s own experience of Francke’s system, Borchers, “Johann Faccius (1698–1775),” 57.

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Lange a largely counterproductive practice. He therefore denounced what he perceived to be its increasing popularity among students. Dismissing students’ ceaseless note-taking and copying as excessive “Schreiberey” in his 1744 Lebenslauf, he took a more constructive approach to his critique of it in an announcement of his upcoming lectures in 1734, designed specifically to reverse the exodus from his then nearly empty lecture hall.40 Purporting to explain his mode of teaching and to encourage students to reap its benefits rather than shunning it, he devotes much of the text to defending his avoidance of dictation and impugning the motives of those students who prefer it. The fundamental problem with simply copying down a lecture, Lange asserts again and again, is its pedagogical ineffectiveness. While Lange acknowledges the value of dictating a brief outline (Sciagraphie) of the materials to be discussed in a course of lectures, or of dictating passages from the manuscript of an unpublished textbook, he warns that if done to excess, dictation necessarily distracts students from internalizing what they hear.41 They end up trying to “fill their bags with manuscripts” instead of filling their heads.42 To engage their reason and improve their will rather than merely loading up their memories, he insists, students need to do much more than copy down the teacher’s words. Rather, they need to do the preparatory reading carefully (Praeparation), so as to increase their receptiveness of what they will hear during the lecture; pay careful attention to the professor’s meaning during the lecture itself (Attention); and afterwards perform the requisite “repetition” (Repetition).43 This “repetition” should involve “meditation,” which Lange describes as crucial for transforming merely remembered truths into genuine knowledge founded upon self-concious conviction. It must involve considering the grounds of each of the professor’s propositions and the links between it and the others, as well as praying and attempting to apply them to one’s own actions. As a means of “repetition,” he recommends that students write a few letters in Latin each week, explaining to a friend what they have learned from the previous day’s lecture.44 Taking dictation in class, or copying a classmate’s notes afterwards, may seem industrious, but in fact the constant busyness it requires is a waste of time they could be spending more productively on repetition and on other parts of their theological training. It signals a lazy reluctance to do all the real work of learning.45 Inducing students to undertake this work, Lange explains, is the aim of his teaching. He urges students to think while he lectures, considering each statement 40

41 42 43 44 45

Joachim Lange, Eröfnet der Studierenden, und insonderheit der Theologie ergebnen, Jugend auf der Königl. Preuß. Universität in Halle sein Vorhaben von seinen künftigen Lectionibus (Halle, 1734). See Lange, Eröfnet der Studierenden […] Jugend, §§10–11. Lange, Eröfnet der Studierenden […] Jugend, §§13, 20. On repetitio as a traditional part of university education, see Müller, “Studentenkultur und akademischer Alltag,” 270. Lange, Eröfnet der Studierenden […] Jugend, §§11, 21. See Lange, Eröfnet der Studierenden […] Jugend, §§11, 20.

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as a whole and making concise notations that capture its meaning, rather than, in the manner of Francke’s transcription crew, copying down the actual formulations word by word while he is uttering them.46 To encourage and reward this mode of attention, Lange delivers the lectures themselves freely, without an outline or a fixed text, infusing his discourse with a vividness (Lebhaftigkeit) that displays his own seriousness of purpose and whatever affect (Affect) suits the subject of the lecture. To do otherwise — such as by simply reciting a deduction from a compendium, or by reading aloud from his own commentary on a biblical text — would, like preaching from a script, mean dissipating his lectures’ “vigor of feeling [Vigor des Gemüths]” and “vivacity of speech [Vivacität der Rede],” thereby making an insufficient impression upon his audience.47 Lange’s justification of his own pedagogical method, of course, resonates with the age-old protests, recycled again and again by teachers past and present, against student laziness and against learning by rote. But in publicizing his version of these protests, Lange was in fact self-consciously marking himself as an educational reformer in the mould of his colleagues and former teachers Christian Thomasius and August Hermann Francke. For both Thomasius and Francke, lecturing freely, vividly, and full of affect, so as to move listeners to a deep affective change rather than merely to extract rational assent to a set of propositions, was an essential innovation in university education, crucial to countering the “Scholasticism” of orthodox Lutheran theology — the enemy against which both Thomasius and Francke consistently defined their own reform programs. Thomasius had championed the practice in his own lectures, including those that Lange in 1690 followed him from Leipzig to Halle in order to hear.48 In the preface to his 1691 Einleitung zur Vernunftlehre (Introduction to logic), Thomasius anticipates Lange’s warning to students against taking word-for-word dictation, his recommendation that they listen intently and only take notes on the most important points, and his insistence on the importance of repetition rather than taking empty satisfaction in the mere possession of a complete set of lecture dictates.49 Francke, likewise, had consistently touted the importance of delivering sermons freely, without reading from a script. Such a practice, of course, was what justified his method of group transcription: the sermons could be recorded for eventual dissemination in such a way as to leave everyone in the room — ideally even the transcribers themselves, since they only needed to transcribe several words at a time — free to concentrate intently on what was being said.50 If the preacher was converted, then speaking in all humility from a spiritually elevated affective state would ensure the truth, eloquence, and 46 47 48 49 50

See Lange, Eröfnet der Studierenden […] Jugend, §13; Lange, Lebenslauf, 98–99. Lange, Eröfnet der Studierenden […] Jugend, §12. Lange, Lebenslauf, 19–20. See Christian Thomasius, Einleitung zur Vernunftlehre (Halle, 1691; rept. Hildesheim: Olms, 1998), 6–11. Menck, Die Erziehung der Jugend, 138.

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impact of his words. Aided by the Holy Spirit, he would need neither a pre-written text nor the artifice of “heathen rhetoric” that characterized the pride-filled sermons of the unconverted.51 Accordingly, the key to an effective theological education for future pastors, and according to Francke the hallmark of the superior education Halle was providing, was to foster students’ conversion by conveying to them “God’s spirit” rather than “external Wissenschaft” alone.52 Lange, who continually displayed his commitment to these pedagogical principles in a plethora of published texts, also brought them to bear on his campaign to draw students back to his lectures. From his own perspective, Lange was working tirelessly at the cutting edge of theological training, unappreciated only because student taste was declining around him.53 It was a case, in other words, of a worthy innovation going out of fashion for no good reason.

Faccius versus Lange Whose story, then, Faccius’s or Lange’s, more accurately accounts for Lange’s increasingly empty benches? Did the students who left Lange for Wolff simply not understand or believe in the value of Lange’s self-consciously reformist approach to teaching? Had they, in other words, come to see as a model of “clarity” (Deutlichkeit) the kind of dictated lecture Lange explicitly disavowed on principle? Or was Lange for some reason falling short of a much more general, unquestionable standard of clarity and moreover failing to achieve the ideal he himself was professing to uphold? On the one hand, there are grounds to suspect that Lange was indeed falling short in ways he would have had good reason to omit from his public efforts at self-defense. Faccius himself claims to have suspected that the problem lay with Lange’s use of his colleague Joachim Justus Breithaupt’s (1658–1732) dogmatics textbook. All Lange’s stopping and starting, Faccius suggests, was hardly the sign of inspiration by the Holy Spirit. Rather, he writes, “it seemed as if Herr Lange’s head and Breithaupt’s book did not go together well at all.”54 Breithaupt’s book was “not constructed in as orderly [ordentlich], clear [deutlich], and concise [bündig] a way as required by a good logic,” and Lange’s lectures were unable to make up for the book’s defects.55 Of course Lange, who took pains in his Lebenslauf to toe the line of his Halle colleagues in crediting the Theology Faculty with an ex51

52 53 54 55

August Hermann Francke, Grosser Aufsatz, edited by W. Fries (Halle, 1894), 7–8. Cf. Lange’s scepticism about the value of learning rhetorical principles, in Joachim Lange, Verbesserte und Erleichterte Lateinische Grammatica (Berlin, 1708), 26–33. Francke, Grosser Aufsatz, 25. It therefore could hardly have surprised him that his 1734 lecture announcement did little if anything to fill his vacant seats. See Lange, Lebenslauf, 99. [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 6. [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 6.

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traordinary internal harmony,56 would hardly have wanted to damage the faculty’s reputation by casting blame publicly on a colleague. Faccius’s suspicion would seem to be borne out by a substantial body of archival evidence. Brought to light by Udo Sträter in probably the most important recent article on Lange, this evidence makes clear that upon taking up his professorship in Halle in 1709, Lange immediately found himself in a difficult situation. He had been called to Halle in part for the purpose of covering for Breithaupt, who had just been appointed school director of Kloster Berge in the vicinity of Magdeburg and could therefore not count on being in Halle frequently enough to deliver the faculty’s public lectures on dogmatic theology.57 Breithaupt had been teaching from his own textbook, condensed into a handbook for students first published in 1700: Theses credendorum atque agendorum fundamentales. Notable for its derivation of theological terms directly from biblical passages rather than from the standard scholastic vocabulary, the book represented for Breithaupt an essential weapon in the Halle Theology Faculty’s anti-orthodox curricular arsenal. He accordingly required Lange to retain it as the basis for his public lectures on the subject.58 Lange, for his part, did not adapt easily to the task. In his heart a biblical exegete and teacher of sacred philology, he nonetheless resisted Breithaupt’s biblicist approach to dogmatics and would have preferred to teach from standard textbooks such as that of Johann Friedrich König (1619–64), which he did in fact use occasionally in his private lectures.59 Lange eventually published his own textbook, less biblicist than Breithaupt’s and less doctrinally dicey than König’s, and his attempt to substitute it for Breithaupt’s in 1728 met with Breithaupt’s outraged resistance.60 Lange finally began lecturing from it after Breithaupt’s death in 1732, but by then he had acquired an unshakeably bad reputation. Already by the early 1720s, thirteen students had issued a written complaint attacking Halle’s theological instruction as “unsolid” (ungründlich) and as the worst in Germany, solely on account of Lange’s lectures in dogmatics, “with which no honest soul [kein rechtschaffenes Gemüthe] can be satisfied.”61 For Faccius, whose similar account of the problem suggests he must have been aware of the complaint, the diagnosis was clear: students might have found Lange’s lectures decent enough, if his obliga-

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See Lange, Lebenslauf, e. g., 16, 82, 94; cf. Udo Sträter, “Wolffs Gegner Joachim Lange im Kontext der Theologischen Fakultät Halle,” in Christian Wolff und die europäische Aufklärung, edited by Jürgen Stolzenberg and Oliver-Pierre Rudolph, vol. 3 (Hildesheim: Olms, 2007), 84. See Sträter, “Wolffs Gegner Joachim Lange,” 81, 84, 85. See Sträter, “Wolffs Gegner Joachim Lange,” 86–88. See Sträter, “Wolffs Gegner Joachim Lange,” 83, 87. See Sträter, “Wolffs Gegner Joachim Lange,” 90–93. Sträter, “Wolffs Gegner Joachim Lange,” 90; University Archive, Halle, Rep. 27, Nr. 1094, fols. 29r–29v. Sträter infers a date of 1723 from the petition’s contents and identifies August Hermann Francke as probably the intended recipient.

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tion to work with Breithaupt’s book had not hindered his attempts at clarity and rigor. But in this case, too, Lange counters that the alleged problems with his lectures were merely an artifact of student misunderstanding, not the result of his own shortcomings. Already by 1717, Lange had heard from Francke about students’ dissatisfaction with his lectures not only on Breithaupt’s dogmatics textbook, but also on König’s dogmatics textbook and on Lange’s own textbook on “sacred oratory” (oratoria sacra).62 Responding to Francke with a detailed defense of his method of instruction in all three cases, he repeatedly emphasized the reasonableness of his pedagogical aims and his procedures for fulfilling them, together with the corresponding unreasonableness — maliciousness, even — of the students’ criticisms. The student complaining about his lectures on sacred oratory, for one, Lange asks Francke to consider a “person of extremely wicked mind [homo iniquissimi animi]” whom God will punish for pretending to have abandoned his lectures “by necessity,” a claim rendered absurd by the fact that his largest auditorium has otherwise been mostly full of auditors.63 The likewise unfounded complaints about his lectures on König, Lange continues, can be attributed to false inferences from the care with which he points out the potentially misleading expressions or “thorns” in the text. “When you show this,” Lange explains, “ignorant people think you either do not understand it yourself, or you are dissenting from the best things in König.” When it comes to the complaint about his lectures on Breithaupt’s Theses — apparently that he “paraphrases” Breithaupt instead of simply dictating — Lange responds that the students should in fact thank him rather than criticize him for taking time to explain the text in words other than those used by Breithaupt, “since that is the way they learn to understand” the book. The problem with the book, he explains, is that it is “obscure,” offering little or no explanation of the assertions it contains. The auditors understand it so long as they hear it, but when [it] is gone from their hearing, they know nothing. If they then want to repeat the Theses on their own at home, they do not understand it because it is not explained, and in this way they could attend the dogmatics lectures [das collegium theticum hören] for ten years and still learn nothing.64

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Joachim Lange to August Hermann Francke, [1717], Archiv der Franckeschen Stiftungen [=AFSt] /H A170:44. Other parts of the correspondence between Francke and Lange on this matter are discussed in Wolfgang Saftien, “Persönlichkeit und Wirksamkeit Joachim Langes im Spiegelbild der an ihn gerichteten Briefe, vornehmlich der A. H. Franckes” (unpublished manuscript, May 31, 1957), AFSt HS 19, 25–30. Lange to Francke, [1717], AFSt /H A170:44, 1r–1v. Lange to Francke, [1717], AFSt /H A170:44, 1v: “Diesen Discours verstehe nun zwar die Auditores, so lange sie ihn hören: Wenn aber der Discours aus dem gehör hinweg, so wißen sie nichts: Wollen sie nun die theses selbst zu Hause repetiren, so verstehe sie solche nicht weil sie nicht erkläret wird, und auf dieser Art mögen sie 10 Jahr das collegium theticum hören, und lernen doch nichts.” My thanks to Jürgen Gröschel for his assistance in transcribing this letter.

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In other words, as in Lange’s lectures on König, the problem was not that working with a flawed book was rendering his own lectures unclear or otherwise defective; it was rather that students lacked appreciation for the value of the kind of explanatory practice Lange was offering them. What Faccius represents to his readers as an unimpeachable desire for a constantly flowing string of clear, interconnected propositions enlivened by examples and delivered with rhetorical polish, Lange presents to Francke as a misguided demand for a finished text, devoid of further explanation. Happy to hear Breithaupt when he could make it to Halle to give his public lectures,65 the students responded with truculence to Lange’s attempts to give them more effective instruction. Instead of receiving thanks for his efforts to help them, Lange laments to Francke, “I have for so many years here, right from the beginning, been judged most uncharitably [aufs ungünstigste],” adding that as a consequence he has even considered giving up his job in Halle.66 As a factual matter, whether Lange’s lectures were truly as faulty as Faccius claims, rather than — as Lange suggests — merely misunderstood and unfairly criticized by students lacking in sympathy for the salutarily innovative approach he purported to represent, may ultimately be impossible to establish. Both accounts find support in documented student testimony: Faccius’s from the thirteen students’ written complaint, and Lange’s from letters sent to him in the 1730s by former students, at least one of them clearly a contemporary of Faccius’s, exclaiming their gratitude for their “good fortune” (Glück, Glückseeligkeit) to have attended his “solid” (gründlich) lectures.67 As for the lectures themselves, the direct evidence is regrettably thin. Surviving student notes on Lange’s lectures appear not to include any on dogmatic theology. No doubt a careful analysis of his lectures on other subjects,68 in comparison with those by Lange’s colleagues on the same subjects — not to mention the surviving student dictates of Wolff’s lectures — could shed light on Lange’s characteristic style as a lecturer. But until lecture notes on dogmatics clearly attributable to Lange can be found, Faccius’s claim that those lectures were particularly problematic will remain extremely difficult to assess.

The Growing Cultural Divide In any case, even if we cannot confidently adjudicate between Faccius’s and Lange’s explanations for the student exodus, let alone discern the exact rate at 65 66 67 68

See [Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 6. Joachim Lange to August Hermann Francke, [1717], AFSt /H A170:44, 2r. Johann Jacob Heinold to Joachim Lange, 7 Oct. 1736, AFSt /H A188b:415; Johann Gottfried Kühne to Joachim Lange, 12 May 1734, AFSt /H A188b:336. Cf. Lange, Lebenslauf, 98. Those known to me include collegia exegetica on Colossians (1724), on Hebrews (1724), and on Revelation (1725), taken down by Samuel Lau, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt [= ULB Sachsen-Anhalt], Halle, Stolberg-Wernigerode MS Zd 69.

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which the exodus took place,69 we can find at least one matter on which both men seem to have agreed. By the 1720s, a significant body of students disliked Lange, at least as a teacher, and had voiced criticism of his lectures. Many of the same students took a greater liking to Wolff. And although Faccius and Lange may have disagreed about what the students were looking for, they seem not to have disagreed about its names: clarity (Deutlichkeit) and solidity (Gründlichkeit). At the same time, their accounts of the problem display a common awareness that something less tangible about Lange’s teaching, something about his manner, seemed to have made him a longstanding target of critique. These facts — students’ dislike of Lange and insistence that they preferred the ‛clarity’ and ‛solidity’ of Wolff’s lectures — suggest that even if Lange understated his own weaknesses as a lecturer and mischaracterized students’ criticisms in order to exaggerate their baselessness, his sense of the bigger picture nonetheless deserves some credence: Student tastes were indeed changing in ways that could not but have made Lange’s professed goals as a pedagogue, even if he had been able to realize them perfectly, increasingly unappealing. The clearest and most convincing sign of the change — independent of Lange’s own tendentious diagnosis — comes again from Faccius, this time from a pair of stunningly vivid anecdotes from his days as a student in 1720s Halle. Faccius inserts them in order to illustrate his criticisms of Lange’s teaching, but read against the grain and in the context of further contemporary texts by Lange, they reveal at least as much about Faccius and his classmates’ misunderstanding of, and loss of sympathy for, core tenets of Lange and his colleagues’ program of theological education. The first anecdote brings us into Lange’s study. It was a place forbidding enough to ward off more than a few students looking to allay their uncertainties about Christianity. Among the theology faculty, Francke may have had a reputation for uselessness — having allegedly advised one student, so the rumor went, that diligent prayer alone would cause one’s doubts about the existence of God and the immortality of the soul to “disappear, like smoke” — but Lange seemed utterly unapproachable. “People didn’t dare go to Herr Dr. Lange,” Faccius explains, “because everyone said of him that he was very crabby and had the habit of going after you.” One student’s encounter with Lange said it all: One particular student recounted to us that he was once with Lange, and had asked him — with utter meekness and humility — to answer several objections that he had raised against [Lange’s] propositions. The Herr Doctor did then listen to him, whereupon he paced back and forth silently a few times in his study, but then at last he let fly at him with these words: How dare he disturb him like this, and did he then believe that he [Lange] had been reciting lies? Since [the student] now replied that it pained him that the Herr Doctor had taken such umbrage at his having asked him for instruction, and that he ought indeed to keep in mind that [students] were told by their teachers themselves to do such a thing, [Lange] accordingly regained self-control and told him he ought to come back soon and should expect a more appropriate an-

69

An uncertainty noted in Beutel, “Causa Wolffiana,” 134.

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swer at that time. Privately this student said that he didn’t have the heart to return to this man, who spoke with you so roughly. [...]70

Faccius lets the story speak for itself, offering no further commentary. His message about Francke and Lange is, of course, clear. Francke may have meant well, but his confidence in prayer was misplaced; what students needed to assuage their doubts about Christian teachings was solid arguments. Lange, by contrast, seems not even to have meant well. His response to an innocent request exhibited uncontrolled and counterproductive aggression, the outbreak of an inappropriate affect that Lange only managed to rein in after being reminded — by his own student, no less — that he should be dispensing praise and answers, not retribution. This second-hand portrait of Lange as a bully, shaming students for asking legitimate questions, cannot have been entirely faithful to the reality of Lange’s relationships with, or reputation among, all students. In the journal of Anton Heinrich Walbaum (1696–1753), one of Faccius’s fellow theology students at Halle, we find repeated mentions of visits to Lange and conversations with him.71 Clearly, not all students found Lange’s study forbidding. But if we accept that the story contains a kernel of truth, what can it really tell us? On one level, it confirms other evidence that Lange had a reputation, at least among some students, as a disciplinarian. Lange himself registers the damaging effects of this reputation in his Lebenslauf, where on several occasions he takes pains to justify his exertion of authority in the classroom and as university pro-rector.72 On still closer examination, the anecdote retold by Faccius also reveals in Lange something other than a violent allergy to insubordination. Even in Faccius’s tendentious retelling, Lange’s response to the student was hardly impulsive, and we need not hear any anger in Lange’s voice as we imagine the incident. He listened, then paced the room in silence. His subsequent utterance would therefore seem to have been the outcome of cool deliberation, not an uncontrolled out70

71 72

[Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 94–95: ‟Zum Herrn D. Langen getraueten sich die Leute nicht wohl zugehen, weil jedermann von ihm sagete, daß er sehr unleidlich wäre, und einen gerne hart anfahren pflegte. Denn es erzehlete uns ein gewisser Student, er wäre einmal bey ihm gewesen, und hätte ihn um Beantwortung einiger Einwürfe, die er wider seine Lehrsätze gemacht, gantz demüthig und bescheiden gebeten: Der Herr Doctor hätte ihn zwar angehöret, und wäre darauf etliche mal in seiner Studier-Stube stillschweigend hin und her gegangen: endlich aber hätte er ihn mit diesen Worten angefahren: was er sich unterstünde, ietzo ihm solche Unruhe zu machen, und ob er dann meinete, daß er ihm Lügen vorsagete? Da er nun geantwortet, es wäre ihm leid, daß sich der Herr Doctor darüber so entrüstete, weil er ihn um einen Unterricht gebeten hätte; er sollte doch bedencken, daß sie solches zu thun von ihren Lehrern selbsten geheisen würden: so hätte er sich wieder begriffen, und zu ihm gesagt, er sollte bald wieder kommen, und alsdenn einer geneigtern Antwort gewärtig seyn. Allein dieser Student sagte, er hätte das Hertz nicht, zu diesem Manne, der so hart mit einem redete, wieder zu gehen, und ihn um Beantwortung einiger Scrupel zu bitten.” See Anton Heinrich Walbaum, Tagebücher, ULB Sachsen-Anhalt, Halle, Stolberg-Wernigerode MS Yd 35m, e. g., 27 March 1720. See Lange, Lebenslauf, 51–52, 90–94.

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burst. Perhaps his apparently rhetorical questions — why the student had the audacity to disturb him, and whether the student believed Lange had been reciting lies — were not entirely rhetorical. In fact, if we avoid assuming that Lange’s tone must have been agitated and aggressive, it becomes easier to imagine him in this scenario as a calculating pedagogue and pastor, challenging the student to examine his conscience for the sources of his skepticism. Excessive skepticism, after all, was for Lange a serious and widespread hindrance to understanding precisely the articles of faith that the student had asked Lange to defend. Lange himself had published a denunciation of such skepticism on the part of Christian Thomasius twenty years earlier, in one of the principal texts evidencing an intellectual break between Thomasius and Halle Pietism in the early 1700s. Lange had described his own technique for redressing Thomasius’ error as “presenting questions to his conscience” in order to prompt Thomasius to reconsider his excessive confidence in human reason. Such misplaced confidence, Lange claimed, rooted in pride, had caused Thomasius to misinterpret Mosaic law in such a way as to lead auditors of his lectures to atheism rather than to Christian faith.73 In light of this precedent, Lange would appear not so much to have lashed out impulsively at his skeptical student twenty years later, but rather to have reached carefully into his pedagogical toolkit for a well-worn instrument that he predicted could prompt the student to self-examination and release him from excessive attachment to philosophical argument. When the student’s injured response revealed that the instrument hadn’t worked, Lange reevaluated and suggested the student return later for a different answer, perhaps one more likely to do the trick. Such a response by Lange would have been well in keeping with Francke’s advice to redress one’s doubts about Christian dogma by recourse to prayer and, ultimately, by looking to the Holy Spirit to supply the firmness of conviction that philosophy ultimately could not. Lange himself endorsed a similar approach to doubts about God’s providential intervention in one’s own life, recalling in his Lebenslauf how his own such doubts about God’s grace disappeared not because he sought to overcome them with the sturdiest possible arguments, but rather because he ignored them, turned to the Bible for guidance, and made an effort to avoid the company of other doubters.74 Lange’s response to the student would also have been in keeping with his own published exhortation to theology students to make the examination of their own consciences a routine part of their university education. The vehicle for this exhortation was a treatise on meditation by the French Reformed pastor Jean de Labadie (1610–1674), published anonymously in a (likewise anonymous) German translation by Spener originally in 1667, then again in 1700, and then republished under a 73 74

[Joachim Lange], Nothwendige Gewissens-Rüge an den Hallischen Prof. Juris Herrn D. Christian Thomasium […] (Berlin, 1702), e. g. 7, 12–13. See Lange, Lebenslauf, e. g., 21–23, 24–27.

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new title with commentary and a substantial preface by Lange in 1719, shortly before Faccius’s arrival in Halle.75 It was essential, Lange insisted in his preface, that theology students practiced what he called a “spiritual Sabbath,” taking quiet moments during the day to “collect themselves” — their otherwise scattered intellect, will, and senses — and engage freely in a methodical, internal self-examination before the tribunal of their consciences, so as to return to their everyday work with a strengthened conscience, greater security against temptation, and a renewed commitment to serving God.76 It need not take long; even a fifteen-minute pause from one’s daily business could serve the purpose.77 That said, Lange reminded students that this practice of meditation would not work without help from the Holy Spirit. By contrast with Christian Wolff, who would soon also publish a recommendation that students examine their consciences on a daily basis, assessing by means of their own natural cognitive powers whether they had acted conducively to their own perfection,78 Lange warned that self-examination required the inner tranquility that God grants supernaturally to the faithful alone. Without it, egotism would invariably sway the meditator toward an unduly flattering self-assessment. No, Lange insisted, the self-examination needed to be precise and candidly severe, giving one’s conscience full scope to reveal all the ways in which one had failed to rein in one’s natural, corrupt passions instead of loving and honoring God.79 Lange clearly did not mean this advice as merely a casual suggestion for students to take or leave. Rather, it was part of a concerted effort by Lange and his colleagues to help each theology student achieve the conversion they regarded as the hallmark of their educational program and the reason for its superiority to those at other universities. They regarded the experience of God’s grace, to which students needed to open themselves by means of meditative practices, as essential to a sound understanding of the Bible’s spiritual truths, essential to effective preaching, and essential to pastoral care.80 A good shepherd of souls, Lange explained to his students, cannot simply rehearse a series of concepts that he grasps only with his natural cognitive powers; he must be able to guide others by drawing upon his own 75

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Jean de Labadie, La Pratique de l’Oraison et Meditation Chrétienne (Geneva, 1660); [Labadie], Kurtzer Underricht von Andächtiger Betrachtunge, trans. [Philipp Jakob Spener] (Frankfurt/M., 1667); [Labadie], Kurtzer Unterricht von Andächtiger Betrachtung, trans. [Spener] (Berlin, 1700); [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang einer gläubigen Seele mit Gott zur Prüfung, Stärckung und Fortgange im Christenthum, trans. [Spener], edited by Joachim Lange (Halle, 1719). Cf. Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit, 1666–1686, edited by Johannes Wallmann et al., vol. 1 (Tübingen: Mohr, 1992), 327. Lange, Vorrede, Der geheime und vertrauliche Umgang, e. g., 3–4, 8–10, 22–23. See Lange, Vorrede, Der geheime und vertrauliche Umgang, 24. See Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, 4th ed. (Frankfurt/M., 1733), §§173–175, 188. Lange, Vorrede, Der geheime und vertrauliche Umgang, e. g., 5–6, 8, 11, 13–14. See e. g. Simon Grote, The Emergence of Modern Aesthetic Theory: Religion and Morality in Enlightenment Germany and Scotland (Cambridge: Cambridge University Press, 2017), 74–82.

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spiritual experiences in order to understand theirs.81 These lessons, all of which Lange and his colleagues had defended for decades in their polemics against Lutheran orthodoxy, were by the 1720s the main substance not only of Lange’s edition of Labadie in Spener’s translation (which Lange also included in his own published bibliography of books important for new theology students), but also of the “ascetic lectures” he held on Sundays; of the regular “paraenetic” (i. e., exhortatory) lectures by his colleagues Francke and Breithaupt; and of lectures in a variety of other subjects offered by the theology faculty, such as hermeneutics and homiletics.82 Nearly two decades later, Lange’s own campaign to encourage meditation had not ceased; in his 1740 Lebenslauf, he held up his own daily meditations as an example for students to emulate.83 In attempting to illustrate Lange’s pedagogically unsound irascibility, therefore, Faccius appears unintentionally to have brought us instead into the midst of a misunderstanding between representatives of two cultures drifting apart. On the one hand, Lange saw himself at the vanguard of the Halle program for the reform of theological education, marked by its repudiation of Lutheran orthodoxy’s “Scholastic” emphasis on the philosophical teaching of doctrine. Accordingly, Lange saw his student’s request for a stronger theoretical defense of doctrine as an opportunity to inculcate in an aspiring pastor a respect for the power of the Holy Spirit to illuminate the converted, while encouraging the habit of rigorous self-scrutiny. That the student recoiled at what he saw as an unwarranted outburst and then decided not to return to Lange despite reassurances that he would get a more suitable answer suggests either his lack of awareness of Lange’s intentions or, if he did in fact understand them, a lack of confidence that Lange’s methods could do him enough good to warrant giving them a try. From the student’s perspective, Lange’s job was simply to give him the arguments he had requested. That the story was then circulated by fellow students as a warning that one should not consult Lange, because he “goes after you,” and that Faccius then published it

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Cf. [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 2–4. This was a lesson Lange himself had learned first-hand. Although he apparently avoided taking confessions during his brief stint as a pastor in Berlin, he routinely visited members of his congregation to discern the state of their souls. See Lange, Lebenslauf, 74–75. Cf. Lange’s reference to his intention to publish a manual for the pastoral care of souls, in Lebenslauf, )()(6r - )()(8r. Lange, Vorrede, Der geheime und vertrauliche Umgang, 3; Joachim Lange, Institutiones studii theologiae litterariae (Halle, 1724), 42–43; and on the paraenetic lectures, Sträter, “Wolffs Gegner Joachim Lange,” 85. On hermeneutics, see Grote, Emergence of Modern Aesthetic Theory, 74–82. On homiletics, see Andres Straßberger, “ ‘. . . reden und predigen nach dem, was der Geist Gottes eingibt’: Aspekte der Theorie und Praxis der homiletischen Ausbildung an der Universität zu Halle zurzeit August Hermann Franckes,” Pietismus und Neuzeit 43 (2017): 33-70; and Andres Straßberger, “Aufklärung im Pietismus: zum Neuheitsanspruch einer Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts,” in Traditionsbewusstsein und Aufbruch: Zu den Anfängen der Universität Halle, ed. Hanspeter Marti and Karin MartiWeissenbach (Köln: Böhlau, 2019). See Lange, Lebenslauf, 85.

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without comment, as if the warning spoke for itself, suggests that at least for a particular group of students, and for the audience Faccius hoped to reach, the original student’s perspective on the incident was obviously valid. Still firmer evidence of this widening cultural fissure comes from Faccius’s second anecdote, a recounting of the theology faculty’s inability to assuage students’ anxieties about conversion. Upon arriving at Halle, Faccius recalls discovering various previous acquaintances of his among the students there, including “several who had been much encouraged in their Christianity” by Breithaupt and Francke, but who nonetheless began to encounter difficulties. These “good people,” Faccius writes, had […] gotten into their ears various words and expressions, for which they lacked a clear and distinct idea. Even though they yearned heartily for God’s grace and paid attention diligently to everything that was necessary for a genuine conversion, they nonetheless did not believe that they were in the midst of a correct conversion and, by extension, in God’s grace, and they had therefore spent a long time worrying themselves sick about it. But eventually someone came along who was also an upright man, and who had heard the Wolffian logic as an auditor of Herr Wolff himself. He asked them why they believed that they were not yet partaking in divine grace and eternal salvation? They replied, because they still didn’t have a genuine breakthrough [Durchbruch] and the taste of divine grace [Geschmack der göttlichen Gnade]. When they were asked to indicate what the “breakthrough” consisted of, they couldn’t explain this word, because their idea of it was quite obscure. When they were instructed in the distinct idea of a “breakthrough” according to Wolffian logic, and when they were shown that they had all its hallmarks, their long-tormented and utterly exhausted spirit was reinvigorated and liberated from self-inflicted lament.84

Again, the thrust of Faccius’s anecdote is clear. Francke and Breithaupt presented the process of conversion in terms of “taste” and “breakthrough,” scriptural concepts that Francke, Faccius says, tended to utter while speaking “from a very holy affect and a great urgency of spirit [aus einem sehr heil[igen] Affect und grosem

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[Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 121: “Da ich neml. mit einige[n] andern guten Freunden nach Halle kam, so fanden wir schon daselbst verschiedene Bekandten; und unter diesen einige, welche so wol durch den sel. Hn. Abt Breithaupt, als auch den sel. Hn. Prof. Francken im Christenthum sehr waren aufgemuntert worden[.] Allein die guten Leute hatten auch verschiedene Worte und Redens Arten zu Ohren genommen, davon ihnen ein klarer und deutlicher Begrif fehlete. Denn ohngeachtet sie sich hertzlich nach der Gnade Gottes sehneten, und das alles, was zu einer wahren Bekehrung nöthig ware, fleisig beobachteten, so glaubeten sie dennoch nicht, daß sie in der rechten Bekehrung, und folglich auch in der Gnade Gottes stünden, und hatten sich deswegen lange Zeit sehr abgeängstiget. Es kam aber endlich einer, welcher auch ein wackerer Mensch war, und die Wolffische Logic bey dem Hn. Wolffen selber gehöret hatte; der fragte sie, warum sie den meineten, daß sie der göttl. Gnade und ewigen Seligkeit noch nicht theilhaftig wären? [S]ie antworteten, weil es ihnen noch am rechten Durchbruch und am Geschmack der göttl. Gnade fehlte[.] Da sie nun zeigen solten worinnen der Durchbruch bestünde, so konten sie dieses Wort, weil ihr Begrif davon gantz dunckel war, nicht erklären. Da man ihnen nun nach der Wolffischen Logic einen deut. Begrif von dem Durchbruch beybrachte, und zeigete, daß sie alle Merckmahle desselben hätten: so ward ihr lang gequäleter und gantz abgematteter Geist wieder erquicket, und von dem selbst gemachten Jammer befreyet.”

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Eifer des Geistes].”85 By never adequately defining these concepts, Francke and Breithaupt produced unnecessary fear and uncertainty in the theology students whose conversion they were trying to foster. Wolff, by contrast, offered students an escape from their anxieties by providing a method of defining the concepts with such precision that one could apply them in the process of self-examination and thereby determine with certainty that, in fact, one had achieved faith and had nothing more to fear. For Faccius, the value of Wolff’s method was so obvious as hardly to need further explanation. Wolff himself, writing around 1740, agreed, endorsing Faccius’s explanation for his own growing popularity among students who “required better explanations and proof” from their theology instructors. His own sermons, he observed, had received general acclaim for their clarity precisely because he drew his proofs “not exclusively from the language of scripture, but also from the concepts of the thing [itself].”86 And yet to Francke, Breithaupt, and indeed Lange, Faccius’s anecdote would have seemed bizarre. From their perspective, the fear-inspiring uncertainty that disturbed their students was inevitable, beneficial, and by no means necessarily “self-inflicted.” The experience of illumination by the Holy Spirit, an essential element of the conversion process, was not something that they believed could be adequately described in advance to those who had not had it themselves. Hence their continual references to that experience in terms of taste, a human sensation so purely experiential as to resist translation into concepts.87 Similarly resistant to such translation was the “breakthrough” that Lange and his colleagues thought marked the passage into faith. Wary of complacency, overconfidence, and the very real danger of backsliding among the faithful, they denied that a Christian’s “breakthrough” was necessarily brief, decisive, and easy for others to identify.88 Among the benefits of such a cautious approach to the analysis of one’s own and others’ conversions, they thought, was its fostering of the very humility that a true conversion itself required.

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[Faccius], Vernünftige und bescheidene Anmerckungen, 120. Christian Wolff, Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, edited by Heinrich Wuttke (Leipzig, 1841), 147, 128–129. See Simon Grote, “Vom geistlichen zum guten Geschmack? Reflexionen zur Suche nach den pietistischen Wurzeln der Ästhetik,” in Schönes Denken: A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik, edited by Andrea Allerkamp and Dagmar Mirbach (Hamburg: Meiner, 2016), 367–368. See e. g. Joachim Lange, Mosaisches Licht und Recht (Halle, 1732), 1247–1252; and on Francke’s increasing skepticism about the usefulness of contemporary Puritan accounts of transparent, instantaneous conversions, see Jonathan Strom, “British Conversion Narratives in Eighteenth-Century German Pietism” (lecture, German Studies Association annual conference, Arlington, VA, October 3, 2015); cf. Jonathan Strom, “Constructing Religious Experience: Constructing Conversion Narratives in Hallensian Pietism,” in “Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget”: Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus, Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009, edited by Christian Soboth et al. (Halle: Franckesche Stiftungen, 2012).

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To encourage students to adopt this perspective, embrace the uncertainty they were experiencing, and let go of their discontent with the anxiety it necessarily produced, was clearly one of Lange’s chief aims in publishing his new edition of Labadie. Given the (ostensibly anonymous) author’s explicit endeavor to assuage the same anxiety of the “pious virgin” to whom he purported to be offering guidance in the practice of meditation,89 Lange could hardly have chosen a more suitable vehicle for his own message. The antidote it offered to the anxious, emphasized repeatedly by the author and both amplified and set within a Pietist doctrinal frame by Lange’s occasional commentary, was to adopt a certain passivity in their meditations. In seeking “conversation with God,” the author explains, his readers need to allow themselves to be moved by the Holy Spirit and to “take on its motions.”90 This can only happen if, in all humility, they remain cognizant of their own weakness, embrace the experience of the inability to master their own thoughts during meditation, and allow the Holy Spirit to come to them.91 Since the Holy Spirit’s arrival is often marked by the “sweet taste” of its movements, meditations must involve an introspective “testing” (Prüfung) of whether one is truly tasting God’s sweetness and, as a necessary consequence, adoring God.92 But this testing, in stark contrast to the procedure recommended in Faccius’s anecdote, cannot involve trying to apply a definition; like the external sensory perception of a taste, it is purely experiential. As the author reminds his readers on the final page of the treatise, “a child with [sugar] on its tongue understands what it is better than a rational person [Verständiger] who knows of it without tasting it himself.”93 Accordingly, rather than explaining spiritual taste definitionally, the author offers a series of imagistic similes that capture the semi-passive process of allowing oneself to receive it in the course of meditation. The process is like that of “a river flowing so gently that one almost cannot notice it” or like “a sleeping child drinking so gently from its mother’s breast while sleeping, that one ought to say it isn’t suckling but is rather lying there dead.”94 And yet, sometimes this spiritual taste does not arrive as expected: a problem so common and so pressing that the author devotes nearly a third of his text to addressing it. The plethora of techniques for emerging from this “spiritual dryness,” he and Lange explain, include such activities as the contemplation of the natural world, reading the Bible and other useful books, engaging in pious conversations, and arousing one’s “spiritual affects” with “arrow prayers” (Stoß-Gebete).95 Again, rather than involving any striving for certainty through the 89 90 91 92 93 94 95

See Lange, Vorrede, Der geheime und vertrauliche Umgang, 29. [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 7–8. See [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 10–13. [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 23. [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 160. [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 28–29. [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 31–35, 84.

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application of definitions to one’s experiences, they all require a certain passivity. The contemplation of a flower illustrates the point: itself an image of God’s beauty, its color and form move beholders who feast their eyes on them and wait, not those who merely measure what they see against a definition of beauty.96 And when the spiritual taste still does not arrive, the author urges his readers to accept its absence as itself a gift to be received with patience and gratitude. God’s “neglect,” he explains, can harden believers against hardship and teach them to embrace the suffering of their souls. By offering believers an opportunity to recognize their unworthiness of God’s grace, such suffering can increase their esteem for that grace while diminishing their feeling that they have deserved it by virtue of their own good works.97 Of course, as Lange warns, they must not fall into the trap of assuming that those who are unworthy of grace are also incapable of receiving it.98 At the same time, the absence of spiritual taste can also prompt them to abandon their fixation on the pleasurable sensation of the Holy Spirit’s presence, and instead to love God not instrumentally but purely, without a self-interested regard for the gifts he bestows.99 It is in fact a mark of conversion to be able to take comfort in being united with God even without receiving indubitable signs of it.100 Again and again, endorsed by Lange’s footnotes, the author urges his readers to accept their “hunger and thirst” as an inevitable accompaniment to faith.101 The truly converted do not require what Lange calls “the hope of reason” (Hoffnung der Vernunft), because “the darkness of the Lord is like his light.”102 Viewed in light of this advice by Lange, Faccius’s anecdotes appear to capture the anxieties of students increasingly unwilling to tolerate the uncertainty that their theology professors insisted was indispensable to a genuine conversion, and increasingly uncomprehending of their teachers’ deep skepticism toward the ability of philosophical demonstrations to provide an adequate surrogate for the experience of spiritual taste. They offer a vivid portrait of a student community in flux, caught in the vortex between two very different, and differently innovative, approaches to the reform of theological education and to the perfection of individuals. Wolff, on the one hand, apparently in self-conscious contrast with his critics in the Theology Faculty, was encouraging students to adopt philosophical methods for the production of certainty in dogmatics. Wolff’s critics, on the other hand, in self-conscious contrast with the orthodox Lutheranism they continually attacked, were warning of those methods’ radical limitations and insisting that faith necessarily came by a very different route. In purporting to deny the reality of the vortex 96 97

See [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 35–37, 127, 134 –135. [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 43–49, 68–78. 98 See [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 76–77. 99 See [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 53–58. 100 See [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 42. 101 [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, e. g., 66, cf. 82–83. 102 [Labadie], Der geheime und vertrauliche Umgang, 80, 40 (alluding to Psalm 139:12).

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between these two educational programs, of course, Faccius reveals his own position within it to be closer to the one he ascribes to Wolff. His attempts to represent Wolff’s approach to theology as one that Wolff’s critics should have found exemplary likewise demonstrate the limits of his own sympathy for those critics’ point of view. As if to underscore this lack of sympathy, he finishes his text with an exhortatory allusion to Paul’s Letter to the Philippians, the incompleteness of which marks the distance between himself and his Pietist teachers. Calling upon God to grant “that we grow and expand more and more in knowledge of truth,” Faccius echoes Paul’s prayer that the Philippians’ love may “become more and more full of knowledge and experience,” albeit pointedly omitting the “experience” (Erfahrung, aisthēsis) that Lange and Francke had glossed as “spiritual taste” and fashioned into a hallmark of the anti-scholasticism of their theological program.103

Conclusion When it comes to explaining why Lange ended up lecturing to nearly empty benches, and what precisely this fact had to do with the campaign he and his colleagues waged against Christian Wolff in the early 1720s, Faccius cannot give us all the answers we seek. If his testimony shows that at least some students disliked Lange’s teaching and abandoned his lectures, the contradictions between his and Lange’s own testimony leave it unclear exactly why they did so. Neither Faccius nor Lange suggests for a moment that personal jealousies motivated the quarrel between Wolff and his colleagues in the Theology Faculty. But notwithstanding their credibility by contrast with that of Hartmann, who clearly twisted Faccius’s text in order to put Lange’s injured pride at the quarrel’s center, their silence on the issue leaves prospective defenders of Lange in the uncomfortable position of needing to prove a negative: that pride did not motivate him. What Faccius does show us is that whatever the students’ reasons for abandoning Lange, they were doing so amid a more general decline in sympathy, at least among some students, for the educational program Lange represented. To attribute the anxieties of Wolff’s critics to a misunderstanding, and to suggest that they should have recognized the value of what students claimed to be finding in Wolff’s lectures, as Faccius does, no doubt served Faccius’s purpose as a theological Wolffian in the 1730s, trying to burnish Wolff’s theological credentials and to rebut the king’s charge that Wolff’s philosophy posed a danger to religion. Hence the emergence of Lange’s lectures to empty benches as a point of such vigorous public dispute. But Faccius’s assessment, whether sincere or calculating, is partly belied both by the very anecdotes that he uses to justify it and by contemporary 103

See Grote, “Vom geistlichen zum guten Geschmack,” 367–369.

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texts by Lange, such as his edition of Labadie’s guide to meditation. Lange may well have displayed the character flaws that Faccius attributes to him, and his public denials that his lectures were flawed or that students could have had any sound basis for their complaints strain common sense. But at the same time, Lange and his colleagues would have been right to worry about the student embrace of Wolff’s lectures as a model of ‘clarity’ in dogmatic theology for aspiring pastors, because they could observe this embrace against the backdrop of students’ growing inability to understand fundamental elements of the theological education they had been receiving. Their vocal concerns about Wolff — beginning in the early 1720s, if Faccius is right — must have reflected their awareness of this change. Whether or not their allegations that Wolff had been “seducing” students had any validity, they were right to see themselves losing the battle for certain students’ hearts. And these students included not only those whom Faccius dismisses as misguided deserters, but also those whom Faccius himself represented. Contra Faccius, the theologians’ fears were not divorced from reality. In this way, studying the circumstances of Lange’s lectures to empty benches shows that whatever personal and non-ideological reasons Wolff and his critics may have had for their quarrel — and of course those reasons deserve further investigation — they do not suffice to explain the genesis of the conflict. With respect both to its root causes and to the cultural dynamics that characterized its beginnings, the conflict should indeed be taken as a sign of competition among the multiple programs of educational and societal reform that mark the University of Halle as a site of innovation in the early eighteenth century.104

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This essay has benefited from detailed critical feedback from Stefan Borchers and Johan van der Zande, who have my gratitude for their help. I thank especially Stefan Borchers for drawing my attention to his own ongoing research and to the text by Faccius that stimulated me to begin this project. I also thank Claudia Drese, Martin Kühnel, Clemens Schwaiger, Udo Sträter, Klaus vom Orde, and several members of the Long Eighteenth Century Working Group at Wellesley College — including Rebecca Bedell, Katherine Grandjean, Alison McIntyre, Stephen Marini, and James Noggle — for valuable conversations about the essay’s contents. To Daniel Fulda and colleagues at the Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung in Halle, my institutional home for the academic year 2016-17, I am obliged for the generous invitation to produce this essay for publication with contributions to the conference “Innovationsuniversität Halle? Neuheit und Innovation als historische und als historiographische Kategorien,” which took place in Halle in November 2016.

FRANK GRUNERT

Naturrecht als Grundlage. Die Naturrechtslehren in der Anfangsphase der Fridericiana Das Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts stellt keinen beliebigen Theoriekomplex dar, vielmehr war es – wie Jan Schröder und Ines Pielemeier schon vor mehr als 20 Jahren zu Recht konstatierten – eine „historische Wirkungsmacht erster Ordnung“, die einen „ungeheuren Einfluß u.a. auf die Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts“ ausgeübt hat.1 Naturrecht fungierte vor allem im 17. und 18. Jahrhundert – mit nicht zu unterschätzenden Wirkungen ins 19. Jahrhundert hinein2 – epistemisch wie praktisch als ein Idiom, mit dessen Hilfe Erkenntnisse auf grundlegenden Gebieten der Philosophie, der Jurisprudenz und der sich erst später formierenden sozialen Wissenschaften hervorgebracht und formuliert wurden. Sein allgemein akzeptierter theoretischer wie praktischer Stellenwert lässt sich an seiner Verbreitung ablesen: Naturrecht wurde zu einem an Universitäten und Hohen Schulen gelehrten Unterrichtsfach, das anthropologische, politische, normative und selbst erkenntnistheoretische Grundlagen vermittelte und so weitere theoretische wie praktische Innovationen initiierte.3 Dass in diesem Kontext die Universität Halle eine einflussreiche Rolle spielte, gehört zu den Allgemeinplätzen des Diskurses. Doch die Verbreitung des Labels korrespondiert nicht mit der Menge, dem Umfang oder der Qualität der dem halleschen Naturrecht gewidmeten Literatur. Natürlich wurden die Naturrechte der großen Autoren wie Thomasius und Wolff in der Forschung bereits intensiv analysiert, und natürlich ist immer, oder zumindest in der Regel, klar, dass diese dem halleschen Naturrecht als dessen prägende Theoretiker zugehörig sind. Allerdings wird dabei eher selten theoretisch und historisch auf deren Naturrecht als ein hallesches Naturrecht fokussiert; der Zufall der lokalen Entstehung dieses Naturrechts wurde und wird der Universalität seines theoretischen Anspruchs regelmäßig

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Jan Schröder u. Ines Pielemeier: Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Otto Dann u. Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. Hamburg 1995, S. 255. Vgl. dazu Diethelm Klippel: Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion. Goldbach 1997; Ders.: Legitimation, Kritik und Reform. Naturrecht und Staat in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. Wien 2000; sowie Ders.: Naturrecht und Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Eine Bibliographie 1780 bis 1850. Tübingen 2012. Vgl. Knud Haakonssen: Enlightenment and the Ubiquity of Natural Law. In: Wolfgang Schmale (Hg.): Time in the Age of Enlightenment. 13th International Congress for EighteenthCentury Studies. Bochum 2012. S. 45–58; sowie Frank Grunert, Knud Haakonssen, Diethelm Klippel: Natural Law 1625–1850. An International Research Network. In: Aufklärung 30 (2018), S. 267–276.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-008

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nachgeordnet und gerät daher nur selten explizit ins Blickfeld.4 Hinzu kommt, dass die bloße Nennung von höchst unterschiedlichen philosophischen bzw. juristischen Autoren wie Thomasius und Wolff bereits deutlich macht, dass es stricte dictum ein hallesches Naturrecht im Singular nicht gibt, zumindest dann nicht, wenn damit ein Naturrecht gemeint sein soll, das über wenigstens ähnliche methodischepistemische Grundlagen sowie theoretische und praktische Ergebnisse oder Ziele verfügt. Es stellt tatsächlich keine Überspitzung dar, wenn man behauptet, dass Thomasius und Wolff zwar denselben Gegenstand bearbeiten, nämlich eine jenseits des positiven Rechts angesiedelte, von Natur aus bestehende und dem Anspruch nach universal gültige Norm, doch reicht die mit diesem kleinsten Nenner gegebene Gemeinsamkeit kaum weiter, und zwar weder in einer theoretischmethodischen noch in einer praktisch-politischen Hinsicht. Insofern gilt für das hallesche Naturrecht, was für das Naturrecht allgemein gilt: Das Naturrecht gab es in der Vielfalt unterschiedlicher Naturrechtslehren nur im Plural. Und dennoch ist – das wird im Einzelnen zu zeigen sein – die Naturrechtslehre in Halle insofern ein bezeichnendes Phänomen, als die Universität Halle der Ort war, an dem Naturrecht in einer ungewöhnlichen Dichte, mit einer ungewöhnlichen Dynamik und schließlich mit erstaunlichen, das heißt international konstatierbaren Wirkungen betrieben wurde. Eine ausführliche Studie zur Entwicklung des Naturrechts in Halle, seinen inhaltlichen Konturen und seinen theoretischen wie praktischen Effekten ist derzeit noch immer ein Desiderat, das an dieser Stelle – selbstverständlich – nicht einmal in Umrissen verwirklicht werden kann. Hier kann es auf der Basis des bisher Be4

Genau genommen gibt es im Augenblick nur drei Titel, die das hallesche Naturrecht ausdrücklich und exklusiv zu ihrem Gegenstand machen: Hinrich Rüping (Hg.): Die Hallesche Schule des Naturrechts. Frankfurt u. a. 2002; Dominik Recknagel u. Sabine Wöller (Hg.): „Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind“. Naturrechtslehre in Halle. Halle 2013; sowie: Naturrecht als Lehrfach an der Philosophischen Universität der Fridericiana am Beispiel von Georg Friedrich Meier. Herausgegeben, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Günter Schenk. Halle 2014. Alle drei begegnen dem halleschen Naturrecht lediglich aus einer eingeschränkten Perspektive: Während sich der von Schenk herausgegebene Band im Wesentlichen auf eine Wiedergabe des „Auszugs aus dem Rechte der Natur“ von Georg Friedrich Meier konzentriert und im Nachwort eine knappe Übersicht der zwischen 1695 und 1780 an der Philosophischen Fakultät lehrenden Naturrechtler bietet, versammelt das von Rüping herausgegebene Buch 5 Beiträge von namhaften Autoren, die sich allerdings nur zum Teil an die thematischen Vorgaben des Herausgebers gehalten haben. Demgegenüber vermittelt der von Dominik Recknagel und Sabine Wöller publizierte Begleitband zu einer Ausstellung auf dem knappen zur Verfügung stehenden Raum mit Hilfe von Archivalien und weitgehend unbekannten Quellen ein vielgestaltiges Bild des halleschen Naturrechts, in dem verschiedene, mitunter widerstreitende Traditionslinien sichtbar werden, die weit in das 19. Jahrhundert reichen und ausschließlich durch den Ort ihrer Genese zusammengehalten werden. In diesem Zusammenhang ist eigens auf die universitätsgeschichtlichen Forschungen von Notker Hammerstein hinzuweisen, die immer auch das hallesche Naturrecht und seinen Stellenwert thematisieren, siehe etwa: Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1972; Ders.: Jurisprudenz und Historie in Halle. In: Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 239– 253.

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kannten nur um weiterführende Beobachtungen zum Naturrecht in den ersten Dezennien der Fridericiana gehen, die einerseits – nämlich angesichts der im größeren Rahmen noch vorzunehmenden Forschungen – in vielerlei Hinsicht noch vorläufig bleiben müssen, und die andererseits aber – und zwar mit Blick auf bestimmte, bereits ermittelte Daten – schon jetzt ein weitgehend gültiges Bild erlauben. Im Folgenden sollen vier Aspekte in den Blick genommen werden: Zunächst geht es 1. um das Naturrecht als Lehrfach in Halle, 2. um Ansprüche und Inhalte des halleschen Naturrechts am Beispiel von Christian Thomasius und nachdem 3. kurz die Wirkungen skizziert wurden, soll abschließend 4. die Frage beantwortet werden, ob und inwieweit die Naturrechtslehre in Halle ein die Fridericiana kennzeichnendes innovatives Moment darstellt.

I. Naturrecht von außen – Naturrecht als Lehrfach in Halle In seinem Beitrag zu einem dem Universitätsjubiläum von 1994 gewidmeten Sammelband hat Rolf Lieberwirth die Gründung der Universität Halle gleich im Titel seines Aufsatzes ausdrücklich und pointiert auf den „Geist des Naturrechts“ zurückgeführt.5 Auch wenn es sich hierbei um eine Zuspitzung handelt, die kaum für die gesamte Universität gelten dürfte, so macht sie doch zu Recht auf das besondere Gewicht aufmerksam, das dem Naturrecht an der Fridericiana von Anfang an zukam, denn genau dies belegt das überlieferte Quellenmaterial mit bemerkenswerter Deutlichkeit. Wobei – das nur am Rande – auffällig ist, dass Christian Thomasius, der vor seiner Berufung nach Halle immerhin mit einem gewichtigen und einflussreichen Naturrecht an die Öffentlichkeit getreten war und daher als entschiedener Propagandist für die besondere Berücksichtigung des Naturrechts in der Lehre in Frage kam, als solcher zumindest in einem Memorial vom April/Mai 16906 nicht aufgetreten war. In dem kurz nach seiner Ankunft in Halle aufgesetzten Vorschlag, betont Thomasius, dass eine Universität in Halle angesichts der nahen Konkurrenz in Leipzig, Helmstedt, Jena und Wittenberg nur dann sinnvoll wäre, wenn die an allen deutschen Universitäten anzutreffenden Missstände, die auf den „verfinsterten Zustand[..] des vorigen Seculi“ zurückzuführen seien, durch „andere nützlichere mesures“ von vornherein abgeschafft würden, und zwar „ohne 5

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Rolf Lieberwirth: Die Gründung der Universität Halle aus dem Geist des Naturrechts: Die Frühzeit. In: Gunnar Berg u. Hans-Hermann Hartwich (Hg.): Martin-Luther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen. Opladen 1994, S. 9–27. [Christian Thomasius:] Unterthänigste Vorschläge wegen auffrichtung einer Neuen Academie zu Halle. [Erster Entwurf, April/Mai 1690]. Marienbibliothek MS 50, S. 42–54 (Abschrift). In: Friedrich de Boor: Die ersten Vorschläge von Christian Thomasius „wegen auffrichtung einer Neuen Academie zu Halle“ aus dem Jahre 1690. In: Erich Donnert (Hg.): Europa der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 4: Deutsche Aufklärung. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 79–84.

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gefahr einer praejudicirlichen Neuerung“7. Wer erwartet hätte, dass Thomasius bei der Gelegenheit darauf dringt, das Naturrecht in das Curriculum der Juristischen Fakultät aufzunehmen und ihm – seiner Wichtigkeit wegen – am besten noch einen Lehrstuhl zu widmen, sieht sich getäuscht. Das Naturrecht spielt bei ihm weder bei der Ausstattung der juristischen Fakultät noch bei der philosophischen Fakultät die erwartete exponierte Rolle. Dass es dennoch wichtig, ja unmittelbar grundlegend sein sollte, wird deutlich, wenn Thomasius empfiehlt, den Professoren in der Freiheit der Lehre keine Schranken zu setzen, sie also nicht – wie das an anderen Universitäten durchaus üblich war – auf bestimmte Autoren und deren Lehrbücher zu verpflichten. Nur an das Wort Gottes, die Fundamental-Gesetze des Staates und an das natürliche Recht sollten sie sich halten.8 Ob sich die Berliner Regierung von Thomasius’ Vorschlägen hat beeindrucken lassen, soll und kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden,9 festzuhalten aber ist, dass nach den Statuten der Universität ein Lehrstuhl für Jus naturae weder an der juristischen noch an der philosophischen Fakultät vorgesehen war. Doch widmen die Statuta Facultatis Juridicae ihren § 7 dem Naturrecht und bestimmen darin, dass die „professio juris naturae et gentium“ von der juristische Fakultät nicht separiert werden darf, und vom Lehrstuhl für römisches Recht gelehrt werden soll.10 Man hatte das Naturrecht zwar im Blick – nicht von Ungefähr wird Thomasius in einem frühen Erlass vom August 1691 als „professor iuris privati naturalis et gentium“ bezeichnet11 –, auf weitere institutionelle Vorgaben und inhaltliche Bekenntnisse hatte man aber verzichtet. Gleichwohl wird die Bedeutung, die dem Naturrecht in der Lehre an der Fridericiana zukam, einigermaßen schlagend durch das Vorlesungsverzeichnis bzw. den Codex lectionum der Universität belegt. Für Halle ist er seit der Gründung der Universität beinahe lückenlos überliefert und bietet, trotz der zu Recht erhobenen Zweifel an der Zuverlässigkeit von Vorlesungsverzeichnissen als Quelle,12 wichti7 8 9

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Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. zu Thomasius’ Rolle im Kontext der Universitätsgründung: Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik. Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin u. Boston 2014, bes. S. 123–139. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Thomasius’ Briefwechsel: Christian Thomasius: Briefwechsel. Historisch-kritische Edition. Bd. 1: 1679–1692. Hg. v. Frank Grunert, Matthias Hambrock u. Martin Kühnel unter Mitarbeit von Andrea Thiele. Berlin u. Boston 2017. Siehe etwa Thomasius’ Ersuchen, in brandenburgische Dienste treten zu dürfen (25. 3. 1690, Brief-Nr. 159), dessen Bestallung durch Kurfürst Friedrich III (4./14. 4. 1690, Brief-Nr. 161) sowie die Berufungsvorschläge, die Thomasius nach Aufnahme seiner Lehrtätigkeit am 26. 8. 1690 an den Kurfürsten richtet (Brief-Nr. 173). Statuta Facultatis Juridicae in Universitate Fridericiana. In: Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Zweiter Teil. Berlin 1894, S. 409. Erlaß über die erste Einrichtung der Universität (27. August 1691). In: Schrader: Geschichte der Friedrich-Universität (wie Anm. 10), S. 358. Vgl. dazu die einschlägigen Überlegungen von Jens Bruning: Vorlesungsverzeichnisse. In: Ulrich Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände,

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ge Anhaltspunkte. Auch wenn man im Fall der in Halle gehaltenen Naturrechtsvorlesungen letztlich also nicht sicher sein kann, ob jeder Ankündigung die entsprechende Ausführung folgte, hat die Auswertung des Codex Lectionum13 der Universität Halle für den Zeitraum 1694 bis 1720 mit Blick auf die dem Naturrecht gewidmeten Lehrveranstaltungen einigermaßen überraschende Befunde zu Tage gefördert.14 In den etwas mehr als 50 Semestern wurden sowohl in der juristischen wie in der philosophischen Fakultät insgesamt 236 Vorlesungen gehalten, die in ihren Ankündigungstiteln einen klaren inhaltlichen Bezug zum Naturrecht aufweisen. Insgesamt 19 verschiedene Professoren – Ordinarien wie Extraordinarien – haben sich in diesem Zeitraum mit dem Naturrecht befasst. Schon im ersten Semester nach der offiziellen Gründung der Universität wurden an der juristischen und der philosophischen Fakultät vier Naturrechtsvorlesungen angeboten, die von den Juristen Heinrich Bode, Johann Georg Simon und Johann Samuel Stryk und dem Philosophen Johann Franz Budde gehalten wurden. Damit waren vier von elf bestallten Professoren, über die die genannten Fakultäten insgesamt verfügten, unter anderem mit dem Naturrecht in der Lehre befasst. Das ist für nur ein einziges Semester schon recht beträchtlich, wobei die Frequenz in der Folge nicht abnimmt, sondern lange auf einem hohen Niveau gleichbleibt. Erst im 19. Jahrhundert büßt das Naturrecht in Halle seine Attraktivität ein.15 Fragt man nach den Texten, die – laut Ankündigung – den Lehrveranstaltungen im Einzelnen zu Grunde gelegt wurden, dann zeigt sich, dass die Klassiker – Gro-

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Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2011, S. 286f. Sowie Hanspeter Marti, der feststellt, dass Vorlesungsverzeichnisse deswegen kein umfassendes Bild vermitteln, weil sie nur die Lektionen von Professoren verzeichnen, die Veranstaltungen des in der Lehre häufig einflussreichen „subalternen Lehrpersonals (Adjunkten, lehrende Magister)“ aber unberücksichtigt lassen. Gleichwohl hält er ihren Quellenwert für hinreichend, um mit der Hilfe exemplarisch ausgewählter Vorlesungsverzeichnisse – in seinem Fall – „das Profil des Unterrichts in den Kernbereichen des philosophischen Curriculums der Fridericiana zu schärfen“, siehe Hanspeter Marti: Humanistische Propädeutik und akademisches Studium in der Frühzeit der Universität Halle. In: Ders. u. Karin Marti-Weissenbach (Hg.): Traditionsbewusstsein und Aufbruch. Zu den Anfängen der Universität Halle. Wien, Köln, Weimar 2019, S. 19f. Codex Lectionum Annuarum in Regia FRIDERICIANA Halensi habitarum ab Academiae Inauguratione MDCXCIV. usque ad annum praesentem, magna cum cura sumtibusque collectus a Friderico Arnoldo Bachmanno Notar. Publ. Caesar. Iur. et Academiae Halens. Ministro. Vorlesungsankündigungen 1694–1728. In: Universitäts- und Landesbibliothek SachsenAnhalt, UB 3885c, 2°. Hier und im Folgenden darf ich mich auf Daten beziehen, die Dominik Recknagel für die Vorbereitung eines Forschungsprojektes ermittelt hat, das das hallesche Naturrecht betrifft. Sie sind zum Teil bereits veröffentlicht, siehe: Dominik Recknagel: Naturrecht in der Lehre. Naturrechtliche Vorlesungen an der Friedrichs-Universität zu Halle bis zum Jahr 1850. In: Ders. u. Sabine Wöller (Hg.): „Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind!“ (wie Anm. 4), S. 9–19. Für die Überlassung weiteren Materials möchte ich Dominik Recknagel an dieser Stelle ganz herzlich danken. Vgl. dazu Recknagel: Naturrecht in der Lehre (wie Anm. 14), S. 11.

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tius und Pufendorf – deutlich dominierten.16 Von den insgesamt 236 Veranstaltungen thematisierten 86 die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, meist anhand von De officio hominis et civis libri duo, was insofern nicht weiter erstaunlich ist, als De officio ausdrücklich als ein Lehrwerk konzipiert worden war, das Pufendorfs De Iure naturae et gentium libri octo von 1672 komprimieren sollte. De iure belli ac pacis libri tres von Hugo Grotius diente 55 Vorlesungen als Textgrundlage. Das 1625 zum ersten Mal erschienene opus magnum des Niederländers galt lange Zeit als das eine ganze Epoche begründende und prägende Werk und wurde – ungeachtet seiner vielfach beklagten theoretischen wie praktischen Unhandlichkeit – gerne als Referenzwerk in der akademischen Lehre herangezogen.17 Die Naturrechtslehre von Christian Thomasius folgt mit 25 Veranstaltungen an dritter Stelle, wovon er selbst 17 absolviert hat. Zwischen 1697 und 1702 las Thomasius sieben Mal über das Naturrecht, und zwar auf der Grundlage seiner Institutiones iurisprudentiae divinae. Ab 1705 legte er in den 10 bis 1720 gehaltenen Vorlesungen seine 1705 erstmals erschienenen Fundamenta iuris naturae et gentium zu Grunde.18 Im Lektionskatalog wird damit die Wende präzise abgebildet, die Thomasius im Übergang von den Institutiones hin zu den Fundamenta vollzog. Auch seine Schüler Johann Friedemann Schneider und Johann Lorenz Fleischer – letzterer legte 1722 ein eigenes, allerdings an Thomasius orientiertes Lehrbuch vor19 – bezogen sich immer dann, wenn sie zwischen 1710 und 1720 das Naturrecht von Christian Thomasius lehrten, nach Angaben des Codex Lectionum auf die Fundamenta. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die Ablösung der Institutiones durch die Fundamenta – trotz des Anscheins – tatsächlich nicht vollständig ist, denn die Fundamenta werden – wie schon der Titel des Werkes anzeigt – als eine Verbesserung der Institutiones aufgefasst, die Letztere nicht in allen Teilen, sondern nur hinsichtlich einiger theoretischer – allerdings ausgesprochen wichtiger – Grundannahmen ersetzt.20 Ein beträchtlicher Teil dessen, was in den Institutiones dargestellt wird, bleibt also Gegenstand der Lehre und wird nur von Fall zu Fall durch die neuen Einsichten

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Insofern bestätigt sich auch hier, was Schröder und Pielemeier insgesamt konstatieren konnten: „Das Grotianisch-Pufendorfische Naturrecht spielt auch noch im Deutschland des 18. Jahrhunderts eine erheblich größere Rolle, als bisher angenommen wurde“. Schröder u. Pielemeier: Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 268. Vgl. auch Recknagel: Naturrecht in der Lehre (wie Anm. 14), S. 13. Vgl. Frank Grunert: Von der Morgenröte zum hellen Tag. Zur Rezeption von Hugo Grotius’ De iure belli ac pacis in der deutschen Frühaufklärung. In: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte, 25. Jahrgang, Heft 3/4 (2003), Wien 2003, S. 204–221. Vgl. zur Lehrtätigkeit von Christian Thomasius: Georg Steinberg: Christian Thomasius als Naturrechtslehrer. Heidelberg 2005. Johann Lorenz Fleischer: Institutiones Juris naturae et gentium, in quibus regulae justi, decori atque honesti potissimum secundum Principia Thomasiana distincte explanantur et applicantur. Halle 1722. Christian Thomasius: Fundamenta Juris Naturae et Gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur Principia Honesti, Justi ac Decori, cum adjuncta Emendatione ad ista Fundamenta, Institutionum Jurisprudentiae Divinae. Halae et Lipsiae 1705.

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der Fundamenta ergänzt oder ersetzt. Wenn Thomasius und seine Schüler Naturrecht auf der Grundlage der Fundamenta lasen, dann lasen sie also immer auch über die Institutiones – dies jedoch stets im Licht der neuen Erkenntnisse.21 Zu denjenigen Naturrechtslehrern, die als Thomasius-Schüler während des hier in Rede stehenden Zeitraums in Halle tätig waren, gehört auch Nikolaus Hieronymus Gundling, der von Hinrich Rüping zu den „wissenschaftlich bedeutendste[n] Schüler[n] des Thomasius“22 gezählt wird. Gundling war der erste Hochschullehrer, der im Sommersemester 1712 im Codex Lectionum als Professor iuris naturae & gentium ordinarius aufgeführt wird, und zwar in der juristischen Fakultät. Er befasste sich zunächst mit Grotius und Pufendorf und kündigte 1714 eine Veranstaltung an, die das Naturrecht „nova methodo“ behandelt.23 Gundling hatte offenbar zu diesem Zeitpunkt bereits ein eigenes Naturrecht erarbeitet, das an dasjenige seines Lehrers und die Werke der Klassiker anschloss, zugleich aber den Anspruch erhob, diese zu ersetzen. Dieses Schema von Rezeption und überwindender Produktion gilt auch für den Philosophen und späteren Theologen Johann Franz Budde. Er gehörte – wie erwähnt – zu den naturrechtlichen Professoren der ersten Stunde, las bis Sommersemester 1699 regelmäßig über Grotius, um schließlich ab 1701 Naturrechtsvorlesungen ohne einen Hinweis auf Grotius anzukündigen. Ein solches Vorgehen legt nahe, dass Budde seine eigene Naturrechtstheorie in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit Grotius entwickelt hatte und sich von seiner Vorlage in dem Augenblick löste, als er über eine eigene ausgearbeitete Naturrechtslehre verfügte, die seinen eigenen – übrigens stark theologisch geprägten Ansprüchen – angemessen war. Nimmt man diese Kombination von Rezeption und Produktion hinreichend ernst, dann lässt sich für das hallesche Naturrecht in der Anfangsphase neben der bemerkenswerten Menge von naturrechtlichen Vorlesungen, der Dominanz der Klassiker und dem Gewicht des wie auch immer reproduzierten oder modifizierten thomasianischen Naturrechts als vierter Befund die Beobachtung hinzufügen, dass schon der frühe Naturrechtsdiskurs in Halle geeignet war, – nicht zuletzt auf der produktiv gemachten Basis der Klassiker – neue und mehr oder weniger eigenständige Theoriebildungen hervorzubringen. 21

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Dass die Institutiones mit dem Erscheinen der Fundamenta nicht obsolet waren, beweist auch deren Publikationsgeschichte: Vor und nach Erscheinen der Fundamenta (1705) waren jeweils drei Auflagen der Institutiones publiziert worden: 1688, 1694, 1702, 1710, 1717 sowie posthum 1730. Die Fundamenta wurden nach 1705 noch dreimal aufgelegt: 1708, 1713, 1718. Die einzige deutsche Übersetzung beider Werke war 1709 erschienen. Siehe dazu: Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie. Weimar 1955, S. 17 und S. 88. Hinrich Rüping: Christian Thomasius und seine Schule im Geistesleben des 18. Jahrhunderts. In: Heiner Lück (Hg.): Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposion für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 75. Geburtstages. Köln u. a. 1998, S. 126–145, S. 132. Siehe dazu den 3. Band seines Via ad veritatem, Halae 1713–1715: Cuius pars tertia jurisprudentiam naturalem nova methodo elaboratum et a praesumtis opinionibus aliisque ineptiis vacuam sistit. Halae 1715. Später selbstständig unter dem Titel: Jus naturae ac gentium connexa ratione novaque methodo elaboratum. Halae 1728.

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Nicht nur Budde und Gundling sind dafür Beispiele, sondern auch Thomasius – auf den noch zurückzukommen ist –, Johann Gottlieb Heineccius, der im Wintersemester 1713 begonnen hatte, Naturrecht zu lehren,24 und nicht zuletzt Christian Wolff. Obwohl Letzterer als Naturrechtslehrer nicht mehr in den gegenwärtigen Berichtszeitraum fällt,25 sei sein Exempel dennoch und zwar deswegen angeführt, weil es den Vorgang von Rezeption und überwindender Produktion geradezu spektakulär illustriert. Wolff hatte sich zu Beginn seiner Beschäftigung mit dem Naturrecht in Marburg eingehend mit Grotius’ De iure belli ac pacis befasst und nach seiner Rückkehr nach Halle – immer von Semester zu Semester alternierend – über das Naturrecht von Grotius und über sein eigenes, noch im Entstehen befindliches Naturrecht gelesen. In dem Augenblick, als dieses 1748 vollendet war und in acht Bänden vorlag, hat Wolff ausschließlich sein eigenes Naturrecht gelehrt.26 Der explizite Anspruch, dem grotianischen Naturrecht eine solide theoretische Basis zu verschaffen, führte zur buchstäblichen Konsumierung der Vorlage, denn am Ende war es durch Wolffs Ius naturae27 schlicht ersetzt worden. Damit sollte auch eine neue Epoche der Naturrechtslehre markiert werden, und zwar nicht nur durch die Ersetzung von Grotius, sondern auch durch die gleichzeitige Erledigung des zweiten Klassikers, nämlich Samuel Pufendorfs. Die zahlreichen explizit antipufendorfianischen Ausstellungen sind sowohl im Ius naturae als auch in der vorbereitenden Grotius-Vorlesung, den erst unlängst entdeckten Praelectiones in H. Grotii Opus de J.B. et P. von 1739/40,28 unübersehbar. In diesem Zusammenhang wirkt es als Signal – vielleicht sogar als Scherz –, dass Wolffs Naturrecht

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Heineccius begann zunächst mit Naturrechtsvorlesungen auf der Grundlage von Budde und las ab 1716 nach Pufendorf. Seine Grotius-Vorlesung ist – ebenso wie seine Pufendorf-Vorlesung – posthum erschienen, beides in mehrfacher Auflage, siehe: Johann Gottlieb Heineccius: Praelectiones in Hugonis Grotii de iure belli et pacis. Berlin 1744. Sowie ders: Praelectiones Academicae in Sam. Pufendorffii De Officio Hominis et Civis Libros II. Berlin 1742. Siehe zu Heineccius’ Pufendorf-Vorlesung demnächst: Mads Langballe Jensen: Heineccius as lecturer and commentator on Pufendorf’s De officio hominis et civis. In: Frank Grunert a. Knud Haakonssen (eds.): Love as the Principle of Natural Law. The Natural Law Theory of Johann Gottlieb Heineccius and its Contexts. Leiden prev. 2020. Bis zu seiner Vertreibung 1723 hat Wolff zwar gelegentlich Vorlesungen zur praktischen Philosophie – „h.e. Ethica cum Oeconomica atque Politica“ – gehalten, allerdings keine einzige zum Naturrecht. Siehe dazu die Übersicht bei Dirk Effertz: Anhang: Wolffs Lehrveranstaltungen. In: Dirk Effertz: Menschenrechte und Staatstheorie. Wolffs zweiter Aufenthalt in Halle (1740–1754). Halle 2014, S. 41–56. Christian Wolff: Jus naturae methodo scientifica pertractatum. Frankfurt u. Leipzig 1740– 1748. Repr.: Abt. II, Bände 17–24 der Gesammelten Werke von Christian Wolff. Hildesheim, Zürich, New York 1968. Vgl. dazu Frank Grunert u. Béla Kapossy: Christian Wolff’s Lectures on Grotius’s De Iure Belli ac Pacis from 1739–1740. In: Grotiana 38 (2017), S. 229–233. Sowie: Holger Glinka u. Frank Grunert: Die Grotius-Vorlesung von Christian Wolff aus der Sammlung Emmanuel von Graffenried. In: Jörn Bohr (Hg.): Kolleghefte, Kollegnachschriften und Protokolle. Probleme und Aufgaben der philosophischen Edition. Beihefte zu editio. Hg. v. Winfried Woesler. Berlin u. Boston 2019, S. 13–26.

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ebenso wie die libri octo von Samuel Pufendorf genau acht Bücher umfasste.29 Die Anknüpfung an Grotius fungiert hier nicht zuletzt als ein Mittel in der Konkurrenz um theoretische Hegemonie. Dies gilt im Prinzip auch für andere, weniger bedeutende Naturrechtler: Der diskursive Rang von Grotius und Pufendorf gab das Einstiegsniveau der Auseinandersetzung vor, an beiden Klassikern hatte man sich zu beweisen. Eine eigene Naturrechtslehre konnte nur dann sinnvoll und erfolgreich sein, wenn sie Probleme und Defizite des grotianischen bzw. des pufendorfianischen Naturrechts benannte und behob. Aber selbst wenn es ein Naturrechtslehrer nicht darauf angelegt hatte, am Ende ein eigenes Naturrecht zu präsentieren, lässt die Wahl eines Lehrbuchs nicht von vornherein auf die Absicht schließen, es bei einer bloßen Reproduktion seines Inhalts zu belassen. Ein Lehrbuch bietet vielmehr die Vorlage mit deren Hilfe der Lehrgegenstand vermittelt wird – Affirmation und/oder Kritik des gewählten Lehrwerks sind mit der Entscheidung, es einer Lehrveranstaltung zu Grunde zu legen, noch längst nicht ausgemacht.30 So ist es völlig ausgeschlossen, dass der ungewöhnlich große internationale Erfolg, den die 1737 zum ersten Mal in Halle erschienenen Elementa juris naturae et gentium des in Halle ausgebildeten und später lehrenden Juristen Johann Gottlieb Heineccius errangen,31 auf die theoretische Originalität und das Raffinement des Werkes zurückzuführen ist. Daher ist ebenso auszuschließen, dass alle Naturrechtler in Italien, Spanien, den Niederlanden, Großbritannien sowie Nord- und Südamerika etc., die nach seiner Vorlage Naturrecht lehrten, quasi flächendeckend zu „Heineccianern“ – die es nie gab – geworden waren. Vielmehr waren es vor allem didaktische Qualitäten, die für das Lehrbuch sprachen. Das heißt, sein Aufbau, sein einfaches Latein, seine Diskussion alternativer Positionen und seine Offenheit gegenüber theologischen Begründungsfiguren begründeten – abgesehen von dem generellen Renommee, das Heineccius als Jurist und Philosoph genoss – die spezielle Attraktivität der Elementa juris naturae et gentium. Wobei man übrigens – wie Laura Beck Varela32 zeigt – 29

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Nicht ausgeschlossen ist, dass es Wolff im Sinne einer beabsichtigten Ersetzung bzw. Überbietung darauf ankam, sein Naturrecht in genau acht Büchern vorzulegen. Denn auffällig ist, dass er das Völkerrecht, das bei Pufendorf noch Teil von dessen Ius naturae et gentium war, einem eigenen Band vorbehielt, so dass der Rahmen des acht Bücher zählenden Naturrechts nicht gesprengt wird. Für das ungebrochene Gewicht und die entsprechende Nachfrage der Klassiker spricht übrigens der Umstand, dass ein Naturrechtslehrer, der schon längst ein eigenes Naturrecht vorgelegt hat, gelegentlich Lehrveranstaltungen ankündigt, die sich ausschließlich mit Pufendorf oder Grotius befassen. Vgl. dazu etwa die Ankündigungen von Jacob Gabriel Wolf im Wintersemester 1725 und von Johann Laurentius Fleischer im Sommersemester 1726. Patricia Wardemann hat im Rahmen einer bibliographischen Recherche feststellen können, dass die Elementa juris naturae et gentium bis 1850 insgesamt 45 Mal gedruckt worden sind. Vgl. Patricia Wardemann: Johann Gottlieb Heineccius (1681–1741). Leben und Werk. Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 124–126. Vgl. Laura Beck Varela: „Sectae enim Protestantium addictus”. Heineccius and his Catholic Readers. Demnächst in: Grunert a. Haakonssen (eds.): Love as the Principal of Natural Law (wie Anm. 24).

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nicht darum verlegen war, alles, was theoretisch, politisch und kirchenpolitisch inopportun war, einfach, und zwar mitunter auch per Hand, zu streichen bzw. unleserlich zu machen. Nimmt man abgesehen von diesen nur skizzenhaften Befunden noch die über den Berichtszeitraum hinausreichenden, von Dominik Recknagel ermittelten Ergebnisse hinzu, dann ergibt sich für die Naturrechtslehre in Halle – rein statistisch – ein bemerkenswertes Gesamtbild: Aus den am Anfang noch vier Naturrechtsvorlesungen an der Fridericiana wurden zwischen 1694 und 1850 in der Summe nicht weniger als insgesamt 1155 Lehrveranstaltungen, die sich ausweislich der Ankündigungen mit dem Naturrecht befassten. Dabei sind diejenigen Vorlesungen nicht miteingerechnet, die aus sachlichen Gründen quasi notwendigerweise – etwa als Voraussetzungen – auch naturrechtliche Materien verhandelt haben dürften, wie etwa Lehrveranstaltungen zum Ius publicum. Abgehalten wurden diese Lehrveranstaltungen von insgesamt 85 Hochschullehrern. Die gemessen an der Anzahl ihrer angebotenen Lehrveranstaltungen fünf aktivsten Naturrechtslehrer waren – in der Reihenfolge – Johann Christoph Hoffbauer (92 Vorlesungen in der Zeit von 1790– 1827), der Wolff-Schüler Daniel Nettelbladt (59; 1746–1791), der ThomasiusSchüler Jakob Gabriel Wolf (51; 1716–1754), der Kantianer Johann Heinrich Tieftrunk (49; 1795–1825) und der Thomasius-Schüler Johann Friedemann Schneider (44; 1703–1733). Die Reihe illustriert, dass es bis ins 19. Jahrhundert hinein in jeder Generation mindestens einen Hochschullehrer gab, der in der Naturrechtslehre besonders stark engagiert war. Die Top 5 der zu Grunde gelegten Lehrbücher stammten von Pufendorf, Nettelbladt, Hoffbauer, Grotius und Jakob Gabriel Wolf. Gelesen wurde sowohl in der juristischen wie in der philosophischen Fakultät, wobei die juristische Fakultät lange Zeit die Oberhand hatte.33 Angesichts dieser Datenlage dürfte klar sein, dass es unter den Juristen und Philosophen in Halle wohl keinen Studenten gegeben haben dürfte, der im Laufe seines Studiums nicht mit dem Naturrecht beschäftigt war. Weil das Naturrecht nicht nur normative, sondern auch anthropologische und sozialphilosophische Grundlagen vermittelte, kann sein mentalitätsbildender Einfluss auf ganze Generationen von Akademikern wohl nicht hoch genug veranschlagt werden. Die gesammelten Daten machen auch unmissverständlich klar, dass man mit Studieninteressen, die das Naturrecht betrafen, während des ganzen 18. Jahrhunderts in Halle auf jeden Fall richtig war, und zwar auch dann noch, als es mit Gottfried Achenwall in Göttingen und Ludwig Julius Friedrich Höpfner in Gießen eine ernstzunehmende Konkurrenz gab. Die ausdrücklich mit Blick auf die Entwicklungen in und nach den 1720-er Jahren aufgestellte Behauptung von Notker Hammersteins, das Jus naturae habe „im Hallischen Kanon allenfalls einen ephemeren Platz“34 eingenommen, ist angesichts der dargestellten Befunde zu keinem Zeitpunkt zu halten. 33 34

Vgl. dazu Recknagel: Naturrecht in der Lehre (wie Anm. 14), S. 10–13. Hammerstein: Jurisprudenz und Historie in Halle (wie Anm. 4), S. 247.

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II. Naturrecht von innen. Anspruch und Inhalte des halleschen Naturrechts in seiner Anfangsphase: Thomasius als Beispiel Wenn Professoren wie Stryk, Simon oder Bode Naturrecht auf der Grundlage von Grotius’ De iure belli ac pacis oder Pufendorfs De officio gelesen haben, wissen wir zumindest im Moment noch nicht, was genau sie getrieben haben. Bei Thomasius kann man die Formierung eines eigenen, neuen und nicht zuletzt wirkungsmächtigen Naturrechts auf der Basis der produktiven Verarbeitung und Überwindung von vorausgehenden Naturrechtslehren relativ genau nachvollziehen. Aufschlussreich sind dabei nicht nur theoretische und textuelle Vergleiche, sondern auch Thomasius’ eigene Auskünfte, die er selbst mit legitimierender Absicht in den Vorworten zu seinen beiden Naturrechtslehren gibt.35 Weil Thomasius’ erstes Naturrecht, die Institutiones jurisprudentiae divinae, bereits 1688 in Leipzig erschienen war – zu seinen Lebzeiten kamen bis 1717 vier weitere in Halle gedruckte und häufig überarbeitete Auflagen heraus, die letzte wurde posthum 1730 ebenfalls in Halle publiziert – muss die hier ohnehin nur skizzenhaft zu leistende Rekonstruktion der Formierung des Naturrechts, bzw. der Naturrechte, von Christian Thomasius mit dessen frühen Jahren in Leipzig einsetzen. Das hallesche Naturrecht hat also – wenn man so will – seine Anfänge nicht in Halle, sondern in Leipzig, allerdings hatte es dort – und das belegt Thomasius’ erzwungener Wechsel nach Halle – vorerst keine Zukunft. Thomasius’ naturrechtliches Interesse galt zunächst dem Werk von Hugo Grotius, mit dem er bereits als Schüler seines Vaters in Berührung gekommen war. Obwohl Thomasius damals „einige Dinge“ noch nicht habe verstehen können, war er – wie er in der Dissertatio prooemialis zu seinen Institutiones jurisprudentiae divinae selbst mitteilt – doch „von der Wichtigkeit und Artigkeit dieser Lehre dermassen eingenommen“, dass er sich bemühte, das fehlende Verständnis zu erlangen und aus dem Text „wie man zu reden pflegt, die Quintessenz […] zu ziehen“.36 Dazu befasste sich Thomasius intensiv mit der Kommentarliteratur zu 35 36

Vgl. dazu auch: Timothy J. Hochstrasser: Natural Law Theories in the Early Enlightenment. Cambridge 2000, S. 111–121. Christian Thomasius: Dissertatio prooemialis. In: Ders.: Institutiones jurisprudentiae divinae, in Positiones succincte contractae, in quibus Hypotheses Illustris Pufendorffii circa doctrinam Juris Naturalis Apodictice demonstrantur et corroborantur, praecepta vero Juris Divini Positivi Universalis primum a Jure naturali distincte secernuntur, et perspicue explicantur. His praemissa est Dissertatio Prooemialis et magnam partem Apologetica. Francoforti et Lipsiae 1688. Zitiert wird hier und im Folgenden aus der 1709 publizierten deutschsprachigen Übersetzung: Christian Thomasius: Vorrede an die Herren Zuhörer gerichtet. In: Ders.: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, In welchem die Grundsätze des natürlichen Rechts nach denen von dem Freyherrn von Pufendorff gezeigten Lehrsätzen deutlich bewiesen, weiter ausgearbeitet, Und von denen Einwürffen der Gegner desselben, Sonderlich Herrn D. Valentin Alberti befreyet, Auch zugleich die Grundsätze der Göttlichen allgemeinen geoffenbarten Gesetze gezeiget werden. Halle 1709. Repr.: Band 4 der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim, Zürich, New York 2001, S. 2.

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De iure belli ac pacis und zog früh Pufendorfs De iure naturae et gentium zu Rate. Der junge Thomasius war zu dieser Zeit – nach eigenem Bekunden – noch den Vorstellungen der damals in Leipzig tonangebenden lutherischen Orthodoxie verhaftet, so dass seine erste Pufendorf-Rezeption einigermaßen reserviert ausfiel. Er fand zwar, „daß der Herr Autor [d. i. Samuel Pufendorf, F. G.] viele Dinge, welche Grotius vorbey gegangen, ausführlich erkläret, auch daß er in vielen den Grotium, wo er undeutlich redet, erläutert“, allerdings – so setzt er hinzu – „wollten mir einige Dinge nicht gefallen, welche der gemeinen Lehre vom ewigen Gesetz Gottes, von der Ubereinstimmung mit Gottes Heiligkeit, von der moralität, die vor dem göttlichen Willen vorhervorgehen soll, u.d.gl. zuwider waren“.37 Die von theologischer – das heißt lutherisch-orthodoxer – Seite vorgebrachte Kritik an Pufendorf begrüßte Thomasius in der Hoffnung auf eine ebenso sachgerechte wie überzeugende Widerlegung von Pufendorfs Naturrecht. Doch musste er zur Kenntnis nehmen, dass die lutherische Orthodoxie weder über die argumentativen Mittel verfügte, um die gewünschte Gewissheit zu verschaffen, noch in der Lage war, der von Pufendorf vorgebrachten Antikritik standzuhalten. Zudem begann er, „damahls einige dunckele Wolcken zu verjagen, welche bißhero meinen Verstand verfinstert hatten“.38 Hatte er nämlich vordem geglaubt, dass alles, was die Theologen verteidigten, „lauter gute Theologische Sachen wären“, musste er, nachdem er über die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie „recht nachgedacht“ hatte, erkennen, „daß insgemein allerhand Dinge von den Herren Theologis einmüthig vertheidiget werden, welche mit der Theologie nichts zu schaffen haben, sondern in die Sittenlehre oder die Rechtsgelahrheit gehören“.39 Zu dieser Einsicht kam die Selbsterkenntnis, „daß das judicium bey mir allsachte reiff zu werden begunte“, was mit dem Eindruck verbunden war, „daß ich gleichwohl wie andere Leute, auch ein Mensch wäre, der Vernunfft hätte“, und dies führte wiederum zu der Erkenntnis, „daß ich mich an Gott versündigen würde, wenn ich mich von andern länger bey der Nase, wie ein dummes Vieh, würde herumb führen lassen“.40 Thomasius prüfte ohne Ansehen der Person die „Beweißthümer auff beyden Seiten“ und stellte fest, dass seine bisherigen Kenntnisse nichts anderes gewesen seien, „als ein verworrener Mischmasch vieler unordentlich untereinander geworffenen Dinge“.41 Nachdem er „durch fleißiges nachdencken diesen Mischmasch ein wenig in Ordnung gebracht“ hatte, wurde er wider seinen Willen „ein Uberläuffer, aber ein solcher, wie etwa einer wider einen Tyrannen, der die Freyheit der Republic unterdrücken will, die Waffen ergreiffet“.42

37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 6f.

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Diese als intellektuelle Bekehrung beschriebene Hinwendung zu Pufendorf ruft mit bemerkenswerter Konsequenz wichtige Topoi auf, die später als aufklärerisch gelten sollten, und stellt sicher eine für Thomasius nicht untypische Selbststilisierung dar. Noch inmitten von Thomasius’ Leipziger Streitigkeiten musste es ihm nicht zuletzt aus strategischen Gründen darauf ankommen, dem studentischen Publikum einen möglichst reflektierten, kritischen und in gewisser Weise vorausweisenden Eindruck von sich selbst zu vermitteln. Dabei ist bemerkenswert, dass die in der Auseinandersetzung mit der Leipziger Orthodoxie mobilisierten Motive weiterhin, das heißt auch bei der Beschäftigung mit Pufendorfs Naturrecht, lebendig blieben. Das führte dazu, dass Thomasius trotz der ostentativen Orientierung an Pufendorfs Naturrecht schon früh Differenzen markiert und am Ende, spätestens im zweiten Anlauf, ein eigenständiges Naturrecht vorlegt, das theoretisch jenseits der einmal bewunderten Vorlage angesiedelt ist und diese daher überwindet. Thomasius wollte eben nicht eine Sekte gegen die andere eintauschen, sondern „die einmahl erlangte Freyheit erhalten“43 und das schlechte durch das bessere Argument ersetzen. Mit Blick auf seine nach der Rückkehr aus Frankfurt an der Oder in Leipzig aufgenommene Lehrtätigkeit, die zunächst wiederum Grotius’ De iure belli ac pacis dann aber Pufendorfs De officio hominis et civis zum Gegenstand hatte,44 heißt dies, dass Thomasius in der Darstellung von und in der Auseinandersetzung mit Pufendorfs Naturrecht einerseits die Kritik von Pufendorfs Gegnern sowie dessen Antikritik vortrug und andererseits, sich seiner Freiheit bedienend, eigene Zweifel an Pufendorfs Naturrecht theoretisch geltend machte, und so – wie es in der Vorrede an die Herren Zuhörer heißt – „eine andere Meynung als der Herr von Pufendorff vertheidigte“.45 Aus diesem Lehrzusammenhang heraus sind die Institutiones iurisprudentiae divinae entstanden, deren Nähe zu Pufendorf schon der volle Titel anzeigt.46 Doch blickt man genauer hin, dann werden bereits in Thomasius’ erstem Naturrecht Unterschiede sichtbar, die später zu einer auch explizit reflektierten Distanzierung von Samuel Pufendorf führen. Die schon früh bemerkbaren Differenzen zwischen den Institutiones und Pufendorfs De officio betreffen zunächst oberflächlich erscheinende Phänomene der Gliederung und der Akzentsetzung, aber auch grundsätzliche Fragen der Naturrechtsbegründung. Außerdem beginnt sich schon hier ein Dissens abzuzeichnen, der die theoretische Beanspruchung der Theologie, genauer: der natürlichen Theologie, betrifft und sich mit dem Erscheinen der Fun43 44 45 46

Ebd., S. 7. Zu Thomasius’ Vorlesungen über die Naturrechte von Grotius und Pufendorf siehe Steinberg: Christian Thomasius als Naturrechtslehrer (wie Anm. 18), S. 32f. Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (wie Anm. 36), S. 11. Christian Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, in Positiones succincte contractae, in quibus Hypotheses Illustris Pufendorffii circa doctrinam Juris Naturalis Apodictice demonstrantur et corroborantur, praecepta vero Juris Divini Positivi Universalis primum a Jure naturali distincte secernuntur, et perspicue explicantur. His praemissa est Dissertatio Prooemialis et magnam partem Apologetica. Francoforti et Lipsiae 1688. [Hervorhebung F. G.]

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damenta iuris naturae et gentium vertiefen wird. Indem er seinem zweiten Naturrecht eine neue theoretische Grundlage verschafft, wird sich Thomasius am Ende vollständig von dem Naturrecht Samuel Pufendorfs emanzipiert haben. Vorerst ist die Orientierung an Pufendorf, etwa hinsichtlich der Gliederung, freilich noch mit den Händen zu greifen. Der Vergleich der Kapitelüberschriften macht deutlich, dass Thomasius der Vorlage zwar nicht in jeder, wohl aber in bemerkenswert vielen Hinsichten folgt. Dies gilt insbesondere für die im zweiten Buch entfaltete allgemeine Pflichtenlehre. Hier hält sich Thomasius sowohl hinsichtlich der Themen als auch mit Blick auf deren Reihenfolge an Pufendorfs Vorgaben. Im dritten Buch scheint es sich ähnlich zu verhalten, doch ist hier erkennbar, dass er die bei Pufendorf in einer ganzen Reihe von Kapitelüberschriften sich dokumentierenden und damit jeweils differenziert sich präsentierenden Ausführungen zur Staatslehre nicht nachvollzieht. Was bei Pufendorf von Kapitel 5 bis grosso modo Kapitel 18 also in nicht weniger als 14 einzelnen Abschnitten entfaltet wird, summiert Thomasius großenteils in einem einzigen Kapitel, das mit „De Officiis viventium in civitate“ überschrieben ist. Er schließt dem ein vergleichsweise ausführliches Kapitel über die Strafen an – „De Officiis viventium in civitate circa poenas“ –, das der Sache nach bei Pufendorf in Kapitel 13 „De jure vitae ac necis“ verhandelt wird. Dass bei Pufendorf im Gegensatz zu Thomasius das Stichwort „Strafe“ in der Kapitelüberschrift nicht auftaucht und er den Gegenstand ausschließlich aus der Perspektive des Rechts der summa potestas bearbeitet, was er übrigens in De jure naturae et gentium genauso tut, scheint marginal zu sein, ist aber tatsächlich, und zwar noch ganz unabhängig von den verhandelten Inhalten, in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist auffällig und entsprechend zu würdigen, dass Thomasius die von Pufendorf gewählte perspektivische Vereinseitigung, das heißt die Konzentration auf die summa potestas und ihren Rechten vermeidet. Thomasius’ Formulierung ist von vornherein offener und nimmt allgemein die Pflichten derer in den Blick, die in einem Staatswesen leben. Und das bedeutet genau genommen eine Revision der von Pufendorf gewählten Perspektive: Bei Thomasius geht es nicht um das quasi objektivierte Recht von oben, um das summum imperium, das über ein Recht verfügt und im gegebenen Fall dieses exekutiert, sondern um die subjektive Pflicht, die die im Gemeinwesen Lebenden gegeneinander haben, zunächst unabhängig davon, ob sie zu den imperantes oder den parentes gehören. Die Richtung des Gedankens bewegt sich hier nicht einlinig vertikal von oben nach unten, sondern zunächst horizontal, was die Beschreibung von mutualen Rechtspositionen begünstigt, bevor natürlich auch hier – es geht schließlich nicht zuletzt um die Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen – die Vertikale erreicht wird. Zum anderen macht die explizite Hervorhebung des Begriffs poena sowie das Gewicht, dass der Strafe bei Thomasius zugemessen wird, nicht nur ihren Stellenwert deutlich, sondern hebt noch einmal mit einer gewissen Unmissverständlichkeit hervor, dass Thomasius seine Überlegungen ausdrücklich mit systematischen

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und dogmatischen Rücksichten im disziplinären Kontext der Jurisprudenz entwickelt. Dies macht bereits das Eingangskapitel der Institutiones klar. Während Pufendorf im ersten Kapitel des ersten Buches von De officio „De actione humana“ handelt, setzt Thomasius mit „De jurisprudentia in genere“ ein und definiert gleich im ersten Paragraphen die Jurisprudenz. Die drei weiteren Kapitel des ersten Buches sind der „Jurisprudentia divina“, der interpretatio „legum divinarum in genere & de principiis practicis“ und schließlich den ersten Prinzipien des Naturrechts gewidmet. Indem diese drei Kapitel zu dem ersten, das Naturrecht grundlegenden Buch zusammengefasst werden, gibt Thomasius mit Nachdruck zu erkennen, dass es ihm darum geht, das Naturrecht nicht im relativ unbestimmten Raum moralphilosophischer Reflexion als Lehrstück der Philosophie zu belassen, sondern es den Rechtswissenschaften zuzuordnen und ihm dabei eine die Rechtswissenschaften fundierende Funktion zuzuschreiben. Thomasius spricht hier als Jurist, der sich im Lehrzusammenhang der juristischen Fakultät an angehende Juristen wendet und ganz offenkundig die Absicht verfolgt, die Jurisprudenz mit der Hilfe des Naturrechts zu erneuern.47 Dies ist, angesichts der Tatsache, dass die Zuordnung des Naturrechts zur juristischen oder zur philosophischen Fakultät während des ausgehenden 17. bis in das 19. Jahrhundert hinein häufig uneindeutig war,48 nicht unwichtig und darf mit Blick auf die disziplinären Bedürfnisse an der Universität Halle als ein Signal verstanden werden. Obwohl es an dieser Stelle nicht darum gehen kann, die Differenzen zwischen dem Naturrecht von Samuel Pufendorf und den beiden Naturrechten von Christian Thomasius detailliert herauszuarbeiten,49 sei doch noch auf einen Aspekt hingewiesen, der den zunehmenden Abstand zwischen beiden Autoren markiert und so ein Licht auf den innovativen Charakter von Thomasius’ Naturrechten wirft. Es geht dabei um die Rolle theologischer Motive in der Naturrechtsbegründung und dem bei beiden Autoren unterschiedlichen Stellenwert des Eudämonismus. Sowohl in De iure naturae et gentium als auch in De officio hat Pufendorf unmittelbar nach der Formulierung der Grundregel des Naturrechts betont, dass die 47

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Siehe dazu neuerdings: Ian Hunter, der mit anderen Perspektiven und auf der Grundlage anderer Beobachtungen zu der folgenden Einschätzung kommt: „Thomasius treated natural law as a preparatory discipline for law students that was itself in need of reform, specifically through the inclusion of perspectives derived from his history of philosophy and his positivelaw reception histories”. Ian Hunter: Theory and Practice in the Natural Law of Christian Thomasius. In: Ian Hunter a. Richard Whatmore (eds.): Philosophy, Rights and Natural Law. Essays in Honour of Knud Haakonssen. Edinburgh 2019, p. 182, vgl. auch p. 176. Vgl. zur Funktion des Naturrechts bei Thomasius auch Ian Hunter: The Secularisation of the Confessional State. The Political Thought of Christian Thomasius, Cambridge 2007. Die Zuordnungsfrage und die damit verbundenen semantischen Unterschiede zwischen einem „philosophischen Naturrecht“ und einem „juristischen Naturrecht“ stellen ein Desiderat der gegenwärtigen Naturrechtsforschung dar. Vgl. dazu u. a.: Klaus Luig: Von Samuel Pufendorf zu Christian Thomasius. In: Fiammetta Palladini u. Gerald Hartung (Hg.): Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Berlin 1996, S. 137–146.

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durch die Vernunft erkannten Gebote des Naturrechts zwar offensichtlich nützlich seien, deren Bindungswirkung aber voraussetzte, „daß es einen Gott gibt, der in seiner Vorsehung alles lenkt, und der den Menschen die Verpflichtung auferlegt hat, die Gebote der Vernunft wie Gesetze, die von ihm kraft des angeborenen Lichtes der Vernunft verkündet worden sind, zu befolgen“.50 Würden die Vorschriften des Naturrechts nur nach Maßgabe ihrer Nützlichkeit befolgt werden, „so wie etwas, das von Ärzten zum Zwecke der Wiederherstellung der Gesundheit verordnet worden ist“, hätte das Naturrecht weder den Charakter noch die Wirkung eines Gesetzes. Denn dieses setze „eine Obrigkeit voraus, die so beschaffen ist, daß sie die Leitung der anderen tatsächlich übernommen hat“.51 Thomasius hat dies im dritten Kapitel des ersten Buches der Institutiones bestätigt: Gott ist Urheber des Menschen und hat gewollt, dass der Mensch eine lebendige vernünftige Kreatur sein solle. „Eben damit“ ̶ so folgert Thomasius weiter ̶ „hat Gott gewolt, daß der Mensch nach einer Richtschnur, oder nach einem Gesetze lebe. Weiter hat Gott gewolt, dass der Mensch nach der vorgeschriebenen Richtschnur oder Gesetz sein thun anstelle mit Liebe und mit Furcht“.52 Diese von Gott ausgehende Verbindlichkeit betrifft alle Gesetze, das Naturrecht so gut wie das positive göttliche und auch das von Menschen gesetzte Recht. Denn allgemein ist ein Gesetz ̶ und darin trifft sich Thomasius wiederum mit Pufendorf ̶ „ein Befehl der Obrigkeit, welches die Unterthanen verbindet, ihr Thun und Lassen nach solchem Befehl anzustellen“.53 Die Geltung des Naturrechts wird insofern auch bei Thomasius vom Willen Gottes abhängig gemacht. Doch fällt auf, dass Thomasius bei der Erklärung der „primis principiis“ des natürlichen Rechts im vierten Kapitel der Institutiones, stärker als dies bei Pufendorf der Fall ist, eudämonistische bzw. prudentistische Motive ins Spiel bringt. So stellt Thomasius etwa mit einer offenkundig an Hobbes orientierten Überlegung fest, dass der Verstoß gegen das Naturrecht „leichtlich“ einen „Krieg, und zwar jedermans Krieg wider jederman“ verursachen könnte, wodurch am Ende „das gantze menschliche Geschlecht ausgerottet werden könte“.54 Und an einer anderen Stelle, wohl aber im selben Zusammenhang, bringt Thomasius noch als aposteriorischen Beweis das eudämonistische Argument ins Spiel, dass „ein Mensch ausser der Gesellschafft nicht glückselig seyn kan“,55 so dass ihm schon

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Samuel Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übersetzt von Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994, S. 48. Vgl. Samuel Pufendorf: De officio. Hg. von Gerald Hartung. Band 2 von: Samuel Pufendorf: Gesammelte Schriften. Berlin 1997, S. 23. Siehe auch: Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium. Erster Teil. Hg. von Frank Böhling. Band 4 von: Samuel Pufendorf: Gesammelte Schriften. Berlin 1998, S. 154f; sowie: Samuel Freiherr von Pufendorf: Acht Bücher vom Natur- und Völckerrecht. Franckfurt am Mayn 1711. Repr. Hildesheim, Zürich, New York 2011, S. 373f. Ebd. Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (wie Anm. 36), S. 100. Ebd., S. 9. Ebd., S. 120. Ebd., S. 118.

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aus eigenem Interesse am Schutz dieser Gesellschaft und damit an der Befolgung des Naturrechts gelegen sein müsse. Dieser bei Pufendorf keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielende Eudämonismus wird von Thomasius in den Fundamenta iuris naturae et gentium aufgegriffen und insofern verstärkt, als er nun für den „Grund-Satz des in weiten Verstande genommen[en] Natur- und Völcker-Rechts“ herangezogen wird; der Grundsatz dieses neuen Naturrechts lautet: „dasjenige muß man thun, was der Menschen Leben sehr lang und glückselig machet; und dasjenige muß man meiden, was das Leben unglückselig machet und den Todt befördert“.56 Thomasius’ zweites Naturrecht war – wie er wiederum selbst mitteilt – die Frucht vieler Jahre „fleissigen Nachsinnens“57 und der dabei gewachsenen Einsicht, „daß das gantze Gebäude der Moral auff eine gantz andere Art und Weise auffzuführen sey“.58 Diese neue theoretische Grundlage des Naturrechts sollte sich aller theologischen Implikationen enthalten und mit Rücksicht auf die anthropologischen Gegebenheiten aus dem „sinnlichen Begriff aller Menschen“ hergeleitet werden. Eine voraussetzungsarm begründete Naturrechtsnorm hatte in Rechnung zu stellen, dass die Vernunft des Menschen seinem passionierten Willen unterlegen ist und sollte gewährleisten, dass selbst Törichte in der Lage sind, sie nachzuvollziehen und praktisch zu realisieren.59 Im Ergebnis bestritt Thomasius den von Pufendorf betonten Gesetzescharakter des Naturrechts und behauptete, das Naturrecht erreiche lediglich eine „innerliche Verpflichtung“, die darin bestehe, dem Törichten einen 56

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Christian Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia Honesti, Justi ac Decori cum adiuncta emendatione ad ista fundamenta, Institutionum Jurisprudentiae divinae. In usum Auditorii Thomasiani. Halae et Lipsiae 1705. Zitiert wird im Folgenden aus der 1709 publizierten deutschsprachigen Übersetzung: Christian Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts, Nach dem sinnlichen Begriff aller Menschen vorgestellet, in welchem allenthalben unterschieden werden die Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Anständigkeit; Denen beygefügt Eine Verbesserung der Göttlichen Rechts-Gelahrheit nach dessen Grund-Lehren, Zum Gebrauch des Thomasianischen Auditorii. Halle 1709. Repr.: Band 18 der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim, Zürich, New York 2003, S. 114. Ebd., S. 1f. Ebd., S. 3. Für eine an dieser Stelle nicht zu leistende Rekonstruktion des zweiten Naturrechts von Christian Thomasius sei nur auf die folgenden Studien verwiesen: Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971, S. 239–289; Peter Schröder: Thomasius zur Einführung. Hamburg 1999, bes. S. 80–98; Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, bes. S. 202–230; Timothy J. Hochstrasser: Natural Law Theories in the Early Enlightenment (wie Anm. 35), S. 129–135. Ian Hunter: Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany. Cambridge 2001, S. 234–251; Martin Kühnel: Das politische Denken von Christian Thomasius. Staat, Gesellschaft, Bürger. Berlin 2001, bes. S. 41–67; Klaus-Gert Lutterbeck: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; Ian Hunter: The Secularisation of the Confessional State (wie Anm. 47), S. 99–112.

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Rat zu erteilen. Dazu sei nichts weiter erforderlich als der Nachweis „der nothwendigen und natürlichen Verbindung der unzehlbahren Nachtheile mit dem närrischen Leben, und der unzehlbahren Vortheile mit dem weisen Leben“.60 Indem Thomasius ausdrücklich die Pflicht als eine Neigung des Willens beschreibt, die durch Furcht vor drohenden Nachteilen oder Hoffnung auf zu erlangende Vorteile bewirkt wird,61 wird die Verbindlichkeit folgenreich in eine prudentistische Erwägung umgewandelt, die sich denkbar weit von den obligationstheoretischen Vorgaben Pufendorfs entfernt hat. Thomasius distanziert sich mit seinem zweiten Naturrecht – bei aller Wertschätzung – von seinen Vorläufern Grotius und Pufendorf und arbeitet zugleich einen naturrechtlichen Neuansatz aus, der auf der Grundlage weitreichender theoretischer Revisionen beruht und als solcher von ihm sowohl in der „Vorrede“ als auch in den seine Ausführungen begleitenden Fußnoten explizit reflektiert wird. Die Neuigkeit der Fundamenta eröffnete ein neues Kapitel des Naturrechts und damit auch ein neues Kapitel der Naturrechtsgeschichtsschreibung, die Thomasius mit tatkräftiger Unterstützung seiner Schüler und Anhänger gleich selbst in die Hand nahm. Wenn er in der Vorrede zu der 1707 erschienenen deutschen Übersetzung von De iure belli ac pacis das Erscheinen von Grotius’ opus magnum als „Morgenröthe“ beschreibt, mit der das Ende der scholastischen Verderbnis eingesetzt habe, macht er zunächst implizit – und am Ende auch explizit – eine Entwicklungslinie auf, die von Grotius über Pufendorf zu ihm selbst führt.62 Der Ausruf, „nunmehr“ sei es „Gott Lob Tag worden“,63 bezieht Thomasius in der Vorrede zwar auf ein Werk von Abraham Scultus, doch lässt Thomasius keinen Zweifel daran, dass in der Naturrechtsgeschichte mit seinem eigenen Auftreten der „helle Mittag“64 erreicht sei. Seine Anhänger agieren in dieser Hinsicht als willkommene Verstärker: Im Rückgriff auf die von Thomasius verwendete Lichtmetaphorik verbinden sie das Auftreten von Grotius, Pufendorf und Thomasius beinahe expressis verbis mit Aufklärung. In seiner Abhandlung Von denen Hindernüssen der Auffnahm der natürlichen Rechts-Gelahrheit, die der deutschen Übersetzung der Institutiones als Teil der „Vorrede“ beigegeben ist, geht Ephraim Gerhard der Frage nach, warum bei dem „hellen Lichte der Vernunfft und Gelahrheit, doch noch so viele denen tuncklen Fußstapffen ihrer Vorfahren nachfolgen wollen“. Dabei ist für ihn ausgemacht, dass „uns […] Grotius, Pufendorf, Thomasius“ Lichter aufgesteckt hätten, die denen, „welche einen in etwas aufgeklährtern Verstand

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Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts (wie Anm. 56), S. 111. Vgl. ebd., S. 86. Christian Thomasius: Vorrede, Von der Historie des Rechts der Natur bis auf Grotium, von der Wichtigkeit des Grotianischen Werks; und dem Nutzen der gegenwärtigen Übersetzung. In: Hugo Grotius: Drey Bücher von dem Recht des Kriegs und des Friedens. Leipzig 1707, S. 43. Ebd., S. 16. Ebd., S. 43.

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haben“,65 nicht anders als erfreulich sein könnten. Die Reihe der drei Autoren beschreibt selbstverständlich eine Aufwärtsbewegung: Hatte Grotius damit begonnen, das Naturrecht in eine systematische Ordnung zu bringen, so führte Thomasius es – nach Auskunft von Gundling – auf den „höchsten Gipfel“ seiner „Vollkommenheit“,66 was Gundling selbst freilich nicht davon abgehalten hat, ein eigenes Naturrecht „nova methodo“ vorzulegen. Dessen Neuigkeit bestand nicht nur in der Verwendung rezenter und damit nachvollziehbarer Exempel, sondern auch in der deutlicheren Abgrenzung des Naturrechts als Recht von der Ethik.67 Insofern war die Neuigkeit der Fundamenta im Kontext des halleschen Naturrechts vor Wolff durchaus nicht die letzte.

III. Hallesches Naturrecht jenseits von Halle – Wirkungen Das Gewicht sowohl einer einzelnen Theorie als auch eines größeren theoretischen Diskurszusammenhangs wird – nicht nur, wohl aber auch – durch ihre jeweilige Wirkung dokumentiert. Dass das in Halle gelehrte Naturrecht schon früh attraktiv genug war, um zum Markenkern der Fridericiana zu gehören, ist der Sache nach zwar bekannt, doch fehlen noch immer einschlägige Forschungen, die Wege und Effekte der Rezeption rekonstruieren. Die im Rahmen der Forschungsinitiative Natural Law 1625-1850. An International Research Network68 durchgeführten Untersuchungen von Mads Langballe Jensen zum Naturrecht in der dänisch-norwegischen Doppelmonarchie hat jenseits der bekannten Beziehung zwischen Christian Thomasius und Ludvig Holberg69

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Ephraim Gerhard: Von denen Hindernüssen der Auffnahm der natürlichen Rechts-Gelahrheit. In: Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (wie Anm. 36), Vorrede, § 3. Nicolaus Hieronymus Gundling: Vollständige Historie der Gelahrheit. Frankfurt u. Leipzig 1735, S. 3037. Siehe dazu die Praefatio in: Gundling: Jus naturae ac gentium connexa ratione novaque methodo elaboratum (wie Anm. 23). Vgl. zu Gundlings Naturrecht: Hinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968; Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1999, S. 110–116; zuletzt: Oliver Bach: Fiktion und Natur. Nicolaus Hieronymus Gundling zu Imagination und Recht. In: Ralph Häfner u. Michael Multhammer (Hg.): Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) im Kontext der Frühaufklärung. Heidelberg 2018, S. 165–185; sowie Martin Mulsow: Radikale Aufklärung in Deutschland 1680–1720. Band 1: Moderne aus dem Untergrund. Göttingen 2018, bes. S. 395– 403. Vgl. Grunert, Haakonssen u. Klippel: Natural Law 1625–1850. An International Research Network (wie Anm. 3). Vgl. zu Holbergs Naturrecht und seinem Verhältnis zu Thomasius: Knud Haakonssen: Holberg’s Law of Nature and Nations. In: Knud Haakonssen a. Sebastian Olden-Jørgensen (eds.): Ludvig Holberg (1684–1754). Learning and Literature in the Nordic Enlightenment. London, New York 2017, p. 59–79.

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Frank Grunert

bereits wichtige Verbindungslinien zum halleschen Naturrecht zu Tage gefördert.70 Bisher weitgehend unbekannte Autoren wie Christian Reitzen und Andreas Hojer waren in Dänemark diskursprägende Juristen, die zwischen 1690–1692 bzw. 1707– 1709 ihr Fach bei Christian Thomasius in Halle gelernt hatten. Die Jurisprudenz und damit auch das Naturrecht in Halle genossen in Skandinavien ein ausgesprochen hohes Ansehen, was neben den zahlreichen Immatrikulationen von Studenten aus Dänemark und Schweden nicht zuletzt durch die naturrechtlichen Vorlesungsmitschriften dokumentiert wird, die sich auf in Halle gehaltene und gehörte Lehrveranstaltungen beziehen und nun in Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen bewahrt werden. Angesichts der noch fehlenden weitergehenden Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte des halleschen Naturrechts mag die bereits eingangs erwähnte Studie von Jan Schröder und Ines Pielemeier vorläufig hilfreich sein. Sie haben 3.000 Vorlesungsverzeichnisse von 19 deutschen Universitäten von der Mitte des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgewertet und dabei 4.500 Naturrechtsvorlesungen erfassen können. Für den besonders gut dokumentierten Zeitraum von 1735– 1839 haben Schröder und Pielemeier eine Übersicht über die Autoren zusammengestellt, die die in einem bestimmten Zeitraum bevorzugten Vorlesungskompendien verfasst haben.71

1735–39 1740–44 1745–49 1750–54 1755–59 1760–64 1765–69 1770–74 1775–79 1780–84 1785–89 1790–94 1795–99 1800–04

70 71

Pufendorf (19), Grotius (5), Gundling (5) Heineccius (14), Gundling (10), Pufendorf (9) Heineccius (11), Gundling (9), J.G. Wolff (8) Wolff (19), Darjes (12), Heineccius, Achenwall (je 8) Wolff (24), Achenwall (15), Darjes (8) Wolff (26), Achenwall (16), Darjes (13) Darjes (61), Wolff (23), Achenwall (22) Darjes (53), Achenwall (31), Wolff, Nettelbladt (je 14) Darjes (55), Achenwall (31), Gundling (16) Achenwall (62), Höpfner (47), Darjes (29) Höpfner (105), Achenwall (33), Nettelbladt (18) Höpfner (133), Hufeland (41), Nettelbladt (17) Höpfner (49), Kant (27), Hufeland, Hoffbauer (je 19) Kant (25), Höpfner, Hoffbauer, Klein (je 11)

22,1 15,1 13,3 15,8 19,8 19,4 31,5 21,1 23,5 24,2 40,3 44,8 16,3 14,7

(39,6) % (21,5) % (19,0) % (26,4) % (32,0) % (33,8) % (41,8) % (30,6) % (28,5) % (25,8) % (43,4) % (47,8) % (20,9) % (18,7) %

Mads Langballe Jensen: Contests about Natural Law in Early Enlightenment Copenhagen. In: History of European Ideas. Vol. 42, No. 8, p. 1027–1041. Jan Schröder u. Ines Pielemeier: Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 261.

Naturrecht als Grundlage

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In der Zeit von 1735 bis 1804 werden 46 mal die Namen der 14 prominentesten Naturrechtslehrer genannt, wobei es sich in 19 Fällen um die Namen von Professoren handelt, die in Halle gelehrt haben und sich auf sieben verschiedene Autoren beziehen, wobei der insgesamt sieben Mal aufgeführte Gottfried Achenwall immerhin zeitweilig in Halle studiert hatte. Gottlieb Hufeland kommt zwar – akademisch gesehen – nicht aus Halle, hat aber nach einem Misserfolg in Landshut 1816 seine Lehrtätigkeit in Halle aufgenommen. Insofern waren es von den aufgeführten 14 prominentesten Naturrechtslehrern nur Immanuel Kant, Ludwig Julius Friedrich Höpfner und Joachim Georg Darjes, die keine über die Lehre vermittelte Beziehung zu Halle hatten. Vertraut man auf die ermittelten Daten, dann lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass das hallesche Naturrecht zeitweilig den naturrechtlichen Diskurs an den deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts nahezu dominierte. Interessanterweise ist aus der Frühzeit der Fridericiana – eher unerwartet – Nicolaus Hieronymus Gundling vergleichsweise lange präsent. Sein Lehrer Christian Thomasius war sicher nicht vergessen, doch spielten seine Naturrechtskompendien in der Lehre keine vergleichbare Rolle.72

IV. Zum kurzen Schluss: Innovatives Naturrecht Eine Universität, die 1694 offiziell gegründet wurde und erst dann ihren offiziellen Lehrbetrieb aufnahm, kann mit Blick auf die Berücksichtigung der Naturrechtslehre in ihrem Lehrkanon naturgemäß nur schwerlich zur Avantgarde gehören. Einen ersten Naturrechts-Lehrstuhl hat bekanntlich die Universität Heidelberg 1661 für Samuel Pufendorf an der philosophischen Fakultät eingerichtet, den ersten juristischen Naturrechts-Lehrstuhl durfte vier Jahre später Samuel Rachel in Kiel besetzen. Ebenfalls in den 1670er Jahren begann die Universität Marburg mit regelmäßigen Naturrechtsvorlesungen bei den Juristen, die Philosophen schlossen erst 1692 auf. Thomasius war in Leipzig mit dem Naturrecht in Berührung gekommen, dort war es Otto Mencke, der schon 1670 über Naturrecht las. Dass die Universität Halle im Naturrechtsdiskurs gleichwohl eine besondere Rolle spielt, wird nicht nur durch die bemerkenswerte Dichte der Lehrveranstaltungen, die Vielgestaltigkeit der Theorie und die durch Immatrikulationszahlen belegte Attraktivität des halleschen Naturrechts dokumentiert, sondern zeigt sich auch im Vergleich der Lehrinhalte. Die frühen, an Grotius orientierten Auseinandersetzungen zielten häufig auf 72

Dass das Interesse an Gundlings Naturrecht noch über seinen Tod hinaus anhielt, belegen auch die posthum veranstalteten Ausgaben seines Ius naturae sowie die Edition einer entsprechenden Vorlesungsmitschrift: Das Jus naturae ac gentium ist nach Gundlings Tod noch 1736 in Halle, 1751 in Genf und 1769 abermals in Halle gedruckt worden; der Ausführliche Discours über das Natur- und Völcker-Recht erschien 1734 (Frankfurt a. M./Leipzig) zum ersten Mal, eine weitere Auflage veranstaltete der gleiche Verlag 1747. Vgl. dazu die Bibliographie in: Häfner u. Multhammer (Hg.): Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) (wie Anm. 67), S. 219–239, hier S. 223 und S. 231.

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die religiöse Einbindung des Naturrechts, wohingegen Thomasius im Anschluss an und in Weiterentwicklung von Pufendorf schon während seiner Leipziger Zeit damit begann, das Naturrecht von theologischen – das heißt nicht nur offenbarungstheologischen, sondern auch natürlich-theologischen – Voraussetzungen abzukoppeln, und Wert darauf legte, das Naturrecht stärker an den Bedürfnissen der Jurisprudenz zu orientieren. Gerade diese fachliche Orientierung des halleschen Naturrechts dürfte seine besondere Attraktivität begründet haben. Naturrecht wurde hier mit disziplinären und praktischen Effekten als eine theoretische Grundlage gelehrt. Dass es dabei innovativ war, steht außer Frage, wobei zugleich klar ist, dass es hierbei vorrangig um die Verbesserung des bereits Gegebenen ging. In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist die bereits zitierte Vorrede an die Herren Zuhörer gerichtet, die Christian Thomasius seinen Drey Büchern der Göttlichen Rechtsgelahrheit voranstellt. Hier setzt er sich mit dem ausdrücklich erhobenen Vorwurf auseinander, ein „Neuling“ („Novator“) zu sein, und lässt die Kritik mit Blick auf die Notwendigkeit einer Verbesserung des Unrichtigen ins Leere laufen: Der „Liebhaber der wahren Weisheit“ – so konstatiert Thomasius – gibt deswegen nicht viel auf den „Ehrentitel eines Neulings“ – sei er als Vorwurf oder als vermeintlicher Vorzug gemeint –, weil „man sichs vielmehr vor eine Ehre schätzen soll, wenn man nicht nöthig hat alles mit frembden Augen zu sehen, sondern durch eigenes Nachdencken, dasjenige was andere übersehen und vorbey gegangen entdecket, und was andere unrecht gesetzt, verbessert“73. Maßstab ist ausschließlich die Vernunft, der Thomasius im Gebrauch seiner „Philosophischen Freyheit“ folgt. Weil der Vernunft – je nach dem – Altes wie Neues gefällt, ist die Frage nach neu oder alt, vor dem Hintergrund der vernünftigen Unterscheidung zwischen richtig und falsch sowie gut und verwerflich, allenfalls sekundär. Insofern kann Thomasius den Vorwurf, ein „Neuling“ zu sein, entspannt an sich abperlen lassen: „So sage ich nun: Ich nehme viel neues an, ich verwerffe viel neues, ich erneuere manches“.74 Auch wenn Thomasius gerade mit seiner Kritik am „Vorurtheil des Alten“75 die Notwendigkeit des Neuen klar behauptet, so ist doch die Innovation allein kein Ausweis des anzustrebenden Vernünftigen. Obwohl Thomasius diese Überlegungen im Rahmen seiner Naturrechte anstellt, gelten sie natürlich nicht nur für diese.

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Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (wie Anm. 36), S. 22. Die Passage findet sich bereits in der ersten Ausgabe des lateinischen Originals, siehe: Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae (wie Anm. 36), S. 34. Ebd., S. 23. Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts (wie Anm. 56), S. 2.

ANDREAS PEČAR

Die Universitäten Halle und Wittenberg – Aufbruch versus Beharrung? Ein Vergleich der Vorlesungsverzeichnisse der Juristischen Fakultäten (1694–1740) In der Universitätsgeschichte und in der Aufklärungsforschung hat die Universität Halle einen festen Platz. Halle gilt als Ort der Innovation, als Reformuniversität, von der zahlreiche Impulse ausgegangen seien. Die Universität Halle wird gerne als erste „Aufklärungsuniversität“ im Heiligen Römischen Reich deklariert – später gefolgt von Göttingen und schließlich Berlin.1 Mit dem Titel einer Aufklärungsuniversität bekommt Halle eine positive Sonderrolle unter den Universitäten im Alten Reich um 1700 zuerkannt.2 Die Universitätsgeschichte sieht nämlich das Gros der Universitäten im Alten Reich zu dieser Zeit in einer Krise: erstarrt in alten Traditionen, in Beschlag genommen von Gelehrtenfamilien, deren akademische Ämter wie Erbhöfe betrachtet wurden und nicht selten in der Familie blieben, abgekoppelt von den innovativen Trends der wissenschaftlichen Entwicklung, die sich meist fernab der Universitäten vollzog, an Akademien, Fürstenhöfen oder Ritterakademien, belebt nur von Gelehrtenstreitigkeiten ohne Bezug zu den realen Herausforderungen und Problemen der Zeit.3

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Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, S. 298f., S. 306f. und S. 309–312 (zu Göttingen); Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, S. 148ff.; Ders.: Die Universitätsgründungen im Zeichen der Aufklärung. In: Peter Baumgart u. Notker Hammerstein (Hg.): Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit. Nendeln 1978, S. 263–298; Ders.: Halles Ort in der deutschen Universitätslandschaft der Frühen Neuzeit. In: Günter Jerouschek u. Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle in den ersten hundert Jahren ihres Bestehens (1694–1806). Hanau 1994, S. 18–29; Ders.: Aufklärung und Universitäten in Europa. Divergenzen und Probleme. In: Ders. (Hg.): Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, S. 191–205; Ders.: Innovation und Tradition. Akademien und Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. In: Historische Zeitschrift 278 (2004), S. 590–623; Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, 2. Aufl. Berlin 2015, S. 111. Vgl. nur Hammerstein: Halles Ort (wie Anm. 1), S. 24: „Hier war ein neuer Wissenschaftsbegriff, eine neue Universitätspraxis und ein neues Universitätsleben verwirklicht worden“. Vgl. hierzu Matthias Asche: Über den Nutzen von Landesuniversitäten in der Frühen Neuzeit. Leistung und Grenzen der protestantischen „Familienuniversität“. In: Peter Herde u. Anton Schindling (Hg.): Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit. Beiträge zur Bildungsgeschichte. Würzburg 1998, S. 133–149; Notker Hammerstein: Universitäten. In: Ders. u. Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-009

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Dass der Brandenburgische Kurfürst Friedrich III. im Jahr 1691 in Zeiten der akademischen Krise in Halle eine neue Universität gründete, gilt in der Aufklärungsforschung wie in der Universitätsgeschichte als Hinweis darauf, dass diese Gründung etwas Neues verkörpern sollte. Als spiritus rector dieser Gründung hat die Forschung Christian Thomasius ausgemacht.4 Und in der Tat zeigte sich Thomasius zunächst an der Universität Leipzig und dann in seinen ersten Jahren als Gelehrter in Halle als Rebell und als Provokateur: ständig im Streit mit den jeweiligen Theologen vor Ort, bemüht um eine Eingrenzung von deren Geltungsansprüchen, selbst aber ausgestattet mit einem grenzenlosen eigenen Geltungsanspruch, was zum Beispiel die Themen seiner Lehre angeht.5 Thomasius profilierte sich in Leipzig und in Halle in der Tat als Neuerer und als Kritiker bestehender Traditionen sowie der Universität in ihrer bestehenden Form.6 Thomasius’ Aussagen machten zahlreiche Autoren wie Notker Hammerstein und Steffen Martus zu einer Art Gründungspapier der Universität Halle, und dessen Wunschvorstellungen galt ihnen als eine korrekte Beschreibung der Verhältnisse an der neu gegründeten Universität. Folgt man Hammerstein oder Martus, so seien in Halle zahlreiche Innovationen von Beginn an geplant und entschlossen ins Werk gesetzt worden, um eine zeitgemäße Bildungseinrichtung zu schaffen: Dazu zählte ein galantes Gelehrtenideal, die konsequente Verwendung der deutschen Sprache als Lehrspra-

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München 2005, S. 369–400. Hammerstein spricht auch von „dahinsiechenden“ Universitäten und von „verrufenen Anstalten“; Hammerstein: Jus und Historie (wie Anm. 1), S. 148. Vgl. nur Christophe Losfeld: Art. Universitäten/Akademien. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Hg. v. Heinz Thoma. Stuttgart u. Weimar 2015, S. 506–516, hier S. 508: Thomasius habe „ab 1693 mit der Gründung der Universität Halle eine deutschlandweite Reformbewegung“ eigeleitet, er habe ferner den Weg geebnet „zu einer durch eine stärkere Praxisorientierung gekennzeichneten universitären Ausbildung, die für alle Fakultäten galt.“ Die höchsten lyrischen Gipfel der Verehrungsbereitschaft erklimmt Notker Hammerstein: „Die systematische Neuordnung der Wissenschaften, die hingegen Thomasius vornimmt, seine veränderte Begründung der traditionellen Disziplinen, die Prinzipien, denen er folgt, all das, so meinten wir, ist anders als das Zeitübliche, ist neu, ist spezifisch ‚Thomasisch‘. Und genau mit diesen Lehren wird nun der Hallenser Professor Vorbild, Erzieher und Organisator der deutschen Universität des 18. Jahrhunderts“; Hammerstein: Jus und Historie (wie Anm. 1), S. 148. Eine kritischere Position bei Günter Jerouschek: Arbeit am Mythos. Thomasius und die Gründung der Universität Halle. In: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728) – Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hildesheim 2006, S. 317–325. Vgl. zu Thomasius in Leipzig Detlef Döring: Christian Thomasius und die Universität Leipzig am Ende des 17. Jahrhunderts. In: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Gelehrter Bürger in Leipzig und Halle. Stuttgart 2008, S. 71–97; Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius’ Leipziger Streitigkeiten. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg 3/1 (1953/54), S. 155–159; Martus: Aufklärung (wie Anm. 1), S. 104–107. Vgl. nur die Gutachten von Christian Thomasius zur Einrichtung einer neuen Universität in Halle; s. hierzu Friedrich de Boor: Die ersten Vorschläge von Christian Thomasius „wegen Aufrichtung einer neuen Academie zu Halle“ aus dem Jahre 1690. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günther Mühlpfordt. 7 Bde., hier Bd. 4: Deutsche Aufklärung in Europa. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 57–84.

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che, die Ablösung der Theologie als ranghöchste Fakultät zunächst durch die Juristische Fakultät und vieles mehr.7 In diesem Beitrag wird die Erzählung von der Universitätsgründung in Halle als Wendepunkt in der Bildungsgeschichte der Akademien in Deutschland kritisch zu prüfen sein. Um die Besonderheit Halles als Fürsprecher des Neuen und der Innovation zur Debatte zu stellen, eignet sich ein Vergleich der neugegründeten Fridericiana mit einer bereits langjährig etablierten Universität. Die Universität Wittenberg bietet sich da als Vergleichsbeispiel aus mehreren Gründen an. Wittenberg hat in der Universitätsgeschichte für die Zeit um 1700 den Ruf eines Bollwerks der lutherischen Orthodoxie. Verbindet sich mit Wittenberg als Universität im 16. Jahrhundert ein Neuaufbruch in der Wissenschaft, eine Verschmelzung von reformatorischer Lehre und humanistischem Denken in Abwehr gegen scholastische Lehrsätze,8 so ist von dieser Dynamik an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, folgt man der gängigen Erzählung zur Bildungsgeschichte deutscher Universitäten, nichts mehr übrig geblieben.9 Gemäß den Annahmen der Universitätsgeschichtsschreibung müssten die Unterschiede zwischen der innovativen Aufklärungsuniversität in Halle und der konservativ-erstarrten Universität in Wittenberg also erheblich sein. Und in der Tat lässt sich ein prominenter Unterschied auf den ersten Blick ausmachen: in den konfessionellen Rahmenbedingungen beider Universitäten, in denen auch aus diesen Gründen unterschiedliche Spielarten des Luthertums gelehrt und propagiert wurden, gerne in polemischer Abgrenzung gegen die jeweils andere Universität und ihre Gelehrten. Doch sind wir über diese Unterschiede – landläufig bezeichnet als Konflikt zwischen lutherischer Orthodoxie und hallischem Pietismus – bereits gut informiert.10 Der Fokus dieses Beitrages soll auf einem anderen Feld liegen. Die Universitätsgeschichte hat als besonders dynamischen Motor der Universität Halle die juristische Fakultät ausgemacht. Diese habe mit der Gründung der Universität den 7 8

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Hammerstein: Halles Ort (wie Anm. 1); Martus: Aufklärung (wie Anm. 1), S. 95 und S. 110– 115. Vgl. Heribert Smolinsky: Kirchenreform als Bildungsreform im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Harald Dickerhof (Hg.): Bildungs- und schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfessionellem Zeitalter. Wiesbaden 1994, S. 35–51; Heinz Scheible: Aufsätze zu Melanchthon. Tübingen 2010, v. a. seine Aufsätze: Melanchthon als akademischer Lehrer (S. 75–90); Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform (S. 125– 151); Die Reform von Schule und Universität in der Reformationszeit (S. 152–172). Vgl. hierzu nur die klassische Universitätsgeschichte von Walter Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg. Halle 1917, dessen 7. Kapitel die Überschrift trägt: „Niedergang und Wiederaufstieg im 18. Jahrhundert“ (S. 518–614). Beim Erscheinungsort „Halle“ ist stets Halle (Saale) gemeint. Vgl. nur als neuere Untersuchungen aus unterschiedlichen Blickrichtungen Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsformen der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997; Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2014.

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ersten Platz unter den Fakultäten eingenommen, hier seien die größten Gelehrten der Universität versammelt gewesen, in Halle habe die Rechtswissenschaft sowohl im Bereich des Naturrechts als auch des Reichsrechts zahlreiche neue Impulse empfangen. Im folgenden Beitrag wird anhand der Vorlesungsverzeichnisse für den Zeitraum von 1694 bis 1740 der Versuch unternommen werden, auf gleichsam serielle Weise nachzuvollziehen, ob bzw. wie sich die Lehre innerhalb des Betrachtungszeitraums in Halle veränderte, und wie sich in demselben Zeitraum die Entwicklung der juristischen Lehre in Wittenberg vollzog. Diese serielle Untersuchung hat den Vorteil, dass sie keine Unterschiede macht zwischen den großen Namen der Gelehrtengeschichte und den übrigen Lehrenden.11 Der Blick richtet sich also nicht auf wenige Gelehrte, deren Wirken dann rückblickend größtmögliche Bedeutung zuerkannt wird. Einer auf Vorlesungsverzeichnisse fokussierenden Untersuchung sind indes auch enge Grenzen gesetzt: Lehrverzeichnisse liefern zunächst eine „virtuelle Realität“.12 Sie sagen nur aus, welche Veranstaltungen angekündigt, nicht aber, ob sie auch gehalten wurden. Und sie lassen auch nicht erkennen, welche Inhalte und Positionen im Einzelnen vertreten wurden. Was die Einträge im Vorlesungsverzeichnis aber vermitteln, ist dreierlei: der Name des Dozenten, das Thema der Veranstaltung sowie oftmals auch das dabei herangezogene Lehrbuch. Damit liefert auch diese virtuelle Realität der Vorlesungsverzeichnisse erste wertvolle Hinweise, an denen sich das inhaltliche Profil sowie Fragen nach Kontinuität und Wandel in der Lehre ansatzweise nachvollziehen lassen. Die Überlieferungssituation ist für den Zeitraum von 1694 bis 1740 vergleichsweise günstig. Für die Universität Halle sind ab 1694 sämtliche Vorlesungsverzeichnisse überliefert. Für Wittenberg gibt es leider für den Betrachtungszeitraum keine vollständige Überlieferung. Erhalten haben sich die Verzeichnisse für die Jahre 1705 (SoSe), 1708 (SoSe), 1709 (SoSe), 1711 (SoSe), 1713 (SoSe), 1715 (SoSe), 1716 (SoSe und WS), 1717 (SoSe), 1724 (WS), 1727 (SoSe), 1729 (SoSe und WS), 1731 (SoSe), 1732, 1733 (WS), 1734 (SoSe und WS),

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Vgl. nur exemplarisch Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 298f.: „Mit diesen Namen [Thomasius, Böhmer, von Ludewig, Gundling] ist die Richtung bezeichnet, die Halle bis in die dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts zur modernsten Universität Deutschlands gemacht hat.“ Dass diese an den großen Geistern orientierte Perspektive zu Verzerrungen führt, hat Dominik Recknagel zu Recht unterstrichen; Dominik Recknagel: Naturrecht in der Lehre. Naturrechtliche Vorlesungen an der Friedrichs-Universität zu Halle bis zum Jahr 1850, In: Ders. u. Sabine Wöller (Hg.): „Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind!“ Naturrechtslehre in Halle. Ausstellungskatalog. Halle 2013, S. 8–19, hier S. 11f. Riccardo Pozzo: Vorlesungsverzeichnisse als Quelle der Universitätsgeschichte Preußens. In: Reinhard Brandt u. a. (Hg.): Studien zur Entwicklung preußischer Universitäten. Wiesbaden 1999, S. 59–80, hier S. 62. Vgl. generell Jan Schröder: Vorlesungsverzeichnisse als rechtshistorische Quelle. In: Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér zum 70. Geburtstag. München 1991, S. 383–401.

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1735 (WS), 1736 (SoSe), 1737 (WS), 1738 (WS) und 1740 (SoSe und WS).13 Für Halle konnten insgesamt 89 Semester ausgewertet werden, für Wittenberg liegen immerhin Verzeichnisse für insgesamt 24 Semester vor. In einem ersten Abschnitt wird es nun um die Frage gehen, welches Bild die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Halle vermitteln, wenn es um zwei Aspekte geht, die in der Universitätsgeschichtsschreibung für den Aufbruch stehen, der mit Halle in Verbindung gebracht wird: der Rang der Gelehrten untereinander und die Sprache, in der die Lehrveranstaltungen gehalten wurden. In einem zweiten Abschnitt geht es dann um die Frage, ob sich anhand der Lehrverzeichnisse Aussagen treffen lassen über das Lehrprofil der Juristen an der Universität Halle im Vergleich zur Universität Wittenberg.

I. Die Frage nach der Rangfolge der Fakultäten an den Universitäten im Alten Reich spielt in der Diskussion um die sogenannten Aufklärungsuniversitäten eine besondere Rolle. Folgt man hier Notker Hammerstein und Steffen Martus, so sei in Halle eine neue Rangfolge unter den Gelehrten etabliert worden. Nicht mehr die Theologen, sondern die Juristen hätten fortan den ersten Platz eingenommen. Als empirische Begründung für diese Behauptung führt Hammerstein lapidar die höhere Bezahlung der Juristen an.14 Martus übernimmt diese Behauptung in leicht modifizierter Form, indem er aufgrund der vermeintlich höheren Bezahlung der Juristen schlussfolgert: „in Halle war die Theologie nominell die höchste Fakultät, aber die höhere Besoldung der Rechtsgelehrten zeigte, dass die Juristen die Theologen in der Wertschätzung des Landesherrn überholt hatten“.15 Bevor wir uns der Frage zuwenden, welche dieser Aussagen einem Blick in die Quellen standhält, muss zunächst geklärt werden, welche Bedeutung Hammerstein und Martus dem Rangargument hier zuweisen. Wenn es um die Rangfolge unter den Gelehrten geht, können damit ganz unterschiedliche Aspekte gemeint sein: - Die Rangfolge war ein sichtbares Hierarchiemerkmal der internen Statusdifferenzierung innerhalb der Gelehrten. Sofern keine anderen ranggenerierenden Kriterien hinzukamen wie Titel und Ämter des Landesherrn, war der Rang der Gelehrten insbesondere gebunden an deren Fakultätszugehörigkeit. Die traditionelle 13

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SoSe meint das Sommersemester, WS meint das Wintersemester, für das Jahr 1732 ist unklar, um welches Semester es geht. Die Lektionskataloge der Universitäten Halle und Wittenberg befinden sich heute beide im Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Sie werden im Folgenden zitiert unter Vorlesungsverzeichnis sowie den Angaben zur Universität und zum jeweiligen Semester. Hammerstein: Halles Ort (wie Anm. 1), S. 25f.; Ders.: Jurisprudenz und Historie in Halle. In: Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 239–253, hier S. 245f. Martus: Aufklärung (wie Anm. 1), S. 114f.

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Rangfolge ordnete die Theologen an erster Stelle ein, vor den Juristen und den Medizinern. Die Mitglieder der philosophischen Fakultät kamen am Schluss. Sichtbar wurde diese hochschulinterne Hierarchie insbesondere bei feierlichen und öffentlichen Veranstaltungen vor der Universitätsöffentlichkeit. - Mit dieser zeremoniellen Rangfolge innerhalb der Gelehrten korrespondierte in gewisser Hinsicht auch die Wertigkeit und Bedeutung der in den Fakultäten verhandelten Themen; der Rang bildete – auch im Selbstverständnis mancher Gelehrten – zugleich auch den epistemologischen Status der jeweiligen Inhalte ab.16 Gegen diesen auch in der Rangfolge begründeten Suprematieanspruch der Theologen begehrten regelmäßig Mitglieder der anderen Fakultäten auf, wie beispielsweise noch Immanuel Kant in seiner Schrift zum Fakultätenstreit.17 - Das Argument der Besoldung führt schließlich zu einer dritten Bedeutung einer Rangfolge der Fakultäten: der Wertschätzung bestimmter Disziplinen seitens des Landesherrn und der Obrigkeit. Wenn Gelehrte der Juristenfakultät an der Universität vom Landesherrn besser besoldet wurden als deren Kollegen aus der theologischen Fakultät, so sei das ein Spiegel für die größere Wertschätzung der Juristen in den Augen der Obrigkeit. Diese Wertschätzung habe dann gleichsam ranggenerierende Wirkung besessen, so müsste man aus Hammersteins Überlegungen schlussfolgern. Welchen der drei Aspekte nehmen Hammerstein und Martus in den Blick, wenn sie die These von einem Wechsel der Rangfolge zwischen Theologischer und Juristischer Fakultät vertreten? Für beide spielt die Frage sichtbarer Ranghierarchien in öffentlichen zeremoniellen Veranstaltungen keine besondere Rolle.18 Auf diesem Feld lässt sich auch keinerlei Änderung der Rangverhältnisse ausmachen. Marian Füssel hat bereits die Inaugurationsfeierlichkeiten des Jahres 1694 mit Blick auf Fragen zeremonieller Rangfolge untersucht.19 Die innerakademische Rangfolge entsprach auch in Halle den traditionellen Standards an Universitäten: Die Theologen nehmen den ersten Rang, ein, gefolgt von den Juristen, den Medizinern und schließlich den Mitgliedern der philosophischen Fakultät.

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Vgl. hierzu Mario Biagioli: The Social Status of Italian Mathematicians, 1450–1600. In: History of Science 27 (1989), S. 41–95; Ders.: Scientific Revolution, Social Bricolage, and Etiquette. In: Roy Porter u. Mikulas Teich (Hg.): The Scientific Revolution in National Context. Cambridge 1992, S. 11–54; Ders.: Galilei, der Höfling. Entdeckungen und Etikette: Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1999, S. 9–21 und S. 28f. Vgl. hierzu nur Hans Erich Bödeker: Von der „Magd der Theologie“ zur „Leitwissenschaft“. Vorüberlegungen zu einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 14 (1990), S. 19–57. Bei Steffen Martus werden die Inaugurationsfeierlichkeiten zwar erwähnt, allerdings deutet er sie nur als „außenpolitische Maßnahmen“ des Landesherrn und seines Zeremonienmeisters, siehe Martus: Aufklärung (wie Anm. 1), S. 134f. Marian Füssel: Universität und Öffentlichkeit. Die Inaugurationsfeierlichkeiten der Universität Halle 1694. In: Werner Freitag u. Katrin Minner (Hg.): Vergnügen und Inszenierung. Stationen städtischer Festkultur in Halle. Halle 2004, S. 59–78.

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Auch die Aussagen zu den Unterschieden in der Besoldung stehen bei näherer Betrachtung auf tönernen Füßen.20 Die Theologen und die Juristen der ersten Stunde erhielten in Halle dasselbe Gehalt, nämlich 500 Reichstaler jährlich – das gilt für Christian Thomasius ebenso wie für Johann Wilhelm Baier.21 Der einzige Jurist, der ein deutlich höheres Salär erhielt, war Samuel Stryk.22 Er musste eigens von Frankfurt an der Oder abgeworben werden, und Geld war ein Mittel, um ihm die neugegründete Universität schmackhaft zu machen. Die beiden anderen Lockmittel waren die Verleihung des Hofratstitels sowie seine Ernennung zum Direktor der Universität. Wofür Stryk im Einzelnen nun ein Gehalt von 1.200 Talern erhielt, lässt sich nicht genau ausmachen. Sein hohes Gehalt zeigt seine individuelle Attraktivität für die brandenburg-preußische Regierung an, ist aber weder ein Beleg für die höhere akademische Rangstellung der Juristen noch für die größere Sympathie oder Wertschätzung des Landesherrn für diese Fakultät im Allgemeinen. Generell gilt: Die Bezahlung der Gelehrten steht nicht in direktem Verhältnis zur innerakademischen Rangfolge. Auch Gelehrte derselben Fakultät bekamen nicht immer dasselbe Gehalt, und es waren auch nicht immer die ranghöchsten Gelehrten in einer Fakultät, denen die höchste Besoldung zuerkannt wurde. Inwiefern können nun die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Halle zur Frage der hochschulinternen Ranghierarchie einen Beitrag leisten? Die Lektionskataloge bestätigen den Eindruck, dass die Universität Halle sich in der Rangfolge der Gelehrten in keiner Weise von allen übrigen Universitäten im Alten Reich unterschied. Die Lehrveranstaltungen werden nach Fakultäten getrennt aufgeführt, die Reihenfolge der Fakultäten ist dabei die klassische. Innerhalb der Fakultäten geht es nach der Anciennität der Gelehrten bzw. nach dem Rang des jeweils bekleideten Lehrstuhls.23 Zuerst genannt werden aber auch diejenigen Kollegen, die neben ihrem Professorenamt noch landesherrliche Titel und Ämter auf sich vereinigen können. Fragt man bezüglich der in den Vorlesungsverzeichnissen ablesbaren Rangfolge nach Veränderungen, so schien sich der Trend zum inneruniversitären Rangdenken eher noch zu verfestigen. Dies zeigt sich an der unterschiedlichen Auflistung der außerordentlichen Professoren. Das erste Vorlesungsverzeichnis aus dem 20

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Vgl. hierzu Andreas Pečar: Universitäre Lebenswelt und landesherrliche Steuerungspraxis. Das 18. Jahrhundert als Vergleichsmaßstab moderner Hochschulpolitik, in: Lebensform Universität. Festschrift für Andreas Ranft zum 65. Geburtstag, hg. v. Klaus Krüger, Matthias Meinhardt u. Michael Ruprecht (erscheint voraussichtlich 2019); Marianne Taatz-Jacobi u. Andreas Pečar: Die Universität Halle und der Berliner Hof. Eine höfisch-akademische Kommunikationsgeschichte, erscheint voraussichtlich 2020. Vgl. nur den Privilegienerlass von 1694, nach dem sowohl der Jurist Thomasius als auch der Theologe Baier je 500 Taler erhielten, abgedruckt bei: Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Berlin 1894. Bd. 2, S. 441. Vgl. Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität (wie Anm. 21). Bd. 1, S. 52. Franziska Jüttner u. Kristina Steyer: Professoren in der Pflicht. Vorlesungsverzeichnisse und Rechenschaftsberichte. In: Jens Bruning u. Ulrike Gleixner (Hg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. Wolfenbüttel 2010, S. 98–105, hier S. 101f.

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Jahr 1694 verzeichnete die beiden außerordentlichen Professoren jeweils am Ende der Fakultäteneinträge. Im Lehrverzeichnis des Jahres 1696 sind keine Extraordinarien aufgeführt. Seit 1697 finden sich die außerordentlichen Professoren dann nicht mehr in ihrer Fakultätenzugehörigkeit aufgeführt, sondern ganz am Ende der Auflistung separat. Dabei bleibt es bis ins Jahr 1740. Der Professorenrang wird in den Vorlesungsverzeichnissen daher höher gewichtet als die Fakultätszugehörigkeit. Ob es über diese Frage an der Universität Auseinandersetzungen und Rangstreitigkeiten gegeben hat, ist leider nicht überliefert. Die Lehre der Privatdozenten ist in den Vorlesungsverzeichnissen gar nicht genannt. Diese hatten für ihre Veranstaltungen wohl am Schwarzen Brett zu werben – auch hier liegt Halle im Trend der übrigen Universitäten. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert enthalten die Ankündigungen nun zunehmend auch Lehrveranstaltungen von Privatdozenten.24 Dass man die Statusgruppe der Privatdozenten nicht in den öffentlichen Ankündigungen aufnahm, zeigt deutlich die Persistenz von Fragen des akademischen Ranges und der korporativen Zugehörigkeit zur Universität. Es ging bei den Vorlesungsverzeichnissen offensichtlich nicht nur – vielleicht nicht einmal in erster Linie – darum, Studenten über die kommenden Lehrveranstaltungen einen Überblick zu verschaffen, denn dann hätten die Veranstaltungen der Privatdozenten mit gelistet werden müssen. Die Vorlesungsverzeichnisse vermittelten auch ein Bild von der Korporation der Universität, ihrer personalen Zusammensetzung, ihrer inneren Ordnung. Die Verzeichnisse waren – ähnlich wie die Universitätsmagazine auf Hochglanzpapier heute – ein Aushängeschild der Universität, sie dienten auch zur Werbung nach außen, gegenüber anderen Universitäten.25 Weitere Publizität war gegeben, sobald Zeitungen die Vorlesungsverzeichnisse regelmäßig abdruckten. Die 1727 gegründeten Hallischen Intelligenzblätter druckten seit 1729 die hallischen Vorlesungsverzeichnisse ab und sorgten damit für weitere Verbreitung.26 Bei dieser nach außen gerichteten Form der Selbstdarstellung hielt man die Privatdozenten lieber außen vor. Wenn sich das dann im ausgehenden 18. Jahrhundert änderte, ist das als Indikator zu werten, dass der praktische Nutzen der Vorlesungsverzeichnisse nun zunehmend bedeutsamer war als deren Funktion als Abbild der korporativen Ordnung der Universität. Die24

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Vgl. hierzu Regina Meyer: Die Kantische Philosophie im Lehrbetrieb der Universität Halle am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günther Mühlpfordt. 7 Bde., hier Bd. 6: Mittel-, Nord- und Osteuropa. Weimar, Köln, Wien 2002, S. 237–288, hier S. 263–265; Ulrich Rasche: Seit wann und warum gibt es Vorlesungsverzeichnisse an den deutschen Universitäten? In: Zeitschrift für historische Forschung 36 (2009), S. 445–478, hier S. 468. Vgl. hierzu Ulrich Rasche: Über die Jenaer Vorlesungsverzeichnisse des 16. bis 19. Jahrhunderts. In: Thomas Bach, Jonas Maatsch u. Ulrich Rasche (Hg.): „Gelehrte Wissenschaft“. Das Vorlesungsprogramm der Universität Jena um 1800. Stuttgart 2008, S. 13– 57, hier S. 19. Rasche spricht von einer „Reklameschrift“. Vgl. Horst Walter Blanke: Bibliographie der in periodischer Literatur abgedruckten Vorlesungsverzeichnisse deutschsprachiger Universitäten 1700–1899. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), S. 205–227, hier S. 221f.

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ser Wandel vollzog sich in Halle allerdings im Einklang mit den benachbarten anderen Universitäten auch. In Fragen der Rangverhältnisse ist in Halle keinerlei Sonderstellung erkennbar, weder in den Vorlesungsverzeichnissen noch darüber hinaus. Wenn Hammerstein daher der juristischen Fakultät den ersten Rang zuweist, so ist dies insbesondere seine persönliche Wertschätzung für bestimmte in Halle lehrende Juristen wie Thomasius, deren Selbstverständnis und Geltungsanspruch er umdeutet zu einer Beschreibung der realen Sachverhalte an der Universität. Kommen wir als nächstes zu Deutsch oder Latein als Lehrsprache an der Universität. Interessanterweise finden sich dazu im Vorlesungsverzeichnis keinerlei Hinweise. Die Veranstaltungen werden ausnahmslos auf Latein ausgewiesen, und Hinweise darauf, ob einzelne Veranstaltungen in deutscher Sprache abgehalten wurden, fehlen. Unter den genannten Handbüchern, die den Veranstaltungen jeweils zugrunde gelegt wurden, finden sich – gerade ab den 1720er Jahren, mitunter auch deutschsprachige Titel. Man wird wohl zu dem Schluss kommen müssen, dass die lateinische Ankündigung kein Hinweis darauf ist, dass die Veranstaltung selbst auch in lateinischer Sprache abgehalten wurde – vielleicht waren also in Halle trotz der lateinischen Vorlesungsverzeichnisse deutschsprachige Lehrveranstaltungen die Regel. Hätten sich die Nachweiszettel, mit denen Dozenten nach Semesterende ihre Lehrveranstaltungen gegenüber der Berliner Regierung dokumentieren mussten, erhalten, hätten sich hier vielleicht Hinweise finden lassen.27 Leider hat sich diese Art der Dokumentation für die Lehrveranstaltungen an der Universität Halle nicht erhalten, weder im Universitätsarchiv in Halle noch im Geheimen Staatsarchiv in Berlin. Aus anderen Quellen lässt sich aber erschließen, dass es nach der Gründung der Universität Halle keineswegs die von allen Dozenten geteilte Überzeugung war, man habe als zeitgemäße Universität fortan in Deutsch zu lehren. Thomasius hatte dies in seinen Empfehlungen an die Regierung in Berlin vorgeschlagen, um Gelehrtendünkel und gelehrtem Sektierertum entgegenzuwirken und die gesellschaftliche Verankerung der Wissenschaft voranzutreiben.28 Die Lehre in deutscher Sprache in den Anfangsjahren der Universität stieß aber innerhalb der Universitätsgelehrten nicht auf ungeteilte Zustimmung. Als im Jahr 1704 eine Untersuchungskommission von der Regierung eingesetzt wurde, um sich mit Disziplinkonflikten der Studenten in der Stadt Halle zu befassen, nutzten die Universitätsmitglieder dieser Kommission – Samuel Stryk und Joachim Justus Breithaupt – ihre Mitarbeit zu einem Vorstoß in eigener Sache. Eigentlich ging es in der Kommission um Maßnahmen, mit denen man die Studenten in Halle disziplinieren könne, Anlass waren Studentenunruhen zu Beginn dieses Jahres. Die Kommission schlug der Regierung daher einen Katalog von Maßnahmen vor (Versammlungs27 28

Zu den Nachweiszetteln vgl. Jüttner u. Steyer: Professoren (wie Anm. 23), S. 104. de Boor: Die ersten Vorschläge (wie Anm. 6).

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verbote, Einschränkungen des Alkoholkonsums, Verbot von Kartenspiel, Schließen der Stadttore nach 21.00 Uhr), um die Studenten zu einigermaßen sozial verträglichen Mitmenschen zu machen. Unter diesen Vorschlägen findet sich aber auch ein Punkt, der mit der studentischen Krawallbereitschaft nichts zu tun hatte. Die Kommission stellte fest, es würde „der Universität zum Nachtheil bey denen auswärtigen gereichen, daß die lateinische Sprache auf selbiger nicht genugsam cultiviret und sowohl publice als privatim in deutscher Sprache lectiones und Collegia gehalten würden“;29 ein deutlicher Hinweis darauf, dass deutschsprachige Lehrveranstaltungen wohl eher die Regel waren als die Ausnahme. Der Theologe Breithaupt und der Jurist Stryk empfahlen der Regierung, die lateinische Sprache als Lehrsprache an der Universität per Verordnung verbindlich zu machen. Die Kommissionsvorschläge wurden im Geheimen Rat geprüft und gebilligt. Man war sich auch darin einig, dass die lateinische Sprache für die Lehre verbindlich sein solle – nur wollte man dies nicht in einem Patent von Maßnahmen zur Hebung der studentischen Disziplin aufnehmen.30 Leider verliert sich hier die Spur dieses Vorstoßes. Eine Weisung der Regierung, die Lehre in Halle fortan ausschließlich auf Latein durchzuführen, lässt sich in den Quellen nicht nachweisen, trotz der Übereinstimmung aller am Abstimmungsprozess beteiligten Akteure.31 Diese Episode beweist aber, dass zwei der seinerzeit prominentesten und einflussreichsten Gelehrten an der Universität Halle die lateinische Sprache für Lehrveranstaltungen für verbindlich erklären wollten, und sie hierüber auch mit den Mitgliedern des Geheimen Rates in Berlin Einvernehmen herstellen konnten. Die deutsche Sprache in den akademischen Lehrveranstaltungen wurde von ihnen als Innovation ausgemacht und war nicht erwünscht, sondern wurde als schädlich charakterisiert für das Renommee und die Außenwahrnehmung der Universität. Wenn daher die Vorlesungsverzeichnisse ausnahmslos in lateinischer Sprache gedruckt wurden, so zeigt sich darin zumindest die gewünschte Außenwirkung: Nicht scheinbar Neues und Innovatives wurde ins Schaufenster gestellt, sondern die Übereinstimmung der Universität Halle mit den gängigen Traditionen des Lehrbetriebs. Den herkömmlichen Erwartungen „bey denen auswärtigen“ hatte die Universität zumindest in ihrer Fassade zu entsprechen, diese Erwartungen aber nicht zu irritieren. Daher war die Lehre in deutscher Sprache, so sie denn in Halle etabliert war, kein Gegenstand der Selbstdarstellung der Universität in der Öffentlichkeit.

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Kommission an den König am 1. 11. 1704, GStA PK, I. HA, Nr. 159 Nr. N11 (1694–1740), Bl. 1v sowie v. a. Bl. 7v. Vgl. Reskript am 19. 8. 1705, GStA PK, I. HA, Rep. 52, Nr. N11 (1694–1740), Bl. 19r–20v. Vgl. auch Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität (wie Anm. 21), S. 106 und S. 126, der ausdrücklich darauf hinweist, dass kein verbindliches Verbot der deutschen Sprache als Lehrsprache erfolgte; anders Martus: Aufklärung (wie Anm. 1), S. 122: „1705 wurde von Berlin aus sogar ein Verbot deutscher Vorlesungen ausgesprochen“.

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II. Eine Auswertung von Vorlesungsverzeichnissen mit dem Ziel, ein spezifisches Lehrprofil einer Universität festzustellen und dies von anderen Universitäten wenn möglich abzusetzen, ist nur dann eine sinnvolle Angelegenheit, wenn für die Lehrenden an den Universitäten hinreichende Spielräume bestanden, was sie lehren wollten und wie sie dies taten. Gerade hier lassen sich für das 18. Jahrhundert wichtige Änderungen verzeichnen. Ulrich Rasche hat als Ergebnis seiner umfassenden Untersuchungen zu den Vorlesungsankündigungen an der Universität Jena die These aufgestellt, dass es um 1700 zu einer Art Trendwende in der Ankündigungspraxis gekommen sei. Die Verzeichnisse enthielten nun nicht mehr nur Ankündigungen „des statutarisch festgelegten Lehrprogramms“, also reine Wiederholungen des immer gleichen Angebots, sondern zunehmend Ankündigungen eines „Lehrangebots im Sinne fakultativ wählbarer Veranstaltungen“.32 Diese Wahlfreiheit wird den Studenten mit Hilfe der Privatkollegien eingeräumt, für die die Studenten zu zahlen hatten.33 In der Tat liegt der Anteil der als „privat“ ausgeflaggten Lehrveranstaltungen in der juristischen Fakultät der Universität Halle bei 50% und darüber. Neben einer öffentlichen Vorlesung bieten die Professoren dann bis zu drei weitere Veranstaltungen an, die als „privatim“ ausgeschrieben sind. In Wittenberg ergibt sich ein ähnliches Bild. Diese Vervielfältigung des Lehrprogramms macht Differenzierungen und Spezialisierungen überhaupt erst möglich und erlaubt es uns daher, die Frage nach einem bestimmten Lehrprofil in den juristischen Fakultäten der Universitäten Halle und Wittenberg zu stellen. Das Grundproblem einer inhaltlichen Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse muss indes immer mitgedacht werden und ist auch bereits angeklungen: Die Titel der Lehrankündigungen geben nicht automatisch den Gehalt der Lehrveranstaltungen wieder, Rückschlüsse auf den Inhalt der Lehre lassen sich nur begrenzt ziehen. In den Verzeichnissen findet sich nur ein sehr mageres Gerippe, das es auszudeuten gilt. Gleichwohl urteilt Horst Walter Blanke reichlich optimistisch: in einer Verschiebung bevorzugter Themen und Fragestellungen des akademischen Lehrbetriebes, die sich aus der Analyse von Vorlesungsverzeichnissen gewinnen lässt, kann man geradezu paradigmatisch die Entwicklung einer einzelnen Fachwissenschaft sowie die Entwicklung des Wissenschaftsbetriebes ablesen.34

Um diese Frage wird es uns im Folgenden gehen: Lassen sich im Zeitraum von 1694 bis 1740 in der Lehre an der Universität Halle bedeutsame „Verschiebungen“ feststellen, die auf Veränderungen auf dem Feld der verhandelten Themen und Fragestellungen hindeuten? Und zeigen sich im Lehrprogramm und bei diesen „Verschiebungen“ substanzielle Unterschiede im Vergleich zu den Lektionskatalo32 33 34

Rasche: Vorlesungsverzeichnisse an deutschen Universitäten (wie Anm. 24), S. 465. Ebd., S. 466. Vgl. Blanke: Bibliographie (wie Anm. 26), S. 387.

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gen der Universität Wittenberg? Um diese Fragen zu diskutieren, wird es insbesondere um die genannten Autoritäten und deren jeweilige Handbücher gehen, die in den Verzeichnissen ausdrücklich zur Grundlage der Lehrveranstaltungen benannt wurden. Kommen wir zunächst zu den Klassikern, also zu denjenigen Autoren, deren Schriften im gesamten Zeitraum von 1694 bis 1740 kontinuierlich und ohne größere Schwankungen Gegenstand ganzer Lehrveranstaltungen waren. Hierzu zählt zunächst Georg Adam Struve (1619–1692), dessen Schriften seit dem Jahr 1694 in Halle in jedem Semester außer im Wintersemester 1699 gelehrt wurden, seit 1707 sogar meist in drei oder vier verschiedenen Veranstaltungen parallel pro Semester. Besonders häufig wurde dabei sein Lehrbuch Jurisprudentia Romano-Germanica forensis als Textgrundlage angeführt, gefolgt von seinen beiden Lehrbüchern über das Lehnsrecht und das römische Recht.35 Im Betrachtungszeitraum nahm dabei die Zahl der Lehrveranstaltungen, die sich auf eine dieser drei Schriften bezogen, an der Universität Halle kontinuierlich zu. Im Sommersemester 1738 etwa wurden diese drei Schriften Georg Adam Struves in fünf verschiedenen Lehrveranstaltungen gelehrt. Struve war gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Autorität an der Universität Jena für den sogenannten usus modernus,36 also die Lehre vom gewohnheitsrechtlichen Umgang im Alten Reich mit dem römischen Recht und dessen Modifikation in der Auslegungs- und Anwendungspraxis seit dem 16. Jahrhundert. Seine Schriften wurden an allen deutschen Universitäten gelehrt, seine Jurisprudentia Romano-Germanica forensis erlebte bis in das Jahr 1771: 31 Auflagen. Die Popularität von Struves Schriften zur zeitgenössischen Anwendung des römischen Rechts im Alten Reich war also keine Besonderheit Halles. Dies zeigt auch der Vergleich mit den Vorlesungsverzeichnissen in Wittenberg. Dort war Struves Jurisprudentia ebenfalls das am meisten genutzte Lehrbuch, seine Schriften waren 27 Mal in den Wittenberger Lektionskatalogen als Grundlage juristischer Lehrveranstaltungen genannt worden. Kein anderer Autor wurde häufiger in der Lehre benutzt. Die große Popularität der Struveschen Lehrbücher ist insbesondere für die Jurisprudenz an der Universität Halle bemerkenswert. Schließlich hatte man dort mit Samuel Stryk (1640–1710), dem Direktor der Universität, gleichfalls eine anerkannte Koryphäe für den usus modernus, ja der Begriff stammt letztlich von dessen 35

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Georg Adam Struve: Jurisprudentia Romano-Germanica forensic. Jena 1670. In der Universitätsbibliothek Halle befinden sich heute 14 Auflagen dieses Werkes, die neueste Ausgabe ist die 15. Auflage von 1733. Ders.: Syntagma iuris feudalis. Jena 1653. Hier gab es immerhin 10 Auflagen, die letzte von 1717; Ders.: Syntagma Iurisprudentiae, Secundum ordinem Pandectarum concinnatum. Jena 1663. Hier war die aktuellste Auflage die zweite von 1718. Vgl. Klaus Luig: Art. Usus modernus. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 5 (1998), Sp. 628–636; Martin Heger: Recht im „Alten Reich“ – Der Usus modernus. In: Zeitschrift für das Juristische Studium 1 (2010), S. 29–39.

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im Jahr 1690 veröffentlichten Werk Specimen usus moderni Pandectarum, zu dem er bis zu seinem Tode weitere Bände veröffentlichte.37 Stryks Veröffentlichungen werden gleichfalls regelmäßig als Lehrbücher in den Lektionskatalogen genannt, ab 1696 zunächst noch eher sporadisch, ab dem Wintersemester 1705 dann fast kontinuierlich mit immer häufigeren Nennungen: Im Wintersemester 1711 bezog man sich in vier unterschiedlichen Lehrveranstaltungen auf eine von Stryks Schriften, im Sommersemester 1719 waren es sogar sechs Lehrveranstaltungen. Danach nimmt die Anzahl der Bezüge auf Stryk allerdings auch wieder ab, nach dem Wintersemester 1738 werden seine Schriften nicht mehr als Grundlage von Lehrveranstaltungen benannt – im selben Semester waren Struves Bücher weiterhin Grundlage für fünf Lehrveranstaltungen zugleich. Auch die Tatsache, dass mit Johann Peter von Ludewig und Justus Henning Böhmer zwei prominente Schüler von Stryk ebenfalls an der Juristenfakultät in Halle lehrten und sich regelmäßig auf ihren Lehrer bezogen, vermag am ungleichen Zahlenverhältnis wenig zu ändern. Während Struves Schriften in den 89 Semestern in Halle ganze 257 Mal als Lehrgrundlage dienten, so waren es bei Stryk nur 142 Lehrveranstaltungen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Stryk als Lehrbuchautor in Wittenberg – gemessen an Struve – populärer zu sein schien als in Halle selbst: Stryks Schriften wurden 19 Mal als Gegenstand von Lehrveranstaltungen genannt, diejenigen Struves 27 Mal, ein deutlich besseres Verhältnis (ca. 2:3) als in Halle. Natürlich kann man aus diesen Zahlen keine Schlussfolgerungen ziehen über die Bedeutung der beiden Gelehrten für die Rechtsgeschichte. Zugleich ist aber eine gewisse Skepsis geboten, wenn man gängigen Aussagen zu vermeintlichen Entwicklungsprozessen in der Rechtslehre begegnet.38 Struve war der ältere der beiden Rechtslehrer und er starb, als die Universität Halle ins Leben gerufen wurde. Gleichwohl blieben seine Schriften bis weit ins 18. Jahrhundert in der Rechtslehre aktuell, und zwar in Halle ebenso wie an anderen Universitäten des Reiches. Etwas anders sieht die Bilanz aus, wenn man in den Vorlesungsverzeichnissen nach weiteren Vertretern des usus modernus und der damit korrespondierenden Auslegungspraxis des römischen Rechts an den Universitäten Halle und Wittenberg Ausschau hält. In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Gründung der Universität Halle gab es noch zwei weitere Autoren, die oftmals in der Lehre verwen37

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Samuel Stryk: Specimen usus moderni Pandectarum. Frankfurt a.O. 1690. Es erschien dann im Jahr 1708 im Verlag des hallischen Waisenhauses eine Continuatio und in den Folgejahren eine Continuatio altera, tertia und quarta, die alle weitere Auflagen erlebten. Vgl. nur exemplarisch Hammerstein: Jus und Historie (wie Anm. 1), S. 158: „Stryk erscheint als der letzte der großen Theoretico-Praktiker, wie Landsberg sie nennt. Ungleich aber dem älteren Carpzov, Lauterbach oder G.A. Struve, zeigt er schon wichtige Merkmale einer über die positivistisch-logische Art der Praktiker hinausweisenden Lehre. Seine Offenheit gegenüber den neuen juristischen Gedanken des Naturrechts, der Rechtshistorie, der publizistischen Fragen […] rücken ihn in unmittelbare Nähe zu der eleganten Jurisprudenz der Jahrhundertmitte des Aufklärungszeitalters. Stryk ist gewissermaßen der Höhepunkt des in die deutsche elegante Jurisprudenz umgeschlagenen usus modernus.“

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det wurden, zum einen Johann Brunnemann (1608–1672), der Schwiegervater Samuel Stryks und Rechtsprofessor in Frankfurt an der Oder, zum anderen Wolfgang Adam Lauterbach, Professor in Tübingen. Die Lehrbücher beider Autoren werden zunächst regelmäßig und oft als Lektüre in Lehrveranstaltungen herangezogen (Lauterbach fünf Mal im Sommersemester 1701 und sechs Mal im Wintersemester 1705; Brunnemann zwei Mal im Sommersemester 1704 und drei Mal im Wintersemester 1706). Beide Autoren tauchen jedoch später nur noch sporadisch auf und verschwinden später ganz als Autoritäten im Lehrbetrieb: Brunnemann findet sich nach 1713 nur noch selten als Autor genannt, Lauterbach findet sich nach 1725 nur noch zwei Mal im Vorlesungsverzeichnis wieder (im Sommersemester 1730 und im Sommersemester 1731) und danach nicht mehr. Vorläufig lässt sich daher, bezogen auf die Konjunktur des usus modernus und der damit korrespondierenden Rechtslehre zum Privatrecht, bilanzieren, dass Halle auf diesem Feld keine Ausnahme darstellte. Das Lehrprogramm von Halle und Wittenberg auf diesem Feld war, jedenfalls ausweislich der verwendeten Lehrbücher, durchaus ähnlich. Neben den bereits genannten Klassikern gibt es mit Jakob Friedrich Ludovici einem weiteren Autor, der sowohl in Halle als auch in Wittenberg gerne und oft in Veranstaltungen gelesen wurde. Ludovici lehrte seit 1701 an der juristischen Fakultät in Halle und bekleidete dort seit 1711 eine ordentliche Professur, bevor er dann 1721 an die Universität Gießen wechselte. In den Handbüchern zur deutschen Rechtsgeschichte findet er nur selten Erwähnung.39 In der Rechtslehre des frühen 18. Jahrhunderts war er hingegen eine gerne genutzte Größe. In Wittenberg waren seine Schriften insgesamt 15 Mal die Grundlage von Lehrveranstaltungen, meist seine Doctrina Pandectarum, die 1709 erschienen und bis in das Jahr 1769 zwölf Auflagen erlebte.40 Zwar taucht dieses Lehrbuch erst 1729 im Wittenberger Lektionskatalog auf, dann allerdings wird es kontinuierlich in der Lehre verwendet. In Halle findet sich sein Name zuerst 1712 als Grundlage einer Lehrveranstaltung, ab dem Wintersemester 1716 werden seine Schriften dann kontinuierlich in mehreren Veranstaltungen als Textgrundlage erwähnt, ab dem Wintersemester 1722 sind es dann bis ins Jahr 1740 regelmäßig sechs bis acht Lehrveranstaltungen parallel, in denen eine seiner Schriften zur Grundlage der Lehre diente. Ein Grund für Ludovicis häufige Verwendung in der Lehre mag in der Vielseitigkeit der Themen liegen, über die er publiziert hat: Wie Stryk und Struve hat auch er zum römischen Recht und dem usus modernus publiziert,41 daneben gibt es von ihm zahlreiche Publikationen zu unterschiedlichen Feldern des Privatrechts, ferner Arbeiten zum Zivilprozess, zum Strafprozess und zur Gerichtsbarkeit in der 39 40 41

Z. B. keinerlei Hinweis in Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 1), Bd. 1. Jakob Friedrich Ludovici: Doctrina Pandectarum: Ex Ipsis Fontibus Legum Romanarum Depromta Et Usui Fori Accommodat. Halle 1709. Ebd.

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Armee, zum Lehnsrecht, zum Sachsenspiegel und dem sächsischen Landrecht.42 Seine Schriften schienen den zeitgenössischen Bedürfnissen in der Rechtslehre vollauf zu entsprechen, dementsprechend häufig wurden sie in Lehrveranstaltungen herangezogen. Zwar hat es in Wittenberg bis zur vierten Auflage von Ludivicis Grundlagenwerk über die Pandekten gedauert, bis es in die dortige Lehre Eingang fand, während er in Halle Heimvorteil besaß und bereits früher in der Lehre eingesetzt wurde. Letztlich aber überwiegen auch in seinem Fall eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede in der Rechtslehre beider Institutionen. Fragt man umgekehrt nach Büchern von Wittenberger Juristen, die auch in Halle in der Lehre als Grundlage dienten, so wird man seltener fündig. Drei Autoren immerhin haben es häufiger in die hallischen Vorlesungsverzeichnisse geschafft. Ein noch recht oft gelesener Autor war Georg Beyer, der sein Jurastudium insbesondere bei Christian Thomasius (in Leipzig) und bei Samuel Stryk (in Frankfurt an der Oder) absolviert hatte. Obwohl Beyer also niemals in Halle präsent war, war er doch den dortigen Gelehrten der ersten Stunde kein Unbekannter. In der Lehre tauchen seine Schriften allerdings erst seit dem WS 1711 auf, als er schon seit einigen Jahren Rechtsprofessor in Wittenberg war.43 Ein weiterer Wittenberger Rechtsgelehrter, der in der Lehre an der Universität Halle präsent war, war Michael Heinrich Griebner.44 Von ihm wird im Zusammenhang mit der Lehre des Naturrechts noch zu reden sein. Und schließlich findet sich ab 1726 öfters auch der Name Caspar Heinrich Horn in den Vorlesungsverzeichnissen, auch er ein Schüler von Samuel Stryk. Bezug genommen wird insbesondere auf dessen Lehrbuch zum öffentlichen Recht, einem der ersten überhaupt zu dieser Materie, sein Juris publici Romano Germanici ejusque prudentiae liber unus, das zuerst 1707 erschien45 – aber nur einmal in einer Lehrveranstaltung in Halle namentlich thematisiert wurde, nämlich im Wintersemester 1707 von Justus Henning Böhmer, damals noch außerordentlicher Professor, in seinem Privatkollegium. Diese Schrift wurde dann aber noch einmal 1725 im Waisenhausverlag in Halle neu aufgelegt, und diese Ausgabe fand dann auch in der Lehre an der Fridericiana regelmäßige Verwendung.46

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Jakob Friedrich Ludovici: Einleitung zum peinlichen Prozeß. 2. Aufl. Halle 1709; Ders.: Einleitung zum Civil–Prozeß. 2. Aufl. Halle 1710; Ders.: Einleitung zum Consistorial–Proceß. Halle 1713; Ders.: Einleitung zum Wechsel-Prozeß. Halle 1713; Ders.: Einleitung zum Kriegs-Prozeß, Halle 1715; Ders.: Einleitung zum Lehns-Proceß. Halle 1718; Ders. (Hg.): Sachsen-Spiegel, oder Das Sächsische Land-Recht, in der Alt-Teutschen, Lateinischen und ietzo gebräuchlichen Hoch-Teutschen Sprache: nebst nöthigen Auszügen aus der Glosse, so weit selbige zum Verstande des Teutschen Rechts etwas beyträget, und Gegeneinanderhaltung der Zobelischen und Loßischen hochteutschen Edition. Halle 1720. Beyers Schriften finden sich in den Lehrankündigungen folgender Vorlesungsverzeichnisse: WS 1711, WS und SoSe 1712, SoSe 1713, WS 1715, SoSe 1718, WS 1727 und WS 1728. Zu ihm, s. u. Anm. 62. Caspar Heinrich Horn: Juris publici Romano-Germanici ejusque prudentiae liber unus. Berlin 1707. Zu Horn vgl. ferner Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 1). Bd. 1, S. 239.

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In den Lehrveranstaltungen zum Kirchenrecht scheint hingegen in unserem Betrachtungszeitraum in Wittenberg und in Halle nach jeweils anderen Lehrbüchern unterrichtet worden zu sein.47 Wenn in Lehrveranstaltungen zum ius canonicum in Wittenbergs Lektionskatalogen ein Lehrbuch genannt wird, so sind es fast immer Johann Schilters Institutiones juris canonici, die zuerst 1681 erschienen und bis 1718 insgesamt 6 Auflagen erlebten. Dieses Lehrbuch fand auch in Halle in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Universität mitunter Verwendung, beispielsweise im Sommersemester 1712 in Jakob Friedrich Ludovicis Privatkolleg über das Kirchenrecht oder im Wintersemester 1712 in einer Veranstaltung Justus Henning Böhmers, bei letzterem allerdings mit eigenen Kommentaren versehen, wie bereits das Vorlesungsverzeichnis ausweist.48 Wenn in den 1730er Jahren allerdings noch Lehrbücher Schilters die Grundlage für Lehrveranstaltungen waren, dann zumeist seine Schriften zum Lehnsrecht, wie es beispielsweise im Sommersemester 1736 bei Jakob Gabriel Wolf und bei Johann Ehrenfried Zschackwitz gelehrt wurde. Sein Kirchenrecht ist in Halle hingegen von anderen Lehrbüchern verdrängt worden. Kirchenrecht wurde in Halle vor allem von und nach Justus Henning Böhmer gelehrt. Böhmer begann im Jahr 1710 noch als außerordentlicher Professor mit der Lehre des Kirchenrechts.49 1714 erschien dann der erste Band von seinem vierbändigen Jus ecclesiasticum protestantium. 1738 erschienen schließlich seine Institutiones iuris canonici tum ecclesiasticum. In Halle war Böhmer für Kirchenrecht die zentrale Figur. Er trat an mit dem Anspruch, die Lehre vom usus modernus auf das Kirchenrecht zu übertragen und die päpstlichen Dekretalen, gleichsam analog zu den römischen Rechtsbüchern, jeweils auf ihre Anwendbarkeit in der protestantischen Kirche kritisch zu prüfen, sie also für die kirchliche Rechtsprechung der Gegenwart verwendbar zu machen.50 In Wittenberg schienen seine Schriften dagegen lange Zeit nicht rezipiert worden zu sein. Erst Böhmers 1738 erschienene Institutiones wurden dann zwei Jahre von Augustin Leyser, zugleich Direktor des geistlichen Konsistoriums in Wittenberg, in dessen Vorlesung sowie der sich daran anschließenden Disputationsübung aufgegriffen und zur Grundlage eigener Lehre gemacht.51 Die anderen kirchenrechtlichen Schriften Böhmers spielten in Wittenberg bis 1740 in der Lehre, den Vorlesungsverzeichnissen nach zu urteilen, keine

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Vgl. zu Halle grundlegend Michael Gehrmann: Das kanonische Recht in der protestantischen Kirchenrechtslehre an der Universität Halle zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Wim Decock, Jordan J. Ballor, Michael Germann u. Laurent Waelkens (Hg.): Law and Religion. The Legal Teachings of the Protestant and Catholic Reformations. Göttingen 2014, S. 63–90. Vgl. hierzu auch Gehrmann: Das kanonische Recht (wie Anm. 47), S. 78–80. Justus Henning Böhmer: Programma, quo praelectiones publicae ad materiam de ortu et progressu praecipuarum materiarum iuris ecclesiastici in auditorio publico habendae. Halle 1710. Hierzu Gehrmann: Das kanonische Recht (wie Anm. 47), S. 67–69. S. das Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1740.

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Rolle. Stattdessen wurde in Wittenberg vor allem Böhmers Pandekten-Kompendium gelesen, seine Introductio in jus digestorum.52 Unter den in den Vorlesungsverzeichnissen angeführten gelesenen Autoritäten sticht bei den Lehrveranstaltungen Christian Thomasius’ ein Name ganz besonders heraus: Giovanni Paolo Lancelotti (1522–1590), ein Juraprofessor aus Perugia, dessen Institutiones Juris Canonici Thomasius mehrfach zur Grundlage seiner Veranstaltungen machte und dieses vierbändige Werk in den Jahren 1715–17 in Halle erneut herausgab.53 Allerdings muss auch diese Schrift zumindest noch Ende des 17. Jahrhunderts auch in Wittenberg Gegenstand von Vorlesungen zum Kirchenrecht gewesen sein. Der dortige Rechtsprofessor Caspar Ziegler hatte 1669 seinerseits Lancelottis Schrift zum ius canonicum aufgelegt und mit protestantischen Kommentaren versehen; diese Schrift erlebte bis 1697 weitere Auflagen.54 Aus den Wittenberger Lektionskatalogen des 18. Jahrhunderts war diese Schrift dann aber verschwunden. Thomasius ging es darum, das Kirchenrecht zunächst nach den „Ursprüngen“ zu lehren, um dann zu prüfen, welche Teile auch mit naturrechtlichen Normen übereinstimmten und welche nicht.55 Mit Thomasius’ Tod im Jahr 1728 verschwand auch der Name Lancelotti aus dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Halle. Ein immer wieder in Halle genutztes Lehrbuch zum Kirchenrecht war außerdem Johann Arnold Corvinus Ius Canonicum Methodo Institutionum Per Aphorismos Strictim Explicatum. Dieses Werk erschien zuerst 1651 in Amsterdam, wurde dann 1705 erstmals erneut in der Waisenhausdruckerei veröffentlicht und erschien dort 1729 in vierter Auflage. Corvinus war ursprünglich Prediger in der reformierten Kirche in Amsterdam, zugleich aber auch Anhänger der Arminianer, weshalb er sein Kirchenamt nach der Synode von Dordrecht verlor. Sowohl Gundling als auch Böhmer haben Corvinus Schrift in ihren Lehrveranstaltungen herangezogen, von Gundling ist sogar noch ein Teil seiner Vorlesung aufgrund umfangreicher Mitschriften dokumentiert.56 In Wittenberg findet sich Corvinus nur einmal als Grundlagentext einer öffentlichen Vorlesung, nämlich im Jahre 1717 für die

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So im Wintersemester 1733 und im Sommersemester 1734 jeweils bei Justus Georg Chladenius sowie im Wintersemester 1734 und im Wintersemester 1735 bei Christian Harnack. Giovanni Paolo Lancelotti: Institutiones juris canonici, Pars prima. Halle 1715; Pars seconda. Halle 1716; Pars tertia. Halle 1716; Pars quarta et ultima. Halle 1717. Caspar Ziegler: Jus canonicum notis et animandversionibus academicis ad Jh. Pauli Lancelotti, JCti Perusini, institutiones enucleatum. Wittenberg 1696. Vgl. hierzu Renate Schulze: Justus Henning Böhmer und die Dissertationen seiner Schüler. Tübingen 2009, S. 48–52 und S. 58f. Vgl. ferner Gehrmann: Das kanonische Recht (wie Anm. 47), S. 76f. Gehrmann zeigt auch die daraus resultierenden Unterschiede zu Böhmers Kirchenrechtslehre auf, dass Thomasius sich in seiner Vorlesung auf Lancelotti stützte. Nicolaus Hieronymus Gundling: Allgemeines geistliches Recht der drey christlichen Haupt-Religionen, oder gründliche, und gelehrte Anmerckungen über Arnoldi Corvini a Belderen Jus Canonicum. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1743/44. Vgl. hierzu auch Gehrmann: Das kanonische Recht (wie Anm. 47), S. 81.

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Vorlesung zum Kirchenrecht von Caspar Heinrich Horn. Dies war aber die Ausnahme von der Regel. Im Falle des Kirchenrechts zeigt sich also stärker als in den Veranstaltungen zum römischen Recht und zum Privatrecht eine Abweichung zwischen den Universitäten Halle und Wittenberg bei den jeweils herangezogenen Lehrbüchern. Es ist allerdings fraglich, ob sich diese Differenzen in einen Zusammenhang bringen lassen mit Innovation versus Beharrung. Die bedeutsame Innovation im Kirchenrecht war zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Halle Böhmers Kirchenrecht. Dies schien erst vergleichsweise spät, Ende des 1730er Jahre, auch in die Lehrveranstaltungen in Wittenberg Eingang gefunden zu haben. Hingegen hielt man in Wittenberg länger als in Halle an Schilters Lehrbuch zum kanonischen Recht fest. Corvinus hatte in Wittenberg augenscheinlich der Lektionskataloge keine besondere Rolle gespielt. Für Thomasius’ Rückgriff auf Lancelotti gab es in Wittenberg allerdings mit Caspar Ziegler bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen Vorläufer. Letztlich fußte aber die Lehre zum kanonischen Recht an protestantischen Universitäten auf demselben Grundproblem, mit dem man auch beim römischen Recht konfrontiert war: man musste das kanonische Recht einerseits kennen und prüfen, konnte es aber keinesfalls vorbehaltlos anwenden. Es ging den Juristen also jeweils um die geeignete Methode, um die Verwendbarkeit von päpstlichen Fallentscheidungen (Dekretalen) innerhalb der protestantischen Kirche abzuwägen – mit (Lancelotti, Thomasius) oder ohne (Böhmer) Bezugnahme zum römischen Recht. Als letztes Themenfeld sei hier schließlich noch das Naturrecht angesprochen. Es kann im Rahmen dieses Beitrags nicht darum gehen, die Bedeutung des Naturrechts für die beiden Universitäten Halle und Wittenberg abzuhandeln.57 Ziel dieser Erörterung ist nur, anhand der Vorlesungsverzeichnisse und der dort genannten Lehrbücher Hypothesen anzustellen über Verschiebungen von Themen und Zugängen sowie über den Fortgang der wissenschaftlichen Debatte vor studentischem Publikum. Für Halle existiert bereits eine Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse in Bezug auf Lehrveranstaltungen zum Naturrecht.58 Was hier neu geleistet werden kann, ist ein Vergleich mit dem Lehrprogramm in Wittenberg. In Wittenberg hielten zwischen 1709 und 1740 folgende Dozenten Vorlesungen zum Natur- und zum Völkerrecht: Georg Beyer (1), Michael Heinrich Griebner (3), Johann Balthasar Wernher (4), Gebhard Christian Bastineller (2), Dietrich Hermann Kemmerich (5), Augustin Leyser (3) und Christoph Ludwig Crell (11). Sofern bei den Vorlesungen zum Naturrecht Lehrbücher mit benannt wurden, halten sich Griebners Principia Iurisprudentiae Naturalis und Pufendorfs Schriften, zum einen sein Enucleatum iuris naturalis, zum anderen seine Schrift De 57 58

Vgl. hierzu das in Halle angesiedelte Netzwerk „Natural Law 1625–1850. An International Research Project“, getragen von Frank Grunert, Knud Haakonssen und Diethelm Klippel. Vgl. Recknagel: Naturrecht (wie Anm. 11).

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Officio Hominis et Civilis, ungefähr die Waage. Hugo Grotius Klassiker De Iure belli ac pacis wurde im Betrachtungszeitraum nur einmal als Lehrbuch angeführt, und zwar in der Völkerrechtsvorlesung von Wernher im Wintersemester 1716. Allerdings war Hugo Grotius bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts prominent in der universitären Lehre in Wittenberg präsent, insbesondere in den Veranstaltungen von Caspar Ziegler, der sich zudem auch in einer seiner eigenen Monographien mit Grotius auseinandersetzte.59 Im 18. Jahrhundert scheint dann Pufendorf Grotius als Naturrechtsklassiker ersetzt zu haben. Gleichwohl war innerhalb der Juristenfakultät in Wittenberg das Naturrecht in der Lehre kein besonders prominenter Gegenstand im 18. Jahrhundert. Im Jahr 1730 hatte man mit Christoph Ludwig Crell den Professor für Poesie aus der Philosophischen Fakultät auch noch mit der Professur für Natur- und Völkerrecht ausgestattet. Seitdem hielt er die Vorlesungen zum Naturrecht in Wittenberg quasi im Alleingang. Sein Vorgänger auf diesem Lehrstuhl, Dietrich Hermann Kemmerich, war zugleich der erste Professor für Natur- und Völkerrecht in Wittenberg. Er wurde 1719 auf diese Stelle berufen und zog für seine Lehrveranstaltungen sowohl die erwähnten Schriften Pufendorfs als auch Griebners Handbuch zu Rate. Während er in Veranstaltungen zu anderen Rechtsfeldern gerne über seine eigenen Schriften las,60 war ihm dies auf dem Feld des Naturrechts mangels eigener Veröffentlichungen nicht möglich. Johann Balthasar Wernher hatte zwar einige Schriften zum Naturrecht veröffentlicht, darunter auch ein größeres Handbuch,61 das Thema in seiner Lehre aber nur selten aufgegriffen. Griebner hatte ein Handbuch zum Naturrecht verfasst, das in Wittenberg wiederholt als Grundlage für Lehrveranstaltungen diente,62 sich aber gleichfalls in der Lehre eher selten mit diesem Thema beschäftigt. Mit Beyer und Bastineller waren zwar gleich zwei Juraprofessoren

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Caspar Ziegler: In Hugonis Grotii De Iure Belli Ac Pacis Libros, Quibus Naturae & gentium ius explicavit, Notae & Animadversiones Subitariae, Wittenberg 1666. Für den Hinweis auf die Grotiusrezeption bei Ziegler danke ich Frank Grunert. So z. B. im Sommersemester 1727 in seinem Privatkollegium zum öffentlichen Recht seine Introductio in Iuris Publici oder 1729 seine Introductio in Ius Publicum. Johann Balthasar Wernher: Diss. de actionum moralium, quae juris naturalis objectum constituunt, materali atque formali. Leipzig 1697; Diss. de obligatione matrimonii secundum legem naturae. Leipzig 1698; Diss. moralis de religione homnis secundum legem naturae. Leipzig 1698; Diss. In qua genuinae methodi leges naturales investigandi uberior demonstration. Leipzig 1698; De jure parentum & liberorum secundum legem naturae. Leipzig 1698; Diss. in qua judicum de praecipuis nonnullis scriptoribus juris naturae proponitur. Leipzig 1699; De auctoritate juris civilis circa obligationes naturales. Wittenberg 1701. Sein Hauptwerk waren allerdings seine Elementa juris Naturae & Gentium. Wittenberg 1704 u. 1720. Michael Heinrich Griebner: Jus Naturae. Wittenberg 1715; Ders.: Principia jurisprudentiae naturalis libri IV. Wittenberg 1717, das 1733 immerhin in 3. Aufl. erschienen ist; Michael Stolleis subsumiert Griebners Beitrag zum Naturrecht allerdings unter „Unbedeutendes“ (Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 1). Bd. 1, S. 294).

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Schüler von Thomasius (Beyer) bzw. von Stryk (Bastineller) – beide haben sich in Halle und in Wittenberg aber kaum mit dem Naturrecht befasst.63 Die Konjunktur des Naturrechts in Halle hat außerdem – nimmt man die Lehrankündigungen in Wittenberg als Maßstab – keinen neuen Klassiker zum Naturrecht hervorgebracht, der als Lehrbuch an die Stelle der alten Klassiker Grotius und Pufendorf hätte treten können. In den Veranstaltungen zum Naturrecht wird kein Lehrbuch explizit in den Ankündigungen genannt, das von einem hallischen Gelehrten zu diesem Thema verfasst wurde. Griebner hat in seinem Handbuch Thomasius‘ Naturrechtslehrbuch von 1705 ebenso behandelt wie Hobbes, Grotius und Pufendorf. Insofern hat man den hallischen Beitrag zum Naturrecht auch in Wittenberg durchaus wahrgenommen, aber eher als eine Stimme neben anderen. Sieht man von Griebners Naturrechtslehrbuch einmal ab, steht zu vermuten, dass das Naturrecht in Wittenberg im 18. Jahrhundert insgesamt eher stiefmütterlich behandelt wurde und eine Art Nischendasein an der Rechtsfakultät fristete. Dies könnte dann auch das geringe Interesse an neuen Entwicklungen auf diesem Themenfeld erklären. Innerhalb der Fakultät rangierte die 1719 neu geschaffene Professur für Naturrecht in der fakultätsinternen Rangskala ganz unten. Dies lässt sich auch an den Vorlesungsverzeichnissen ablesen. Die Lehrveranstaltungen des Lehrstuhlinhabers für Naturrecht werden in den Wittenberger Lektionskatalogen stets als letzte genannt, es sei denn, es waren auch noch Veranstaltungen eines außerordentlichen Professors anzukündigen; dieser rangierte noch hinter dem Naturrechtsprofessor. So werden die Veranstaltungen von Johann Gottfried Kraus im Jahr 1724 noch hinter denjenigen von Kemmerich aufgelistet, da Kraus damals nur außerordentlicher Professor in der Juristenfakultät war.64 Im Jahr 1727 rangieren seine Veranstaltungen hingegen bereits vor denjenigen Kemmerichs, da er im Jahr zuvor zum ordentlichen Professor für römisches Recht ernannt worden war.65 Auch Crell konnte als neu ernannter Professor an der Juristenfakultät manche seiner Kollegen erst in dem Moment hinter sich lassen, als ihm 1735 die Professur für römisches Recht verliehen wurde.66 Es mag den Inhabern des Lehrstuhls für Naturrecht daher eher daran gelegen gewesen sein, sich auf anderen Rechtsgebieten zu profilieren und damit eine höherrangige Professur, zum Beispiel für römisches Recht, zu erlangen, als sich auf dem Feld des Naturrechts auszuzeichnen, das in Wittenberg offenbar wenig Prestige genoss. So lässt sich eventuell auch erklären, weshalb beispielsweise Kem63

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Zu Georg Beyer vgl. Emil Julius Hugo Steffenhagen: Art. Georg Beyer. In: ADB 2 (1875), S. 597; Erich Döhring: Art. Georg Beyer. In: NDB 2 (1955), S. 205; Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg (wie Anm. 10), S. 565. Zu Bastineller den gleichnamigen Artikel in Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Hg. v. Johann Heinrich Zedler. Supplementband 3. Leipzig 1752, Sp. 168–171; Bei Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg, S. 566, findet sich zu Bastineller nur ein einziger Satz. Vorlesungsverzeichnis zum WS 1724. Vorlesungsverzeichnis zum Sommersemester 1727. Zu Crell vgl. Theodor Muther: Art. Christoph Ludwig Crell. In: ADB 4 (1876), S. 586.

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merich den Lehrstuhl für Naturrecht über elf Jahre innehatte, ohne in dieser Zeit allzu viel hierzu zu publizieren.67 Auch Kemmerich gelang es, im Jahr 1730 auf einen Lehrstuhl für römisches Recht zu wechseln, allerdings nicht in Wittenberg, sondern an der Universität Jena.68 Was verraten die Vorlesungsverzeichnisse über die Konjunktur des Natur- und Völkerrechts an der Universität Halle? Welche Lehrbücher werden dort in den Lehrveranstaltungen bevorzugt herangezogen? Vergleicht man den Befund zur Naturrechtslehre in Wittenberg zunächst nur mit dem ersten verfügbaren Vorlesungsverzeichnis Halles vom Wintersemester 1694, so ergeben sich interessante Parallelen ebenso wie Unterschiede: In diesem Semester werden an der Juristischen Fakultät, den verwendeten Lehrbüchern nach zu urteilen, drei Veranstaltungen zum Naturrecht angeboten, und zwar von Johann Georg Simon (ein Privatkolleg über Grotius’ De Iure belli ac pacis), von Heinrich von Bode, Professor für römisches Recht und Strafrecht (ebenfalls ein Privatkolleg über Grotius’ De Iure belli ac pacis), und schließlich von Johann Samuel Stryk, dem Sohn des ersten Professors der Fakultät, der im Vorlesungsverzeichnis noch als außerordentlicher Professor benannt ist, kurz darauf aber in die fünfte ordentliche Professur der Fakultät aufstieg. Er hielt eine öffentliche Vorlesung über Pufendorfs De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo, einen Klassiker der Naturrechtslehre, der erstmals 1673 erschienen war. Von den drei genannten Professoren hat sich allein Simon zu diesem Zeitpunkt bereits als Autor von Schriften zum Naturrecht hervorgetan.69 Ein Vergleich des Wintersemesters 1694 in Halle mit den Wittenberger Lektionskatalogen ergibt dreierlei: Erstens ist das Naturrecht in der Lehre in Halle von Beginn an kontinuierlich als Lehrgegenstand präsent, und zwar gleich bei mehreren Professoren, während es in Wittenberg im Betrachtungszeitraum nur sporadisch in der Lehre auftaucht, z.B. 1709, nicht aber in den Jahren 1705 und 1708 und auch danach keineswegs in jedem Semester. Zweitens scheinen sich auch drei von fünf Professoren in Halle in einer ihrer Veranstaltung dem Naturrecht anzunehmen, das Thema wird also nicht auf nur auf einen Kollegen in der Fakultät abgewälzt. Und drittens waren die beiden Klassiker, mit denen das Naturrecht im Jahr 1694 in Halle vermittelt wurde, Grotius und Pufendorf. Dies war in Witten-

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Dietrich Hermann Kemmerich: Neu-eröffnete Academie Der Wissenschafften, Zu welchen Vornemlich Standes-Personen nützlich können angeführet, und zu einer vernünfftigen und wohlanständigen Conduite geschickt gemacht werden, 2. Aufl. Leipzig 1717. Diese Schrift befasst sich im dritten Teil mit der Moral und Fragen des Natur- und Völkerrechts. Für diesen Hinweis danke ich Frank Grunert. Albert Teichmann: Dietrich Hermann Kemmerich. In: ADB 15 (1882), S. 599. Simon war insbesondere Herausgeber älterer Werke zum Naturrecht: Ders.: Hugonis. Grotii. De. Iure. Belli. Ac. Pacis. Libr. II. Cap. X. De. Obligatione. Jena 1676; Ders.: Grotius Erotematicus, Sive Hugonis Grotii In Quaestiones Redacti De Iure Belli ac Pacis Lib. III. Frankfurt u. Leipzig 1688; Ders.: Guilielmi Groti[i] De Principiis Iuris Naturalis Enchiridion. Jena 1693.

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berg und in Halle identisch, auch wenn sich in den Wittenberger Lektionskatalogen des 18. Jahrhunderts nur noch Pufendorf wiederholt als Lehrbuchautor findet. Das Naturrecht spielte in Halle in der Lehre also eine ungleich größere Rolle als in Wittenberg. Zugleich ist aber zu konstatieren, dass eine ausdrückliche Denomination eines einzelnen Lehrstuhls für Naturrecht in Halle wohl nicht stattgefunden hat. Zur Zeit der Gründung der Universität war dies nicht vorgesehen – und in den Empfehlungen des Christian Thomasius zur Einrichtung der Lehrstühle an der Universität auch nicht erwünscht.70 Erst als Nicolaus Hieronymus Gundling im Jahr 1712 zum ordentlichen Professor an der Juristischen Fakultät ernannt wurde, nannte er sich auch im Vorlesungsverzeichnis „Juris Naturae et Gentium Ordinarius“.71 In Halle rangierte dieser Naturrechtslehrstuhl wie in Wittenberg am Ende der fakultätsinternen Rangfolge. Gundling war 1712 der siebte ordentliche Professor der Fakultät. Seine Selbstbezeichnung als Professor für Naturrecht hält allerdings nicht kontinuierlich Einzug in das Vorlesungsverzeichnis, sondern nur von 1712 bis zum Sommersemester 1713 und dann vom Sommersemester 1714 bis zum Wintersemester 1716. Im Wintersemester 1713 firmiert Gundling als Professor Publicus (PP). Im Wintersemester 1716 wird er sowohl als Jurisconsultus (IC) geführt als auch als Professor für Natur- und Völkerrecht, ab dem Sommersemester belässt es Gundling dann beim Titel des Jurisconsultus. 1719 stieg er in eine höhere Rechtsprofessur in Halle auf und war fortan Professor für öffentliches Recht. Er blieb allerdings der rangniedrigste unter den Professoren. Nur da es fortan zunächst nur noch sechs und wenig später dann nur noch fünf Ordinarien in der Rechtsfakultät gab, hatte er sich in höhere Professuren emporgearbeitet. Ein ausdrücklicher Lehrstuhl für Naturrecht scheint sich in Halle also nicht etabliert zu haben. Auch als im Sommersemester 1721 wieder zwei weitere Lehrstühle eingerichtet wurden und es fortan wieder sieben Lehrstühle in der juristischen Fakultät gab, wurde der Inhaber des siebten Lehrstuhls, Bartholomäus Johann Sperlette, nicht als Ordinarius für Naturrecht bezeichnet. Und auch bei den nachfolgenden Berufungen in die Juristenfakultät taucht die Denomination eines Lehrstuhls für Naturrecht nicht mehr in den Vorlesungsverzeichnissen auf. Gundlings Umgang mit dem Titel eines Professors für Natur- und Völkerrecht lässt erkennen, weshalb sich diese Lehrstuhldenomination in Halle wohl nicht durchsetzen konnte. Er nannte sich nur solange Professor für Natur- und Völkerrecht, solange er keine offenkundig prestigeträchtigeren Titel anführen konnte. Sofern der Gegenstand des Natur- und Völkerrechts namensgebend mit einem konkreten Lehrstuhl verknüpft war, so wurde die Zuständigkeit auch in Halle dem rangniedrigsten Lehrstuhl der Juristenfakultät zugewiesen.

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Vgl. hierzu den Beitrag von Frank Grunert in diesem Band. Vorlesungsverzeichnis im SoSe 1712.

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Gelehrt wurde Naturrecht in Halle aber gleichwohl in jedem Semester, unabhängig von der Denomination der Lehrstühle.72 Zwar war das Naturrecht in Halle nie wie in Wittenberg das Lehrgebiet nur eines einzigen Lehrstuhlinhabers. Aber auch in Halle wurde Naturrecht meist von denjenigen Professoren gelehrt, die nicht die erste oder die zweite Professur in der Jurafakultät bekleideten – häufig war es auch Lehrgegenstand der außerordentlichen Professoren. Dies entsprach durchaus auch den Plänen, die Thomasius für die juristische Fakultät in Halle formulierte: Für Naturrecht solle in Halle einer der außerordentlichen Professoren zuständig sein, nicht aber einer der vier ordentlichen Professoren.73 Vielleicht ist dieser Umstand auch der Grund dafür, dass Notker Hammerstein der Naturrechtslehre in Halle nur einen „ephemeren Platz“ zuschreiben möchte.74 Die Ausnahme von dieser Regel ist insbesondere Thomasius selbst. Er hat von 1694 bis 1727 insgesamt 21 Lehrveranstaltungen zum Naturrecht abgehalten, wobei er insbesondere sein eigenes Naturrecht lehrte, wie beispielsweise im Sommer- und Wintersemester 1720: “Fundamenta sua Iuris Naturae et Gentium explicabit“.75 Im Jahr 1727 hielt Thomasius dann über zwei Semester eine Veranstaltung über seine 1719 erschienene Veröffentlichung zur Geschichte des Naturrechts, seine Historia iuris naturalis.76 Sonst waren Thomasius’ Fundamenta juris naturae insbesondere in der Lehre des Thomasiusschülers Johann Lorenz Fleischer präsent, als dieser noch als außerordentlicher Professor in Halle lehrte.77 Wie sah es nun mit den Lehrbüchern zum Naturrecht an der Universität Halle aus? Sofern in naturrechtlichen Lehrveranstaltungen in Wittenberg nicht auf Pufendorf zurückgegriffen wurde, bezogen sich die dort lehrenden Professoren auf Griebners Principia Iurisprudentiae Naturalis. In Halle fand dieses Werk indes in den Lehrveranstaltungen zum Naturrecht keinerlei Beachtung. Wenn Griebner als

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Zu den Zahlen: Im Zeitraum von 1694 bis 1850 gab es in Halle insgesamt 1.155 Veranstaltungen zum Naturrecht; Recknagel: Naturrecht (wie Anm. 11), S. 10. Ebd., S. 11. Hammerstein: Jurisprudenz und Historie (wie Anm. 14), S. 247. Vorlesungsverzeichnisse 1720 (SoSe und WS). Bei der Vorlesung erläuterte er seine Fundamenta juris naturae et gentium. Halle 1705. Im Jahr 1720 lag bereits die vierte Auflage dieses Werkes vor, die 1718 erschienen war, außerdem existierte zu diesem Zeitpunkt auch bereits eine deutschsprachige Ausgabe dieses Werkes: Grund-Lehren Des Natur- und Völcker-Rechts: Nach dem sinnlichen Begriff aller Menschen vorgestellet, Jn welchen allenthalben unterschieden werden Die Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Anständigkeit; Denen beygefüget Eine Verbesserung der Göttlichen Rechts-Gelahrtheit nach dessen Grund-Lehren, Zum Gebrauch Des Thomasianischen Auditorii. Halle 1709. Christian Thomasius: Paulo Plenior, Historia Juris Naturalis: Cum Duplici Appendice I.Censuræ Boeclerianae In Programma Rebhanii. II. Quinque Epistolarum A Pufendorfio, Conringio, Boeclero ad Boineburgium scriptarum, cum notis, obscuriora, dubia, falsa illustrantibus ac refutantibus in usum auditorii Thomasiani. Halle 1719. So z. B. im WS 1718 sowie im SoSe und im WS 1719.

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Lehrbuch verwendet wurde, dann stets nur seine Principia Processus Judiciarii.78 Es waren also nicht nur die Juraprofessoren in Wittenberg unwillig, die neueren Schriften zum Naturrecht in Halle zur Kenntnis zu nehmen und in ihren Lehrveranstaltungen zu verwenden. Auch die Kollegen in Halle schienen sich für die Veröffentlichung des in Wittenberg lehrenden Griebner zum Naturrecht nicht zu interessieren. Die stattdessen gerne genutzten Lehrbücher waren, wie schon anhand der Veranstaltungen des Wintersemesters 1694 deutlich wird, zunächst die Klassiker, also Grotius’ De Iure belli ac pacis und Pufendorfs Librum de officio hominis et civis iuxta legem naturalem. Grotius’ Natur- und Völkerrecht stand seit 1694 über 15 Jahre lang in fast jedem Semester in mindestens einer Lehrveranstaltung auf dem Programm.79 Ab dem Jahr 1711 indes findet sich der Name Grotius dann deutlich seltener im Vorlesungsverzeichnis.80 Nach 1732 wird sein Name gar nicht mehr im Vorlesungsverzeichnis aufgeführt. Kurz bevor er jedoch ganz als Lehrbuchautor aus der Lehre verschwand, bekam sein De Iure belli ac pacis in der Vorlesungsankündigung von Böhmer noch den Ehrentitel „opus immortale“ verliehen.81 Danach fand Grotius in den Lektionskatalogen bis 1740 nur noch zwei Mal Erwähnung. Nach 1740 erlebte Grotius dann mit der Rückkehr Christian Wolffs nach Halle eine Renaissance in der Lehre, hatte Wolff den Naturrechtsklassiker noch in Marburg erneut herausgegeben und bis 1748 häufig gelehrt, bis er dann seine eigene Schrift zum Naturrecht vorlegte und fortan diese im Mittelpunkt seiner Naturrechtslehre stand.82 Pufendorf vermag seinen Klassikerstatus in Halle hingegen bis in das Jahr 1740 zu behaupten. Zwar verschwindet sein Name nach dem Wintersemester 1694 erst einmal bis zum Sommersemester 1701 aus den Lektionskatalogen. Seit dem Sommersemester 1704 findet sich sein Name aber durchgängig in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Halle, mitunter wird er auch in drei unterschiedlichen Lehrveranstaltungen gleichzeitig gelesen, im Sommersemester 1713 sogar fünf und im Wintersemester 1716 sogar sechs Mal. Auch in den 1730er Jahren ist seine Popularität als Lehrbuchautor weiterhin ungebrochen, wurde er im Sommersemester und im Wintersemester 1736 je fünf Mal gelesen, im Wintersemester 1738 und dem darauffolgenden Sommersemester 1739 sogar je sechs Mal. Die Attraktivität des Autors hängt auch damit zusammen, dass nicht nur seine naturrechtlichen 78

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So im WS 1718, im WS 1720, im WS 1721, im SoSe 1722, im WS 1723, im SoSe und im WS 1724, im SoSe und im WS 1726, im SoSe und im WS 1730 bis 1733, im WS 1734, im SoSe und im WS 1735, im SoSe 1736 und im WS 1739. Semester ohne Nennung von Grotius als Grundlage einer Lehrveranstaltung: SoSe 1699, SoSe und WS 1701, WS 1702, SoSe 1703, WS 1704; WS 1705; SoSe 1707; WS 1709. Im WS 1714; im SoSe und im WS 1715; im SoSe 1716; im WS 1718; im SoSe und WS 1722; im WS 1724; im SoSe 1725; im SoSe und WS 1727; im WS 1729; im WS 1732. Justus Henning Böhmer in seiner Ankündigung seines Privatkollegs über Grotius im Wintersemester 1727. Hierzu Recknagel: Naturrecht (wie Anm. 11), S. 13.

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Schriften auf dem Programm standen, sondern ebenso auch seine historischen Schriften und seine Schrift zur Reichsverfassung. Im Sommersemester 1739 befasste sich Justus Henning Böhmer mit Pufendorfs De habitu religionis christianae ad vitam civilem.83 Sein Sohn, Johann Samuel Friedrich Böhmer, las über Pufendorfs Naturrechtsklassiker (de officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo), ebenso auch Gottfried Sellius. Johann Ehrenfried Zschackwitz bot eine Veranstaltung über Pufendorfs Reichsverfassungsschrift an (De statu imperii Germanici). Johann Tobias Carrach veranstaltete ein Privatkolleg über Pufendorfs Naturrechtsschrift und Friedrich Wiedeburg ein Privatkolleg über Pufendorfs Universalgeschichte.84 Im Wintersemester 1739 wiederholte sich das Programm weitgehend: Justus Henning Böhmer las in seiner öffentlichen Vorlesung über Pufendorfs De habitu religionis christianae ad vitam civilem. Sein Sohn, Johann Samuel Friedrich Böhmer, lehrte über Pufendorfs de officio hominis et civis. Johann Ehrenfried Zschackwitz lehrte Pufendorfs Einleitung zur Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, Johann Tobias Carrach las gleichfalls über Pufendorfs Naturrechtsklassiker de officio hominis et civis. In der Philosophischen Fakultät las dann noch Friedrich Wiedeburg gleichfalls über Pufendorfs Einleitung zur Historie der vornehmsten Reiche und Staaten. Zweierlei wird an diesem exemplarischen Blick auf die Lehre des Jahres 1739 sichtbar. Zum einen ist der Grad an Repetition und Wiederholung auch an der Universität Halle in der Lehre groß. Die immer gleichen Klassiker werden meist von denselben Personen wiederholt in der Lehre behandelt. Zum anderen war Pufendorfs de officio hominis et civis weiterhin in jeweils zwei Lehrveranstaltungen in Halle pro Semester die Grundlage zur Vermittlung des Naturrechts. Dass diese Schrift im Jahr 1739 bereits mehr als fünfzig Jahre alt war, tat dem Erfolg dieser Schrift keinen Abbruch.85 Und wo, mag man sich fragen, sind nun die Lehrbücher zum Naturrecht hallischer Provenienz, die in der Lehre in Halle verwendet wurden? Wenn Pufendorfs Naturrechtslehre von den großen Gelehrten in Halle, Thomasius und Gundling, weiterentwickelt wurde, wie es in den gängigen Handbüchern heißt,86 so stellt sich die Frage, inwiefern den Studenten diese Weiterentwicklung in den Lehrveranstaltungen vermittelt wurde. Dies lässt sich im Spiegel der Vorlesungsverzeichnisse nur dadurch prüfen, dass man nach dem Einsatz der in Halle entstandenen Schriften zum Naturrecht fragt. An Veranstaltungen zum Naturrecht gab es im Sommer83 84 85

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Samuel von Pufendorf: De Habitu Religionis Christianae Ad Vitam Civilem. Bremen 1687. Samuel von Pufendorf: Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten, so itziger Zeit in Europa sich befinden. Frankfurt a. M. 1683. Ähnlich auch Recknagel: Naturrecht (wie Anm. 11), S. 13: „Ebenso bestätigt sich, dass sich die Naturrechtslehren von Grotius und Pufendorf keineswegs bereits um 1700 mit der Frühaufklärung von den deutschen Universitäten verabschiedet hätten, sondern dass sie bis in die 1740er Jahre den Unterricht geradezu bestimmten.“ Vgl. nur Klaus Luig: Christian Thomasius. In: Michael Stolleis (Hg.): Staatsdenker in der frühen Neuzeit. München 1995, S. 227–256, hier S. 230.

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semester 1739, neben den beiden bereits genannten zu Pufendorf, noch eine öffentliche Vorlesung von Karl Gottlieb Knorre zum Ius Naturae et Gentium, in der sich Knorre wohl gleichfalls an Pufendorf orientierte, auch wenn dessen Name nicht ausdrücklich im Vorlesungsverzeichnis erwähnt wird. Knorre hat insbesondere über den Unterschied zwischen römischem und deutschem Recht sowie über unterschiedliche Prozessordnungen publiziert, Bezüge zum Naturrecht sucht man in seinem Schriftenverzeichnis leider vergebens.87 Außerdem las in diesem Semester Alexander Gottlieb Baumgarten als außerordentlicher Professor der Philosophischen Fakultät über Naturrecht und benutzte hierzu Heinrich Köhlers Iuris Naturalis Exercitationes, die eben erst ein Jahr zuvor erschienen sind.88 Köhler hatte zwar auch zeitweise in Halle studiert, seine akademische Karriere machte er allerdings an der Universität Jena. Jakob Gabriel Wolf hatte in den 1730er Jahren regelmäßig „sein Naturrecht“ bzw. „seine Institutionen“ im Lehrprogramm, womit wohl seine Institutiones Jurisprudentiae naturalis gemeint waren, die im Jahr 1720 erschienen sind.89 Deren Quintessenz griff er dann 1730 und 1745 in zwei deutschsprachigen Publikationen wieder auf.90 Außerdem lehrte in Halle Johann Laurenz Fleischer bis zu seinem Fortgang nach Frankfurt an der Oder sein eigenes Naturrecht: Seine Institutiones juris naturae et gentium waren 1722 in Halle erschienen und seitdem auch regelmäßig in dessen Lehrveranstaltungen präsent.91 In der Aufzählung der Heroen in der juristischen Fakultät von ihrer Gründung bis ins Jahr 1730 sind es insbesondere zwei Namen, die explizit mit der Naturrechtslehre in Verbindung gebracht werden: Christian Thomasius und Nikolaus Hieronymus Gundling.92 Ersterer verstarb 1728, Letzterer ein Jahr später. Nach ihrem Tod tauchen Thomasius und Gundling nur noch höchst sporadisch mit einer ihrer Schriften in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Halle auf: In 24 Semestern seit 1729 wird elf Mal ein Buch Gundlings für die Lehre verwendet, bei Thomasius waren es ganze drei Mal. Dabei sind es in Gundlings Fall insbesondere seine historische Schriften, die gelehrt wurden, bei Thomasius handelte es sich in den ersten beiden Fällen um seine „Cautelae circa praecognita Jurispruden87 88

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Zu Knorre vgl. die dürren Angaben bei Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 145. Ursprünglich Heinrich Köhler: Iuris Naturalis Exercitationes. Jena 1729. Hier dürfte wohl die Ausgabe von 1738 benutzt worden sein; Heinrich Köhler: Juris Naturalis Eiusque Cumprimis Cogentis Methodo Systematica Propositi Exercitationes VII. Frankfurt a.M. 1738. Jakob Gabriel Wolf: Institutiones jurisprudentiae naturalis tum privatae, tum publicae. Halle 1720. Jakob Gabriel Wolff: Kurtzer Entwurf der vornehmsten Grundsätze der Jurisprudentiae Ecclesiasticae et Jurisprudentiae naturalis. Nebst einer Rettung der letzteren wieder Walchs philosophisches Lexicon. Halle 1730; Kurtzer Entwurf der Grundlehren und Ordnung seiner Institutionum Jurisprudentiae naturalis tum privatae tum publicae. Halle 1745. Johann Laurenz Fleischer: Institutiones Juris Naturae et Gentium: in quibus regulae justi, decoriatque honesti potissimum secundum principia Thomasiana distincte explanantur et applicantur. Halle (1722), 2. Aufl. Halle 1730, 3. Aufl. Halle 1745. Vgl. nur Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 298.

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tiae“, eine Art epistemologisches Propädeutikum für Juristen, damit diese mit dem richtigen philosophischen Geist ihr Studium verrichten. Im Wintersemester 1735 griff Böhmer in seiner Vorlesung auf Thomasius zurück, als er sich mit der Papstkirche und dem kanonischen Recht auseinandersetzte. Auch wenn also auf Thomasius und Gundling rekurriert wurde, schien das Naturrecht beider Autoren in den Lehrveranstaltungen nicht mehr im Gebrauch gewesen zu sein. Nach 1735 kommt man in der Lehre der Juristischen Fakultät ganz ohne die beiden Autoritäten aus. Wenn Naturrecht in Halle gelehrt wurde, so lehrte man entweder den Klassiker Pufendorf, oder die Professoren lehrten ihre eigenen Schriften. Thomasius und Gundling haben zumindest in der Lehre an der Universität Halle keinen Klassikerstatus erreicht.93 Allerdings hat Fleischer sein eigenes Naturrecht explizit an Thomasius orientiert und dessen Grundsätze zum Naturrecht übernommen – in seinen Lehrveranstaltungen lebte Thomasius Naturrecht also weiter. Dieser überraschende Befund gilt, nimmt man nur die in den Vorlesungsverzeichnissen genannte Grundlagenliteratur für die Lehrveranstaltungen der Professoren als Maßstab, auch bereits zu Lebzeiten von Thomasius und Gundling. In der Zeit von 1694 bis 1730 wird ganze zehn Mal eine Schrift Gundlings als Grundlage einer Lehrveranstaltung genannt.94 Dabei handelte es sich im Wintersemester 1715 sowie im Sommersemester 1716 um Gundlings eigene Lehrveranstaltungen, in denen er sein neues Naturrecht vorstellt, wie er eigens in der Vorlesungsankündigung unterstreicht.95 Im Wintersemester 1721 und im Wintersemester 1722 sowie im Sommersemester 1724, 1725, 1726, 1727 und 1728 sowie im darauffolgenden Wintersemester hat Gundling diese Veranstaltung jeweils wiederholt, wie sich Gundlings Lehre ohnehin in den 1720er Jahren alle zwei Semester zu wiederholen scheint. Nur zwei Mal wurde Gundling von seinen Kollegen als Autorität herangezogen und ausdrücklich im Vorlesungsverzeichnis genannt. Im Wintersemester 1722 demonstriert Johann Gottlieb Heineccius am Beispiel Gundlings – die genaue Schrift wird nicht genannt – die „historia philosophica“, es geht hier also um Gundlings Autorität in der historia litteraria, nicht um sein Naturrecht. Und im Wintersemester 1723 unterrichtete der außerordentliche Professor Johann Daniel

93

94 95

Vgl. hierzu auch der Befund bei Jan Schröder u. Ines Pielemeier: Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Otto Dann u. Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. Hamburg 1995, S. 255–269, v. a. S. 262f. Im Wintersemester 1715, im Sommersemester 1716, im Sommersemester 1722 und im Wintersemester 1723. Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1715: „praeleget Ius naturae ac gentium nove a se conscriptum“. Vermutlich bezieht sich Gundling bei seinem Hinweis auf sein neues Naturrecht auf seine 1715 erschienene Via Ad Veritatem Cuius Pars Tertia Iurisprudentiam Naturalem Nova Methodo Elaboratam Et A Præsumtis Opinionibus Aliisque Ineptiis Vacuam Sistit. Halle 1715.

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Gruber die Staatengeschichte und folgte hierbei Gundling; auch hier wird kein ausdrückliches Werk genannt.96 Thomasius wird zwischen 1694 und 1728 zwar insgesamt 25 Mal als Autor einer Schrift angeführt, die in einer Veranstaltung als Grundlage diente. Dabei lehrte aber entweder Thomasius selbst anhand seiner eigenen Schriften, oder aber sein Schüler Fleischer zog Thomasius Naturrechtskompendium als Autorität in der Lehre heran, bis ins Jahr 1722, als Fleischer selbst eine eigene Schrift zum Naturrecht vorlegte, über die er anschließend lehrte. Diese Schrift vermittelte das Naturrecht indes „secundum principia Thomasiana“, hier blieb Thomasius also weiterhin in der Lehre präsent. Gleichwohl belegen die Zahlen aber auch, dass es Thomasius mit seinen Schriften zum Naturrecht nicht geglückt ist, einen Klassiker hervorzubringen, der als Lehrbuch – unabhängig von der Universität und der lehrenden Personen – an die Stelle der einschlägigen Schriften Grotius‘ oder Pufendorfs getreten wäre.97

III. Welche Erkenntnisse vermittelt die hier vorgenommene Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse für die juristischen Fakultäten der Universitäten Halle und Wittenberg für den Zeitraum von 1694 bis 1740? Ermöglicht ein Blick auf die in den Lektionskatalogen angekündigte Lehre an beiden Universitäten Aussagen über Innovation oder Beharrung als Urteilskriterien zur Klassifizierung von Universitäten um 1700? Lässt sich anhand der Lehre ein spezifisches Profil beider Universitäten erkennen, sowie Aussagen gewinnen über die „Entwicklung einer einzelnen Fachwissenschaft“, in diesem Falle der Jurisprudenz? Zu diesem Fragen soll nun eine resümierende Antwort in fünf Punkten unternommen werden. 1. Die Größe der beiden Rechtsfakultäten in Halle und in Wittenberg ist weitgehend identisch. Die Zahl der Lehrstühle schwankt zwischen fünf und sieben. Was in Halle zwischen 1710 und 1730 deutlich zunimmt, ist vor allem die Zahl der außerordentlichen Professoren. Vor allem dadurch hat Halle im Vergleich zu Wittenberg auch das größere Lehrangebot.

96

97

Vermutlich handelt es sich um Nicolaus Hieronymus Gundling: P. P. Eröffnet seinen künfftigen Zuhörern Ein Collegium über den jetzigen Zustand von Europa: Darinnen er von den Interessen hoher Potentaten, Praetensionen, Streitigkeiten, Macht […] Samt dem zwischen ihren Abgesandten fürfallenden Ceremoniel, in etlichen deutlichen Sätzen die Wahrheit entdecken wird. Halle 1712. Mit diesem Befund wird keine Aussage getroffen über die inhaltliche Qualität bzw. die Innovationskraft von Thomasius’ Naturrechtslehre, sondern allein über den Stellenwert von Thomasius’ Naturrechtsschriften in akademischen Lehrveranstaltungen an der Universität Halle, sofern die Lehrankündigungen in den Vorlesungsverzeichnissen darüber Aussagen zulassen. Für eine inhaltliche Bewertung vgl. den Beitrag von Frank Grunert in diesem Band.

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2. Im Bereich des römischen Rechts sowie der Frage nach dessen Vereinbarkeit mit deutschen Rechtsquellen und nach dessen Anwendung in der zeitgenössischen Rechtspraxis (usus modernus) griff man an beiden Universitäten auf weitgehend dieselben Handbücher zurück, auf Schriften von Georg Adam Struve (Universität Jena), Samuel Stryk (Universität Halle) und Michael Heinrich Griebner (Universität Wittenberg). An beiden Universitäten waren diese Handbücher, insbesondere dasjenige von Georg Adam Struve, über den gesamten Betrachtungszeitraum im Gebrauch. Die „Entwicklung der Fachwissenschaft“ vollzog sich im Bereich des Umgangs mit dem römischen Recht zwischen 1694 und 1740 offenkundig nicht so dynamisch, als dass nicht ein Lehrbuch aus dem Jahre 1670 über 70 Jahre und länger wertvolle Dienste leisten konnte. 3. Im Kirchenrecht machte zunehmend das Werk von Justus Henning Böhmer zwischen Halle und Wittenberg den Unterschied aus. Während seine Schriften zum Kirchenrecht in Halle in zahlreichen Veranstaltungen immer wieder in der Lehre herangezogen wurden, lässt sich erst sehr spät (1738) auch in Wittenberg eine Lehrveranstaltung finden, in der dessen Schriften zum Kirchenrecht thematisiert wurden. Dies war allerdings zugleich auch ein typisches Merkmal für universitäre Lehre generell: In den Lektionskatalogen finden sich die Gelehrten der jeweiligen Heimatuniversität ungleich häufiger vertreten als an anderen Universitäten. Dies war auch bei Böhmer und seinem Kirchenrecht der Fall. 4. Das Naturrecht findet sich in Halle im Vergleich zu Wittenberg ungleich öfter im Lehrangebot wieder. Dies war angesichts des auch in der Universitätsgeschichte immer wieder hervorgehobenen besonderen Profils der hallischen Universität für Naturrecht auch nicht anders zu erwarten. Deutlich überraschender fällt hingegen der Befund zu den Lehrbüchern aus, mit denen Naturrecht gelehrt wurde. Die meisten Lehrveranstaltungen zum Naturrecht wurden mit zwei Klassikern bestritten: Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf. Während Grotius vor allem in den ersten 15 Jahren der Universität Halle eine große Rolle in der Lehre spielte, war Pufendorf vor allem für die sich daran anschließenden 30 Jahre bis 1740 der meistgelesene Klassiker des Naturrechts. Auch die großen Gelehrten des Naturrechts in Halle wie Thomasius oder Gundling wurden deutlich seltener in Halle gelesen als Grotius oder Pufendorf, und nach deren Tod waren sie schnell ganz aus der Lehre verschwunden. Für Thomasius und Gundling lässt sich letztlich dasselbe sagen wie für Jakob Gabriel Wolf oder für Johann Laurenz Fleischer: All die genannten Gelehrten hatten ein eigenes Naturrechtskompendium verfasst und danach wiederholt in Lehrveranstaltungen eingesetzt. Eine Besonderheit in Halle war also die große Zahl an meist jüngeren Gelehrten, die zum Naturrecht publizierten. Diese Neuerscheinungen fanden durch dieselben Gelehrten auch Einzug in die Lehre. Keine dieser Schriften schaffte es jedoch an der Universität Halle zum Klassiker, das heißt zu einer Schrift, die von zahlreichen unterschiedlichen Gelehrten erkennbar in der Lehre eingesetzt wurde. Ein solcher Erfolg wurde dann erst wieder Johann Gottlieb Heineccius Schrift Elementa juris naturae et gentium zuteil, doch

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erschien dieses Werk erst 1737, dessen internationale Konjunktur kommt für unseren Betrachtungszeitraum zu spät.98 Dies gelang indes Griebner an der Universität Wittenberg, dessen Lehrbuch zum Naturrecht von mehreren seiner Kollegen immer wieder in der Lehre genutzt wurde, vermutlich allerdings nur deshalb, da sie selbst keine eigenen Publikationen auf diesem Feld vorweisen konnten. Trotz der zahlreichen neuen naturrechtlichen Schriften in Halle lässt sich, bedenkt man die ungeminderte Popularität von Pufendorfs Klassiker zum Naturrecht aus dem Jahr 1673, über die Lehre zum Naturrecht in Halle dasselbe sagen wie über die Lehre zum römischen Recht: Dieses Wissensgebiet hatte sich zwischen 1673 und 1740 offenkundig nicht so dramatisch verändert und weiterentwickelt, als dass nicht weiterhin der Klassiker von Pufendorf für die Vermittlung des Naturrechts an Studenten gute Dienste leisten konnte. 5. Berücksichtigt man neben dem Lehrangebot an der Universität Halle auch weitere Aspekte wie die Ranghierarchie innerhalb der Universität ebenso wie innerhalb der juristischen Fakultät oder die Diskussion um die Lehrsprache, so wird man die Besonderheit der Universität Halle zukünftig wohl etwas nüchterner beurteilen müssen: Gemessen an den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Halle, die hier als exemplarische Quellengruppe ausgewertet wurden, lässt sich eine grundsätzliche Sonderstellung dieser Universität nicht behaupten. Begriffe wie „Reformuniversität“ oder „modernste Universität Deutschlands“ führen in die Irre, da man mit ihnen strukturelle Unterschiede der hallischen Universität im Vergleich zu den „Landesuniversitäten“ suggerieren möchte. Solche strukturellen Unterschiede waren von den mit der Universität betrauten Akteuren aber weder beabsichtigt noch entsprechen die damit einhergehenden Aussagen in der Forschung zur universitären Rangfolge, zur Besoldung der Dozenten und auch zum Lehrprofil der Universität den darüber verfügbaren Quellen. Halle wurde als eine weitere Landesuniversität in Brandenburg-Preußen gegründet, um zur Integration des neuerworbenen Herzogtums Magdeburg beizutragen. Die Qualität der in Halle versammelten Gelehrten trug dann dazu bei, diese Landesuniversität sehr erfolgreich zu machen – da sie Studenten in großer Zahl nach Halle lockte. An dieser Attraktivität hatte die juristische Fakultät sicher einen großen Anteil. Zeitgenössische Trends wie die Konjunktur des Naturrechts waren in Halle ungleich stärker entwickelt als beispielsweise in Wittenberg. Insgesamt gesehen ergeben sich aber bei der Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse der beiden Universitäten für die Lehre der Rechtswissenschaft mindestens ebenso viele Ähnlichkeiten wie Unterschiede. Die Universität Halle verfügte gemessen an der Universität Wittenberg über ein graduell anderes Profil. Diese graduellen Unterschiede sollte man indes angesichts der massiven Ähnlichkeiten auch in der Lehre nicht überbetonen. Auch für das Lehrprofil der vermeintlichen Reformuniversität Halle

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Vgl. hierzu Recknagel: Naturrecht (wie Anm. 11), S. 16.

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gilt Fernand Braudels Grundsatz, dass man über die heutige Strahlkraft mancher Gelehrtennamen die Strukturen langer Dauer nicht aus dem Blick verlieren sollte.99

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Fernand Braudel: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée. In: Marc Bloch, Fernand Braudel u. Lucien Febvre: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse. Hg. v. Claudia Honegger. Frankfurt a.M. 1977, S. 47–85.

FRANCESCO PAOLO DE CEGLIA

The Powers of the Soul. Tradition and Innovation in the Medicine of 18th Century Halle Introduction Halle, July 1694. Days of Baroque celebrations, of erudite orations, of devout prayers. In the Dom-Kirche, on the 11th of the month according to the current Gregorian dating system (on the 1st, according to the Julian calendar then still in use in many Protestant lands), the solemn opening ceremony of the University Alma Regia et Electorali Academia Fridericiana took place in the presence of Frederick III, Elector of Brandenburg. Christoph Cellarius, a professor of rhetoric, lionized the pleasant and healthy climate in the region, the tolerance of its people, the tastiness of the food, the purity of the German spoken, and the opportunity to meet dance and horse-riding masters, as well as young French people with whom to have conversations in their language.1 The next day, a procession of the authorities and the teaching staff wound its way through the streets of a city eager to see the faces of the new professors. It was in this circumstance that the two colleagues Friedrich Hoffmann and Georg Ernst Stahl presented themselves to the urban community. In their early thirties, exponents of the new academic élite, they would be the fathers of the two great medical schools in 18th-century Halle.2 The purpose of this paper is: (1) first of all, to highlight the most innovative aspects of Hoffmann and Stahl’s systems, which, it should be remembered, are two of the three most important medical systems in the first half of the 18th century (the third is that of Herman Boerhaave, a professor at the University of Leiden); and (2) very quickly trace the lines of their inheritance on European medicine in the 18th century and beyond.

1

2

Paul von Fuchs, “Oratio II,“ in Inauguratio Academiae Fridericianae Potentissimi Principis Friderici III., edited by Chistoph Cellarius (Halle: 1698), 129–149, in particular p. 138; cf. Friedrich August Eckstein, Chronik der Stadt Halle (Halle: 1842), 23–24. See Karl Eduard Rothschuh, “Studien zu Friedrich Hoffmann (1660–1742): Erster Teil: Hoffmann und die Medizingeschichte. Das Hoffmannsche System und das Aetherprinzip,” Sudhoffs Archiv 60 (1976): 163–193; Karl Eduard Rothschuh, „Studien zu Friedrich Hoffmann (1660–1742): Zweiter Teil: Hoffmann, Descartes und Leibniz,“ Sudhoffs Archiv 60 (1976): 235–270; Johanna Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert: Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls (Tübingen: Niemeyer, 2000); Kevin Chang, The Matter of Life: Georg Ernst Stahl and the Reconceptualizations of Matter, Body and Life in Early Modern Europe, Ph. D. Thesis (Chicago: 2002). For a synthesis, see Francesco Paolo de Ceglia, I fari di Halle: Georg Ernst Stahl, Friedrich Hoffmann e la medicina europea del primo Settecento (Bologna: 2009), in particular pp. 13–160.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-010

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Francesco Paolo de Ceglia

Let me digress: of the three university faculties established in Halle — Theology, Law and Medicine — the medical faculty was the one for which famous names were not called, but only promising young academics whose careers were still to be built (although it seems that they benefited from strong political pressures to occupy those posts). Therefore, few resources were invested; nevertheless, in just over a decade the medical research conducted in Halle would become a reference point for all of Europe. It should also be said that there were very few students, because at the time one became a doctor primarily if there was a family tradition to do so. And since, as stated by the university statutes, two professors were sufficient to constitute a faculty “especially when there are very few listeners,” for the first few years Friedrich Hoffmann and Georg Ernst Stahl were the entire Faculty of Medicine. Just the two of them. And it is clear that this is one of the reasons that they were soon competing. Indeed, to be frank, they had already clashed with some vivacity when they were both students at Jena. Hoffmann and Stahl were in dispute for almost all their scientific life. In the statutes of the Fridericiana, disputes between members of the teaching staff, especially written ones, were forbidden for reasons of decorum.3 This obstacle, however, was not insurmountable. One simply had to be cautious, for instance by publishing one’s works without indicating the publisher, or the name of the adversary. Often pamphlets were published anonymously, or attributed to a third party, which allowed one to save face. Sometimes a pupil was attacked in order to inflict a blow on the master; other times, entire passages from the adversary’s work were cited, yet he was never explicitly identified. Though this didn’t prevent contemporaries from recognising the actors in the drama, it makes the historian’s task today all the more difficult. In this specific case, the events are all the more complicated by the fact that, linked to the names of our two doctors, there was also a complex court case which involved Hoffmann, the king's personal physician in Berlin, who was accused in 1712 of having caused, with his treatment, the death of the second son of Crown Prince Frederick William. And in this trial, which marked a downturn in the career of Hoffmann, it seems that a certain role was played by Stahl, who, upon taking the place of his colleague in Berlin in 1715, seemed to have become the most powerful doctor of Prussia. Although I am collecting very interesting material on this historical mystery, I cannot spend time on it here.4

3 4

Wilhelm Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 vols. (Berlin: 1894– 1895), vol. II, 382. Francesco Paolo de Ceglia, “Hoffmann and Stahl. Documents and Reflections on the Dispute,” History of Universities 22 (2007): 98–140.

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Was Stahl an innovator? I would like to discuss the innovative character of Stahl’s medical production, in particular his Theoria medica vera — a monumental work of 1,500 pages written in a convoluted and sometimes even incomprehensible Latin — which was at the center of medical debate for nearly two centuries.5 Here, for reasons of time, I will not speak of the enormous contribution Stahl made to chemistry, but I must at least mention his efforts to conceptualize the phlogiston: it is true that this famous principle of flammability had been discussed for a century in the alchemical-protochemical tradition, but it was in the Stahlian formulation in which it, although criticized, survived in the European chemical debate throughout the 18th century, that is, until the so-called “oxygen revolution:” the definitive change of perspective introduced by Antoine-Laurent Lavoisier.6 To be schematic: what was Stahl’s most innovative contribution to the medicine of the time? To have firmly asked himself a simple question: what is life? A question that would be difficult to answer today, let alone in the 17th and 18th centuries. The science of the day was, in fact — as explained by a long historical tradition that ranges from Jacques Roger to Georges Canguilhem, just to name a few — a “science of the living,” that is, a science that assumed life was a given and not be investigated further; not a “science of life,” as biology would be, but which only in the very last years of the 18th century and then, finally, in the 19th century would acquire the epistemological status that we still recognize today. Therefore, Stahl’s merit was to have been one of the first to ask the question, even if today his response can seem unsatisfactory.7 Stahl’s question arose from the dissatisfaction he felt with the medical science of the time, dominated by two broad guidelines: iatromechanics and iatrochemistry. From this point of view he is said to have always been opposed to “novelties,” i. e. to the results of the science of the previous century: the truth was simple and always the same — a position which seems to reveal pietistic ancestry — and in the medical field had already been found by Hippocrates.8

5

6

7

8

For a quick overview, see Bernward Josef Gottlieb, “Bedeutung und Auswirkungen des hallischen Professors und klg. preuß. Leibarztes Georg Ernst Stahl auf den Vitalismus des XVIII. Jahrhunderts, insobesondere auf die Schule von Montpellier,” Nova Acta Leopoldina 89 (1943): 423–502; cf. de Ceglia, I fari di Halle, 79–160. Kevin Chang, “Fermentation, Phlogiston and Matter Theory. Chemistry and Natural Philosophy in Georg Ernst Stahl’s Zymotechnia Fundamentalis,” Early Science and Medicine 7 (2002): 31–64. Jacques Roger, Les sciences de la vie dans la pensée française au XVIIIe siècle (Paris: 1963), 429; Georges Canguilhem, Etudes d’histoire et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie (Paris: Vrin, 1968), 223–224; more recently, see Charles T. Wolfe, “From Substantival to Functional Vitalism and Beyond: Animas, Organisms and Attitudes,” Eidos 14 (2001): 212–235. For instance, see Georg Ernst Stahl, De novitatibus medicis in genere (Halle: 1704), 3.

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Stahl had studied at the iatrochemical school during his years in Jena, when he was a student along with Hoffmann. In Jena the most important tradition was that of the followers of Franciscus de le Boë Sylvius, who had been a professor at Leiden and had remained intellectually struck by the observation that by making an acidic substance and an alkaline one interact they produce a boiling (then often called fermentation). The energy this process releases was considered to be the origin of virtually every physiological phenomenon. Boiling was the energetic principle of any and all physiological functions, and, for some, the very wellspring of organic life. Where else could the action of the various organs originate? Even the heartbeat was caused by the meeting of the two substances and the resulting fermentation. Given these premises, for iatrochemists disease could only derive from an imbalance, namely a failure to achieve balance between the acid and the alkaline substances, which meant that the ebullitions that determined physiological movements (from the heartbeat to circulation, from digestion to breathing) did not perform as they should have. This is the tradition that Stahl encountered in Jena. The problem is that, for Stahl, all these materials, containing either the acidic or the alkaline principle, were postulated, but no one had ever found them. Did they really exist? So, for instance, [the iatrochemists] create a mish-mash with migrainic or ophthalmic or odontalgic or anginous or pleuritic or nephritic or hysterical or fissile or volatile or vague acid; well, with all the chemistry they know, they cannot attribute to them [to diseases] a more specific source than fermentation.9

The quotation seems to recall the passage of Molière’s The Imaginary Invalid (1673), in which he made light of the virtus dormitiva of opium. But this is not a scathing mockery by a successful playwright to ignorant and greedy doctors. Instead, it is a bitter reproach made by Stahl at a very young age to the categories of iatrochemistry. In short, the existence of that “migrainic acid,” just to give an example, not unlike that of the virtus dormitiva, seemed to be only a name invented to hide the ignorance of the causes. The migrainic acid, like virtus dormitiva, was in no way proven, but only postulated. We are talking about Stahl as a doctor, but, as mentioned, he was best known as a chemist: his rejection of a purely chemical study of the body was, therefore, not due to ignorance, but to the awareness that such a materialist approach would not lead to any result. And, above all, it did not explain life. Indeed, the human body is composed of fatty substances, of mucus and water: if its functioning depended only on the chemical, it would not explain why these 9

Georg Ernst Stahl, Paraenesis ad aliena a medica doctrina arcendum (Halle: 1706), reprint in Theoria medica vera, physiologiam et pathologiam, tanquam doctrinae medicae partes vere contemplativas, e naturae et artis veris fundamentis intaminata ratione et inconcussa experientia sistens, edited by Johann Juncker, 2nd edition (Halle: 1737), 43–64, in particular p. 56.

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substances, for their unstable nature, do not decompose, reaching a more stable chemical balance; which, in fact, takes place as soon as the body is deprived of life. The natural trend is, in fact, marked by what we might call “chemical entropy” — the expression, of course, is not Stahl’s, but the concept in a certain sense is — that is, by a tendency to fermentation, which creates the conditions making it possible for the chemically more complex and unstable compounds to tend to dissolve into more simple and stable compositions.10 Yet in the human body it seems that these highly unstable compounds retain, in an almost acrobatic way, their chemical balance. In short, the body carries out what Stahl calls a physiological paradox (paradoxon physiologicum): a paradox of chemistry or, more generally, of materiality.11 For Stahl, this is what life consists in: that what is naturally, so to speak chemically-materially, very unlikely (a highly unstable chemical balance), but what, in spite of everything, happens anyway. Life, understood as human life, is, therefore, to Stahl somehow unnatural. Decomposition and death are natural, life is not. From this point of view, Stahl anticipates by approximately a century the point of view of Marie François Xavier Bichat who defined life as “the set of physiological functions that resist death.”12 One might then ask: for what bizarre reason does a living human being, which is composed of substances prone to rot, not decompose? Because, Stahl answers, it has an extra-material principle in itself that allows it to contrast, or better overcome, the destiny of decomposition that awaits the matter of its body. This is the difference between a mechanism (mechanismus), which follows the physical and chemical laws (i. e. related to materiality) and an organism (organismus), that follows the laws that we would call biological (of course, the term and concept of biology did not exist at the time of Stahl).13 It was Stahl himself who introduced the concept of organism: this was an innovation. The term had been used in a couple of medieval writings, which, by the way, Stahl probably did not even know of. Nevertheless, he was the first to use it in a technical sense and to introduce it into the 18th century debate.14 Of course, the concept of organism formulated by Stahl was very different from the way it would be understood by the mid-18th century and then by 19th century life scienc-

10 11 12 13 14

See Georg Ernst Stahl, De mixti et vivi corporis vera diversitate (Halle: 1707), reprint in Theoria medica vera, 65–132, in particular p. 81. See Georg Ernst Stahl, Theoria medica vera, 423. François-Xavier Bichat, Recherches physiologiques sur la vie et la mort, edited by Fraçois Magendie, 4th edition (Paris: 1822), 3. Cf. Georg Ernst Stahl, De mechanismi et organismi diversitate (Halle: 1706), reprint in Theoria medica vera, 1–42, in particular pp. 15–17. On the evolution of the concept of organism, see Tobias Cheung, “From the Organism of a Body to the Body of an Organism. Occurrence and Meaning of the Word ‘Organism’ from the Seventeenth to the Nineteenth Centuries,” in The British Journal for the History of Science 39 (2006): 319–339; cf. Antonio Maria Nunziante, Organismo come armonia: La genesi del concetto di organismo vivente in G. W. Leibniz (Trento: 2002), 121–122.

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es. While it would later be said that an organism is something able to self-organize and therefore to live, for Stahl, who from this point of view was still tied to the 17th century perspective, the organism is that which first of all follows the chemical and physical laws, so it is a mechanismus (and this is the legacy of the tradition); but to this provision it adds the ability to strive for a goal, a telos, to quote Aristotle. The organismus does not, in fact, act only because of something (the efficient cause), but also in view of an end (final cause), that is, for its life and health. From this point of view, we can say that Stahl does not deny the materiality of organic bodies (i. e. the iatrochemical and iatromechanical perspectives), but feels the need to include it within a dimension that we could call ‘biological information.’ In fact, how could only the matter that constitutes a heart know how to beat? How could the liver know how to produce blood from foods eaten? How could the human body know how to cure itself of diseases? Thanks to this biological information that is, in some way, contained in it.15 But what guarantees the organism this conscious biological information? It is here that Stahl introduces the concept of the soul: it is the soul which acts in the body giving it movement, above all making the heart beat and the blood circulate. The soul that tells each organ how to behave. The soul that responds to disease by causing fever. Therefore, the soul is a theoretical postulation made by Stahl when he realized that matter alone could not have done all this.16 For some historians, by asserting the centrality of the soul in the administration of human life, Stahl was influenced by his pietist faith.17 Nevertheless, in order to explain his choice of theoretical system, he usually does not make recourse to religious arguments in his works. There is a fact that is often used as evidence in favor of the religious origin of his perspective: it is that many pietists were former pupils of Stahl. This is the case especially for the authors of works written in German (Christian Friedrich Richter, Christian Weisbach, Johann Storch), which is a good indication of the more ‘popular’ target audience. But we cannot forget who wrote some Latin works, which were widely circulated in European academic circles. For instance, Michael Alberti, probably Stahl’s favorite disciple, and his successor at the University of Halle, who emphasized the need to give a religious foundation to the soul, even writing a Medicina theologica (I mention this incidentally, since we are talking of innovations: Michael Alberti was also one of the fathers of forensic medicine in Germany).18 Nevertheless, it would not be legiti-

15 16 17 18

See Georg Ernst Stahl, De mixti et vivi corporis vera diversitate, 88. See de Ceglia, I fari di Halle, 161–186. See, for instance, Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung. See Michael Alberti, Specimen medicinae theologicae (Halle: 1726); cf. Wolfram Kaiser and Arina Völker, Michael Alberti (1682–1757) (Halle: Univ. Halle-Wittenberg, 1982); Andreas Rydberg, “Michael Alberti and the Medical Therapy of the Internal Senses”, in Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, 74 (2019): 245-266.

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mate to take the disciples’ words for those of the master, as some historians have done. Stahl was a physician, not a philosopher, much less a theologian. His religious sentiment was an intimately lived one, but was not used as a linchpin in his medical theories. In looking for a single switchboard for all vital algorithms, he realized that the soul could fill this role. Its identification as the vital principle thus derived from a specific requirement of his physiology, perhaps originally of his natural philosophy. It cannot be denied that a pietist Weltanschauung influenced his ideas to a certain extent. It seems, however, that this religious fervor was more responsible for the spread of animism than for its elaboration.19 Whatever you think of it, Stahl’s medicine was a watershed, because it attracted, more or less faithfully and more or less critically: 1) the vitalist schools, especially that of Montpellier, in the late 18th century, and of Paris, at the beginning of the 19th century, which saw in Stahl the first person who, although he offered an answer that was inadequate for them, had identified the limits of a purely chemical and physical study of the human body.20 Actually, Stahl’s position was far from that of the vitalists; indeed, he never speaks of the life of the body, but rather of life in the body. Matter, which is merely passive, is not living but it is vivified; it is the instrument and host of life. Life, which some consider “materiarum aut in materiis,” for Stahl carries out its task “in materias;”21 2) the schools of “psycho-medicine” of the late 18th and early 19th centuries, in this case especially German, which recognized in Stahl a special attention to psychosomatic problems or at least tending toward the establishment of a medicine that looked at the phenomena of body and soul in an integrated manner (think, for example, of Johann August Unzer, who studied in Halle, but did not teach there, or Ernst Platner, who, in truth, evoked a tradition broader than a narrowly Stahlian one; and this is, because in the second half of the 18th century the legacies of Stahl and Hoffmann seemed to merge in supporting a kind of integration between mind and body).22

19

20 21 22

See Francesco Paolo de Ceglia, “Soul Power. Georg Ernst Stahl and the Debate on Generation,” in The Problem of Animal Generation in Modern Philosophy, edited by Justin E. H. Smith (Cambridge: 2006), 262–284. See Elizabeth A. Williams, A Cultural History of Medical Vitalism in Enlightenment Montpellier (Aldershot-Burlington VT: 2003), 105–106. Georg Ernst Stahl, Theoria medica vera, 383. See Johanna Geyer-Kordesch, “Psychomedizin: Die Entwicklung von Medizin und Naturanschauung in der Frühaufklärung,” in Vernünftige Arzte: Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, edited by Carsten Zelle (Tübingen: 2001), 25–47; Jürgen Helm, “Das Medizinkonzept Georg Ernst Stahls und seine Rezeption im Halleschen Pietismus und in der Zeit der Romantik,” in Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000): 167–190.

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Francesco Paolo de Ceglia

Hoffmann, the man of many ideas So far, I have spent much time talking about Stahl and that’s because he really was discussed extensively, if only to criticize him. At the end of the day, his idea was simple: everything depends on the soul. This made him instantly recognizable on the international medical landscape. When one said “animism” one thought of Stahl. Tout simplement. Hoffmann’s medical system, instead, was much more complex and could not be summed up in a single concept.23 Among other things, he, unlike Stahl, changed some of its positions over the years. This made him relatively less recognizable on the international scene. Esteemed by all, yes, but not identifiable with a specific idea or innovation that was the banner of his work. But people kept talking about him too, for over a century and not in purely historical terms, but for some of his contributions that were long considered to be valid.24 In a nutshell, we can say that Hoffmann, after a youthful passion for iatrochemistry, was a “sophisticated” iatromechanic, so to speak. I will soon explain why I say “sophisticated.” Nevertheless, he embraced those areas of research that Stahl condemned in the same period; and this, setting aside personal reasons, says much about the origins of the disagreements between them. He, too, addressed the problem of how material could explain life, and he found a solution that was inspired by the philosophy of Leibniz, with whom he was on good terms, and especially by the studies on air by Robert Boyle, who he knew personally.25 In summary, in air there is an active principle, connected to the ether, which enters the body through the act of breathing; it is then somehow reworked by the lungs, then by the brain and from there, through the nerves, in the form of nervous liquid, goes on to vitalize the entire human body. Therefore, what gives life to the dead matter is not the soul, as Stahl claimed, but the ethereal substance in the nervous liquid — which, to be honest, seems an ad hoc solution, to some extent metaphysical, no less than the soul proposed by Stahl).26 From this point of view, Hoffmann’s innovation, whether right or wrong, consisted in creating a physiological variation of British experimental science. Compared to Stahl, he was much more open to the novelties that the experimental sci23 24 25

26

Cf. François Duchesneau, La physiologie des Lumières. Empirisme, modèles et théories (Den Haag et al.: 1982), 1–64; de Ceglia, I fari di Halle, 269–398. For instance, François Joseph Victor Broussais, Examen des doctrines médicales et des systèmes de nosologie, 2 vols. (Paris: 1829), vol. I, 55. Hoffmann met Boyle in 1684, cf. Robert Boyle, The Correspondence of Robert Boyle, edited by Michael Hunter, Antonio Clericuzio and Lawrence Principe, 6 vols. (London: 2001), vol. VI, 91. Hoffmann published (a part of) his correspondence with Leibniz in the appendix to his Exercitatio de optima philosophandi ratione, Geneva 1749–1753, (Halle: 1741), reprint in Friedrich Hoffmann, Operum omnium physico-medicorum supplementum, 5 vols. Supplementum primum, Pars prima, 49–56. On the importance of Boyle and Leibniz in the shaping of his system, see de Ceglia, I fari di Halle, 269–348. Cf. for instance, Johann Hermann Baas, Grundriß der Geschichte der Medicin (Stuttgart: 1876), 482.

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ences were offering between the 17th and 18th centuries, although often in his own work he would rhetorically pass off his original contributions as positions that, upon examination, could already be found in Hippocrates. Actually assigning a bit of everything to the father of medicine is a topos, with the aim to reassure others and to ennoble oneself that recurs at least until the 19th century. Hoffmann was deeply influenced by iatromechanics, but understood the limits of the reductionism to which it could lead. And that’s why I call him a “sophisticated iatromechanic:” he considered the body to be a great machine, but did not think of reducing organic life to the functioning of pumps or pulleys, introducing the concept of an ethereal substance instead which acts, even though Hoffmann was always very evasive on the subject, in teleological terms. Throughout Europe between the 18th and 19th centuries many also made reference to the cultural heritage of Hoffmann: for instance, John Brown, with his theory of sthenic and asthenic states; François-J.-V. Broussais, with the theory of irritation as a cause of disease; Giovanni Rasori, with the doctrine of stimulus and contrastimulus. However, the impression is that, unlike Stahl, Hoffmann was not appreciated so much, at least in Germany, for his theoretical approach, which at one point seemed to merge with that of Boerhaave, but for his specific therapeutic suggestions (think of Medicina consultatoria, consultions on individual cases).27 First, those concerning mineral waters, he advised both to drink them and to use them in balneotherapy. He appreciated in particular those of Carlsbad (Karlovy Vary), which he made famous with his writings, but he also conducted research on the waters of Aachen, Andernach, Bibra, Egra, Epson, Herrnhausen, Lauchstädt, Pyrmont, Schwalbach, Selters, Spaa, Teplitz (Teplice), Wiesbaden and Wildungen.28 As a matter of fact, Hoffmann considered water to be a “universal medicine.”29 And that made sense in his physiological theory, because, according to him, water was full of the ethereal component which was also the basis of nervous liquid (responsible, as has been said, for all motion and basically the life of the organism). So, water could in some way act on the nervous liquid and, consequently, on the entire physiological dimension. The fact remains that even when Hoffmann’s doctrine was abandoned, doctors and politicians continued to refer to his

27

28 29

See Friedrich Hoffmann, Medicina consultatoria: Worinnen Unterschiedliche über einige schwehre Casus ausgearbeitete Consilia, auch Responsa Facultatis Medicae enthalten […], 12 vols. (Halle: 1721–1739); cf. Carsten Zelle, “Experiment, Observation, Self-Observation: Empiricism and the ‘Reasonable Physicians’ of the Early Enlightenment,” in Early Science and Medicine 18 (2013): 453–470. See, for instance, Friedrich Hoffmann, De thermis Carolinis (Halle: 1695), reprint in Opera omnia, 6 vols. (Genève: 1740), vol. V, 170–185. Friedrich Hoffmann, De aqua medicina universali (Halle: 1712), reprint in Opera omnia, vol. V, 201–207.

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Francesco Paolo de Ceglia

studies on waters, if only to give support to what was shaping up as a proto-health tourism in places where such springs were found.30 But, in the meantime, the figure of the hygienist had appeared, namely the doctor who was not concerned with the individual patient, as doctors had always been, but with an entire community, such as the inhabitants of a city (who lived in the same climatic conditions and ate more or less the same foods), or the members of a specific professional category. The role of hygienist was, in fact, created in the middle of the 18th century, acquiring pouvoir social, to quote Foucault, only in the 19th century. Hoffmann does not belong to the category of hygienists, but it can be said that his studies — his attention to the climates, the dietary habits of the various regions, to some occupational diseases — make him one of the first on German soil to have had, notwithstanding a somewhat Hippocratic perspective, a sensitivity to sanitary issues and occupational health that would only be fully established in the second half of the century.31 Stahl’s therapy was minimalist: he believed that a doctor should basically employ a bit of bloodletting and balsamic pills made from aloe with a soothing effect. For the rest, a doctor mostly had to wait until things resolved by themselves: until the soul, or the autonomous capacity of the organism, overcame the disease.32 Hoffmann was far more decisive in the preparation of medicines, even in his youth he promoted remedies made from mercury, which he distanced himself from later.33 Nevertheless, his pharmacopoeia had great success everywhere. And this also thanks to the patient work of the Waisenhausapotheke of Franckesche Stiftungen, which, despite being, at least in the early years, run by followers of Stahl, produced and, through a Medicamenten-Expedition system, also sold numerous preparations that were invented (or reworked) by Hoffmann, not only in Europe, but, as has been thoroughly studied by Renate Wilson, even in North America.34 And this commercial aspect, in some way connected to the medical faculty, should also be considered innovative, though not exclusive. Among Hoffmann’s medicines we can remember, first of all, an excellent antispasmodic, “the anodyne mineral liquor” or “ethereal spirit”, i. e. Hoffmannsche Tropfen.35 But also a famous “balm of life:” actually a mixture of oils of lavender, clove, cinnamon, lemon peel, mace

30 31 32 33

34 35

Cf. August Vetter, Theoretischpraktisches Handbuch der Heilquellenlehre (Berlin, Wien: 1838). See Friedrich Hoffmann, De morbis certis regionibus et populis propriis (Halle: 1705), reprint in Opera omnia, vol. VI, 202–209. See Stahl, Paraenesis, 12. See Friedrich Hoffmann, De cinnabari antimonii (Jena: 1681), reprint in 1685, 1689, 1729 and 1746 in Operum omnium physico-medicorum supplementum, Supplementum primum, Pars secunda, 127–142. See Renate Wilson, Pious Traders in Medicine: A German Pharmaceutical Network in Eighteenth Century North America (New York: 2000). Friedrich von Gizycki, “Liquor anodynus mineralis, Äther und Hoffmannstropfen,“ in Die Pharmazie 7 (1952): 303–310.

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(nutmeg), marjoram, rue, orange blossom, along with Peruvian balsam (obtained from the Myroxylon pereirae) and French wine spirit. It would be mentioned in all 18th century pharmaceutical formularies.36

Conclusion Hoffmann and Stahl were just two of the many professors of medicine in Halle who animated the cultural debate of the university town during the 18th century. What I wanted to highlight is the imprinting given by both of them, who, each in his own way, introduced important innovations in the medical field, contributing to the transition from the 17th-century approach, which they had studied in Jena, to more exquisitely 18th-century solutions: the one with animism and the other with sophisticated iatromechanics. The fact that at least some of their works were translated into the major European languages is a measure of the spread of these two new orientations that were alternative to each other for a long time, a bit everywhere, but especially in Halle. Nevertheless, somehow they seemed to merge in the second half of the 18th century and even more so at the beginning of the 19th century, when Stahl’s doctrine was adopted as the theoretical foundation of the holistic mind-body approach suggested by Psychomedizin (to some extent a forefather of modern psychiatry), but, at the same time, giving the nervous system central importance in the manner of Hoffmann.37 Since by then, the strength of the soul was expressed through the nerves. But that's another story.

36 37

Pharmacopoea Borussica (Berlin: 1827), 200–201. See Kurt Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, 5 vols. (Halle: 1803), vol. 3–79.

FRANK GRUNERT

Die Historia literaria als Lehrfach an der Fridericiana Die Historia literaria des 17. und des 18. Jahrhunderts ist als wissenschaftsgeschichtliches Phänomen längst keine unbekannte Größe mehr. Eine ganze Reihe von Einzelpublikationen haben sich in den letzten zwei Dezennien der Gelehrsamkeitsgeschichte angenommen und versucht, ihre inhaltlichen, formalen und pragmatischen Qualitäten zu beschreiben.1 Angesichts ihrer Vielgestaltigkeit und der Dynamik ihrer eigenen Geschichte ist die Erforschung der Historia literaria kein leichtes Unternehmen, das sich rasch realisieren ließe. Vor allem wenn man beginnt, die Historia literaria in bestimmte Problemhorizonte einzubinden und von hier aus zu befragen, ergeben sich ganz neue, das ohnehin komplexe Bild nur langsam vervollständigende Perspektiven. Die Fokussierung auf die Verhältnisse an einer bestimmten Universität ist – wie die bisher vorliegenden Studien zur Lehre der Historia literaria an den Universitäten Helmstedt2 und Königsberg3 eindrucks-

1

2

Vgl. etwa: Helmut Zedelmaier: ›Historia literaria‹. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 22.1 (1998), S. 11–21; Martin Gierl: Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich. Zur Entwicklung der ›Historia literaria‹ im 18. Jahrhundert. In: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag. Göttingen 1992, S. 53–80; Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 2007; Tilo Werner: [Art.] Historia literaria. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 10. Nachträge A–Z. Berlin, Boston 2012, Sp. 361–365. Hanspeter Marti: § 62. Litterärgeschichte (historia litteraria). In: Helmut Holzhey u. Vilem Mudroch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 5. Basel 2014 (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg), S. 1425– 1429; Frank Grunert u. Anette Syndikus: Historia literaria. Erschließung, Speicherung und Vermittlung von Wissen. In: Dies. (Hg.): Wissensspeicher der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Berlin 2015, S. 243–293; Hanspeter Marti: Die historia literaria im akademischen Unterricht am Beispiel philosophischer Disputationsschriften. In: Marion Grindhart, Hanspeter Marti und Robert Seidel (Hg.): Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens. Köln, Weimar, Wien 2016, S. 311-342. Siehe auch die unlängst erschienenen Einzelstudien zu Heumann und zu Gundling: Helmut Zedelmaier: Heumanns Conspectus Reipublicae Literariae. Besonderheit, Kontext, Grenzen. In: Martin Mulsow, Kasper Risbjerg Eskildsen u. Helmut Zedelmaier (Hg.): Christoph August Heumann (1684–1764). Gelehrte Praxis zwischen christlichem Humanismus und Aufklärung. Stuttgart 2017, S. 71–92; Sebastian Kaufmann: Gelehrsamkeit als Grundlage aller Wissenschaft. Gundlings Kurtzer Entwurff eines Collegii über die Historiam Literariam vor die Studiosos Juris (1703) sowie Olaf Simons: Mit der Nase zu lesendes Repräsentationsprojekt? Erwägungen zu Gundlings Vollständiger Historie der Gelahrheit (1734–1736), beides in: Ralph Häfner u. Michael Multhammer (Hg.): Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) im Kontext der Frühaufklärung. Heidelberg 2018, S. 145–163 und S. 113–143. Paul Nelles: Historia litteraria at Helmstedt: Books, professors and students in the early Enlightenment university. In: Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001, S. 147–176.

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voll demonstrieren – deswegen hilfreich, weil Form, Inhalt und Stellenwert der Gelehrsamkeitsgeschichte aus der Pragmatik eines konkreten Lehrzusammenhangs und mit Blick auf die expliziten Ansprüche der jeweiligen Akteure konturiert werden können. Im günstigsten Fall führen derlei Detailstudien zu aussagekräftigen Befunden, die sowohl die Historia literaria in der Lehre als auch die dabei in den Blick genommenen Institutionen betreffen. Die Konzentration auf die Gelehrsamkeitsgeschichte als Lehrfach in den ersten Dezennien der Universität Halle in Kombination mit der Frage, ob und inwieweit die Fridericiana als eine Universität gelten kann, die innovative Ansprüche erhob oder – ohne sie ausdrücklich zu erheben – faktisch austrug, macht die Untersuchung von zwei miteinander verbundenen Aspekten erforderlich: Zum einen muss ermittelt werden, ob und inwiefern die Gelehrsamkeitsgeschichte ihrem eigenen Selbstverständnis nach grundsätzlich als ein Motor oder wenigstens als ein Mittel der Innovation angesehen wurde. Und zum anderen stellt sich die Frage, ob, wie und inwieweit dieses Selbstverständnis – wenn es denn gegeben war – an der Universität Halle in ihrer Anfangsphase zum Tragen kam, so dass die Historia literaria als Lehrfach als ein innovatives Phänomen aufgefasst und daher als ein Zeichen für Innovationstätigkeit der Fridericiana interpretiert werden kann. Mit Blick auf die Geschichte und die Vorgeschichte der sich erst um 1700 entfaltenden Historia literaria ist dabei selbstverständlich klar, dass sie als Textgattung und als Gegenstand des akademischen Unterrichts nicht plötzlich in Halle erfunden worden ist. Fragen der Erschließung, Speicherung und Vermittlung von Wissen standen seit je auf der gelehrten Tagesordnung.4 In der frühen Neuzeit waren es Autoren wie Conrad Gesner und Christophorus Mylius, die sich schon im 16. Jahrhundert um die bibliographische Erfassung und Ordnung des Wissens verdient gemacht hatten. Und als „Initialzündung“5 für die Entstehung und Entwicklung der Historia literaria – übrigens auch in der Wahrnehmung der gelehrsamkeitsgeschichtlichen Kompendien des 18. Jahrhunderts – gilt ein Vorschlag, den Francis Bacon zunächst 1605 in The twoo bookes of the proficience and advancement of learning machte und dann in De dignitate et augmentis scientiarum (1625) ausarbeitete. In Ergänzung zur Kirchengeschichte und zur weltlichen Geschichte trat er für eine Historia literarum ein, die die „doctrinae et artes“ von ihren Anfängen in alter Zeit, ihre Fortschritte und geographische Wanderungen, bis hin zu ihren Niedergängen und ihrer schließlichen Wiederaufnahme nachvollziehen sollte.6 Der 3

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Anette Syndikus: Historia literaria als Propädeutikum an der Königsberger Universität des 18. Jahrhunderts. In: Hanspeter Marti u. Manfred Komorowski (Hg.): Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Köln, Wien, Weimar 2008, S. 379–422. Siehe zur Vorgeschichte der aufklärerischen Historia literaria: Anette Syndikus: Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jahrhundert. In: Grunert u. Vollhardt (Hg.): Historia literaria (wie Anm. 1), S. 3–36. Syndikus: Die Anfänge der Historia literaria (wie Anm. 4), S. 6. Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. In: James Spedding et al. (eds.): The Works of Francis Bacon. Vol. 1. London 1858, p. 504.

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Begriff „Historia literaria“ taucht als titelgebende Gattungsbezeichnung erst 1659 in Peter Lambecks Prodromus historiae literariae auf. Das Werk des späteren Präfekten der Wiener Hofbibliothek trägt trotz der Handhabung wichtiger Ordnungskategorien – wie historische Vollständigkeit, Chronologie und disziplinäre Anordnung – noch „alle Anzeichen des Vorläufigen“,7 denn Lambeck gelingt es nicht, die anvisierte Ordnung tatsächlich zu realisieren. Erst der 1688 erschienene und später mehrfach aufgelegte Polyhistor von Daniel Georg Morhof8 reicht an die in der Aufklärung kultivierte Form der Historia literaria heran. Morhof selbst hatte nur die auf die Hilfswissenschaften konzentrierten Bücher 1 – „Bibliothecarius“ – und 2 – „Methodicus“ – erscheinen lassen können, die Bücher 3–7 in Tomus II und Tomus III sind später auf der Grundlage von Kollegheften posthum publiziert worden und gehen unter den Oberbegriffen Polyhistor Grammaticus, Philosophicus und Practicus auf alle einzelnen Disziplinen ein.9 Morhofs Polyhistor war im Augustheft der Monatsgespräche des Jahres 1688 von Christian Thomasius zunächst ausgesprochen positiv gewürdigt worden.10 Im Novemberheft desselben Jahres kam Thomasius aber noch einmal auf den Polyhistor zurück und kritisierte nun Morhofs Vorstellung von der Göttlichkeit des Wissens, seine einseitige Betonung der Wortgelehrsamkeit und dem damit verbundenen Vorrang der „verba“ vor den „res“ sowie – und zwar mit Blick auf die wissenschaftliche Freiheit – Morhofs nach wie vor bestehende Orientierung an Aristoteles.11 Bei aller Wertschätzung für das bei Morhof sich schon 1688 deutlich abzeichnende historisch-literarische Projekt war die theoretische Rahmung und die damit verbundene Perspektive für Thomasius kaum akzeptabel. Seine im Umfeld der Morhof-Besprechung geäußerte Hoffnung, es möge in Zukunft ein „gelehrter Mann von ieder Facultät“, die „Historiam literariam de ortu et progressu von ieder Facultaet und von denen [darin]

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11

Syndikus: Die Anfänge der Historia literaria (wie Anm. 4), S. 21. Daniel Georg Morhof: Polyhistor sive notitia auctorum et rerum commentarii. Lubecae 1688. Vgl. dazu Franҫoise Waquet (ed.): Mapping the World of Learning: The „Polyhistor“ of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000. Vgl. Daniel Morhofi Polyhistoris continuatio, continens quatuor posterioris Tom. Liter. Libros, a Viro in Acad. Lipsiensi Erudito revisos atque auctos, nec non Tomum Philosophicum & Practicum, Opus Posthumum a Johanne Möllero […] accurate revisum, emendatum. Lubecae 1708. [Christian Thomasius:] Schertz- und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen. Achter Monat oder Augustus in einem Gespräch vorgestellet. Halle 1688. ND: Ders.: Ausgewählte Werke. Band 5.2. Hildesheim, Zürich, New York 2015, S. 287f. [Christian Thomasius:] Schertz- und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen. Eilffter Monat oder November. In einem Gespräch vorgestellet. Halle 1688. ND: Ders.: Ausgewählte Werke. Band 5.2. Hildesheim, Zürich, New York 2015, S. 583ff. Siehe dazu: Martin Gierl: In die „Löcher“ „unbedingter Freyheit“ gestopft: Daniel Georg Morhof und sein „Polyhistor“ in den Zeitschriften der deutschen Frühaufklärung. In: Waquet (ed.): Mapping the World of Learning (wie Anm. 8), p. 255–285, zu Thomasius: p. 267–280.

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berühmten Scribenten“12 ausarbeiten, dürfte dazu beigetragen haben, die Historia literaria später zu einem Bestandteil des universitären Lehrangebots in Halle zu machen. Wobei schon 1688 klar war, dass Thomasius in theoretischer Hinsicht neue Akzente für wichtig hielt, Morhof war – bei aller „verwundersamen Gelehrsamkeit“13 – in Thomasius’ Wahrnehmung noch ein Exponent der voraufklärerischen Erudition. Im Folgenden soll das oben bereits angedeutete Arbeitsprogramm in drei Schritten abgearbeitet werden: Zunächst geht es um die Historia literaria allgemein und um programmatische Selbstaussagen, die die Litterärgeschichte als Medium von Innovation sichtbar machen. Danach soll auf der Basis des Codex lectionum ein kurzer, die ersten Dezennien umfassender Überblick über die Lehre der Historia literaria an der Universität Halle geboten werden, um schließlich in einem dritten Schritt auf der Grundlage der für diese Lehre erarbeiteten Texte die Lehrinhalte und die damit verbundenen Intentionen in den Blick zu nehmen. Am Ende sollte eine Antwort auf die oben gestellte Frage nach der Innovativität der Fridericiana im Hinblick auf die Gelehrsamkeitsgeschichte möglich sein.

I. „De ortu et progressu studiorum literariorum“ Die klassische Formulierung dessen, was die Historia literaria zu leisten hat, findet sich bekanntlich im ersten Paragraphen des ersten Kapitels von Christoph August Heumanns Conspectus Reipublicae Literaria sive Via ad Historiam Literariam, und damit in einem Kompendium, das 1718 zum ersten Mal publiziert wurde und ganz sicher als epochal bezeichnet werden kann. Denn Heumanns Conspectus wurde nicht nur während des gesamten 18. Jahrhunderts in immer wieder neuen und zudem erweiterten Auflagen gedruckt – 1791 erschien posthum die achte Auflage –, sondern der Conspectus wurde auch von Zeitgenossen als eine gültige, zumindest aber wegweisende Realisierung eines litterärgeschichtlichen Kompendiums angesehen und deswegen vielfach als Grundlage von gelehrsamkeitsgeschichtlichen Vorlesungen und zur Ausarbeitung eigener Lehrwerke herangezogen; mit Blick auf die besonderen Verhältnisse in Halle wird darauf zurückzukommen sein. Heumann hält gleich zu Beginn seines Buches definierend fest: „Historia literaria est Historia literarum et literatorum, sive narratio de ortu et progressu studiorum literariorum ad nostram usque aetatem“.14 12

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[Christian Thomasius:] Schertz- und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen. Achter Monat oder Augustus in einem Gespräch vorgestellet (wie Anm. 10), S. 269. Ebd., S. 269. Christoph August Heumann: Conspectus Reipublicae Literariae sive ad Historiam Literariam iuventuti studiosae aperta. Editio tertia locupletior. Hannover 1733, S. 1. Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich bereits in: Daniel Georg Morhof: Polyhistor (wie Anm. 8), S. 9. Siehe zu Heumanns Conspectus Sicco Lehmann-Brauns: Neukonturierung und methodologische

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Die Formulierung, die sich ganz ähnlich allenthalben findet – Stolle spricht vom „merckwürdigen“, was die „Gelehrten in Ansehen der Gelahrheit überhaupt, und der dazugehörigen Künste und Wissenschafften insonderheit […] gethan haben“15 – zielt zunächst und ganz offenkundig auf die wie auch immer zu bewerkstelligende Vergegenwärtigung des in der gelehrten Welt einmal Hervorgebrachten. Es geht um die Erschließung des Vielen, um die Handhabbarmachung des Diffusen durch die Selektion des Wichtigen und damit um eine Orientierung der Orientierungsbedürftigen; in der Regel ist dies die studierende Jugend, aber auch Nichtfachleute im weiten Sinn, d.h. Fachgelehrte anderer Disziplinen oder Nichtakademiker – Gelehrsamkeitsvirtuosen genauso gut wie Gelehrsamkeitsamateure – gehören dazu.16 Diese orientierende Funktion hat Jakob Friedrich Reimmann neben anderen Momenten der Gelehrsamkeitsgeschichte mit einer Folge von aufschlussreichen Frontispizien illustriert. Der Titelkupfer zu seinem Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam so wohl insgemein als auch in die Historiam Literariam derer Teutschen insonderheit stellt die Gelehrsamkeit als ein Labyrinth dar, in dem nur derjenige sich nicht verirrt, der dem durch die Historia literaria ausgelegten Faden folgt (s. Abb. 1). Ziel ist ein im Zentrum des Labyrinths befindlicher, kaum sichtbarer kleiner Baum, den der Betrachter mit dem arbor porphyriana bzw. dem arbor scientiae – einer etwa von Ramon Llul, Bacon und anderen bevorzugten Metapher für die Ordnung des Wissens17 – in Verbindung bringen könnte. Allerdings ist der offenbar noch junge Baum nicht gut als Sinnbild für eine bereits entfaltete und verzweigte Ordnung des Wissens geeignet. Die Position des Baumes in der Mitte des Labyrinths könnte daher nahelegen, ihn als biblischen Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu interpretieren. Denn dieser stand nach 1. Mose 3, 2 inmitten des paradiesischen Gartens, und der Genuss seiner Früchte sollte – nach der Verheißung der Schlange – Adam und Eva die Augen öffnen und ihnen die Kenntnis des Guten und Bösen verschaffen. Ein solches, dem Faden entlang zu erreichendes, Ziel könnte die besondere Attraktivität der Gelehrsamkeitsgeschichte begründen, dies freilich unter der postparadiesischen Voraussetzung, dass Erkenntnis nicht verboten, sondern im Gegenteil ein Mittel wäre, die

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Reflexion der Wissenschaftsgeschichte. Heumanns Conspectus reipublicae literariae als Lehrbuch der aufgeklärten Historia literaria. In: Grunert u. Vollhardt (Hg.): Historia literaria (wie Anm. 1), S. 129–160. Sowie: Helmut Zedelmaier: Heumanns Conspectus Reipublicae Literariae. Besonderheit, Kontext, Grenzen (wie Anm. 1), S. 71–92. Gottlieb Stolle: Anleitung zur Historie der Gelahrheit. Jena 1718. Hier zitiert nach der 4. Auflage Jena 1736, S. 3. Siehe zu Funktion und Adressaten der Historia literaria: Grunert u. Syndikus: Historia literaria (wie Anm. 1), bes. S. 263–271, sowie Frank Grunert: »viel Tausend und Millionen Bücher«. Zur Bewältigung und zur Hervorbringung von Wissenspluralität in der frühneuzeitlichen ›Historia literaria‹. In: Jan-Dirk Müller, Wulf Österreicher u. Friedrich Vollhardt (Hg.), Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Berlin u. New York 2010, S. 191–201. Vgl. dazu Steffen Siegel: Wissen, das auf Bäumen wächst. Das Baumdiagramm als epistemologisches Dingsymbol im 16. Jahrhundert. In: Frühneuzeit-Info 15 (2004), S. 42–55.

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Frank Grunert

Folgen des Sündenfalls zu erleichtern. Die mangelnde Größe des Baumes und seiner Früchte ließe sich als Hinweis darauf deuten, dass eine Kompensation der Vertreibung aus dem Paradies nicht wirklich gelingen kann. Wenn auch die Historia literaria dabei behilflich sein könnte, die von der Schlange verheißene Klugheit zu erwerben und zu nutzen, so kann (und darf) eine Umkehrung des Sündenfalls damit natürlich nicht gelingen. Wie auch immer der Baum interpretiert werden mag, klar ist, dass hier die Historia literaria in ihrer orientierenden Funktion dargestellt wird, daher ist fraglich, ob sie nach der hier bildlich gebotenen Vorstellung einen Anteil an diesem Wachstum haben kann. Die Geschichte der Gelehrsamkeit hat hier zwar ein Ziel, ist jedoch nicht mit einer qualitativen Entwicklung oder einer Komplexitätssteigerung verbunden. Das Material ist das Gegebene, es wird sortiert, aber nicht produktiv für die Konstruktion von etwas Neuem eingesetzt, das bisher noch nicht Teil der Gelehrsamkeit ist.

Abb. 1: „Hoc duce – dem Faden nach“18

18

Frontispiz zu: Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam so wohl insgemein als auch in die Historiam Literariam derer Teutschen insonderheit. Halle 1708.

Die Historia literaria als Lehrfach an der Fridericiana

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Eine produktive Richtung der Gelehrsamkeitsgeschichte als Erkenntnisvoraussetzung von Neuem lässt auch ein weiteres von Reimmann verwendetes Frontispiz noch nicht erkennen (s. Abb. 2). Die Historia literaria versorgt alle – im Bild sogar Tiere – mit dem Lebensnotwendigen und ist daher nützlich für jeden. Weil die städtische Szenerie von Reichtum und Kultur zeugt und das Wasser des Brunnens über Rinnsale oder mit Hilfe von Behältern auch die abgebildeten Gebäude erreicht, darf man annehmen, dass die baulich dargestellten kulturellen Leistungen direkt von dem Überfluss des Brunnens abhängen. Dem Kupfer fehlt gleichwohl eine qualitative, auf Innovation hindeutende und eine temporale Dimension.

Abb. 2: „Nicht nur vor einen Mund“19 19

Frontispiz zu: Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam derer Teutschen insonderheit. Und zwar des dritten und letzten Theils drittes Hauptstück. Halle 1710.

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Frank Grunert

Was der Abbildung 2 fehlt, findet sich in einem dritten Frontispiz (s. Abb. 3): Hier wird ganz deutlich eine Entwicklung vorgeführt, die als Addition zu etwas bereits Gegebenem konzipiert wird. Das oben abgebildete Gebäude ist keine neue Erfindung, sondern liegt auf einer durch Ausbau und Verbesserung gekennzeichneten fortschreitenden Entwicklungslinie, die ihren Ausgang von dem unten dargestellten Haus nimmt. Die Entwicklung als Addition verfügt daher mindestens implizit über einen temporalen, vor allem aber über einen qualitativen Faktor, denn die Entwicklungsschritte sind eine Verbesserung, die auch räumlich durch eine Schichtung als Steigerung dargestellt wird. Indem vorgeführt wird, dass auf der Basis der von der Historia literaria vermittelten Gelehrsamkeit die produktive Verbesserung des Gegebenen möglich wird, funktioniert das Programm als eine pädagogische Aufmunterung.

Abb. 3: „Inventis facile est addere”20

Die qualitative Steigerung und die Temporalität werden in einem weiteren, hier nun letzten Frontispiz weitaus komplexer ausgeführt und mit Entschiedenheit 20

Frontispiz zu: Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam derer Teutschen, und zwar des dritten und letzten Theils viertes und letztes Hauptstück. Halle 1713.

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akzentuiert (s. Abb. 4). Die räumliche Aufteilung des Bildes illustriert nicht nur sachliche Entgegensetzungen auf einer synchronen Ebene: ad rastra vs. ad astra, Torheit vs. Weisheit, Philologie und Philosophie vs. Philosophia scholastica und Critica literalis, Kultur vs. Wüstenei und Zerfall, sondern auch auf einer diachronen Ebene. Denn die Ruinen im rechten Teil des Bildes sind Bauwerke vergangener Jahrhunderte, die Burg im Hintergrund ist sogar typisch für das Mittelalter, dagegen finden sich links moderne Gebäude in einem hochkultivierten Umfeld.

Abb. 4: „Ad astra – ad rastra”21

Insofern verfügt der Titelkupfer sowohl über einen temporalen Index als auch über eine damit verbundene entschieden qualitative Aussage: Der schlechten Vergangenheit wird die bessere Gegenwart gegenübergestellt, die eben nicht zuletzt mit 21

Frontispiz zu: Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam derer Teutschen. Und zwar des dritten und letzten Theils anderes Hauptstück. Halle 1710.

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Frank Grunert

Hilfe der Historia literaria erreicht wird. Verknüpft wird dies mit einer im weiteren Sinne geschichtsphilosophischen Behauptung: Indem die Historia literaria die Fackel voranträgt,22 wird deutlich, dass die Geschichte der Gelehrsamkeit nicht eine geschichtliche Entwicklung ex post dokumentiert, sondern sie aktiv vorantreibt. Weil die Torheit dank der Historia literaria chancenlos bleibt, ist die Gelehrsamkeit eine Fortschrittsgeschichte, deren Motor ihre Geschichtsschreibung ist, und zwar – wie die Bewegung im Bild demonstriert – über die Gegenwart hinaus. Weil der Gebrauch oder Nicht-Gebrauch der Historia literaria hier zudem die Richtung weist – nämlich ad astra oder zurück ad rastra – ist die Darstellung – wie Olaf Simons zurecht betont23 – mit einer Warnung verbunden: Den Weg zu den Sternen weist nur die Historia literaria, ohne diese droht die Rückkehr in die Wüstenei. Die von Reimmann entfaltete Ikonographie ist nicht das Ergebnis einer sich fortschreitend entwickelnden Einsicht von einer eher statischen zu einer dynamischen Funktionalität der Historia literaria, sondern sie versammelt Aspekte oder Dimensionen der Gelehrsamkeitsgeschichte, die Reimmann gleichzeitig für gegeben hält. Die bildliche Realisierung dieser mit Blick auf die Historia literaria erhobenen programmatischen Ansprüche findet sich bei anderen Autoren nicht, wohl aber ihre sachliche oder begriffliche Realisierung. Gerade die mit dem letzten Frontispiz vorgeführte Vorstellung von der nicht nur bewahrenden, sondern explizit produktiven, d.h. Produktivität ermöglichenden oder befördernden Funktion der Historia literaria wird häufiger propagiert, wenn auch nicht in der pointierten Form, mit der Francis Bacon bereits 1605 bzw. 1623 dafür eingetreten ist, die Gelehrsamkeitsgeschichte als Medium für die Konstruktion des Neuen zu kultivieren.24 Zumindest einem Teil der deutschen Litterärhistoriker war aber die Vorstellung einer wissenschaftlichen Fortentwicklung im Sinne einer quantitativen Verbreiterung und einer qualitativen Verbesserung des Wissens geläufig. Diese Vorstellung von Veränderung realisiert sich nicht nur retrospektiv, als ein in der Vergangenheit sich vollziehender und von der Historia literaria protokollierter Vorgang, sondern auch prospektiv als eine für die Zukunft zu erwartende Entwicklung, die von der Gelehrsamkeitsgeschichte insofern unterstützt und befeuert wird, als sie der Gelehrsamkeit sowohl die Grundlagen als auch die Mittel und die Materialien für ihre weitere Entwicklung liefert. Dies wird allerdings meist nur beiläufig und mit Blick auf die Leistung des einzelnen Gelehrten deutlich, dessen Möglichkeit, etwas Neues zu schaffen, mit der litterärhistorisch vermittelten Kenntnis des

22

23 24

Zur Beschreibung des Frontispizes und zur Bedeutung der Fackel im Kontext der Ikonographie der Aufklärung vgl. Daniel Fulda: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“. Eine deutsch-französische Bild-Geschichte. Halle 2017, S. 60–64. Simons: Mit der Nase zu lesendes Repräsentationsprojekt? Erwägungen zu Gundlings Vollständiger Historie der Gelahrheit (1734–1736) (wie Anm. 1), S. 117f. Vgl. Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum (wie Anm. 6) p. 504. Sowie die ebenfalls programmatischen Ausführungen in: Ders.: The New Atlantis. In: James Spedding et al. (eds.): The Works of Francis Bacon. Bd. 3. London 1858, p. 164f.

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Gewesenen bzw. des Gegebenen in eine direkte Verbindung gebracht wird. So hebt beispielsweise Johann Andreas Fabricius in seinem Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit als besonderen Nutzen der Historia literaria hervor, dass die durch die Gelehrsamkeitsgeschichte vermittelte bessere Kenntnis und Einsicht in „Facultäten und Wissenschaften“ darüber belehre, „was bereits erfunden worden“, „wie und von wem es erfunden sey“, was den Nutzer der Historia literaria „desto eher in den Stand“ versetze, es „in der Erfindungskunst weiter zu bringen“.25 In eine ähnliche Richtung zielt auch Philipp Ernst Bertram in seinem Entwurf einer Geschichte der Gelahrheit. Er sieht die Funktion der Historia literaria darin, den (angehenden) Gelehrten davor zu bewahren, „seinen schöpferischen Geist mit Erfindung von Wahrheiten [zu] ermüden, welche schon vor tausend und mehrern Jahren geschrieben sind“. Seine „schöpferischen Triebe“ könne er auf der Basis dessen, was er durch die Gelehrsamkeitsgeschichte lerne, besser auf die „unendlich viel[en] Wahrheiten“ richten, die noch zu erfinden und zu bestimmen seien.26 Demgegenüber scheint Nicolaus Hieronymus Gundling insofern eine in der Sache pointiertere Perspektive einzunehmen, als er ausdrücklich die Vorstellungen einer weitergehenden historisch dimensionierten wissenschaftlichen Entwicklung in seine Überlegungen miteinbezieht. Denn mit Bezug auf Leibniz ist er davon überzeugt, dass, „so lange die Welt stünde, […] immer neue Veritates und neue Inventa produciret werden […]. Wenn wir nämlich“ – so fährt Gundling fort – „nach 1000. Jahren, wieder, in diese Welt, kommen solten, so würden wir vielleicht observiren können, wie die Lufft-Schiffe im Schwange wären. Man wird noch Inventiones machen, daß die Leute können lauffen, wie die Hirsche“.27 Weil die neuen Erfindungen nicht nur aus neuen Prinzipien, sondern auch „ex detectione novarum Conclusionum“ entstehen,28 hat die Historia literaria an der solcherart zu erwartenden ‚Vermehrung der Wissenschaften‘ einen entscheidenden Anteil. Sie ist dabei „unentbehrlich“, weil sie den Zugang zu Büchern eröffnet, „vermittelst welcher man weiter gehen kann“. Diese lehren, „wie die Veritates entdecket worden“, und verschaffen dem Geist die zur eigenen Produktivität notwendigen 25 26

27

28

Johann Andreas Fabricius: Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. Band 1. Leipzig 1752. ND Hildesheim, New York 1978, S. 645, vgl. auch S. 636. Philipp Ernst Bertram: Entwurf einer Geschichte der Gelehrsamkeit. Für diejenigen, welche sich den schönen Wissenschaften, der Weltweisheit und der Rechtsgelehrsamkeit widmen. Erster Theil. Halle 1764, S. 6. Nicolaus Hieronymus Gundling: Vollständige Historie der Gelahrheit, Oder Ausführliche Discourse, So er in verschiedenen Collegiis Literariis, so wohl über seine eigenen Positiones, als auch vornehmlich über Herrn Tit. Inspectoris D. Christophori Augusti Heumanni Conspectum Reipublicae Literariae gehalten. Mit nöthigen Anmerckungen erläutert, ergänzet, und bis auf ietzige Zeiten fortgesetzet, samt einer ausführlichen Beschreibung des Lebens, aller und ieder Schrifften, Collegiorum, besonderer Meinungen und gehabter Controversien des seel. Herrn Geh. Rath Gundlings […]. Mit einer Vorrede von Johann Erhard Kapp: Wie man die Historia auf Schulen und Universitäten recht und pragmatisch zu treiben anfangen soll. 4 Theile. Franckfurt, Leipzig 1734–1746, hier: Theil 1, S. 26. Ebd.

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„Facta“, die durch den eigenen Verstand allein nicht zu „erdichten“ seien.29 Wer – so führt Gundling an anderer Stelle aus – „die Historiam Literariam studiret, der lernet auch viel Bücher kennen, an die er, seine Tage, nicht gedacht“ hat und kann auf diese Weise in Erfahrung bringen, ob dasjenige, „was er erdacht, wircklich was Neues sey, oder ob es schon Andere statuiret haben“.30 Die Historia literaria stellt vor allem deswegen einen – freilich mittelbaren – Motor der Innovation dar, weil die Kenntnis von Büchern die Produktion neuer Publikationen ermöglicht: „Weiß Einer aber Etwas, aus andern Büchern, so kann er facile aliquid addere. Und da entstehet denn ein neues Buch“,31 das rezipiert wird und daher im gelehrten Diskurs wiederum eine eigene Rolle spielen kann. Auch wenn hier eine Vorstellung von der weiteren und offenbar auch positiven Entwicklung der Gelehrsamkeit insgesamt greifbar ist, so wird eine moderne Vorstellung von wissenschaftlichem Fortschritt als einem subjektunabhängigen, auf Gesetzmäßigkeiten beruhenden Prozess noch nicht erreicht.32 Selbst in Fällen, in denen – wie bei Samuel Gottlieb Wald gegen Ende des Jahrhunderts – ausdrücklich von den „Fortschritten des menschlichen Verstandes und der Kultur einzelner Völker“ die Rede ist, ist zum einen unklar, ob dieser konstatierte Fortschritt auch für die Zukunft gilt, und zum anderen ist – zumindest bei Wald – bemerkenswert, dass Fortschritt nicht als eine selbstständige Kategorie in den Blick genommen, sondern als ein von der Historia literaria vorgeführter Ausweis der „weisen Fürsehung Gottes“ religiös eingebunden wird.33

II. Die Historia literaria in der Lehre: eine Auswertung des Codex Lectionum Mit Philipp Ernst Bertram und Nicolaus Hieronymus Gundling sind bereits zwei Namen genannt worden, die mit der Universität Halle als Lehrer der Gelehrsamkeitsgeschichte in unmittelbarer Verbindung stehen. Beide sind mit Kompendien hervorgetreten, die aus dem Lehrzusammenhang entstanden sind und als Text29 30 31 32

33

Ebd., S. 55. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Vgl. dazu Merio Scattola, der auf der Basis einer breiten Quellenuntersuchung und unter Berücksichtigung von Gundlings Äußerung prägnant feststellt, dass die Historia literaria nicht versucht, „den historischen Ablauf zu ›erklären‹ oder zu ›verstehen‹; ebensowenig sucht man nach den Gesetzen des historischen Geschehens. Im Gegenteil, die Vorstellung, daß in der Geschichte Gesetze und Regelmäßigkeiten herrschen, ist unbekannt. Die Aufgabe der Geschichte ist, wie Keckermann sagt, die Erklärung von Einzelfällen oder einfach ihre Beschreibung“. Merio Scattola: ›Historia literaria‹ als ›historia pragmatica‹. Die pragmatische Bedeutung der Geschichtsschreibung im intellektuellen Unternehmen der Gelehrtengeschichte. In: Grunert u.Vollhardt (Hg.): Historia literaria (wie Anm. 1), S. 62. Samuel Gottlieb Wald: Einleitung in die Geschichte der Kenntnisse, Wissenschaften und schönen Künste zu akademischen Vorlesungen. Halle 1784, S. 14.

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grundlage entsprechender Veranstaltungen fungierten. Vor allem Gundling darf als eine prägende Gestalt angesehen werden. Lässt man Lektionen außer Acht, die Christoph Cellarius zu notitiae rei litteriae bereits im ersten Jahr des offiziellen Bestehens der Universität angeboten hat, wobei es vornehmlich um antike Autoren ging, setzt mit Gundlings im Wintersemester 1705 publizierter Ankündigung, die Historia literaria behandeln zu wollen, die litterärgeschichtliche Lehre an der Fridericiana ein. Erst jetzt fällt der Terminus ausdrücklich und wird über die folgenden Jahrzehnte mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts eine kontinuierliche Rolle spielen, wobei man davon ausgehen darf, dass es eine ganze Reihe von einführenden Lehrveranstaltungen gegeben hat, die sich auch – aber eben nur unter anderem – mit litterärgeschichtlichen Einzelheiten befasst haben. 34 Gundling begann mit Lehrveranstaltungen zur Historia literaria seine akademische Karriere. Er lehrte zunächst als Extraordinarius der Philosophie und bot auch später – als Professor Eloquentiae et Antiquitatum – weiterhin Lektionen zur Gelehrsamkeitsgeschichte mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit an; dies änderte sich auch nicht, nachdem er 1712 den Karrieresprung in die juristische Fakultät geschafft hatte. Von 1705 bis kurz vor seinem Tod 1729 war Gundling in Halle nahezu allein für die Historia literaria zuständig,35 was sicherlich daran lag, dass er sie von vornherein und entschieden als „Quelle“, „Stütze“ und „Hilfsmittel“ jeglicher Gelehrsamkeit auffasste und offenbar Wert darauf legte, sie selbst den Studenten nahezubringen. Andernfalls hätte man problemlos – wie dies andernorts durchaus üblich war – Extraordinarien oder Privatdozenten für die Lehre eines Faches verpflichten können, das ausdrücklich als akademische Hilfsdisziplin angesehen wurde und daher kein akademisches Ansehen genoss. Bemerkenswert ist, dass Gundling erst 1705 mit einer entsprechend annoncierten Veranstaltung hervorgetreten war, und dies, obwohl er schon zwei Jahre zuvor einen Kurtzen Entwurff eines Collegii über die Historiam Literariam vor die Studiosi Juris36 publiziert hatte. Offenbar hatte Gundling schon vor seiner Bestallung in privatem Rahmen Vorlesungen zur Historia literaria gehalten, insofern ist davon auszugehen, dass die Studierenden der Universität Halle bereits vor 1705, und zwar spätestens seit dem Frühjahr 1703, mit der Gelehrsamkeitsgeschichte in ihrer ausdrücklichen Ausprägung in Berührung gekommen waren. 34

35

36

Ab 1711 hat Joachim Lange unregelmäßig Kollegien „de notitia & usu librorum” angeboten. Vermutlich handelte es sich dabei um eine speziell auf die Theologie bezogene Geschichte der Gelehrsamkeit. Vgl. Codex Lectionum Annuarum in Regia FRIDERICIANA Halensi habitarum ab Academiae Inauguratione MDCXCIV. usque ad annum praesentem, magna cum cura sumtibusque collectus a Friderico Arnoldo Bachmanno Notar. Publ. Caesar. Iur. et Academiae Halens. Ministro. Vorlesungsankündigungen 1694–1728. In: Universitäts- und Landesbibliothek SachsenAnhalt, UB 3885c, 2°. Vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling: Kurtzer Entwurff Eines Collegii über die Historiam Literariam vor die Studiosi Juris: samt einer Vorrede darinnen er sein Vorhaben deutlicher aufdecket. S.l. 1703.

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In der Zeit von 1705 bis 1728 hat Gundling beinahe jährlich, sowie in den Jahren 1713, 1721, und 1727 sogar zwei Mal, d.h. sowohl im Sommer- als auch im Wintersemester, Historia literaria bzw. litterärgeschichtliche Themen gelehrt. Es handelt sich um nicht weniger als 21 Lehrveranstaltungen, wobei er – ausweislich des Codex lectionum – zwei Mal das Lehrwerk des „clarissimus Heumannus“ – also dessen Conspectus – zu Grunde legte. Gundling selbst hatte zu Lebzeiten neben dem bereits erwähnten Kurtzen Entwurff von 1703 drei weitere litterärhistorische Programme erscheinen lassen.37 Die umfangreichen und angeblich auf Vorlesungsmitschriften basierenden Kompendien, wie die 4- bzw. 5-bändige Vollständige Historie der Gelahrheit, sind erst posthum erschienen und haben eine eigene Wirkung entfaltet.38 Und zwar nicht zuletzt in der Lehre in Halle, denn Gundlings Nachfolger haben später – wie etwa der Historiker Friedrich Wiedeburg – dessen Arbeiten zu eigenen litterärgeschichtlichen Lektionen herangezogen. Nach Gundlings Tod konnte die durch seine Person gewährleistete Geschlossenheit der litterärgeschichtlichen Lehrtradition nicht mehr aufrechterhalten wer37

38

Vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling: Collegium über die Bibliotheken, übrige Hilfsmittel ad notitiam litterariam, den Stil, die Historia philosophica überhaupt, die Hebräer, die Ägypter, Chaldäer, Perser, Araber. Halle [1710]; Ders.: Collegium Uber die Historiam Literariam, Darinnen er hauptsächlich zeigen wird/ in was vor einer Ordnung ein Studiosus Iuris und politischer Mensch/ alle ihm nöthige disciplinen und Wissenschafften vernünfftig erlernen/ auch was derselbe vor Bücher und Schrifften erkennen/ und sich bekandt machen solle/ Daferne er entweder solid, oder auch nur cavallierement studiren will. Halle [1713]. Ders.: Collegium ad Historiam Litterariam darinnen von allerhand nützlichen Scribenten Theologis, Jureconsultis, Medicis, Philosophis und Litteratoribus, und andern zur Gelehrsamkeit dienlichen Sachen gründlich wird gehandelt werden. Die Stunde ist von 11. biß 12. Uhren. Halle 1715. Vgl. neben der Vollständigen Historie der Gelahrheit (wie Anm. 27): Nicolaus Hieronymus Gundling: Collegium Historico-Literarium oder Ausführliche Discourse über die vornehmsten Wissenschaften und besonders die Rechtsgelahrheit. Bände 1 und 2. Bremen 1738–1742. Band 1: Zu verschiedenen Mahlen in zahlreichen Versammlungen gehalten, und in Anmerkungen bis 1737 fortgesetzet. Bremen 1738. Band 2: Die Geschichte der noch Uebrigen Wissenschaften, Fürnehmlich der Gottes-Gelahrheit, wie auch besonders eine umständliche Historie aller und jeder Theile der Rechts-Gelahrheit bis 1742. Bremen 1742. Ders.: Fortgesetzte Historie der Gelahrheit, worinnen nicht nur diese ausgebessert, und mehr ergäntzet, sondern auch aufs neue hinzugethan worden, was sowohl von jüngst verstorbenen, als noch lebenden, gelehrten Leuten, deren Leben sonst Niemand sonst anderswo ordentlich und zulänglich beschrieben hat, nichts weniger von den Schrifften derselben aus allen Facultäten und Wissenschafften, ingleichen von Universitäten, gelehrten Gesellschafften, Gymnasiis, Schulen, Bibliothequen u.s.w. seit den letzten Jahren her, bis 1746 merckwürdig geschienen. Franckfurth und Leipzig 1746. Diese posthum erschienenen Werke beruhen nach Auskunft der jeweiligen Herausgeber auf Vorlesungsmitschriften und wurden zweifellos bearbeitet. Schon die Tatsache, dass sie über den Tod von Gundling hinaus fortgesetzt wurden, macht unmissverständlich klar, dass diese Compendien nicht in jeder Hinsicht auf Gundling zurückgehen können. Allerdings belegt ihre Existenz aber auch das offenbar immense zeitgenössische Interesse an Gundlings gelehrsamkeitsgeschichtlichen Arbeiten. Siehe zu den damit gegebenen Zuschreibungsproblemen: Herbert Jaumann: Handbuch der Gelehrtenkultur. Band 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin u. Boston 2004, S. 32; Grunert u. Syndikus: Historia literaria (wie Anm. 1), S. 268, sowie Kaufmann: Gelehrsamkeitsgeschichte als Grundlage aller Wissenschaft (wie Anm. 1), S. 148.

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den. Immerhin treten nun Dozenten an seine Stelle, die, abgesehen von Johann Heinrich Callenberg, dem später in der Theologie lehrenden Hebraisten, Orientalisten und Gründer des Institutum Judaicum, entweder unmittelbare Schüler Gundlings waren, oder wenigstens mit ihm zusammengearbeitet hatten. Neben Callenberg, der als Extraordinarius gleich 1729 den Stab übernimmt, treten bis 1740 die Historiker Friedrich Wiedeburg, Johann Ehrenfried Zschackwitz und Martin Schmeitzel in Erscheinung. Von den Genannten ragt insbesondere der Letztere heraus. Schmeitzel stammte aus Kronstadt in Siebenbürgen, hatte zeitweilig in Halle studiert und hielt sich dort ab 1706 mit den ihm anbefohlenen adeligen Studenten als deren Informator auf. Wegen seiner historischen Interessen dürfte er dabei mit Gundling in Kontakt gestanden haben. Nach Gundlings Tod wurde Schmeitzel als Professor für Staatsrecht und als Professor für Geschichte dessen Nachfolger, zuvor hatte er in Jena als außerordentlicher Professor Geographie gelehrt und war dort zudem mit der Inspektion der akademischen Bibliothek betraut. In dieser Zeit publizierte er 1728 seinen umfangreichen Versuch einer Historie der Gelehrheit,39 auf den er sich in seinen eigenen Lehrveranstaltungen, die er in Halle ab 1732 als Professor für Geschichte regelmäßig zum Thema abhielt, explizit bezieht. Wiedeburg und Zschackwitz haben im Gegensatz zu Schmeitzel und Callenberg kein eigenes Lehrbuch verfasst. Obwohl Letzterer nach den Angaben des Codex Lectionum sich nur drei Mal mit der Historia literaria befasst hat, publizierte er bereits 1724 eine Recensio tabularis Scriptorum Historiae Litterariae, der er eine Anleitung zum klugen Studium der Historia literaria beigegeben hatte, und 1733 trat er noch einmal mit einem Entwurf eines Collegii über die Historie der Gelahrtheit hervor.40 Verfolgt man die der Gelehrsamkeitsgeschichte ausdrücklich und ausschließlich gewidmeten Lehrveranstaltungen an der Friderici39

40

Martin Schmeitzel: Versuch einer Historie der Gelehrheit, darinnen überhaupt von dem Gantzen Cörper der Gelehrheit, und denn von allen dessen Theilen, auch deroselben Verbindung insonderheit, hinlängliche Nachricht gegeben wird. Zum Gebrauch eines Collegii Publici und zum Nutzen der Jugend auf Schulen und Gymnasien publiciret. Jena 1728. Johann Heinrich Callenberg: Scriptorum Historiae Litterariae Recensio Tabularis. Adjecta sunt Monita quaedam de Studio Historiae Litterariae prudenter tractando. Halle 1724; Ders.: Entwurf eines Collegii über die Historie der Gelahrtheit. Halle 1733. Die tabellarische Recensio stellt eine knappe bibliographische Handreichung dar, die in sechs Tabellen historische Grundlagenwerke zu den vier Fakultäten sowie zu Sprachen, Büchern und Bibliotheken listet. Sein Entwurf eines Collegii über die Historie der Gelahrheit stellt die Gliederung einer thematisch entsprechenden Lehrveranstaltung dar: Zunächst will Callenberg die „Historie der Gelahrheit“ definieren, verweist dann auf Bücher, die sich mit ihr befassen, und schließt drei – den Zeitaltern Antike, Mittelalter und Neuzeit folgenden – Kapitel zu den „Schicksalen der gesammten Wissenschaften“ an. Seine ursprüngliche Ankündigung, „dann besonders den Ursprung und Fortgang der Philosophie, Medicin, Jurisprudenz und Theologie“ (S. 4) in den Blick zu nehmen, löst er nicht ein. Die Kapitel 6 bis 18 sind ausschließlich der Philosophie und ihrem Fortgang gewidmet, wobei der Schwerpunkt auf der antiken Philosophie liegt (Kapitel 6–16). Der schmale Band endet in der unmittelbaren Gegenwart, nämlich mit Hinweisen auf die Philosophie Christian Wolffs, auf „Schriften wider und für dieselbe“ und schließlich mit einer Anmerkung zu den „heutigen Reliquien der Barbarischen Philosophie“ (S. 60).

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ana in der Zeit zwischen 1705 und 1740, dann lassen sich – immer ausweislich des Codex Lectionum – insgesamt 41 Vorlesungen ausmachen, so dass die Studenten jedes Jahr mit mindestens einer Lehrveranstaltung zur Historia literaria versorgt wurden.

III. Inhalte und Absichten Die Frage nach den Inhalten der Kompendien zur Gelehrsamkeitsgeschichte und mehr noch nach den mit ihnen verbundenen Absichten lässt sich nicht so ohne weiteres beantworten. Denn der Vergleich unterschiedlicher Lehrbücher bestätigt, was Martin Schmeitzel in seinem eigenen Werk feststellt, nämlich dass hinsichtlich des „Vortrags und der Eintheilung“ der Historia literaria „ein jeder nach seinem Einfall“41 verfahren sei. Auffällig ist in der Tat, dass die vielen Entwürfe und Einleitungen, Handbücher etc. sich immer wieder durch tatsächliche oder auch nur vermeintliche Originalität zu rechtfertigen versuchen. Immer wieder wird die Neuheit einer bestimmten Darstellung, der inhaltlichen Akzente oder einer Methode als Vorzug eines bestimmten Kompendiums ins Feld geführt. Bei dergleichen Beteuerungen spielt sicher auch gelehrtes Marketing, mithin Finanzinteressen unter den Konkurrenzbedingungen eines längst entfalteten Marktes eine nicht unerhebliche Rolle, so dass die behauptete Neuigkeit in vielen Fällen kaum erheblich sein dürfte. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass die Gelehrsamkeitsgeschichte – mündlich wie schriftlich – immer die Gelegenheit bot, nicht nur das technische Handwerkszeug der Gelehrsamkeit, sondern jenseits des Faktischen auch Einschätzungen und Interpretationen zu vermitteln. Indem die Historia literaria ihre Gegenstände auswählte, arrangierte und eben auch kommentierte, transportierte sie nicht zuletzt Sehweisen, die für die wissenschaftlichen Wahrnehmungen und die wissenschaftliche Praxis des Nachwuchses prägend sein sollte.42 Wenn Johann Heinrich Callenberg im ersten Paragraphen seines Entwurfs eines Collegii über die Historie der Gelahrtheit ausdrücklich hervorhebt, dass hinsichtlich der Frage, was „Gelahrheit sey“, vor allem „die Meynungen des Poiret und Joh. Christian Langens“ zu erörtern seien, dann ist damit gleich ein auffälliges Signal gesetzt, das Zeitgenossen auf Anhieb zu deuten wussten.43 Denn beide Autoren waren als Theologen oder Prediger bekannt, die beide mit – freilich unterschiedlichen Vorzeichen – die Gelehrsamkeit mit Frömmigkeit in Verbindung brachten, oder gar die Erstere der Letzteren unterordneten.44 41 42 43 44

Schmeitzel: Versuch einer Historie der Gelehrheit (wie Anm. 39), S. 800. Vgl. dazu auch Zedelmaier: ›Historia literaria‹. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 1), S. 14. Callenberg: Entwurf eines Collegii über die Historie der Gelahrtheit (wie Anm. 40), S. 4. Callenberg hatte ganz offensichtlich die folgenden Texte im Blick: Johann Christian Lange: Protheoria eruditionis humanae universae: Oder Fragen von der Gelehramkeit ins gemein. Zu

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In diesem Zusammenhang sind bereits die frühen, der Historia literaria gewidmeten Schriften von Nicolaus Hieronymus Gundling aufschlussreich, die in der Regel als ausführliche Vorlesungsankündigungen erschienen sind. Es handelt sich um vergleichsweise schmale Übersichten, in denen auf dem knappen Raum von rund 60 Seiten Themen und gelegentlich auch Thesen nur benannt werden. Obwohl die zumeist in Kapiteln und Paragraphen eingeteilten Listen auf die Ausführungen der Vorlesung angewiesen sind, vermitteln sie dennoch ein recht genaues Bild von Gundlings Intentionen. Aussagekräftig ist dabei insbesondere dessen schon erwähnter Kurtzer Entwurff eines Collegii uber die Historiam Literariam vor die Studiosi Juris, und hier vor allem die schon im vollständigen Titel angekündigte Vorrede, mit der er sein „Vorhaben deutlicher aufdecket“.45 Die Vorrede ist im genauen Sinne programmatisch, und zwar sowohl mit Blick auf Gundlings litterärgeschichtliche Absichten als auch bezüglich seiner damit in Verbindung stehenden aufklärerischen Intentionen.46 Bemerkenswert ist zunächst die von Gundling ausdrücklich und wohl nicht zu Unrecht47 apostrophierte Neuheit seines Unternehmens. Schon der Terminus ‚Historia literaria‘ käme Studenten – wie Gundling aus Erfahrungen berichtet – noch ungewohnt vor, zumal mit „Historie“ in der Regel Ausführungen zu „Caesar, Augustus“ und „Tiberius“48 assoziiert würden. Gundling bezieht den Begriff „Historia“ natürlich nicht als Erster auf die Gelehrsamkeit und liefert doch ein „anderes

45

46 47

48

besondern Dienst und Nutzen der Studierenden Jugend / Wie auch zum Behuf und Fundament seiner Academischen Praelectionen. Giessen 1706. Sowie: Pierre Poiret: De eruditione solida libri tres. Amsterdam 1692. Das Buch ist danach mehrfach aufgelegt worden und wurde zeitweilig auch von Christian Thomasius geschätzt. Die von ihm 1694 veranstaltete Ausgabe hatte bei den Theologen der Fridericiana für Aufsehen gesorgt. Vgl. dazu: Christian Thomasius: Briefwechsel. Band 2. Herausgegeben von Frank Grunert, Matthias Hambrock, Martin Kühnel. Vorauss. Berlin, Boston 2020. Der in Gießen wirkende, Francke und Spener nahestehende Pietist Johann Christian Lange hält die Divinität der Erudition für eines ihrer Attribute und betonte in seiner Protheoria eruditionis, dass Gott der „rechte Urheber und Werckmeister der menschlichen Erudition“ sei (vgl. dort S. 867, bzw. S. 167f.). Gundling: Kurtzer Entwurff eines Collegii uber die Historiam Literariam (wie Anm. 36), Titelblatt. Vgl. zu Gundlings Vorrede des „Kurtzen Entwurffs“ ausführlicher: Kaufmann: Gelehrsamkeitsgeschichte als Grundlage aller Wissenschaft (wie Anm. 1), S. 145–163. Vgl. zu Gundlings Aufklärungsprogrammatik den Beitrag von Daniel Fulda im vorliegenden Band. Der Kurtze Entwurff ist 1703 erschienen und stellt daher in jedem Fall ein sehr frühes Dokument für eine ausdrücklich der Historia literaria gewidmete Lehrveranstaltung dar. Für Helmstedt konstatiert Paul Nelles das Folgende: „There is no mention of historia litteraria in any of the seventeenth-century course catalogues, and none are extant at Wolfenbüttel for the first decade of eighteenth century”. Auf der Basis von Valentin Voglers Introductio universalis in notitiam cuiuscunque generis bonorum scriptorum (zuerst 1670, 1692 und 1700 erneut publiziert und mit Ergänzungen versehen von Heinrich Meimbom) hat Justus Christoph Böhmer 1706 im Rahmen seiner Rhetorik-Vorlesung angefangen, gelehrsamkeitsgeschichtliche Informationen zu liefern. Es handelte sich dabei aber vor allem um bibliographische Basisinformationen. Vgl. Nelles: Historia litteraria at Helmstedt (wie Anm. 2), S. 151f. Ebd., unpag., [S. 1f.].

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Buch“ als das, worüber die Studenten „oder ihre Vorfahren ein Collegium“49 gehört haben. Die Kenntnis der Gelehrsamkeitsgeschichte soll die Studenten in die Lage versetzen, über die gegenwärtige Gelehrsamkeit und deren Hervorbringungen „tüchtig“50 zu urteilen. Dazu unterscheidet Gundling zwischen gelehrten Beliebigkeiten und litterärhistorischen Fakten, die für die selbstständige Orientierung in der gelehrten Welt – und nicht nur in dieser – wichtig sind. Gundling häuft nicht an, sondern wählt aus. Er gibt eine „Anleitung zu guten Büchern in genere“ damit man lerne, „kluge und gelehrte Männer“ von denen wohl zu unterscheiden, die unter „Crethi und Plethi“51 gehören. Dazu kündigt er an, „freye Judicia“52 fällen zu wollen, die nicht unbesehen übernommen werden sollen, sondern die Aufgabe haben, die eigene Urteilskraft zu schulen.53 Sowohl in der Selektion als auch in der Wertung verfährt Gundling in der Tat recht eigenwillig, etwa wenn er im Kapitel über die Philosophie sich auf die neueren Autoren konzentriert, dabei Philosophen nicht ausspart, die „vor Atheisten und Naturalisten ausgeschrien“54 wurden, und schließlich noch ausführliche Überlegungen zur Philosophie des erst recht verfemten Spinoza und ihrer Rezeption anfügt.55 Dies ist alles andere als das klassische, oder auch nur übliche philosophiegeschichtliche Programm, hier geht es um mehr und um anderes als um eine gelehrsamkeitsgeschichtliche Information, es geht um eine allgemeine, am Ende moralische und pragmatische Orientierung, denn es gilt – wie es im Collegium von 1713 heißt – „aus allen Wissenschaften so viel“ zu erlernen, wie man „zu Beförderung menschlicher Glückseeligkeit vonnöthen hat“, und diese besteht in der von Gundling mit Selbst- und Fremderhaltung identifizierten „Ruhe“.56 Gelehrsamkeitsgeschichtliche Information ist hier intentionale, d.h. eindeutig zielgerichtete Formation, nämlich des Denkens der beginnenden Studenten. Historia literaria wird hier als ein Mittel gehandhabt, pädagogisch und wissenschaftlich engagiert, Anfänger von vornherein mit dem richtigen – und das heißt nicht nur sachlichdisziplinären – Rüstzeug auszustatten, es geht hier weniger um eine wertfreie historische Rekonstruktion „de ortu et progressu literariorum“, sondern um eine Auswahl mit Blick auf ein definiertes philosophisch-moralisches Ziel. Die mit der Historia literaria verbundenen und von Gundling gesehenen, offenbar auch realisierten, pädagogischen Chancen machen auf Anhieb nachvollziehbar, warum Gundling als Pädagoge die Unterweisung nur allzu gern selbst übernahm und offenbar keine Anstalten machte, die von anderen möglicherweise als lästig und 49 50 51 52 53 54 55 56

Ebd., unpag., [S. 2]. Ebd., unpag., [S. 4]. Ebd., unpag., [S. 5]. Ebd., unpag., [S. 14]. Vgl. dazu Frank Grunert: Von ›guten‹ Büchern. Zum moralischen Anspruch der Historia literaria. In: Grunert u. Vollhardt (Hg.): Historia literaria (wie Anm. 1), S. 65–88. Ebd., unpag., Caput VI, § 109. Ebd., unpag., Caput VI, § 87–103. Gundling: Collegium Uber die Historiam Literariam (wie Anm. 37), S. 4.

Die Historia literaria als Lehrfach an der Fridericiana

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uninteressant erfahrene Lehre der Gelehrsamkeitsgeschichte jüngeren oder auch nur anderen Kollegen zu überantworten. Während der Kurtze Entwurff neben den gelehrsamkeitsgeschichtlichen Angaben zur Jurisprudenz, zur Theologie und zur Philosophie auch ausführlich von Druckereien bzw. Verlagen, Bibliotheken und den „subsidiis ad cognitionem bonorum Autorum & librorum“ berichtet, stellt das 1713 erschienene Collegium Uber die Historiam Litterariam ein eher enzyklopädisches Kursprogramm dar, worin – wie der vollständige Titel mitteilt – gezeigt wird, in welcher Ordnung „ein Studiosus Iuris und politischer Mensch/ alle ihm nöthigen disciplinen und Wissenschafften vernünfftig erlernen/ auch was derselbe vor Bücher und Schriften erkennen/ und sich bekandt machen solle/ Dafern er entweder solid. Oder auch nur cavallierement studiren will“. Thematisch entfaltet wird ein vergleichsweise knapper Kanon: Gelehrsamkeit überhaupt, Logik, Moralphilosophie, Naturrecht, Politische Klugkeit, „Haußhaltung“ und Historie. Zwar vollzieht sich dieser Kursus entlang von „Büchern und Schriften“, geboten wird aber nicht zuletzt ein an der Sache interessierter wissenschaftsgeschichtlicher Überblick, der wiederum klar wertet und allgemeine Ausführungen nicht scheut, die vom originär litterärgeschichtlichen Gegenstand eigentlich ablenken, etwa wenn an das Urteil von der Untauglichkeit jeder aristotelischen Moralphilosophie die Frage angeschlossen wird, woran überhaupt eine „gute Ethic“ zu erkennen sei.57 Wenn Gundling in derselben Schrift darüber klagt, dass „bißhero die Historia litteraria verkehrt“ vorgetragen worden sei, weil man sich „um die Bücher und Scriptores Bibliothecarios bekümmert“ habe, ohne zu wissen, „wie man die Bücher […] brauchen solle“,58 und er dann wissenschaftshistorische Abrisse zu sechs unterschiedlichen Themen vorlegt, die zwar anhand von Büchern entwickelt werden, aber unübersehbar an den Inhalten der Gelehrsamkeit und ihrer Entwicklung interessiert sind, bereitet er eine Unterscheidung vor, die von Martin Schmeitzel ausgebaut wurde und in der Geschichte der Gattung eine wichtige Rolle spielen sollte. In seinem 1728, also noch zu Lebzeiten Gundlings, in Jena erschienenen Versuch einer Historie der Gelehrheit differenziert Schmeitzel zwischen der Historia literaria als „Bücher-Historie“ und der „Historie der Gelehrheit“, die von ihm als „Historia philosophica“ bezeichnet wird, dabei aber nicht auf die Philosophie als akademische Disziplin eingeschränkt wird.59 Erstere „erzählet uns, was wir von Büchern überhaupt zu wissen nöthig haben, nach deroselben Classen und Beschaffenheit“, und Letztere informiert darüber, was die „alten und neuern Philosophi gelehret und getan haben“. Bei dieser als „Historie der Gelehrheit“ betriebenen „Historia philosophica“ geht es um „Meynungen, Lehren, Irrthümer“, deren Ursachen und Konsequenzen und nicht zuletzt um wissenswerte biographische Einzel57 58 59

Ebd., S. 15. Ebd., S. 6. Schmeitzel: Versuch einer Historie der Gelehrheit (wie Anm. 39), S. 800.

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heiten.60 Die Unterscheidung führt bei Schmeitzel zu einer programmatischen Zweiteilung und in der Konsequenz nicht nur zu einer internen Differenzierung, sondern auch zu einer von ihm selbst praktizierten Aufspaltung. Denn indem der Versuch einer Historie der Gelehrheit – wie der vollständige Titel ausweist – „von dem ganzen Cörper der Gelehrheit, und denn von allen dessen Theilen, auch deroselben Verbindung insonderheit“ berichten will, geht es – wie in der Vorrede noch einmal ausdrücklich betont wird – um eine „Historie der Gelehrheit“ in dem definierten und durchaus als Desiderat begriffenen Sinn und eben nicht um eine „Bücher-Historie“.61 Schmeitzel reserviert den Begriff ‚Historia literaria‘ – entgegen der ursprünglichen Zuordnung – definitorisch für „Bücher-Historie“, gliedert diese aus seinem Unternehmen aus und betreibt mit seiner „Historie der Gelehrheit“ eine Gelehrsamkeitsgeschichte, die diese auf die Darstellung von gelehrten Inhalten in einer historischen Perspektive beschränkt. Obwohl Schmeitzel als Historiker an einer genetischen Darstellung festhält, bereitet er damit das Feld für Enzyklopädien der einzelnen Disziplinen vor, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnen und als wissenschaftsgeschichtliche Überblicke ohne die bücherkundlichen Ausführungen der traditionellen Historia literaria auskommen.62 Dies schlägt sich auch später in den Vorlesungsankündigungen der Fridericiana nieder. Ab dem Wintersemester 1769 werden die Vorlesungen in nummerierter Abfolge aufgeführt, was auf ein explizites curricular organisiertes Kurssystem hindeutet. Auffällig ist dabei, dass die Disziplinen in der Regel mit einer Veranstaltung zur Enzyklopädie des jeweiligen Faches einsetzen und – unabhängig davon – häufig mit einer Veranstaltung zur Historia literaria fortgesetzt werden. Daher gibt es Semester, in denen in allen vier Fakultäten die Historia literaria des jeweiligen Faches unterrichtet wird – und zwar jeweils nach einer zuvor ausgeführten Enzyklopädie. Damit tritt an die Stelle einer ursprünglichen Studium-generale-Funktion der Historia literaria eine doppelte Ausdifferenzierung: 1. Die Historia literaria trennt sich sachlich und didaktisch von der Fachenzyklopädie und wird „Bücher-Historie“, und 2. die Historia literaria wird fachspezifisch und verliert damit ihren ursprünglichen allgemeinen Charakter.

IV. Zum Schluss: Antwort auf eine Frage War die Fridericiana – um auf die eingangs gestellte Frage zurück zu kommen – in Bezug auf die Lehre und die weitere Entwicklung der Historia literaria nun innovativ oder folgte sie einem Muster, das sich an anderen Universitäten längst etabliert hatte? Eine abschließende Antwort auf diese Frage erforderte eine bisher noch nicht unternommene vergleichende Untersuchung, die das Lehrangebot möglichst 60 61 62

Ebd. Ebd., Vorrede, unpag. Vgl. dazu Grunert u. Syndikus: Historia literaria (wie Anm. 1), S. 289ff.

Die Historia literaria als Lehrfach an der Fridericiana

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vieler Universitäten und Hohen Schulen in den Jahrzehnten um 1700 untersucht. Verglichen mit Helmstedt setzte die Lehre der Historia literaria an der Universität Halle wegen ihres Gründungsjahres relativ spät ein, doch im Vergleich zu der immerhin seit 1544 bestehenden Universität Königsberg war sie wiederum früh dran.63 Die Voraussetzungen für eine lebendige Entwicklung der Gelehrsamkeitsgeschichte als Lehrfach an der Fridericiana waren freilich ausgesprochen gut. Thomasius hatte wiederholt die Bedeutung der Historie als Instrument der Erkenntnis hervorgehoben64 und – wie bereits erwähnt – im Augustheft seiner Monatsgespräche 1688 die Hoffnung geäußert, ein „gelehrter Mann von ieder Facultät“ möge in Zukunft „de ortu et progressu von ieder Facultät und von denen berühmten Scribenten darinnen fleißig“ gewesen, berichten.65 Wichtige frühe Autoren der Historia literaria, die die Diskussion und die spätere Entwicklung maßgeblich prägten – Heumann, Reimmann, Stolle und Gundling – standen denn auch entweder mit ihm in engem Kontakt oder waren sogar seine direkte Schüler, insofern bemerkt Hanspeter Marti zu Recht, dass „wichtige fachliche Impulse […] von der halleschen Fridericiana“ ausgingen.66 Die Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse hat gezeigt, dass seit 1705 durchgehend mindestens einmal im Jahr Historia literaria gelehrt wurde, gleichzeitig weist der Lektionskatalog aber auch aus, dass Gundling bis zu seinem Tod die Gelehrsamkeitsgeschichte in der Lehre nahezu allein vertrat. Wie die Anzahl seiner einschlägigen Veröffentlichungen belegt, war Gundling in der Historia literaria deswegen besonders engagiert, weil er sie als ein „Hülffs-Mittel“ der Gelehrsamkeit verstand, das wiederum zu Büchern führe, die schließlich selbst wieder insofern ein „Hülfs-Mittel“ darstellten, als sie „Facta“ lieferten, die „wir nicht, durch den Verstand, erdichten“ können. Daher sei die „Historia literaria unentbehrlich“.67 Es ist diese litterärgeschichtliche Grundlegung aller Wissenschaften, die – wie Sebastian Kaufmann zu Recht be-

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Vgl. dazu: Nellen: Historia litteraria at Helmstedt (wie Anm. 2), S. 147–176, sowie Syndikus: Historia literaria als Propädeutikum an der Königsberger Universität des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 3), S. 379–422. Siehe auch die vergleichende Übersicht, die Hanspeter Marti auf der Basis von thematisch einmaligen Disputationen erarbeitet hat: Marti: Die historia literaria im akademischen Unterricht (wie Anm. 1), bes. S. 320-334. Nach Martis Befund ist auffällig, dass ausweislich der herangezogenen Disputationen die Historia literaria vor der Gründung der Universität Halle bereits in Altdorf und in den Jahren zwischen 1690 und 1710 auch in Leipzig, Wittenberg und Jena eine vergleichsweise große Rolle spielte. Christian Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre. Halle 1691. ND: Ders.: Ausgewählte Werke. Band 8. Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. 83. Ders.: Summarischer Entwurff derer Grund-Lehren/ die einen Studio Juris zu wissen/ und auff Universitäten zu lernen nöthig. Halle 1699. ND: Ders.: Ausgewählte Werke. Band 13. Hildesheim, Zürich, New York 2005, S. 45. Ders.: Cautelae circa Praecognta Jurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Halle 1710. ND: Ders.: Ausgewählte Werke. Band 19. Hildesheim, Zürich, New York 2006, S. 57. [Christian Thomasius:] Schertz- und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken (wie Anm. 10), S. 269. Marti: Die historia literaria im akademischen Unterricht (wie Anm. 1), S. 322. Gundling: Vollständige Historie der Gelahrheit (wie Anm. 27), S. 55.

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merkt – Gundlings „Kernprojekt“68 darstellt. Obwohl Gundling die Historia literaria an der Universität Halle über eine vergleichsweise lange Zeit als ein EinmannUnternehmen betrieb, blieben ihm Einfluss und Wirkung nicht versagt: Der Göttinger Universitätsgründer Gerlach von Münchhausen hatte, wie eine in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen aufbewahrte Vorlesungsmitschrift belegt, bei Gundling Gelehrsamkeitsgeschichte studiert und war von ihrem Wert und ihrer Bedeutung so sehr überzeugt, dass er in Göttingen einen Lehrstuhl für Historia literaria einrichten ließ, den Christoph August Heumann dann jahrelang inne hatte.69 Weil Gundling in den ersten Dezennien der Universität Halle für die Lehre und die sachliche Entwicklung der Historia literaria – zweifellos mit der Unterstützung von Christian Thomasius70 – so gut wie allein prägend war, ist die Innovativität der Fridericiana in Bezug auf die Entwicklung der Historia literaria im Wesentlichen dem Engagement eines Hochschullehrers geschuldet. Der Bedeutung und der Wirkung der in Halle gelehrten Historia literaria hat dies allerdings keinen Abbruch getan.

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Kaufmann: Gelehrsamkeitsgeschichte als Grundlage (wie Anm. 1), S. 149. Von Münchhausen hatte ein durchschossenes Exemplar mit insgesamt drei von fünfzig publizierten Programmata herstellen lassen und darin zahlreiche Zusätze eingetragen, die offenbar aus Gundlings Vorlesungen stammen, vgl. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: Acc.mss 1995.5. Dass die notorisch misstrauischen Theologen der Universität mit den von Gundling im Rahmen seiner gelehrsamkeitsgeschichtlichen Kollegien gelehrten Inhalten einverstanden waren, darf man wohl mit einiger Gewissheit ausschließen – im Windschatten eines unterschätzten Gegenstandes waren offenbar Ausführungen möglich, die an prominenterer Stelle Anstoß erregt hätten. Gundling hat dies ganz offensichtlich ausgenutzt. Möglicherweise ist Callenbergs religiös orientierte Geschichte der Gelehrsamkeit nach Gundlings Tod sogleich als ein praktikables Remedium gegen die Unfrömmigkeit in Stellung gebracht worden. Siehe dazu oben S. 233.

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„daß mich Gott der Universität gewiedmet hätte“. Christian Wolff und die Erfindung der allgemeinen praktischen Philosophie Die Stellung der 1694 gegründeten Friedrichs-Universität in Halle als wichtigster preußischer Universität im Zeitalter der Aufklärung erklärt sich maßgeblich durch das Wirken von Christian Thomasius und Christian Wolff. Vor allem Wolff ist es gewesen, der durch seine umfangreiche Lehr- und Publikationstätigkeit während seiner ersten (1706–1723) und seiner zweiten Halleschen Professur (1740–1754) die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf sich und sein Werk ziehen konnte.1 Dies gilt umso mehr, als seine Auseinandersetzung mit den Pietisten, die, durch eine königliche Verordnung bewirkt, 1723 zu seiner Vertreibung aus Halle und Flucht nach Marburg führte, Epoche machte. Eine akademische, zwischen Kollegen geführte Debatte über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, Freiheit und Fatalismus soll unter Androhung des Galgens entschieden werden. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der in seiner Bedeutung für die Philosophie der deutschen Aufklärung wohl nur durch den Spinozastreit Jahrzehnte später überragt wird. Wolff konnte den Inhalt des königlichen Reskripts vom 8. November 1723 natürlich nicht ahnen, als er am 2. November 1706 auf die Professur für Mathematik berufen wird. Wie ist es zu dieser Berufung gekommen? Kann er auf eine „Erfindung“, auf ein innovatives Projekt verweisen, welches für seine Berufung ausschlaggebend war? In der Tat gab es ein derartiges Projekt: Wolff beansprucht für sich, als erster die mathematische Methode in der Philosophie konsequent zur Anwendung zu bringen. Und diesen Anspruch erhebt er erstmals in seiner 1703 eingereichten Habilitationsschrift Philosophia practica universalis, mathematica methodo conscripta. In ihr beansprucht er zugleich, mit der „allgemeinen prakti-

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The work on this paper has received in its final stage funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under the Marie Skłodowska-Curie grant agreement No 777786. Die herausragende Bedeutung der Fridericiana im Zeitalter der Aufklärung manifestiert sich nicht zuletzt in der hohen Anzahl von (im weitesten Sinne so zu verstehenden) Philosophen, die an ihr studiert oder gelehrt haben und (später) durch eigene Publikationen in Halle oder an anderen Orten auf sich aufmerksam gemacht haben. So haben von den rund 660 Philosophen (Theologen, Juristen, Medizinern etc.), die im Bloomsbury Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers (hg. v. Heiner F. Klemme u. Manfred Kuehn. London u. New York 2016) behandelt werden, weit mehr als 20 Prozent einen Bezug zur Universität in Halle. Zur Bedeutung von Wolff und Halle siehe die einschlägigen Kapitel in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 5. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. Hg. v. Helmut Holzhey u. Vilem Mudroch. Basel 2014.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-012

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schen Weltweisheit“ (philosophia practica universalis) eine neue Wissenschaft erfunden zu haben. Tatsächlich kann seine Habilitationsschrift als der Ausgangspunkt einer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den deutschen Ländern singulären Karriere betrachtet werden. Wenden wir uns dieser Schrift und den Umständen ihrer ersten Rezeption etwas näher zu. Wolff arbeitet noch in Jena (an dessen Universität er sich einst einschrieb, um ein Theologe zu werden) an seiner Philosophia practica universalis, die er dann im Januar 1703 an der Universität Leipzig verteidigt. Ohne sein Wissen schickt Otto Mencke, Professor für Moralphilosophie, Herausgeber der Acta eruditorum und Freund von Leibniz, am 12. November 1704 ein Exemplar dieser Schrift an denselben. In seinem Begleitschreiben heißt es: Ein hübscher Mensch ist sonst allhier, L. M. Wolf, welcher in omni parte Matheseos, auch in Algebraicis, gar wol versiret ist, auch ein gut lateinisch concept machet; aber der Sprachen ist er noch nicht mächtig, wiewol er sich deren auch mit der Zeit bemächtigen wird.2

Wolff selbst berichtet über dieses Ereignis mit folgenden Worten: Meine Dissertationem de Philosophia practica universali censirte H. Mencke als Professor moralium. Weil er nun sahe, daß ich dieselbe methodo mathematica geschrieben hatte, ich auch nicht bey der alten Leyer verblieb, sondern weiter zu gehen suchte, so fragte er mich, ob ich die Mathesin studiret hätte, indem seine Absicht war, mich bey den Actis zu gebrauchen. Er schickte deßhalb dieselbe ohne mein Wissen an den Herrn von Leibnitz, um sein Urtheil von mir zu vernehmen, welches aber so geneigt ausfiel, daß ich schamroth wurde, als er mir dieselbe aus der Antwort vorlaß und zugleich einen Brief von dem H. v. Leibnitz überreichte.3

Ähnlich war die Reaktion des Breslauer Theologen Caspar Neumann, der Wolff einst zur Themenstellung seiner Habilitationsschrift anregte. Wolff schreibt: Ich hatte diese Arbeit auf Veranlassung des vortrefflichen Theologi, Herrn Caspar Neumanns, vorgenommen, von welchem ich mehr als einmahl vernommen hatte, daß man die Moral, ja selbst die Theologiam moralem, noch nicht so abgehandelt hätte, wie es billig seyn sollte, wenn man sie mit Vortheil zur Ausübung bringen, und insonderheit Prediger zur Erbauung ihrer Zuhörer in Predigten anwenden sollten […], worzu ein Mann erfordert würde, der des Methodi mathematicae mächtig, und in der neueren Physick wohl geübet wäre, wo man die Gründe dessen, was man observiret, auf eine deutliche Weise untersuchet. Als ich ihm nun meine Disputa2 3

Gottfried Wilhelm Leibniz: Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff. Hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Halle 1860 [Reprint: Hildesheim 1971], S. 15. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften die er in deutscher Sprache herausgegeben (1726). 3. Verbesserte Auflage (= Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 9). Frankfurt a. M. 1757, S. 390f. Vgl. das Zitat in Heinrich Wuttke: Ueber Christian Wolff den Philosophen. Eine Abhandlung. In: Ders. (Hg.): Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Herausgegeben mit einer Abhandlung über Wolff. Leipzig 1841 (ND in: Christian Wolff Biographie. Mit einem Vorwort v. Hans Werner Arndt. Hildesheim u. New York 1980; Gesammelte Werke, I. Abteilung, Bd. 10), S. 1–106, hier S. 133. – Anders als Wolff es darstellt, scheint er jedoch selbst (wenn auch auf Veranlassung von Mencke) ein Exemplar seiner Schrift an Leibniz geschickt zu haben. So auch der Hinweis in: Carl Günther Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Leibnizischen Philosophie, zum Gebrauche Seiner Zuhörer herausgegeben. Anderer und letzter Theil. Leipzig 1737 [ND: Hildesheim u. a. 2003 (= Gesammelte Werke, Abt. III., Bd. 1)], § 283.

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tion von der Philosophia practica universali überschickte, bezeigte er darüber seine Freude, und urtheilete, daß mich Gott der Universität gewiedmet hätte.4

Dass Gott selbst ihn „der Universität gewiedmet“ hat, um in ihr die mathematische Methode fruchtbar anzuwenden, daran zweifelt auch Wolff nicht. Dass es die Universitäten Halle und Marburg werden sollten, konnte Wolff 1703 nicht vorhersehen. Aber weil nach Wolff das „Gesetze der Natur […] alles entschieden“ hat und „an sich ganz vollständig“ ist, „unerachtet es bisher noch nicht vollständig erkandt worden“,5 können die Rufe nach Halle und Marburg auch kein Zufall sein. Die Gründe für seinen ersten Ruf nach Halle sind vielfältig. Vor allem dürfen wir die Schweden und die Hessen nicht vergessen, ohne die alles anders gekommen wäre. Die Schweden nicht, weil diese im August 1706 in Sachsen einfallen und Wolff zu denen gehört, die es vorziehen, angesichts der unsicheren Lage nicht länger im sächsischen Leipzig zu leben. Und die Hessen nicht, weil Wolff zwecks der (durch Leibniz vermittelten) Berufung auf eine Professur für Mathematik an der Universität Gießen ins Hessische reist und auf seinem Weg von dort nach Schlesien, wo er sich von seiner Familie verabschieden möchte, Station in Halle macht. In dieser Stadt lässt er sich davon überzeugen, sein hessisches Engagement

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Zitiert in Wuttke (Hg.): Lebensbeschreibung (wie Anm. 4), S. 9. – „Die“ mathematische Methode gibt es in der Philosophie selbstverständlich nicht. Wie er selbst diese Methode verstanden wissen möchte, erläutert Wolff Jahre später folgendermaßen: „Die Regeln der philosophischen Methode sind dieselben wie die der mathematischen. Denn bei der philosophischen Methode dürfen keine Ausdrücke verwendet werden, die nicht durch genaue Definition erklärt sind […], auch wird nichts als wahr zugelassen, was nicht zureichend bewiesen ist […], in Lehrsätzen wird das Prädikat ebenso wie das Subjekt genau bestimmt […], und alles wird so geordnet, daß dasjenige vorausgeschickt wird, wodurch das Folgende verstanden und erwiesen wird, […]. Über die Identität von philosophischer und mathematischer Methode wird sich nur wundern, wer nicht weiß, woraus die Regeln beider abgeleitet werden. Wir haben die Regeln der philosophischen Methode aus dem Begriff der Gewißheit abgeleitet, um die man sich, wie wir bewiesen haben […], in der Philosophie bemühen muß […] Die Philosophie entlehnt ihre Methode nicht der Mathematik, sondern schöpft sie ebenso wie die Mathematik aus der wahreren Logik und erkennt sie deshalb als für sich geeignet an, weil man alleine durch sie zu sicherer Erkenntnis gelangt, die sowohl für den Fortschritt der Wissenschaften als auch für das Leben nützlich ist. […] Wir bemühen uns, sichere Erkenntnis zu erlangen, nicht aus Eitelkeit, sondern weil wir am Fortschritt der Wissenschaften und am Nutzen für das Leben interessiert sind. […] Wenn der Erfolg nicht überall sogleich dem Gewünschten entspricht, lassen wir vorläufig Hypothesen zu, die mit stetigem Fleiß zu vervollkommnen sind, bis wir schließlich die reine Wahrheit erlangen, die wir suchen. “ (Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen (1728), lat./dt., hist.-krit. Ausg., übers., eingel. u. hrsg. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, § 139). Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (= ‚Deutsche Ethik‘, 1720). Die vierdte Auflage hin und wieder vermehret. Frankfurt u. Leipzig 1733. [ND: Hildesheim u. a. 1976 (= Gesammelte Werke, Abt. I., Bd. 4)], § 27. Siehe auch Hans-Joachim Kertscher: „Er brachte Licht und Ordnung in die Welt“. Christian Wolff – eine Biographie. Halle 2018, S. 40–42.

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einseitig aufzulösen.6 An der Fridericiana sucht man eine Persönlichkeit, die in der Mathematik ausgewiesen ist – und Wolff scheint der ideale Kandidat zu sein. So scheint sich alles in eine gute Ordnung zu fügen, in der der Zufall nichts Willkürliches an sich hat. Denn der Zufall ist nach Wolff die Rückseite der Notwendigkeit und kann ohne diese nicht begriffen werden. Auf der einen Seite zählt Wolff die Wirklichkeit der Welt „unter die zufälligen Dinge“, weil sie „anders hätte seyn können als sie ist“.7 Auf der anderen Seite ist die Welt in „Ansehung ihres Wesens nothwendig“.8 Zufällige Dinge sind nicht (wie Gott) „schlechterdings nothwendig“.9 Allerdings stehen sie unter dem „Satz des zureichenden Grundes“,10 sind insofern also auch notwendig. Kein zufälliges Ding existiert grundlos; auch unser Wollen nicht. Die „freyen Handlungen“ der Menschen sind nicht „schlechterdings nothwendig“, sondern „nur unter einer gewissen Bedingung“.11 Diese Bedingung ist unsere Erkenntnis des Guten und Schlechten. Wolff nennt diese Art der Notwendigkeit die „Nothwendigkeit der Sitten“. Sie fällt unter die allgemeine „Nothwendigkeit der Natur“.12 Es ist nicht zu leugnen, daß ein Mensch, der etwas besser erkennet, unmöglich das schlimmere ihm vorziehen kann, und es solchergestalt nothwendig geschiehet, daß er das bessere erwehlet. Allein diese Nothwendigkeit ist der Freyheit nicht zuwider: denn der Mensch wird dadurch nicht gezwungen das Bessere zu erwehlen, weil er auch das Schlimmere erwehlen könnte, wenn es ihm beliebte, indem eines sowol als das andere vor und an sich selbst möglich ist […]. Sie machet […] nur eine Gewißheit, dergleichen sonst in den Handlungen der Menschen nicht seyn würde.13

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In seiner Lebensbeschreibung führt Wolff Folgendes dazu aus: „Weil aber nicht wußte, wie die Sachsen in Sachsen stünden und ob man durch dieses Land sicher reisen könnte, so nahm ich meinen Weg [nach Breslau, H. K.] über Caßel nach Halle, daselbst besuchte den Herrn GHR Stryck, welcher mich fragte, ob ich nicht daselbst verbleiben wollte. Ich sagte, daß ich die Vocation nach Gießen zur Professione Matheseos hätte, auch dorthin zu gehen resoluiret wäre. Er antwortete, ich könnte dieses auch in Halle haben, weil Ihnen noch ein Professor Matheseos fehlete“. Wuttke (Hg.): Wolffs Lebensbeschreibung (wie Anm. 4), S. 107–201, hier S. 144. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (= Deutsche Metaphysik, 1720), Neue Auflage hin und wieder vermehret. Halle 1751. [ND: Hildesheim u. a. 1983 (= Gesammelte Werke, Abt. I, Bd. 2)], § 576. Ebd., § 576. Ebd., § 575. Diese Notwendigkeit nennt Wolff hier auch die „geometrische““ oder „metaphysische“ Notwendigkeit. Ebd., § 30. Man nennt „schlechterdings nothwendig, was für sich nothwendig ist, oder den Grund der Nothwendigkeit in sich hat: hingegen nothwendig unter einer Bedingung, was nur in Ansehung eines andern nothwendig wird, das ist, den Grund der Nothwendigkeit ausser sich hat. Und die letztere Art der Nothwendigkeit wird insbesondere die Nothwendigkeit der Natur genennet, weil sie ihren Grund in dem gegenwärtigen Lauffe der Natur hat, das ist, in dem gegenwärtigen Zusammenhange der Dinge.“ (Ebd., § 575). Ebd., § 521. Ebd., § 521.

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Alles hat einen zureichenden Grund seiner Wirklichkeit. Auch unser Leben verläuft am Leitfaden dieses Prinzips.14 Viele von uns meinen über einen Spielraum ihrer Freiheit zu verfügen, weil wir die Begriffe des Guten, nach denen wir handeln, noch nicht klar und deutlich erkannt haben. Doch tatsächlich gibt es diesen Spielraum nach Wolff nicht. So wie die Erde ihrer Umlaufbahn folgt, folgt unser Wille mit Notwendigkeit der Verstandeseinsicht. Die Verstandeseinsicht in das Gute, in die Ordnung der Dinge, kennt allerdings Grade. Je vernünftiger wir werden, desto freier sind wir. Nicht der Glaube macht uns frei, weil er uns aus der Knechtschaft der Dinge befreit, wie einst Martin Luther meinte. Nach Wolff macht uns vielmehr die Vernunft (oder der Verstand) frei, weil sie (oder er) uns Einsicht in die Natur der Dinge gewährt. Die Vernunft ist „der Grund der Freyheit“.15 Wer frei ist, erkennt die Dinge so, wie sie sind. Kein Wunder also, dass Wolff Gott für seinen Verstand zutiefst dankbar ist: „Der Mensch hat nichts vortreflicheres von GOTT empfangen als seinen Verstand“, schreibt er im allerersten Satz seiner Deutschen Logik.16 Der Begriff der „Nothwendigkeit der Natur“ wirft ein bezeichnendes Licht auf Wolffs Selbstverständnis. Er ist davon überzeugt, von Gott für die Universität bestimmt worden zu sein. Hier ist keine Ironie im Spiel. Die vernünftige Einsicht in die Ordnung der Dinge fällt mit der Einsicht in den Willen Gottes zusammen. Unser Verstandesgebrauch führt zu drei verschiedenen Arten von Erkenntnis: Der historischen Erkenntnis, die in der Erkenntnis der Tatsachen besteht, der philosophischen Erkenntnis, die uns Einsicht in die Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge durch die Erforschung ihrer Gründe verschafft, sowie der mathematischen Erkenntnis, die sich mit den Quantitäten der Dinge beschäftigt. Diese drei Erkenntnistypen stehen nicht unvermittelt nebeneinander. Sie verweisen aufeinander. So haben wir die Dinge mit der größten Gewissheit erst dann erkannt, wenn wir ihre Quantitäten erfasst haben. Die Ordnung der Dinge ist eine mathematisch bestimmte. Es ist diese Einsicht, von Galileo Galilei, Thomas Hobbes und Leibniz geborgt, mit der Wolff als Homo metaphysicus und Systemphilosoph seine Zeit geprägt hat.

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„[…] wir erkennen, daß zufällige Begebenheiten natürlicher Weise nicht anders ihre Würklichkeit erreichen können, als durch eine Reihe unzehlicher anderer Dinge, die vor ihnen vorhergegangen und neben ihnen zugleich sind, dergestalt daß, wenn man ihren Grund anzeigen soll, derselbe immer wieder einen neuen anfang hat ohne aufhören. Hingegen in dem, was nothwendig ist, kommet man bald zu Ende: denn man findet endlich einen Grund wo man aufhören kann. Dieses wissen diejenigen, welche die Mathematick gründlich gelernet.“ (Ebd., § 579). Ebd., § 520. So lautet der erste Satz in der „Vorrede“ in Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes Und ihrem Richtigen Gebrauche In Erkäntniß der Wahrheit (1712). 3. Aufl. Halle 1727 (= Deutsche Logik) (= Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 1).

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Doch wenn die Natur an und für sich selbst betrachtet vernünftig ist, kann der Philosoph dann überhaupt noch etwas Neues erfinden oder entdecken? Nehmen wir die Perspektive Wolffs ein, ist zunächst festzuhalten, dass die Prinzipien aller Dinge nicht erfunden werden können. Wir können sie aber entdecken und zwar durch die Verbesserung unserer Erkenntnis. Wohin uns die fortschreitende Verbesserung (Vervollkommnung) unserer Erkenntnis der Dinge führen wird, können wir selbstverständlich nicht vorhersehen. Selbst dann nicht, wenn die Philosophie der Methode der Mathematik folgt (was sie zweifellos tun sollte). „Wir erörtern nicht“, schreibt Wolff 1728 im Discursus praeliminaris mit Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Mathematik, wie weit der Mensch in der Philosophie voranschreiten kann. Diese ganze Erörterung ist sinnlos. […] Der Erfolg wird einen jeden lehren, was seine Schultern tragen können und was nicht. Wenn daher die Philosophen die Mathematiker nachahmten, so daß sie mit genauer Methode das lehrten, was schon entdeckt worden ist, und sich bemühten, in beständigem Fortschritt darauf immer neue Wahrheiten aufzubauen, dann wird die Philosophie ebenso wie die Mathematik täglich wachsen.17

Der Fortschritt bzw. die Vervollkommnung der Wissenschaft ist als eine im Prinzip infinite Annäherung an die vollständige und gewisse Erkenntnis aller Dinge und ihres Zusammenhangs zu verstehen. Dieser Fortschritt im Bereich unserer Erkenntnis hat einen unmittelbaren Effekt auf die Vernünftigkeit unseres Wollens. Dabei sollten wir uns jedoch davor hüten, in den anderen Wissenschaften dieselbe Gewissheit erlangen zu wollen wie in der Mathematik. Die Verbesserung unserer Erkenntnis in Gestalt der Gewinnung von klaren und deutlichen Handlungsbegriffen ist als Annäherung an das Ideal vollständiger Einsicht in die vernünftigen Strukturen der Natur zu verstehen, deren Teil wir sind. Die Schöpfung ist vollkommen, wir müssen diese Vollkommenheit18 nur erkennen. Wir sind verbunden, unsere Vernunft zu gebrauchen, um durch das Studium der Natur vernünftig zu werden. Auf dieser Ebene, auf der Ebene zunehmender Selbstaufklärung über den vernünftigen Gehalt unserer Handlungswelt gibt es Wolffs Verständnis nach also sehr wohl „Neuheit und Innovation.“ Und das nicht als historische und historiographische sondern als philosophische Kategorien. „Neuheit und Innovation“ sind keine Kategorien der Selbstinszenierung einer Disziplin und ihrer Vertreter, die Auf17 18

Wolff: Discursus praeliminaris (wie Anm. 5), § 38. „Die Zusammenstimmung des mannigfaltigen machet die Vollkommenheit der Dinge aus.“ (Wolff: Deutsche Ethik (wie Anm. 6), § 152). Vgl. Christian Wolff: Philosophia prima sive Ontologia. Editio nova priori emendatior. Frankfurt u. Leipzig 1736; 1. Auflage 1730 (= Gesammelte Werke, II, 3, 1977), § 503 („Perfectio est consensus in varietate”). Zum Vorbild dieser Definition siehe Leibniz’ Brief an Wolff vom 18. Mai 1715: „Perfectio est harmonia rerum, vel observabilitas universalium, seu consensus vel identitas in varietate; posses etiam dicere esse gradum considerabilitatis.“ (Leibniz: Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 172). Vgl. Michael Albrecht: „§ 8. Christian Wolff“. In: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 2), S. 109–157, hier S. 147.

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merksamkeit erzeugen und gut besoldete Stellen bekleiden wollen. „Neuheit und Innovation“ beziehen sich vielmehr auf unsere Erkenntnis dessen, was in seinem So-sein immer schon bestimmt ist. Ganz in diesem Sinne scheint Wolff die Wörter „finden“, „erfinden, „befinden“, „herausbringen“ und „begreifen“ als bedeutungsgleiche Ausdrücke zu verwenden.19 Sie stehen in der Tradition der Ars inveniendi, so wie sie Cicero verstand. In ihr geht es um „das Suchen und Finden von überzeugenden Argumenten“,20 nicht so sehr um das Entwickeln oder Entdecken von etwas völlig Neuem. In Wolffs Deutscher Metaphysik lesen wir entsprechend: Wenn man aus erkannten Wahrheiten andere heraus bringet, die uns noch nicht bekannt waren; so pfleget man zu sagen, das wir sie erfinden. Und die Fertigkeit unbekannte Wahrheit aus andern heraus zu bringen heisset die Kunst zu erfinden.21

Bei der Erfindung neuer Wahrheiten kann man nicht von nichts ausgehen. Man bedarf wahrer Voraussetzungen und Prämissen. Schlüsse sind „ein Mittel Wahrheit zu erfinden, die noch unbekannt ist.“22 Ähnlich äußert sich Wolff in einem Beitrag „Von den philosophischen Vorlesungen“: „Ich will aber nicht nur Regeln, zur Beurteilung der von anderen vorgebrachten Wahrheiten abhandeln; sondern auch andere Regeln geben, die ihren Nutzen haben können, Wahrheiten durch eigenes Bemühen herauszubringen.“23 Versuchen wir, Wolffs Gedanken über das Erfinden am Faden seiner eigenen Lebensgeschichte etwas zu präzisieren, stoßen wir auf aufschlussreiche Äußerun19

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„Man kann aber die Kräffte des menschlichen Verstandes nicht anders als durch die Erfahrung erkennen, indem wir sie gebrauchen. Solcher gestalt können diejenige, welche nur anderer Gedancken zusammen schreiben, niemals im Erfinden sich geübet, auch die Zeit ihres Lebens keine demonstrirte, das ist, recht gründlich ausgeführte Wahrheit begriffen, wenig oder gar nichts von den Kräfften des Verstandes und ihrem Gerbauche wissen, es sey denn daß sie etwas in tauglichen Büchern davon gelesen.“ (Wolff: Deutsche Logik (wie Anm. 17), Vorrede S. 2). An anderer Stelle führt Wolff aus: „Ich kan aus meiner Erfahrung versichern, daß die gegebenen Regeln mir gute Dienste thun, wenn ich entweder etwas erfundenes beurtheilen, oder durch eigenes Nachsinnen etwas heraus bringen soll. Ich zweiffele auch nicht, daß andere ein gleiches befinden werden.“ (Ebd., S. 8f.). Hans Poser: Leibniz’ Philosophie. Über die Einheit von Metaphysik und Wissenschaft. Hg. v. Wenchao Li. Hamburg 2016, S. 350. Zu Wolffs innovativer Weiterentwicklung von Leibniz’ Ars inveniendi siehe ebd. S. 373–376. – Es mag hier der Hinweis auf die Gleichsetzung der „Methode der Erfindung“ mit der „Sokratischen“ Methode bei Christian Garve erlaubt sein. In Einigen Beobachtungen über die Kunst zu denken unterscheidet Garve zwischen sechs verschiedenen Methoden des Denkens: „Ich nenne die erste Methode des Unterrichts, oder die systematische, die zweyte die Methode der Erfindung, oder die Sokratische, die dritte die historische, die vierte die widerlegende, die fünfte die commentirende, die sechste, die beobachtende.“ (Christian Garve: Gesammelte Werke. Hg. v. Kurt Wölfel, Erste Abteilung, Band I. Hildesheim, Zürich, New York 1985, S. 331f., zitiert in Nobert Waszek: § 19. Die Popularphilosophie. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie (wie Anm. 1), S. 410. Wolff: Deutsche Metaphysik (wie Anm. 8), § 362. Ebd., § 363. Christian Wolff: Von den philosophischen Vorlesungen. In: Ders.: Kleine Schriften. Halle 1755, Zweites Hauptstück, § 1. [ND: Hildesheim 1983 (= Gesammelte Werke, Abt. 1, Bd. 22).

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gen über sein Motiv, eine Professur für Mathematik anzunehmen. In seiner Deutschen Logik gibt er zu erkennen, dass seine Beschäftigung mit der Mathematik niemals ein Selbstzweck gewesen ist. Die Mathematik ist ein „Mittel zu rechtem Gebrauche des Verstandes zu gelangen“.24 Und genau aus diesem Grunde beschäftigt er sich mit ihr: Als ein Mittel, unseren Verstandesgebrauch und die Wissenschaften zu vervollkommnen. Und dieses ist eben eine von meinen Haupt-Absichten gewesen, warum ich mich mit Ernst auf die Mathematick geleget, nicht daß ich sie als ein Handwerck Brodt zu verdienen gelernet: denn es ist wohl niemahls mein rechter Ernst gewesen, einen Professorem Mathesos abzugeben, als wie ich die erste vocation dazu erhalten, welche ich als einen göttlichen Winck angesehen.25

Kein Zweifel: Gott hat Wolff nicht nur für die Universität bestimmt. Gott hat auch gewollt, dass Wolff zunächst eine Professur für Mathematik übernimmt. Weil es das Beste für die Vervollkommnung der Wissenschaften ist. Die Wahrheit muss „durch eigenes Nachsinnen“26 gefunden werden. Und Wolff ist dazu bestimmt, seine Prinzipien zu finden. Nach dem Antritt seiner Hallenser Professur konzentriert sich Wolff entsprechend seiner Vocation in der Lehre zunächst auf die Mathematik. Gerne würde er auch über Philosophie, seiner eigentlichen Profession, lesen. Doch er nimmt sich zurück, weil er inneruniversitäre Streitigkeiten scheut.27 Ein Blick auf den Titel seiner Habilitationsschrift genügt, um den Grund seiner Befürchtungen zu erkennen. Die praktische Philosophie nach mathematischer Methode abhandeln zu wollen? Nichts läge Christian Thomasius, dem mächtigen Universitätsgründer und streitbaren Juristen, ferner. Beide, Thomasius und Wolff, wollen die sittliche Praxis verbessern. Aber sie wollen dies auf verschiedenen Wegen erreichen. Während Thomasius durch Beispiel und eklektische Methode die Ausübung der Tugenden zu befördern versucht, setzt Wolff auf die mathematische Methode. Und während Thomasius betont, dass die Ethik „als ein habitus practicus methodo analytica tractiret“ werden muss und die „libros ad Nichomachum“28 von Aristoteles als

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Wolff: Deutsche Logik (wie Anm. 17), Vorrede, S. 6f. Ebd., S. 7. Ebd., Vorrede, S. 8. „Als ich nach Halle kam gegen das Ende des 1706 ten Jahres fand ich den Zustand anders, als ich ihm gewünscht hätte. Die Mathematick war eine unbekanndte und ungewohnte Sache, von der Solidität hatte man keinen Geschmack und in der Philosophie dominirte H. Thomasius, dessen sentiment aber und Vortrag nicht nach meinem Geschmack waren. Daher liess ich mich die ersten Jahre mit der Philosophie gar nicht ein und lass nur über Sturms Tabellen in der Mathematick, über die Algebra nach meinen MSC., ingleichen über die Baukunst und Fortification privatissime.“ (Wuttke (Hg.): Wolffs Lebensbeschreibung (wie Anm. 4), S. 146). Christian Thomasius: Von den Mängeln der Aristotelischen Ethik (1688). In: Ders.: Kleine Teutsche Schriften (= Ausgewählte Werke, Band 22). Hg. v. Werner Schneiders u. Martin Pott. Hildesheim 1994, S. 87.

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Spekulation zurückweist, fordert Wolff nicht etwa weniger, sondern entschieden mehr praxisbezogene Theorie.29 Dass die Vernunft der Grund der Freiheit und die Freiheit der Grund unserer Glückseligkeit darstellt, ist ein für Thomasius abwegiger Gedanke. Nichts ist dem Autor der 1696 publizierten Ausübung der Sittenlehre fremder als die These, dass der Wille der Verstandseinsicht – und dann auch noch mit Notwendigkeit! – folgt. Tatsächlich verhält es sich nach Thomasius genau anders herum: Der Wille beherrscht den Verstand, nicht der Verstand den Willen. Und mit Entschiedenheit hätte der Jurist Thomasius dem Ansinnen von Wolff, die Philosophie zur universitären Leitwissenschaft zu erheben, entgegengewirkt. Jahrzehnte vor Kants Streit der Fakultäten (1798) lässt Wolff keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Philosophie (und nicht die Theologie oder – wie bei Thomasius – die Jurisprudenz) eine gegenüber allen anderen Wissenschaften privilegierte Funktion hat. Wolff erhebt die Philosophie zur Leitwissenschaft. Daß die Erlernung der Philosophie vorhergehen müsse, ehe man sich auf die Theologie, Jurisprudenz oder Medizin legt, wird niemand leugnen, der nicht weniger in der Philosophie als in den jetzt gedachten anderen Wissenschaften beschlagen ist. Es wird auch aus vorhergehenden leicht erwiesen; weil die Philosophie jeder von diesen Wissenschaften das Licht anzünden und die Gründe darreichen muß.30

Fragen wir nun nach den Charakteristika seiner Theorie, die unsere moralische Praxis zu verbessern beansprucht, sind wir auf die zuvor erwähnte Philosophia practica universalis verwiesen. In dieser Schrift setzt Wolff mit der Feststellung ein, dass wir in einem fruchtbaren Zeitalter „neuer Erfindungen“ („novarum inventionum“; Übers. H. F. K) leben, von denen die praktische Philosophie bisher jedoch ausgeschlossen sei. Wolff will diesen Mangel durch Anwendung der mathematischen Methode auf die freien Handlungen des Menschen beheben. Mit dem Hinweis auf die mathematische Methode korrigiert Wolff ausdrücklich seine frühere Auffassung. In seiner Deutschen Logik führt er dazu folgendes aus: Es werden sich vielleicht einige wundern, warum ich aus den gewöhnlichen Schlüssen so viel mache, da sie doch heute fast zu jedermanns Spott worden sind. Diesen dinet zur Nachricht, daß ich eben kein Anbeter des Alterthums, auch in neuen Sachen nicht unerfahren bin; daß mir meine Lehrer auch eine Verachtung gegen die gewöhnlichen Schlüsse beygebracht, und ich gleich anderen darüber in meinem Unverstande gelachet; daß ich aber nach reiffer Uberlegung die Sache gantz anders gefunden und nun aus Liebe zur Wahrheit mich nicht scheue etwas mit grossen Leuten zu verteidigen, welches als Einfalt von denen durchgezogen wird, die bey weitem nicht tieff genug die Sachen einsehen.31

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Siehe Wolff: Nachricht (wie Anm. 4), § 135. Wolff: Vorlesungen (wie Anm. 24), erstes Hauptstück, § 24. Wolff: Deutsche Logik (wie Anm. 17), § 22 (fälschlich: § 21). „Als aber endlich, wie schon oben (§ 9.) angemerkt wurde, der einsichtsvolle Herr von LEIBNIZ mir zu verstehen gegeben hatte, daß er die Schlußrede oder Syllogismus keineswegs als etwas unnützes zum Erfinden ansieht, und er überdies auch die Bemühung um eine Methode etwas zu erfinden, gar für

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Nach einem Wink von Leibniz erkennt er jetzt, dass seine „Verachtung gegen die gewöhnlichen Schlüsse“, die ihm seine eigenen Lehrer beigebracht haben, übereilt gewesen ist. Wer neue Wahrheiten erfinden will, der muss „auf das Altertum zurückgeh[en]“. Wolff behauptet 1703 nicht nur, eine alte Methode zur Erfindung neuer Wahrheiten eingesetzt zu haben, er stellt diese Wahrheiten auch im Rahmen einer Wissenschaft vor, die erfunden zu haben er für sich in Anspruch nimmt: die allgemeine praktische Philosophie. Wovon handelt dieser Teil der Philosophie? In seinem Discursus praeliminaris von 1728 äußert er sich wie folgt zu dieser Frage: Der Teil der Philosophie, der die allgemeine Theorie und Praxis der Philosophie lehrt, wird von mir allgemeine praktische Philosophie genannt. Daher habe ich sie als affektive praktische Wissenschaft von der Leitung der freien Handlungen durch allgemeine Regeln definiert.32

Schließlich beansprucht Wolff auch, einen gänzlichen neuen Begriff der Philosophie entdeckt oder erfunden zu haben: „Philosophie ist die Wissenschaft des Möglichen, insofern es sein kann.“33 „Diese Definition der Philosophie“, so Wolff 1728, „habe ich im Jahre 1703 entdeckt, als ich mich dazu entschloß, Philosophie in privaten Vorlesungen an der Universität Leipzig zu lehren.“34 Die allgemeine praktische Philosophie mag ein Teil der Philosophie sein, an deren Existenz zuvor noch kein Philosoph gedacht haben mag. Aber worin bestehen ihre innovativen Inhalte? Wir hatten gesehen, dass Wolff von Leibniz für seine Philosophica practica universalis sehr gelobt worden ist. Aber Leibniz hat Wolff auch kritisiert. Leibniz äußert sie in einem an Wolff adressierten Brief vom 21. Februar 1705.35 Unter dem Einfluss von Leibniz distanziert sich Wolff nun von Samuel von Pufendorfs Auffassung, der er noch 1703 gefolgt ist. Wolff ist nunmehr der (seiner Ansicht nach innovativen)36 Ansicht, dass die Verbindlichkeit37 des Gesetzes nicht auf

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unnütz hielt, weil man vielmehr nach seinem Erachten, an die gegenwärtige Sache selbst gehen sollte; so erinnerte ich mich wieder, daß ich, als ein noch junger Mensch, beim Disputieren mit einigen Mönchen in den Klöstern, die meine guten Freunde gewesen waren, mich des Schlusses mit dem besten Erfolg bedient hatte; und weil ich mich zu solchen Disputationen vorher bereit gemacht, eine lange Reihe von lauter Schlüssen, miteinander verbunden hatte: so fing ich an auf die geometrischen Beweise besser achtzugeben; und dadurch kam ich dahinter, daß solche Beweise, wenn sie mit aller Schärfe herausgesucht werden, aus Schlüssen (Syllogismus) auf gleiche und eben dieselbe Weise unter sich verknüpft waren, wie ich sie bereits als ein Jüngling an einander zu knüpfen pflegte, wenn ich meine Sätze beweisen sollte.“ (Wolff: Vorlesungen (wie Anm. 31), zweites Hauptstück, § 26). Wolff: Discursus praeliminaris (wie Anm. 5), § 70. Ebd., § 29. Ebd. Siehe Leibniz: Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 19. Siehe auch Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein Intellektuelles Porträt. Studien Zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 147–151. Siehe unter anderem Wolff: Deutsche Ethik (wie Anm. 6), Vorrede zur dritten Auflage; sowie Wolff: Nachricht (wie Anm. 4), § 176. „Ich habe ferner gezeiget, wie es möglich ist einen Menschen zu verbinden etwas zu thun und zu lassen, und insonderheit die natürliche Verbindlichkeit in einem unverhofften Lichte

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der Erkenntnis eines Gesetzgebers beruht, der die Befolgung des Gesetzes erzwingen kann. Der Grund der Verbindlichkeit ist nicht die Furcht und auch nicht die Hoffnung auf Belohnung. Das natürliche Gesetz verpflichtet uns nicht, weil Gott dies so gewollt hat. Ganz im Gegenteil verpflichtet uns das natürliche Gesetz, weil es vernünftig ist. Selbst Gott wird durch seine Vernunft verbunden, seinen Willen vernünftig zu bestimmen. Nichts existiert ohne zureichenden Grund seiner Existenz. Und wir erkennen diesen Grund durch unsere Vernunft. Als Vernunftwesen sind wir Gott gleich. Die wahre Verehrung Gottes besteht also darin, dass wir uns selbst und unseren Zustand entsprechend seiner absichtsvollen Schöpfung vervollkommnen. „Der Wandel der Menschen bestehet aus vielen Handlungen: wenn diese alle mit einander zusammen stimmen, dergestalt, daß sie endlich alle insgesammt in einer allgemeinen Absicht gegründet sind; so ist der Wandel des Menschen vollkommen.“38 Damit hat Wolff im Gefolge von Leibniz für die vernunftaffine Seite der deutschen Aufklärungsphilosophie insgesamt wegweisende Einsichten formuliert: Weil erstens die Vernunft die Quelle des natürlichen Gesetzes ist und zweitens der freie

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vorgestellet, die man vor diesem mehr zu nennen, als zu erklären gewust. Und eben daraus erhellt, daß bloß mit der natürlichen Verbindlichkeit die Tugend bestehen kann; alle übrige aber weiter nichts als eine äußerliche Zucht würckt. Derowegen da man in der Moral zeigen sol, wie man zur Tugend gelanget, so kommet es hauptsächlich darauf an, daß man der natürlichen Verbindlichkeit ein Genügen thut. Bey dieser Verbindlichkeit bleibet der Mensch ganz frey in seinen Handlungen und er ist niemahls freyer als wenn er nach derselben handelt: hingegen bey aller übrigen Verbindlichkeit ist eine Art des Zwanges anzutreffen, welcher für die jenigen nöthig ist, die die Beschaffenheit ihre Handlungen recht einzusehen nicht vermögend sind. Verständige und vernünfftige Menschen brauchen keine weitere Verbindlichkeit als die natürliche: aber unverständige und unvernünfftige haben eine andere nöthig und die muß man die knechtische Furcht für der Gewalt und Macht eines Oberen zurücke halten, daß sie nicht thun, was sie gerne wollen. Wenn man demnach den Menschen lencken will, so kann man es auf zweyerley Weise angreiffen. Entweder man lenckt ihn durch Zwang wie das Viehe; oder durch Hülffe der Vernunfft, wie eine vernünfftige Creatur.“ (Wolff: Deutsche Ethik (wie Anm. 6), „Vorrede zu der andern Auflage“, 1722). Zu Wolffs Verbindlichkeitsbegriff siehe Dieter Hüning: Christian Wolffs „allgemeine Regel der menschlichen Handlungen“. Über die Bedeutung des Vollkommenheitsprinzips in Wolffs Moralphilosophie. In: Jahrbuch für Recht und Ethik/Annual Review of Law and Ethics 12 (2004), S. 91–113; sowie Ders.: Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie. In: Pierre-Oliver Rudolph u. JeanFrançois Goubet (Hg.): Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen. Berlin 2004, S. 143–167; sowie Ders.: Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff. In: Simon Bunke, Katerina Mihaylova u. Daniela Ringkamp (Hg.): Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 2015, S. 37–57; sowie Clemens Schwaiger: The Theory of Obligation in Wolff, Baumgarten, and the Early Kant. In: Karl Ameriks u. Otfried Höffe (Hg.): Kant’s Moral and Legal Philosophy. Cambridge 2009, S. 58– 73. Wolff: Deutsche Metaphysik (wie Anm. 8), § 152. Siehe auch den Hinweis auf Leibniz’ Brief an Wolff vom 18. Mai 1715 (Leibniz: Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 168–172, hier S. 172), in dem dieser Wolff vorschlägt, den Begriff der Vollkommenheit (und seiner dynamischen Vorstellung als Vervollkommnung) in das Zentrum zu stellen, in: Albrecht: Wolff (wie Anm. 19), S. 109–157, hier S. 147.

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Wille der Vernunfterkenntnis folgt, stellt die Verbesserung unserer Erkenntnis des durch das Gesetz definierten Guten zugleich eine Verbesserung unseres Wollens dar. Je vernünftiger wir sind, desto freier sind wir. Wer frei ist, wer das Gute aus eigener Einsicht erstrebt, der ist Herr über sich selbst. Herr über sich selbst sein, das ist das Ziel aller unserer vernünftigen Gedanken über der Menschen Tun und Lassen. Herr über sich selber zu sein, bedeutet nach Wolff, seinen „Sinnen“ widerstehen zu können und auf diese Weise sich von der „Sclaverey los zu reissen, und in die Freyheit zu versetzen“.39 Die nach Leibniz’ Anregung neukonzipierte allgemeine praktische Weltweisheit arbeitet Wolff während seiner ersten Jahre an der Fridericiana aus. Sie erscheint zunächst als erstes Kapitel 1 („Von der allgemeinen Regel der menschlichen Handlungen und dem Gesetze der Natur.“) der Deutschen Ethik von 1720 und wird von ihm dann in einem mehr als 1400 Seiten umfassenden zweibändigen Werk 1738/39 während seiner Zeit in Marburg als stark erweitertes und separates Werk publiziert. Die allgemeine praktische Philosophie ist nicht mehr und nicht weniger als eine allgemeine Theorie des menschlichen Handelns. Sie ist ein Handbuch der Freiheit, ein Traktat über das Wesen der „freyen Handlungen“,40 die ihren Ursprung im menschlichen Willen haben. Sie ist eine Grundlagenwissenschaft für Ethik und Recht, Ökonomie und Politik. Mit ihr tritt an die Stelle von Beispiel, Autorität und Tradition die eine Vernunft, die uns seiner festen Überzeugung nach Einsicht in den notwendigen Zusammenhang und in die Ordnung der Dinge (einschließlich unserer Handlungswelt) gewährt. Wolffs „Erfindung“ der allgemeinen praktischen Philosophie erweist sich als äußert folgenreich. Philosophen wie Christian August Crusius (der sie „die schwerste und verdrüßlichste unter allen moralischen Wissenschaften“41 nennt); Alexander Gottlieb Baumgarten42 und Georg Friedrich Meier43 greifen die Idee einer allgemeinen praktischen Weltweisheit (allerdings unter Verzicht auf die mathematische Methode) auf und publizieren ihr gewidmete Bücher. Bis zu Kant44

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Wolff: Deutsche Ethik (wie Anm. 6), § 184. Ebd., § 1. „Die allgemeine practische Philosophie habe ich mit gutem Bedachte der Bequemlichkeit meiner Leser und Zuhörer willen nicht in eine besondere Wissenschaft absondern wollen, sondern in das erste Capitel der Ethik, und in das erste und andere Capitel des Rechtes der Natur verteilet. Es ist die schwerste und verdrüßlichste unter allen moralischen Wissenschaften.“ (Christian August Crusius: Anweisung vernünftig zu leben, Darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden. Leipzig 1744 (= Die philosophischen Hauptwerke, Bd. 1, Hildesheim 1969), Vorrede zur ersten Auflage, S. 16f). Alexander Gottlieb Baumgarten: Initia philosophiae practicae primae acroamatice. Halle 1760. Georg Friedrich Meier: Allgemeine practische Weltweisheit. Halle 1764 (ND: Hildesheim 2006). Siehe Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin [u. a.] 1900, Band IV, „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten. (Philosophica practica universalis.)“, S. 221–228.

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und Hegel45 ist sie in der einen oder anderen Weise von großer Bedeutung. Der mit dieser neuen Wissenschaft einhergehende Impetus wird sehr schön deutlich an einer heute vergessenen Schrift von 1774 (Jena) von dem aus Bayern stammenden und früh verstorbenen Johann Paul Sutor.46 Diese Schrift trägt den Titel: Allgemeine practische Weltweisheit. Ein Versuch für die Philosophie in Bayern. In der Vorrede schreibt Sutor: Lange ist der Werth der practischen Philosophie bey dem vernünftigen Theil des Publicums entschieden; ihr Geschäft ist es, den Menschen, und Bürger zu bilden, gewiß ein höchst wichtiges Geschäft: Meine Landsleute zum fleißigen Studium einer so unentbehrlichen Disciplin anzufeuern, ist die Absicht dieser Arbeit, die, wenn sie ihrer Bestimmung entspricht, es mich niemahls gereuen wird, unternommen zu haben. Neue Wahrheiten, gelehrte Wunder wird man hier vergeblich suchen. Aber müssen denn auch alle Schriften etwas neues enthalten? giebt es nicht Wahrheiten, die zwar gemein sind, aber nicht oft genug können wiederholt werden? und vielleicht sind in diesen Bogen einige von der Art enthalten.47

Es bleibt hinzuzufügen, dass Sutor in seinem „Vorbericht“ zwischen zwei Gruppen von „Schriftstellern“ unterscheidet. Die erste Gruppe wendet sich der allgemeinen praktischen Philosophie oder einzelnen Aspekten von ihr im Rahmen des Naturrechts und anderer Disziplinen zu. Die andere Gruppe trägt diese Disziplin dagegen „als eine besondere Disciplin in einzelnen Schriften“ vor. Zu dieser zweiten Gruppe zählen nach Sutor „Wolf, a) Baumgarten, b) Meier, c), Achenwall, d) und neuerlich Herr von Martini.“48 Es besteht kein Zweifel: Die Friedrichs-Universität (und heutige MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg) sollte den Schweden und den Hessen, aber eben auch Wolff selbst dankbar sein. Seine Erfindung der allgemeinen praktischen Weltweisheit hat Epoche gemacht und dazu beigetragen, dass Halle zu einem Zentrum der Aufklärung wurde. Die Erforschung der Aufklärung ist bis zum heutigen Tag nicht abgeschlossen. Sie einseitig aus der Perspektive der Historisierung zu thematisieren, würde allerdings nicht nur den Intentionen ihrer Protagonisten entgegenstehen. Sie würde uns selbst Chancen der Selbstverständigung, Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis nehmen. Philosophen wie Leibniz oder Wolff, Locke oder Hume, Rousseau oder Kant haben sich in ihren Schriften zu Begriffen und Argumenten, Methoden und Systemen geäußert, über die wir solange sinnvoll nachdenken können, wie wir ein Interesse an den Grundlagen unseres Denkens, Fühlens und Handelns nehmen. „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?“, 45

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Siehe dazu die „Einleitung“ in Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. (Berlin 1821). Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, §§ 1–32 sowie den Hinweis bei Manfred Baum: Gemeinwohl und allgemeiner Wille in Hegels Rechtsphilosophie. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 60 (1978), S. 177. Siehe Heiner F. Klemme: Sutor, Johann Paul junior (1752–82). In: Bloomsbury Dictionary (wie Anm. 2), S. 767–768. Sutor: Allgemeine practische Weltweisheit. Ein Versuch für die Philosophie in Bayern. Jena 1774, Vorrede. Sutor: Weltweisheit (wie Anm. 48), S. 4.

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fragt Kant 1784. Und seine Antwort lautet „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Ob wir heute immer noch oder erneut in einem „Zeitalter der Aufklärung“ leben (welches sich nach Kant durch den allmählichen „Ausgang“ der Menschen „aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit“49 auszeichnet), in ihm leben wollen oder sogar danach streben sollten, in ihm zu leben, ist eine komplexe Frage, die mit Gründen zu beantworten wäre. Die Philosophen im Zeitalter der Aufklärung jedenfalls sind weder unsere Freunde noch unsere Feinde. Sie sind unsere Gesprächspartner, weil ihre wesentlichen Gedanken von zeitloser Relevanz sind. Sie erwarten von uns eine Stellungnahme. Und wir sollten sie ihnen nicht verweigern.50

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Kant: Gesammelte Schriften (wie Anm. 45), Bd. 8, S. 40. Für Korrekturvorschläge danke ich vor allem Katerina Mihaylova und John Walsh (Halle).

AXEL RÜDIGER

Zwischen innovativem Republikanismus und orientalischem Atheismus. Zur (Vor-)Geschichte des Streites um die chinesische Philosophie in der Frühzeit der Universität Halle China ist als Gegenstand des akademischen Streites in der Frühaufklärung eng mit der berühmten Rede des Philosophen Christian Wolff Über die praktische Philosophie der Chinesen von 1721 verknüpft.1 Diese Rede, die anlässlich der Übergabe des Prorektoratsamtes an der 1694 gegründeten brandenburgisch-preußischen Reformuniversität Halle gehalten wurde, markiert zweifellos – wenn auch vor allem über ihre Wirkungen – einen innovativen Einschnitt, so dass sie wohl zurecht als „Signal der deutschen Aufklärung“ bezeichnet wird.2 Die spektakulären Folgen, die 1723 zunächst zur Vertreibung und 1740 zur triumphalen Rückkehr Wolffs an die Friedrichsuniversität führten, haben damals europaweit Beachtung gefunden und hierüber das intellektuelle Diskursfeld nicht nur in Halle verändert. Jüngere ideengeschichtliche Darstellungen der deutschen Aufklärungsepoche sehen in diesem Vorgang vor allem eine globale Entgrenzung des Aufklärungsverständnisses.3 Dabei sei die Ausweitung des Blickfeldes gleichzeitig kombiniert gewesen einerseits mit der Abgrenzung eines neuen Fortschritts- und Glücksoptimismus vom pessimistischen Menschenbild des theologischen Augustinismus sowie andererseits mit dem Übergang vom politisch-galanten Gelehrsamkeitsideal der von Christian Thomasius repräsentierten Frühaufklärung zu dem von Wolff vertretenen mathematisch-philosophischen Aufklärungsverständnis, das sich über die kluge Gestaltung der Gegenwart hinaus der universellen menschlichen Vervollkommnung verpflichtet fühlt. Insofern habe der Streit über den Wert der chinesischen Philosophie nicht nur eine katalytische Rolle für die Differenzierung von Aufklärung und Pietismus, sondern auch für die Binnendifferenzierung der Aufklärung gespielt. Politisch habe Wolff damals, so resümiert Steffen Martus, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation „unter dem Deckmantel der ‚chinesischen Weisheit‘ […] Regierungsweisheit anstelle von Regierungsmacht“ empfohlen, „denn im ‚Imperium Sinese‘ als ‚Kayserthum‘ konnte sich das Alte Reich spiegeln.“4

1 2 3 4

Vgl. Christian Wolff: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Übers., eingel. u. hg. von Michael Albrecht. Hamburg 1985 [1726]. Michael Albrecht: Einleitung. In: Wolff: Rede (wie Anm. 1), S. XLV. Vgl. Steffen Martus: Aufklärung: Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 257–283. Ebd., S. 271.

https://doi.org/10.1515/9783110682076-013

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Axel Rüdiger

Tatsächlich war Wolff aber keineswegs der erste aus der Gründungsgeneration der halleschen Universität, der sich für China interessierte. Zuvor hatten sich schon so prominente Gelehrte wie unter anderem August Hermann Francke, Christian Thomasius, Johann Franz Budde und Nikolaus Hieronymus Gundling mehr oder weniger intensiv mit der Kultur und der Philosophie des chinesischen Imperiums beschäftigt. Vielleicht könnte sogar das Bild von der Spitze eines Eisberges bemüht werden, das der einseitigen Fokussierung der Ideengeschichte auf Wolff und die Geschehnisse nach 1721 zugrunde liegt. Dann würde der Eisberg als Ganzes für eine wissenschaftspolitische Kontroverse stehen, die bei der Gründung und Ausgestaltung der Fridericiana in den ersten 30 Jahren ihres Bestehens innovative Spuren in der Theologie- und Philosophiegeschichte hinterlassen hat, die bisher jedoch nur unvollständig in den historischen Blick geraten sind. In diesem Falle wäre der Streit um Wolffs Rede nur der schrille Schlussakkord einer längeren und komplexen Debatte, in dem die theoretisch-weltanschauliche Auseinandersetzung mit persönlichen Rivalitäten um universitäre Macht und Stellen kulminierte.5 In der Folge soll der Versuch unternommen werden, die theoretisch-politische Dimension des Streites aus ihrer Vorgeschichte in Grundzügen zu rekonstruieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Vorgeschichte, so dass Wolffs Interpretation der chinesischen Philosophie an dieser Stelle nicht gesondert behandelt wird, sondern lediglich als Ausgangs- und Endpunkt dient.6 Damit werden Voraussetzungen für eine umfassende Darstellung der Chinarezeption in der deutschen Frühaufklärung geschaffen.

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Siehe hierzu Albrecht Beutel: Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie. In: Ulrich Köpf (Hg.): Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Beiträge zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung. Für Rolf Schäfer zum 70. Geburtstag. Tübingen 2001, S. 159–202; Barbara Mahlmann-Bauer: Christian Wolffs Hochschulpolitik. Institutionengeschichtliche Hintergründe von Wolffs Vertreibung aus Halle. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Bd. 4. Hildesheim [u. a.] 2010, S. 319–362 sowie Andreas Pečar, Holger Zaunstöck u. Thomas Müller-Bahlke (Hg.): Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe. Halle 2015. Zur Interpretation von Wolffs China-Rede siehe neben Albrecht: Einleitung (wie Anm. 2) insbesondere Thomas Fuchs: Christian Wolff und das China-Bild der Aufklärung. In: Stolzenberg u. Rudolph (Hg.): Christian Wolff (wie Anm. 5). Bd. 5, S. 397–409; Henrik Jäger: Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 37,2 (2012), S. 165–189 sowie Eun-Jeung Lee: „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Münster, Hamburg, London 2003, S. 84–110.

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I. Chinesischer Republikanismus und platonischer Pietismus (August Hermann Francke) Das Phänomen ‚China‘ war schon im 17. Jahrhundert ein durchaus prominenter Gegenstand der gelehrten Debatte in Europa, das insbesondere über die Zeugnisse der ursprünglich von Matteo Ricci geführten Jesuitenmission vermittelt war.7 Von diesen Informationen ließ sich schon Francis Bacon leiten, als er in der chinesischen Sprache einen Schlüssel zur primordialen Universalsprache vermutete und darüber spekulierte, ob nicht das ‚Buch der Natur‘ vielleicht sogar ursprünglich in Chinesisch geschrieben sein könnte.8 Sein innovatives Wissenschaftsprogramm des New Learning, das sich auf die vorurteilsfreie, enzyklopädische Sammlung aller verfügbaren menschlichen Wissensbestände in Form einer Historia literaria stützen sollte, war bestrebt, aus der Integration des traditionsreichen chinesischen Wissens möglichst großen Gewinn zu ziehen.9 An Bacons Spekulationen anknüpfend, veröffentlichte John Webb 1669 sein Historical Essay Endeavoring a Probality that the Language of the Empire of China is the Primitive Language, das wiederum auf Gottfried Wilhelm Leibniz einwirkte.10 Auch für René Descartes war die Konfrontation der traditionellen europäischchristlichen Selbstgewissheit mit dem fremden und für die abendländischen Gelehrten gänzlich neuartigen Wissen der Chinesen ein wichtiges Argument für die notwendige methodische Neubegründung der Philosophie.11 Der niederländische Philosophiehistoriker Georg Horn schlussfolgerte 1655 aus der Lektüre jesuitischer Schriften, das gesamte chinesische Reich werde ausschließlich von Philosophen regiert, so dass Platons politisches Ideal ausschließlich dort erfüllt sei.12 Dieser Gedanke von der modernen Verwirklichung des platonischen Republikanismus in 7 8

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Siehe hierzu grundlegend Lee: „Anti-Europa“ (wie Anm. 6) sowie David E. Mungello: The Great Encounter of China and the West, 1500–1800. Lanham, MD. u. a. 1999. Vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 1994, S. 218–221; Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992; Allison P. Coudet (Hg.): The Language of Adam. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Forschungen 84). Zur Historia literaria siehe: Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. Siehe hierzu Rachel Ramsey: China and the Ideal of Order in John Webb’s An Historical Essay … In: Journal of the History of Ideas. 62,3 (2001), S. 483–503 und Rita Widmaier: Die Rolle der chinesischen Schrift in Leibniz’ Zeichentheorie. Wiesbaden 1983. Vgl. René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. In: Ders.: Philosophische Schriften in einem Band. Mit e. Einf. von Rainer Specht. Hamburg 1996, S. 27 u. 39. „Doctrinam ethicam et politicam satis accuratam habent. Scribit Lombardus tam praeclare eos de Republica commentary ut, si ab inferis Plato remearet, alium desideraturus quam Sinensem non foret.“ (Georg Horn: Historiae philosophicae libri septem. Leiden 1655, S. 309 zitiert nach Thijs Weststeijn: Vossius’ Chinese Utopia. In: Eric Jrink u. Dirk van Miert (Hg.): Isaac Vossius (1618–1689) between Science and Scholarship. Leiden 2012, S. 207–242, hier S. 209.) Zum Motiv des platonischen Orientalismus siehe auch Udo Reinhold Jeck: Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition. Frankfurt a. M. 2004.

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China wurde schließlich 1685 von Isaac Vossius, dem freigeistigen Hofbibliothekar der Königin Christina von Schweden und späteren Kanoniker von Windsor, aufgegriffen und zum Vorbild für eine republikanische Sozialreform in Europa ausgebaut.13 Von der Gründungsgeneration der halleschen Universitätsgelehrten nach 1694 hatte sich publizistisch niemand anders als August Herrmann Francke – das spätere Oberhaupt der pietistischen Partei in Halle und als solcher 1721 Antagonist von Wolff – zuerst mit China beschäftigt. Vor seiner Zeit in Halle hielt Francke 1688 in Hamburg als Stipendiat der Schabbelstiftung eine bemerkenswerte Rede über das Verhältnis von Christen und Chinesen bezüglich ihrer rechtlichen und sittlichen Institutionen.14 Von einer religiösen Ablehnung der heidnischen Sitten und Tugenden der Chinesen, die der pietistischen Partei im Streit mit Wolff von der Forschung attestiert wird, findet sich darin freilich noch keine Spur.15 Vielmehr vertritt Francke darin überraschend klar höchst sinophile Positionen, die große Ähnlichkeit mit der republikanischen Idealisierung Chinas durch Gelehrte wie Horn und Vossius haben. Worum geht es hierbei im Einzelnen? Francke stellt sich für seinen Vortrag die Frage: „ob unsere christliche ‚Praxis‘ der Strenge der Chinesen in Beobachtung des Rechts und in der Pflege guter Sitten vorzuziehen sei“?16 Er beginnt mit der Zeitdiagnose einer „beispiellose(n) Sittenverderbnis“, in die er nicht nur das katholische, sondern auch das protestantische Europa einschließt und die aus der Verfallsgeschichte des Christentums und der unvollendeten Reformation resultierte.17 Auf der Suche nach einem „Heilmittel für dieses Übel“ könne Europa durchaus von jenen tugendhaften „Heiden“ lernen, deren Vorbild dem „Christenvolk die Schamröte ins Gesicht treiben müßte.“18 Neben dem alten Vorbild der Griechen und Römer kommt hierfür laut Francke vorzüglich auch das moderne China in Frage, das den Ersteren sogar vorzuziehen sei.

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Vgl. Weststeijn: Vossius (wie Anm. 12). August Hermann Francke: Oratio, qua disquiritur, an in justitia servanda bonisque moribus colendis Christiani a Sinensibus vincantur. Leipzig 1688. In der Folge zitiert nach: Aus der Rede über die Frage, ob in der Beobachtung des Rechts und der Pflege guter Sitten die Christen von den Chinesen übertroffen werden [Aus dem Lateinischen übersetzt von August Nebe.] 1688. In: Leopold Cordier (Hg.): Der junge August Hermann Francke. Quellenstücke. Schwerin 1927, S. 6–64. Siehe hierzu auch Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, S. 41f. Laut Albrecht: Einleitung (wie Anm. 2), S. XLVII beruht die pietistische Kritik an Wolffs China-Rede wesentlich darauf, dass „(f)ür ‚Mitteldinge‘ wie z. B. für eine mögliche heidnische Tugend“ im halleschen Pietismus „kein Platz“ gewesen sei. Für Franckes Stellungnahme von 1688 gilt dies allerdings nicht. Francke: Rede (wie Anm. 14), S. 62. Ebd. Ebd.

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Wenn irgendein anderes Barbarenvolk, so lässt jedenfalls das chinesische einen solchen Vergleich zu; denn bei ihm finden wir eine solche Billigkeit und so herrliche Beispiele der Tugenden, dass sie mit Recht den alten Griechen und Römern den Siegespreis zu entreissen und uns ihn strittig zu machen scheinen.19

Hieraus wird das Programm eines systematischen Kulturvergleichs abgeleitet: „Lasst uns die Christenländer durchmustern, unser Streben betrachten, unsere Sitten beobachten und mit denen der Chinesen vergleichen!“20 Dieses bemerkenswerte Programm eines umfassenden politisch-moralischen Kulturvergleichs wird von Francke provisorisch an einigen wenigen Beispielen durchgespielt, die alle zugunsten Chinas ausfallen. Er geht hierbei auf den vorbildlichen Republikanismus der politischen Ordnung, die ebenso effektive wie gerechte Justiz sowie die vorbildlichen Institutionen der sozialen Wohlfahrt ein. Quellen werden freilich nicht genannt, gleichwohl lassen sich ähnlich Argumente auch bei Horn, Vossius und zuvor schon bei Michel de Montaigne feststellen.21 Obwohl etwa der Monarch in China zum Beispiel mehr Macht besitze als jeder europäische Fürst, müsse dieser dort jederzeit mit „der Kritik seiner Untertanen“ rechnen, „wenn er etwas unternimmt, was der Gerechtigkeit und den guten Sitten widerstreitet“.22 Im scharfen Kontrast dazu stellt Francke bezüglich Europa fest: „bei uns setzen sich nicht nur die Fürsten über göttliche und menschliche Gesetze hinweg, sondern jeder Privatmann benimmt sich auf seinen Grund und Boden ungestraft als Tyrann.“23 Während sich ferner die chinesischen Gerichte höchst wirksam um die Bestrafung der Verbrecher und die Ausübung sozialer Gerechtigkeit kümmerten, treffe für das einheimische Justizwesen das Gegenteil zu: „Unsere Gerichte kann man mit Fug und Recht nicht Zufluchtsstätten für Unterdrückte, sondern Zuchthäuser, nicht Schutzwehren für Arme, sondern Marterwerkzeuge, Stätten der Habgier und Schandplätze der Ungerechtigkeiten nennen.“24 Anschließend bringt Francke seine Bewunderung für das Sozialwesen der Chinesen zum Ausdruck, hinter der wiederum die Kritik an der eigenen sozialen Realität steckt: „Um die Armen, Unterdrückten und Waisen sorgen jene so eifrig, dass der Kaiser selbst für sie einen Pfleger einsetzt […], dessen ganzes Amt besteht darin, alle Hilfsbedürftigen aufzurichten, ihnen Wohltaten zu erweisen und als ihr Beschützer aufzutreten.“25 Auf diese Weise preist Francke „die höchst erfreuliche Pflege aller Tugenden, die sich auf die Gerichtspflege und Staatsleitung der Chinesen gründet“.26 Die von ihm diagnostizierte christliche Dekadenzgeschichte äußert 19 20 21 22 23 24 25 26

Ebd. Ebd. Michel de Montaigne: Essais. Bd. 1. Zürich 1992, S. 349f. Francke: Rede (wie Anm. 14), S. 62. Ebd., S. 62f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 63. Ebd.

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sich insbesondere im Verfall der Sitten und der „Lebensführung“. Der absolute normative Bezugspunkt bleibt trotz der aktuellen Wertschätzung der chinesischen Lebensweise jedoch das ursprüngliche Christentum. „Denn den Siegespreis, den wir jetzt den Heiden lassen, den mussten diese einst uns, doch nein, nicht uns, sondern den alten Christen, freiwillig zugestehen.“27 Die starke Präferenz für eine grundlegende Sozialreform, die Franckes kurze China-Rede enthält, kombiniert, so lässt sich resümieren, eine pietistische Rückkehr zu den Werten des Urchristentums inklusive eines platonischen Republikanismus, der den Tugendbegriff der griechisch-römischen Antike mit den Institutionen und Sitten des modernen Chinas kurzschließt. China bildet gleichsam die Brücke für den Übergang vom antiken Republikanismus zu einer modernen Institutionenordnung, wie sie im Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes diskutiert wurde und die zugleich den ursprünglichen Geist des Christentums neubelebt. In diesem Sinne übernimmt Francke mit seiner idealisierenden Darstellung des Reiches der Mitte durchweg die positiven Urteile, die vermittelt über die Jesuiten im philosophischen Diskurs Europas von Montaigne bis Vossius kursierten. Wenn Francke die pagane Tugend von Griechen, Römern und Chinesen nahezu gleichberechtigt an die Seite christlicher Frömmigkeit stellt, dann bringt ihn das theologisch in die Nähe der jesuitischen Doktrin des Molinismus, wonach sich der Mensch im status naturalis trotz Erbsünde prinzipiell immer noch für eine moralische Lebensführung und die hieraus resultierende Seligkeit entscheiden könne. Im sogenannten ‚Gnadenstreit‘, der ursprünglich im 16. Jahrhundert zwischen den Anhängern Luis de Molinas sowie den Thomisten und Dominikanern ausgetragen wurde, 1640 aber durch eine Intervention des Bischofs von Ypern Cornelius Jansen neu entfacht wurde, ging es um die Frage, ob das göttliche Naturgesetz genüge, um die menschliche Moral auch unabhängig von der direkten Offenbarung des Evangeliums zu begründen.28 Während die katholischen Jansenisten in Frankreich dies ebenso wie die orthodoxen Lutheraner strikt ablehnten, bezogen die Jesuiten gemeinsam mit den evangelischen Pietisten die gegenteilige Position. Auch der französische Philosoph François de La Mothe de Vayer, der Erzieher Ludwigs XIV., hatte sich 1641 für Molina und gegen Jansen ausgesprochen und diese Ansicht in seinem Traktat über die Tugend der Heiden (De la vertu des payens) – der im Auftrage Richelieus geschrieben wurde – erstmals durch eine direkte positive Bezugnahme auf China begründet.29 Neben Horn und Vossius konnte sich Francke 1688 daher auch auf La Mothe de Vayer stützen. Neben den genannten Quellen dürfte die Publikation der klassischen Bücher des Konfuzianismus 1687 unter dem Titel Confucius Sinarum Philosophus sive

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Ebd. Siehe hierzu die präzise Zusammenfassung bei Wilhelm Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal. München 1999, S. 25ff. Vgl. Lee: Anti-Europa (wie Anm. 6), S. 60.

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scientia Sinensis durch ein jesuitisches Übersetzerkollektiv unter Führung von Philippe Couplet ein weiterer Anlass für Franckes 1688 entflammte ChinaBegeisterung gewesen sein. Darin wird das konfuzianische Moralsystem von den Jesuiten als eine sublime Quelle der natürlichen Vernunft interpretiert, deren Reinheit jenseits der göttlichen Offenbarung alle bisher bekannten antiken Quellen übertreffen sollte. Die feierliche Übergabe dieses Prachtbandes an Ludwig XIV. – dem er auch gewidmet war – fand in einem pompösen Festakt an der Pariser Académie des sciences statt und sorgte in ganz Europa für Aufsehen.30 Die Edition enthielt drei von den insgesamt vier klassischen Büchern des Konfuzianismus („Sishu“) und bildete den vorläufigen Höhepunkt von jesuitischen Veröffentlichungen über China. Zuvor hatten insbesondere die Herausgabe der Aufzeichnungen Matteo Riccis 1615 durch Nicholas Trigault und Martin Martinis Novus atlas Sinensis von 1655 schon für öffentliche Furore gesorgt. Letzterer hatte Zweifel an der Richtigkeit der christlich-biblischen Zeitrechnung geschürt, da die bezeugte Gründung des chinesischen Kaiserreiches vor die geltende Datierung der Sintflut fiel. Zu diesem Thema hatte Couplet 1686 bereits eine chronologische Tabelle veröffentlicht (Tabula Chronologica Monarchiae Sinicae), in der er versuchte, das Alter der chinesischen Kultur mit dem biblischen Text der Septuaginta zu synchronisieren, denn in der biblischen Schöpfungsperspektive der Vulgata hatte sich eine Lücke von 1440 Jahren aufgetan. Die umfangreiche Einleitung des Confucius Sinarum Philosophus enthält eine ausführliche Beschreibung der chinesischen Kultur aus der Perspektive der von Ricci entwickelten Strategie des jesuitischen Missionskonzepts, das wesentlich auf dem Prinzip der Akkommodation aufbaut.31 Nach Auffassung der Jesuiten befinden sich die vom Konfuzianismus tradierten Wissens- und Sittenbestände in einer Kontinuität zur jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte nach dem Modell der translatio sapientia und können deshalb analog zur antiken Philosophie behandelt werden.32 Insofern wird das missionarische Programm der kulturellen Akkommodation eng mit der altchristlichen Methode der Apologetik verknüpft, die sich auf die Relevanz der primordialen Weisheitsgenealogie (prisca sapientiae) stützt, die parallel zur unmittelbaren religiösen Offenbarung auf natürlichem Weg zum göttlichen Ursprung zurückführt. Die natürliche Religion des alten Weisheitswissens 30

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Philippe Couplet: Confucius Sinarum philosophus, sive scientia Sinensis Latine exposita studio & opera. Paris 1687. Der Band enthält neben den Büchern „Daxue“ (Die große Lehre) und „Zhongyong“ (Innehalten der Mitte), die bereits 1673 von Intorcetta ins Französische übersetzt wurden, auch das Buch „Lunyu“ (Gespräche des Konfuzius). Vgl. zu den politischen Umständen dieser Publikation: Nicholas Dew: Orientalism in Louis XIV’s France. Oxford 2009. Vgl. hierzu David E. Mungello: Curious Land. Jesuit Accommodation and the origins of Sinology. Stuttgart 1985 (Studia Leibnitiana, Supplementa 25), S. 260–277 sowie Lee: AntiEuropa (wie Anm. 6), S. 50f. Zum Konzept der translatio sapietiae, siehe Wilhelm Schmidt-Biggemann: Translatio sapientiae. In: Dialektik: enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften 1 (1998), S. 47–72.

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kann folglich philosophisch zur Bestätigung der göttlichen Offenbarung herangezogen werden. Demnach enthielt die Urreligion Chinas ähnlich wie die griechische Philosophie eine im jüdisch-christlichen Sinne reine und natürliche Gottesanschauung, die allerdings durch die spätere Entwicklung und insbesondere das Eindringen des Buddhismus verschüttet wurde.33 Gemäß der Lehre vom logos spermatikos haben die Jesuiten seit Ricci deshalb versucht, aus den alten konfuzianischen Schriften verborgene „Samenkörner und Funken“ des Lichtes natürlicher Wahrheit und Gotteserkenntnis zu bergen.34 Die alten konfuzianischen Chinesen hätten ebenso wie die griechischen Philosophen „mit dem Logos vor Christus als Christen gelebt“, der daher in den konfuzianischen Texten konserviert sei.35 Aus diesem Grund hielten die Jesuiten die chinesischen Literati – die Hüter der konfuzianischen Bücher und eine über Textkenntnis examinierte politische Beamtenelite – für den Schlüssel einer möglichen christlichen Mission. Sie passten sich den Sitten und der Tracht der chinesischen Literaten an und propagierten ihren christlichen Glauben primär im Rahmen ihrer erfolgreichen wissenschaftlichen Tätigkeit als kaiserliche Hofmathematiker. Im Konzept der propagatio fidei per scientias wurden Mission und Wissenschaft faktisch gleichgesetzt. Diese wissenschaftsgestützte Akkommodationsstrategie führte jedoch innerhalb der katholischen Kirche zum sogenannten ‚Ritenstreit‘, in dem der Vorwurf gegen die Jesuiten erhoben wurde, sie passten sich an heidnische Riten des Konfuzianismus an und verrieten damit die christliche Religion.36 Für die Jesuiten aber trat der chinesische Konfuzianismus zumindest gleichberechtigt neben die pagane Philosophie der Antike. Zu einer Ablehnung, wie sie sich besonders unnachgiebig im Umfeld des Jansenismus artikulierte, bestand daher kein Grund: Im Gegenteil sollte es allen Christen mit hoher Freude erfüllen, daß des Schöpfers Güte sich besonders auch an China ‚nicht unbezeugt gelassen‘ habe. Es sei doch ein merkwürdiger Widerspruch, bei griechischen und römischen Philosophen, bei Ägyptern und Assyrern die richtigen Gedanken über die Gottheit voll Rühmens zusammenzusuchen und apologetisch zu verwerten, hingegen die reineren und tieferen Anschauungen der chinesischen Weisen über religiöse Dinge mißachtend zu verwerfen.37

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Vgl. Urs App: The Birth of Orientalism. Philadelphia 2010, S. 123ff. Couplet: Confucius (wie Anm. 30), S. LXVII. Ich folge hier der Übersetzung in Franz Rudolf Merkel: G.W. von Leibniz und die China-Mission. Eine Untersuchung über die Anfänge der protestantischen Missionsbewegung. Leipzig 1920, S. 18. Ebd., S. 19. Vgl. Lee: Anti-Europa (wie Anm. 6), S. 31–34. Merkel: Leibniz (wie Anm. 34), S. 20.

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II. Christian Thomasius’ Rezension des Confucius Sinarum Philosophus und der antiapologetische Eklektizismus in der Philosophiegeschichte Anlässlich des Erscheinens des Confucius Sinarum Philosophus trat nun eine weitere zukünftige Gründungsfigur der Friedrichs-Universität auf den Plan. Der Rechtsphilosoph Christian Thomasius, der in seinen Monatsgesprächen im August 1689 dem Band eine kritische Rezension widmete, machte darin im Gegensatz zu Francke seine skeptische Haltung gegenüber einer Gleichsetzung von griechischer und chinesischer Philosophie im Allgemeinen und Sokrates und Konfuzius im Besonderen deutlich.38 Ursprünglich habe er, so schildert Thomasius sein Interesse, nur Auszüge im Journal des Scavans, in den Acta Eruditorum, der Bibliotheque Universelle und der Histoire des Ouvrages des Scavans gelesen und sei schon hierüber zu der Ansicht gelangt, „daß dieses Buch unter die Scripta paraentica, wie des Senecae Bücher sind / nicht aber unter die Scientifica [gehöre], wie der Titel verspricht“.39 Die Anwendung der apologetischen Verbindung von paganer Philosophie und christlicher Theologie auf den chinesischen Konfuzianismus war Thomasius nach eigenem Bekunden bereits durch Ricci und La Mothe de Vayer bekannt gewesen. Aus diesem Vorwissen und den Auszügen der Zeitschriften speiste sich seine grundsätzlich skeptische Meinung: „Ich glaubte wohl / daß Confucius ein sehr gelehrter Philosophus gewesen / daß er aber seines gleichen nicht solte gehabt haben / und daß diese Scientia Sinensis so incomparabel sein sollte / wollte mir nicht in meinen Kopff.“40 Über diese Frage sei er allerdings, wie Thomasius weiter erläutert, mit einem ungenannten engen Freund und Konfuzius-Bewunderer – bei dem es sich wahrscheinlich sogar um Francke handelt – in Streit geraten und habe deshalb entgegen seiner ursprünglichen Absicht die Originalausgabe von Couplet eingesehen und genauer studiert. Seine Erwartung war nun, wie Thomasius nicht ironiefrei schreibt: „in dieser Scientia Sinensi die gantze Weltweißheit der Chinesischen Völcker / die sich noch einmahl so klug / als wir Europaeer düncken / nach einer ordentlichen Schreib-Art entworffen anzutreffen“.41 Anschließend diskutiert er die Grundsätze der konfuzianischen Sittenlehre und findet den von ihm selbst vertretenen „Lehrsatz / daß die Klugheit alle ander Tugenden regiere“, darin ebenso bestätigt wie die „Lehre / daß unter denen Tugenden die eine diesem / die andere einem andern extremo näher sey“.42 In der Frage nach 38 39

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Vgl. Lee: Anti-Europa (wie Anm. 6), S. 56f. Christian Thomasius: Confucius Sinarum Philosophus, sive scientia Sinensis. In: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. von Frank Grunert. Bd. 6.2: Monatsgespräche Juli–Dezember 1689, S. 599–634, hier S. 600. Ebd., S. 602. Ebd., S. 600. Ebd., S. 616.

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der Definition eines Philosophen konstatiert Thomasius eine Differenz zwischen der konventionellen Ansicht, wonach dieser „ein Mann (sey) / der wacker disputiren und Collegia halten kann“, und der normativen Bestimmung des Konfuzius, die folgendermaßen zitiert wird: „Wer ein Philosophus heissen will / und befleissiget sich nicht der Weißheit / und eines tugendhafften Wandels / der ist den Nahmen eines Philosophi nicht werth.“43 Abschließend sieht Thomasius sein ursprüngliches Urteil bestätigt, „daß Confucius allerdings ein rechtschaffener kluger und vernünfftiger Mann gewesen sey / so bleibe ich doch zugleich dabey / daß wir seine Lehr-Sätze so gar für was sonderliches unter uns zu halten nicht Ursach haben.“44 Das ist nicht weit von der ambivalenten Ausgangsposition entfernt, wonach „Confutius wohl ein scharffsinniger und weiser Philosophus, obgleich diese Scientia Sinica nicht eben die scharffsinnigste ist.“45 Große Mühe scheint sich Thomasius also bei der konkreten Hinterfragung seines skeptischen Vorurteils nicht gegeben zu haben. Anstatt mit Sokrates seien die konfuzianischen Bücher letztlich eher mit den Tischreden Martin Luthers zu vergleichen, in denen Tiefgründiges mehr oder weniger wirr mit offensichtlich Absurdem vermischt ist. Also ist zwar nicht zu leugnen / daß in denen drey Büchern Scientiae Sinensis gar viel überaus kluge und subtile Lehren des Confucii enthalten sind / die wohl zu wünschen wären / daß man sie auff hohen Schulen oder in gemeinem Leben inacht nähme. Allein es sind auch viele nichts würdige Dinge darinnen / bey welchen man sich des Lachens kaum enthalten kann / und das acumen wohl ein Jahr lang vergebens suchen sollte.46

Wenn die konfuzianischen Bücher daher unbedingt mit der griechischen Philosophie verglichen werden müssten, dann komme hierfür nicht Sokrates in Frage, sondern eher zweitrangige Philosophen wie Epikur oder Seneca. Obwohl Thomasius also dem Konfuzianismus gewisse philosophische Qualitäten nicht gänzlich abspricht und dem chinesischen Wissen auch akademische Relevanz zuschreibt, so dass sie im enzyklopädischen Konzept einer Historia literaria zweifellos berücksichtigt werden müssten, bemüht er sich doch ersichtlich, die Bedeutung des Konfuzianismus im Vergleich zu den Klassikern der griechischen Philosophie herabzusetzen. Thomasius’ Vorgehen erinnert hier an Blaise Pascal, der in seinen Lettres provinciales von 1656 aus der Perspektive des honnête homme gegen die jesuitische Apologie des Konfuzianismus polemisiert hatte.47 Der apologetischen Gleichsetzung von Konfuzius mit Sokrates liegt laut Thomasius ein Vorurteil („praejudicium autoritatis alienae“) zugrunde, das dem Fremden aufgrund seiner Exotik pauschal mehr Wert einräumt, als ihm eigentlich gebührt.48 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 619. Ebd., S. 625f. Ebd., S. 605. Ebd., S. 606. Vgl. Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal (wie Anm. 28), S. 66–80. Thomasius: Confucius (wie Anm. 39), S. 602.

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Gerade an diesem vorurteilskritischen Argument wird deutlich, dass Thomasius bei der Bewertung der chinesischen Philosophie neben Pascal auch vom philosophiehistorischen Urteil seines Vaters, des Leipziger Philosophieprofessors Jacob Thomasius, beeinflusst war, der aus orthodox-lutheranischer Perspektive scharfe Kritik an der apologetischen Verschränkung von paganer Philosophie und christlicher Theologie geübt hatte.49 Jacob Thomasius hatte die apologetische Verknüpfung von paganer Philosophie und christlicher Theologie, wie sie im neuplatonischen Paradigma der Philosophia perennis seit dem 16. Jahrhundert im Anschluss an Agostino Steucho vertreten wurde, aus einer protestantisch-lutherischen Frömmigkeitsperspektive kritisiert und diese Kritik auf die Philosophiegeschichte angewandt.50 Unter Berufung auf die augustinische Gnadenlehre, die mit Hilfe der Doktrin der menschlichen Erbsünde die Möglichkeit eines natürlichen Zugangs zur Wahrheit der göttlichen Offenbarung ausschloss, wurde die christliche Religionsgeschichte von den heidnischen Momenten, wie sie in der antiken Philosophie und der natürlichen Theologie vorlagen, radikal gesäubert. Die Theologie sollte demnach über die sola scriptura-Doktrin allein durch die Heilige Schrift begründet werden. Für die pagane Philosophiegeschichte bedeutete dies, dass die eklektische Sammlung und Systematisierung des philosophischen Wissens vollständig unabhängig vom theologischen Offenbarungswissen zu erfolgen hatte. Heilsgeschichtlich verlor die Philosophie damit jene Relevanz, die sie als natürliche Theologie im Rahmen der Philosophia perennis gespielt hatte. Diesbezüglich fasst Sicco Lehmann-Brauns zusammen: Mit der antiapologetischen Intervention von Jacob Thomasius wird die vorchristliche Antike als eigenständige Epoche profiliert, deren philosophischer Lehrgehalt mit der christlichen Theologie kontrastiert. Die gleichwohl zu konstatierenden Vermischungen von heidnischer Philosophie und christlicher Theologie werden dann in antiapologetischer Hinsicht als Ketzergeschichte beschrieben.51

Aus dieser Perspektive geriet Franckes Begeisterung für die konfuzianischen Tugenden Chinas in Verbindung mit seiner pietistischen Orientierung auf das Urchristentum schnell in eine häretische Ecke. Tatsächlich wurde dem Pietismus von orthodox-lutherischer Seite aufgrund seiner Affinität zu platonisch-hermetischen Motiven, die beispielsweise über Vossius auch einen möglichen Zugang zum chi-

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Siehe hierzu ausführlich Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, S. 21–111. Vgl. Jacob Thomasius: Schediasma historicum, quo varia discutiuntur ad historiam tum philosophicam tum ecclesiasticam pertinentia. Leipzig 1665. Zum Konzept der Philosophia perennis siehe: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998. Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte (wie Anm. 49), S. 15.

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nesischen Konfuzianismus eröffneten, von orthodoxen Kritikern Ketzerei und Atheismus vorgeworfen.52 Insofern Christian Thomasius in seiner Couplet-Rezension von 1689 aber weder das Problem der Häresie noch des Atheismus erwähnt, sondern sich damit begnügt, mit Hilfe der Vorurteilskritik den philosophischen Wert des Konfuzianismus herabzusetzen, kann dies als ein konziliantes Zugeständnis an Franckes Pietismus gewertet werden. Tatsächlich hat Thomasius Francke in ihrer gemeinsamen Leipziger Zeit gegen die Orthodoxie verteidigt und dessen spätere Berufung nach Halle unterstützt.53 Obwohl sich Thomasius daher klar von der lutherischen Orthodoxie abgrenzte, übernahm er dennoch in seiner Introductio ad philosophiam aulicam (1688) das antiapologetische Programm seines Vaters für die Philosophiegeschichte und entwickelte dies in der Folge zu einer vorurteilskritischen Selbständigkeits-Eklektik weiter.54 Thomasius’ vorurteilskritische Bewertung des Konfuzianismus setzte vor diesem Hintergrund eine strikte Trennung von paganer Philosophie und Offenbarungstheologie voraus, weshalb er Konfuzius unter diesen Bedingungen lediglich als reinen Philosophen diskutierte. Die Frage, inwiefern die konfuzianische Philosophie auch als natürliche Theologie aufzufassen sei, hätte in diesem Kontext sofort das Problem der Häresie und des Atheismus aufgeworfen. Die Philosophia eclectica in Gestalt der frühaufklärerischen SelbständigkeitsEklektik von Thomasius verzichtete auf einen metaphysisch-theologischen Wahrheitsanspruch zugunsten eines kontingenten Selbständigkeitspostulats, das auf der Synthese der enzyklopädischen Historia literaria mit der philologischquellenkritischen Methode, wie sie 1696 von Jean Le Clercs Ars critica auf dem Begriff gebracht wurde, beruhte. Ihr Gegenstand ist nicht das absolute Wissen im Sinne der einen göttlichen Wahrheit oder der metaphysischen Systeme von Descartes, Spinoza oder Leibniz, sondern die kontingente Fides historica, die methodisch im Paradigma des ‚historischen Pyrrhonismus‘ verarbeitet wird.55 Die Vorurteilskritik, die im Fall von Konfuzius schon als praejudicium autoritatis alienae

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Die diesbezüglich einflussreichsten Schriften waren Ehregott Daniel Colberg: Das PlatonischHermetisches (sic) Christenthum. 2 Bde. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1690/91 sowie Friedrich Christian Bücher: Plato mysticus in Pietista redivivus. Das ist: Pietistische Übereinstimmung mit der Heydnischen Philosophia Platonis und seiner Nachfolger. Danzig 1699. Auch hierzu ausführlich Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte (wie Anm. 49), S. 112–222. Die gesamte Kontroverse wird dargestellt und analysiert bei Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997. Zum wechselhaften Verhältnis von Francke und Thomasius siehe u. a. Hinrichs: Preußentum und Pietismus (wie Anm. 14), S. 352–387. Dazu Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte (wie Anm. 49), S. 308–354. Zur allgemeinen Begriffsgeschichte siehe Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Zum Kontext siehe auch Markus Völkel: „Pyrrhonismus historicus“ und „fides historica“. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis. Frankfurt a.M., Bern, New York 1987, S. 99–202.

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zum Einsatz kam, wird in der Folge zu einem zentralen methodischen Bestandteil der frühaufklärerischen Selbständigkeits-Eklektik im Umfeld von Thomasius.

III. Propagatio fidei per scientias: Franckes kooperative Reaktion auf Leibniz’ Novissima Sinica Francke selbst zeigte sich von den Vorwürfen der Ketzerei im Zusammenhang mit dem chinesischen Platonismus unbeeindruckt, was insbesondere seine enthusiastische Reaktion auf die Publikation der Novissima Sinica 1697 durch Leibniz bezeugt. Darin spricht Leibniz ähnlich wie zuvor Vossius und Francke von den vorbildlichen Sitten der chinesischen Literati, an deren Spitze mit dem Kaiser Kangxi ein tugendhafter Fürst stehe, der die Philosophen achtet und sich brennend für reale Wissenschaften wie Mathematik und Astronomie interessiert. Der Herrscher eines so großen Reiches, der in seiner Bedeutung den einem Menschen möglichen Gipfelpunkt beinahe überschritten hat und gleichsam als ein sterblicher Gott angesehen wird, so daß auf einen Wink von ihm alles geschieht, pflegt dennoch solchermaßen zu Tugend und Weisheit erzogen zu werden, daß er es gerade seiner höchsten Stellung unter den Menschen für würdig zu erachten scheint, seine Untertanen in einer unglaublichen Achtung vor den Gesetzen und in Ehrfurcht gegenüber weisen Männern noch zu übertreffen.56

Neben der kritischen Anspielung auf Thomas Hobbes’ Leviathan („sterblicher Gott“) greift Leibniz ostentativ auch das umstrittene neuplatonische Motiv der natürlichen Theologie auf und entwickelt in diesem Zusammenhang die Idee einer wechselseitigen Missionierung von China und Europa gewissermaßen auf Augenhöhe. Dabei schließt er sich demonstrativ Franckes Dekadenzdiagnose an. Jedenfalls scheint mir die Lage unserer hiesigen Verhältnisse angesichts des ins Unermeßliche wachsenden moralischen Verfalls so zu sein, daß es beinahe notwendig erscheint, daß man Missionare der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung und Praxis einer natürlichen Theologie lehren, in gleicher Weise, wie wir ihnen Leute senden, die sie die geoffenbarte Theologie lehren sollen. Ich glaube daher: Wäre ein weiser Mann zum Schiedsrichter nicht über die Schönheit von Göttinnen, sondern über die Vortrefflichkeit von Völkern gewählt worden, würde er den goldenen Apfel den Chinesen geben, wenn wir sie nicht gerade in einer Hinsicht, die aber freilich außerhalb menschlicher Möglichkeiten liegt, überträfen, nämlich durch das göttliche Geschenk der christlichen Religion.57

Damit präsentiert Leibniz in der Novissima Sinica ein Gegenprogramm zur antiapologetischen Eklektik, in dem das apologetische Wechselverhältnis zwischen 56

57

Gottfried Wilhelm Leibniz: Das Neueste von China (1697). Novissima Sinica. Hg. v. Heinz Günther Nesselrath u. Hermann Reinbothe. Köln 1979, S. 13. Siehe hierzu auch Wenchao Li u. Hans Poser (Hg.): Das Neueste über China. G. W. Leibnizens Novissima Sinica von 1697. Stuttgart 2000 sowie Lee: Anti-Europa (wie Anm. 6), S. 68–84; David E. Mungello: Leibniz and Confucianism: The Search for Accord. Honolulu 1977; Franklin Perkins: Leibniz and China: A Commerce of Light. Cambridge 2004. Ebd., S. 19.

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paganer Philosophie (‚natürlicher Theologie‘) und christlicher Offenbarungstheologie mit Hilfe des chinesischen Konfuzianismus auf eine qualitativ neue Grundlage gestellt wird.58 Im Gegensatz zu Thomasius’ Warnung vor dem praejudicium autoritatis alienae kann Leibniz’ Ansatz gerade dahingehend interpretiert werden, „dass die Erforschung der Wahrheit über das Kennenlernen fremder Gedanken geschehen kann.“59 Praktisch war dieses Programm mit der Aussicht auf eine künftige evangelische China-Mission verknüpft, die das jesuitische Konzept der propagatio fidei per scientias aufgriff, dieses aber über die vom Katholizismus auferlegten dogmatischen Grenzen wissenschaftlich weiter entwickeln sollte. Zur Realisierung der Theorie und Praxis eines solchen Unterfangens konzipierte Leibniz mit der Berliner Akademie der Wissenschaften eine Wissenschaftsinstitution neuen Typs, die den klassisch platonischen Akademiegedanken mit den modernsten wissenschaftlichen Errungenschaften kombinieren sollte. Nach der Lektüre Novissima Sinica wandte sich Francke in einem begeisterten Brief vom 09. (19.) Juli 1697 an Leibniz, worin er dessen Argumentation für eine evangelische China-Mission vorbehaltlos unterstützte.60 Leibniz, der in einem regen Briefwechsel mit den jesuitischen Missionaren stand,61 sah im Frieden von Nertschinsk zwischen Russland und China (1689) sowie in der Regentschaft Peters I. die einmalige Gelegenheit, über den Landweg nach Peking zu gelangen. Diesbezüglich machte Francke im Brief konkrete Vorschläge für die Einrichtung der Ausbildung zukünftiger evangelischer Missionare, die dem Prinzip der propagatio fidei per scientias verpflichtet sein sollten, und schlug den sukzessiven Aufbau eines Netzes von innovativen Real- bzw. Reformschulen vor, das von Halle und Berlin aus über Russland bis nach China reichen sollte. Damit brachte Francke die Idee einer Kooperation zwischen der Berliner Akademie und der Universität Halle ins Spiel, in die er auch sein eigenes pietistisches Schulprojekt in Glaucha zu integrieren suchte. Zusammen könnten sie die institutionellen Grundlagen für die von Leibniz und Francke intendierte missionarisch-wissenschaftliche Universalreform bilden. Die Ausbildung zukünftiger Missionare könnte somit auf der gemeinsamen Basis von pietistischer Frömmigkeit, intensiver Sprachausbildung und praktisch-realen Wissenschaften erfolgen und die Verbreitung des christlichen Glaubens durch die Förderung von Wissenschaft und Technik sicherstellen. Tat58 59

60

61

Vgl. Patrick Riley: Leibniz’s Political and Moral Philosophy in the „Novissima Sinica“, 1699– 1999. In: Journal of the History of Ideas 60 (1999), S. 217–239. So Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Aus dem Franz. übers. von Franz Wimmer. Bearb. u. mit einem Nachw. versehen von Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt 1990, S. 101. Vgl. hierzu ausführlich Merkel: Leibniz (wie Anm. 34), S. 160–174 und 214–224 sowie Gerda Utermöhlen: Das Echo auf die Novissima Sinica im Kreise des halleschen Pietismus. In: Li u. Poser (Hg.): Das Neueste über China (wie Anm. 56), S. 311–319. Vgl. G. W. F. Leibniz: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689–1714). Hg. v. Rita Widmaier. Hamburg 2006.

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sächlich kündigte Francke schon 1698 im orientalischen Sprachenkollegium der Universität Halle die geplante Einrichtung des Unterrichts in chinesischer Sprache an, was ein Novum in der deutschen Universitätsgeschichte war.62 Leibniz sah in der möglichen Zusammenarbeit mit Francke bereits einen wichtigen Zweck seiner Novissima Sinica erfüllt, und diskutierte zwischen 1697 und 1699 mit Francke in 11 Briefen zunächst über die Gewinnung von Gelehrten, die in Russland Bildungsarbeit leisten könnten, um so die Voraussetzungen für das Gesamtprojekt einer chinesischen Mission zu schaffen.63 In einer Denkschrift zur Einrichtung einer Societas Scientiarum et Artium in Berlin vom 24. (26.) März 1700 teilte er dem brandenburgischen Kurfürsten bezüglich einer erwünschten Beteiligung Franckes mit: wer weiß ob Gott nicht eben deswegen die Pietistische sonst fast ärgerliche Streittigkeiten unter den Evangelischen zugelassen, auf daß recht fromme und wohlgesinnte Geistlichen, die unter Churfürstl. Durchl. Schutz gefunden, dero beyhanden seyen möchten, dieses capitale Werck fidei purioris propagandae besser zu befördern, und die Aufnahme des wahren Christentums bey uns und ausserhalb, mit dem Wachsthum realer Wissenschafften und Vermehrung gemeinen Nutzens, als funciculo triplici indissolubili zu verknüpfen.64

Im Stiftungsdiplom der Akademie und in der Generalinstruktion vom 11. Juli 1700 wird das wissenschaftspolitische Programm der propagatio fidei per scientias inklusive der Chinamission offiziell verankert, so dass Leibniz der Akademie anschließend die Bearbeitung der Frage aufgibt, „wie denen Babarischen Völckern in solchen quartieren bis an China das Licht des Christenthumbs und reinen Evangelii anzuzünden“ sei.65 In einer weiteren Projektskizze wird von Leibniz nochmals betont, „das allerwichtigste vornehmen der Societät wären die Missiones ad propagandam per scientias fidem“, wobei „die Chinesische missiones die vornehmste unter allen seyn“ sollte.66 Den wechselseitigen Charakter dieser besonderen Mission will Leibniz nicht auf den religiösen und wissenschaftlichen Austausch beschränken, sondern auch auf den Handel ausdehnen. In diesem Sinne plädiert er für „ein Commercium nicht nur von Waaren und Manufacturen, sondern auch von Licht und Weisheit, mit dieser gleichsam andern civilisirten Welt und Anti-Europa“.67 Die Tatsache, dass Leibniz China als eine zivilisierte Nation und gleichsam als ein „Anti-Europa“ behandelt, demonstriert erneut seine außerordentliche Wertschätzung für diese Kultur.

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Vgl. Utermöhlen: Das Echo (wie Anm. 60), S. 319. Vgl. hierzu Eduard Winter: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1953. Hans-Stephan Brather (Hg.): Leibniz und seine Akademie. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften 1697–1716. Berlin 1993, S. 79 sowie Merkel: Leibniz (wie Anm. 34), S. 64f. Brather (Hg.): Leibniz und seine Akademie (wie Anm. 64), S. 100. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 79.

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Kurz nach der Gründung der Berliner Akademie, im Oktober 1701, schlug Leibniz Francke als eines der ersten auswärtigen Mitglieder vor, die in die Akademie zu berufen seien.68 Im selben Jahr ging eine weitere Denkschrift nochmals detailliert auf die notwendigen wissenschaftlichen Qualitäten der zukünftigen Missionare ein, die mit Hilfe Franckes und der Universität Halle auszubilden seien: Bey denen Missionibus nun, so zu denen nicht barbarischen, sondern civilisirten Volckern gehen, ist bekand daß nächst gottes beystand, die Realen Wißenschafften das beste Instrument seyen, wie solches die Erfahrung an tag geleget. Und wäre demnach nöthig anstalt zu machen, daß an tugend und Verstand bewehrte, mit ohngemeiner fahigkeit begabte, und mit dem geist gottes ausgerüstete junge Leüte, aufgesuchet, und nächst der gottesgelahrtheit in der Mathematick (sonderlich in arte observandi astra) und Medico-chirurgicis, als vor welchen Wißenschafften ganz Orient sich neiget, gründtlich unterwiesen, und zu etwas Vortrefliches angeführet, dabenebst auch in den erforderten Sprachen in etwas geübet wurden. Solche Subjecta zu wege zu bringen[,] wären docentes nöthig, so in diesen Dingen excelliren, theils auch was die Sprachen betrifft selbst, wo es muglich in den entfernten Landen gewesen oder gar daraus burtig. In Mathesi aber und Natura müsten die Docentes so vortreflich seyn, daß man durch unsere Leute es den Jesuitern und andern Römischen Missionariis bevorthun könne. Woran nicht zu zweifeln, dieweilen diese durch ihre Sclavische Inquisition nicht nur das verum systema Mundi (nehmlich das in Preußen entstandene Copernicanum) zu verhehlen, sondern auch den wahren philosophi sowohl als der reinen Lehre sich zu widersezen gezwungen werden; und Unsere Evangelische Wahrheit nicht weniger der Recht erleuchteten Vernunfft, als unsere Wißenschafft den Observationibus et Experimentis sich gemäß befindet.69

Francke seinerseits ging 1701 in Halle ebenfalls daran, seine eigene „Res publica Platonica“ im Kleinen zu planen, die er nun als „Seminarium rei publicae vere Christianae“ definierte.70 Die programmatische Reichweite seiner weitgehend analog zu Leibniz durchgeführten Überlegungen legte er in einer kleinen Schrift mit dem bezeichnenden Titel nieder: Project zu einem Seminario universali oder Anlegung eines Pflanzgartens, in welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Deutschlands, ja in Europa und allen übrigen Teilen der Welt zu gewarten.71 Im 1702 gegründeten Collegium orientale war im Rahmen des Seminarium Linguarum wiederum die rasche Einführung des Unterrichts in chinesischer Sprache vorgesehen.72 Und obwohl sich schon ab 1702 das Scheitern von Leibniz’ ehrgeizigen Akademie- und Chinaplänen abzuzeichnen begann, das über68

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Merkel: Leibniz (wie Anm. 34), S. 171. Die Begründung lautete: „(W)egen seiner sonderbaren Gaben, Verstandes und Gelehrsamkeit, vornehmlich in denen Morgenländischen Sprachen, so wohl des Ihm beiwohnenden Eifers zu Fortpflanzung des Evangelij auch an solchen orten dahin die Predigt desselben noch nicht gelanget.“ (Ebd.). Brather (Hg.): Leibniz und seine Akademie (wie Anm. 64), S. 163f. Hinrichs: Preußentum und Pietismus (wie Anm. 14), S. 47. Das Programm ist abgedruckt in: August Hermann Francke: Werke in Auswahl, hg. von Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 108–116. Vgl. August Hermann Francke: Viertes Proiect des Collegii Orientalis Theologici, darinnen die vorigen drey proiecte zusammen gefaßet, und demnach die gantze anstalt deßelben, wie es angefangen, wie weit es damit gekommen. Hg. v. Brigitte Klosterberg. Halle 2012. Siehe hierzu auch Hinrichs: Preußentum und Pietismus (wie Anm. 14), S. 52 sowie Merkel: Leibniz (wie Anm. 34), S. 170f.

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dies von einer zunehmenden Entfremdung zwischen ihm und der Akademie begleitet war, hielt Francke in Halle an seinen Plänen fest, die er 1704 nochmals als Großes Projekt von einer Universalverbesserung in allen Ständen konkretisierte.73 Wie der brieflich bezeugte Besuch von Leibniz 1714 in den Franckeschen Anstalten demonstriert, nahm dieser auch nach dem Scheitern seines eigenen Akademieprojektes an Franckes Unternehmungen in Halle Anteil.74

IV. Spinoza sinicus: der Streit um den Wert der chinesischen Philosophie im universitären Feld Das Konzept der propagatio fidei per scientias, das sowohl dem akademischen Wissenschaftsprogramm der geplanten Chinamission als auch der damit verknüpften chiliastischen Universalreform zugrunde lag, basierte methodisch auf der apologetischen Synthese von universalistischer Philosophie – die mit natürlicher Theologie gleichgesetzt wurde – und christlicher Theologie. Anstatt auf einen pessimistischen Augustinismus in der Gnadenlehre stützte sich dieses Programm eher auf einen natürlich-molinistischen Optimismus, der die heilsgeschichtliche Vervollkommnung auf natürliche Weise mit der individuellen Lebensführung der Menschen verkoppelte. Leibniz und offenbar auch Francke erwarteten von der Verschmelzung des chinesischen Konfuzianismus mit den mathematischen Realwissenschaften der Europäer und der christlichen Offenbarung eine universelle sittliche Reform der Menschheit. Allerdings stieß die von beiden geplante Kooperation mit der Fridericiana dort nicht nur auf Gegenliebe, sondern eher im Gegenteil auf schroffe Ablehnung. Dies hatte sowohl ideelle als auch institutionelle Gründe. Obwohl Thomasius 1690 in seinen konzeptionellen Entwürfen im Rahmen der Universitätsgründung selbst mit der Akademieidee sympathisiert hatte, widersprach das neuplatonische Programm der Novissima Sinica sowohl der antiapologetischen Haltung der lutherischen Orthodoxie als auch der philosophischen Eklektik, wie sie die Thomasius-Schule nach 1700 vertrat.75 Aus diesem Grund scheinen Leibniz und Francke für ihr alternatives Wissenschaftsprogramm auch keine größere Unterstützung von Seiten der 73 74

75

August Hermann Francke: Grosser Aufsatz. Hg. v. Wilhelm Fries. Halle 1894. Vgl. Merkel: Leibniz (wie Anm. 33), S. 172ff.; Utermöhlen: Das Echo (wie Anm. 60), S. 319. Zu den eher indirekten Beitrag der gescheiterten Kooperation von Leibniz und Francke für die theoretische und praktische Entstehung der Ethnologie in Deutschland siehe: Han F. Vermeulen: Before Boas. The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment. Lincoln 2015. Vgl. Friedrich de Boor: Die ersten Vorschläge von Christian Thomasius „wegen auffrichtung einer Neuen Academie zu Halle“ aus dem Jahre 1690. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 4: Deutsche Aufklärung. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 57–84. Eine wissenschaftspolitische Interpretation der halleschen Universitätsgründung bietet Axel Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2005, S. 25–120.

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halleschen Universität erhalten zu haben, was wiederum Franckes Engagement für sein eigenen Schulprojekt jenseits der Universität intensivierte. Dies vertiefte wiederum die zunehmende Entfremdung zwischen Thomasius und Francke, die sich nun auch auf ihre theoretischen und weltanschaulichen Ansichten auswirkte.76 Während die frühaufklärerische Selbständigkeits-Eklektik von Thomasius ursprünglich lediglich methodische Vorbehalte gegenüber der Vermengung von Philosophie und Theologie äußerte, sah die theologische Orthodoxie in der apologetischen Verwendung der natürlichen Theologie von Anfang an eine gefährliche platonisch-hermetische Häresie. Beide Positionen scheinen sich aber um 1700 vor dem Hintergrund von Leibniz’ und Franckes kooperativem Sinophilismus im Rahmen des Akademieprojektes angenähert zu haben. So intensivierte sich der Streit um die alten konfuzianischen Texte in dem Maße, wie diese potentiell den verwaisten Platz des quellenkritisch widerlegten Corpus Hermeticum als klassische Schriftgrundlage von natürlicher Theologie bzw. primordialer Weisheit (prisca sapientia) einnehmen konnten. Aufgrund der Datierung ihres hohen Alters und der sich hieraus ergebenden Konkurrenz zum sola scriptura-Monopol der Bibel mussten die chinesisch-konfuzianischen Schriften folglich zwangsläufig zur gemeinsamen Zielscheibe von orthodox-theologischer und eklektisch-philosophischer Kritik werden.77 Bei dieser Übertragung des Atheismus- bzw. Häresievorwurfs von der platonisch-hermetischen auf die platonisch-chinesische Texttradition spielte der 1693 nach Halle berufene Professor für Moralphilosophie Johann Franz Budde (auch Iohannes Franciscus Buddeus) eine besondere Rolle.78 Budde etablierte sich neben Thomasius als einer der Hauptvertreter der Philosophia eclectica in Halle, bevor er 1705 auf eine theologische Professur nach Jena wechselte. Später fungierte er als wichtiger Gutachter im Streit um Wolffs ChinaRede, dessen negatives Votum wesentlich zur Ausweisung Wolffs beitrug. Stärker noch als Thomasius’ beruhte Buddes Eklektik-Konzept auf einer christlichen Skepsis, die den religiösen Glauben als unzweifelhaft voraussetzte und den metaphysischen Wahrheitsanspruch der Philosophie dagegen per Historisierung entschieden skeptisch behandelte.79 Während die theologische Wahrheit der religiösen 76 77

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Vgl. hierzu Hinrichs: Preußentum und Pietismus (wie Anm. 14), S. 352–387. Vgl. hierzu Anthony Grafton: Defenders of the Text. Cambridge 1994, S. 145–161; Martin Mulsow (Hg.): Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance; Dokumentation und Analyse der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567–1614). Tübingen 2002 sowie Axel Rüdiger: China als philosophiehistorisches Problem zwischen Philosophia perennis und frühaufklärerischem Eklektizismus. In: Rolf Elberfeld (Hg.): Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive. Hamburg 2017 (Deutsches Jahrbuch Philosophie; 9), S. 195–230. Eine präzise Zusammenfassung von Werk und Leben Buddes findet sich bei Walter Sparn: Einleitung. In: Johann Franz Budde: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Elementa Philosophiae instrumentalis, seu institutionum Philosophiae eclecticae. Hg. v. Walter Sparn. Hildesheim, Zürich, New York 2006, S. III–LIX. Ich folge bei dieser Bewertung Wilhelm Schmidt-Biggemann: Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept. In: Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen (Hg.): Jacob

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Offenbarung aus dieser Sichtweise feststand, konnte sich das philosophische Wissen nur auf die kontingente Fides historica beziehen, deren Maß allein durch Nützlichkeit oder Wahrscheinlichkeit bestimmt war. Da die pagane Philosophiegeschichte aus dieser antiapologetisch-eklektischen Perspektive ohne jede Relevanz für die menschliche Heilsgeschichte war, konnte es sich bei einer gegenteiligen Inanspruchnahme nur um eine reine Ketzergeschichte handeln. In diesem Sinne hat Budde nicht nur die neuplatonische, sondern auch die konfuzianische Philosophie als ketzerisch bzw. atheistisch stigmatisiert. Im Anschluss an Pierre Bayle, der in seinem Spinoza-Artikel im Dictionnaire historique et critique (1697) nach atheistischen Vorläufern der spinozistischen Philosophie gesucht hatte und sowohl bei der stoischen als auch der chinesischen Philosophie fündig wurde, griff Budde die atheistische Analogie zwischen der Philosophie Spinozas und der chinesischen Philosophie auf.80 In zwei von ihm betreuten Dissertationen wird der Atheismusvorwurf gegen die chinesische Philosophie vertieft. In der 1701 von Johannes Friedrich Werder verteidigten Dissertatio Philosophica de Spinozismo ante Spinozam wird der chinesische Atheismus ebenso wie bei Bayle mit dem Spinozismus in Verbindung gebracht.81 Das Konzept der ‚Weltseele‘ – so hatte schon Bayle argumentiert – finde sich ebenso bei Demokrit und Epikur wie in der chinesischen Philosophie und werde von Spinoza mit Hilfe der geometrischen Methode nur erneut aufgegriffen und weiterentwickelt. Sie alle gehören laut Bayle zu jenen Denkern: die eine große Zahl voneinander verschiedener Seelen im Universum annehmen, von denen jede durch sich selbst existiert und durch ein inneres und essentielles Prinzip handelt. Die einen haben mehr Macht als die anderen, usw. Darin besteht der Atheismus, der unter den Chinesen so allgemein verbreitet ist.82

Während Bayle aber den atheistischen Spinozismusvorwurf nicht gegen den ursprünglichen Konfuzianismus, sondern in Übereinstimmung mit den Jesuiten nur

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Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Berlin 1998, S. 113–134, insbesondere S. 119. Vgl. Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Übers. u. hg. v. Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Bd. 2. Hamburg 2011, S. 379–384 u. S. 418–421. Siehe hierzu auch Urs App: The Cult of Emptiness: The Western Discovery of Buddhist Thought and the Invention of Oriental Philosophy. Kyoto 2012, S. 219–236; Jonathan Israel: Enlightenment Contested: Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752. Oxford, New York 2006, S. 640–662; Yuen-Ting Lai: The Linking of Spinoza to Chinese Thought by Bayle and Malebranche. In: Journal of the History of Philosophy 2 (1985), S. 151–178 sowie Thijs Weststeijn: Spinoza sinicus. An Asian Paragraph in the History of Radical Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 68, 4 (2007), S. 537–561. Vgl. Johann Franz Buddeus: Dissertatio Philosophica de Spinozismo ante Spinozam. Halle 1706 § 22, S. 28f. Zuvor hatte Johann Georg Wachter sehr einflussreich und ebenfalls auf der Argumentationsline Bayles Spinoza als platonischen Kabbalisten identifiziert. Vgl. Johann Georg Wachter: Der Spinozismus im Jüdenthumb. Amsterdam 1699, ND hg. von Winfried Schröder. Stuttgart/Bad Cannstatt 1994. Bayle: Wörterbuch (wie Anm. 80), Bd. 2, S. 418f.

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gegen den erheblich jüngeren Buddhismus und den Neu-Konfuzianismus richtete, dehnten Budde und sein Schüler diesen Vorwurf nun auch explizit auf den originalen Konfuzianismus aus. Budde selbst geht darauf nochmals ausführlich in seiner 1703 erstmals publizierten Instrumentalphilosophie ein.83 In der zweiten von Wilhelm Stephani verteidigten Dissertation wird der konfuzianische Ahnenkult gegen das Zeugnis der Jesuiten als ketzerisch verurteilt.84 Damit mischt sich der BuddeSchüler in den bereits erwähnten ‚Ritenstreit‘ ein, der zwischen den Jesuiten und anderen Missionsorden wie den Franziskanern oder Dominikanern seit geraumer Zeit geführt wurde und auf theologischer Ebene eng mit dem ‚Gnadenstreit‘ verbunden war. Äußerlich ging es dabei um die Legitimität der jesuitischen Akkommodationsstrategie, die eine gewisse kulturelle Anpassung an die politische Elite der Literati inklusive des konfuzianischen Ehrenzeremoniells beinhaltete. Implizit ging es aber eben auch um die apologetische Methode der propagatio fidei per scientias.85 Gegen die von Joachim Bouvet geführte Gruppe französischer Jesuiten – die auch als ‚Figuristen‘ bekannt wurden und mit denen Leibniz intensiv kommunizierte – verhängte die Pariser Sorbonne 1700 ein Verbot der Akkommodationspraxis einschließlich ihrer theoretischen Rechtfertigung. Damit waren die jesuitischen Erfolge akut bedroht, die 1692 immerhin zu einem Toleranzedikt des Kaisers Kangxi – der die Missionare vor allem als Hofmathematiker und wissenschaftlich kultivierte Prinzenerzieher schätzte – für die christliche Religion im chinesischen Reich geführt hatten. 1704 wurde das Verbot der konfuzianischen Riten für die chinesischen Christen vom Vatikan schließlich bestätigt und 1715 nochmals als päpstliche Bulle Ex illa die bekräftigt. „Damit wurde die Missionspraxis der Jesuiten definitiv verurteilt, die Tolerierung der chinesischen Riten verboten und die Ausübung des Christentums in europäischer Form verlangt.“86 Die Reaktion war die Rücknahme des chinesischen Toleranzediktes von 1692 und das Verbot der Verbreitung der christlichen Lehre in ganz China (1717). Die Jesuiten durften sich zwar weiterhin am Hof in Peking aufhalten, jedoch nicht mehr missionieren. Wenn sich Budde und Stephani 1701 im ‚Ritenstreit‘ offensiv gegen die Jesuiten und deren theoretische Rechtfertigung ihrer Missionspraxis wandten, dann musste dies in Halle zugleich als ein Engagement gegen das sinophile Akademieprojekt von Leibniz und Francke gewertet werden. Obwohl Budde in der Sekundärliteratur als moderater Vermittler zwischen Pietismus und Orthodoxie dar-

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Johann Franz Budde: Elementa Philosophiae instrumentalis, seu institutionum Philosophiae eclecticae. Bd. 1, hg. v. Walter Sparn. Hildesheim u. a. 2006, Kap. VI. Vgl. Johann Franz Buddeus: Dissertatio Historico-Moralis de Superstitioso Mortuorum Apud Chinenses Cultu. Halle 1701. Eine gute Zusammenfassung des ‚Ritenstreites‘ findet sich bei Lee: Anti-Europa (wie Anm. 6), S. 31–34. Ebd., S. 33.

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gestellt wird,87 griff er in der Auseinandersetzung um die chinesische Philosophie offensichtlich die antiapologetische Platonismuskritik der lutherischen Orthodoxie gegen Francke und Leibniz auf, die klar auf die Anklage der Häresie hinauslief. Diesbezüglich konnte er argumentativ an Ehregott Daniel Colbergs Platonisch-hermetisches Christenthum (1690/91) und Friedrich Christian Büchers Plato mysticus in Pietista redivivus (1699) anknüpfen, die lediglich um Bayles Rückführung des Spinozismus auf die chinesische Philosophie erweitert wurden. Demnach konnte bereits der Vergleich des chinesischen Kaiserreiches mit einer platonischen Republik, wie er sich auch bei Francke findet, als chiliastische Häresie und Angriff auf die Obrigkeit ausgelegt werden. Schon bei Bücher findet sich der Vorwurf an den pietistischen Chiliasmus, er kombiniere die Lehre von der Wiedergeburt mit dem platonischen Konzept des Philosophenkönigs, insofern beide Motive eine unmittelbare Einsicht in die Wahrheit eröffneten. Dies laufe auf die heterodoxe Behauptung hinaus: „Ein Philosophus sey allein tüchtig aus dem Licht Gottes und seinem Eingehen / so wohl zu weissagen / als auch das Regiment zu führen.“88 Neben der christlichen Obrigkeit werde damit schließlich auch das geistliche Regime der Kirche entbehrlich, denn der platonische wie der chinesische Philosophismus respektiere ebenso wie die Lehre von der Wiedergeburt „weder Obrigkeit noch Predigt=Ambt / so ihnen nicht zugethan sind.“89 Die Aktualisierung dieser Vorwürfe, die Francke ernstlich treffen konnten, insofern er beim Aufbau seiner Stiftungen auf staatliche Unterstützung angewiesen war, konnten noch um die Anklage des ketzerischen Pelagianismus ergänzt werden, wonach der natürliche Mensch ohne Gnaden=Liecht des Heil. Geistes nicht nur daß / was er thun und lassen solle / und so ihm noch einiger massen aus dem Liecht der Natur bekandt ist / sondern auch die von Anbegin verborgene Geheimnisse von der Rechtfertigung / Heiligung / vom Glauben und dem Zeugniß des heil Geistes / nicht nur aus der Heil. Schrift wissen / sondern auch verstehen könne.90

Tatsächlich ging der hallesche Pietismus analog zum jesuitischen Molinismus von der hinreichenden natürlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen aus, die im inneren Wesenskern nicht vom Sündenfall zerstört war, so dass sie auch fremden Kulturen und zumal der chinesischen zugesprochen werden konnte, die von Leibniz nicht als barbarisch, sondern als zivilisiert charakterisiert wurde. In seinen 1717 publizierten Lehr-Sätzen von der Atheisterey und dem Aberglauben geht Budde nur noch beiläufig auf China ein. Er verweist dort lediglich auf seine älteren Schriften,

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Vgl. Sparn: Einleitung (wie Anm. 78), S. Vff. Bücher: Plato mysticus (wie Anm. 51), S. 71, zit. n. Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte (wie Anm. 49), S. 219. Ebd., S. 220. Ebd., S. 198.

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„wo ich auch das falsch gerühmte Alterthum derer Chinenser ausgemertzet habe.“91 Trat also an der Universität Halle zunächst Budde als schärfster Kritiker der apologetisch-platonischen Liaison zwischen chinesischem Konfuzianismus und natürlicher Religion auf, so wurde er in seiner Platonismuskritik später von dem Thomasius-Schüler Nikolaus Hieronymus Gundling überholt.92 Gundling, der in Halle zunächst eine Professur für Geschichte und Beredsamkeit sowie ab 1713 für Natur- und Völkerrecht besaß, hatte schon zuvor die anti-apologetische Kritik dahingehend weiter verschärft, dass er die zunächst allein heilsgeschichtliche Irrelevanz der primordialen prisca sapientia nun auch auf die profane Philosophiegeschichte ausdehnte. Neben der alttestamentarischen Philosophie der Patriarchen und der biblischen Kabbala war davon prinzipiell auch die im translatio sapientaeModell interpretierte konfuzianische Philosophie betroffen.93 Dabei stützte sich Gundling auf die philosophiehistorische Autorität des Diogenes Laertius, der das ‚barbarische‘ Wissen scharf von der griechischen Philosophie abgegrenzt hatte, so dass der nicht-griechischen natürlichen Wissenstradition der Ägypter und Hebräer nur noch das konfuzianische Denken zur Seite gestellt werden musste.94 Insofern verkehrte sich die Anciennität der chinesischen Philosophie von einem Argument für die Wertschätzung in das Gegenteil um. Methodisch wurde diese Argumentation mit dem fehlenden Abstraktionsniveau der vorgriechischen Wissensformen begründet, die laut Gundling allenfalls über triviale Wahrheiten verfügten. Während Thomasius in seiner Rezension des Confucius Sinarum Philosophus von 1689 Konfuzius zwar nicht als Klassiker, aber dennoch als anerkannten Philosophen in einem Atemzug mit Seneca behandelte, ging Gundling 1706 nun soweit, den chinesischen Konfuzianismus gemeinsam mit der gesamten adamitischen Weisheitsgenealogie gänzlich aus der Philosophiegeschichte auszuschließen. Vermittelt über Laertius, kam damit ein ‚barbarisches‘ Argument in den philosophiegeschichtlichen Diskurs, das später ein rassistisches Eigenleben entwickelte und

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Johann Franz Budde: Lehr-Sätze von der Atheistery und dem Aberglauben mit gelehrten Anmerckungen erläutert [1717]. Hg. v. Walter Sparn. Teilband 1. Hildesheim, Zürich, New York 2010, S. 406. Vgl. Nikolaus Hieronymus Gundling: Plato atheus. In: Neue Bibliothec 31, Halle 1713, S. 1– 31; Von Platonis Atheisterey. In: Gundlingiana 32, Halle 1724. Vgl. Sparn: Einleitung (wie Anm. 78), S. X–XIII. Nikolaus Hieronymus Gundling: Historia philosophiae moralis. Halle 1706. Siehe hierzu Martin Mulsow: Gundling vs. Buddeus. Competing Models of the History of Philosophy. In: Donald R. Kelley (Hg.): History and the Disciplines. New York 1997, S. 103–125; Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003, S. 77–96. Vgl. Gundling: Historia philosophiae moralis, S. 40 sowie die Interpretation bei Dirk Westerkamp: Die philonische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie. München 2009, S. 42.

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die dunkle Seite der „Graecomanie des deutschen Philosophierens“ darstellt.95 Im Gegensatz zu Leibniz, der in China einen alternativen Anfang der Philosophiegeschichte sah, wurde die chinesisch-konfuzianische Philosophie als Bestandteil der natürlichen Theologie insgesamt zum konstitutiven Außen für die eklektische Philosophiegeschichte der Frühaufklärung. Weiter ausgearbeitet und systematisiert wurde diese von Gundling in Gang gesetzte philosophiegeschichtliche Dialektik der Aufklärung durch Christoph August Heumann, der zwar nicht in Halle lehrte, aber sowohl von Budde als auch Thomasius stark beeinflusst war.96 In seinen einflussreichen Acta philosophorum – einem philosophiegeschichtlichen Periodikum, das im Übrigen in der halleschen Buchhandlung des Franckeschen Waisenhauses verlegt wurde – spielte er taktisch geschickt den griechischen und chinesischen Republikanismus, der bei Vossius, Leibniz und ursprünglich auch bei Francke über die Korrespondenz von Konfuzius zu Sokrates bzw. Platon noch miteinander verknüpft war, gegeneinander aus, so dass er den Ausschluss des Konfuzianismus aus der Philosophiegeschichte zugunsten Griechenlands politisch weitere Evidenz verschaffen konnte.97 In der 1720 publizierten Rezension von Eusebè Renaudots Anciennes Relations des Indes et de la Chine (1718) räumte er dessen Kritik an Vossius’ chinesisch-platonischem Republikanismus hinreichenden Platz ein und polemisierte darüber hinaus gegen die Qualität der 1711 erschienen vollständigen Neuedition der sechs klassischen Bücher des chinesischen Reiches durch den Jesuiten François Noël.98 Da Noëls Arbeit als philologische Intervention in den ‚Ritenstreit‘ geplant war und gerade deshalb den neuesten wissenschaftlichen Standards sowohl hinsichtlich der Quellenkritik als auch der Übersetzungskunst folgte und neben Konfuzius erstmals auch die Schriften des Philosophen Menzius enthielt, musste sie eine potentielle Bedrohung für die antiapologetische Partei darstellen.99 Für Heumann handelte es sich bei der neuübersetzten chinesischen Ethik gleichwohl wiederum 95

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Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens. Stuttgart 1999, S. 151. Über die längerfristigen Folgen informieren Helmut Heit: Der Ursprungsmythos der Vernunft. Zur philosophiehistorischen Genealogie des griechischen Wunders. Würzburg 2007 sowie Peter K. J. Park: Africa, Asia, and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon, 1780–1830. Albany 2013. Zur Bedeutung Heumanns für die Philosophiegeschichte siehe Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte (wie Anm. 49), S. 355–396 und Zedelmaier: Der Anfang (wie Anm. 93), S. 96–131 sowie zuletzt Martin Mulsow, Kasper Risbjerg Eskildsen, Helmut Zedelmaier (Hg.): Christoph August Heumann (1681–1764). Gelehrte Praxis zwischen christlichem Humanismus und Aufklärung. Stuttgart 2017. Ausführlicher hierzu Rüdiger: China (wie Anm. 77), S. 214–227. Christoph August Heumann: Eusebii Renaudoti Nachricht und Urtheil von der Philosophi der Sineser. In: Acta philosophorum. Das ist, Gründliche Nachricht aus der Historia Philosophica. Nebst beygefügten Urtheilen von denen dahin gehörigen alten und neuen Büchern. Bd. 2, 11. Stück, Halle 1720, S. 717–786. Vgl. hierzu Albrecht: Einleitung (wie Anm. 2), S. XXII–XXVIII sowie Henrik Jäger: Einleitung. In: François Noël: Sinensis imperii libri classici sex. (Die sechs klassischen Bücher des chinesischen Reiches). Hildesheim 2011, S. 5f.

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nur um „eine Morale, welche durch die Theologiam Scholasticam […] in eine andere Gestalt gebracht worden [ist].“100 In diesem Fall konnte sich Heumann auf die Position des historischen Pyrrhonismus zurückziehen, so dass über die philologische Authentizität nicht entschieden werden konnte, was erneut einem Ausschlusskriterium gleichkam. Ferner wiederholte Heumann Gundlings Argument, wonach es sich bei der konfuzianischen Ethik mangels Abstraktheit lediglich um eine „Ethica vulgaris“ handele, weshalb diese auch methodisch-inhaltlich aus der wahren Philosophie ausgeschlossen werden müsse.101

Fazit Da sich Wolff in seiner China-Rede von 1721 ausdrücklich auf die Textbasis von Noël stützte, ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass er seine Stellungnahme als Reaktion auf Heumann plante. Dass er sich hierbei die Kritik der lutherischen Orthodoxie und der antiapologetischen Eklektik einhandeln würde, war voraussehbar; die heftige pietistische Polemik aus dem Umfeld Franckes jedoch nicht unbedingt. Neu ist bei Wolff vor allem, dass er den Konfuzianismus von der natürlichen Religion unterscheidet und dessen Ethik mit Cicero aus der Einsicht in die „Natur der Dinge“ ableitet.102 Möglicherweise wählte Wolff die chinesische Form, in der er seine eigenen bildungsreformerischen Thesen kleidete, sogar gerade deshalb, um sie für Francke annehmbarer zu machen. Doch in diesem Falle hätte er sich gründlich verspekuliert. Denn obwohl das Ende des Nordischen Krieges die geopolitischen Umstände für die Chancen einer neuen China-Mission seit 1721 wieder verbesserte, kam das Thema für Francke zu diesem Zeitpunkt offensichtlich mehr als ungelegen – zudem aus dem Munde eines Philosophen. Vermutlich wog die gelungene Etablierung des Waisenhauses schwerer als das erneute Eingehen auf einen alten Streit, in dem die pietistische Loyalität zur Obrigkeit auf dem Spiel stand. Francke hatte 1721 definitiv mehr zu verlieren als 1688 oder 1697. Zumal mit der geistlichen Betreuung der dänischen IndienMission seit 1706 ein konkreter Ersatz geschaffen war. Das indische Tranquebar war zwar nicht Peking, aber immerhin ein erfolgreiches Unternehmen. Gleichwohl haben Halle im 18. Jahrhundert nicht wenige pietistisch gebildete Forscher und Missionare in Richtung Russland und Sibirien verlassen, die im praktischen Geiste der von Francke und Leibniz geplanten Kooperation zwar keinen Beitrag zur Christianisierung Chinas, wohl aber zur praktischen Begründung der Ethnologie als Wissenschaft leisteten.103 Auf diese indirekte Weise wurde Franckes programmatische Forderung nach einem wissenschaftlichen und möglichst vorurteilsfreien 100 101 102 103

Heumann: Nachricht und Urteil (wie Anm. 98), S. 752. Ebd. Wolff: Rede (wie Anm. 1), S. 27 u. 149ff. Vgl. Vermeulen: Before Boas (wie Anm. 74).

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Kulturvergleich zwischen christlichen und paganen Völkern von 1688 doch noch zum Teil realisiert. Innovativ war also für sich genommen weder die globale Ausweitung von Wolffs Perspektive auf China noch die Behauptung einer paganen Grundlage zur Begründung von Ethik und republikanischer Politik. All dies war schon lange vor Wolff von Vossius und Leibniz sowie innerhalb der Friedrichs-Universität ausgerechnet von Francke behauptet worden. Dagegen muss Wolffs kreatives Festhalten an einer möglichen Synthese von (metaphysischer) Wahrheit und wissenschaftlicher Nützlichkeit, wie sie prinzipiell im kooperativen Theorieprogramm von Leibniz und Francke angelegt war, als innovativ gelten. Die von den radikalen Pietisten ursprünglich selbst vertretene Ansicht, wonach philosophische Theorie und Praxis auch gegen das theologische Dogma des Augustinismus von der irreversiblen sündigen Depravation des menschlichen Wesens zur naturgemäß sittlich-religiösen Lebensführung beitragen könne, wurde später von Wolff gegen die christliche, juridische und historistische Skepsis in modifizierter Form verteidigt. Anstößig und gefährlich war 1721 eher die politische Eskalation im Rahmen eines offenen Streites der Fakultäten, in dem die Philosophie nicht nur epistemisch und sittlich, sondern auch institutionell nach dem Vorbild der chinesischplatonischen Philosophenherrschaft eine Führungsrolle beanspruchte. Gegen Wolffs in diese Richtung zielende Vorschläge zu einer allgemeinen Universitätsund Bildungsreform formierte sich sofort heftiger Widerstand aus den oberen Fakultäten, der die übrigen theoretisch-weltanschaulichen Differenzen der Akteure überlagerte. Die Forderung nach der Emanzipation des philosophischen Wissens im Zusammenhang mit der institutionellen Aufwertung der philosophischen Fakultät und der Implementation einer meritokratischen Regierungsrationalität in die politische Ordnung blieb im 18. Jahrhundert lange mit dem imaginären Vorbild Chinas verbunden. Bis auf Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt blieb dieses Thema für den Diskurs der Aufklärung ein akutes und konstitutives Problem, auch wenn sich die ursprüngliche Verbindung mit dem chinesischen Republikanismus am Ende des Jahrhunderts verwischte.104 Trotz der vorläufigen Niederlage Wolffs in Halle kam es nach 1730 zu einer erneuten epistemischen Annäherung zwischen Pietismus und leibnizwolffianischer Philosophie, indem an die ursprüngliche Konvergenz von Francke und Leibniz angeknüpft wurde. Neben der bereits erwähnten Völkerkunde, die sich insbesondere an der Universität Göttingen rasch entwickelte, können hierfür emblematisch die Namen von Alexander Gottlieb Baumgarten (Ästhetik), Johann Heinrich Gottlob von Justi (Politik und Wirtschaft) oder Joachim Georg Darjes 104

Vgl. Eun-Jeung Lee, Axel Rüdiger: China und die moderne Gleichursprünglichkeit von Demokratie und Meritokratie. Zur interkulturellen Ideengeschichte des Republikanismus in der Epoche der Aufklärung. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. 45,1 (2020) (im Druck).

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(Natur- und Völkerrecht) stehen. Erst nachträglich und indirekt hat sich der Streit um Wolffs China-Rede innovativ ausgewirkt. Insofern haben ganz sicher auch gewöhnliche universitäre Streitfragen um Einfluss und Posten in der ‚Causa Wolff‘ eine wichtige Rolle gespielt.105 Insgesamt müsste die wissenschaftshistorische Konstellation deshalb über ihre theoretischen und institutionellen Kontexte weiter untersucht werden, um der historischen Mythenbildung gründlicher vorzubeugen. Was die nähere Analyse des China-Streites in der Frühzeit der Universität Halle jedoch schon jetzt deutlich macht, ist die Tatsache, dass die lange gepflegte dichotomische Gegenüberstellung von Pietismus und Aufklärung wesentlich komplexer war als zumeist angenommen.

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Vgl. Pečar u. a. (Hg.): Causa Christian Wolff (wie Anm. 5).

Innovative Wirkungen in die Stadt hinein?

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Freimeister und Entrepreneurs. Innovation und Konkurrenz in Wirtschaft und Gewerbe der jungen Universitätsstadt Halle Es ist wenig verwunderlich, dass der Segen, den Kurbrandenburg über Halle brachte, in Jubelschriften zum 200-jährigen Jubiläum des Übergangs des Magdeburger Erzstifts an die Hohenzollern im Jahre 1880 mit patriotischer Emphase ausgebreitet wurde.1 Der wirtschaftliche Aufschwung, den die Stadt Halle nach 1680 und mehr noch nach der Gründung der Friedrichs-Universität ab 1690 genommen hatte, war indessen schon viel früher bewundert worden. So schreibt der Barbier Johann Dietz in seinen Erinnerungen: „War anno 1694 […] Es war gleich zur Zeit, daß die hiesige Friedrichs-Universität inaugurieret wurde in Halle. Da wurd alles voll Volk, Studenten und Frembde, daß ich in einem Vierteljahr meine ganze Hausmiethe profitierte.“ Und er resümiert: „in summa: in Halle ging damals ein Licht und Freude auf in dem Herrn, und war kein Winkel in der Stadt, der nicht gesucht und bebauet worden.“2 Die Vorrede des Jetzt–lebenden Halle – eines 1701 veröffentlichten, sich an Leipziger und Erfurter Vorbildern orientierenden ‚erweiterten Adressbuches‘ – erläutert: es siehet leicht ein jeder, der vor 30. Jahren daselbst gewesen, und jetzt wieder dahin komt, daß das alte Halle mit dem jetzigen keines Weges zu vergleichen, in dem es unter der glorwürdigsten Königl. Regierung, vornehmlich unter unserm Allerdurchlauchtigsten Könige, in allen Stücken herrlich sich verbessert […].3

Caspar Gottschling schließlich legte 1709 seine Meinung dar, die „berühmte Stadt Halle“ scheine „nun mehr auf die höchste Staffel ihres Glückes erhaben“ zu sein.4 1

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Vgl. Gustav Hertel: Der Anfall der Stadt und des Erzstifts Magdeburg an das Kurfürstentum Brandenburg. Festschrift zur 200jährigen Jubelfeier am 4. Juni 1880. Magdeburg 1880; Julius Otto Opel: Die Vereinigung des Herzogthums Magdeburg mit Kurbrandenburg. Festschrift zur Erinnerung an die zweihundertjährige Vereinigung. Halle 1880; Th. Schmidt: Erinnerungsblätter an den Festzug vom 10. Juni 1880 zur Feier des 200jährigen Anschlusses des Erzbisthums Magdeburg an die Krone Preußens. Magdeburg 1880. Zur Vorgeschichte: Andrea Thiele: Residenz auf Abruf? Hof- und Stadtgesellschaft in Halle unter dem letzten Administrator des Erzstifts Magdeburg, August von Sachsen (1614–1680). Halle 2011 (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 16). Friedhelm Kemp (Hg.): Meister Johann Dietz des Großen Kurfürsten Feldscher. Mein Lebenslauf. München 1996, hier S. 182–183. Das unter Seiner Königlichen Majestät in Preußen Herrn Friederichs glorwürdigsten Regierung Florirende und jetzt-lebendes Halle In dem Herzogthume Magdeburg. [S. l.] 1701. Caspar Gottschling: Kurtze Nachricht von der Stadt Halle und absonderlich von der seiner Vniuersität daselbst. Halle 1709, S. 2. Aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts: Malte von Spankeren: Halle in den 1780er Jahren – Johann Georg Briegers „Historisch-topographische

https://doi.org/10.1515/9783110682076-014

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Was aber sah „ein jeder leicht“, worin bestand die Ursache für den Jubel? Wie war die beobachtete Verbesserung zustande gekommen? Ist der Aussage überhaupt zuzustimmen, oder handelte es sich nur um einen Topos, um Herrscherlob auf den Großen Kurfürsten? In welchem Maße ging die ‚Verbesserung‘ mit Erneuerung und Innovation einher, oder wurde lediglich ein zwischenzeitlich verlorener Stand zurückgewonnen? Um diesen Fragen nachzugehen, werden im Folgenden das Gewerbe, das Handwerk und der Handel, die Commercien der Stadt Halle sowie ihre Kundschaft in den Blick genommen. Über die Frage hinaus, welche Rolle landesherrliche Weichenstellungen spielten und welchen Anteil städtischer Gewerbefleiß hatte, wird über die Faktoren Innovation und Konkurrenz als Motoren des Wandels nachgedacht. Als zentral im städtischen Szenario erscheinen die Person und die Rolle des ‚Fremden‘. Dieser war in Halle zum einen in Gestalt der ‚Freimeister‘ vertreten, die der Gerichtsbarkeit der neu etablierten Universität unterstanden, zum anderen durch die landesherrlich privilegierten réfugiés und Exulanten präsent, die bereits ab 1685, dem Jahr des von Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg erlassenen Edikts von Potsdam, in Halle ansässig geworden waren. Die Frage nach der Innovation, die mit der Gründung der Fridericiana einherging, wird im vorliegenden Beitrag aus der Perspektive der lokalen Wirtschaft behandelt. Sie wird um sozial- und stadtgeschichtliche Aspekte ergänzt: die Differenzierung der Handwerke und Waren, Materialien und Qualität, Umsatz und Steueraufkommen; es wird nach Aussagen über die tatsächlichen Auswirkungen des Neuen und Fremden für die Stadt gesucht. Im Gefolge von Marianne TaatzJacobis differenzierter Studie zu den Abläufen und Motiven der Universitätsgründung kann es nicht das Ziel sein, im Sinne der eingangs genannten Festschriften aus dem vorletzten Jahrhundert affirmativ immer wieder neue Belege für den Erfolg der landesherrlichen Gründung zu sammeln; auch die eigene Ökonomie der Friedericiana wird hier nur am Rande gestreift.5 Vielmehr wird ausgangsoffen das Wechselspiel zwischen Stadt, Universität und Landesherr untersucht, das offenbar

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Beschreibung der Stadt Halle im Magdeburgischen“. In: Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte (2012), S. 116–133. Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik. Motive – Verfahren – Mythos (1680–1713). Berlin 2014 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 13); Gründungsphase aus dem Blickwinkel von Christian Thomasius: Frank Grunert, Matthias Hambrock u. Martin Kühnel (Hg.): Christian Thomasius, Briefwechsel. Historischkritische Edition. Bd. 1: 1679–1692. Berlin u. Boston 2017. Vergleichend Elizabeth Harding: Kalkulierte Gelehrsamkeit. Zur Ökonomisierung der Universitäten im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2016 (Wolfenbütteler Forschungen 148). Viele wichtige Aspekte beleuchtend, doch unter Ausklammerung der Jahre um 1700: Andreas Ranft u. Michael Ruprecht (Hg.): Universität und Stadt. Sichtbarkeit, Lebensform, Transformation. Halle 2018 (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 25).

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zu wirtschaftlichem Aufschwung führte. Der betrachtete Zeitraum reicht bis ca. 1730.6

Wandel und neue Eliten Für Halle, das vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zum Jahr 1680 Residenzstadt der Erzbischöfe bzw. Administratoren von Magdeburg gewesen war, begann mit dem Übergang des vormaligen Erzstifts an Kurbrandenburg eine Phase großer Unsicherheit. Dem Wegzug des Hofes aus Halle folgten die Auflösung der bisherigen Elite der Hofangehörigen und schließlich eine erhebliche Dezimierung der Stadtbevölkerung durch die Pest, die sogar die Verschiebung der Huldigung an den Großen Kurfürsten in das Jahr 1681 erzwang. Die Stadt musste eine neue Rolle finden, war sie doch nun Teil des im Westfälischen Frieden beschlossenen Zuwachses für das kurbrandenburgische Territorium, Teil des neuen „Herzogtums Magdeburg“. Abhilfe schuf schließlich die neue, in aller Konsequenz nicht abzusehende Rolle der Universitätsstadt.7 Ein Typus, in den die Stadt erst hineinwachsen musste und der eine weitere Beschneidung ihrer überkommenen Rechte mit sich brachte. Ursächlich hierfür waren die Privilegien, mit denen die Korporation der Universität ausgestattet war. Die in landesherrlichen Diensten stehenden, neu berufenen und nach Halle gezogenen Professoren wurden nicht der städtischen Jurisdiktion unterstellt und waren auch nicht verpflichtet, den Bürgereid zu leisten.8 Sie orientierten sich in einer eigenen, neu geschaffenen Welt. Hierzu gehörten die Rangordnungen, mit denen ihre Rolle fixiert wurde. So legte das Rang-Reglement der bei der feierlichen Inauguration 1694 verliehenen und 1697 erneuerten Privile6

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Grundlegende Studien zur Wirtschaftsgeschichte Halles: Ernst Heinecke: Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Halle unter brandenburg-preußischer Wirtschaftspolitik von 1680–1806. Halberstadt 1929; Erich Neuss: Entstehung und Entwicklung der Klasse der besitzlosen Lohnarbeiter in Halle. Eine Grundlegung. Berlin 1958 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse, 51/1); Werner Freitag: Eine andere Sicht der Dinge. Die Entwicklung Halles im 18. Jahrhundert unter wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten. In: Thomas Müller-Bahlke (Hg.): Gott zu Ehr und zu des Landes Besten. Die Franckeschen Stiftungen und Preußen. Aspekte einer alten Allianz. Halle 2001, S. 297–314; Werner Freitag u. Michael Hecht: Verlassene Residenz und Konsumentenstadt an der preußischen Peripherie (1680–1806). In: Werner Freitag u. Andreas Ranft (Hg.): Geschichte der Stadt Halle. Bd. 1. Halle 2006, S. 405–429; sowie Hans-Joachim Kertscher: Der Blick auf Stadt und Universität – Halle in Reisebeschreibungen des späten 18. Jahrhunderts. In: Ebd., S. 498–510. Zu Typologisierungen siehe: Heinz Schilling: Die Stadt in der Frühen Neuzeit. München 2004; Ulrich Rosseaux: Städte in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, S. 37–39; Elizabeth Harding: Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden 2014 (Wolfenbütteler Forschungen 139); Dies. (Hg.): Kalkulierte Gelehrsamkeit (wie Anm. 5). Universitätsarchiv Halle (im Folgenden UAH): Rep. 3, Nr. 6: Befreiung der Universitätsangehörigen vom Bürgereid (1699).

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gien der Friedrichs-Universität die Stellung der Professoren vor den höchsten städtischen Repräsentanten, den beiden Ratsmeistern, fest.9 Das Bürgerrecht erwarben die Professoren in der Regel nur, wenn Hauserwerb anstand: Christian Thomasius, der sich 1690 in Halle niedergelassen hatte, gewann beispielsweise das Bürgerrecht erst im Jahre 1701, bevor er sein Haus in der Großen Ulrichstraße kaufte.10 Insgesamt ist eine gezielte landesherrliche Bevorzugung der Professorenschaft zu beobachten: Anstelle der ursprünglichen Hofbeamtenschaft wurde neben den weitgehend übernommenen Verwaltungseinrichtungen des Territoriums und deren Beamten relativ unvermittelt und nachdrücklich eine neue Elite installiert und ihr Raum zur Entfaltung gegeben. Die Hallenser waren bereits an die Beamten und Eliten des vormaligen Hofes der Erzbischöfe und Administratoren gewöhnt. Ihre Stellung verbesserte sich nicht, vielmehr verschärfte sich das Regiment spürbar. Der Verlust einer starken Stellung des Stadtrates hatte mit der Unterwerfung Halles durch Erzbischof Ernst von Sachsen (1464–1513) im Jahre 1478 begonnen. Sie gipfelte nach 1680 darin, dass der Landesherr in die Zusammensetzung dieses wichtigen städtischen Gremiums eingriff. Um den Jahreswechsel 1687/88 herum wurde der Rat Halles verkleinert.11 1719 schließlich wurde die Installation eines festen Stadtrats und eines Oberbürgermeisters verfügt – dieses Amt erhielt der Kämmereiinspektor und Ratsherr Andreas Bastineller (1650–1724), der bereits lange alternierend das Amt des Ratsmeisters ausgeübt hatte.12 Insgesamt gab es nach 1680 einen deutlich stärkeren obrigkeitlichen Zugriff auf die Stadt als unter dem in Halle residierenden Administrator August von Sachsen (1614–1680).13 Zugleich erfolgte die Intensivierung der Verordnungstätigkeit, wie sie in der umfangreichen, zwischen 1714 und 1717 erschienenen Sammlung von Christian Otto Mylius dokumentiert ist.14

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Vgl. Johann Christoph Dreyhaupt: Pagus Neletici, oder Ausführliche […] Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft […] Magdeburg gehörigen Saal-Creyses […]. Bd. 2. Halle 1750, S. 72–77, hier S. 77: „§ XXV. Wegen des Rangs derer Professorum wollen wir es folgender gestalt zu halten hiermit gnädigst verordnet haben. 1. Die Professores Ordinarii der vier Facultäten. 2. Die Rathsmeistere. 3. Die Assessores Scabinatus. 4. Der Syndicus Universitatis Civitatis. 5. Die Professores Extraordinarii, welche Doctores seyn. 6. Die übrigen Doctores und Licentiati“ (4. Sept. 1697); UAH, Rep. 3, Nr. 11, fol. 1 (1705). Hierzu: Andrea Thiele: „Ein nicht wegzuleugnendes Verkehrshindernis“: Zur Bau- und Besitzergeschichte des Grundstücks Große Ulrichstraße 3. In: Caroline Schulz (Hg.): Archäologie findet Stadt. Hallische Stadtgeschichte unter dem Pflaster. Halle 2015 (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 22), S. 130–154. Dreyhaupt: Pagus Neletici (wie Anm. 9), S. 325ff.: Von der ehemaligen Verfassung des Magistrats. Ebd., S. 581: Andreas Bastineller; zum Werdegang: Thiele: Residenz auf Abruf (wie Anm. 1): S. 471. Vgl. Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie (wie Anm. 5). Christian Otto Mylius: Corpus Constitutionum Magdeburgicarum novissimarum, oder Königl. Preuß. und Churfl. Brandenb. Landes-Ordnungen; Edicta und Mandata im Hertzogthum

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Freimeister Jedoch kamen nicht allein Professoren und Angehörige der Eliten neu nach Halle und erhielten Privilegien. Zur Körperschaft der Universität gehörten stets auch Assoziierte. Neben den Sprach- und Tanzmeistern waren dies Universitätshandwerker, so genannte Universitätsfreimeister.15 Ihr Vorteil war, dass sie ihre Gewerbe ausüben durften, ohne Mitglied der städtischen Innungen zu werden, und dass sie ebenso wie die Professoren nicht das Bürgerrecht der Stadt erwerben mussten.16 Dies brachte erhebliche, auch finanzielle Vergünstigungen für die Freimeister mit sich und sorgte auf der Gegenseite für Ausfälle in den städtischen Einnahmen. Schon zuvor, unter dem Administrator August, hatte es in Halle vereinzelt landesherrlich privilegierte Hofhandwerker gegeben und auch für die im Folgenden zu beobachtenden Streitigkeiten hatten bereits Parallelen in der Konkurrenz der Hofangehörigen mit den Handwerkern der etablierten Innungen Halles bestanden, die abgesehen von der Salzwirkerbrüderschaft nie wirklich stark gewesen waren.17 Als Universitätsfreimeister waren nicht nur jene Berufe tätig, die unmittelbar mit der Universität in Verbindung zu bringen wären, Berufe wie Buchhändler (Buchführer), Buchdrucker, Buchbinder, Lettern-Schneider oder Kupferstecher, sondern vielmehr das ganze Spektrum von Tätigkeiten, die für die Universitätsangehörigen als Auftraggeber oder als Kundschaft von Interesse sein konnten.18 Die Matrikel der Universitätsangehörigen im Universitätsarchiv umfasst insgesamt 81 verschiedene Berufe, darunter zum Beispiel unter dem Buchstaben P: Perückenmacher, PergamentMacher, Pitschierstecher (d. h. Siegel-Stecher), MusicalischPfeiffenmacher, Plischmacher – bis hin zum Buchstaben Z: Zeuchmacher, Zuckerbäcker und Zimmermann.

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Magdeburg […]. Magdeburg u. Halle 1714–1717. Enthält u. a. die Verneuerte Regimentsordnung Halle von 1687. Heinz Kathe: Die hallischen Universitätsbürger und Freimeister im 18. Jahrhundert. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit: Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 2: Frühmoderne. Weimar 1997, S. 181–189. Franz Schrader: Geschichte der FriedrichsUniversität zu Halle. Bd. 1. Berlin 1894, S. 80, S. 343 u. passim. Demnach konnte die Universität sehr zufrieden sein, während die Stadt allen Grund zur Klage hatte – zumal auch die Steuereinnahmen fehlten. UAH, Rep. 3, Nr. 7: Feilbieten von Waren von Universitätsangehörigen und Freimeistern auf dem Markt Halles (1700, 1748/49). Zum Bürgerrecht: fol. 3: Schreiben des Kurfürsten an den Magistrat vom 15. April 1700. Beispiele in: Thiele: Residenz auf Abruf (wie Anm. 1), S. 194–195 u. passim sowie: Dies.: Grenzkonflikte und soziale Verortung in der ‚Residenz auf Abruf‘. Halle unter dem letzten Administrator des Erzstifts Magdeburg, Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614–1680). In: Christian Hochmuth u. Susanne Rau (Hg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2006 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 13), S. 239–257. Die ratsfähigen Innungen waren die der Kramer, Futterer, Schuster, Schmiede, Bäcker und Fleischer. Vgl. Katrin Pöhnert: Hofhandwerker in Weimar und Jena (1770–1830). Ein privilegierter Stand zwischen Hof und Stadt. Jena 2014. UAH, Rep. 3, Nr. 329 a: Matrikel der Freimeister an der Universität (ab ca. 1694).

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Die Zahl der Universitätsfreimeister war begrenzt, in der Regel auf ein oder maximal zwei Vertreter jeden Gewerks. Häufig ging die Position vom Vater auf den Sohn über. Frei werdende Stellen – unter anderem, wenn jemand sich zum Militär rekrutieren ließ oder sich sonst veränderte – wurden nachbesetzt. Ein Universitätsbuchdrucker war zum Beispiel der Buchdrucker Johann Grunert (verst. 1731).19 Der ehemalige Hofbuchdrucker Christoph Salfeld hingegen wechselte seinen Titel von „Fürstl. Magdeb.“ zu „Churbrandenb. Hof- und RegierungsBuchdrucker“ und wurde nicht Universitäts-Buchdrucker. Ein weiteres Beispiel für einen Handwerker im Bezugsfeld der Universität ist der „Universitäts-Barbier“ Balthasar Schickedanz: „1692 votum 30. Mart. ist inhalts Churfl. Gdsten patents Balthasar Schickedantz zum Universitäts Babiern und Chirurgo bestellet, (Vid. Special Act. Fol. 1)“. Der Namen Schickedanz war bisher für Halle über die Mundköche des letzten Herzogs, Baltzer (Erwerb des Bürgerrecht 1647) und Adam Schickedantz (Bestallung 1664), bekannt.20 Ein anderer Barbier, der jedoch nicht direkt der Universität zuzuordnen ist, war der eingangs zitierte Johann Dietz: Die innungsmäßig organisierten Barbiere der Stadt hatten ihm bei dem Versuch, mit einem kurfürstlichen Patent ein Geschäft aufzuziehen, das Leben schwer gemacht. Schließlich heiratete Dietz die Witwe des Barbiers Watzlau und konnte so in Halle seinen Beruf ausüben – allerdings verlief die Ehe, Dietzens Schilderung zufolge, katastrophal.

Bedeutung der Universitäts-Freimeister für die Wirtschaft Kommen wir noch einmal auf die eingangs begonnene Folge der Beschreibungen der Stadt Halle im 18. Jahrhundert zurück: Auch der Thomasius-Schüler und brandenburgische Geheime Rat Jacob Paul von Gundling (1673–1731) skizzierte in seiner 1730 erschienenen „Geographischen Beschreibung Magdeburgs“ den relativen Wohlstand der Stadt: Hierzu tragen auch ausser dem Saltzwerck, die Commercien ein grosses bey, und ist eine ansehnliche Kauffmanschafft daselbsten, ohne was die Schiffart, und das viele Fuhr-Wesen, ingleichen die Passage vor Nutzen und Vortheil bringt. […] Es sind die Künste und Manufacturen, und andere stättische Gewerben in gutem Stand und Aufnehmen, welches alles das Saltz-Wesen nach sich ziehet.21

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Titel der ihm gewidmeten Funeralschrift: Trauer- und Trost-Ode Welche Als der weyland Wohl-Edle und Kunsterfahrne Herr Johann Grunert Der Hochlöblichen Friederichs-Universität […] Buchdrucker den 11. Sept. 1731 im 65. Jahre Seines Alters das zeitliche mit dem Ewigen verwechselte. Halle [ca. 1731]. Thiele: Residenz auf Abruf (wie Anm. 1), S. 190. Jacob Paul von Gundling: Geographische Beschreibung des Hertzogthums Magdeburg: worinnen Das gantze Land überhaupt und seine Verfassung […] nebst einer Land-Charte deutlich vorgestellet werden. Leipzig u. Frankfurt 1730, S. 165.

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Somit ging es Halle – explizit dem städtischen Gewerbe – also auch in Gundlings Einschätzung wirtschaftlich gut, es wurde konsumiert und gebaut, womit eine intensivierte Akzise-Einnahme, der Anstieg von Steuerleistung einherging. Jedoch wurden die Einwohner Halles bei weitem nicht gleich behandelt; vielmehr besaßen auch die Freimeister den Status eines Universitätsbürgers. Den Reformierten wiederum wurden erhebliche Steuererleichterungen eingeräumt, die weiter unten behandelt werden. Für die etablierten Betreiber von Handel und Gewerbe waren mit der Universitätsgründung aufgrund der neuen Käuferschicht zwar bessere Zeiten angebrochen – zugleich aber kam es zu Konkurrenzen zwischen alten und neuen „Entrepreneurs“, schließlich ging es auch um die Geschäfte und um Märkte. Denn die Universitätshandwerker waren in ihren Rechten, Waren anzubieten, den Bürgern gleichgestellt, sie drängten also zusätzlich (und auch rein physisch) auf den Markt. Hierüber wurde heftig diskutiert und gestritten – die Innungen beschwerten sich und auch die Stadt versuchte, die Rechte ihrer Bürger zu schützen. So bemühte sich die Stadt, den Freimeistern unter Verweis auf das fehlende Bürgerrecht zu verwehren, Waren auf dem Markt anzubieten. Hiergegen bat die Universität den Landesherrn: daß er der Universitaets frey Meister nicht allein mit der bißhero angemutheten Gewinnung des BürgerRechts gänzlich verschonen, sondern auch denen selben gleich anderen Handwercks Meistern und Bürgern alle Freyheiten und Gerechtigkeiten in Handel und Wandel verstatten und ihnen auff öffentlichem Marckte ihre boutiquen auf zu schlagen, auch ihre Wahren aus zu sezen und zu verkauffen nicht ferner verwehren laßen solle.22

Die Existenz von Gewerbe außerhalb der überkommenen Zünfte war ein beliebter Konfliktstoff zwischen städtischer Obrigkeit und landesherrlicher Regierung und sorgte auch in diesem Fall für Streit. Hiervon zeugt eindrücklich die Aktenlage: Über die Zeitspanne von 1698 bis 1782 finden sich im Stadtarchiv Halle Archivalien zu den Freimeistern – Dokumente über viele Streit- und Spezialfälle.23 In ihnen wurden die Universitätshandwerker von den Angehörigen der etablierten Innungen häufig als minderwertig dargestellt. So wurde polemisiert, es könne nur jemand bei einem Universitätshandwerker als Lehrling lernen wollen, der hinterher als Dilettant gelten wolle bzw. dessen Betrieb aussterben solle. Auch um die Auflage der Herstellung eines Meisterstücks bzw. die Vorlage einer Arbeitsprobe bei den Innungen wurde gerungen. Als Referenz im Streit um das Procedere wurden häufig die kurbrandenburgische Universität in Frankfurt an der Oder, gelegentlich auch die Universität Helmstedt herangezogen und die Regelungen aneinander angepasst.

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UAH, Rep. 3, Nr. 7: Feilbieten von Universitätsangehörigen (wie Anm. 16). StAH, Hist. Akten, Kap. XVIII, Abt. K, Nr. 1 (1698–1718), Nr. 2 (1730–1782), Nr. 3 (1765– 1766), Nr. 4 (1781–1783).

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Aufgrund der zahlenmäßigen Beschränkung war es ein großes Glück für die Handwerker, eine freie Hof- bzw. Universitätshandwerkerstelle zu erlangen, da sie deutlich freier als die Innungshandwerker agieren konnten. Oft wurden diese dann auch vom Vater auf den Sohn vererbt. Universität und Stadtangehörige nahmen die Situation ziemlich abweichend voneinander wahr. Jedoch unterschied sich die handwerkliche Produktion beider Gruppen wahrscheinlich nur wenig voneinander. Jedenfalls wuchs die hallische Wirtschaft. Dies beinhaltete auch die Salzproduktion – eine Innovation war hier die neue, ab 1719 vor dem Klaustor etablierte königliche Saline, mit der ein erheblicher Einschnitt in die überkommenen, eher genossenschaftlichen Produktionsweisen der Pfännerschaft verbunden war.24

Produkte der Freimeister Die meisten der von den Freimeistern produzierten Waren, etwa Stoffe, Möbel oder Perücken – ab 1698 war ein Universitäts-Perückenmacher, Samuel Lambert, tätig –, sind wie andere Gebrauchsgüter leider verbraucht worden oder gingen verloren. Die materielle Kultur ist in einer Stadt wie Halle, deren Handelsgeschichte von vergleichsweise geringer Bedeutung ist und die auch viele Archivalien verloren hat, generell fast unerforscht.25 Die größten Chancen auf das Fortbestehen ihrer Werke oder namentliche Überlieferung hatten neben den bereits erwähnten Buchdruckern die Künstler, vor allem wenn die von ihnen geschaffenen Porträts der Universitätsangehörigen in den Bestand der Universität eingingen und bis in die Gegenwart von der Kustodie oder dem Universitätsarchiv verwahrt wurden.26 Dieses gilt beispielsweise für den Maler Johann Anton Rüdiger, der 1722 in die Matrikel der Universitätshandwerker aufgenommen wurde.27 Wahrscheinlich portraitierte er einen guten Teil der hallischen Professorenschaft und Pfarrer (darunter August Hermann Francke, Johann Anastasius Freylinghausen, Johann Christian Gueintz). Nach Rüdigers Werken wiederum wurden zahlreiche Kupferstiche ange24 25

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Uwe Meißner: Innovation vor den Toren der Stadt – die königliche Saline 1721 bis 1868. In: Freitag u. Ranft (Hg.): Geschichte (wie Anm. 6), S. 476–485. Vgl. Erich Neuß: Das Hallische Stadtarchiv. Seine Geschichte und seine Bestände. Halle 1930. Evtl. böten die überlieferten Bücher des Berggerichts Halles die Möglichkeit, da sie u. a. Testamente enthalten. Zahlreiche Abbildungen finden sich z. B. in den Ausstellungskatalogen der Universitätsjubiläen von 1994 (300 Jahre Universität Halle) und 2002 (500 Jahre Universität Halle-Wittenberg). Ein Beispiel für das Wirken eines Künstlers: Anja Spalholz: Ein vielseitiges Talent. Zum 300. Geburtstag des Malers und Kupferstechers Gottfried August Gründler. In: Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte (2010), S. 177–182. Vgl. auch Franz Jäger: Entstehung und Bedeutung der ältesten Bildnisse der Superintendenten von Halle (Saale). In: Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte (2011), S. 176–196. UAH, Rep. 3, Nr. 329: Matrikel der Freimeister an der Universität (1693–1806), unter „Mahler“; Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 14 (1854), S. 9.

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fertigt, zum Beispiel von dem Universitäts-Kupferstecher Christian Gottlob Liebe (1696–1753) oder von Johann Georg Beck, der 1706 schon vor Liebe in der Matrikel erscheint. Ein weiterer Kupferstecher war Johann Christoph Sysang – er ist nicht in der Matrikel zu finden, tritt in den Quellen aber vielfach auf. Nicht selten erscheinen auch Leipziger und Berliner Kupferstecher – selbstverständlich bestanden von Halle aus Verbindungen in diese Städte. Nicht zu vergessen sind Größen wie der in Leipzig ansässige Martin Bernigeroth (1670–1733), einer der produktivsten Porträtisten seiner Zeit. Viele der von diesen Personen angefertigten Kupferstiche sind in der Bötticherschen Porträtsammlung der Franckeschen Stiftungen zu finden.28 Bemerkenswert ist, dass Rüdiger und Liebe auch gemeinsam den bekannten Kupferstich der lebensgroßen Luther-Figur in der Marienbibliothek erstellten (1736).29 Stellvertretend für die Erzeugnisse der Goldschmiedekunst um 1700 kann das Zepterpaar der Universität stehen, das von dem bedeutenden hallischen Goldschmied August Hosse geschaffen wurde.30 Darüber hinaus existiert ein Silberbecher, den die Studierendenschaft 1708 für den Silberschatz der Halloren stiftete. In Diensten der Universität – was für Hosse vorerst nicht zu belegen ist – standen auch die Goldschmiede Gottfried Mittler, Christoph Wiese und Moritz Nothdurfft.31 Eine weitere interessante Gruppe stellen die Studenten, die inscripti, dar. Sie übernahmen nicht selten die Funktion von Innovationsträgern, insbesondere jene, die das Fach Mathematik belegt hatten. Darunter befanden sich junge „Mechanici“ wie Christian Carl Schindler, der den zu dieser Zeit in Halle tätigen Gottfried von Gedeler in seinem Amt als Baumeister beerben wollte, zugleich Uhren konstruierte und Bücher über Gesteinskunde schrieb, darüber hinaus Globen und Armillarsphären baute und sich als „Mathematikus und Mechanicus bei der Universität Halle“ bezeichnete.32 1698 hatte sich der aus Dresden stammende Schindler in Halle im28 29

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Franckesche Stiftungen, URL: http://192.124.243.55/cgi-bin/boet.pl. Doreen Zerbe: So sahe Luther aus. Die Lutherfigur der Marienbibliothek zu Halle. In: Dies. (Hg.): Wissensspeicher der Reformation. Die Marienbibliothek und die Bibliothek des Waisenhauses in Halle. Halle u. Wiesbaden 2016 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 34), S. 196–205. Biographische Informationen: Ulf Dräger: Drei Werke des Meisters August Hosse. In: Ders.: Idee Schatzkammer. Kostbarkeiten und Raritäten aus der Moritzburg. Halle 2011, S. 82–84; Ralf-Torsten Speler (Hg.): 300 Jahre Universität Halle 1694–1994. Schätze aus den Sammlungen und Kabinetten. Halle 1994, S. 23–24. Vgl. UAH, Rep. 3, Nr. 329 (wie Anm. 27); 1700/1701 erfolgter Protest der Goldschmiedezunft im Fall Nothdurfft: StAH, Hist. Akten, Kap. XVIII, Abt. K, Nr. 1 (1698–1718), fol. 62ff. Ein Mathematikdozent dieses Namens ist allerdings nicht bekannt, vgl. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität (wie Anm. 15). Bd. 1. Schindler war begabt und vielseitig: Bereits 1697 hatte er in Dresden die Schrift Metallische Probier-Kunst veröffentlicht, eine zweite Schrift, Der geheimbde Müntz-Guardein und Berg-Probierer erschien 1705 in Frankfurt, wohl kurz nach jener Zeit, in der er sich in Halle aufgehalten hatte. Darüber hinaus sind ein Bewerbungsschreiben (29. Okt. 1704) und die Behandlung seines Falls in: StAH, Hist. Akten, Kap. XV, Abt. A, Nr. 1, ab fol. 316f. aufschlussreich. Der Stadtrat erklärt, man habe ihn zum

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matrikuliert.33 Ein weiteres Beispiel ist Johann Christoph Homann, Kartenmacher, Student der Mathematik und der Medizin, der von seiner Familie von Nürnberg nach Halle entsandt wurde und hier einen wichtigen Bilderbogen mit Stadtansichten der Saalestadt sowie einen Stadtplan schuf.34

Zuzug von Glaubensflüchtlingen Ein wichtiger Faktor waren bereits vor der 1690 beginnenden Einrichtung der Universität die nach dem Edikt von Nantes 1685 und dem Potsdamer Edikt neu nach Halle gezogenen, französischsprachigen Hugenotten und Reformierten aus der Pfalz.35 Für von Südwesten Kommende war Halle die erste Stadt auf dem kurbrandenburgischen Territorium, die überdies zur Niederlassung empfohlen worden war. Die vom Landesherrn eingeladenen Hugenotten und Pfälzer Exulanten erhielten in Halle Wohnungen, die Möglichkeit, Gewerbe auszuüben, sowie Kirchenräume für den Gottesdienst, später auch die Erlaubnis, eigene Schulen einzurichten.36 Eine Zeit lang war die Zahl der Zugezogenen beträchtlich. So betrug die Anzahl der Hugenotten 462 Seelen im Jahr 1697 und stieg bis 1700 auf 726 Personen. Hinzu kamen die Pfälzer Reformierten, von denen 1690, Ernst Heinecke zufolge, 100 Familien mit 500 Angehörigen, im Jahr 1713 180 Familien mit 629 Angehörigen in Halle lebten.37 Die Hugenotten und die Pfälzer bildeten jeweils

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Steinpflastern angestellt, doch habe er (fol. 317) „eine solche Conduite dabey geführet, daß mann nicht mit ihm auskommen können“. S. Andrea Thiele: Zwischen Hof, Universität und Stadt – Gottfried von Gedeler, brandenburgischer Ingenieur und das Bauwesen in Halle um 1700. In: Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte (2015), S. 131–162, hier S. 152. Fritz Juntke: Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 1960, S. 386: Immatrikulation von Christian Carl Schindler aus Dresden am 15. 5. 1698. Michael Diefenbacher (Hg.): „Auserlesene und allerneueste Landkarten“. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702–1848. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg und der Museen der Stadt Nürnberg mit Unterstützung der Staatsbibliothek zu Berlin […]. Nürnberg 2002. Jan Skrzypkowski: Fremde Nachbarn – die französische Kolonie in Halle von ihrer Gründung 1686 bis zur Auflösung 1808/09. In: Freitag u. Ranft (Hg.), Geschichte (wie Anm. 6), S. 464–475. Adolph Zahn: Die Zöglinge Calvin’s in Halle an der Saale. Halle 1864. Zur französischen reformierten Gemeinde: Martin Filitz u. Andreas Stahl: Vom Gotteshaus der FranzösischReformierten Gemeinde bis zum Projekt der Universitätskirche. In: Heinrich Nickel (Hg.): Die Maria-Magdalenen-Kapelle der Moritzburg zu Halle. Halle 1999, S. 53–60; Martin Gabriel: Die reformierte Gemeinde am Dom zu Halle von ihren Anfängen bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts (1688–1750). Ein Beitrag zur Geschichte der reformierten Gemeinden in Mitteldeutschland (theol. Diss.). 2 Bde. Halle 1957; Sächsisches Staatsministerium des Inneren (Hg.): Passage Frankreich – Sachsen. Kulturgeschichte einer Beziehung 1700 bis 2000, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Zentrums für Höhere Studien der Universität Leipzig u. a. Halle 2004. Heinecke: Wirtschaftliche Entwicklung (wie Anm. 6), S. 24. Nach Dreyhaupt: Pagus Neletici (wie Anm. 9), S. 536, bestand die Pfälzer Kolonie in Halle um 1750 aus etwa 150 Familien mit ca. 600 Personen.

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eigene Gemeinden mit eigener Verwaltung und Richtern.38 Auch durch die Reformierten also entstand, zumal aufgrund von üppigen Abgabenbefreiungen, wie bei den Universitätshandwerkern Konkurrenz zum lokalen Gewerbe. Vergrößert wurde durch den Zuzug insbesondere die Textilproduktion in Halle.39 Diese wurde zu einem der stärksten Wirtschaftszweige der Zeit und konnte auch in Heimarbeit, zum Beispiel durch Strumpfstricker und Färber, ausgeführt werden. So arbeitete Catharina Linck, eine Schülerin der Franckeschen Stiftungen und seinerzeit wie heute wieder berühmt als Frau In Männerkleidern, nach ihrem Ausscheiden aus dem Waisenhaus bei einem „Knopfmacher und Kattundrucker“, viele Jahre später für einen Universitätstuchmacher.40 Auch unter den Freimeistern der Universität befanden sich Strumpfstricker und Strumpfwirker, Leineweber, Knopfmacher, Seidenknopfmacher, Tuchmacher und Schneider.41 Das am 13. Juni 1714 ergangene Woll-Edikt des Landesherrn versuchte, all dies zu regeln und zu befördern. Unter den Zugezogenen fielen vor allem die Textilproduzenten ins Gewicht, denn sie führten größere Manufakturen, die zuvor in Halle nicht bekannt gewesen waren und bei denen man tatsächlich von Neuheit und innovativer Produktion sprechen kann. Zum Beispiel war vom Landesherrn der Verkauf eines Hauses in der Kleinen Klausstraße „zu behuf der Manufacturen an einen Frantzosen namens Meunier“ erfolgt, wobei das Haus nach dem Scheitern dieser Ansiedlung 1695 zurückgenommen und der Universität zur Verfügung gestellt wurde.42 Der Textilunternehmer Paul Valéry, der über längere Zeit eine große Manufaktur besaß, errichtete eine Walkmühle an der Mühlpforte, wo die Stoffe durch Walken mit Wasserkraft geschmeidiger gemacht wurden.43 Am Beispiel Valérys ist abzulesen, wie sehr die Landesregierung dazu bereit war, ihm und seinem Gewerbe die passende Umgebung bereitzustellen. Es wurde ein landesherrliches Gebäude für ihn und seine 200 Arbeiter – als „gute Gelegenheit zu des Valéry Familien und zu 200 Ouvriers und Ouvrieres logirung in Halle“ gesucht – dies waren Dimensionen, die die Größen bisheriger Gewerbebetriebe in 38

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Ebd., S. 536: Pfälzer standen nicht unter der Jurisdiktion der Berggerichte und des Magistrats, sondern hatten eigene Gerichte, die „Pfälzer Colonie-Gerichte“. Sie genossen eine weitreichende fünfzehnjährige Abgabenfreiheit und Unterstützung bei Bauvorhaben. Paul Kilian: Die hallische Wollweberei. Urkundliche Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des Herzogtums Magdeburg. Halle 1923/24. Angela Steidele: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation. Köln u. a. 2004, S. 27; S. 59–67: „Flenell gemacht“: Handwerker in Halle (1713–1716). StAH, Hist. Akten, Kap. XVIII, Abt. K, Nr. 1, fol. 56–58: z. B. wurde 1699 Johann Christoph Hawschild Universitäts-Strumpfwirker. UAH, Rep. 3, Nr. 714: Meuniersches Haus (1695–1701) (unfol.) „der zu behuff der Manufacturen an einen Frantzosen nahmens Meunier, für 3600 Thaler […] Sr. Churfürstl. Durchl. verkauffet worden“. Uta Clemen: Abraham Valéry – ein hugenottischer Tuchfabrikant in Halle. In: Sachsen-Anhalt. Bd. 7 (1997) 2, S. 17–20.

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Halle überstiegen. Es wurden Umbaupläne für das alte Dominikanerkloster am Domplatz erstellt.44 Ein weiteres Beispiel: Im Jahre 1718 sollte auf Wunsch des Königs im sogenannten „Cratzischen Haus“, das ebenfalls am Domplatz lag, eine Strumpfmanufaktur des Fabrikanten Villeneuve angesiedelt werden. Hiergegen wandten sich die Kammerdeputierten, die in diesem Haus bereits ihrer Arbeit nachgingen.45 Sie schlugen vor, die Strumpfmanufaktur in dem neu eingerichteten „Arbeits- und Zucht Hauße“, das dem Rat gehöre, „und ohne dem leer“ stünde, unterzubringen. Für dieses suche die Stadt „mit großer Sorgfalt gewiße Entrepreneurs“, es werde sonst mangels Nachfrage wieder eingehen.46 Das unweit der Stadtbefestigung am heutigen Hansering liegende Arbeitshaus wurde nicht gewählt. Vielmehr scheint die Unterbringung der Manufaktur des Unternehmers Villeneuve in das Residenzgebäude oder wenigstens im Dombezirk in die Tat umgesetzt worden zu sein. 1724 wurde berichtet, besagter Unternehmer habe ein „mit Strümpffen bemahltes Schild auswendig an itztgedachte Residentz nach der Stadt zu“ an die „Königliche Residentz“ gehängt, das umgehängt werden solle.47 Es ist bemerkenswert, dass alle diese für Textilmanufakturen benutzten Gebäude im vormaligen Residenzbezirk lagen – denn darauf hatte der Landesherr Zugriff.48 Völlig neu eingeführte Produkte der Hugenotten waren Handschuhe; die Handschuhmacherei entwickelte sich in Halle zu einem eigenen Wirtschaftszweig.49 Ein Pionier war hier die Familie Dan, die 1694 aus Grenoble kam und eine der ersten Handschuhmanufakturen gründete.50 Darüber hinaus waren die französischen

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Vgl. Thiele, Residenz auf Abruf (wie Anm. 1), S. 114–115 (Abb. S. 115). LHASA, MD, Rep. A 9a VI c, Tit. II, Nr. 13, fol. 5a–9a: Schreiben der Angehörigen der Kammerdeputation, 31. März 1718. Ebd., fol. 8b. Zum 1707 angelegten Zucht- und Arbeits-Haus vgl. Dreyhaupt: Pagus Neletici (wie Anm. 9), S. 275f.: Die angestrebte Ansiedlung von Manufakturen sei nicht zustande gekommen. Vgl. Thiele: Gottfried von Gedeler (wie Anm. 32), S. 152–153. LHASA, MD, Rep. A 9a VI c, Tit. II, Nr. 13, fol. 32a, 34a. Hierzu Andrea Thiele: Die neue Nutzung der Residenzenbezirke durch die brandenburgischpreußische Regierung. In: Freitag u. Ranft (Hg.): Geschichte (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 486–497. Fritz Lehne: Die französischen Handschuhmacher in Halle an der Saale. Ein Beitrag zur Preussischen Merkantilpolitik. Halle 1926. Katrin Moeller: Mit Glacéhandschuhen angefasst? Integration und Wirkung „reformierter“ Arbeit auf die Berufe der lutherischen Bevölkerung in Halle. In: Stadt Halle (Saale) (Hg.): Entdecke Halle! weiter. Neues Bilder- und Lesebuch zur Stadtgeschichte. Halle 2018 (Veröffentlichungen aus dem Stadtmuseum Halle 4), S. 88–97. Katharina Schmelzer: Wandern – Siedeln – Gestalten: Wie Migration das Antlitz Halles formt. In: Kulturfalter 6/2014, S. 32– 33: „Die Hugenottenfamilie Dan flüchtet 1694 aus Grenoble und gründet in Halle eine der ersten Handschuhmanufakturen. Bis ins 20. Jahrhundert bleibt der Name Dan mit der Stadt und der Handschuhherstellung verbunden. Diese endet in Halle zunächst um 1800. Nachkommen der Dans wagen 1853 jedoch einen zweiten Anlauf. Bis 1910 existiert die Handschuhfabrik „J. W. Dan“ in Halle.“

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Einwanderer auch für die Produktion hervorragender Spitzen bekannt, die der Produktion der Einheimischen fraglos überlegen waren.51 Auch in den immer wieder erweiterten Gebäuden auf dem Jägerberg nördlich der Moritzburg waren nach dem Tod des hier zunächst wohnenden hugenottischen Predigers im Jahre 1705 Manufakturen verschiedener Betreiber ansässig.52 Insgesamt sollen sich zwischen 1686 und 1692 17 Textilmanufakturen in Halle angesiedelt haben. So betonte Gundling 1730, die Reformierten hätten die Wollen-Manufacturen in die Höhe gebracht und befordert […], indem gute Tücher, Calamanquen, Friesen, Boyen, Strümpffe und Hüte verfertiget werden, insonderheit aber sind statliche Flanelle daselbst in grosser Menge zu finden. Ebenfalls ist nicht zu vergessen der Wachs-Leinwand und der daraus verfertigten feinen Tapeten, überdem ist die Brau-Gerechtigkeit, so ehemahlen aus Gunst auf Lebens-Zeit, nun erblich gemachet […].53

Solange es noch keine französische Gemeinde im traditionell streng lutherischen Leipzig gegeben hatte – sie wurde im Jahre 1700 gegründet – konnten die Franzosen in Halle gehalten werden. Doch entwickelte sich der Absatz der in Halle gefertigten Textilien nicht so gut wie erhofft, während die Leipziger Messe einen starken Sog ausübte. Daher erfolgte der Wegzug vieler Franzosen in die sächsische Nachbarstadt, was, in Kombination mit rückläufigen Zuwanderungszahlen, die französische Gemeinde in Halle reduzierte. Trotzdem verblieben andere ‚Franzosen‘ in Halle, darunter Händler, Sprachlehrer und Perückenmacher, und mancher lutherische Handwerker passte seine Produktion und sein Warenangebot an das der Hugenotten an.54 Auch blieben mehrere französische Buchdrucker und Buchhändler in Halle, ausgestattet mit eigenen Privilegien, zum Beispiel mit der Erlaubnis, mit französischen Büchern zu handeln. Sie hatten eine eigene Kultur mit in die Stadt gebracht, die französische Sprache, darüber hinaus ihre besondere Art, Gottesdienst zu feiern, wofür sie längst eigene Räume zugesprochen bekommen hatte, und verfügten eben auch über handwerkli51

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Katharina Middell: Hugenotten in der Wirtschaft. In: Sächsisches Staatsministerium des Inneren: Passage Frankreich – Sachsen (wie Anm. 36), S. 71–75; Dies.: Familie Dufour und Arlès-Dufour. In: Ebd., S. 77–85. Siegmar von Schultze-Galléra: Topographie oder Häuser- und Straßen-Geschichte der Stadt Halle a. d. Saale. Bd. 1. Halle 1920, S. 160 nennt Abel Arbaletier (1712–1722), dessen Schwiegersohn Guillaume Bringuier (1722–1751) und Johann Andreas Jansen aus Leipzig (1751–1777). 1792 wurde der Komplex an die Freimaurerloge „Zu den drei Degen“ verkauft, vgl. Gerhard Richwien: Logengebäude in Halle/S.: Geschichte, Architektur und Symbolik. Hamburg 2001, S. 46–49; Andrea Thiele: Zur Topographie Halles als Residenzstadt im 17. Jahrhundert. Kontinuitäten und Brüche rund um „Freiheit“ und Fürstental. In: Michael Rockmann (Hg.): Ein „höchst stattliches Bauwerk“. Die Moritzburg in der hallischen Stadtgeschichte 1503–2003. Halle 2004 (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 5), S. 129f. Jacob Paul von Gundling: Geographische Beschreibung des Herzogtums Magdeburg (wie Anm. 21), S. 164.; Kertscher: Der Blick auf Stadt und (wie Anm. 6), S. 498–510, S. 501: Zu den wollenen Strümpfen in Halle: Bericht des Dompredigers Augustin (1771–1856). Moeller: Glacéhandschuhe (wie Anm. 50), S. 92 u. 97.

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che Fähigkeiten. Über Sprache und Religion nahmen sie sich lange als besondere Gruppe wahr.55

Pfälzer Exulanten Noch dauerhafter in Halle präsent als die Hugenotten waren die Exulanten aus der Pfalz, die mit den Einwohnern die deutsche Sprache gemeinsam hatten.56 1704 erhielt die „Pfälzer Kolonie“ einen eigenen Schützenplatz neben dem vor der Residenz befindlichen Fürstengarten.57 Die Pfälzer übten graduell andere Gewerbe als die Franzosen aus, darunter ganz prominent das Bierbrauen: Der aus Frankenthal in der Pfalz stammende Isaac Leveaux (Le Veaux) (er wurde auch GerichtsAssessor der Amtsstadt Neumarkt) erhielt 1705 ein königlich-preußisches Privileg, Bier auf pfälzische Art zu brauen.58 Das Anwesen, in dem sich das Brauhaus mit Bierausschank der pfälzischen Familie befand, existiert bis in die Gegenwart als Haus Nr. 51 in der Neumarkter Straße „Harz“. 1788 heiratete der bekannte Mediziner Johann Christian Reil Johanna Wilhelmine Leveaux. Pfälzer konnten auch Stellen innerhalb der landesherrlichen Verwaltung erlangen: Als Nachfolger des Bauverwalters Möschel wurde am 26. April 1703 der Pfälzer Johann Georg Carls bestimmt.59 Exponiert war auch der Apotheker Johann Bernhardt Hoffstadt. Dieser erhielt 1693 das Privileg, die Universitätsapotheke zu führen – es handelt sich hierbei um die Engel-Apotheke, die bis in die Gegenwart am Kleinschmieden in Betrieb ist.60 Tatsächlich wurde Hoffstadt auch in die Matrikel der Universitäts-Freimeister eingetragen: „Apothecker, Anno 1693: den 4. Sept. ist H. Johann Bernhardt Hoffstadt Daß Er unter der Universität Jurisdiction Eine Apothecke anlegen möge, g[nä]di[g]st privilegiret worden (in rot. Vid. Acta die Universitäts Apothecke betr.)“.61 Auch die Pfälzer genossen Abgabefreiheit.

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Adolf Zahn: Die Zöglinge Calvin’s in Halle (wie Anm. 36); Henri Tollin: Geschichte der französischen Colonie von Magdeburg: Jubiläumsschrift. 3 Bde. Halle 1886–1894; Ulrich Niggemann: Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681–1697). Köln u. a. 2008. Adolf Zahn: Mittheilungen über die Geistlichen der evangelisch-reformierten Domgemeinde zu Halle a. d. S. Zur dreihundertjährigen Gedächtnisfeier des Heidelberger Katechismus. Halle 1863. Enthält: Specification der Pfälzerkolonie im Jahre 1713, S. 52–54. Dreyhaupt, Pagus Neletici (wie Anm. 9), S. 535–537: Das 16. Buch. Von der Pfältzer-Colonie. Dreyhaupt: Pagus Neletici (wie Anm. 9), S. 536, 571. StAH, Urkunden, U 2, Nr. 101 (Urkundensammlung des Städtischen Museums Moritzburg, v. 24. Jan. 1705, 33 x 25 cm); Dreyhaupt: Pagus Neletici (wie Anm. 9), S. 536. GStA PK, I. HA, GR, Rep. 52 Herzogtum Magdeburg, Nr. 76 (unfol.), Bestallung vom 26. April 1703. StAH, Hist. Akten, Kap. XVIII, Abt. K, Nr. 1, fol. 5r–6r: Privileg für den Apotheker Johann Bernhard Hoffstädt (1693). UAH, Rep. 3, Nr. 329 a: Matrikel der Freimeister an der Universität, S. 1, einziger Eintrag unter diesem Lemma.

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Dieses Privileg wurde „nach Ablauf der 15 Freijahre“ um drei weitere Jahre verlängert.62 Ein besonders hervorgehobener Pfälzer der ersten Generation war Philipp Ernst Erpel, der bis 1730 lebte. Von ihm ist ein Porträt überliefert, das von dem Universitätsmaler Johann Anton Rüdiger geschaffen wurde. 1693 war Erpel aus Frankenthal nach Halle gekommen. Hier wurde er laut der Inschrift des Bildes Ältester der reformierten Domkirche und Gemeinde, war Pfänner und Handelsmann und wirkte schließlich als Hauptmann der Pfälzischen Kompanie. Sein gleichnamiger Sohn wurde Kriegskommissar, Obereinnehmer, schließlich Hofrat und Postmeister,63 sein älterer Enkel war Domänenrat, der jüngere Mediziner. Somit schließt sich der Kreis: Fremde konnten in den Jahren nach dem Potsdamer Edikt, das die Ansiedlung von Reformierten in Brandenburg ermöglichte, und im Zuge der Universitätsneugründung in Halle offenbar so weit aufsteigen, dass sie nun selbst in den Rang jener Privilegierten aufrückten, deren Konterfei für die Nachwelt überliefert wurde – und zwar durch die Tätigkeit des Universitätsmalers.

Resümee – Innovation? Lässt sich aus den vorstehenden Darlegungen zur Wirtschaftsgeschichte der Stadt Halle um 1700 ein Ertrag ziehen, der die Frage nach der Innovationskraft der 1694 inaugurierten Universität zu beantworten hilft? Über die akademische Innovationskraft der Fridericiana besagen die Auswirkungen der Universitätsgründung auf die wirtschaftliche Struktur und Lage der Stadt nur sehr wenig, denn die Universität stellte zwar einen positiven Wirtschaftsfaktor – von mäßigem Gewicht – dar, doch hatte sie diese Wirkung völlig unabhängig davon, wie innovativ ihre akademische Verfassung oder die gelehrten Werke ihrer Professoren waren. Selbst wenn man auf wirtschaftlichem oder technischem Gebiet von Verbesserung oder Innovationen sprechen kann, die mittelbar auf die Universitätsgründung zurückgehen – weil sie nämlich den durch die Universität in die Stadt kommenden Freimeistern zu verdanken sind, so handelt es sich um positive Effekte, die kein Indikator für akademische Innovativität sind. Umgekehrt ist auch die insgesamt mäßige und sich bald wieder abschwächende wirtschaftliche Dynamik Halles nicht als Indikator eines akademischen Innovationsmangels anzusehen. Beim Übergang an Brandenburg besaß Halle ein zünftisches Handwerkssystem und Handwerkerrecht. Handwerker mussten das Bürgerrecht erwerben und Angehörige der Innungen werden. Bereits zu Zeiten der Residenz hatte es Ausnahmen 62 63

StAH, Urkunden, Sign. U 1 B, Nr. 784. Friedrich Wilhelm I., König in Preußen, gewährt der Pfältzer Colonie zu Halle nach Ablauf der 15 Freijahre für drei weitere Jahre Abgabenfreiheit. Dreyhaupt: Pagus Neletici (wie Anm. 9), S. 611.

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von dieser Regel gegeben und wurden Hofhandwerker bestallt. Die Universität hatte vergleichbare und noch weitere Privilegien erlangt. Den etablierten Handwerkern entstand durch die Universitätsmeister somit zunächst eine Konkurrenz. Anhand der städtischen Akten ist ein Konflikt zwischen den überkommenen, zünftischen Strukturen und den der Universität Zugeordneten und von ihr Privilegierten zu beobachten. Zum einen entgingen den städtischen Handwerkern durch die Universitätshandwerker die erhofften zusätzlichen Einkünfte durch die Universität. Jedoch wurde das Freimeisterwesen nicht übermäßig ausgeweitet, sondern auf ein bis zwei Handwerker pro Gewerk beschränkt, sodass es auf lange Sicht einen Kompromiss gegeben zu haben scheint, der die überkommenen Produktionsstrukturen – Meister, Geselle, Lehrling – nicht wirklich veränderte, während es zu qualitativen Verbesserungen kam. Festzuhalten ist, dass die Universität nur ein Faktor unter anderen war, der die Wirtschaft der Stadt belebte. Mindestens ebenso starke Wirkungen hatten andere Faktoren, insbesondere die konfessionellen Verschiebungen. Die bisher bestehende, rein lutherisch-orthodoxe Homogenität Halles wurde aufgebrochen, indem ab 1680 reformierte Prediger für die Domkirche sowie reformierte Beamte zugelassen wurden. Im Zuge des Potsdamer Edikts von 1685 kamen sodann Hugenotten und reformierte Pfälzer mit eigenen, neuen Wirtschaftsformen hinzu, schließlich auch reformierte Universitätsangehörige. Eine religiöse Verschiebung mit ökonomischen Wirkungen war darüber hinaus die Etablierung und Verbreitung des Pietismus durch August Hermann Francke auf einem stetig wachsenden Gelände vor der südlichen Stadtmauer. Mit diesem konfessionellen Nebeneinander und ‚progressiven‘ landesherrlichen Regelungen wie der konfessionellen Offenheit, der Zuweisung von Räumlichkeiten und Krediten war das kurbrandenburgische Halle dem sächsischen Leipzig eine Zeit lang voraus und für die Zuziehenden attraktiv. Verwendet man als Maßstab für Innovation den Grad der Neuheit eines Produkts, technische Verbesserungen oder neue Methoden im Handwerk und Gewerbe, betrachtet man Aspekte wie Umsatzsteigerung, Verbesserung der Qualität der Waren, Verbesserung der Technologie oder Produktionsmethoden, ein an die anspruchsvollere Kundschaft angepasstes breiteres Angebot oder die Ausdifferenzierung der Gewerke, dann findet sich all dies in der Halleschen Wirtschaft um 1700. Sowohl die parallel zu den Innungen agierenden Universitäts-Freimeister als auch die Hugenotten produzierten gehobene Konsumgüter, wobei die Hugenotten mit den moderneren Verfahren arbeiteten, denn sie brachten die Produktionsform der Manufaktur nach Halle. Die Universität war technologisch unterbesetzt, hatte sie doch spürbare Schwierigkeiten bei der Besetzung selbst der Stelle der Mathematik – nach dem frühen Tod von Johann Jacob Spener, dem Sohn des Theologen, im Jahre 1692.64 Bemerkens64

Matthias Hambrock, Martin Kühnel u. Andrea Thiele: Christian Thomasius. Briefwechsel. Supplementband: Personenlexikon für Band 1. Halle 2018, hier S. 251.

Freimeister und Entrepreneurs

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werter waren die Sekundärerscheinungen, die ‚kleinen Ingenieure‘ vom Schlag eines Schindler, die von der Universität angezogen wurden und sich an sie anlagerten. Die eigentlich messbare, technische und wirtschaftliche Innovation, der Gedanke der Manufaktur, brach sich daher nicht von der Universität aus Bahn, es war vorerst kein Ökonom der Fridericiana, der dieses lehrte und zur Anwendung brachte, sondern es war der Import auswärtiger Ideen und Wirtschaftsweisen – es waren die Hugenotten, die tatsächlich die Veränderung mitbrachten, und die Wirtschaftspolitik des Großen Kurfürsten, der die nach 1680 entstandenen Leerräume zu füllen wusste. Die neue Universität wurde in einer wirtschaftlich schwachen und technologisch eher zurückgebliebenen Stadt gegründet. Die Modernisierung, die um 1700 stattfand, aber bloß partiell durch die Universität begünstigt wurde, ist weniger als eine avancierte denn als eine nachholende einzuschätzen. Umso deutlicher hebt sich die akademische Führungsrolle, die die Fridericiana im beginnenden 18. Jahrhundert spielte, von der ökonomischen Situation der Stadt ab.

Abbildungsnachweis Fulda Abb. 1: Rüdiger, Institutiones 1711: Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur Phil. C. 479: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/110546/8/0/ Grunert Abb. 1–4: Reimmann, Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam, 1708: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) Whitmer Abb. 1: Pesne, Porträt Baratier: Smithsonian Libraries, Image ID: SIL-SIL14-B2-01 https://library.si.edu/image-gallery/73125 Abb. 2: Universitätsarchiv Halle-Wittenberg (UAHW), Rep. 46, Nr. 3 (1724– 1741) Abb. 3: Universitätsarchiv Halle-Wittenberg (UAHW), Rep. 21, Nr. 261 Abb. 4, links: Ioh. Philipp. Baratier in: Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici, Bd. 2 (1750), Tafel XXIV Abb. 4, rechts: Titelblatt von Baratier, Anti Artemonius: Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz: https://digital.staatsbibliothekberlin.de/werkansicht?PPN=PPN780000633&PHYSID=PHYS_0006&DMDID=

https://doi.org/10.1515/9783110682076-015

Personenregister Achenwall, Gottfried 182, 193, 273 Alberti, Michael 64, 232 Albrecht-Birkner, Veronika 20 Anton, Paul 67, 97, 103, 130, 143 Aristoteles 241, 268 Arndt, Johann 90 Arnoldi, Johann Konrad 77, 84–85 August (Herzog von Sachsen, Administrator des Erzstifts Magdeburg) 306, 307 Augustus (Kaiser) 255 Bacon, Francis 6, 37, 43, 58, 82–83, 88, 240, 243, 248, 277 Baier, Johann Wilhelm 201 Baillet, Andrien 107, 111 Baratier, François 109–110, 113, 117, 123–124 Baratier, Jean Philippe 9, 105–117, 119–122 Barclay, John 81 Baß, Heinrich 64 Bastineller, Andreas 306 Bastineller, Gebhard Christian 212–214 Baumgarten, Alexander Gottlieb 220, 272–273, 299 Bayle, Pierre 51, 293, 295 Becher, Johann Joachim 59 Beck, Johann Georg 311 Becmann, Johann Christoph 63, 65 Beier, Johann Wilhelm 100 ben Yonah, Binyami (Benjamin von Tudela) 111 Benewitz, Sebastian Gottfried 77–84, 88 Bernigeroth, Martin 311 Bertram, Philipp Ernst 249–250 Besser, Johann von 40–41

https://doi.org/10.1515/9783110682076-016

Beyer, Georg 209, 212–214 Beyerlinck, Laurens 70, 74 Bichat, Marie François Xavier 231 Bilefeld, Johann Christoph 99 Blanke, Horst Walter 205 Blumenberg, Hans 6 Böckler, Georg Andreas 60 Bode, Heinrich von 177, 183, 215 Boë Sylvius, Franciscus de le 230 Boerhaave, Herman 227, 235 Böhme, Jakob 95 Böhmer, Johann Samuel Friedrich 219, 221 Böhmer, Justus Henning 11, 32, 67, 207, 209–212, 218–219, 223 Böldicke, Joachim 113 Borchers, Stefan 149–150 Bouvet, Joachim 294 Boyle, Robert 234 Braudel, Fernand 225 Breckling, Friedrich 95 Breithaupt, Joachim Justus 6, 67, 103, 158–161, 166–168, 203–204 Brockes, Barthold Heinrich 46, 49 Broussais, François-J.-V. 235 Brown, John 235 Bruckers, Johann Jakob 55 Brunnemann, Jakob 67 Brunnemann, Johann 208 Brunnemann, Justus Henning 67 Buchanan, George 80 Bücher, Friedrich Christian 295 Budde, Johann Franz 13, 76–77, 83–85, 143, 177, 179–180, 276, 292–297 Canguilhem, Georges 229 Carls, Johann Georg 316 Carrach, Johann Tobias 219 Castellio, Sebastian 79 Cellarius, Christoph 65, 133, 227, 251

324 Charles II. (König von England, Schottland und Irland) 112 Charles, Anne 109 Chauvin, Étienne 109 Christina (Königin von Schweden) 278 Cicero 298 Cocceji, Samuel von 132, 140–141 Colberg, Ehregott Daniel 295 Corvinus, Johann Arnold 211–212 Coschwitz, Georg Daniel 64 Couplet, Philippe 281 Crell, Christoph Ludwig 212–214 Crusius, Christian August 272 Darjes, Joachim Georg 193, 299 Demokrit 293 Descartes, René 6, 57, 87, 277, 286 Dietz, Johann 303, 308 Digby, Kenelm 87–88 Dorothea Charlotte (Markgräfin von Brandenburg-Ansbach, Landgräfin von Hessen-Darmstadt) 98–99 Drese, Claudia 130 Eberhard, Christian 119-121 Ehrenberger, Bonifacius Heinrich 77, 83–84 Elisabeth Dorothea (Landgräfin von Hessen-Darmstadt) 98 Epikur 87, 284, 293 Ernst I. (Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg) 95, 98 Ernst II. (von Sachsen, Erzbischof von Magdeburg) 306 Ernst Ludwig (Landgraf von Hessen-Darmstadt) 98 Erpel, Philipp Ernst 317 Ettmüller, Michael 59 Eulenburg, Franz 134–136

Personenregister Fabricius, Johann Andreas 49, 249 Faccius, Johann 150–154, 158–159, 161–163, 165, 167–172 Fleischer, Johann Lorenz 143, 178, 217, 220–223 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 121 Formey, Johann Heinrich Samuel 105-108, 113, 119-120, 122-124 Förster, Johann Christian 128 Foucault, Michel 236 Francke, August Hermann 3, 6, 11, 13, 36, 48, 98, 103, 113, 130, 135–136, 142, 148–149, 155, 157–158, 160–164, 166–168, 171, 276–281, 283, 285–292, 294–295, 297–298, 311, 318 Freylinghausen, Johann Anastasius 311 Friedrich August I. (von Sachsen) 102 Friedrich III. (von Brandenburg) bzw. Friedrich I. (von BrandenburgPreußen) 20, 26, 35, 100, 196, 227 Friedrich Wilhelm I. (Kurfürst von Brandenburg, König in Preußen) 3, 9, 115–116, 127, 148, 228, 304 Friedrich Wilhelm III. (Kurfürst von Brandenburg, König von Preußen) 2, 61 Fuchs, Paul von 8, 35–42, 50 Füssel, Marian 200 Galilei, Galileo 6, 58, 88, 265 Gassendi, Pierre 87–88 Gedeler, Gottfried von 311 Gerhard, Ephraim 28, 44, 190 Gerike, Peter 64–65 Gesner, Conrad 240 Glauber, Johann Rudolph 58 Goclenius, Rudolph 70, 74 Gölicke, Ottomar 63 Gottsched, Johann Christoph 49

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Personenregister Gottschling, Caspar 303 Greulich, Johann Georg 60 Griebner, Michael Heinrich 209, 212, 214, 217–218, 223 Griendel, Johann Franz 60 Grotius, Hugo 12, 67, 80, 84, 177, 179, 180–181, 183–185, 190–191, 193, 213–215, 218, 222–223 Grube, Hermann 60 Gruber, Johann Daniel 137, 222 Grunert, Johann 308 Gueintz, Johann Christian 311 Guericke, Otto von 60 Gundling, Jacob Paul von 308–309, 315 Gundling, Nicolaus Hieronymus 6, 12, 25–27, 32–33, 42, 48–49, 65, 130, 137, 179, 180, 193, 211, 216, 219, 220–223, 249–253, 255–257, 259–260, 276, 296, 298

Hoffmann, Friedrich 6, 12, 62, 69, 114, 227–228, 230, 233–237 Hoffstadt, Johann Bernhardt 316– 317 Hohberg, Wolf Helmhard von 29 Hohenstein, Johann Ludwig 115–117 Hojer, Andreas 192 Holberg, Ludvig 191 Homann, Johann Christoph 312 Hookes, Robert 61 Höpfner, Ludwig Julius Friedrich 182, 193 Horn, Caspar Heinrich 209, 212 Horn, Georg 277, 279–280 Hosse, August 311 Hotman, François 80 Hufeland, Gottlieb 193 Humboldt, Wilhelm von 4, 299 Hume, David 273 Hunold, Christian Friedrich 26 Hunter, Ian 33, 148

Hammerstein, Notker 1, 129, 182, 196, 199, 200, 217 Hannemann, Johann Ludwig 28 Hartmann, Georg Volckmar 148–149, 151–154, 171 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 273 Heineccius, Johann Gottlieb 143, 180–181, 221, 223 Heinecke, Ernst 313 Heineken, Christian Heinrich 111 Herrnschmid, Johann Daniel 150, 152 Heumann, Christoph August 242, 259–260, 297–298 Hippokrates 235 Hobbes, Thomas 80, 88, 188, 214, 265, 287 Hodgson, James 112–113 Hoffbauer, Johann Christoph 182

Innozenz XI. (Papst) 80 Jansen, Cornelius 280 Jefferson, Ann 107 Jensen, Mads Langballe 191 Johann Georg I. (Herzog von Sachsen-Eisenach) 97 Johann Georg III. (Kurfürst von Sachsen) 101–102 Juncker, Johann 65 Justi, Heinrich Gottlob von 299 Kangxi (Kaiser) 287, 294 Kant, Immanuel 193, 269, 272–274, 299 Kaufmann, Sebastian 259 Keller, Vera 117 Kemmerich, Hermann 212–213, 215 Kirch, Christfried 116 Knorre, Karl Gottlieb 220 Knyphausen, Ernst von 127, 131–132

326 Köhler, Heinrich 220 Kolumbus, Christopher 37 Konfuzius 283, 284, 286, 296–297 König, Johann Friedrich 159–161 Kraus, Johann Gottfried 214 La Croix, A. Phérotee de 121–122 La Mothe de Vayer, François de 280, 283 Labadie, Jean de 164, 166, 169, 172 Laertius, Diogenes 296 Lambeck, Peter 241 Lancelotti, Giovanni Paolo 211–212 Lange, Joachim 10, 11, 45–49, 67, 115, 120, 137, 147–150, 152–164, 166, 168–172 Lange, Johann Christian 254 Languet, Hubert 80 Lauterbach, Adam 208 Lavoisier, Antoine-Laurent 229 Le Clerc, Jean le 286 Lebrecht, Christian 118 Lehmann-Brauns, Sicco 285 Lehmann, Johann Jakob 77, 84 Leibniz, Gottfried Wilhelm 6, 33, 55, 60, 88, 118, 234, 249, 262–263, 265, 270–272, 277, 286–292, 294–295, 297–299 Lessing, Gotthold Ephraim 13 Leveaux, Isaac 316 Leveaux, Johanna Wilhelmine 316 Leyser, Augustin 210, 212 Liebe, Christian Gottlob 311 Lieberwirth, Rolf 175 Linck, Catharina 313 Livius, Titus 40 Llul, Ramon 243 Locke, John 6, 273 Logau, Friedrich von 29 Lohenstein, Daniel Caspar von 45

Personenregister Ludewig, Johann Peter von 8, 17–20, 23, 30, 38, 62, 114, 124, 130–131, 133, 135–139, 142–143, 207 Ludovici, Jakob Friedrich 208–210 Ludwig XIV. (König von Frankreich) 280–281 Luther, Martin 91, 265, 284 Marti, Hanspeter 14, 259 Martini, Karl Anton von 273 Martini, Martin 281 Martus, Steffen 2, 196, 199, 200, 275 Mauclerc, Paul Emile 109–110 May, Johann Heinrich 98 McCormick, Ted 117 Meier, Georg Friedrich 272–273 Meinders, Franz von 101 Mencke, Otto 193, 262 Menzius 297 Michaelis, Christian Benedikt 65 Michaelis, Johann Heinrich 152 Micraelius, Johannes 71, 74 Mittler, Gottfried 311 Molière, Jean-Baptiste Poquelin 230 Molinas, Luis de 280 Montaigne, Michael de 279–280 Morhof, Daniel Georg 241–242 Mornay, Philippe de 80 Möschel, Johann 316 Mühlpfordt, Heinrich 45 Mulsow, Martin 51 Münchhausen, Gerlach von 260 Musaeus, Johann 97 Mylius, Christian Otto 306 Mylius, Christophorus 240 Nettelbladt, Daniel 182 Neumann, Caspar 262 Newton, Isaak 6 Noël, François 297–298 Nothdurfft, Moritz 311 Oestreich, Gerhard 36

Personenregister Pascal, Blaise 284–285 Paulus (Apostel) 46 Pertsch, Johann Georg 32 Pesne, Antoine 116 Peter I. (Zar von Russland) 288 Philippi, Johann Ernst 50 Pielemeier, Ines 173, 192 Platner, Ernst 233 Platon 87, 277, 297 Popplow, Marcus 108 Portius, Johann David 59 Ptolemäus, Claudius 58 Pufendorf, Samuel von 11–12, 27, 80, 84, 178–181, 184–190, 193–194, 212–221, 223–224, 270 Rachel, Samuel 193 Raey, Jean de 88 Rambach, Johann Jakob 68, 99, 143–144 Rasche, Ulrich 205 Rasori, Giovanni 235 Rechenberg, Adam 77, 81, 83, 88 Recknagel, Dominik 137, 182 Reil, Johann Christian 316 Reimmann, Jacob Friedrich 41–44, 46, 243, 245, 248, 259 Reitzen, Christian 192 Renaudots, Eusebè 297 Ricci, Matteo 277, 281–283 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Duc de 280 Richter, Christian Friedrich 232 Roger, Jacques 229 Rohr, Julius Bernhard von 31 Rousseau, Jean-Jacques 273 Rüdiger, Andreas 31 Rüdiger, Johann Anton 311, 317 Rüping, Hinrich 179

327 Salfeld, Christoph 308 Sandrart, Joachim von 45 Schickedantz, Adam 308 Schickedantz, Balthasar 308 Schilter, Johann 212 Schindler, Christian Carl 311–312, 319 Schmeitzel, Martin 253–254, 257–258 Schneider, Johann Friedemann 66, 178, 182 Schott, Kaspar 60 Schrader, Wilhelm 128 Schröder, Jan 173, 192 Schulze, Johann Heinrich 113 Schumpeter, Joseph 5, 13 Scultus, Abraham 190 Sdzuj, Reimund 32, 68 Seckendorf, Veit Ludwig von 95, 103 Sellius, Gottfried 219 Semler, Christoph 119–122 Seneca 283, 284, 296 Simon, Johann Georg 67, 177, 182, 215 Simons, Olaf 248 Sokrates 283–284, 297 Spener, Philipp Jakob 9, 89–96, 98–103, 150, 152, 164, 166, 319 Sperlette, Bartholomäus Johann 65, 216 Spinoza, Baruch de 6, 256, 286, 291, 293 Stahl, Georg Ernst 6, 12, 30, 32, 63, 65, 227–237 Stephani, Wilhelm 294 Steucho, Agostino 285 Stieler, Kaspar 19, 44–46 Stolle, Gottlieb 243, 259 Storch, Johann 232 Strähler, Daniel 137 Sträter, Udo 20, 22, 159 Struve, Georg Adam 206–208, 223 Stryk, Samuel 6, 66, 133, 177, 183, 201, 203–204, 206–209, 214–215, 223

328 Sutor, Johann Paul 273 Sysang, Johann Christoph 311 Thomasius, Christian 1–2, 5–6, 11, 13, 17–23, 25, 27–28, 30–33, 38, 43, 46–47, 49, 51, 53–54, 61, 65–66, 69, 76–77, 82–88, 100, 102, 130, 133, 137, 142, 148, 157, 164, 173–176, 178–180, 183–194, 196, 203, 209, 211–212, 214–215, 217, 219–223, 241–242, 259–261, 268–269, 275–276, 283–288, 291–292, 296–297, 306 Thomasius, Jakob 88, 201, 285 Thorndike, Lynn 56–57 Tiberius (Kaiser) 255 Tieftrunk, Johann Heinrich 182 Trauzettel, Holger 142–143 Trigault, Nicholas 281 Unzer, Johann August 233 Valéry, Paul 313–314 Varela, Laura Beck 181 Vossius, Isaac 278–280, 285, 287, 297, 299 Walbaum, Anton Heinrich 163 Walch, Johann Georg 71–76, 78, 83, 85 Wald, Samuel Gottlieb 250 Webb, John 277 Wedel, Georg Wolfgang 59 Weisbach, Christian 232 Weise, Johannes Elias 81–83, 88 Weißenborn, Bernhard 128 Werder, Johannes Friedrich 293 Wernher, Johann Balthasar 212–213 Whiston, William 121–122 Wiedeburg, Friedrich 219, 252–253 Wiese, Christoph 311 Wilson, Renate 236

Personenregister Wirdig, Sebastian 59 Wolf, Jakob Gabriel 182, 210, 220, 223 Wolff, Christian 3, 5, 11–13, 26–32, 34, 46–49, 68–69, 128–130, 133, 137, 143, 148–153, 158, 161–162, 165, 167–168, 170–174, 180, 218, 261–270, 272–273, 275–276, 292, 298–300 Zedler, Johann Heinrich 71 Ziegler, Caspar 213 Zschackwitz, Johann Ehrenfried 210, 219, 253