Imperial Subjects: Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert 9783412501617, 3412501611

Der Band befasst sich mit dem Wechselverhältnis von autobiographischer Praxis und historischem Wandel im Russischen Reic

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German Pages 505 [501] Year 2015

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Imperial Subjects: Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert
 9783412501617, 3412501611

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IMPERIAL SUBJECTS Autobiographik und Biographik im imperialen Kontext

Herausgegeben von Martin Aust, Robert Luft, Maurus Reinkowski, Frithjof Benjamin Schenk Band 1

Martin Aust | Frithjof Benjamin Schenk (Hg.)

IMPERIAL SUBJECTS Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: 1) Autograph: Seite des Originalmanuskripts von Funem yarid („Vom Jahrmarkt“) 1915, dem unvollendeten autobiographischen Roman Sholem Aleichems [Solomon N. Rabinovič] (1859–1916). Quelle und Abdruckgenehmigung: Archives of the YIVO Institute for Jewish Research, New York. 2) Karte: Karte des Russischen Reichs mit den Erwerbungen seit dem Regierungsantritt Peters des Großen, 1689. Quelle: Historische Karte von Russland, in: Brockhaus KonversationsLexikon in sechzehn Bänden, Leipzig [u. a.]: Brockhaus, 14. Aufl., 1892–1895, Bd. 14 (Rüdesheim–Soccus), S. 92a. 3) Porträt: Varvara F. Duchovskaja, geb. Golycina (1854–1931), St. Petersburg 1900. Quelle: Varvara Duchovskaja Turkestanskie vospominanija (Erinnerungen an Turkestan), Sankt Petersburg 1913. © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Korrektorat: Sabine Jansen, Köln Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50161-7

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Martin Aust, Frithjof Benjamin Schenk Einleitung: Autobiographische Praxis und Imperienforschung . . . . . . . . . 11

METHODISCHE GRUNDLAGEN

Volker Depkat Doing Identity: Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation . . . 39

AUTOBIOGRAPHIK UND BIOGRAPHIK IN IMPERIALEN KONTEXTEN – EINE BESTANDSAUFNAHME

Nora Mengel Biographische Lexika-Projekte des 19. Jahrhunderts als Werkstätten imperialer Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Hans-Lukas Kieser Spätosmanische und postosmanische autobiografische Praxis. Einige Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Denis Sdvižkov ИмпериЯ / „Ich“ und Imperium. Das Kaiserreich und die russische Autobiographik, 1830–1860 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Waltraud Heindl Inszenierungen, Fiktionen und die Produktion von Erinnerungskultur. Streiflichter zu den Autobiographien von k. (u.) k. Beamten . . . . . . . . . . . 134

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Martin Aust, Frithjof Benjamin Schenk Einleitung: Autobiographische Praxis und Imperienforschung . . . . . . . . . 11

METHODISCHE GRUNDLAGEN

Volker Depkat Doing Identity: Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation . . . 39

AUTOBIOGRAPHIK UND BIOGRAPHIK IN IMPERIALEN KONTEXTEN – EINE BESTANDSAUFNAHME

Nora Mengel Biographische Lexika-Projekte des 19. Jahrhunderts als Werkstätten imperialer Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Hans-Lukas Kieser Spätosmanische und postosmanische autobiografische Praxis. Einige Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Denis Sdvižkov ИмпериЯ / „Ich“ und Imperium. Das Kaiserreich und die russische Autobiographik, 1830–1860 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Waltraud Heindl Inszenierungen, Fiktionen und die Produktion von Erinnerungskultur. Streiflichter zu den Autobiographien von k. (u.) k. Beamten . . . . . . . . . . . 134

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Inhalt

DAS IMPERIALE ICH ZWISCHEN DIENST UND PROFESSION

Ulrich Schmid Die subjektbildende Kraft des Imperiums. Autobiographien in der späten Zarenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Carla Cordin Von Schreibanlässen und Erinnerungsfunktionen. Erkenntnisgewinn aus autobiographischer Praxis von Juristen im späten Zarenreich . . . . . . . . . . 175 Peter Holquist Bureaucratic Diaries and Imperial Experts. Autobiographical Writing in Tsarist Russia in the late Nineteenth Century: Fëdor Martens, Dmitrii Miliutin, Pëtr Valuev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Barbara Henning A Passionate Ottoman in late 19th Century Damascus. Mehmed Salih Bedirhan’s Autobiographical Writing in the Context of the OttomanKurdish Bedirhani Family . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

ICH-SUCHE AN DER IMPERIALEN PERIPHERIE

Marija Đokić Đorđe Stratimirović (1822–1908). Eine Selbstverortung im Imperium . . . 255 Matthias Golbeck (Selbst)beschreibungen von den Grenzen des Imperiums. Die Briefe des russischen Beamten und Amateurwissenschaftlers N.F. Petrovskij aus dem Generalgouvernement Turkestan und Kaschgar. 1870–1895 . . . . . . . . . . . . 291 Christian Marchetti Ethnographie und Lebensbeschreibung. Autobiographische Praktiken von Ethnographen im späten Habsburger Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Inhalt

AUTOBIOGRAPHIK IMPERIAL – TRANSIMPERIAL – NATIONAL

Alexis Hofmeister Drei Imperien – ein jüdisches Selbstbild? Autobiographische Praxis und jüdische Identität im Russischen Reich, im Osmanischen Reich und in der Habsburgermonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Jens Herlth „Verengung des Handlungsfelds“: Tadeusz Bobrowski, ein polnischer Adliger in der ukrainischen Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

AUTOBIOGRAPHIK NACH DEM ZERFALL DER REICHE

Murat Kaya Westliche Interventionen und die Entstehung der jungtürkischen Geisteshaltung (1889–1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Elke Hartmann Osmanisch-Armenische Autobiographik zwischen Heimatland und Zerstreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Franziska Thun-Hohenstein „Der Petrinische Ehrenspiegel lag zertrümmert …“. Autobiographie und Epochenbruch (Oleg Volkov, Kirill Golicyn, Evfrosinija Kersnovskaja) . . 482

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Vorwort Imperienforschung hat Konjunktur. Dies lässt sich zum einen mit dem gesteigerten aktuellen Interesse an Organisationsformen politischer Gemeinwesen im (vermeintlich) postnationalen Zeitalter erklären. Zum anderen vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass in Europa bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (in anderen Teilen der Welt sogar bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts) die meisten Menschen in Imperien lebten. Während sich die historische Imperienforschung bereits intensiv mit Grundlagen, Ideologien und Strukturen imperialer Herrschaft befasst hat, steht die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung Imperien für das Selbstverständnis ihrer Untertanen entwickelten und welche Rolle imperiale Biographien (imperial lifes) für das Funktionieren von Herrschaft und Kommunikation in Vielvölkerreichen spielten, noch am Anfang. Die Reihe Imperial Subjects. Biographik und Autobiographik in imperialen Kontexten versteht sich als Plattform für dieses neue und dynamische Forschungsfeld. Zum einen möchten wir den Blick von Herrschaftsstrukturen auf die Bewohner, d.h. die Untertanen (engl. subjects) von Imperien und deren Lebenswege und Biographien lenken. Zum anderen sind wir an Diskursen der Selbstbeschreibung und Selbstverortung von Menschen interessiert, die in polyethnischen und multikonfessionellen Reichen lebten und in Selbstzeugnissen Bilder des eigenen „Ich“ entwarfen und dokumentierten. Der englische terminus technicus „Imperial Subjects“ spiegelt diese beiden Dimensionen unseres Erkenntnisinteresses wider. Im ersten Band unserer Reihe stehen mit dem Russischen Reich, der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich drei Imperien im Fokus, die bis ins frühe 20. Jahrhundert das Leben der Menschen an der östlichen Peripherie Europas geprägt haben. Die Reihe hat allerdings weder einen regionalen noch einen zeitlichen Fokus. Vielmehr versteht sie sich als offenes Forum für biographisch und autobiographisch interessierte Studien zur Geschichte von Großreichen im Allgemeinen. Gerade von vergleichenden und beziehungsgeschichtlichen Ansätzen versprechen wir uns einen großen Ertrag für die historische Imperienforschung. Die mit diesem Band aus der Taufe gehobene neue Reihe beim Böhlau-Verlag ist das Ergebnis eines internationalen Forschungsvorhabens, dessen Anfänge sich in den Herbst 2010 bzw. das Frühjahr 2011 zurückverfolgen lassen. Bei Gesprächen im Englischen Garten und einem Café in der Maxvorstadt in München entwickelten Martin Aust und Benjamin Schenk die Idee eines Forschungs-Verbundprojektes zur vergleichenden Imperiengeschichte mit einem Fokus auf Biographik bzw. Autobiographik. Zwei Seminare mit fortgeschrittenen Studierenden an der LMU München und der Universität Basel im Jahr 2011, ein gemeinsames Panel auf der

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Vorwort

Jahrestagung der Association for Slavic, East European & Eurasian Studies in Washington 2011 sowie zwei Vorbereitungsworkshops in Basel und München (2011/12) dienten der Diskussion erster Hypothesen und Entwürfe des Forschungskonzepts. Gemeinsam mit Maurus Reinkowski (Basel) und Robert Luft (Collegium Carolinum, München) konnten wir im Herbst 2011 beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Gesuch auf Förderung des Forschungsprojektes Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und historischer Wandel in den Kontinentalreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. – frühes 20. Jahrhundert) eingeben. Nach positiver Begutachtung startete das Forschungsvorhaben an den Universitäten Basel und München im Frühjahr 2013 (nähere Infos auf: imperial-subjects.ch). Höhepunkte der Arbeit in unserem gemeinsamen Projekt waren die beiden internationalen Tagungen (in Basel 2013 und München 2014), deren Ergebnisse wir im vorliegenden Band dokumentieren. Den Start unserer gemeinsamen Reihe, der wir eine große und neugierige Leserschaft und viele weitere interessante Bände wünschen, möchten wir zum Anlass nehmen, jenen Kolleginnen und Kollegen herzlich zu danken, die uns in den vergangenen Jahren mit ihren Ideen und ihrer Tatkraft bei der Realisierung unseres Forschungsvorhabens geholfen und unterstützt haben. Unser besonderer Dank gilt dem SNF und der DFG für ihre großzügige Förderung unseres Projektes. In der Vorbereitungsphase wurden wir zudem durch eine Anschubfinanzierung des Forschungsfonds der Universität Basel unterstützt. Die Freiwillige Akademische Gesellschaft (Basel) förderte die Durchführung der Tagung Autobiographische Praxis und Imperienforschung in Basel im Juni 2013. Neben den Autorinnen und Autoren dieses Bandes und stellvertretend für all jene Personen, die wir möglicherweise vergessen haben, danken wir für die gute Zusammenarbeit und Unterstützung in den vergangenen Jahren: Martina Baleva, Beda Baumgartner, Patrick Culik, Christa Ehrmann-Hämmerle, Jörn Happel, Bianca Hoenig, Lenka Fehrenbach, Victoria Frede, Nadine Freiermuth-Samardzić, Eyal Ginio, Kaspar von Greyerz, Thomas Grob, Guido Hausmann, Lydia Heidebrecht, Marija Heinbockel, Julia Herzberg, Anna Hodel, Felix Konrad, Henning Lautenschläger, Alexandra Lazarevič, Sandrine Mayoraz, Evgenija Markina, Tanja Miljanovič, Jan Miluška, Marina Mogil’ner, Jana Osterkamp, Jörg Schulte, Andreas Renner, Julia Richers, Stephan Rindlisbacher, Rhea Rieben, André Schmidt, Heilwig SchwarzSchütte, Mirjam Voerkelius, Agnes Weidkuhn, Richard Wittmann und Marion Wullschleger. Dem Böhlau-Verlag danken wir für die Aufnahme unserer Reihe in sein Programm, Dorothee Rheker-Wunsch für ihre Unterstützung und ihr Interesse am Fortgang des Projekts. Basel, München und Istanbul im Juli 2015

Martin Aust, Frithjof Benjamin Schenk

Einleitung Autobiographische Praxis und Imperienforschung In Abgrenzung vom Paradigma der Nationalismus-Forschung wird das 19. Jahrhundert in der Geschichtsschreibung heute wieder verstärkt als „Zeitalter der Imperien“ verhandelt.1 Während Imperien früher häufig als „vormoderne“ Staatsformen abgetan wurden, die per definitionem dem Untergang geweiht waren,2 nimmt man sie heute wieder verstärkt als langlebige, anpassungsfähige und relativ erfolgreiche Organisationssysteme ethnischer, kultureller und politischer Vielfalt in den Blick.3 Bei der Frage nach den Kohäsionskräften imperialer Staaten hat sich die historische Forschung dabei in letzter Zeit sowohl an vergleichenden als auch an beziehungsgeschichtlichen Ansätzen orientiert.4 In diesem Kontext sind 1 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. 2 Vgl. z. B. den Titel des Klassikers The History of the Decline and Fall of the Roman Empire von Edward Gibbon (1776), in den der gleichsam zwangsläufige Niedergang als Notwendigkeit in die Geschichte eines imperialen Staates eingeschrieben ist. Zu diesem Verlaufsmodell vgl. auch: Alexander Motyl: Imperial Ends. The Decay, Collapse, and Revival of Empires. New York 2001; Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 570–575; Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen: Beyond Rise, Decline and Fall – Comparing Multi-Ethnic Empires in the Long Nineteenth Century. In: dies. (Hrsg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2011, S. 9–34. 3 Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl neuerer Arbeiten zur Staatsform des Imperiums: Herfried Münkler: Imperien: Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Frankfurt/M. 2007; John Darwin: After Tamerlane. The Global History of Empire since 1405. New York 2008; Michael Gehler/Robert Rollinger: Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Wiesbaden 2013. 4 Dominic Lieven: Empire. The Russian Empire and its Rivals. London 2000; Alexej Miller/Alfred J. Rieber, (Hrsg.): Imperial Rule. Budapest 2004; Martin Aust/Ricarda Vulpius/Aleksej Miller (Hrsg.): Imperium inter pares. Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700 – 1917) [Imperium inter pares. Die Bedeutung des (Kultur)-Transfers in der Geschichte des Russländischen Reiches (1700 – 1917)]. Moskva 2010; Alexey Miller: The Value and the Limits of a Comparative Approach to the History of Contiguous Empires on the European Periphery. In: Kimitaka Matsuzato (Hrsg.): Imperiology. From

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auch die Großreiche der Romanovs, Habsburger und Osmanen als ein außenpolitisches Makrosystem in den Blick geraten, das selbst zu einer Stabilisierung der imperialen Ordnung im östlichen Europa beigetragen hat.5 Vertreter der New Imperial History haben jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass die Stabilität imperialer Herrschaft nicht allein von strukturellen und außenpolitischen Faktoren abhing. Daneben sollten Imperien, so das Plädoyer des britischen Historikers David Cannadine, auch als „culturally created and imaginatively constructed artifact(s)“ erforscht werden.6 Tatsächlich lassen sich nicht nur Nationen, sondern auch Imperien als imagined communities im Sinne Benedict Andersons beschreiben.7 Ihr Zusammenhalt gründete nicht zuletzt auch auf Diskursen imperialer Selbstbeschreibung und Identifikation der politischen und kulturellen Eliten.8 Während wir mit Blick auf das Russländische, das Osmanische und das Habsburger Reich relativ gut über Inszenierungen imperialer Macht und die Narrative imperialer Ideologien informiert sind, wissen wir über die Rezeption und Aneignung imperialer Konzepte kollektiver Identität durch die Eliten und Untertanen der drei Großreiche noch

Empirical Knowledge to Discussing the Russian Empire. Sapporo 2007, S. 19–32; Comparative Imperiology, Bd. 1, hrsg. v. Kimitaka Matsuzato. Sapporo 2010; Jane Burbank/Frederick Cooper: Empires in World History: Power and the Politics of Difference. Princeton (NJ) 2010 (dt. Imperien der Weltgeschichte: das Repertoire der Macht vom alten Rom und China bis heute. Frankfurt/M. 2012); Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen (Hrsg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2011; Herfried Münkler/Eva-Maria Hausteiner (Hrsg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2012; Alexei Miller/ Stefan Berger (Hrsg.): Nationalizing Empires. Budapest 2015. 5 Vgl. u. a. Aleksej Miller: Počemu vse kontinental’nye imperii raspalis’ v rezul’tate Pervoj mirovoj vojny (Publičnye lekcii polit.ru) [Warum alle Kontinentalreiche am Ende des Ersten Weltkrieges zerfielen (Öffentliche Vorträge auf polit.ru)] [zuletzt aufgerufen am 15.04.2015]. Zum Vergleich der drei Kontinentalreiche im Allgemeinen: Ders.: The Value and the Limits of A Comparative Approach to the History of Contiguous Empires, in: Imperiology: From Empirical Knowledge to Discussing the Russian Empire. Sapporo 2007, S. 19–32 [zuletzt aufgerufen am 18.06.2015]. 6 David Cannadine: Ornamentalism. How the British Saw their Empire. Oxford 2001, S. 3. 7 Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983 (dt. Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/M. 2005). 8 Zur Erforschung von Diskursen imperialer Selbstbeschreibung im späten Zarenreich: Il’ja V. Gerasimov u. a. (Hrsg.): Empire Speaks Out. Languages of Self-Description and Rationalization in the Russian Empire. Leiden 2009.

Einleitung

vergleichsweise wenig.9 Eine ältere, sozialhistorisch orientierte Elitenforschung hat sich intensiv mit kollektiven Aufstiegschancen und Abgrenzungsstrategien der gesellschaftlichen Oberschichten in den Imperien der Romanovs, Habsburger und Osmanen befasst.10 In jüngerer Zeit lässt sich in der Geschichtsschreibung zu den drei Kontinentalreichen auch ein zunehmendes Interesse an Einzelbiographien beobachten.11 Dies veranlasste Jürgen Osterhammel 2006, einen biographical turn in der Imperienforschung vorauszusagen.12 Viele dieser Arbeiten konzentrieren sich jedoch auf die Rekonstruktion individueller Lebenswege in imperialen Kontexten (imperial lifes / imperiale Biographien).13 Fragen individuel9 Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, 2 Bde. Princeton (NJ) 1995, 2000; Aleksej I. Miller u. a. (Hrsg.): „Ponjatija o Rossii“. K istoričeskoj semantike imperskogo perioda [„Russland-Begriffe“. Zur historischen Semantik des imperialen Zeitalters], 2 Bde. Moskva 2012; Daniel Unowsky: The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria. W. Lafayette (Ind) 2005; Selim Deringil: The Well-Protected Domains: Ideology and the Legitimation of Power in the Ottoman Empire 1876–1909. London 1998. 10 Für einen sozialhistorischen Ansatz imperialer Eliten-Forschung stehen z. B.: Andreas Kappeler (Hrsg.): The Formation of National Elites. Aldershot u. a. 1992; Istvan Déak: Beyond Nationalism. A Social and Political History of the Habsburg Officer Corps 1848–1918. Oxford 1990; Carter Findley: Ottoman Civil Officialdom: A Social History. Princeton (NJ ) 1989; Cem Emrence: Remapping the Ottoman Middle East. Modernity, Imperial Bureaucracy, and the Islamic State. London 2012. 11 Die Anzahl biographischer Studien zur Geschichte der drei Imperien ist kaum mehr zu überblicken. Vgl. exemplarisch: Jan Galandauer: František kníže Thun. Místodžící českého království. Praha u. a. 2007 (dt. Franz Fürst Thun: Statthalter des Königreiches Böhmen. Wien 2013); Timothy Snyder: The Red Prince. The Secret Lives of a Habsburg Archduke. New York 2008; Michael Khodarkovsky: Bitter Choices: Loyalty and Betrayal in the Russian Conquest of the North Caucasus. Ithaca 2011; Stephen M. Norris/Willard Sunderland (Hrsg.): Russia’s People of Empire. Life Stories From Eurasia. Bloomington (ID) 2012; Willard Sunderland: The Baron’s Cloak. A History of the Russian Empire in War and Revolution. Ithaca (NY) 2014. – Zum Forschungsfeld „Imperium und Biographie“ vgl. u. a. David Lambert/Alan Lester, Introduction. Imperial Spaces, Imperial Subjects. In: dies. (Hrsg.): Colonial Lives across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century. Cambridge 2006, S. 1–31; Themenheft der Zeitschrift Ab Imperio „Homo Imperii Revisits the Biographic Turn“ 2009/1; Malte Rolf/Jörn Happel: Grenzgänger in Vielvölkerreichen: Grenzziehungen und -überschreitungen in Russland und Österreich-Ungarn. 1850–1919, Themenheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), H. 5. 12 Jürgen Osterhammel: Imperien. In: Gunnilla Budde u.a. (Hrsg.): Transnationale Geschichte. Göttingen 2006, S. 56–67, hier S. 62. 13 Für die deutschsprachige Osteuropaforschung hat Martin Aust als erster den terminus technicus „imperiale Biographie“ als heuristische Kategorie ins Gespräch gebracht. Vgl. „Imperiale und postimperiale Biographien im östlichen Europa in der Neuzeit“ (Sommer­ akademie des Herder-Instituts Marburg, September 2009). Bericht auf: http://www.h-net.

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ler Selbstverortung in imperialen Raum- und Herrschaftsstrukturen stehen dabei relativ selten im Mittelpunkt. Der vorliegende Band nähert sich dem Thema imperialer Selbstbeschreibung aus der Perspektive der historischen Selbstzeugnisse-Forschung. Die hier versammelten Beiträge sind das Ergebnis zweier wissenschaftlicher Konferenzen, die im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und historischer Wandel in den Kontinentalreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte des 19. bis frühes 20. Jahrhundert) durchgeführt wurden.14 Im Zentrum dieses Forschungsvorhabens stehen autobiographische Praktiken von Vertretern und Vertreterinnen der imperialen Funktionseliten des Russländischen, des Habsburger und des Osmanischen Reiches im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Diese werden mit Selbstbeschreibungsdiskursen imperialer Diasporagruppen – z. B. von Juden – sowie Strategien imperialer Biographik in Beziehung gesetzt und nach Ich-Entwürfen in einer Zeit tiefgreifenden historischen Wandels in den drei polyethnischen Kontinentalreichen an der östlichen Peripherie Europas befragt. In allen drei Imperien, so eine Ausgangsbeobachtung, lässt sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Konjunktur autobiographischen und biographischen Schreibens und Publizierens beobachten. Bislang wurde dieses Phänomen vor allem als Kennzeichen einer sich ausprägenden Subjektkultur gelesen, die neben bürgerlichen Kreisen auch den Adel und andere soziale Schichten erfasste. Wenig berücksichtigt blieb dabei die Frage, inwiefern ein wachsendes gesellschaftliches und publizistisches Interesse an individuellen Lebensgeschichten auch das Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit jenem strukturellen Wandel widerspiegelte, mit dem alle drei Großreiche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konfrontiert waren: Das Aufkommen nationaler und revolutionärer Bewegungen sowie die territoriale Expansion vor allem im Fall des Russländischen und org/reviews/showrev.php?id=28816 (letzter Zugriff: 18.03.2015). – Mittlerweile erfreut sich das Konzept wachsender Beliebtheit. Vgl. z. B.: Malte Rolf: Einführung: Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1850–1918). In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 5–21; Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Eliten im Vielvölkerreich: Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918). München 2015. 14 Internationales Forschungsprojekt der Universitäten Basel und LMU München (www. imperial-subjects.ch), gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Förderlinie lead agency). Die erste Konferenz „Autobiographische Praxis und Imperienforschung“ fand vom 6.–8. Juni 2013 an der Universität Basel die zweite „Imperial Experts and Their Autobiographical Pracitices. The Russian, Austro-Hungarian and Ottoman Empires in Comparison (late 19th – early 20th centuries)“ vom 20.–22. Juli 2014 am Historischen Kolleg in München statt.

Einleitung

in überschaubaren Maßen des Habsburger Reiches bzw. die zunehmende Bedrohung territorialer Integrität im Fall des Osmanischen Reiches warfen Fragen nach der zukünftigen Konsolidierung imperialer Herrschaftsräume auf. Umfassende innenpolitische Reformen – z. B. „Große Reformen“ (1860er und 1870er Jahre) und die Konstitutionelle Wende in Russland (1905–1906), die Schaffung der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie durch den „Ausgleich“ sowie die Verabschiedung einer Verfassung im Habsburgerreich (1867) sowie die Tanzimat-Reformen im Osmanischen Reich (nach 1839) – bewirkten Verschiebungen des innenpolitischen Machtgefüges. Der politische Aufstieg neuer sozialer Schichten bzw. neuer regionaler Zentren im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung führten zu Legitimitätskrisen der althergebrachten politischen Ordnung. Die fortschreitende Globalisierung auf den Feldern der Wissenschaft, Ökonomie und Kommunikation machte eine Neupositionierung imperialer Eliten auch auf internationaler Bühne notwendig. Inwiefern die Erfahrung dieses umfassenden politischen und sozio-ökonomischen Umbruchs, den autobiographischen (und biographischen) Boom förderte, den die Öffentlichkeiten der drei Vielvölkerreiche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erlebten, ist eine Leitfrage unseres Forschungsprojekts und des vorliegenden Bandes. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen Ich-Entwürfe von Vertretern imperialer Eliten des Russländischen, des Osmanischen und des Habsburgerreiches in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sie sich in autobiographischen Schriften und anderen Selbstzeugnissen niedergeschlagen haben. Den Kern des untersuchten Quellenkorpus bilden dabei Autobiographien, die nach Georg Misch als „Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“ definiert werden.15 In Anlehnung an das Konzept der „autobiographischen Praxis“, wie es insbesondere Jochen Hellbeck in seinen Forschungen zu sowjetischen Selbstzeugnissen entwickelt hat, werden neben Autobiographien auch andere Selbstzeugnisse wie Briefe, Tagebücher, Fotografien und performative Akte berücksichtigt.16 Das Konzept der „autobiographischen Praxis“ erscheint dabei aus mehreren Gründen als ein geeigneter konzeptioneller Zugang. 15 Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907). In: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Darmstadt 1989, 33–54, hier S. 38. 16 Zum Begriff „Selbstzeugnis“: Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462–471; Claudia Ulbrich/ Hans Medick/Angelika Schaser: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. In: dies. (Hrsg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. Köln 2012, S. 1–19, hier S. 1–5. – Zum Konzept „autobiographische Praxis (autobiographical practices)“ vgl. Jochen Hellbeck: Introduction. In: ders./Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices

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Zum einen eröffnet es den Blick über autobiographische Texte hinaus auf andere Medien der „Ich“-Konstitution. Zum Zweiten erlaubt es, den autobiographischen Text als Ergebnis sozialer und kultureller Praktiken und Prozesse zu begreifen, an denen nicht nur der Autor bzw. die Autorin, sondern eine Vielzahl historischer Akteure beteiligt waren und sind: angefangen von der in den Gedanken des Verfassers (bzw. der Verfasserin) adressierten Leserschaft, Vorbildern, an denen sich die schreibende Person orientierte, Menschen, die den Autor (bzw. die Autorin) zur Niederschrift der eigenen Erinnerungen und Lebensgeschichte motivierten, bis hin zu Redakteuren und Verlegern, die im Zuge der Publikation autobiographischer Quellen Einfluss auf die Textgestaltung und -präsentation nehmen konnten oder Archivaren, die darüber zu entscheiden hatten, ob ein bestimmtes Dokument der Nachwelt überliefert werden soll oder nicht. Wenn hier von „autobiographischer Praxis“ die Rede ist, gilt es, den einzelnen autobiographischen Akt als Teil dieses komplizierten sozialen Kommunikationsgefüges zu begreifen und vor diesem Hintergrund zu analysieren. Zum Dritten wird mit dem Begriff der „autobiographischen Praxis“ der Blick vom Text auf den Prozess des Schreibens einer Lebensgeschichte gelenkt. Schließlich sollte das autobiographische Selbstzeugnis weniger als Abbild eines „realen“ Lebens oder der „objektiven“ Biographie betrachtet werden. Vielmehr sind das Bild einer in der Linearität des Textes eingebetteten Biographie und das darin handelnde historische Subjekt vielmehr selbst als Produkte eines rückblickenden Deutungs-, Konstruktions- und Sinngebungsprozesses einer sich erinnernden Person zu einem spezifischen Zeitpunkt des Lebens zu begreifen. Autobiographische Praktiken, so Hellbeck, dienten (und dienen) sowohl der Produktion als auch der Repräsentation des Selbstbildes des Autors und werden maßgeblich von zeit- bzw. kulturspezifischen Schreib- und Redekonventionen geprägt.17 Die Arbeit mit autobiographischen Quellen bedarf in der Geschichtswissenschaft heute keiner besonderen Rechtfertigung mehr. Im Unterschied zum hermeneutischen Ansatz von Wilhelm Dilthey oder Georg Misch, die Autobiographien noch als repräsentativen Ausdruck autonomer Subjekte (der bürgerlichen, abendländischen Gesellschaft) betrachteten, betonen neuere, an Erkenntnissen des Poststrukturalismus orientierte Arbeiten, bei dem in autobiographischen Texten entworfenen „Ich“ handele es sich eher um eine „referentielle Illusion“ bzw. eine

in Russia / Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 11–24, insbes. S. 12–13. 17 Hellbeck: Introduction, S. 12f.

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Rede- und Lesefigur.18 In ihren konzeptionellen Texten zur historiographischen Arbeit mit autobiographischen Quellen plädieren Autoren wie Dagmar Günther oder Volker Depkat dafür, autobiographisches Schreiben als einen „Akt sozialer Kommunikation [zu lesen], durch den sich der Verfasser zu seinem Umfeld in Beziehung setzt und in seiner Erzählung zugleich durch dieses Umfeld geprägt ist“.19 Autobiographisches Schreiben ist, so Depkat, stets in „Prozesse sozialer Selbstverständigung eingebunden […] durch die Gesellschaften ihr Wissen von der Vergangenheit in konkreten historischen Konstellationen aufbereiten, verfestigen, kontrollieren und weitergeben“.20 Schriftlich verfasste Lebensbeschreibungen sind so Ausdruck historischer Deutungsbedürfnisse und aussagekräftige Medien des kulturellen Gedächtnisses.21 Günther, die sich mit der (begrenzten) Bedeutung nationaler Identifikationsmuster in Autobiographien von Bildungsbürgern im Deutschen Kaiserreich befasst hat, liest Autobiographien als „soziale Selbstbeschreibungen“, die Auskunft über die (vorgestellte) Gruppenzugehörigkeit des Autors bzw. der Autorin geben. Autobiographisches Schreiben war auch in den hier betrachteten Großreichen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Prozesse sozialer Selbstverständigung eingebunden und wurde von diesen geprägt. Vor diesem Hintergrund ist in unserem Kontext danach zu fragen, in welche Traditionen sich die Autorinnen und Autoren autobiographischer Texte im Russländischen, Osmanischen und Habsburgerreich einordneten, an welchen Vorbildern sie sich orientierten, welche (imaginierte) Leserschaft sie adressierten und in welche Gemeinschaften (familiärer, sozialer, religiös-konfessioneller, politischer, professionell-ökonomischer oder geschlechtsspezifischer Natur) sie sich mit ihren Selbstzeugnissen einschreiben wollten. In bestimmten Fällen äußerten sich die Verfasser und Verfasserinnen autobiographischer Texte auch zu dem von ihnen persönlich erfahrenen historischen Wandel der imperialen Staatenordnung bzw. legten Zeugnis vom eigenen 18 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel (1979). In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt 1993, S. 131–146. 19 Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 441–476, hier S. 442. Vgl. auch den Beitrag von Volker Depkat in diesem Band. – Einen ähnlichen Ansatz verfolgen: Dagmar Günther: „And now for something completely different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 26–61; dies.: Das Nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs. Tübingen 2004. 20 Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, S. 462. 21 Astrid Erll: „Biographie und Gedächtnis“. In: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, hrsg. v. Christian Klein. Stuttgart 2009, S. 79–86.

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Erwartungshorizont hinsichtlich der Entwicklung der Vielvölkerreiche in Zeiten des politischen und sozio-ökonomischen Umbruchs ab.22 Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch der Frage nach Schreibanlässen autobiographischer Texte zu, d. h. nach biographischen Wendepunkten sowie sozial und gesellschaftlich bedingten Impulsen für die Reflexion und das Verfassen von persönlichen Erinnerungen und Lebensgeschichten. Die Autorinnen und Autoren der im Folgenden untersuchten autobiographischen Quellen werden von uns unter dem terminus technicus „Imperial Subjects“ gefasst. Das englische Wort subject hat zwei Bedeutungen, die dabei zum Tragen kommen. Zum einen bezeichnet der Begriff den „Untertan“, d. h. den in seinen Rechten eingeschränkten Bewohner eines Imperiums – im Gegensatz zum „Bürger“ (citoyen / citizen / graždanin) des (idealtypischen) modernen Nationalstaats. Zum anderen ist mit dem Begriff subject die Vorstellung eines sich seines eigenen „Ich“ bewussten (bzw. ein solches „Ich“ entwerfenden) Menschen verknüpft, dessen Selbst-Bild in entsprechenden Texten, wie z. B. Tagebüchern oder Autobiographien bzw. durch autobiographische Praktiken geformt bzw. zum Ausdruck gebracht wird. Die hier vorgestellten Autorinnen und Autoren autobiographischer Texte lassen sich aus dieser Perspektive als imperial subjects beschreiben, da sie einerseits Untertanen eines der drei untersuchten Vielvölkerreiche waren und andererseits in Selbstzeugnissen über ihr Leben bzw. ihr „Selbst“ in imperialen Herrschaftsstrukturen reflektierten bzw. diesem Ausdruck verliehen. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Gruppe imperialer Experten zu: Bereits in der Vormoderne beruhten imperiale Herrschaft und die Inklusion von Untertanen in eine imperiale Herrschaftselite auf gewissen Fertigkeiten. Adlige Eliten taten sich in Verwaltung und im Militär hervor. Speziellere Funktionen etwa im Handel und der Militärtechnologie erfüllten entweder Vertreter von Diasporagruppen oder eigens angeworbene Ausländer.23 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeichneten sich innerhalb der imperialen Herrschaftseliten indes signifikante Wandlungsprozesse ab. Imperien funktionierten nun nicht mehr allein dadurch, dass Herrscher in einem top-down-Zugriff Aufgaben entweder an fest in ihren 22 Depkats Hinweis, dass historische Umbruchsituationen förderlich für das Entstehen autobiographischer Texte seien, ist in diesem Kontext von besonderem Interesse. Vgl. Volker Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23 (2010), S. 170–187, hier S. 179. 23 Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall 1552 – 1917. München 1992 (mehrere Neuauflagen). Erik Amburger: Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für die Wirtschaft Russlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1968.

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Diensten stehende Untergebene oder situativ angeworbenes Personal delegierten. Vielmehr kamen in wachsendem Maße Personen ins Spiel, die aufgrund ihrer individuellen Fertigkeiten und Kompetenzen z.T. als soziale Aufsteiger in den Dienst imperialer Herrschaft traten.24 Die Voraussetzung dafür war nicht nur der wachsende Bedarf imperialer Macht nach Wissen und Expertise. Gleichzeitig lassen sich im 19. Jahrhundert eine zunehmende Ausdifferenzierung der Wissenschaft und die Entstehung zahlreicher neuer Disziplinen beobachten, die neue Professionen und Expertengruppen hervorbrachten. Ethnographen, Juristen, Mediziner und Ingenieure – um nur einige zu nennen – sammelten Wissen und verfügten über Kompetenzen, die für Verständnis, Erschließung und Administration räumlich weit ausgedehnter und sprachlich-kulturell diverser Herrschaftsräume immer dringlicher wurden. Neue Berufsgruppen wie z. B. die der Juristen im Zarenreich oder der Ethnographen in der Habsburgermonarchie entwickelten dabei ein ausgeprägtes berufsständisches, kollektiv getragenes Selbstverständnis, das nicht zuletzt in autobiographischen (und biographischen) Praktiken ausgehandelt und nach außen kommuniziert wurde. Entscheidend war dabei, wie die Beschreibung der autobiographischen (bzw. biographischen) Person mit dem Entwurf spezifischer Gruppenidentitäten korrespondierte oder diese variierte und wie gleichzeitig aus einer berufsständischen Perspektive spezifische Vorstellungen von der Struktur, der Zukunft und der eigenen Rolle im Imperium entwickelt wurden. So gelesen lassen sich autobiographische (und biographische) Diskurse von Experten in den drei hier behandelten Imperien als neue Formen von Öffentlichkeit und als wichtige Foren kollektiver Selbstverständigung imperialer Eliten lesen und analysieren.

Autobiographik in Russland, dem Habsburgerreich und dem Osmanischen Reich Wie andere nichtwestliche Gesellschaften galt Russland in der Forschung lange als ein Land mit einer schwach ausgeprägten Subjektkultur bzw. autobiographischen Tradition.25 Dieses Bild hat in letzter Zeit eine deutliche Korrektur erfahren. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wurden die Traditionen autobiographischen

24 Vgl. hierzu auch: Buchen/Rolf (Hrsg.): Eliten im Vielvölkerreich. 25 Hans Christian Petersen: Jenseits des Kollektivismus. Biografik und Autobiografik in Russland und der Sowjetunion. In: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 643–656. – Zu Entwicklung, Traditionen und Genres autobiographischen Schreibens im Zarenreich vgl. auch die Beiträge von Denis Svižkov, Ulrich Schmid und Peter Holquist in diesem Band.

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Schreibens in Russland bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt.26 Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Selbstzeugnissen aus Russland war zudem lange Zeit von der Annahme geprägt, russische Autobiographik fühle sich mehr der Wiedergabe der Zeitläufte und weniger der Introspektion des Autors bzw. der Formulierung entsprechender Selbstentwürfe verpflichtet. In Abgrenzung von dieser These werden heute verstärkt die Gemeinsamkeiten autobiographischer Praktiken im westlichen und östlichen Europa betont.27 In Russland (bzw. der UdSSR) hat die historische Arbeit mit autobiographischen Quellen in den 1970er Jahren einen deutlichen Aufschwung erfahren.28 Andrej Tartakovskij konnte z. B. nachweisen, dass die Erfahrung des „Vaterländischen Krieges“ gegen Napoleon im russischen Adel Anfang des 19. Jahrhunderts eine Welle autobiographischen Schreibens auslöste.29 Eine ähnliche Katalysatorfunktion hatte – so das Ergebnis jüngerer Forschungen – die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 für die Autobiographik russischer Bauern.30 Befördert wurde die Publikation autobiographischer Texte im Zarenreich auch durch die Ausweitung des Buch- und Zeitschriftenmarktes sowie durch die Lockerung der Zensur in den 1860er Jahren31 sowie nach der Revolution von 1905/06. Neben dem Adel waren es vor allem Vertreter der Intelligencija, die im 19. Jahrhundert versuchten, über die Beschreibung des eigenen Lebens ihren Platz in der Gesellschaft zu definieren.32 Auch Frauen veröffentlichten ab den 1850er Jahren in zunehmendem Maße Lebenserinnerun26 Alois Schmücker: Anfänge und erste Entwicklungen der Autobiographie in Russland (1760–1830). In: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Darmstadt 1989, S. 415–459; Ulrich Schmid: Ichentwürfe. Russische Autobiographie zwischen Avvakum und Gercen. Zürich 2000. 27 Julia Herzberg: Autobiographik als historische Quelle in Ost und West. In: dies./Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln 2007, S. 15–62, hier S. 29. 28 Petr Andreevič Zajončkovskij (Hrsg.): Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel´ knig i publikacij v žurnalach [Die Geschichte des vorrevolutionären Russlands in Tagebüchern und Erinnerungen. Kommentiertes Verzeichnis von Büchern und Zeitschriftenpublikationen], 5 Bde. (mit je mehreren Teilbänden). Moskva 1976–1989 (auch online zugänglich: http://uni-persona.srcc.msu.ru/site/ ind_res.htm [zuletzt aufgerufen am 15.04.2015]). 29 Andrej Tartakovskij: Russkaja memuaristika XVIII – pervoj polovine XIX v. [Russische Memuaristik des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts]. Moskva 1991. 30 Julia Herzberg: Gegenarchive: Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Bielefeld 2013. 31 Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Peter Holquist in diesem Band. 32 Jochen Hellbeck: Russian Autobiographical Practice. In: ders./Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia / Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, 279–298, hier S. 279. Vgl. auch: Victoria Frede: Autobiographik und Intelligencija

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gen,33 wobei Texte von Vorkämpferinnen der Frauen- und revolutionären Bewegung ganz besonders die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen haben.34 Anders als im russischen Fall hat die systematische Auseinandersetzung mit autobiographischen Texten aus dem Habsburgerreich erst vor kurzem begonnen.35 Auf einen Mangel an entsprechendem Quellenmaterial kann dies nicht zurückgeführt werden, schließlich sind Autobiographien und andere Selbstzeugnisse in der Forschung über die k. u. k. Monarchie in verschiedenen Forschungskontexten schon längere Zeit präsent. Hier sind zum einen sozial-, alltags-, und geschlechtergeschichtlich orientierte Arbeiten zu nennen. Die Publikationsreihe Damit es nicht verloren geht (seit 1983) hat z. B. in bislang 68 Bänden facettenreich Lebenswelten vor allem mittlerer und niederer Schichten der Gesellschaften sowohl im Habsburgerreich als auch in seinen Nachfolgestaaten dokumentiert.36 Abgesehen von einem Band über mittlere und niedere Beamte sind imperiale Funktionsträger in dieser Reihe jedoch nicht berücksichtigt.37 Zum anderen liegen Autobiographien als Quellen den eng verflochtenen Themenfeldern vom Nieder- und Untergang des Habsburgerreiches sowie der Geschichte von Nationsbildungen im Zarenreich, (unveröffentlichtes) Paper, präsentiert auf der Konferenz „Autobiographische Praxis und Imperienforschung“. Basel 2013. 33 Toby. W. Clyman/Judith Vowles (Hrsg.): Russia Through Women’s Eyes. Autobiographies from Tsarist Russia. New Haven 1996; Marianne Liljeström u. a. (Hrsg.): Models of Self. Russian Women´s Autobiographical Texts. Helsinki 2000; Kerstin Gebauer: Mensch sein, Frau sein. Autobiographische Selbstentwürfe russischer Frauen aus der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs um 1917. Frankfurt/M 2004; Frithjof Benjamin Schenk: Ich bin des Daseins eines Zugvogels müde. Imperialer Raum und imperiale Herrschaft in der Autobiographie einer russischen Adeligen. In: L´Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 23 (2012), S. 49–64. 34 Vgl. z. B. Hilde Hoogenboom: Vera Figner and Revolutionary Autobiographies: The Influence of Gender on Genre. In: Rosalind Marsh (Hrsg.): Women in Russia and Ukraine. Cambridge 1996, S. 78–93; Mary Fleming Zirin: „A Particle of Our Soul“: Pre-Revolutionary Autobiography by Russian Women Writers. In: Adele M. Barker u. a. (Hrsg.): A History of Women´s Writing in Russia. Cambridge 2002, S. 100–116; Stephan Rindlisbacher: Leben für die Sache: Vera Figner, Vera Zasulič und das radikale Milieu im späten Zarenreich. Wiesbaden 2014. 35 Christa Hämmerle (Hrsg.): Plurality and Individuality: Autobiographical Cultures in Europe. Proceedings of an International Research Workshop at IFK Vienna, 21st–22nd October 1994. Wien 1995. – Wir danken Robert Luft für wertvolle Literaturhinweise zur Autobiographik des Habsburgerreiches in diesem Abschnitt. 36 Vgl. http://www.boehlau-verlag.com/Damit_es_nicht_verlorengeht_.htm [zuletzt aufgerufen am 15.04.2015] 37 Pavla Vošahlíková (Hrsg.): Von Amts wegen. K. k. Beamte erzählen. Wien 1998. – Zur Beamten-Autobiographie aus der späten Habsburgermonarchie vgl. insbes. den Beitrag von Waltraud Heindl in diesem Band.

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im Habsburgerreich und seinen Nachfolgestaaten nach 1918 zugrunde.38 Schließlich nutzt die jüngere Forschung autobiographisches Material für das neue Forschungsfeld imperialer Lebenswege.39 Editionsvorhaben autobiographischer Quellen von Vertretern der Funktionseliten der Doppelmonarchie haben sich bislang auf Memoiren von Militärs sowie von Diplomaten und Parlamentariern konzentriert.40 Allerdings hinterließen auch zahlreiche Adlige, die als Statthalter in den Kronländern dem Reich dienten, autobiographisches Material. Allerdings wurde dies (im Unterschied zum Zarenreich) seltener publiziert, sondern häufiger in Familienarchiven verwahrt.41 Die literatur- und geschichtswissenschaftliche Erforschung autobiographischer Praktiken im Osmanischen Reich wurde lange von der Annahme gehemmt, Selbstzeugnisse dieser Art seien das Produkt einer aufgeklärten, bürgerlichen westlichen Gesellschaft.42 Selbst Autoren wie Edward Said, die sich gegen einen „eurozentrischen Essentialismus“ wandten, vertraten die Ansicht, dass „autobiography as a genre scarcely exists in Arabic literature“.43 Jüngere Studien haben dagegen die Existenz von frühen autobiographischen Schriften im Osmanischen Reich seit dem späten 16. Jahrhundert belegen können.44 Einen Aufschwung erlebte autobiographisches Schreiben vor dem Hintergrund der sogenannten Tanzimat-Reformen 38 Gergely Romsics: Myth and Rememberance. The Dissolution of the Habsburg Empire in the Memoir Literature of the Austro-Hungarian Political Elite. New York 2006. 39 Vgl. exemplarisch: Timothy Snyder: The Red Prince. The Secret Lives of a Habsburg Archduke. New York 2008. 40 Solomon Wank (Hrsg.): Aus dem Nachlass Aehrenthal. Briefe und Dokumente zur österreichisch-ungarischen Innen- und Aussenpolitik 1885–1912, 2 Bde. Graz 1997; Doris A. Corradini, Fritz Fellner (Hrsg.): Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936, 3 Bde. Wien u. a. 2011. 41 Ernst Rutkowski (Hrsg.): Briefe und Dokumente zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie. Unter besonderer Berücksichtigung des böhmisch-mährischen Raumes. Der Verfassungstreue Großgrundbesitz 1880–1908, 3 Bde. München 1983–2011. 42 Wir danken Maurus Reinkowski für wertvolle Literaturhinweise zur Autobiographik des Osmanischen Reiches in diesem Abschnitt. 43 Edward Said: Beginnings. Baltimore 1987, S. 81, zit. nach Dwight F. Reynolds: The Fallacy of Western Origins. In: ders. (Hrsg.): Interpreting the Self: Autobiography in the Arabic Literary Tradition. Berkeley 2001, S. 17–36, hier S. 26. Vgl. auch: Susanne Enderwitz: Autobiographie und „Islam“. In: Olcay Akyıldız u. a. (Hrsg.): Autobiographical Themes in Turkish Literature: Theoretical and Comparative Perspectives. Würzburg 2007, S. 35–42, hier: S. 35f. 44 Cemal Kafadar: Self and Others: The Diary of a Dervish in Seventeenth Century Istanbul and First-Person Narratives in Ottoman Literature. In: Studia Islamica 69 (1989), S. 121–150; Derin Terzioğlu: Man in the Image of God in the Image of the Times: Sufi Self-Narratives and the Diary of Niyazi-i Misri (1618–94). In: Studia Islamica 94 (2002), S. 139–165.

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ab 1839.45 Ohne darauf abzuzielen, brachten diese auch neue Formen eines Selbstbewusstseins als Individuum und eine bürgerliche Klasse unter den osmanischen Muslimen hervor. Der entscheidende Wendepunkt kam jedoch mit der jungtürkischen „Revolution“ von 1908 und der sogenannten „Zweiten Konstitutionellen Periode“ in den Jahren 1908–1918.46 Die jungtürkische Revolution von 1908 mobilisierte große Bevölkerungsteile im Reich, die das erste Mal die Möglichkeiten politischer Partizipation kennenlernten. Die starke Politisierung lässt sich auch in autobiographischen Schriften nachweisen. Dem Rückgang autobiographischen Schreibens ab 1913, angesichts einer immer restriktiveren Publikationspolitik durch das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (der zentralen jungtürkischen Organisation) und der langen Abfolge von Kriegen (Balkan-Kriege, Erster Weltkrieg, „Türkischer Unabhängigkeitskrieg“) folgte ab 1923 eine neue Welle des life writing.47 Hinsichtlich der literarischen Struktur, Darstellungsweise und Verfasser (führende Journalisten, Politiker, Bürokraten und hochrangige Offiziere) unterschieden sich die autobiographischen Schriften der frühen Republikzeit nicht von der spätosmanischen Zeit: Im Mittelpunkt der Erinnerungen steht die Zeit 1908–1922, dann aber auch die Politik der autoritären Modernisierung unter Mustafa Kemal (Atatürk) in den 1920er und 1930er Jahren. Die politischen Memoiren von ehemaligen Weggefährten Mustafa Kemals, die sich in den 1920er Jahren zu fundamentalen Kritikern seiner Politik wandelten (Kazım Karabekir, Ali Fuat Cebesoy, Rauf Orbay u. a.), konnten erst ab den 1950er Jahren erscheinen.48

45 Vgl. u. a. Nüket Esen: Menfa: Self-Reflection in Ahmet Mithat’s Memoirs after Exile. In: Akyıldız u. a. (Hrsg.): Autobiographical Themes in Turkish Literature, S. 101–105. Zur Entstehung und Entwicklung autobiographischer Praktiken im Osmanischen Reich vgl. insbes. den Beitrag von Lukas Kieser in diesem Band. 46 Bernard Lewis: First-Person Narrative in the Middle East. In: Martin Kramer (Hrsg.): Middle Eastern Lives: The Practice of Biography and Self-Narrative, Syracuse. New York 1991, S. 20–34; Murat Hanilçe: II . Meşrutiyet Dönemi’ne Dair Hatırat Bibliyografyası Denemesi [Versuch einer Memoirenbibliographie der II. Verfassungsperiode]. In: Bilig: Türk Dünyası Sosyal Bilimler Dergisi [Bilig: Zeitschrift der Sozialwissenschaften der türkischen Welt] 147 (2008), S. 147–166; Benjamin Fortna: Education and Autobiography at the End of the Ottoman Empire. In: Die Welt des Islams 41 (2001), S. 1–31. 47 İbrahim Olgun: Anı Kaynakçası [Memoirenbibliographie]. In: Türk Dili: Dil ve Edebiyat Dergisi [Türkische Sprache: Zeitschrift für Sprache und Literatur] 25/246 (1972), S. 662– 682. 48 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Murat Kaya in diesem Band.

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Aufbau und Inhalt des Bandes Nicht nur angesichts der Größe und Diversität der hier betrachteten Imperien versteht es sich von selbst, dass die in diesem Band vorgestellten Fallstudien zur autobiographischen Praxis im Russländischen, Habsburger- und Osmanischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert nur eine erste Annäherung an ein breites und äußerst vielschichtiges Forschungsfeld bieten können. Ziel unseres Buches ist es zum einen, einen heuristischen und konzeptionellen Rahmen für die Nutzung autobiographischer Quellen in der historischen Imperien-Forschung zu entwerfen. Neben der vorgeschlagenen Perspektivierung der Autorinnen und Autoren von Selbstzeugnissen als imperial subjects und der Ausrichtung des Blicks auf das Feld der autobiographischen Praxis (anstatt auf das enger gefasste autobiographische Schreiben und den autobiographischen Text) erscheint uns insbesondere der von Volker Depkat vertretene Ansatz fruchtbar, autobiographische Quellen als „Akte sozialer Kommunikation“ zu begreifen und zu interpretieren. Die Grundlinien dieses Konzepts und die daraus abzuleitenden methodischen Schlussfolgerungen, die bereits oben benannt wurden, legt Depkat in seinem Beitrag im ersten Kapitel unseres Buches dar. Der zweite Abschnitt des Bandes ist einer Bestandsaufnahme der historischen Entwicklung autobiographischer (und biographischer) Praxis in den drei untersuchten Imperien gewidmet. In ihrem Beitrag analysiert Nora Mengel zwei monumentale biographische Lexika-Projekte aus der Spätphase der Habsburgermonarchie (Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, 1856–1891) bzw. des Russländischen Reiches (Russkij Biografičeskij Slovar’, 1896–1918). Das Schreiben (Sammeln und Publizieren) von Biographien war in den untersuchten Ländern eng mit Erscheinungsformen autobiographischer Praxis verwoben.49 So können die von Mengel untersuchten Lexika-Projekte einerseits als Ausdruck eines bestimmten imperialen Selbstverständnisses ihrer Autoren bzw. Herausgeber (Constantin von Wurzbach-Tannenberg und Aleksandr Aleksandrovič Polovcov) gelesen werden. Mengel liest deren Werke als „Werkstätten imperialer Narrative“, die mit ihren „historischen Legendenbildungen zur Bekräftigung der jeweiligen imperialen Ordnungen“ beigetragen haben. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass einzelne der hier vereinten Lebensgeschichten von Leserinnen und Lesern auch im Sinne imperialer „Musterbiographien“ rezipiert und von Autorinnen und Autoren autobiographischer Texte auf entsprechende Selbstbilder bezogen wurden bzw. werden konnten. 49 Die Verschränkung biographischen Schreibens und autobiographischer Praxis wird auch am Beitrag von Carla Cordin in diesem Band deutlich.

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Die Entstehungsbedingungen und die Entwicklung autobiographischer Praxis im Osmanischen Reich, Russländischen Reich und in der Habsburgermonarchie beleuchten Hans-Lukas Kieser, Denis Sdvižkov und Waltraud Heindl in ihren als Überblicksdarstellungen angelegten Beiträgen. – Den grundlegenden Zusammenhang von Erschütterungen des Imperiums auf der einen und Boom autobiographischen Schreibens auf der anderen Seite sieht Kieser im osmanischen Fall in der verschärften Krise des Reiches nach dem Berliner Kongress und fortschreitenden ethnoreligiösen Nationsbildungen in den europäischen Territorien des Reiches auf dem Balkan begründet. Bis in den Ersten Weltkrieg und zur Staatsgründung der modernen Türkei begann damit eine Phase, die Kieser unter dem Schlagwort des „Kataklysmus“ des Osmanischen Reiches zusammenfasst. Er richtet den Blick dabei insbesondere auf autobiographisches Schreiben unter Jungtürken sowie bei Armeniern und Kurden – und damit auf die autobiographische Praxis sowohl von Vertretern der imperialen Elite als auch von Untertanen, die besonders vom Wandel imperialer Herrschaft betroffen waren. Die autobiographischen Texte der drei Gruppen stuft Kieser dabei als Dokumente ein, die sowohl die Bedürfnisse neuer individueller und kollektiver Selbstbeschreibungen in Zeiten des Umbruchs belegen als auch helfen, die Entwicklungen, die zum Untergang des Osmanischen Reiches führten, besser zu verstehen. Sdvižkov konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Geschichte der russischen Autobiographik im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dabei diagnostiziert er eine Gleichzeitigkeit von historisch-politischem Wandel in diesem Zeitraum einerseits und eine Auffächerung russischer Autobiographik andererseits. War das 18. Jahrhundert hinsichtlich der Traditionen und Leitbilder autobiographischen Schreibens das Zeitalter der „Diener“ und „Krieger“ des expandierenden Imperiums, so läuteten die Napoleonischen Kriege die Ära des „Verteidigers des (zunehmend national gefassten) Vaterlandes“ ein. Autobiographische Praktiken der Jahrhundertmitte zeigen dabei, wie das Imperium als Lebens- und Karriereraum eine wichtige Orientierungsfunktion behielt. Transimperiale Grenzgänger und Russen, die sich an der Peripherie des expandierenden Reiches zu Trägern einer russischen mission civilizatrice bzw. zu hybriden „Kaukasiern“ oder „Turkestanern“ stilisierten, liefern dafür anschauliche Beispiele. Diesen Identifikationen mit dem Imperium steht in der Autobiographik der 1830er bis 1860er Jahre der neue Typus des „Opponenten“ aus der intelligencija gegenüber, der seine Identität aus der Auseinandersetzung mit dem Reich bzw. der Abgrenzung vom System der Autokratie gewinnt. Im Aufsatz von Heindl steht die autobiographische Praxis hochrangiger Beamter der k. u. k. Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt, die sich in verschiedenen Textgattungen manifestiert hat. Auffallend ist dabei, dass

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insbesondere hochgestellte Beamte autobiographische Texte geschrieben haben. Tagebücher führten die Funktionsträger eher selten und wenn, dann in einem nüchternen Stil, der eher das Weltgeschehen dokumentiert, nicht jedoch einen sich selbst reflektierenden Autor und Protagonisten zu erkennen gibt.50 Die private Briefkorrespondenz der Beamten war demgegenüber erstrangig auf private Angelegenheiten fixiert. Zahlreiche Staatsdiener haben schließlich Memoiren und Autobiographien hinterlassen, die sie nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst verfassten. In ihnen lässt sich eine an bürokratisch-imperialen Idealen ausgerichtete Selbststilisierung der Autoren zu loyalen und zuverlässigen Dienern des Reiches beobachten. Die Autobiographien schufen nicht nur eine kollektive Erinnerungskultur von Beamten für Beamte, gleichzeitig hat das hier festgeschriebene Bild des selbstlosen und loyalen Habsburgischen Staatsdieners auch mythische Vorstellungen von den Kohäsionskräften der Donaumonarchie in der Historiographie und der postimperialen Belletristik nachhaltig beeinflusst. Die Beiträge der dritten Sektion des Bandes thematisieren Ich-Entwürfe von Vertretern imperialer Funktionseliten im Spannungsfeld zwischen der Tradition des Dienstes (für Kaiser und Sultan) und dem Aufkommen neuer professioneller Gruppen und Expertenkulturen, wie jene der Juristen. – Ulrich Schmid geht in seinem Text der subjektbildenden Kraft des Imperiums und dem Wandel autobiographischer Praxis im späten Zarenreich nach. Dabei werden die aristokratische Dienstbiographie sowie autobiographische Texte analysiert, die in der Tradition der religiösen Beichte zu verorten sind. In zahlreichen Fällen kann Schmid eine konstituierende Wirkung des Imperiums auf Ich-Entwürfe in den vorgestellten Selbstzeugnissen nachweisen, sei es in der Kopplung der eigenen Biographie an die Beschreibung einer Dienstkarriere, in der expliziten Bezugnahme auf den jeweils regierenden Zaren und die Politik und Expansion des Reiches oder in der bewussten Abgrenzung vom Imperium als Reich des „Irdischen“ oder Verkörperung des politischen Gegners (wie z. B. in den Texten der radikalen intelligencija). Nicht zuletzt, so Schmid, speiste sich das wachsende Interesse an der Persönlichkeit (ličnost’) in Russland im 19. Jahrhundert aus der Erfahrung eines umfassenden sozio-kulturellen Wandels sowie politischer Krisen des Imperiums, wie der Niederlage im Krimkrieg (1856) oder der Ermordung Alexanders II. (1881). Das Feld autobiographischer Praxis im späten Zarenreich in seiner „imperialen Dimension“, das Sdvižkov und Schmid in ihren Beiträgen überblicksartig kartieren, wird durch konkrete Fallstudien von Carla Cordin und Peter Holquist ergänzt. In beiden Fällen stehen Akteure im Mittelpunkt, die ihr eigenes Leben 50 Hier zeigen sich interessante Parallelen zum Typus des „bürokratischen Tagebuchs“, das Peter Holquist in seinem Beitrag zum Russländischen Reich beleuchtet.

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explizit als Dienst am Imperium verstanden. Während sich Cordin in ihrem Beitrag mit der Gruppe liberaler russischer Juristen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und deren Selbstbild befasst, fokussiert Holquist auf das Genre des „bürokratischen Tagebuchs“, in dem Minister, Diplomaten und Völkerrechtler sich (und der Nachwelt) Zeugnis von ihrem Leben und den eigenen „Verdiensten“ ablegten. – Im Mittelpunkt des Beitrags von Cordin stehen die Juristen Anatolij F. Koni, Konstantin K. Arsen’ev und Aleksandr I. Urusov, die eine Reihe autobiographischer Skizzen und biographischer Portraits von Berufskollegen hinterlassen haben. Der identitätsstiftende Referenzpunkt der Autoren war – sowohl in biographischer als auch in sozialer Hinsicht (als Berufsgruppe) – die Justizreform Alexanders II. von 1864. Als liberale Juristen fühlten sich die drei Autoren in den folgenden Jahrzehnten berufen, die Errungenschaften der Reform gegen konservative und reaktionäre Strömungen zu verteidigen. Cordin lotet in ihrem Beitrag das Erkenntnispotential autobiographischer und biographischer Quellen ihrer Protagonisten für die Imperienforschung aus und geht der Frage nach Anlässen und Motivationen für das Schreiben entsprechender Texte nach. Nicht nur die eigene Erfahrung politischer und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse wird hier als wichtiges Moment benannt. Gleichzeitig, so Cordin, müssten autobiographische Texte als Form der „Interessensvertretung zum Schreibzeitpunkt“ gelesen werden. Nicht zuletzt dienten die hier untersuchten Quellen ihren Verfassern auch dazu, sich der Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe mit einer bestimmten politischen und gesellschaftlichen Mission zu versichern, diese in der politischen Landschaft des Imperiums zu verorten und die eigenen Vorstellungen von der Entwicklung des Reiches mittels dieser Texte einer lesenden Öffentlichkeit zu kommunizieren. Peter Holquist analysiert in seinem Beitrag das „bürokratische Tagebuch (bureaucratic diary)“ als spezifische Gattung autobiographischen Schreibens in Russland im späten 19. Jahrhundert. Anders als die Vorläufer des „romantischen“ Tagebuchs zeichnen sich die hier vorgestellten Journale hochrangiger Staatsdiener (Fedor F. Martens, Dmitrij A. Miljutin, Petr A. Valuev) durch eine beinahe vollständige Abwesenheit privater Themen und den Verzicht auf eine Reflexion über das eigene Ich aus. Dagegen stehen Karriere, Dienstbiographie und eigene Leistung im Zentrum des Berichts. Selbstzeugnisse dieser Art, so Holquist, seien weniger als Ausdruck eines psychologischen Selbstgesprächs zu verstehen, sondern vielmehr als Zeugnisse der Selbststilisierung für eine lesende Nachwelt, d. h. als Akte sozialer Kommunikation. Dieser sollte das Bild des engagierten, selbstlosen Staatsdieners vermittelt werden, der seine Karriere allein seinen Leistungen zu verdanken habe. – Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu dem von Waltraud Heindl untersuchten Quellenmaterial aus der Habsburgermonarchie. – Schon zu Lebzeiten ließ z. B. der Jurist Fedor Martens eigene autobiographische Texte

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unter einigen seiner Kollegen zirkulieren. Nach seinem Tod übergab seine Familie seine Tagebücher dem Archiv des Außenministeriums. Beides berechtigt zu der Annahme, dass er seine Tagebücher mit Blick auf ein späteres Publikum schrieb. Ähnliches lässt sich über die Schreibintentionen des Militärreformers und Kriegsministers Miljutin und des Innenministers Valuev sagen. Barbara Henning zeigt in ihrem Beitrag, dass das Bild des dem Imperium verpflichteten Staatsdieners auch im Osmanischen Reich autobiographisches Schreiben leiten konnte. Der Protagonist ihres Textes ist Mehmed Salih Bedirhan, Vertreter einer prominenten osmanisch-kurdischen Adelsfamilie. Als niederer Verwaltungsbeamter diente er in verschiedenen Provinzen des Osmanischen Reiches (vor allem in Syrien), seine Lebenswelt, sein Lebensweg aber auch sein Selbstbild und seine persönlichen Ziele waren dadurch klar imperial geprägt. Mehmed Salih verfasste (vermutlich zwischen 1909 und 1915) eine Reihe autobiographischer Texte in osmanischer Sprache. Allgemeine Ausführungen über aktuelle Politik und tagebuchartige Notizen prägen seine Aufzeichnungen gleichermaßen. Dadurch entziehen sie sich einer eindeutigen Zuordnung zu einem Textgenre. Sich selbst bezeichnet Mehmed Salih dabei als leidenschaftlichen Osmanen. Sein Lebensziel, qua Bildung zu einem hohen Verwaltungsbeamten aufzusteigen, wurde jedoch von den Plänen seiner patriarchalisch orientierten Großfamilie und der kollektiven Bestrafung seiner Sippe nach einem Attentat auf den Bürgermeister von Istanbul im Jahr 1906 vereitelt. Die autobiographischen Aufzeichnungen Mehmed Salihs tragen einen auffallend privaten Charakter, der darauf hindeutet, dass sie für eine Leserschaft im engeren Familienkreis geschrieben wurden. In den 1990er Jahren wurden die Texte indes mit dem Ziel veröffentlicht, einem historischen Narrativ der kurdischen Nationalbewegung zu dienen. Wie die Beiträge des vierten Kapitels zeigen, lässt sich das Wechselverhältnis von imperialer Karriere (imperial life) und imperialem Selbstbild auch an zahlreichen Beispielen aus der Habsburgermonarchie und dem Russländischen Reich zeigen. Der Fokus der hier zusammengestellten Beiträge ist auf die Frage nach der Bedeutung persönlicher Erfahrungen an der Peripherie der Vielvölkerreiche für die Ausprägung imperialer Ich-Entwürfe gerichtet.51 – Marija Đjokić eröffnet die Sektion mit einer Abhandlung über Đorđe Stratimirović, der in der Revolution von 1848/49 als Kommandant der serbischen Armee in Erscheinung trat. In der Armee des Habsburgerreiches sollte er den Rang eines Generalmajors einnehmen. Auch diente er dem Kaiser später als Diplomat. 1865 und 1869 wurde er als 51 Zur Bedeutung der Kategorien „Zentrum“ und „Peripherie“ in der vergleichenden Imperienforschung vgl. u. a. Münkler: Imperien, S. 27–29, 40–50; Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 615f.

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serbischer Vertreter in das ungarische Parlament gewählt. 1894, nach dem Ende seiner Karriere, schrieb Stratimirović seine Lebenserinnerungen in serbischer Sprache, die sein Sohn 1913 publizierte. 1903/04 verfasste er eine deutschsprachige Autobiographie, die seine Tochter 1911 in Wien herausgab. Das offenkundige Ziel, das Stratimirović mit der Niederschrift seiner Memoiren verband, bestand darin, sich sowohl gegenüber der serbischen Nation als auch der habsburgischen Reichsregierung als jeweils loyaler Diener darzustellen. Der Magyarisierung in Ungarn und dem Führungsanspruch der Deutsch-Österreicher in der cisleithanischen Reichshälfte setzte er ein imperiales Staatskonzept entgegen, das an die Selbstinszenierung Franz Josephs I. als imperialer Schutzherr aller Nationen des Reiches anknüpfte. Hatte Stratimirović in früheren Briefkorrespondenzen vor allem mit serbischen Adressaten durchaus kritische Töne über die Herrschaft der Habsburger angeschlagen, so richtete er seine Erinnerungsschriften nach einem Modell aus, in dem serbische Nation und Habsburgerreich in keinem Konflikt standen und sich Loyalitäten gegenüber Nation und Kaiser miteinander vereinbaren ließen. Auf der Grundlage von 189 Briefen, die Nikolaj F. Petrovskij zwischen 1870 und 1895 in seiner Funktion als Beamter des Generalgouvernements Turkestan bzw. als russländischer Konsul aus dem chinesischen Kaschgar schrieb, analysiert Matthias Golbeck in seinem Beitrag Selbstbeschreibungen eines russischen Staatsdieners, der sich zugleich als lokaler Experte und als wissenschaftlicher Amateur der Orientalistik verstand. In Petrovskijs Briefen rekonstruiert Golbeck das Selbstbild eines engagierten Beamten, der seine Loyalität nicht zuletzt durch zahlreiche Initiativ-Vorschläge für die Verbesserung administrativer Abläufe unter Beweis stellen wollte. Gleichzeitig unternahm Petrovskij als wissenschaftlicher Amateur auf dem Gebiet der Orientalistik eigene Erkundigungen, unterstützte Forschungsreisende, unterhielt Kontakte zu führenden Spezialisten und brachte eigene Publikationen auf den Weg. Es war seine imperiale Karriere, seine Aufenthalte in Turkestan und Kaschgar, die Petrovskijs spezifisches Selbstverständnis im Spannungsfeld von imperialem Dienst und Engagement für die neue Wissenschaftsdisziplin ermöglichten. Ähnlich wie die Tagebucheinträge von Martens, Miljutin und Valuev (vgl. Beitrag von Peter Holquist) ist auch Petrovskijs Briefkorrespondenz von einem privat-öffentlichen Doppelcharakter gekennzeichnet. Auch in diesen Texten geht es einerseits um die Konstruktion des Selbstbildes eines schreibenden imperial subject, andererseits um die Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Struktur des Vielvölkerreiches in der Hochzeit des Imperialismus. Texte dreier Ethnographen, des Verwaltungsbeamten und Statistikers Carl Freiherr von Czoernig, des Historikers und Volkskundlers Raimund Friedrich Kaindl sowie von Franz Baron Nopcsa analysiert Christian Marchetti in seinem

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Beitrag. Dabei fragt er nach Formen der Selbstbeschreibung seiner Protagonisten als Experten für das „Fremde“ an den Peripherien des Habsburgerreiches und als Repräsentanten der noch jungen Wissenschaftsdisziplin der Ethnographie, deren Grenzen zur Tätigkeit in der Staatsverwaltung und zu anderen akademischen Fächern noch fließend waren. Anders als Kaindl und Nopsca, die ihre autobiographischen Texte erst nach der Auflösung der Donaumonarchie 1918 verfassten, schrieb Czoernig seinen Lebensbericht, in dem er bürokratische Ideale und ethnographische Kenntnis der Vielfalt des Reiches in seiner Person zusammendenkt, noch zu Zeiten des Habsburgerreiches. In ihrer Unterschiedlichkeit illustrieren die hier untersuchten autobiographischen Texte zum einen das Spektrum von Selbstentwürfen und Selbstverortungen von Repräsentanten der jungen Wissenschaftsdisziplin der Ethnographie – vom statistisch versierten Idealbeamten (Czoernig), über den innovativen Wissenschaftspionier (Kaindl) bis hin zum reisenden Abenteurer (Nopsca). Zum anderen werden die Peripherien des Vielvölkerreiches als Laboratorien für spezifische Identitätsentwürfe imperialer Experten plastisch greifbar. Die fünfte Sektion des Bandes leuchtet imperiale und transimperiale Kommunikationsräume autobiographischer Praxis in den drei untersuchten Vielvölkerreichen exemplarisch aus. Die Entstehungsbedingungen, Adressatenkreise und Bezugssysteme autobiographischer Texte in den drei hier betrachteten Vielvölkerreichen waren schließlich nicht allein und nicht zwangsläufig imperial gesetzt. Zum einen ist hier auf das Spannungsverhältnis zwischen imperialer und nationaler Selbstverortung in den Vielvölkerreichen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hinzuweisen. Zum anderen begründeten auf mehrere Imperien verteilte nationale oder konfessionelle Kommunikationsgemeinschaften wie z. B. die der Polen, Armenier oder Juden eigene Felder individueller und kollektiver Selbstverortung, wie die Beiträge von Alexis Hofmeister, Jens Herlth und Elke Hartmann zeigen. – Hofmeister geht in seiner Betrachtung Gemeinsamkeiten jüdischer Autobiographik in einem transimperialen Vergleich nach. Autobiographische Texte aus den drei betrachteten Reichen konnten entweder die eigene Familie, eine (transimperiale) jüdische Gemeinschaft und eine nichtjüdische (gesamt)imperiale Öffentlichkeit adressieren, wobei sich das schreibende Ich häufig als Vorbild für seine Leserschaft stilisierte. Dabei konnte sowohl an Vorbilder autobiographischer jüdischer als auch nichtjüdischer Tradition angeknüpft werden. Auffallend ist dabei, wie stark jüdische autobiographische Praktiken von Bildungsidealen der Aufklärung und zeitgenössischen Fortschrittsnarrativen geprägt waren. Nicht zuletzt stellte sich für jüdische Autoren die Frage nach der Wahl der zu verwendenden Sprache. Autoren, die sich der im 19. Jahrhundert kanonisierten Literatursprachen des Jiddischen, Ladino und Hebräischen bedienten, wandten sich primär an eine jüdische Leserschaft, wohingegen

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auf Deutsch, Französisch oder Russisch verfasste Texte Brücken zu imperialen bzw. transimperialen Öffentlichkeiten schlugen. Die Umbruchserfahrungen sozioökonomischer Modernisierung und ein zunehmender Antisemitismus markieren in vielen Fällen gleichermaßen Schreibanlass wie auch Gegenstand dokumentierter Lebens- und Zeiterfahrung. Die 1900 in Lemberg erschienen Memoiren des polnischen Gutsbesitzers Tadeusz Bobrowski stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Jens Herlth. Sie liefern wertvolle Einsichten sowohl in die Lebenswelt des polnischen Adels in den ukrainischen Regionen des Zarenreiches, die Bobrowskis Lebensmittelpunkt waren, als auch in dessen autobiographische Praxis. Für Sprengstoff in der polnischen Rezeption der Memoiren sorgten Bobrowskis Kritik am polnischen Januaraufstand von 1863 sowie seine Idealvorstellung eines polnisch-russischen modus vivendi im Zarenreich. Bobrowski bedauerte den Verlust politischer Handlungsmöglichkeiten im Zarenreich nach der national-polnischen Erhebung. Er adressierte seine Memoiren an ein (transimperiales) polnisches Publikum auch jenseits der Grenzen des Zarenreiches. Bobrowski begriff dabei seine Autobiographie als Ort der Rekapitulation (verpasster) Möglichkeiten sowohl in der eigenen Biographie als auch in der jüngeren polnischen Geschichte. Gleichzeitig dienten sie ihm als Mittel zur Rechtfertigung eigenen Handelns und der politischen Selbstverortung zwischen polnischer bzw. ukrainischer nationaler Bewegung auf der einen und Kräften des Ausgleichs mit dem imperialen Zentrum auf der anderen Seite. Besonders anschaulich lässt sich an diesem Material zeigen, in welchem Maße autobiographische Texte als Arenen zur Aushandlung individueller und kollektiver Handlungsoptionen in einer Zeit des tiefgreifenden politischen Wandels imperialer Strukturen (hier: in der Zeit des aufkommenden Nationalismus) genutzt werden konnten.52 Der letzte Abschnitt des Bandes versammelt drei Beiträge, die sich der Frage autobiographischen Schreibens nach dem Untergang und Zerfall der Imperien widmen. Hier wird besonders deutlich, welche Rolle dem Schreibzeitpunkt für die Entstehung des entsprechenden autobiographischen Zeugnisses zukommt, d. h. in diesen Fällen, in welchem Maße das Wissen um den Untergang der alten imperialen Ordnung nach 1917/1918/1923 Niederschlag in Selbstbildern und Lebensgeschichten von imperial subjects gefunden hat.

52 Hier böte sich der systematische Vergleich mit autobiographischen Praktiken anderer politischer Gruppen bzw. Erinnerungskollektive im Zarenreich nach 1905, wie z. B. jene der terroristischen Bewegung an. Vgl. hierzu z. B. Hoogeboom: Vera Figner and Revolutionary Autobiographies.

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Die Autobiographik und Publizistik der Jungtürken steht im Mittelpunkt des Textes von Murat Kaya, der seine Quellen vor allem für die Analyse des Weltbildes dieser politischen Gruppierung, bzw. dessen historischer Genese nutzt. Dabei wird deutlich, wie seit dem späten 19. Jahrhundert die doppelte Defensive des Osmanischen Reiches gegenüber den Imperien Europas und den sezessionistischen Nationsbildungen im europäischen Teil des Imperiums in Weltsicht, Publizistik und Selbstzeugnissen der Jungtürken einen antiwestlichen Bias begründete. – Die armenische Autobiographik, die im Mittelpunkt des Beitrages von Elke Hartmann steht, konservierte demgegenüber die Erinnerung an transimperiale armenische Lebenswelten (in Russland, dem Osmanischen Reich und Persien), die der Genozid von 1915 unwiederbringlich zerstörte. Hartmann beleuchtet unterschiedliche Gattungen osmanisch-armenischer Textproduktion, vor allem jedoch sogenannte „Erinnerungsbücher“, die nach Völkermord und Erstem Weltkrieg entstanden und denen eine zentrale Rolle bei der Schaffung einer (post-imperialen) armenischen Erinnerungsgemeinschaft zukam. Die autobiographische Textproduktion russischer Adliger, die von der Oktoberrevolution verschont, später jedoch zu Opfern des Stalinismus wurden und die Franziska Thun-Hohenstein in ihrem Beitrag analysiert, ist markant von der Epochenschwelle des Jahres 1917 geprägt. Einerseits werden in den analysierten Texten von Oleg Volkov, Kirill Golicyn und Evfrosinija Kersnovskaja in nostalgischer Rückschau imperiale Initiationsmomente und die untergegangene Welt der Kindheit im späten Zarenreich aufgerufen. Dabei erscheint das Jahr 1917 sowohl als Epochenbruch als auch als Wendepunkt der eigenen Biographie. Idealisierend wird die Vorstellung eines adligen Ethos betont, in dem Sorge um die Familie und Engagement für das Imperium Hand in Hand gingen. In diesen Erinnerungstexten aus sowjetischer Zeit kommt dem Privaten neben dem Dienst für das Imperium ein viel höherer Stellenwert zu als z. B. in den von Holquist analysierten „bürokratischen Tagebüchern“ aus der vorrevolutionären Zeit. Die von Thun-Hohenstein analysierten Quellen imaginieren nicht nur die Vergangenheit als „exterritorialen Raum“. Gleichzeitig lassen sich die traditionellen autobiographischen Mustern verpflichteten Texte auch als Kontrapunkt zum sowjetischen Narrativ von der nötigen Überwindung verkommener zarischer Verhältnisse und das vorgestellte „Ich“ als Gegenfigur zum verordneten „Wir“ begreifen.

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Vom Nutzen der Autobiographie-Forschung für die Imperiengeschichte Wie kaum anders zu erwarten, waren autobiographische Praktiken in den hier untersuchten Kontinentalreichen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von ähnlichen Faktoren gekennzeichnet, die die historische Autobiographie-Forschung bereits am Beispiel anderer sozialer Kommunikationsräume analysiert und beschrieben hat. Dies gilt z. B. für die Vielfalt individueller Schreibanlässe, die Bedeutung autobiographischer Praxis als Akt sozialer Kommunikation, die intertextuelle Verwobenheit autobiographischer Texte mit zeitgenössischen Identitätsdiskursen und die fließenden Grenzen zwischen autobiographischem und biographischem Schreiben. Wie die hier zusammengestellten Beiträge auch zeigen, war autobiographisches Schreiben alles andere als ein Refugium des modernen „westlichen“ Subjekts. Formen der Ich-Konstitution und des self-fashioning im autobiographischen Akt waren vielmehr Phänomene, die gesellschaftliche Kommunikation bis an die Peripherien der transkontinentalen Imperien prägte und dabei auch Vertreter nicht europäischer Erinnerungsgemeinschaften erfasste. Auch im Russländischen, Habsburgischen und Osmanischen Reich hatte sich autobiographisches und biographisches Schreiben und Publizieren im 19. Jahrhundert als ein wichtiges Forum für die Aushandlung von Selbstbildern in einer Zeit fundamentalen sozioökonomischen und politischen Wandels etabliert. Die Verknüpfung der eigenen Lebensgeschichte mit der sozialen und politischen Ordnung des Imperiums bzw. der vom Selbstentwurf abgeleitete Anspruch, einen gewichtigen Beitrag zur Deutung der Vergangenheit und Zukunft der polyethnischen Großreiche leisten zu können, machen autobiographische Praktiken dabei zu einem faszinierenden Untersuchungsgegenstand der Imperiengeschichte. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise deutlich, in welchem Maße Zäsuren auf der politischen Ebene als Initialmomente autobiographischen Schreibens und Publizierens wirken konnten. Dies zeigt, wie die Höhen und Tiefen imperialer Herrschaft mit Wellen autobiographischer Praxis imperialer Subjekte korrespondierten. Die Frage, welche historischen Momente und Entwicklungen von den Autoren und Autorinnen autobiographischer Texte als relevant für die eigene Lebensgeschichte wahrgenommen und beschrieben wurden, lässt dabei wertvolle Rückschlüsse auf individuelle und kollektive Deutungsmuster historischer Prozesse innerhalb der Imperien zu. Bilder des eigenen Ich und Bilder des Imperiums waren dabei häufig aufeinander bezogen und miteinander verflochten. Nicht selten leitete sich vom eigenen Selbstbild auch der Anspruch ab, mit dem eigenen Erbe auch die Zukunft der sozialen und politischen Ordnung des Imperiums prägen zu können.

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Der Erkenntnisgewinn, der sich aus der Analyse autobiographischer Praktiken für die Imperienforschung ableiten lässt, kann abschließend nochmals exemplarisch mit Blick auf Selbstzeugnisse neuer Berufs- und Expertengruppen sowie auf die Bedeutung transimperialer Öffentlichkeiten als Adressaten autobiographischen Schreibens verdeutlicht werden. In beiden Fällen ist die für die Dynastien überlebenswichtige Frage nach der Loyalität ihrer Eliten und Untertanen berührt. Wie stark sich imperial subjects – seien es Vertreter neuer Funktionseliten (wie z. B. Juristen oder Ethnographen) oder Mitglieder einer transimperialen Kommunikationsgemeinschaft (wie die der Juden, Polen oder Armenier) – als Untertanen des Kaisers oder Sultans fühlten oder das eigene Ich in andere Kollektive politischer Vergemeinschaftung einschrieben, lässt sich anhand von Selbstzeugnissen studieren. Autobiographische und biographische Quellen zeigen, ob und in welchem Maße imperiale Identifikationsangebote aufgegriffen wurden. Dabei gab es unterschiedliche Motive, imperiale Deutungsangebote in einen entsprechenden Ich-Entwurf zu integrieren: der loyale Dienst für die Dynastie; die Identifikation mit der Expansion und dem notwendigen Erhalt des Reiches; das Selbstverständnis eines Beamten, kulturelle und politische Vielfalt „korrekt“ administrieren zu können; die Identifikation mit dem Projekt einer imperialen mission civilizatrice oder schlicht der Glaube an die Überlegenheit der imperialen Ordnung gegenüber konkurrierenden Modellen (z. B. nationaler oder konfessioneller Orientierung). Aus Selbstzeugnissen erhalten wir Aufschluss über die Rezeption und Internalisierung imperialer Identifikationsangebote, deren Produktionsgeschichte (scenarios of power) in der historischen Imperienforschung lange Zeit im Zentrum des Interesses stand. Dass solche Identifikationsangebote dabei nicht zwangsläufig in Konkurrenz zu anderen Formen der Vergemeinschaftung stehen mussten, sondern durchaus komplementären Charakter haben konnten, zeigen zahlreiche der hier vorgestellten Beiträge anschaulich. Die Frage der Internalisierung und Aneignung imperialer Identifikationsangebote ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite zeigen die hier vorgestellten Analysen, wie sich Vertreter imperialer Funktionseliten das Imperium im autobiographischen (und biographischen Akt) aneigneten und dabei klare Ansprüche auf die Deutung und Definition seiner Zukunft erhoben. Die hier behandelten Projekte biographischer Lexika im Russländischen und Habsburger Reich, die rechtsstaatliche Vision russischer Juristen, Ratschläge selbstbewusster Ethnographen und Bürokraten für Politik und Administration, die sich aus beruflich oder lokal erworbenem Wissen speisten – all diese Formen des individuellen Eingreifens in imperiale Deutungsdiskurse zeigen, dass die Imperien im späten 19. Jahrhundert nicht mehr als der alleinige Besitz oder die individuelle Verfügungsmasse der jeweiligen Herrscherdynastien betrachtet wurden, sondern sich

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hier Formen imperialer Identifikation und Vergemeinschaftung zeigten, die von den ancien régimes kaum länger ignoriert werden konnten. Hier wird die anthropologische Dimension imperialer Herrschaft offenkundig: Zum Machterhalt genügte es nicht mehr – wie in den vormodernen Reichen – die höfische Elite und lokale Kooperationseliten in die Herrschaft einzubinden. Die Analyse autobiographischer Praktiken in den hier untersuchten Reichen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert macht deutlich, dass das „vormoderne“ Projekt „Imperium“ auch in der Moderne durchaus gesellschaftsfähig sein konnte, schließlich setzten sich zahllose Personen in ihren Selbstzeugnissen zu diesem deutlich in Bezug. Damit korrespondierte jedoch auch ein Stück (imaginierter) Souveränitätsgewinn der imperial subjects, die in zunehmendem Maße Anspruch auf Mitsprache in der Frage erhoben, was das Imperium sei und wie sich seine Zukunft gestalte. Wie eingangs erwähnt, kann der vorliegende Sammelband nur eine erste Schneise in das weite Forschungsfeld „Autobiographische Praxis und Imperienforschung“ schlagen. Ansatzpunkte für zukünftige Arbeiten, die an den hier vorgestellten Ergebnissen anknüpfen, bieten sich zahlreiche, so z. B.: (1) der systematische Vergleich autobiographischer Praktiken unterschiedlicher sozialer Gruppen unter besonderer Berücksichtigung von Selbstzeugnissen von Frauen und von Vertretern nicht privilegierter sozialer Schichten, (2) die Ausweitung des Vergleichs über die drei hier betrachteten Kontinentalreiche hinaus, (3) eine empirisch fundierte Analyse von Schreibaufrufen autobiographischer Texte, (4) Archivierungspraktiken, die – auch nach dem Untergang der Reiche – auf die Bewahrung und Erkundung der Vielfalt der Imperien zielten, (5) die stärkere Berücksichtigung nicht textueller Formen des (imperialen) self-fashioning (z. B. im Medium der Portraitphotographie) sowie (6) die Untersuchung von Transkulturalität autobiographischer Praxis in den vielsprachigen und multireligiösen Vielvölkerreichen. – Die Erforschung autobiographischer Praktiken in imperialen Kontexten hat also erst begonnen.

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Doing Identity: Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation* 1. Auto/Biographieforschung im Zeichen des cultural turn Nach langen Jahren der Vernachlässigung erfreuen sich Biographie und Autobiographie gegenwärtig eines besonderen Booms in den historischen Wissenschaften.1 Nachdem das Interesse des allgemeinen Lesepublikums an den Lebensgeschichten historischer Akteure ohnehin zu keinem Zeitpunkt erloschen war, wendet sich nun auch eine kulturell gewendete Geschichtswissenschaft seit etwa den 1990er Jahren wieder verstärkt dem ehemals klassischen Feld der Biographie- und Autobiographieforschung zu. Bekanntlich geht es in der Kulturgeschichte, so unterschiedlich die Ansätze, theoretischen Bezugsrahmen und methodischen Verfahren im Einzelnen auch * 1

Ich danke Katharina Matuschek für die Mithilfe bei diesem Aufsatz. Zur neuen Biographieforschung: Thomas Etzemüller: Biographien. Lesen – Erforschen – Erzählen. Frankfurt 2012; Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009; Jo Burr Margadant (Hrsg.): The New Biography. Performing Feminity in Nineteenth-Century France. Berkeley, CA 2000; Lloyd E. Ambrosius (Hrsg.): Writing Biography. Historians and their Craft. Lincoln, NE 2004; Peter France/ William St. Clair (Hrsg.): Mapping Lives. The Uses of Biography. Oxford 2002; Bernhard Fetz/Hannes Schweiger (Hrsg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin 2009; Wilhelm Hemecker (Hrsg.): Die Biographie. Beiträge zu ihrer Geschichte. Berlin 2009; Bernhard Fetz/Wilhelm Hemecker (Hrsg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar. Berlin 2011. Zur neuen Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft: Dagmar Günther: „And now for something completely different.“ Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 25–61; Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 441–476; Ders.: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. München 2007; Ders.: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23 (2010), S. 170–187; Jeremy D. Popkin: History, Historians, and Autobiography. Chicago 2005. Sidonie Smith/Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis 22010.

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sind, darum, zu erforschen, wie sich soziale Gruppen die Welt, in der sie lebten, als sinnvoll erklärten, wie sie Perspektiven auf sie organisierten, wie sie sich ihr gegenüber orientierten und welche Handlungsmuster in diese kulturellen Sinnsysteme eingeschrieben waren.2 Damit einher geht ein neues Interesse an Agency, das das Verhältnis von Individuum und Struktur insofern dynamisiert hat, als es anerkennt, dass Individuen und Gruppen die soziale Welt, in der sie leben, durch ihr Agieren und Handeln immer auch ein Stück weit mit hervorbringen und verändern. Historische Individuen wachsen in eine durch Institutionen, Strukturen und Normen bestimmte soziale Welt hinein, doch stehen sie ihr nicht gegenüber, sondern in ihr, „als einer immer schon symbolisch gedeuteten Welt“.3 Gesellschaft ist demnach sowohl objektive Struktur als auch Imagination ihrer Teilnehmer.4 Im Kontext dieser neuen Kulturgeschichte haben Autobiographie und Biographie deshalb eine neue Bedeutung bekommen, weil sie zum einen unmittelbar in Prozesse kultureller Sinnstiftung hineinführen und weil sie zum anderen als kulturelle Praxis Aufschluss über das Agieren historischer Akteure in Zeit und Raum versprechen. Sowohl Biographie als auch Autobiographie sind höchst komplexe kulturelle Phänomene. Unter Biographie soll hier die Erforschung und narrative Darstellung des Lebens einer Person durch einen Dritten verstanden werden, der als Beobachter das gelebte Leben eines anderen forschend versteht und beschreibend rekonstruiert.5 Demgegenüber bezeichnet Autobiographie hier die retrospektive Beschreibung eines Lebens durch denjenigen, der dieses Leben gelebt hat.6 Während die autobiographische Selbstbeschreibung somit ein Akt von ich- und 2 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 42010; Peter Burke: What is Cultural History? Cambridge 2004; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt 5 2008; Rudolf Vierhaus: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung. In: Hartmut Lehmann (Hrsg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Göttingen 1995, S. 7–28; Hans-Ulrich Wehler: Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998. 3 Vierhaus: Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 14. 4 Prägend für das Konzept der „imagined community“: Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983. 5 Etzemüller: Biographien, S. 16–24; Michaela Holdenried: Biographie vs. Autobiographie. In: Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie, S. 37–43; Smith/Watson, Reading Autobiography, S. 5–9. 6 Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. 1. Band. Das Altertum. 1. Hälfte. Frankfurt 31949, S. 7; Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975, S. 14; Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 19–24; Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart 22005, S. 5–10; Smith/Watson: Reading Autobiography, S. 1–5.

Doing Identity: Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation

weltbezogener Sinnstiftung im Kontext kultureller Sinn- und Wissenssysteme ist, ist Biographie eine historische Methode, die eine bestimmte Perspektive zur Deutung der Vergangenheit eröffnet – „a prism of history“, wie Barbara Tuchman das genannt hat.7 Biographie und Autobiographie sind zwei Dimensionen der Historiographie, die bislang strikt voneinander geschieden wurden. Während Biographie demnach eine Form der Erforschung der Vergangenheit darstellt, die untrennbar an eine akteurszentrierte Geschichtssicht gekoppelt ist, ist Autobiographie als klassische Quelle der Geschichtswissenschaft bedeutsam, die zusammen mit Briefen, Tagebüchern und anderen Selbstzeugnissen im Unterschied zu Akten und Urkunden die Gattung der persönlichen Quellen bildet.8 Diese strikte Trennung zwischen Biographie und Autobiographie verdeckt freilich, dass beide Formen des life writing auf hoch komplexe Weise miteinander verschränkt sind. Bei beiden handelt es sich um hybride Gattungen auf der Grenze von Fakt und Fiktion, beide sind Phänomene kultureller Praxis und zudem ungeheuer populär. In epistemologischer Hinsicht stellt sich zudem die Frage, wie unabhängig der Biograph als Deuter eines anderen Lebens tatsächlich von den autobiographischen Selbstdeutungen seines biographischen Subjekts ist, zumal es für viele biographische Fakten und Informationen überhaupt nur autobiographische Quellen gibt.9 Auch die Frage nach den persönlichen Motiven des Biographen für eine Auseinandersetzung mit dem Leben einer bestimmten historischen Person wäre zu stellen, verweist sie doch auf den autobiographischen Ort 7 Barbara Tuchman: Biography as a Prism of History. In: Marc Pachter (Hrsg.): Telling Lives. The Biographer’s Art. Washington, D.C. 1979, S. 132–147. 8 Ernst Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. 5.–6. Aufl., Leipzig 1908. Keine der neueren Einführungen in das Studium der Geschichtswissenschaft geht über den damals erreichten Reflexionsstand hinaus. Ahasver von Brandt/ Franz Fuchs: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Mit Literaturnachträgen Von Franz Fuchs. Stuttgart 182012, S. 48–64; Erwin Faber/Immanuel Geiss: Arbeitsbuch zum Geschichtsstudium. Einführung in die Praxis wissenschaftlicher Arbeit. Wiesbaden 31996, S. 84–87; Ernst Opgenoorth/Günther Schulz: Einführung in das Studium der neueren Geschichte. Paderborn 72010, S. 49–129; Jörg Engelbrecht: Autobiographien, Memoiren. In: Bernd A. Rusinek/Volker Ackermann/ Jörg Engelbrecht (Hrsg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit. Paderborn 1992, S. 61–79; Klaus Arnold: Der wissenschaftliche Umgang mit den Quellen. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 32007, S. 48–65. Vgl. auch: Winfried Baumgart (Hrsg.): Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart. CD-Rom. Darmstadt 2005. 9 Vgl. Holdenried: Biographie vs. Autobiographie; William St. Clair: The Biographer as Archaeologist. In: France/St. Clair (Hrsg.): Mapping Lives, S. 219–234.

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einer bestimmten Biographie. Warum und wann entschließt sich ein Biograph dazu, das Leben eines anderen zu erforschen und darzustellen? Und warum nun gerade dieses Leben? Biographen sind kaum jemals wirklich die distanzierten Beobachter, die sie zu sein vorgeben, sondern haben ein persönliches Interesse an der Person, mit deren Leben sie sich forschend auseinandersetzen. Dabei haben sie stets ihr eigenes gelebtes Leben als Kriterium des Vergleichs und der Bewertung.10 Im Lichte dieser komplexen Verflechtung erscheinen Autobiographie und Biographie als zwei verschiedene und doch aufeinander bezogene Formen kultureller Sinnstiftung und sozialer Selbstbeschreibung, durch die allein soziale Gruppen sich selbst erreichen können.11 In diesem Zusammenhang werden zwei Kategorien, die das Zusammenspannen von Biographie und Autobiographie erlauben, zentral, erstens die der sozialen Kommunikation, zweitens die der Identität. Mit sozialer Kommunikation ist hier die Gesamtheit der öffentlichen kommunikativen Prozesse gemeint, durch die sich soziale Gruppen über sich selbst und ihren Ort in der Welt verständigen, durch die sie definieren, wer sie sind und wer sie sein wollen, wer zu ihnen gehört und wer nicht, was sie gut finden und was nicht.12 Das macht soziale Kommunikation zu einer zentralen Kategorie kulturhistorischer Forschung, denn die orientierungsgebenden Sinn- und Vorstellungswelten einer Gesellschaft gründen in Kommunikation. Sie sind als soziale Tatsachen nicht einfach irgendwie da und gegeben, sondern werden in hochgradig kontroversen, konfliktgeladenen Prozessen sozialer Kommunikation definiert und im Lichte erfahrenen historischen Wandels immer wieder neu ausgehandelt. In der Kulturgeschichte geht es um Deutungskämpfe und Kämpfe um Deutungshoheit, um die Gültigkeit von Wertideen und Sinnsystemen und um deren Infragestellung durch alternative Deutungen, um soziale Selbstbeschreibungen und um die Instrumentalisierung von Wertideen für partikulare Interessen einzelner Gruppen in sozialen Machtkämpfen. All diese Konstruktion, Infragestellung und Transformation von handlungsprägenden kulturellen Sinnsystemen vollzieht sich in und durch soziale Kommunikation. Vor diesem Hintergrund lassen sich sowohl Autobiographie als auch Biographie als Akte sozialer Kommunikation begreifen und damit als

10 Christian Klein: Editorial. In: Non Fiktion 8, 1 (2013), S. 7–11, hier S. 8. 11 Zum Konzept der Selbstbeschreibung vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt 1999, S. 866–1149. 12 Zur sozialen Kommunikation: Volker Depkat: Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte sozialer Kommunikation. Versuch einer konzeptionellen Klärung. In: Karl-Heinz Spieß (Hrsg.): Medien der Kommunikation im Mittelalter. Stuttgart 2003, S. 9–48.

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historische (kommunikative) Ereignisse, die in Kategorien von Ursache und Wirkung analysiert werden können. Neben sozialer Kommunikation bildet Identität die zweite Kategorie kulturhistorischer Forschung, die für unseren Zusammenhang wichtig ist, obwohl der Begriff in den einschlägigen Kompendien zur Kulturgeschichte nicht auftaucht.13 Der vorliegende Beitrag basiert auf einem wissenssoziologischen Konzept von Identität als dem sozialen Ort, aus dem heraus Gesellschaft wahrgenommen und interpretiert wird und der die Orientierung ihr gegenüber definiert. Identität als ein „bestimmte[r] Platz in der Welt“ ist mithin stets in einer dialektischen Spannung von „Identifizierung durch Andere und Selbstidentifikation“ angesiedelt; sie ist einerseits „objektiv als Ort in einer bestimmten Welt gegeben“, kann aber andererseits „subjektiv nur zusammen mit dieser Welt erworben werden.“14 Damit ist Identität stets ein integraler Bestandteil von umfassenderen gesellschaftlich konstruierten Sinn- und Wissenssystemen. Als solche bildet sie einen „Schlüssel zur subjektiven Wirklichkeit“, die „in dialektischer Beziehung zur Gesellschaft [steht]. Sie wird in gesellschaftlichen Prozessen geformt. Ist sie erst einmal geformt, so wird sie wiederum durch gesellschaftliche Beziehungen bewahrt, verändert oder sogar neu geformt.“15 Unter wissenssoziologischer Perspektive ist Identität demnach das Ergebnis von gesellschaftlichen Konstruktions- und Aushandlungsprozessen. Deshalb ist sie weder als essentialistisch noch als statisch aufzufassen, sondern vielmehr als fluide, komplex geschichtet und eingebettet in sich wandelnde biographisch-historische Kontexte. Identität ist mithin immer auch das Ergebnis von Entscheidung und Agency. Ungeachtet aller gesellschaftlichen Bedingtheit von Identität entscheiden sich Individuen und Gruppen für eine Identität. Sie wollen gerne jemand sein, wählen aus den vorhandenen Identitätsangeboten aus, kreieren neue und verhalten sich entsprechend. In wissenssoziologischer Hinsicht ist dem Sozialen mithin stets eine doppelte Realität zu eigen, nämlich einerseits die sich in Institutionen, Verfahren und Strukturen manifestierende objektive Wirklichkeit, andererseits die ganz eigene Realität der subjektiven Imaginationen der Teilnehmer an Gesellschaft über Gesellschaft. Identität ist deshalb keine soziale Tatsache, kein Ding an sich, kein historisches Faktum, sondern ein aus Prozessen

13 Zum komplexen Problem der Identität hier nur: Paul du Gay/Jessica Evans/Peter Redman (Hrsg.): Identity. A Reader. London 2000; Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Identität. München 1979. 14 Alle Belege: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt 1980, S. 142–143. 15 Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit, S. 185.

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von Selbst- und Fremdbeschreibung sowie Selbst- und Fremdbeobachtung hervorgehende Konstruktion, die einerseits maßgeblich in Erzählung gründet, die andererseits aber auch an Performanz gebunden ist. Bereits in den späten fünfziger Jahren hat Erving Goffman argumentiert, dass Identität im Kern dramaturgisch strukturiert sei; sie basiere auf der Performanz von Rollen vor einem immer schon mitgedachten Publikum.16 Im Kontext einer solchen wissenssoziologisch informierten Kulturgeschichte lassen sich Biographie und Autobiographie als Akte, Medien und Gegenstand sozialer Kommunikation begreifen, durch die Individuen, Gruppen und ganze Gesellschaften sich in hoch komplexen Prozessen von Selbst- und Fremdbeschreibung in Raum und Zeit verorten, um so ihre Identität zu definieren. Dabei folgen Autobiographie und Biographie einer jeweils anderen kommunikativen, narrativen und epistemologischen Dynamik, weshalb es geboten erscheint, die Unterschiede von Autobiographie und Biographie als Akte sozialer Kommunikation nun doch näher in den Blick zu nehmen.

2. Autobiographie zwischen Text und Quelle Autobiographie ist ein hybrides Genre zwischen literarischem Text und historischem Dokument, das sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Literaturwissenschaft ein eher problematisches Phänomen am Rande des Fachs bildet.17 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht fügt es sich nicht so recht in die durch die Großformen von Epik, Lyrik und Dramatik definierte Gattungslehre. Darüber hinaus hat die Vielgestaltigkeit der Texte, die unter den Begriff Autobiographie zu fassen wären, bislang eine allgemein anerkannte Definition des Genres verhindert, zumal der gegenwärtig diskutierte Begriff des life writing zu einer abermaligen Ausweitung des Gegenstandsbereichs geführt hat.18 Am ehesten noch erweist sich die von Philippe Lejeune vorgelegte Definition von Autobiographie als konsensfähig, der Autobiographie definiert als „[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personalité.“19 Diese Definition von Autobiographie als einer retrospektiven Erzählung in Prosa über ein gelebtes 16 Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959; Ders.: Strategic Interaction. Philadelphia 1969. 17 Zu Autobiographie als Gattung siehe oben die in Fußnoten 6 und 1 zitierte Literatur. 18 Smith/Watson: Reading Autobiography, S. 1–5; Holdenried: Autobiographie, S. 19–24. 19 Lejeune: Le pacte autobiographique, S. 14.

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Leben, die auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Autors fokussiert ist, ist bei Lejeune gekoppelt an die Idee eines autobiographischen Paktes zwischen dem Autobiographen und dem Leser, der nahelegt, dass es sich bei Autobiographien um eine bestimmte Form referentieller Texte handelt, die auf eine bestimmte Art gelesen werden wollen und auch so gelesen werden. Dieser virtuelle Vertrag verpflichtet den Autor, seine eigene Lebensgeschichte oder Teile derselben so zu erzählen, wie sie sich tatsächlich ereignet hat. Ein Text, der als Autobiographie daherkommt, will also eine Selbstbeschreibung mit Wahrheitsanspruch sein, und der Autor der Autobiographie, der demnach identisch ist mit dem Erzähler und dem Protagonisten der Erzählung, unternimmt im Text vieles, um diesen Wahrheitsanspruch zu fundieren: Er verweist auf Quellen oder zitiert aus ihnen, verortet seine Erzählung so genau wie möglich in Zeit und Raum, oder legt mit Portraitfoto und Unterschrift auf dem Titelblatt den Nachweis seiner Existenz ab.20 Das Publikum ratifiziert diesen Pakt, indem es den autobiographischen Text tatsächlich als eine Lebenserzählung mit Wahrheitsanspruch liest, in ihm also einen Text erkennt, der auf etwas außerhalb des Textes verweist, nämlich auf das tatsächlich gelebte Leben des Autobiographen. So gesehen besteht die besondere kommunikative Dynamik von Autobiographie als literarischer Form in der besonderen Nähe zwischen Autor und Erzähler einerseits sowie der von Erzähler und Protagonisten andererseits. Für Historiker sind autobiographische Texte Quelle, also aus der Vergangenheit überliefertes Material, aus dem sie Erkenntnisse über eben diese Vergangenheit ziehen.21 Sie lesen autobiographische Texte mithin im Durchgriff auf eine hinter ihnen stehende, außertextuelle Wirklichkeit, um historische Fakten aus ihnen zu gewinnen, also jene Phänomene, die sich unabhängig aller subjektiven Deutung als Tatsachen feststellen lassen. Dabei begegnen die an historischer Faktizität interessierten Historiker den in der ersten Person abgefassten autobiographischen Quellen traditionell mit großer Skepsis. Für G. Kitson Clark, Autor einer vielbenutzten Einführung in das Studium der Geschichte, sind sie gar „the least convincing of all personal records“,22 und der deutsche Historiker Winfried Baumgart, Herausgeber der jüngsten und zugleich umfassendsten Quellenkunde der Neuzeit, fordert, autobiographischem Quellenmaterial von vornherein mit

20 Carsten Heinze: Der paratextuelle Aufbau der Autobiographie. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 20 (2007), S. 19–39; Depkat: Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 65–127. 21 Zum Begriff der Quelle und der darauf gestützten Quellenkunde siehe die in Fußnote 8 zitierte Literatur. 22 G. Kitson Clark: The Critical Historian. London 1967, S. 67.

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einem hohen Maß an professionellem Misstrauen zu begegnen.23 Dabei erscheinen Autobiographien vor allem deshalb als problematisches Quellenmaterial, weil sie im Wissen um später Geschehenes verfasst und von Rechtfertigungsverlangen oder narzisstischer Eitelkeit getrieben sind, wobei sie insgesamt nur eine eher begrenzte Perspektive haben. Das, was potentiell die größte Stärke autobiographischen Materials ist, nämlich der Zugang zur Sicht eines individuellen historischen Akteurs auf die Geschehnisse und Erfahrungen seiner Zeit, ist zugleich auch dessen größte Schwäche: Der Autobiographien lesende Historiker ist der spezifischen Perspektive eines Einzelnen ausgeliefert, und damit auch dessen Darstellungsinteressen und Wertideen, Urteilen und Vorurteilen, die die Schilderung vergangenen Geschehens entscheidend bestimmen. Eine interesselose, wertfreie und objektive Darstellung der Vergangenheit kann man in Autobiographien deshalb nicht erwarten.24 Aufgrund dieser schwerwiegenden quellenkritischen Probleme haben sich Historiker im Allgemeinen mit autobiographischem Quellenmaterial eher schwer getan und ihnen kaum mehr als eine Komplementärfunktion zu den vermeintlich zuverlässigeren Quellenbeständen der Akten und Urkunden zugesprochen. Deshalb erfüllen Autobiographien in der historischen Forschung oft nicht viel mehr als die Funktion eines Steinbruchs, aus dem diejenigen historischen Fakteninformationen herausgebrochen werden, die sonst nirgends überliefert sind. Darüber hinaus hat das auf historische Faktizität gerichtete Erkenntnisinteresse der Historiker im Umgang mit autobiographischem Material einen Effekt, der in epistemologischer Hinsicht weitreichende Folgen hat: Die Person des Autobiographen, seine Persönlichkeit, sein Charakter und seine Gedankenwelt gerinnen in dieser Art des fragenden Umgangs mit autobiographischem Material oft selbst zu einem unverrückten historischen Faktum. Insgesamt also begegnen Historiker hochkomplexen und hybriden Texten, wie Autobiographien es sind, oft mit einem eher naiven Realismus, der keinen Sinn hat für die textuelle Verfasstheit eines jeweiligen Lebensberichts, der auf historische Prozesse zugreift, nicht aber auf die Selbstvergewisserung von Individuen und Gruppen im historischen Prozess, der die in Autobiographien vorfindlichen 23 Winfried Baumgart (Hrsg.): Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871–1918). Zweiter Teil. Persönliche Quellen. CD-Rom [Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit, 5, 2]. Darmstadt 2005, S. 2. 24 Detaillierter zur Quellenproblematik der Autobiographie: Volker Depkat: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung. In: Thomas Rathmann/Nikolaus Wegmann (Hrsg.): „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Berlin 2004, S. 102–117.

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Identitätskonzepte tendenziell essentialisiert und sie nicht als kontextgebundene, in Erzählung gründende Konstrukte begreift. Gerade diese Aspekte von Autobiographie müssten aber im Zeichen einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft im besonderen Maße interessieren, so dass ich hier die These vertreten möchte, dass Historiker Autobiographien als Texte lesen müssen, um sie als Quellen für kulturwissenschaftliche Fragestellungen nutzen zu können. Für ein solches Vorhaben bietet sich ein text- und kommunikationspragmatischer Zugriff an, der Autobiographien als Akte sozialer Kommunikation liest.25 Einen solchen Zugriff auf autobiographisches Material zu verfolgen bedeutet grundsätzlich, das Was der autobiographischen Kommunikation in Abhängigkeit von deren Wann, Wie und Warum zu analysieren.26 Ein text- und kommunikationspragmatischer Ansatz begreift Autobiographie einerseits als einen narrativen Entwurf von Identität und zugleich als einen performativen Akt. Diese Performativität von Autobiographie hat zwei Aspekte, und zwar zum einen die narrative Performanz des Autobiographen, der als Erzähler unter Verwendung konkreter sprachlicher Mittel und narrativer Verfahren vergangene Wirklichkeiten durch Erzählung deutet und (re-)konstruiert. Zum anderen aber ist Autobiographie als soziale Praxis selbst ein performativer Akt, der in verschiedenen kulturellen Kontexten jeweils eigene Formen, Funktionen und Logiken hat. Jeder autobiographische Akt ist mithin stets in einem biographisch-historischen, politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontext angesiedelt, in dem er ziemlich genau identifizierbare kommunikative Funktionen übernimmt. Historische Annäherungen an Autobiographien sollten deshalb vor aller Lektüre des Textes den außertextuellen historisch-biographischen Kontext des autobiographischen Aktes zu rekonstruieren versuchen. In diesem Zusammenhang werden dann Schreibanlässe interessant, denn sie definieren den biographischen Ort der Autobiographie und bilden zugleich die Brücke vom Text zum Kontext. In der Rekonstruktion

25 Das Folgende ist ausführlicher entwickelt in: Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. Allgemein zu einer kommunikations- und textpragmatisch erneuerten Quellenkunde: Volker Depkat: Plädoyer für eine kommunikationspragmatische Erneuerung der Quellenkunde. In: Patrick Merziger u. a. (Hrsg.): Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2010, S. 205–221. 26 Dies ist der grundsätzliche Ansatz in Depkat: Lebenswenden und Zeitenwenden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt: Christiane Lahusen: Zukunft am Ende. Autobiographische Sinnstiftungen von DDR-Geisteswissenschaftlern nach 1989. Bielefeld 2014. Zum Zusammenhang von Umbruchserfahrung und Autobiographie vgl. auch: Heinz-Peter Preusser/ Helmut Schmitz (Hrsg.): Autografie und historische Krisenerfahrung. Heidelberg 2010.

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der Schreibanlässe werden Historiker auch auf anderes Quellenmaterial zurückgreifen müssen, aber das sind sie ja gewöhnt. In einem zweiten Schritt wäre dann zu fragen, welche Entwürfe von Identität in einer Autobiographie narrativ konstruiert werden, mit Hilfe welcher sprachlichen Mittel und erzählerischer Verfahren dies geschieht und wie sich der Autobiograph schreibend in Raum und Zeit selbst verortet. Denn dies scheint mir die spezifische Leistung von Autobiographie als Instrument und Medium kultureller Sinnstiftung zu sein: Bei ihnen handelt es sich um narrative Texte, die einerseits eine räumlich und zeitlich strukturierte Welt im Prozess der Erzählung entstehen lassen und ein historisches Ich darin verorten, und die andererseits durch Erzählung eine Perspektive auf die biographisch durchmessene Zeit organisieren, aus der heraus ebendiese Zeit ausgedeutet wird. Es geht in ihnen also gleichermaßen um die Deutung von Erfahrung und um die ich-bezogene Sinnstiftung durch Erzählung. Autobiographen berichten von sich selbst und ihrer Zeit, aber auch von sich selbst in der Zeit. Sie reflektieren sich als ein dem Wandel unterworfenes und in soziale Kontexte eingebundenes Ich, bringen das Durcheinander ihres Lebens retrospektiv in eine chronologische Ordnung und gießen es in ein narratives Muster, das das tatsächlich gelebte Leben in den bedeutungsvollen Strukturzusammenhang einer in sich geschlossenen Lebensgeschichte überführt und Identität durch Geschichten präsentiert.27 Dabei sind Autobiographien nur scheinbar die Texte eines Individuums, das über sich selbst und seine Zeit wie auch über sich selbst in der Zeit reflektiert.28 Autobiographien sind ihrer Natur nach durchaus kollektive Texte, und zwar zum einen, weil an ihrer Formulierung tatsächlich oft mehrere Personen beteiligt sind – sei es, weil der Autobiograph Erinnerungen anderer direkt in den eigenen Text integriert, sei es, weil er sich in seiner Autobiographie ausdrücklich mit bereits geschriebenen Autobiographien auseinandersetzt, sei es, weil er die Abfassung von Teilen des Textes anderen Personen überlässt, oder sei es, weil er von anderen Personen und Institutionen überhaupt dazu gebracht wird, seine Autobiographie zu verfassen. Zum anderen aber haben autobiographische Texte auch deshalb eine 27 Insofern ist Autobiographie durchaus eine Manifestation narrativer Identität im Sinne Paul Ricoeurs. Paul Ricoeur: Temps et récit. 3 Bde. Paris 1983–1985. Zum Problem der „Identitätspräsentation durch Geschichten“ in Autobiographie vgl. auch: Odo Marquard: Identität – Autobiographie – Verantwortung. Ein Annäherungsversuch. In: ders./Stierle (Hrsg.): Identität, S. 690–699, hier S. 698. Aus soziologischer Sicht: Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibung. Frankfurt 1995. 28 Das Folgende ist ausführlich entwickelt in: Depkat: Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 65–127 und passim.

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kollektive Dimension, weil die narrativ entworfene Identität des Ichs immer auch im Hinblick auf eine vom Autor imaginierte kollektive Identität entworfen und die individuellen Erfahrungen im Hinblick auf eine von dem Autobiographen angenommene kollektive Erfahrung reflektiert wird. Schließlich sind Autobiographien auch deshalb kollektive Texte, weil sie von ihrem Publikum vielfach auch so gelesen werden, vor allem wenn es sich um Zeitgenossen handelt. Die Leser von Autobiographien hoffen vielfach, einen Teil ihres eigenen Lebens im Leben des Autobiographen wiederzufinden und von ihm auch einen Teil ihres eigenen Lebens erklärt zu bekommen. Deshalb ist die Selbstdeutung des Autobiographen immer kulturell konditioniert, eingelassen in übergreifende Sinnsysteme und bezogen auf sozial akzeptierte, überindividuelle Formen der Lebenserzählungen, die bestimmen, wie man sein Leben erzählen kann und wie man es zu erzählen hat. Insgesamt heißt dies, dass sowohl Ich-Identität und Wir-Identität als auch individuelle und kollektive Geschichtserfahrung durch den autobiographischen Akt in der gleichen schreibenden Bewegung reflektiert und im Akt des Lesens ratifiziert oder infrage gestellt werden. Insgesamt also zielt ein kommunikationspragmatischer Zugang zu Autobiographien darauf zu untersuchen, wann, wie und warum ein historisches Ich sich als ein solches selbst thematisiert, sich also zum „Gegenstand von Darstellung und Kommunikation“ erhebt, und wie sich diese Ich-Entwürfe zu den historisch-biographischen Kontexten verhalten, in dem sie entstanden sind und als kommunikative Akte wirken sollten.29 Im Kontext einer solchen kommunikationspragmatisch ausgerichteten Autobiographieforschung erhalten autobiographische Texte einen neuen Stellenwert als historische Quellen. Sie sind dann nicht mehr nur ein mehr oder weniger zuverlässiger Lieferant von biographischen und historischen Informationen, sondern werden als Ort der erzählerischen Konstruktion von Identität und Wirklichkeit auf einmal zu Quellen, die Auskunft über die Geschichte individueller und kollektiver Sinnstiftungsprozesse in Auseinandersetzung mit historischen Erfahrungen geben. Insgesamt ermöglichen text- und kommunikationspragmatische Ansätze eine Lektüre von autobiographischem Material, das diese als Texte ernst nimmt, ohne dabei die Prämisse von deren Referentialität auf eine äußere historische Wirklichkeit aufzugeben. Allerdings müssen wir dann wohl unseren Begriff von Realität ändern, und zwar dahingehend, dass Texte einer wie auch immer genau definierten äußeren historischen Realität nicht gegenüberstehen 29 Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462–471, Zitat S. 463.

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und sie irgendwie spiegeln oder reproduzieren, sondern dass sie diese historische Realität immer auch ein Stück weit mit hervorbringen, weil historische Realität eben immer schon gedeutete Realität ist.

3. Neue Biographieforschung Biographie ist ein ähnlich komplexes Phänomen wie Autobiographie, doch steht sie der wissenschaftlichen Historiographie ungleich näher als Autobiographie, die zwar stets Quelle, aber nie Erkenntnisinstrument und Methode der Geschichtswissenschaft war.30 In der historistischen Geschichtswissenschaft kam der Biographieforschung eine zentrale Rolle zu. Sie war gewissermaßen die Königsdisziplin, weil sich in ihr, wie Andreas Gestrich treffend feststellt, sowohl das Geschichtsdenken als auch die Methode des Historismus als einer „an handelnden Subjekten ausgerichtete[n] Geschichtsschreibung“ in konzentrierter Weise bündelte.31 Allerdings verlor die Biographieforschung im Zuge der sozialgeschichtlichen Wende, die in den 1960/70er Jahren auf breiter Front einsetzte, ihren alten Glanz komplett und wurde an den Rand des Faches gedrängt. Die Kritik der Sozialgeschichte an der Biographie war fundamental, weil sie sich sowohl gegen ein in handelnden Subjekten ankerndes Geschichtsverständnis als auch gegen die daran geknüpften epistemologischen Grundlagen richtete.32 Die sich als historische Sozialwissenschaft neu ausrichtende Geschichtswissenschaft sah in anonymen Strukturen und Prozessen die eigentlichen Faktoren historischen Wandels, die mittels statistischer Verfahren sichtbar gemacht and analysiert werden konnten. Der Biographieforschung hat diese sozialgeschichtliche Neujustierung 30 Die Literatur zur neuen Biographieforschung ist in Fußnote 1 zitiert. 31 Andreas Gestrich: Einleitung. Sozialhistorische Biographieforschung. In: ders./Peter Knoch/Helga Merkel (Hrsg.): Biographie – sozialgeschichtlich. Göttingen 1988, S. 5. Für das Folgende vgl. insgesamt Volker Depkat: Ein schwieriges Genre. Zum Ort der Biografik in der Arbeitergeschichtsschreibung. In: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 45 (2011), S. 21–35. 32 Hans-Ulrich Wehler: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse. In: Historische Zeitschrift 208 (1969), S. 529–554. Allgemein zum Ort der Sozialgeschichte in der Historiographie: Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. Göttingen 2007, S. 32–59; Ders.: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Wien 1997, S. 400–413; Thomas Kroll: Sozialgeschichte. In: Christoph Cornelißen (Hrsg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt 2000, S. 149–161; Josef Mooser: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Gesellschaftsgeschichte. In: Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs, S. 568–591.

Doing Identity: Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation

der Geschichtswissenschaft nicht gut getan, denn die Privilegierung anonymer Prozesse und überindividueller Strukturen hatte für „eine narrative Darstellung der Personen und Ereignisse, die einen zentralen Platz in der idealistischen Historik des klassischen Historismus einnahmen“, keine Verwendung mehr.33 Folglich hat die theorieverliebte Sozialgeschichte das gesamte Feld der historischen Biographik insgesamt untertheoretisiert gelassen; das Genre blieb bei den großen theoretischen und methodischen Innovationen der sozialgeschichtlichen Wende in den 1960/70er Jahren buchstäblich außen vor. In der Folge verkümmerte die historische Biographik und ragte als Fossil des Historismus noch in eine Gegenwart hinein, in der vor allem jüngere Historiker immer weniger bereit waren, sich theoretisch und praktisch mit diesem Genre zu befassen. Ende der 1980er Jahre stellte Andreas Gestrich deshalb zu Recht fest, dass die „Lage der wissenschaftlichen historischen Biographik […] desolat“ sei.34 Dieser Zustand schwelte bereits seit längerem. Schon 1969 diagnostizierte Hans-Ulrich Wehler in der Historischen Zeitschrift die „Krise der politischen Biographie“ und sah diese in zwei Ursachen begründet, die auf die noch sehr viel größere Krise des Historismus zurückverwiesen.35 Dabei argumentierte Wehler einerseits erfahrungsgeschichtlich, andererseits erkenntnistheoretisch. Er stellte fest, dass die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit seit 1914 „die Gewalt von Sachzwängen in der industriellen Welt, […] kurzum: die Durchschlagskraft von Kollektivphänomenen in einem besonderen Ausmaß erwiesen“ habe.36 Es waren mithin die bis 1969 mit dem 20. Jahrhundert gemachten historischen Erfahrungen, die dem „geradezu dogmatisierten Individualitätsprinzip des deutschen Historismus gewissermaßen den Boden entzogen“ hatten.37 Gleichwohl war die Krise der politischen Biographie nicht nur das Ergebnis des Zerbröckelns historistischer Geschichtsbilder; in ihr manifestierte sich für Wehler auch die epistemologische Krise, in die der Historismus bis 1969 geraten war. Als zweite Ursache machte er nämlich die „Krise des ‚Verstehens‘-Begriffs“ aus, wie „ihn der klassische deutsche Historismus als hermeneutisches Prinzip entwickelt und begründet“ habe. Ob das Verstehen überhaupt den „strengen wissenschaftstheoretischen Ansprüchen weiterhin voll genügen“ könne, werde „namentlich von einigen Sozialwissenschaftlern energisch bezweifelt“, stellte Wehler fest.38 Nach-

33 Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 409. 34 Gestrich: Einleitung. Sozialhistorische Biographieforschung, S. 5. 35 Wehler: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, S. 531. 36 Ebd., S. 532. 37 Ebd. 38 Ebd.

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dem mithin sowohl „die idealistische Individualitätsphilosophie ihre ehemals verbindliche Überzeugungskraft verloren“ habe, als auch „die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der biographischen Geschichtsschreibung brüchig geworden“ seien, mangele es der Biographik, so Wehler, „an einem unbezweifelt sicheren Fundament“. Sie bleibe deshalb „oft in einer positivistischen Stoffbewältigung und narrativen Ereignisgeschichte stecken.“39 Vor dem Hintergrund der von ihm selbst diagnostizierten Krise der politischen Biographik plädierte Wehler entschieden dafür, sich mit den Theorien und Ergebnissen der wissenschaftlichen Psychologie, der Psychoanalyse und der Sozialpsychologie auseinanderzusetzen und diese für historische Untersuchungen nutzbar zu machen.40 In diesem Zusammenhang müssten Sozialhistoriker ihre Erkenntnisanstrengungen vor allem auf Kollektivmentalitäten, Sozialcharaktere oder auch Sozialprofile richten, denn diese Zielrichtung entspreche einer modernen Geschichtswissenschaft, die „ihr Interesse zunehmend der Gesellschaft und Wirtschaft, den Institutionen und Organisationen, Strukturgeschichte und Vergleich zuwendet.“41 Dieser Gewinn dürfe keinesfalls wieder rückgängig gemacht werden, mahnte Wehler und forderte: „[D]ie historische Forschung sollte auf die gesellschaftlichen, überindividuellen […] Einflüsse abzielen, nicht jedoch auf die sog. individuellen Motive hinsteuern.“42 Damit war die Maxime vom Vorrang der Gesellschaft vor dem Individuum in einer sich als historische Sozialwissenschaft verstehenden Geschichtswissenschaft formuliert, die zusammen mit der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaft „jene Sachzwänge oder vorgegebenen Entscheidungssituationen“ bloßlegen wollte, „die zunächst unabhängig vom Einfluß eines führenden Politikers, Großindustriellen usw. entstehen“.43 Dieses Diktum von der gesellschaftlichen Bedingtheit des Individuellen stellte das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, wie es die historistische Tradition konzipiert hatte, buchstäblich auf den Kopf. Fortan standen soziologische Großkategorien im Zentrum der Erkenntnisanstrengung. Es ging um Schichten und Klassen, um soziale Bewegungen und kollektive Mentalitäten. Das hatte den Effekt, dass das Individuum stets nur als Konkretisierung des Kollektiven gesehen wurde, als Träger von kollektiv geteilten Eigenschaften, Einstellungen und Ansichten. Im Ergebnis entstand dadurch ein tiefer Graben zwischen Sozialhistorikern und Biographieforschern, die buchstäblich mit dem Rücken zueinanderstanden. 39 Ebd., S. 536–537. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 548. 42 Ebd., S. 549. 43 Ebd., S. 552.

Doing Identity: Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation

Sie suggerierten sich gegenseitig, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hätte, und vor allem die Sozialgeschichte zog eine scharfe Linie zwischen sich und der historischen Biographik. Bis heute sieht sich die Biographik fundamentaler Kritik ausgesetzt. Pierre Bourdieu hat das Schlagwort von der „biographischen Illusion“ in die Welt gesetzt, und meinte damit, dass Biographien wegen der in ihnen sichtbar werdenden Kohärenz, Folgerichtigkeit und Gerichtetheit „perfekt[e] sozial[e] Artefakt[e]“ seien, die in erster Linie dadurch zustande kämen, dass Individuen die sozial akzeptierten Praktiken und narrativen Muster sozialer Identität auf ihr eigenes, individuelles Leben anwandten.44 Andere sehen in dem Versuch, Leben und Persönlichkeit eines historischen Akteurs beschreibend rekonstruieren zu wollen, ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen, das nur zu zeigen vermöge, wie schwer fassbar historische Akteure, ihre Interessen, Intentionen und Motive tatsächlich seien.45 Wieder andere begreifen Biographie deshalb als ein Ding der Unmöglichkeit, weil sich das tatsächliche Leben einer historischen Person weder aus den zumeist schriftlichen Quellen rekonstruieren lasse, gleich wie umfangreich und detailliert der Nachlass sei, noch in seiner ganzen Komplexität und Ambivalenz zwischen zwei Buchdeckeln beschrieben werden könne.46 Vor allem aber lehnen viele Historiker Biographie weiterhin ab, weil die Beschäftigung mit dem Leben eines Einzelnen nichts wirklich Neues zu unserem Wissen über die Vergangenheit beizutragen vermöge. So hat Stanley Fish im Jahr 1999 bösartig festgestellt, das Genre der Biographie produziere nichts als Nebensächlichkeiten ohne Bedeutung und sei kaum mehr als eine Ansammlung von Zufälligkeiten, die immer wieder nur auf die Kontingenz der menschlichen Existenz, nicht aber auf größere historische Zusammenhänge verwiesen.47 Im Bewusstsein dieser langjährigen Marginalisierung des Genres hat sich seit der Jahrtausendwende eine neue, interdisziplinär ausgerichtete Biographieforschung formiert, die ganz in der Komplexität des Genres im Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft, Literatur und Populärkultur gründet.48 Bereits der Begriff 44 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 3 (1990), S. 75–81, Zitat: S. 80. 45 Peter France/William St. Clair: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Mapping Lives, S. 2. 46 St. Clair: The Biographer as Archeologist; Thomas Etzemüller: Das biographische Paradox – oder: Wann hört eine Biographie auf, eine Biographie zu sein? In: Non Fiktion 8, 1 (2013), S. 89–103; Leonard Cassuto: The Silhouette and the Secret Self. Theorizing Biography in our Times. In: American Quarterly 58 (2006), 1249–1261, hier S. 1253–1254. 47 Stanley Fish: Just Published. Minutiae without Meaning. In: New York Times 7. September 1999, Section A, S. 19. 48 Etzemüller: Biographien, S. 7–15; Klein: Editorial, S. 9.

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Biographie ist alles andere als eindeutig. Er oszilliert zwischen dem tatsächlich gelebten Leben und der narrativen Repräsentation desselben.49 Doch ist nicht nur der Begriff Biographie ambivalent, das literarische Genre Biographie ist darüber hinaus auch noch sehr hybride.50 Es bewegt sich zwischen Fakt und Fiktion, zwischen den Daten eines Lebenslaufs und den literarischen Narrativen zur Verwandlung eines Lebenslaufs in eine Lebensgeschichte, zwischen der quellenbasierten Rekonstruktion und der imaginativen Konstruktion eines gelebten Lebens. Als Erzählung folgen Biographien immer auch eigenen narrativen Mustern und literarischen Konventionen, haben sie ihre eigene Dramaturgie, stehen sie unter ganz eigenen Zwängen von Kohäsion und closure. Der Biograph verwandelt den Lebenslauf eines historischen Akteurs durch Auswahl und Komposition des Stoffes sowie durch die Verwendung von Motiven, Metaphern und Sinnbildern in eine sinnvolle Geschichte, also in einen in sich zentrierten, bedeutungsvollen und transparenten Strukturzusammenhang. Es ist der Biograph, der Anfang und Ende einer Lebensgeschichte definiert, der periodisiert und Wendepunkte identifiziert, der sich für lineare oder nicht-lineare Erzählformen entscheidet, der bestimmt, was er erzählt und was nicht. Bereits 1985 hob Ira Bruce Nadel deshalb zu Recht hervor, dass eine Biographie in erster Linie „a verbal artifact of narrative discourse“ sei, in denen der Biograph als Erzähler unter Verwendung bestimmter narrativer Verfahren, literarischer Stilmittel und thematischer Tropen eine erzählte Welt entstehen lässt.51 Diese ist räumlich und zeitlich strukturiert, und sie wird von einer Reihe von Akteuren bewohnt, die als Protagonisten die Handlung vorantreiben.52 Dies alles rückt die Biographie in die Nähe des Romans. Steht Biographie somit genau auf der Grenze von Historiographie und Literatur, so ist sie auch noch in einer anderen Hinsicht ein hybrides Phänomen, denn sie ist, wie eingangs gezeigt, auch mit Autobiographie komplex verwoben. Schließlich definiert ein letzter Aspekt die Komplexität des Genres Biographie, und zwar die Leser von Biographien. Biographien gelten als eine der letzten Bastionen des referentiellen Schreibens. Sie erheben einen Wahrheitsanspruch und der Leser liest sie in der Erwartung, in ihnen die Lebensgeschichte eines historischen Akteurs so geschildert zu bekommen, wie sie eigentlich gewesen ist. In Analogie zu Philippe 49 Klein: Editorial, S. 8. 50 Zur Textualität von Biographie siehe vor allem: Ira Bruce Nadel: Biography. Fiction, Fact and Form. London 1984, S. 1–12, 151–182. Zur narratologischen Analyse von biographischen Erzählungen: Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie, S. 199–219. 51 Nadel: Biography, S. 8. 52 Zur räumlich-zeitlichen Struktur der erzählten Welt siehe insbesondere Christof Hardmeier: Textwelten der Bibel entdecken. Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel. 2 Bde. Gütersloh 2003–2004.

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Lejeunes Idee eines „autobiographischen Paktes“ lässt sich damit wohl auch von einem biographischen Pakt sprechen, den Autoren und Leser von Biographien miteinander eingehen.53 Insgesamt also beruht die Komplexität von Biographie auf der vielschichtigen und überaus komplexen Beziehung zwischen dem biographischen Subjekt, dem Biographen, seiner Erzählung und den Lesern. In dieser Komplexität schreit das Phänomen Biographie geradezu nach Interdisziplinarität – und die sich formierende neue Biographieforschung ist durch und durch interdisziplinär. Das jüngst von Christian Klein herausgegebene Handbuch Biographie enthält Kapitel zur Biographieforschung in der Geschichtswissenschaft und den Literaturwissenschaften, der Kunstgeschichte und der Musikwissenschaft, der Soziologie und der Politikwissenschaft sowie der Theologie und der Religionswissenschaft. Ferner finden sich Kapitel zur pädagogischen, medizinischen und psychologischen Biographieforschung sowie auch zu den Gender Studies, den Postcolonial Studies und den jüdischen Studien.54 Bei der neuen Biographieforschung handelt es sich deshalb nicht um eine Rückkehr zur traditionellen Biographik historistischer Prägung. Einerseits hat sich das Spektrum biographiewürdiger Personen unter dem Eindruck feministischer, ethnischer und postkolonialer Kritik am traditionell auf große, weiße Männer fokussierten Genre Biographie radikal erweitert.55 Andererseits integriert die neue Biographieforschung gegenwärtig eine breite Vielfalt von Ansätzen aus dem Poststrukturalismus, der Narratologie, der Diskursanalyse sowie auch der Medien- und Kommunikationsgeschichte, die es erlauben, Biographie konzeptionell-theoretisch in neuen Zusammenhängen zu verankern.56 Damit einher geht ein neues Interesse an der Narrativität und Textualität von Biographie.57 Im Ergebnis haben sich Prämissen und epistemologische Grundlagen der Biographieforschung grundlegend gewandelt. Hatte Leon Edel, der führende Biographietheoretiker in den USA, in seinem einflussreichen Buch Writing Lives das Modell einer secret-self-biography entwickelt, die es, stark an Sigmund Freuds 53 Etzemüller: Biographien, S. 128–129. 54 Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie, S. 331–418. 55 Vgl. Shirley A. Leckie: Biography Matters. Why Historians Need Well-Crafted Biographies more than Ever. In: Ambrosius (Hrsg.): Writing Lives, S. 1–26, hier S. 14–20. 56 Jo Burr Margadant: Introduction. Constructing Seves in Historical Perspective. In: dies. (Hrsg.): The New Biography, S. 1–32, hier S. 1–10. 57 Das Handbuch Biographie enthält einen Abschnitt zu zentralen Fragen von sozialer Praxis und Funktionen der Biographik. Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie, S. 45–102. France/ St. Clair stellten ganz besonders die „uses of biography“ ins Zentrum ihres Bandes. Sie gehen vor allem der Frage nach: „What has biography been, what role has it played, in a given social setting?“ Peter France/William St. Clair: Introduction, S. 4.

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Psychoanalyse orientiert, dem Biographen zur Aufgabe machte, das private, versteckte Selbst seines Subjektes freizulegen, um zu zeigen, welcher innere intellektuell-moralische Kern die historische Persönlichkeit in all ihrem Tun zusammenhalte, so fragt die neue Biographieforschung nicht mehr in erster Linie nach der „Figur unter dem Teppich.“58 Die neue Biographieforschung begreift historische Akteure nicht länger als klar identifizierbare, in sich kohärente psycho-physikalische Einheiten, die sich als historische Tatsachen in Kategorien von Ursache und Wirkung analysieren lassen.59 Sie hat damit die Suche nach einem über die Zeiten hinweg stabilen und stets kohärenten Selbst der historischen Person an sich ebenso aufgegeben wie die nach dem einen Lebensthema, das die einzelnen Teile einer Lebensgeschichte in einen bedeutungsvollen Zusammenhang zueinander bringt. Stattdessen macht die neue Biographieforschung die Offenheit, Wandelbarkeit und Fluidität des Selbst einer Person zum Ausgangspunkt ihrer Anstrengung, erkennt die Möglichkeit multipler, komplex geschichteter und kontextabhängiger Identitäten an, begreift autobiographische Selbstbeschreibungen als integralen Bestandteil des Biographischen und zeigt sich insgesamt sehr interessiert an Biographie als sozialer und kultureller Praxis. Kurz, die neue Biographieforschung eröffnet vielfältige Möglichkeiten, auch Biographien als Akte sozialer Kommunikation zu begreifen.

Schluss Der vorliegende Beitrag hat in kritischer Auseinandersetzung mit neueren Forschungsansätzen Biographie und Autobiographie als zwei Genres des life writing identifiziert, die als Akte sozialer Kommunikation eine Funktion im Hinblick auf die soziale Konstruktion von Wirklichkeit erfüllen. Dabei ist deutlich geworden, dass sich die Prämissen, konzeptionellen Grundlagen und auch die historiographischen Erkenntnisinteressen, auf denen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Biographie und Autobiographie beruht, unter dem Eindruck des cultural turn signfikant geändert haben. Drei Aspekte seien an dieser Stelle noch einmal zusammenfassend hervorgehoben.

58 Leon Edel: The Figure under the Carpet. In: Pachter (Hrsg.): Telling Lives, S. 16–34; Ders.: Writing Lives. Principia Biographica. New York 1984. Zu Edel und seinem Ort in der anglo-amerikanischen Biographieforschung siehe Cassuto: The Silhouette and the Secret Self. 59 Zur Kritik an dieser Vorstellung einer in sich kohärenten und sich selbst transparenten Persönlichkeit aus Sicht der neuen Biographieforschung: Margadant: Introduction, S. 7.

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Erstens erscheint es weiterführend, die historische Auseinandersetzung mit life writings in das spannungsgeladene Dreieck von Lebenslauf, Biographie und Autobiographie zu stellen. Diese drei Dimensionen, also die äußeren Daten und Fakten eines Lebensverlaufs, die narrative Interpretation eines gelebten Lebens durch einen forschend-verstehenden Biographen und die Interpretation eines gelebten Lebens durch denjenigen, der dieses Leben gelebt hat, sind einerseits zu trennen und doch andererseits aufeinander zu beziehen. Aus dieser hochkomplexen Dynamik resultiert die Hybridität von Biographie und Autobiographie als Lebenserzählungen auf der Grenze von Fakt und Fiktion. Dieser Komplexität müssen Historiker in ihrer Auseinandersetzung mit Biographie und Autobiographie in einer Weise gerecht werden, die die binäre Opposition von Fakt und Fiktion überwindet. Eine Möglichkeit dies zu tun, bietet zweitens die systematische Analyse von Biographie und Autobiographie als kultureller Praxis in ihren vielfältigen Funktionen und Gebräuchen. Autobiographie und Biographie sind keine ahistorischen Phänomene; sie erfüllten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten jeweils andere Funktionen, und sie standen in jeweils anderen nationalen, regionalen und auch sozialen Traditionen. In diesem Zusammenhang könnte man die Rolle und Bedeutung von Autobiographie und Biographie im Kontext von Erinnerungs- und Identitätspolitik untersuchen, oder deren didaktische Funktion in sozialpädagogischer Absicht erforschen. Einige Autobiographien und Biographien werden geschrieben und gelesen, weil sie eine Lebensgeschichte als exemplarisches Modell eines guten und gelungenen Lebens feiern. Andere hingegen sollen gerade das Gegenteil bewirken, nämlich das Muster eines misslungenen Lebens entwerfen, das dem Publikum zur Warnung dienen soll. Schließlich sollte man auch nicht den Unterhaltungsfaktor von Biographie und Autobiographie unterschätzen. In vielen Fällen geht es in Autobiographien und Biographien ja um interessante, faszinierende, außergewöhnliche Lebensgeschichten, und hier könnten Historiker sich dann fragen, was genau die Geschichte eines einzelnen Lebens zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und für ein bestimmtes soziales Milieu so interessant machte. All dies läuft drittens darauf hinaus, die kommunikative Pragmatik von Autobiographie und Biographie in einem jeweiligen historischen Kontext stärker in den Blick zu nehmen. Ein kommunikationspragmatischer Zugriff auf die beiden Genres des life writing zu verfolgen heißt, das Was und Wie der (auto)biographischen Kommunikation in Abhängigkeit von deren Wann und Warum zu analysieren. Ein solcher kommunikationspragmatischer Zugriff auf Biographie und Autobiographie bietet die Chance, Text und Kontext zueinander in Beziehung zu setzen. Als Akte sozialer Kommunikation sind Biographie und Autobiographie

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mithin sowohl ein Instrument der Selbst- und Weltbeobachtung als auch eine Kategorie der Selbst- und Fremdbeschreibung, durch die Wissens- und Sinnsysteme sozial konstruiert werden.60 In dieser Doppelfunktion sind Biographie und Autobiographie sowohl kulturelle Universalien als auch regionale, historische und soziale Spezifika.

60 Vgl. für das Genre der Biographie: Etzemüller: Biographien, S. 21–22.

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Biographische Lexika-Projekte des 19. Jahrhunderts als Werkstätten imperialer Narrative Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet […].1

Mit dem ausdrücklichen Anspruch auf die Vermittlung von historischer Erkenntnis darf Goethe als ein wichtiger Impulsgeber für den großen Erfolg biographischen Schreibens zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelten. Im seinerzeit nachweislich gestiegenen Interesse am Individuellen erkannte der Dichter hauptsächlich das grundlegende Bedürfnis nach dem Begreifen historischer Zusammenhänge und sozialer Zustände. Am Biographen sei es daher im Besonderen gelegen, das reziproke Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum zu durchschauen und mit Betrachtung des Lebendigen zum Verstehen von Historie beizutragen.2 In Dichtung und Wahrheit wählte Goethe sodann den Akt der Autobiographie für die Darbietung der eigenen inneren Entwicklung und zeichnete diese ferner als am Besten geeignet aus, um mittels des epischen Ichs Geschichte „[…] wirklich bewußt, faßbar und für den Leser empfindungsgemäß nachvollziehbar […]“ 3 zu machen. Autobiographien ließen sich fortan, mit Volker Depkat gesprochen, „[…] als Quellen begreifen, aus denen sich Erkenntnisse darüber gewinnen lassen, wie bereits die jeweiligen Zeitgenossen selbst die eigene Zeit in Geschichte verwandeln.“4 Neben der Autobiographie gewann mit zunehmendem Ausformen einer politischen bürgerlichen Öffentlichkeit und der Weiterentwicklung einer auf Quellenstudium basierenden Historiographie schließlich auch die Biographie immer 1

Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, Erster Theil [1811]. In: ders.: Dichtung und Wahrheit, hrsg. v. Walter Hettche. Stuttgart 2012, S. 9. 2 Vgl. Ursula Wertheim: Zu Problemen von Biographie und Autobiographie in Goethes Ästhetik. In: dies.: Goethe-Studien. Berlin u. a. 1990, S. 81–114. 3 Ebd., S. 99. 4 Volker Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. In: BIOS 2 (2010), S.170–187, hier S. 180.

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mehr an Bedeutung.5 Eine introspektive Sprecherposition, wie sie Goethe forderte, erschien mit dem Appell an eine vermeintlich historisch objektive Wiedergabe des Lebens einer bedeutenden Person und deren Leistungen immer weniger vereinbar. Die hiermit einhergehende stark heroisierende viktorianische Biographik im Sinne Carlyles6 sowie die historisch-kritische Methode7 eines Ranke, Droysen oder Treitschke, sollten alsdann die Tradition festigen, Lebensgeschichte vornehmlich aus der Außensicht zu erzählen.8 Seit Anbeginn fußt das Unterscheiden zwischen Autobiographie und Biographie so gesehen auf dem Streitpunkt, wie sich der Bezug zur Realität, d. h. die unverfälschte Sicht auf vergangenes Geschehen, am Besten herstellen ließe. Dabei beanspruchen beide Formen, in klarer Abgrenzung zum Roman, (historische) Wahrheit abzubilden. Doch obgleich jede das Recht auf Deutungshoheit für sich allein einfordert, schöpfen sie hierfür fortwährend gemeinsam aus einem bestimmten Repertoire der faktualen Erzählung9. Folglich dürfte die literarische Begabung der Verfasser auto- wie biographischer Schriften in Hinblick auf Überzeugungskraft und Aufklärungsgehalt seit jeher relevant gewesen sein: „Der Trennungsstrich zwischen Geschichtsschreibung und Literatur war daher nur ein dünner, da eine solche Art von Geschichtsschreibung ein hohes literarisches Können voraussetzte.“10 Ein Paradebeispiel für jenen schmalen Grat zwischen Literatur und Geschichtsschreibung dürfte Golo Mann mit seinen Biographien über Wallenstein und Friedrich Gentz darstellen. Führt man sich an dieser Stelle die hier zu untersuchenden Sammelbiographien vor Augen, kann man laut Hermann Christern, Herausgeber des Deutschen Biographischen Jahrbuchs (1925–1932), von der Erzählform auf vier ineinander übergreifende Zweckbestimmungen von Biographien schließen. Neben dem wissenschaftlichen, pädagogischen und praktischen Wert spricht Christern 5

Vgl. Christian Klein: Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: ders. (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart 2002, S. 1–22, hier S. 7. 6 Vgl. Thomas Fasbender: Thomas Carlyle: Idealistische Geschichtssicht und visionäres Heldenideal. Würzburg 1989, S. 154–178. 7 Vgl. Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1999, S. 91. 8 Vgl. Franko Schnicke: 19. Jahrhundert. In: Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart u. a. 2009, S. 243–250. 9 Vgl. Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 2005, S. 10. 10 Theodore S. Hamerow: Die Kunst der historischen Biographik in Deutschland von 1871 bis zur Gegenwart. In: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hrsg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und der Autobiographie. Königstein 1982, S. 30–44, hier S. 42.

Biographische Lexika-Projekte des 19. Jahrhunderts als Werkstätten imperialer Narrative

biographischen Lexika gleichfalls die Absicht der Belehrung und Unterhaltung zu.11 Bemerkenswerterweise steht hier Letzteres in keinerlei Widerspruch zum Erstgenannten. Biographische Nachschlagewerke würden ohnehin einen besonderen literarischen Charakter vorweisen, der sich aus der geistigen Haltung ihrer Zeit erkläre, in der das jeweilige Werk erschien, und der sich jedem einzelnen Beitrag mitteile.12 So nimmt also auch Christern an, dass biographische Geschichtsschreibung nicht etwa ausschließlich auf ihren historischen Wert, sondern ebenso auf ihre sprachlichen wie künstlerischen Gestaltungskriterien zu prüfen sei. Bekräftigt wird diese Ansicht dadurch, dass eine Vielzahl von Sammelbiographien, wie Olaf Hähner hervorhebt, zunächst nicht etwa durch professionelle Geschichtsschreiber, sondern vielmehr durch Literaten, berufene Freunde und sogenannte Liebhaber-Historiker getragen worden sei.13 Eine literarische Prämisse ist den Sammelbiographien dementsprechend seit ihrer Begründung inhärent. Eckhart Jander legt mithin dar, dass insbesondere aus zeitgenössischer literaturkritischer Perspektive Biographien häufig einerseits wahr sein, andererseits zu einer Gesamtschau des Menschen gelangen und ein Kunstwerk der Sprache darstellen sollten.14 An sammelbiographischen Werken lässt sich überdies vortrefflich ablesen, dass autobiographische wie biographische Praxis einander stets stark bedingt und gegenseitig befruchtet haben. So konnten biographische Nachschlagewerke in der Regel gar nicht erst ohne das Heranziehen von autobiographischem Quellenmaterial erstellt werden. Hier galt überdies seit dem späten 18. Jahrhundert das Autobiographische als für das Biographische konstitutiv, „[…] so daß Biographie nicht mehr (wie andere Geschichtsschreibung) als Beschreibung und Erklärung äußerer Vorgänge aufgefaßt wurde, sondern als Anwendung von Selbsterkenntnis auf andere Fälle.“15 Folglich dürfte im Umkehrschluss auch für die späteren 11 Vgl. Hermann Christern: Entwicklung und Aufgaben biographischer Sammelwerke. Ein Beitrag zur Geschichte der Historiographie. Berlin 1933, S. 73. Diese Studie erschien als Sonderausgabe aus den Sitzungsberichten der Preussischen Akademie der Wissenschaften der Phil.-Hist. Klasse im Jahre 1933, und enthält daher etliche nationalistische Äußerungen rassistischer Konnotation. Doch wenngleich sie wegen ihres ideologischen Fundaments kritisch gegengelesen werden muss, stellt sie in ihrer Ausführlichkeit und Dichte in Bezug auf die Reflexion über die Funktionen Biographischer Sammelwerke einen Einzelfall dar, der hier nicht unbeachtet bleiben darf. 12 Vgl. ebd., S. 17. 13 Vgl. Hähner: Historische Biographik, S. 136. 14 Vgl. Eckhart Jander: Untersuchungen zu Theorie und Praxis der deutschen historischen Biographie im neunzehnten Jahrhundert. Ist die Biographie eine mögliche Form legitimer Geschichtsschreibung? Freiburg i. Br. 1965, S. 45. 15 Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996, S. 107–110.

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Verfasser autobiographischer Schriften der Rückgriff auf ein elaboriertes biographisches Schreibhandwerk genauso nützlich wie maßgebend gewesen sein.

Biographische Lexika-Projekte des 19. Jahrhunderts im Habsburger und Russischen Reich Nach Jürgen Osterhammel stellt das lange 19. Jahrhundert eine „Epoche organisierter Erinnerung und zugleich gesteigerter Selbstbeobachtung“16 dar. Die sammelnden und ausstellenden Archive, die in diesem Zeitalter errichtet wurden, florieren fortwährend, ohne zwangsläufig an die Zielsetzungen ihres Ursprungs gebunden zu sein. Ihrer Entstehung und Bestimmung lässt sich indes nur unter Einbeziehung des Selbstverständnisses damaliger Akteure und deren Wahrnehmungen von Welt auf die Spur kommen. Die Historiographie hat dies bislang vernachlässigt und insbesondere lexikographische Errungenschaften des 19. Jahrhunderts vorrangig nur als Hilfsmittel genutzt. Es ist insofern längst überfällig, derartige monumentale Speichermedien als Zeugnis einer Selbstreflexion ihrer Initiatoren sowie eines bestimmten vermittelten Wissens zu lesen. Dabei rücken unweigerlich die Inhalte wie auch die Frage nach dem Entstehungskontext und der Intention des jeweiligen Gesamtwerkes in den Fokus der Untersuchung, welche den wesentlichen Bestandteil der diesem Beitrag zugrunde liegenden laufenden Dissertation im Rahmen des Forschungsprojektes Imperial Subjects der Universität Basel und der Ludwig-Maximilians-Universität München darstellt. Forschungsgegenstand sind Das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich (BLKÖ )17 (1856–1891) und der Russkij Biografičeskij Slovar’ (RBS , Russisches Biographisches Lexikon)18 (1896–1918). Durch eine vergleichende Ana16 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2010, S. 26. 17 Bei dem BLKÖ handelt sich um ein vollendetes, alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk in 60 Bänden à 350–550 zweispaltigen Blättern mit insgesamt 24.254 Biographien und 347 Stammtafeln sowie 15 ausführlichen Vorworten. Quellenangaben befinden sich am Ende jeder einzelnen biographischen Skizze. Während jeder Band mit einem allgemeinen Namensregister sowie einem Berufsstand- und Geburtsortsregister abschließt, enthalten die Bände 13 (1865), 31 (1876) und 60 (1891) resümierende statistische Übersichten. Von 1856 bis 1859 (Bde. 1–5) wurde das Lexikon in der Reihe Der große Österreichische Hausschatz in Wien publiziert. Ab 1860 erschien es fortan in der Hof- und Staatsdruckerei in Wien. 18 Der RBS blieb ein unvollendetes, alphabetisch geordnetes Sammelwerk im Umfang von 25 Bänden à 400–850 zweispaltigen Blättern, wodurch es sich auf insgesamt knapp 16.000 Seiten erstreckt. Auch in ihm befinden sich am Ende einer jeden Lebensskizze genaue

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lyse dieser beiden biographischen Großprojekte aus der Habsburgermonarchie und dem Russischen Reich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll im Wesentlichen ergründet werden, ob sich den darin aufgeführten jeweiligen Biographien von maßgeblich namhaften Reichsbewohnern ein spezifisches Gesamtstaatsbewusstsein entnehmen lässt. Dabei gilt es, sich die abzeichnende Legitimationskrise der imperialen Ordnung als Produktionszeitpunkt sowie möglichen Entstehungsanlass genauer vor Augen zu führen. Die Herausarbeitung eines dezidiert imperialen Wesens der Lexika, d. h. einer den Werken immanenten Logik einer imperialen Biographik, soll Aufschluss darüber geben, nach welchem Motiv Lebensgeschichten jener Zeit aufbereitetet wurden. Im Vordergrund steht demnach die Klärung der Frage, ob und inwieweit die besagten Lexika eine je eigene Reichsauffassung repräsentieren und/oder inszenieren sollten. Bestand ihre Funktion eventuell in der Rechtfertigung der bestehenden imperialen Ordnung mittels einer potenzierten Abbildung nahezu idealtypischer Lebensverläufe? Oder fanden in ihnen angesichts der Fülle an diversen einzelnen Lebensgeschichten bereits erste gesellschaftspolitische Abwägungen und Aushandlungen neuer Denkansätze und Handlungsoptionen statt? Inwiefern trugen die Lexika daher nicht nur als bloße Informationsmedien, sondern vielmehr als Integrationsunternehmen zur Legitimierung und Konsolidierung von imperialer Herrschaft bei? Es wird sich zeigen, dass eine Gegenüberstellung der Imperiengeschichte19 Russlands und Österreichs anhand biographischer Großprojekte weitgehend dazu dienen kann, sich die in den jeweiligen Geschichtsregionen ähnelnden wie auch widersprechenden Formen der Selbstkonstruktion zu erschließen. Als tertium comparationis darf dabei die Multikulturalität und die damit unmittelbar verbundene Problematik der Perzeption und Verarbeitung der Vielfalt an Lebenswelten, -erfahrungen, -wandel und -schicksalen gelten, welche beide Reiche sukzessive vor erhebliche Integrationsschwierigkeiten stellten.20

Quellenangaben. Zwar gibt es keine statistischen Übersichten oder Namensregister innerhalb des Lexikons, dafür jedoch einen bereits 1887/88 veröffentlichten Alphabetischen Index mit 52.600 Namen der aufzuführenden Personen. Ein Nachtrag von 8 Bänden wurde erst 1997/98 in Moskau realisiert. Der RBS wurde als Reihe in der IRIO (Imperatorskoe Russkoe Istoričeskoe Obščestvo) unter Schirmherrschaft von Aleksandr III. in unterschiedlichen Sankt Petersburger und Moskauer Verlagshäusern publiziert. 19 Vgl. Martin Aust: Writing the Empire: Russia and the Soviet Union in Twentieth-Century Historiography. In: European Review of History 10 (2003), S. 375–391. 20 Vgl. Jörn Happel/Malte Rolf: Die Durchlässigkeit der Grenze. Einleitende Überlegungen zu Grenzgängern und ihren Lebenswelten in der späten Habsburger- und Romanow-Monarchie. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 397–404.

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Werkstätten imperialer Narrative Seit um 1800 das Genre der Sammelbiographien allmählich zu florieren begann, kann eine potenzierte Verschränkung von Biographie und Geschichte verzeichnet werden.21 Bereits 1747 war in Großbritannien das mehrbändige Projekt der Biographia Britannica von William Oldys in Angriff genommen worden, um ‒ wie es im Untertitel heißt ‒ „the lives of the most eminent persons who have flourished in Great Britain and Ireland“ abzubilden und damit das Primat der großen Einzelnen in der Historie Großbritanniens und Irlands zu betonen.22 Wie schon die Monobiographie waren Biographische Sammelwerke also seit jeher eng mit dem wachsenden Drang zur Erforschung der neueren und neuesten Geschichte verbunden. Der sich damit herauskristallisierenden Symbiose zwischen Individuum und Geschichte spricht Christern gleich zu Beginn seiner Studie einen absoluten Mehrwert zu: Besser als selbständige Biographien und geschichtliche Darstellungen sind biographische Sammelwerke geeignet und berufen, das Verhältnis von individuellem und geschichtlichem Leben zu veranschaulichen, weil sie die einzelne Persönlichkeit nicht isolieren wie die Biographie, auch von ihr nicht nur eine Teilansicht geben wie die geschichtliche Darstellung, sondern sie in ihrem individuellen Wesen schildern und sie zugleich in einen lebendigen Zusammenhang bringen, indem sie den übrigen Biographien gleichgeordnet wird: darin liegt keine Nivellierung des Einzelnen, sondern nur eine Einordnung; in der Fülle der Einzelbiographien spiegelt sich das Allgemeine, zu der jede Biographie ihre besonderen Charakterzüge beiträgt, ohne daß das Individuelle etwas von seiner Eigenart verliert.23

Christern begreift, in Anbetracht der beachtlichen Gesamtzahl von Lebensskizzen, biographische Lexika folglich als adäquateste Wiedergabe eines aus verschiedenen einzelnen Teilen bestehenden historischen Ganzen. Durch die erlesene Zusammenstellung vieler Lebensabrisse lasse sich allgemein wie en detail das Vergangene wie auch Gegenwärtige am besten rekonstruieren und für die Zukunft festhalten. Der Schwerpunkt biographischer Sammelwerke lag zuallererst vorwiegend auf sozial klar abgrenzbaren Kollektiven innerhalb der gegebenen Gesellschaft, wovon 21 Vgl. Hähner: Historische Biographik, S. 75. 22 Vgl. Cornelia Rauh-Kühne: Das Individuum und seine Geschichte. Konjunkturen der Biographik. In: Andreas Wirsching (Hrsg.): Neuste Zeit. Oldenburg. Geschichte. Lehrbuch. München 2006, S. 215–232, hier S. 219. 23 Vgl. Christern: Entwicklung und Aufgaben Biographischer Sammelwerke, S. 3.

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die zahlreichen frühen Gelehrten-, Notabeln- oder Künstlerlexika zeugen.24 Späterhin erweiterte sich der Fokus bis hin zur globalen Dimension. Universalgelehrte der Neuzeit unternahmen den mühevollen Versuch, das stetig anwachsende Wissen über die bedeutungsvollsten Personen der Welt zu klassifizieren und zu organisieren.25 Hierzu zählt als berühmter Pionier die Biographie Universelle ancienne et moderne herausgegeben von Louis-Gabriel und Joseph Fr. Michaud zwischen 1811 und 1828 (erste Ausgabe, 84 Bde.) sowie von Eugène Ernest Desplaces zwischen 1842 und 1865 (zweite Ausgabe, 45 Bde.). Mit Hilfe von dreihundert Mitarbeitern wurde darin die Geschichte jener Menschen skizziert, die bereits auffällig durch Schriften, ihre Handlungen, ihre Talente, ihre Tugenden und überdies auch durch ihre Verbrechen wurden, wie es im Untertitel geschrieben steht. Ihr Erscheinen bot damit zahlreichen anderen Herausgebern und Verlegern eine Steilvorlage, was mitunter im erbitterten Rechtsstreit über Urheberrechte enden konnte, wie der Fall der Nouvelle Biographie Générale (1852–1866, 46 Bde.) von Firmin Didot beweist.26 Der anfänglich auffällig monarchistisch wie antirevolutionär gefärbte und katholisch-konforme Ton einer Mehrzahl an biographischen Beiträgen der Biographie Universelle ancienne et moderne wich nach Zusammenbruch des Napoleonischen Kaiserreiches sukzessive Lebensskizzen unterschiedlichster politischer Couleur. So bemängelte Richard C. Christie seinerzeit: In the volumes which appeared after the fall of the empire (10 et seq.), the violent and unfair party-spirit becomes more and more manifest. On the other hand, in the first nine volumes of the first edition the severe cencorship of the empire would allow nothing but what was in harmony with the Emperor’s views, and several articles, […], seem written with a view of gratifying the personal spite of the Emperor.27

In der Folge gewannen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben derlei politischen wie geographischen, d. h. weltumfassenden, staatlichen oder lokalen, 24 Vgl. Bibliographische Nachweise von Sammelbiographien: Robert B. Slocum: Biographical dictionaries and related works: An international bibliography of more than 16.000 collective biographies, bio-bibliographies, collections of epitaphs, selected genealogical works dictionaries of anonyms and pseudonyms, historical and specialized dictionaries, biographical materials in government manuals, bibliographies of biography, biographical indexes, and selected portrait catalogs. 2 Bde. Detroit 1986. 25 Vgl. Keith Thomas: Changing Conceptions of National Biography. The Oxford DNB in Historical Perspective. Cambridge 2005, S. 4. 26 Vgl. Richard Copley Christie: Biographical Dictionaries. In: The Quarterly Review 157 (1884), S. 187–230, hier S. 206–210. 27 Christie: Biographical Dictionaries, S. 211f.

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auch nationale Kriterien bei der Erstellung von Sammelbiographien zunehmend an Gewicht. Keith Thomas erkennt hernach in seinen Ausführungen zum Oxford Dictionary of National Biography die ersten national ausgerichteten biographischen Nachschlagewerke geradezu als obligatorische Begleiterscheinung des anhebenden Prozesses europäischer Staatenbildung an, da „collected lives of national heroes, along with portraits and statues, were a stock way of forging national identity and generating national pride.“28 Biographische Lexika, die erstmalig explizit einer nationalen Agenda folgten, wie das Biographiskt Lexicon öfver namnkunnige Svenska män (1835–1857, 23 Bde.), das Biographisch woordenbook der Nederlanden (1852–1878, 21 Bde.) oder die Allgemeine Deutsche Biographie (1875–1912, 56 Bde), bildeten den Gegenpart zum universalen Ansatz, indem sie unabhängig gegebener politischer oder staatlicher Grenzen nunmehr den Sprach- und Kulturraum zum primären Kriterium für die Auswahl der jeweils zu beschreibenden Subjekte bestimmten.29 Eine klare Dichotomie zwischen universaler und nationaler Sammelbiographie, wie sie u. a. Keith Thomas in seinem historischen Abriss zeichnet, lässt sich bei Betrachtung des BLKÖ und des RBS jedoch nicht ohne Weiteres aufrechterhalten. Durch jene biographischen Sammelwerke wird viel eher offenbar, dass sich hierin jeweils eigene imperiale Diskurse in zahlreichen Lebenspanoramen30 nieder- und fortgeschrieben haben. Deshalb lassen sich das BLKÖ wie der RBS in erster Linie als Werkstätten imperialer Narrative der Habsburgermonarchie wie des Russischen Reiches deuten, denn als Werkstätten moderner Nationen. So gesehen ist Christerns Kategorisierung des BLKÖ als ein bloßes Übergangswerk im Vergleich zu den nationalen Werken des Auslands, „[…] da es bewußt auf dem Boden des österreichischen Gesamtstaates im Sinne Schwarzenbergs und Bachs ruht“31, eindeutig zu kurz gefasst. Biographische Lexika wie das BLKÖ und der RBS können einerseits als autonom schöpferisch-aktive, andererseits auch als intersubjektive, welterschließende und -strukturierende Werke betrachtet werden. Insbesondere das darin vielbeschworene Versprechen von Authentizität und Originalität fordert unweigerlich 28 Vgl. Keith Thomas: Changing Conceptions of National Biography, S. 14. 29 Vgl. Hans Günther Hockerts: Vom nationalen Denkmal zum biographischen Portal. Die Geschichte von ADB und NDB 1858–2008. In: Lothar Gall (Hrsg.): „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 2008, S. 229–269, hier S. 232–238. 30 Vgl. Bernhard Fetz: Die vielen Leben der Biographie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie. In: ders./Hannes Schweiger (Hrsg.): Die Biographie ‒ Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York 2009, S. 3–66, hier S. 55. 31 Christern: Entwicklung und Aufgaben Biographischer Sammelwerke, S. 47.

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dazu auf, die ihnen zugrunde liegenden Konventionen des Sammelns und Erstellens zu hinterfragen. Ganz allgemein lässt sich zunächst sagen, dass es sich bei den Biographien des BLKÖ und des RBS um zugespitzte Beschreibungen des Lebens von für das Reich denkwürdigen Individuen handelt. Wobei denkwürdig das Schaffen wirkmächtiger Werke meint oder auch ein Leben, das Handlungen hervorbrachte, die weitreichende politische und gesellschaftliche Konsequenzen innerhalb des Imperiums hatten. Während das BLKÖ ab 1861 den Untertitel Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche seit 1750 in den österreichischen Kronländern geboren wurden oder darin gelebt und gewirkt haben führte und somit keiner zeitlichen Begrenzung nach 1750 unterlag, umfasste der RBS die Biographien der denkwürdigen Personen des Russischen Reiches, die im Jahre 1892 bereits verstorben waren.32 Ersteres berücksichtigt kurioserweise neben schon Verstorbenen gleichfalls die Biographien noch lebender Figuren, präsentiert folglich, anders als der RBS, auch Gegenwartsskizzen noch unvollendeter Lebensverläufe für ein zukünftiges Erinnern. Daran wird umso besser erkennbar, dass in Sammelbiographien nicht etwa allein die Biographien von Menschen aufgeführt werden, die ihre Spuren mittels Nachlass für die Zukunft hinterlassen konnten, sondern eher von Personen, die diese in der gegebenen imperialen Gesellschaft für die Ewigkeit hinterlassen durften und in einer bestimmten Art und Weise hinterlassen sollten. Bernhard Fetz stellt in diesem Zusammenhang folgerichtig fest: „Erst die Unterstellung der Wirkung vergangenen Lebens auf eine spätere Zeit legitimiert die Biographie. […] Auch biographische Projekte, die sich nur auf die Beschreibung des Quellenmaterials konzentrieren, gehen von einer Wirkung jenseits des Raums der biographischen Erzählung aus.“33 Sammelbiographien sollten daher der Aufgabe dienen, die lebendigen Erfahrungen Einzelner mit einem allgemeinen, zur Zeit ihrer Entstehung dominierenden, medial vermittelten Geschichtsgedächtnis in Verbindung zu bringen. Vom Ideal der Selbstwerdung im Sinne eines anschaulichen, repräsentativen Lebensverlauf-Modells bestimmt, formieren sich daraufhin zwangsläufig lineare 32 Wobei Wurzbach auch den Beginn der Zeitspanne nicht immer konsequent einhalten sollte. So werden für besonders hochrangige Persönlichkeiten, die lange vor dieser Zeit lebten und wirkten, Ausnahmen eingeführt, wie beispielsweise für alle Mitglieder der Dynastie des Hauses Habsburg und Habsburg-Lothringen. Vgl. Wurzbach: BLKÖ Bd. 6 (1860), S. 119–449; BLKÖ Bd. 7 (1861) S.1–156. Für den RBS wurde 1901 unter der Leitung von Aleksandr Aleksandrovič Gozdavo-Golombievskij und Vladimir Ivanovič Sajtov die Auflistung von zusätzlichen Persönlichkeiten begonnen, die nach 1892 verstorben sind. Eine Erweiterung der Zeitspanne hat sich innerhalb des Lexikons jedoch bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht durchsetzen können. 33 Vgl. Fetz: Die vielen Leben der Biographie, S. 60.

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harmonisierende Narrative. In ihnen findet sich sodann nicht etwa nur die bloße Abfolge von Ereignissen wieder, sondern gleichwohl die „Präsentation und Deutung eines individuellen Lebens innerhalb der Geschichte.“34 In den Lebensskizzen des BLKÖ und des RBS wird mit der Ambition, historisch relevant zu sein, unterdessen an der Erwartung festgehalten, dass es im Grunde einen Antrieb wie Sinn geben muss, der den großen Reichtum an einzelnen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erinnerungen und Taten seiner Protagonisten im imperialen Raum lenkte und lenkt. Eine dermaßen deterministisch wie teleologisch ausgerichtete Betrachtung muss unweigerlich, anders als zu Beginn noch von Christern behauptet, in einer schrittweisen Vernichtung der Individualität der jeweiligen Betrachtungsobjekte münden, sobald sich der jeweilige Biograph hierbei ausnahmslos an den in hergebrachten Diskursen der Historik, Psychologie und Biologie bereitgestellten Konstruktionspraktiken von Lebensskizzen orientiert.35 Erst durch die Reflexion des dem BLKÖ und dem RBS dadurch eingeschriebenen common sense des Individuellen36 wird deutlich, „[…] dass die Biographie über das Potenzial verfügt, des Individuums struktureller Zusammenhänge habhaft zu werden und die Spielräume zu beschreiben, die es innerhalb dieser Zusammenhänge gewinnt.“37

Biographen des Reiches Bei dem Biographen des BLKÖ, Constant(in) von Wurzbach-Tannenberg (1818– 1893), und dem Herausgeber des RBS, Aleksandr Aleksandrovič Polovcov (1832– 1909), handelt es sich unverkennbar um Mitglieder, Vertreter und Befürworter des jeweiligen Reiches, die mittels der ihnen obliegenden Deutungshoheit im Rahmen der Lexika besagte strukturelle Zusammenhänge der Reichsmitglieder absteckten, ergo die Richtlinien der Spielräume imperialer Subjekte festlegten. Dabei können weder der eine noch der andere als professionelle Geschichtsschreiber bezeichnet werden. Wurzbach legte als (vermeintlich) alleiniger Verfasser dem BLKÖ v.a. aus eigener Initiative und persönlicher Überzeugung sein Ideal eines österreichischen 34 Vgl. Jacques Le Goff: Wie schreibt man eine Biographie? In: Ferdinand Braudel/Natalie Zemon Davies/Lucien Febvre (Hrsg.): Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers. Berlin 1990, S. 103–112, hier S. 106. 35 Vgl. Christian Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940). Berlin, New York 2006, S. 31. 36 Vgl. Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion [1986]. In: Bernhard Fetz/Hannes Schweiger (Hrsg.): Die Biographie ‒ Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York 2009, S. 303–310. 37 Vgl. Fetz: Die vielen Leben der Biographie, S. 39.

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Einheitsstaates zugrunde. Polovcov realisierte das RBS-Projekt hingegen innerhalb der dem Außenministerium unterstellten Imperatorskoe Russkoe Istoričeskoe Obščestvo (IRIO, Kaiserliche Russische Historische Gesellschaft), dessen Vorsitz er seit 1879 innehatte, für das Russische Reich aus der Position eines hohen Funktionsträgers heraus. So kann Polovcov, anders als Wurzbach, im eigentlichen Sinne nicht als Biograph, jedoch als Schlüsselfigur mit höchster Entscheidungsinstanz über Aufnahme, Umfang und Stil der von verschiedenen namhaften Gelehrten verfassten Lebensskizzen gelten. Polovcov muss insofern der höchste Stellenwert in Bezug auf den RBS zugesprochen werden, da er sich persönlich im Sinne der Einhaltung der IRIO-Beschlüsse „[…] ständig in die Arbeiten der Autoren einmischte“38, und seine Entscheidungen und Einwände zur Korrektur höchstens vor dem Zaren zu verantworten hatte. Isaak Kaufman behauptet in seinem kurzen Artikel über Polovcovs Lexikon gar, dass Virtuosität von keinem der Autoren zu erwarten sei, da „[…] die fühlbar führende Rolle seines [des Lexikons, Verf.] Schöpfers und Organisators A. A. Polovcov allzu stark war“39. Trat Polovcov überdies als großzügiger Finanzier des gesamten Lexikons auf, war der Archivar und Bibliothekar Wurzbach aufgrund seiner misslichen finanziellen Lage für sein biographisches Schaffen ab 1857 stets auf Subventionen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften angewiesen. Polovcov arbeitete demnach souverän, da er nicht zuletzt durch sein Amt als persönlicher Staatssekretär Aleksandrs  III . (1883–1892) eine hohe Machtposition bekleidete, die ihm einen regelmäßigen und einflussreichen Kontakt mit hochgestellten Staatsbeamten sowie der Zarenfamilie ermöglichte.40 Es bestand folglich eine durchaus enge Verbindung zwischen Polovcovs Amt und seiner Funktion als Editor des RBS. Wurzbach hingegen weist in den Vorworten des BLKÖ jegliche inhaltliche wie organisatorische Verbindung mit seinem Dienst als Vorstand einer administrativen Bibliothek von sich.41 So handle es sich hier um ein eigens durch ihn ins Leben gerufenes Werk, keine Auftragsarbeit. Gleichfalls räumt Wurzbach aber unumwunden ein, dass er zwar autonomer Verfasser und Initiator sei, das Projekt jedoch vornehmlich durch 38 G.M. Gorfejn: Russkij Biografičeskij Slovar’ [Das Russische Biographische Wörterbuch]. In: Evgenij Žukov (Hrsg.): Sovetskaja Istoričeskaja Enciklopedija Bd. 12. Leningrad 1969, S. 336–337, hier S. 337. 39 Isaak Kaufman: Russkij Biografičeskij Slovar’ [Das Russische Biographische Wörterbuch]. In: ders.: Russikie biografičskie i bibliografičeskie slovari. Moskau 1955, S. 14–24, hier S. 16. 40 Vgl. Pëtr Zajončkovskij: A.A. Polovcov. Biografičeskij očerk [A.A. Polovcov. Biographische Skizze]. In: Valentin Blagov/Sergej Sapožnikov (Hrsg.): A.A. Polovcov. Dnevnik gosudarstvennogo sekretarja. V dvuch tomach Bd. 1 1883–1886. Moskau 2005, S. 7–20, hier S. 8f. 41 Vgl. Wurzbach: BLKÖ Vorwort Bd. 6 (1860), S. VIII; BLKÖ Vorwort Bd. 26 (1874), S. IIIf.

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mühsames Zusammentragen unterschiedlichster Materialien umgesetzt habe, sein Lexikon folglich eine Kompilation autobiographischer und sekundärer Quellen darstelle.42 Den Biographen des RBS dagegen war wegen ihrer hohen Stellung und Profession sowie der einvernehmlichen Kooperation mit der IRIO Zugang zu etlichen Archiven, Manuskript-Sammlungen und persönlichen Dokumenten von vornherein gewährt, wobei ihnen die konkrete Verfahrensweise und Arbeitsteilung bei der Sichtung und Auswertung der vorliegenden handschriftlichen wie gedruckten Materialien von Polovcov vorgeschrieben wurde. Dass sich Wurzbachs patriotische Ergebenheit ungeachtet der politischen Umbrüche im Laufe der Entstehung des Lexikons fortwährend und unerschütterlich auf das Kaisertum Österreich vor 1860 erstreckte, kann aus der Kontinuität seiner Aussagen zum Einheitsstaat in den Vorworten des BLKÖ geschlossen werden. Dabei unterstreicht er nicht minder durchdringend das vielfältige und stark divergierende Loyalitätsverhalten seiner Protagonisten, wenn er schreibt: Mein Werk trägt seit dem Augenblicke seines Erscheinens den ausschließlich großösterreichischen Charakter. Nur die ängstliche Sorge, mit welcher ich bemüht war, ihm denselben unter Zurückweisung jeder Tendenz zu wahren, vermochte mich zur Aufnahme von Persönlichkeiten, die, obgleich sie dem Kaiserstaate angehörten, doch antiösterreichisch gesinnt waren oder sind.43

Aus Wurzbachs vehementer Zurückweisung jeglicher Tendenz lässt sich sogleich entnehmen, dass sein Verständnis von Imperium hauptsächlich auf dem Grundtenor von Heterogenität und Diversität fußte.44 Die Motivation, politische Pluralitäten tolerierend zu vereinen, kulminiert obendrein in der Beachtung jener Gebiete, die seinerzeit längst nicht mehr dem Reich angehörten. Es lag Wurzbach 42 Vgl. Wurzbach: BLKÖ Vorwort Bd. 13 (1865), S. IX. 43 Wurzbach: BLKÖ Vorwort Bd. 41 (1880), S. IV. 44 Zu den Österreichischen Kronländern, die Wurzbach als Geburts- und/oder Wirkungsstätten der ins BLKÖ aufgenommenen denkwürdigen Personen aufführt, gehören fortwährend: Banat (und serbische Wojwodschaft), Böhmen, Kroatien, Dalmatien, Galizien, Istrien (Küstenland und Triest), Kärnten, Krain, Krakau, Lombardie, Mähren, Militärgrenze (ab Bd. 2), Österreich ob der Enns, Österreich unter der Enns, Salzburg, Schlesien, Siebenbürgen, Steiermark, Nord- und Südtirol, Ungarn, Venedig, Voralberg. Slavonien, welches seit 1849 mit dem Königreich Kroatien zum Königreich Kroatien und Slavonien vereint wurde, tritt ab Bd. 5 (1859) nicht mehr gesondert auf. Bukowina, welches ab 1849 zum autonomen Kronland des Kaisertums erklärt wurde, wird erstmals in Bd. 9 (1863) erwähnt. Vereinzelt ist sogar Vorderösterreich vermerkt, so z. B. in Bd. 10 (1863), Bd. 17 (1867), Bd. 40 (1880), Bd. 52 (1885), obgleich das Habsburger Reich schon 1815 mit Ausnahme von Vorarlberg alle Gebiete in dieser Region an Deutschland und die Schweiz abtreten musste.

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jedoch nicht etwa daran, auf kulturelle Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen oder diese gar auszubilden, sondern vielmehr unter der Annahme einer zivilisatorischen Überlegenheit der zentralen deutsch-österreichischen Eliten auch Minoritäten des Reiches in ihrer vermeintlichen Eigentümlichkeit aufzunehmen.45 Permanent betont der Lexikograph, dass seine Leistung vorwiegend in der wissenschaftlichen Aufbereitung der berühmten und denkwürdigen Personen des Reiches liege.46 Bezeichnenderweise beharrt er jedoch vor allem an den Stellen auf seinem neutralen Forscherstandpunkt, an denen er sich scheinbar besonders dringlich zur Rechtfertigung gezwungen sah, womit sein Versuch, das Leben seiner biographischen Objekte zum Gesamt-(Kunst-)Werk zu verweben, umso offensichtlicher zum Vorschein kommt. Dies betrifft v.a. den Band 41, welchen Wurzbach als den ungarischen Band beschreibt, da in ihm Ungarn nach Zahl und Bedeutung am häufigsten vorkämen.47 Zugleich gibt Wurzbach im Vorwort hierzu allegorisch an, dass er in keinem anderen Band die Methode eines genauen Kartographen so konsequent verfolgen musste wie in diesem: „Ich befand mich dabei in der Lage des Karthographen, der, soll seine Karte treu und für den Benützer förderlich sein, in dieselbe nicht blos (sic) die prächtigen Seen und stattlichen Flüsse eintragen muß, sondern auch die Tümpel und Sümpfe, welche die Reize einer Gegend nicht eben erhöhen.“48 Die unmissverständliche Andeutung, dass sich in diesem Band also auch Lebensbeschreibungen von Personen befänden, die es eigentlich zu verurteilen gälte, da sie für den Bestand des geeinigten Habsburger Reiches eher hinderlich gewesen seien, will offensichtlich veranschaulichen, dass die meisten antiösterreichisch gesinnten Personen im 41. Teil des BLKÖ aufgenommen worden sind und es sich bei ihnen demnach im Besonderen um Ungarn handeln muss. Wie Wurzbach mit der ungarischen 1848er Revolution biographisch verfährt, wird weiter unten am Beispiel István Széchenyis und Lajos Kossuths illustriert. Dass sich Wurzbach trotz seiner Beteuerungen der Objektivität persönliche Wertungen nicht versagte, zudem einer überaus ausladenden und ausschmückenden Rhetorik bediente, machten ihm bereits zeitgenössische Kritiker zum Vorwurf. Johann Loserth, österreichischer Historiker und Mitarbeiter der Allgemeinen Deutschen Biographie, tadelte beispielsweise den panegyrischen Ton der meisten Artikel des 34. Bandes im BLKÖ und monierte, dass eindeutige

45 Vgl. Wurzbach: BLKÖ Vorwort Bd. 13 (1865), S. V. 46 Vgl. Wurzbach: BLKÖ Bd. 11 (1864), S. V. 47 Vgl. Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. III. 48 Ebd., S. Ivf.

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Interessenbekundungen, wie „[…] des Verfassers unverkennbarer Preußenhaß […]“49, einem wissenschaftlichen Werke durchaus fernbleiben müssten.50 Häufig war von Maßlosigkeit, Abschweifungen und fehlerhaften Angaben insbesondere vonseiten der Befürworter des Deutschen Reiches die Rede. Der dem Habsburger Reich treu ergebene Lyriker und Textdichter der österreichischen Kaiserhymne, Johann Gabriel Seidl, sprach dem ersten Band nichtsdestoweniger pädagogische Qualitäten zu, sodass „[…] es im ganzen eine hinlänglich feste Grundlage darbietet, um darauf weiterzubauen […]“51. Der Preußische Literaturkritiker Rudolf von Gottschall betrachtete das BLKÖ -Projekt ferner als Schaffen mit hohem Unterhaltungswert und merkte lobend an: In Oesterreich selbst scheint das vortreffliche Werk noch nicht die Anerkennung gefunden zu haben, die es verdient; wir aber könnten dem Deutschen Reiche oder dem preußischen Staate nur ein ähnliches Werk von gleicher Vollständigkeit, Gründlichkeit und stilistischer Eleganz wünschen. […] So weiß er [Wurzbach, Verf.] doch in seinen Nischen die lebensgroßen Statuen und die Miniaturbüsten schicklich zu vertheilen […] [A]uch die kleinste biographische Gemme gibt doch immer ein farbiges Bild. Daß dieses oder jenes Urtheil den Beteiligten unbequem ist, hier oder dort eine Lücke empfunden wird, wo für einen unbefangenen Standpunkt vielleicht keine vorhanden ist: das kann den Werth des Werkes nicht beeinträchtigen, da überhaupt bei der Ueberfülle des Notizenstoffes einzelne mit unterlaufende Unrichtigkeiten nicht zu vermeiden sind.52

Die stark divergierenden Beurteilungen des BLKÖ zeigen, dass die o.g. Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen Fakt und Fiktion im Hinblick auf die Frage nach dem wissenschaftlichen Wert des biographischen Sammelwerks unterschiedliche Standpunkte hervorrufen kann. Die Auseinandersetzung mit dem auf historische Korrektheit bedachten Biographen Wurzbach gestaltet sich umso komplizierter, wenn man bedenkt, dass sich Wurzbach zeit seines Lebens auch als Dichter begriff.53 49 Johann Loserth: C. v. Wurzbach, biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 34 Bde. Wien, Staatsdruckerei 1856–1877. In: Historische Zeitschrift 39 (1878), S. 523–535, hier S. 524. 50 Vgl. ebd., S. 523f. 51 Johann Gabriel Seidl: Miscellen. Literarische Notizen. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 8 (1857), S. 404–417, hier S. 412. 52 Rudolf von Gottschall: Die Biographie der Neuzeit. In: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon 10 (1874), S. 577–593, hier S. 584. 53 Vgl. Elisabeth Lebensaft/Hubert Reitterer: Wurzbach-Aspekte. Österreichisches Biographisches Lexikon. In: Sonderdruck aus Wiener Geschichtsblätter 47 (1992), S. 1–13,

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Er bemühte sich fortwährend erfolglos um die Produktion episch-lyrischer Literatur mit teilweise monarchistisch-politischen wie auch historischen Inhalten.54 Da im Schrifttum Wurzbachs somit ohnehin oftmals kreatives und faktuales Erzählen verflochten waren, kommt unweigerlich die Vermutung auf, dass auch seine wissenschaftlichen Arbeiten eine strenge Trennung zwischen Wahrheit und Dichtung vermissen lassen könnten.55 In Bezug auf das BLKÖ erhärtet sich dieser Verdacht, wenn am Ende des letzten Lexikon-Bandes Wurzbach, auf Haydns Oratorium Die Schöpfung (Part II No. 27–29 ‒ Vollendet ist das große Werk) hinweisend, plötzlich in pathetischer Versform schließt: „Gottlob, das große Werk ist nun zu Ende/ Es war dran, dass ich es nicht vollende ‒/ Ich g a n z a l l e i n schrieb diese sechzig Bände!/ Lexikonmüde ruhen aus die Hände.“56 Polovcov hingegen verfolgte in seinem Schaffen weniger literarisch-ästhetische Aspekte, vielmehr sah er sich und die IRIO in der Verantwortung, die historische Wahrheit im staatstreuen, orthodox-monarchistischen Sinne wiederherzustellen und zu verkünden. Laut dem Historiker Pëtr Zajončkovskij waren die Biographien des RBS nicht ohne „[…] eine gewisse politische Wertung im monarchistischen Sinne“57 verfasst worden. Diese Ansicht lässt sich bereits durch die große Anzahl an Biographien von besonders dem Imperium treu ergebenen Personen bestätigen. Einerseits kann aus der Mehrheit der Lebensgeschichten von adligen Individuen geschlossen werden, dass v.a. die imperialen Subjekte aufgenommen werden sollten, die gemeinsam auf höchster Funktionsebene den imperialen Staat stützten. Andererseits kann am massiven Umfang der Einträge der Angehörigen der Zarenfamilie, der bedeutendsten Oberhäupter des Militärs und der orthodoxen Kirche abgelesen werden, dass hier mit besonderer Akribie das Leben derjenigen portraitiert worden ist, die maßgebend durch ihre „[…] `regierungstreue` oder offen reaktionäre Art der Gedankengänge […]“58 zur Legitimierung der imperialen Herrschaft beigetragen haben: „The entries on nobles and church leaders give excessively detailed attention to bestowed honors and to relationships with

hier S. 2f. 54 Vgl. ebd., S. 4. 55 So z. B. Die Volkslieder der Polen und Ruthenen (Wien 1846), Die Kirchen der Stadt Krakau. Eine Monographie zur Geschichte und Kirchengeschichte des einstigen Königreichs Polen (Wien 1853), Historische Wörter, Sprichwörter und Redensarten (Prag 1863), Das Schillerbuch. Festgabe zur ersten Säkularfeier von Schiller’s Geburtstag (Wien 1859) 56 Wurzbach: BLKÖ Bd. 60 (1891), S. 358 (Hervorhebung im Original). 57 Zajončkovskij: A. A. Polovcov, S. 16. 58 Kaufman: Russkij Biografičeskij Slovar’, S. 16.

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the court and the political establishment.“59 Demgemäß postulierte Polovcov 1901 auf einer Versammlung der IRIO bei der Vorstellung des soeben fertiggestellten vierten Bandes, dass die Herausgabe des RBS „[…] dem Ausdruck patriotischer Gedanken dient und dem innigsten Wunsche des Gründers der Gesellschaft, des in Gottesgnaden verstorbenen, Seiner Majestät, des Imperators Aleksandr  III ., entspricht.“60 So endet auch die knappe Einleitung zu Beginn des ersten Bandes des RBS mit den von der Redaktion an die Leser gerichteten Hoffnung, dass „[…] man die aufrichtige Arbeit derjenigen schätzen wird, die nach Wunsch des Zaren zum Nutzen Russlands herausgegeben haben, jenes Russlands, das von seinem Zaren innigst geliebt wird.“61 Zur Wahrung der Objektivität des Werkes wurde zwar in einer Satzung u. a. festgelegt, dass „die Beiträge v.a. auf wahren Fakten basieren und einem chronologischen Aufbau folgen sollen, ohne jegliche persönliche Kommentierung und kritische Bewertung zu enthalten […].“62 Was vom Herausgeber jedoch letztlich als Wertfreiheit verstanden wurde, und inwiefern die Lebensskizzen des RBS der Ambition Polovcovs, ohne Ausschmückungen und Stellungnahmen auszukommen, gerecht wurden, soll nachstehend exemplarisch diskutiert werden. An den folgenden Beispielbiographien aus dem RBS und dem BLKÖ wird sich zeigen, dass durch die in den Nachschlagewerken manifestierten Perspektiven der beiden Lexikographen weniger die konkreten Lebensverläufe der realen Personen vorgestellt, als vielmehr die an ihnen praktizierten spezifischen historischen Legendenbildungen zur Bekräftigung der jeweiligen imperialen Ordnung vorgenommen worden sind.

59 Edward Kasinec/Robert Jr. Davis: Introduction. In: Russkii Biograficheskii Slovar’. Tobizen-Totleben. S. Petersburg: Izdanie Imperatorskogo Russkogo istoricheskogo obshchestva, 1896–1918. Vol. 20A printed from unpublished galley proofs. New York 1991, S. V–X, hier S. VI. 60 Polovcov zitiert nach Gozdavo-Golombievskij u. a. (Hrsg.): Imperatorskoe Russkoe Istoričeskoe Obščestvo 1866–1916 [Die Kaiserliche Russische Historische Gesellschaft. 1866–1916], Petrograd 1916, S. 110. 61 Polovcov: RBS Bd. 1 (1896), S. I. 62 Gozdavo-Golombievskij: Imperatorskoe Russkoe Istoričeskoe Obščestvo 1866–1916, S. 97.

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Biographien des Reiches Inwiefern den biographischen Sammelwerken des Habsburger und Russischen Reiches das imperiale Selbstverständnis ihrer Lexikographen zugrunde lag, soll hier an den Lebensbeschreibungen jeweils zweier aufrührerischer Angehöriger der Eliten, die vorzugsweise nicht aus dem Wiener bzw. Sankt Petersburger Zentrum, sondern in erster oder zweiter Generation aus den peripheren Gebieten der Reiche stammten, dargelegt werden. Es ist anzunehmen, dass bei der biographischen Aufbereitung der Leben aus zentralstaatlicher Perspektive mehr oder minder unredlicher Persönlichkeiten Herrschaftsdiskurse im Besonderen sichtbar werden. Vordergründig für die integrative Konstruktion dürfte hier, mehr noch als bei anderen Personen, eine massive Abstraktion von Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit sein. Die Macht der Biographen, die Vergangenheit ihrer systemkritischen Protagonisten zu formen, ermöglichte variationsreiche Zeichnungen diverser Werdegänge ‒ vom gehorsamen Reichsmitglied zum renitenten Rebell und umgekehrt ‒ mit unterschiedlichen Ausgangspunkten und zweckdienlichen Zielvorlagen. So gesehen konnten in der lexikographischen Kommunikation Aufrührer als Negativfolie, als Korrektiv oder auch als Bestätigung eines imperialen Selbstverständnisses in Krisenzeiten gelten.63

Kossuth und Széchenyi im Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich In Bezug auf das BLKÖ bietet sich unter den genannten Prämissen eine genauere Betrachtung der Biographie des ungarischen Reformpolitikers István Széchenyi64 (*1791 in Wien, † 1860 in Döbling) und des Politikers, Rechtsanwalts und ungarischen Unabhängigkeitskämpfers Lajos Kossuth65 (*1802 in Monok/Ungarn; † 1894 in Turin/Italien) an. Während Ersterer zunächst militärische Funktionen 63 Bei der folgenden Untersuchung soll es im Sinne einer historischen Diskursanalyse nicht darum gehen, die exemplarisch aus den Lexika herausgesuchten Lebensberichte in ihrer narrativen Ganzheit zu verstehen und zu interpretieren. Es wird stattdessen versucht, den Bedingungen der Bedeutungsproduktion innerhalb der imperialen Biographik ausschnittsweise auf die Spur zu kommen, um die Konditionen bei der Konstitution von Sinneffekten und Repräsentationsmustern ausfindig zu machen. Zum methodischen Ansatz der historischen Diskursanalyse vgl. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M., New York 2009. 64 Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 251–289. 65 Wurzbach: BLKÖ Bd. 13 (1865), S. 8–34.

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für den Gesamtstaat übernahm, stellte Letzterer von vornherein einen gegen den Einheitsstaat opponierenden Funktionsträger im Königreich Ungarn dar. Zwar stammten beide Vertreter aus ungarischen Elternhäusern, doch genoss Széchenyi wegen seiner hochadligen Herkunft das Privileg, in Wien aufgewachsen zu sein, derweil Kossuth, dem verarmten Kleinadel entspringend, seine Kindheit in der ungarischen Provinz verbrachte. Unter den zahlreichen Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb der Habsburgermonarchie kann die ungarische nationale Bewegung aus dem Jahre 1848 als die prominenteste gelten, insofern sie für eine ernsthafte Gefährdung des Staatszusammenhalts sorgte. Széchenyi und Kossuth sind hier also deshalb von Interesse, um zu verdeutlichen, in welcher Form zwei Kämpfer für nationale Selbstbestimmung von Wurzbach präsentiert werden, zumal sie bei den Durchsetzungsversuchen ihrer Forderungen in Ansätzen und Herangehensweisen absolut divergierten. Insbesondere die Sozialisation scheint laut dem BLKÖ starken Einfluss auf den Grad des Widerstands gegen den Status Quo ausgeübt zu haben. Die Nähe Széchenyis zum deutsch-österreichischen Kulturkreis und seine vormals feste Einbindung in den Kaiserstaat hätten, so durch Wurzbachs Einschätzung vermittelt, dessen Ansprüche auf nationale Befreiung in einer weit gemäßigteren Form ausfallen lassen als die Kossuths. Széchenyi hob sich laut Wurzbach durch „[…] sorgfältigste Erziehung, welche von den hochgebildeten Eltern geleitet und überwacht wurde“66 von Kossuth ab, der bereits von Hause aus liberal, d. h. im ungarischen Kontext antidynastisch, geprägt worden sei.67 Demgemäß werden Széchenyi gleich zu Beginn seiner Lebensskizze die Attribute „eifrig und fromm“ zugeschrieben, während Kossuths kindliches Betragen schon mit den ersten Sätzen in ein schlechtes Licht gerückt wird: K., der als Knabe schon manche jener Eigenschaften besaß, welche er später zum Verderben seines Vaterlandes benützte, verstand es bald, das Vertrauen seines Wohltäters zu erschleichen und mißbrauchte dasselbe, um seinen Kameraden fleißig zu denunciren und ihren Gönner von den jugendlichen Streichen, in deren Ausführung sie sich sehr sinnreich zeigten, bei Zeiten in Kenntniß zu setzen.68

So erlaubte der Lebensverlauf Széchenyis Wurzbach eine Verherrlichung der Vergangenheit des gesamten loyalen ungarischen Adels, wie beispielsweise im Kampf gegen Napoleon, wohingegen die Entwicklung von Kossuth die Verkürzung der separatistischen Nationalbewegung in Ungarn auf einen einzelnen 66 Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 251. 67 Vgl. Wurzbach: BLKÖ Bd. 13 (1865), S. 8. 68 Ebd., S. 8.

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Urheber zuließ. Indem Wurzbach Kossuths Gebärden und Handeln konsequent auf einen missratenen Charakter zurückführt sowie dessen politische Aktivitäten als rein persönliche, vom Sozialneid herrührende Interessenpolitik herabwürdigt, wird Kossuth als eine Ausnahme herausgestellt, die seinerzeit keinesfalls für die Gesamtheit der Ungarn gesprochen habe: Seine Mittellosigkeit inmitten einer Stadt [Eperies, Verf.], in welcher der reiche Adel des Landes Glanz und Pracht entfaltete, immer tiefer fühlend, wurde er nur verbitterter und bildete allmälig jenen Haß und Ingrimm gegen die Besitzenden aus, welchen er später geschickt durch den Schild politischer Reformen, insbesondere demokratischer Tendenzen zu bedecken verstand.69

Dafür sollen laut Wurzbach auch etliche verwerfliche Episoden sprechen, die Kossuth als Ganoven, Schmarotzer und Intriganten abwerten oder auch als gewissen- und verantwortungslosen Glücksspieler entlarven.70 Einer rechtmäßigen Verurteilung habe er sich durch Bestechung der vormärzlichen, d. h. in Korruption verstrickten Justiz in Ungarn entziehen, und die Vernichtung von Strafakten zu seiner Person erwirken können.71 So habe Kossuth seine politische Karriere nach Wurzbach nur beginnen können, weil die belastenden Dokumente seiner Vergangenheit nicht mehr vorgelegen hätten.72 Insbesondere um sich selbst zu entlasten, sei Kossuth ab 1830 auf die Idee der Verteilung von Flugblättern (Országgyűlési tudósítások) gekommen, welche jeweils von den einzelnen Landtagsdebatten berichteten. Daraufhin „[…] verwickelte sich K. in diese politischen Umtriebe und suchte die allgemeine Aufmerksamkeit auf ’s Neue zu seinen Gunsten auszubeuten und Sympathien zu gewinnen […].“73 Széchenyis Entwicklung zum aktiven Gegner des Kaiserstaats kann Wurzbach dagegen nicht auf irgendeine beharrlich verdorbene Wesenhaftigkeit zurückführen, sondern leitet sie von einem plötzlichen ominösen Gesinnungswandel ab: Mit einem Male ging eine Wandlung mit ihm vor, die umso auffallender war, als man vergeblich nach den Motiven forschte, durch welche dieselbe veranlaßt worden, und die Art und Weise seines Auftretens in den neuen Verhältnissen die volle Aufmerksamkeit auf den Edelmann lenkte, der, […] wie im Handumkehren werkthätig

69 70 71 72 73

Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 8f. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 9. Wurzbach: BLKÖ Bd. 13 (1865), S. 10.

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inmitten einer Reihe von Arbeiten dastand, deren jede einzelne die ganze Kraft des Mannes erforderte.74

Mit der Herausgabe der Bücher Über den Kredit und Licht habe sich Széchenyi mit seinen kritischen Äußerungen zu den bestehenden ökonomischen Verhältnissen Ungarns sowie wirtschaftspolitischen Reformvorhaben 1830/31 erstmalig als ungarischer Patriot hervorgetan, was v.a. an dem laut Wurzbach für die jüngere Generation Ungarns zum geflügelten Wort avancierten Satz „[…] Ungarn ist nicht, sondern wird sein“75 sichtbar wurde. Darin setze sich Széchenyi für die „[…] Verbreitung des Vereinsgeistes, dieses von der vormärzlichen Regierung mit ahnungsvollem Grauen verabscheuten Genius der modernen Gesellschaft […]“76 ein, was Wurzbach offensichtlich als zu progressiv und unbeständig tadelt. Noch deutlicher tritt Wurzbachs Kritik in dieser Hinsicht bei Kossuth zutage. Der Biograph betont, dass Kossuths Versuch gescheitert war, neben dem Pester Journal (Pesti Hirlap), in dem der ungarische Adel diffamiert worden sei, ein „[…] neues Oppositionsblatt […]“ zu gründen. Diese Niederlage hätte jenen daraufhin dazu bewegt, sich in der Vereinsarbeit zu engagieren: „Nachdem so seine journalistische Laufbahn ein Ende genommen hatte, warf er sich auf ein anderes, seinen particulären, rein persönlichen Interessen nicht minder willkommenes Gebiet, nämlich auf jenes der Associationen, und er suchte nationale Vereine zu gründen.“77 Vereine ließen sich nach Wurzbach demnach v.a. zur Verbreitung von Tendenzen ausnutzen, die nicht allein dem Nutzen der Modernisierung und Industrialisierung des Reiches galten.78 Aus der Beschreibung der zahlreichen infrastrukturellen, technologischen und ökonomischen Aktionen Széchenyis, wie z. B. der Finanzierung der ungarischen Akademie der Wissenschaften, der Gründung des National-Casinos nach dem Muster eines englischen Adelsklubs, der Errichtung des ungarischen Nationaltheaters und des Baus der Kettenbrücke, geht nämlich hervor, dass Széchenyi hierdurch nicht nur den „[…] industriellen Geist […]“79, sondern ebenso das kulturelle Nationalgefühl der Ungarn gestärkt, somit die Habsburgermonarchie geschwächt habe.80 Zwar geht Wurzbach hierbei weniger wertend als bei der Darlegung von Kossuths Vereinstätigkeiten vor, die negative Kritik des Biographen ist in diesem Punkt jedoch nicht von der Hand zu weisen. 74 75 76 77 78 79 80

Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 252. Ebd., S. 258. Ebd., S. 259. Wurzbach: BLKÖ Bd. 13 (1865), S. 11. Ebd., S. 11. Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 259. Vgl. ebd., S. 259f.

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Ein wenig ungewöhnlich erscheint in diesem Zusammenhang Wurzbachs Parteinahme für Széchenyis Vorhaben der allgemeinen Besteuerung beim Passieren der neuen Kettenbrücke, wenn er die zeitgenössische, adlige Kritik an Széchenyis Wegegeld wie folgt zurückweist: So fest hatte sich das Unrecht von Jahrhunderten in die Herzen der Privilegirten eingenistet, daß sie es für Hochverrath hielten, als Einer wagte, ihnen offen ins Gesicht zu sagen, daß, was sie als ein von Gott eingeräumtes Vorrecht ansähen, nichts weiter sei als Betrug […] an den Rechten des ihnen gleichstehenden Nebenmenschen.81

Hierin zeigt sich Wurzbach eindeutig als Anhänger einer frühliberalen und humanistischen Gleichstellung und als Gegner ständischer Ungleichheit. Andererseits spricht er sich ebenso konkret gegen Kossuths soziale Reformpolitik aus, womit der ungarische Adel „[…] nicht nur auf gewisse Giebigkeiten Verzicht […]“ leisten müsste, sondern auch seines Eigentums beraubt worden sei.82 Es ist daher anzunehmen, dass der Lexikograph sich in Anbetracht der „[…] abnormen Zustände […]“83 des Revolutionsjahrs 1848 in Bezug auf Kossuth, welchen er als alleinigen Auslöser des staatspolitischen Chaos stilisiert, dem konservativen Restaurationsgedanken anschließt. Vor dem Hintergrund der nunmehr eigenen langjährigen Erfahrung der Politik einer konstitutionellen Monarchie begrüßte Wurzbach gleichwohl den Ansatz moderner verfassungspolitischer Prinzipien in Széchenyis Lebensskizze. Dadurch gelang es dem Biographen, Széchenyi 1880 mitsamt dessen gemäßigter sozialer und nationaler Politik in das Gesamtstaatsnarrativ über die organische Entwicklung der Donaumonarchie einzubetten, derweil er Kossuth, als umstürzlerischen Sonderfall, im Jahre 1865 ausschließlich unter negativen Vorzeichen ins BLKÖ aufzunehmen vermochte. Dementsprechend stilisiert Wurzbach Kossuth selbst in Széchenyis Biographie als dessen größten Widersacher, wobei sich die Polemik, die schon im Beitrag über Kossuth deutlich wird, noch einmal wiederholt: Der heftigste Gegner erwuchs dem Grafen in Kossuth, dem es ja nie um das Glück seines Volkes, sondern nur um den Kranz der höchsten Volksthümlichkeit zu thun war […]. In seinem Blatte ›Pesti Hirlap‹ griff der Agitator Szechenyi’s kühne Politik

81 Ebd., S. 260. 82 Wurzbach: BLKÖ Bd. 13 (1865), S. 12. 83 Ebd., S.12.

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mit allen Waffen seiner glänzenden Dialektik an und hatte die Genugthuung, alle Gedankenlosen mit seinen alles ernsten Inhaltes entbehrenden Phrasen zu blenden.84

Kossuths Vermögen, die Bevölkerung unter dem Vorwand des ungarischen Gemeinwohls zu blenden und zu verführen, habe die Menschenmenge gegen die kaisertreuen Aristokraten wie Jelačić von Bužim und v.a. Széchenyi aufgebracht: „Wie er in solchen Lügenworten den Mob köderte und gegen den Grafen aufstachelte, das bedarf Jenen gegenüber, die den Mob, welcher nun einmal seine Hetze haben muß und zur Fahne Desjenigen schwört, der ihm diese Hetze bereitet, genau kennen, keiner weiteren Erörterung.“85 Jegliches Unternehmen Kossuths und damit auch die gesamte ungarische Unabhängigkeitsbewegung von 1848 werden von Wurzbach auf diese Weise in ein zweifelhaftes Licht gerückt. Habe man es bei Kossuth doch mit einem „[…] Häuptling des 48-er Aufstandes in Ungarn […]“86, ergo einem Anführer von Wilden zu tun, der alle Schuld an der gewalthaltigen Eskalation der Revolution trage. Die entscheidende Intervention der Russen erwähnend, präsentiert Wurzbach Kossuth noch einmal deutlich als herrschsüchtigen Demagogen: Kossuth griff nun zu den überschwenglichsten Maßregeln, um das ganze Volk zum Verzweiflungskampfe gegen den zweifachen Feind aufzustacheln: er ließ einen förmlichen Kreuzzug predigen und verschmähte, um die Massen zu fanatisiren, auch nicht die von Revolutionen nicht immer in besonderen Ehren gehaltenen Mittel der Processionen und kirchlichen Fasten.87

Dass es Kossuth mit seinen Zielen und Versprechungen niemals ernst gemeint habe, er vielmehr nur auf eigenen materiellen Vorteil und Prestige aus gewesen sei, versucht Wurzbach an dessen vermeintlichem Opportunismus, der sich v.a. im englischen Exil bei Verhandlungen mit Verbündeten nachweisen lasse, herauszustellen. Wurzbach verallgemeinert dabei, dass Kossuth stets im Begriff gewesen sei „[…] die Lüge der Wahrheit zu substituiren, ganz wie es ihm eben paßte […].“88 Dahingegen heißt es über Széchenyi:

84 85 86 87 88

Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 260. Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 260. Wurzbach: BLKÖ Bd. 13 (1865), S. 19. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16.

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[…] jeder Satz war eine Wahrheit, eine wohlerwogene Thatsache […] Széchenyi, nüchtern, klar denkend, ein kalter Rechner, aber ein Patriot vom Wirbel bis zur Zehe, sprach nur das, woran er selbst glaubte, sprach auch überzeugend, jeden Redeprunk vermeidend, aber mit so abgemessener, wenn noch so klarer Sprechweise ködert man keine Massen […].89

Hierin wendete sich Wurzbach mahnend gegen das naive gemeine Volk der ungarischen Nation, welches „[…] nach Széchenyi’s Auftreten im Jahre 1825 wieder geschärften Blickes zu schauen begann, mit einem Male geblendet von dem vielen Lichte, das man über sie ergoß“,90 durch Kossuth jedoch später in eine Art Blindheit, Irrationalität und Größenwahn verfallen sei. So „[…] spielte der Pöbel seine gewohnte Rolle […]“, insofern „[…] Gevatter Schneider und Handschuhmacher […]“ Széchenyi als Verräter zu denunzieren begannen, indem „[…] die widrigsten Gerüchte […] aus dem Modersumpfe des bekannten Mob an die Oberfläche“ gelangten.91 Széchenyis Biographie endet alsdann mit einem versöhnlichen literarisch-ausschmückenden Vergleich ‒ „Seine Rolle war: König Lear an der Donau, Ungarn war seine Cordelia, und dieses vergalt ihm wie Goneril und Regan dem Könige Lear“92 ‒ sowie mit einem Auszug aus Széchenyis letztem Brief, in dem die Union Ungarns mit Österreich beteuert wurde: Die vor 300 Jahren stattgefundene Verbindung Ungarns mit Oesterreich war vielleicht nicht glücklich, doch auch eine unglückliche Ehe kann kräftige Kinder erzeugen […] Ungarn kann nur in Oesterreich bestehen; in deutschen Armen mag es sich gedrückt fühlen, in slavischen wird es jedenfalls erdrückt. […] Rußland kann einen Sieg der Nationalitätstheorie an der Grenze Polens nicht dulden. Mein Rath ist Versöhnung auf der Basis von 1847 mit den nothwendigen und nützlichen Aenderungen, ohne den Versuch, den Kaiser zu demüthigen, den man als König groß haben will.93

Kossuth sollte solcherlei Rehabilitation nicht zuteilwerden. Vielmehr musste er einen mehrfachen symbolischen Tod sterben, insofern Wurzbach 29 Jahre vor Kossuths eigentlichem, physischen Verscheiden gleich zwei Todesdaten präsentiert: „So starb Kossuth in England und in der ganzen politischen Welt im Jahre 89 90 91 92 93

Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 260. Ebd., S. 262. Ebd., S. 266. Wurzbach: BLKÖ Bd. 41 (1880), S. 269. Ebd., S. 286.

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1859 den mora l is chen Tod, nachdem er den bü rge rl iche n schon mehrere Jahre früher erlitten hatte, da sein Hochverraths-Proceß von den Gerichten zu Ende geführt und er am 22. September 1851 in effigie hingerichtet worden war.“94 Kossuth bis zum Schluss diskreditierend, spricht der Lexikograph indirekt die anderen Akteure von einer Verantwortlichkeit für die Unabhängigkeitsbewegung Ungarns frei, rettet die ungarischen Eliten also gleichsam für das Narrativ des geeinten Reiches, indem er die ungarische Erhebung nicht als kollektive Handlung, sondern als Tat eines einzelnen, eigensüchtigen Mannes darstellt, dem alle Übrigen arglos anheimgefallen seien.

Chmel’nickij und Šamil’ im Russkij Biografičeskij Slovar’ Im RBS kann in Hinblick auf die Auswertung führender illoyaler Reichsangehöriger auf die Biographie des ersten ukrainischen Kosakenhetmans Bogdan Zinovij Chmel’nickij95 (*1595 vermutlich in Žovkva bei Lviv/Königreich Polen-Litauen, † 1657 in Čigirin/Russisches Reich) und des politisch-religiösen Anführers der muslimischen Bergvölker Tschetscheniens und Dagestans Imam Šamil’96 (*1798 in Gimry/Dagestan, † 1871 in Medina/Osmanisches Reich) verwiesen werden. Chmel’nickij stammte aus einer seinerzeit zu erschließenden Frontier-Zone im südwestlichen Steppengebiet, woraus das weitgehend autonome Hetmanat der Dnepr-Kosaken ab 1648 entstand. Šamil’ war in Tschechenien, einer ab 1813 im Zuge der etappenweisen russischen Eroberung Transkaukasiens offiziell unter russische Reichsherrschaft geratenen neuen imperialen Peripherie, geboren worden.

94 Wurzbach: BLKÖ Bd. 13 (1865), S. 20 (Hervorhebung im Original). 95 Polovcov: RBS Bd. 21 (1901), S. 347–362. Autor: Alekej Ivanovič Markevič (*1847, †1903) – ein aus dem Gouvernement Černigov (Ukraine) stammender Historiker, der ab 1895 Geschichtsprofessor an der Kaiserlichen Neurussischen Universität (Imperatorskij Novorossijskij Universitet) in Odessa wurde. Als aktives Mitglied der Kaiserlichen Moskauer Archäologischen Gesellschaft (Imperatorskoe Moskovskoe Archeologičeskoe Obščestvo) hielt er zahlreiche Reden auf den Archäologischen Kongressen und schrieb Artikel v.a. über die russische Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Als Biograph gab er u. a. Abhandlungen über die Familie Markoviči (Kiev 1890) und Graf Ivan Pavlovič Kutajsov (Odessa 1900) heraus. Vgl. Friedrich Arnold Brockhaus/Ilja Abramovič Efron (Hrsg.): Ėnciklopedičeskij slovar‹ Brokgauz i Efron. 86 Bde. St. Petersburg 1890–1907 (http://gatchina3000.ru/ brokhaus-and-efron-encyclopedic-dictionary/) (zuletzt konsultiert am 12.11.2013). 96 Polovcov: RBS Bd. 22 (1905), S. 498–513. Autor: Petr Michajlovič Majkov (*1833, †1918) – Staatsratsbeamter in der Abteilung für Kodifizierung beim Staatsrat (kodifikacionnyj otdel pri Gosudarstvennom Sovete), Richter auf regionaler Ebene und Historiker.

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Die Biographie Chmel’nickijs beginnt mit einem Bericht von verschiedenen, vielfach verbreiteten Deutungsansätzen. Diesbezüglich wird aufgezeigt, dass man mit dem vorliegenden Beitrag Klarheit über den historischen Tatbestand liefern wolle, um das Leben jener umstrittenen Persönlichkeit nachzuzeichnen: Das sich Mitte des 17. Jahrhunderts ereignende Geschehnis höchster historischer Bedeutung, ‒ die Vereinigung von Groß-, Klein- und Weißrussland, welche die Herausbildung des großen gesamtrussischen Imperiums vorbereitet hat, mit dem resoluten Streben nach der Aneignung der westeuropäischen Kultur, ist eng mit dem Wirken des Hetmans Bogdan Chmel’nickij verbunden. Es ist kein Wunder, dass dieses Wirken, wie auch seine ganze Persönlichkeit in unserer Historiographie ein nicht minder großes Interesse erweckt haben; während sich diese Historiographie v.a. durch die Abhängigkeit von der subjektiven Perspektive der Forscher auszeichnete und zu einem Beispiel leidenschaftlicher Polemik wurde, bleibt Chmel’nickijs Persönlichkeit bis heute noch weitgehend unerhellt.97

Der Biograph rettet Chmel’nickij für ein imperiales Narrativ, wenn er schon zu Beginn seiner Darlegungen die Bedeutung des Hetmans für das Russische Imperium herausstellt, d. h. dessen Person eindeutig und bewusst von der Idee eines ukrainischen Nationalhelden löst. Indem an diesem Punkt der vermeintlich unwissenschaftliche, weil emotional-subjektive Blickwinkel der herkömmlichen Betrachtung Chmel’nickijs als „in angehäuften Legenden verstrickt“98 abgelehnt wird, soll offensichtlich der allgemeine Anspruch, alle Lebensskizzen im RBS objektiv zu gestalten, unterstrichen werden. Diese betonte Sachlichkeit stellt sich jedoch sogleich als Tendenz heraus, den Einheitsstaat der großen russischen Nation im Sinne des Moskauer Reichs zu befürworten. Chmel’nickij habe die beste Ausbildung in Kiev und Warschau genossen, weshalb er „[…] ein kultivierter und gebildeter Mensch selbstredend nach polnischer Art war.“99 In jener polnischen Art habe Chmel’nickij erwartungsgemäß ein enges Vertrauensverhältnis zum polnischen König gepflegt: „Es ist leicht zu erkennen, dass der König, indem er Chmel’nickij Ratschläge erteilte, ihn als einen einflussreichen Staatsmann des Königreichs Polen und seiner Anhänger ansah […].“100 Dementsprechend sei Chmel’nickij in seinem Kampf gegen die polnischen Magnaten stets auf Seiten des polnischen Königshauses gewesen, wenn es heißt, dass 97 Polovcov: RBS Bd. 21 (1901), S. 347. 98 Ebd., S. 348. 99 Ebd., S. 347. 100 Ebd., S. 350.

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„[…] der König sich bei den Kosaken beschwerte, dass die Magnaten ihm nicht gehorchten und sein Land zerstörten“101 und „[…] er [Chmel’nickij, Verf.] begann, energisch die Unzufriedenheit der Kosaken gegenüber dem polnischen Adel zu schüren, aber nicht gegenüber dem König.“102 Der Biograph versichert dem Leser hiermit wiederholt die Nähe Cheml’nickijs zum polnisch-litauischen Königreich, gegen welches er sich für die ukrainischen Kosakenrechte nach ukrainisch-nationalhistorischer Überlieferung vehement eingesetzt haben soll. Die angebliche Unklarheit der Positionierung Chmel’nickijs, wie beispielsweise sein Paktieren mit den Tataren, wird zwar angedeutet, jedoch nur um gleich darauf klarzustellen, dass es sich bei Chmel’nickij keinesfalls um einen Volksanführer gehandelt habe, sondern um einen Menschen, der v.a. für seine eigenen Interessen eingestanden sei und immerfort Partei für die polnische Krone ergriffen habe.103 Zugleich habe Chmel’nickij nie die Gunst der Moskauer Regierung (blagosklonnost' Moskovskogo pravitel'stva) ausgeschlagen. Er habe dem russischen Zaren versichert, die Kosaken würden für den orthodoxen Glauben kämpfen, und eröffnet, „[…] dass nicht Kleinrussland eingegliedert, sondern dass es zu einer Thronbesteigung in Polen kommen werde.“104 Kommentiert wird dieses unbeständige Verhalten nur mit der Bemerkung, dass an solcherlei Mehrfachloyalität nichts Ungewöhnliches gewesen (ničego osobennago) sei, sodass man Chmel’nickij gar als Diplomaten bezeichnen könne. Einzig die ukrainische Bevölkerung (ukrainskoe naselenie) „[…] richtete so ein Blutbad unter dem polnischen Adel und unter den Katholiken insgesamt wie auch unter den Juden an, wie es sich noch nie zuvor zugetragen hatte […].“105 So gesehen dürfe der Aufstand der ukrainischen Kosaken gegen die Herrschaft Polen-Litauens 1648 nicht unmittelbar auf Chmel’nickij zurückgeführt werden, da dieser „[…] zur großen Verwunderung der Polen, Kosaken und Tataren“106 dem polnischen König nach wie vor „[…] mit untertänigen Gefühlen“107 die Treue gehalten habe. Nichtsdestoweniger sei Chmel’nickij erstaunlicherweise in Kiev als Befreier vom polnischen Joch und als Verfechter der Orthodoxie gefeiert worden, was ihm letztlich eine, wie der Biograph mit ironischem Unterton bemerkt, internationale Popularität eingebracht habe.108 Doch bald sollte Chmel’nickij laut Lebensskizze 101 Polovcov: RBS Bd. 21 (1901), S. 349. 102 Ebd., S. 350. 103 Ebd., S. 352. 104 Ebd., S. 353. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Polovcov: RBS Bd. 21 (1901), S. 355f. 108 Ebd., S. 354.

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den Überblick über die aufständische Masse (vozstavšie massy) verlieren, indem er ein Leben nach den Gewohnheiten des polnischen Adels (polskij pan) führte und in der Ukraine vorwiegend die polnische Ordnung beizubehalten pflegte.109 So habe er gar den polnischen Adel in der Unterdrückung der Volksrevolten unterstützt und den Stand der kleinrussischen Gutsbesitzer begründet, womit er „[…] sich verbog, wie er konnte, mit dem Wunsch, beide Seiten zu bedienen […].“110 Chmel’nickijs Opportunismus und Käuflichkeit unterstreicht der Autor nochmals besonders eindringlich mit dem Hinweis auf die Verhandlungen des Helden mit den Krimtataren, den Osmanen, den Transsilvaniern und den Schweden, denen er für ihre Unterstützung nicht selten die Unterwerfung der Ukraine versprach.111 Ein solches Auftreten habe, so mutmaßt der Biograph, die Truppen Chmel’nickijs stark dezimiert: „Es scheint, der vorangegangene Umgang Chmel’nickijs mit dem Volk war der Grund dafür, dass seine Truppen nicht mehr so zahlreich waren wie früher […].“112 Neue Truppen zusammenzustellen sei ihm indes schwergefallen, da nunmehr „[…] das Volk ihm gegenüber feindlich gestimmt war […].“113, währenddessen „[…] die Beschreibungen der Zeitzeugen keinen Zweifel daran lassen, dass die polnischen Adligen ihn als ihren Bruder betrachteten […].“114 Dergestalt wird illustriert, dass den Volksmassen (massa naroda) gar nichts anderes übrig geblieben sei, als aus der Ukraine in das Moskauer Reich überzusiedeln und von dort aus gegen die Polen und Chmel’nickij zu revoltieren, weil Chmel’nickij „gleichgültig zusah, wie man kosakische Heerführer hinrichtete […].“115 Das Unterfangen Moskaus, Kleinrussland in das Reich einzugliedern, sei demgemäß auf allgemeine Zustimmung gestoßen: „Der Vorschlag wurde durch die Rada mit großer Begeisterung angenommen, und auf diese Weise kam die Vereinigung von Groß- und Kleinrussland zustande.“116 An dieser Stelle wird unmissverständlich auf den Gründungsmythos des Moskauer Reiches verwiesen. Gleichwohl werden die Güte des Zaren und die freiwillige Unterordnung der ukrainischen Bevölkerung in Bezug auf die euphemistisch als Vereinigung betitelte Reichsexpansion zum Ausdruck gebracht. So als hätten zwei vormals auseinandergerissene Teile wieder zueinandergefunden. Gründe für etwaigen Widerstand werden von dem Biographen daher nur insofern formuliert, wie die Unterwerfung der Ukraine unter die 109 Vgl. ebd., S. 355. 110 Ebd., S. 356. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 357. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Polovcov: RBS Bd. 21 (1901), S. 359.

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zaristische Herrschaft von Chmel’nickij und den Kosaken fälschlicherweise als ein Verbund freier Völker (unija vol’nago naroda) angesehen wurde. Dies habe schließlich unweigerlich Reibereien zwischen der Reichsregierung, die auf ihren rechtmäßigen Herrschaftsanspruch bestand, und dem weitgehend autonomen Hetmanat verursachen müssen.117 Davon abgesehen hält der Biograph unbeirrt an dem Konstrukt fest, dass sich für die Erweiterung des Reiches die einfache Geistlichkeit (nizšee duchovenstvo), die Städter (gorožanе) und die Bauern (sel'skoe naselenie) ausgesprochen hätten, wohingegen sich die „[…] südlich-russische Schein-Aristokratie […]“118, da sie allmählich zum polnischen Adel avancierte, als einziger Gegner erwiesen habe. Weshalb Anhänger jenes neuen Stands hier auch als nichtig, egoistisch und raffgierig diskreditiert werden.119 Die Biographie Chmel’nickijs endet mit einer abenteuerlichen persönlichen Charakteristik, die dem Leser nochmals vor Augen führt, dass mit Hilfe Chmel’nickijs weder Groß- und Kleinrussland vereinigt worden seien, noch eine ukrainische Volksgemeinschaft sich ausgebildet habe. Er wäre nämlich mitnichten ein gebildeter Staatsmann, sondern eher ein Lebemann gewesen, der, wie auffällig häufig in der gesamten biographischen Skizze angemerkt, zu viel Alkohol konsumiert hätte. Im unverkennbaren Kontrast dazu wird zum Abschluss eine Aussage getroffen, die Chmel’nickij, ungeachtet seiner Schwächen und Fehltritte, ad hoc und paradoxerweise als loyale Figur ins Russische Reich einzubetten versteht: „Nichtsdestoweniger war Ch. ein russischer Mensch: er stand für die Ukraine und das Kosakentum ein, ließ sie weder von den Polen noch von den Moskauern kränken; er war sehr religiös und die Orthodoxie entfaltete in ihm eine wahrhaftige Kraft, auch wenn sie ihn nicht davon abhalten konnte, eine verheiratete Frau zu heiraten; so war es seinerzeit eben Sitte.“120 Folglich galt Chmel’nickij, wie im RBS beschrieben, nicht unbedingt im ethnischen, so doch unbestreitbar im essentiell-kulturellen und religiösen Sinne als russischer Mensch. Als autochthoner Bewohner eines der Kernländer des Moskauer Reiches und Anhänger des russisch-orthodoxen Glaubens wird Chmel’nickij, obwohl, wie eingangs behauptet, in polnischer Manier erzogen und nach der Lebensart des polnischen Adels ausgerichtet, dem Konzept des Heiligen Russlands121 letztlich doch gerecht. Mit der Akzentuierung des hohen Stellenwerts von Kleinrussland in unmittelbarer 117 Vgl. ebd. S. 359f. 118 Ebd., S. 360. 119 Vgl. ebd. 120 Ebd. S. 362. 121 Zum Konzept vom Heiligen Russland vgl. Hildegard Schaeder: Moskau das dritte Rom. Darmstadt 1963; Boris Uspenskij/Jurij Lotman: Die Idee „Moskau – Das Dritte Rom“ in der Ideologie Peters I. In: Boris Uspenskij (Hrsg.): Semiotik der Geschichte. Wien 1991,

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Verbindung zur Glaubenszugehörigkeit Chmel’nickijs wird die territoriale Vorstellung der großen russischen Nation besonders stark hervorgehoben. Die Existenz einer ukrainischen Nationalbewegung wird indes von vornherein negiert, indem der Biograph jegliche eigenständige nationale Identität der Ukrainer untergräbt. Da Chmel’nickij sich zudem aktiv stets um das Wohl seiner Landsleute bemüht habe, wäre er der ukrainischen Bevölkerung nur insoweit von Nutzen gewesen, wie diese dadurch, gemäß des imperialen Wachstumsprojekts, ins Russische Reich hätten heimkehren können. Als Fremder wird dagegen umso eindeutiger Šamil’ im RBS typisiert. Sein Leben spielte sich zudem nicht in der westlichen russisch-orthodoxen Peripherie ab. Im Gegensatz zu Chmel’nickij ist daher von einem Menschen von Rauheit (surovost') und unbesiegbarem Willen (nepreklonnaja volja) die Rede, und nicht etwa von einer gebildeten Persönlichkeit, wenn es gleich zu Beginn der Skizze verallgemeinernd heißt, „[…] dass es in ganz Tschetschenien nicht einen Gelehrten gab […].“122 Dieser Umstand und die radikale Auslegung des Korans durch die listige (chitraja) und findige (lovkaja) Sufi-Bruderschaft der Muridiyya hätten dazu geführt, dass Šamil’ v.a. für die Hetze zum „[…] Aufstand gegen die verhasste Regierungsmacht […]“ sowie zum „[…] Dschihad, d. h. Krieg für den Islam […]“ begeistert werden konnte.123 Infolgedessen bemühte sich Šamil’ „[…] sehr um die Vermehrung der Anzahl seiner Anhänger; strengte sich außerdem an, auf die religiösen Gefühle des Volkes bezüglich des äußeren Religionsritus Einfluss zu nehmen; behauptete von sich, sehr religiös und der Muridiyya ergeben zu sein.“124 Die Eindimensionalität der Darstellung von den vorwiegend religiös motivierten Ausschreitungen zwischen den imperialen Machthabern und den tschetschenischen Bergvölkern kommt besonders dann prägnant zum Ausdruck, wenn betont wird, dass Šamil’ lediglich auf ein Gerücht (budto by) über Zwangschristianisierung mit Gewalt reagiert hätte.125 So habe die Schuld für die kämpferischen Auseinandersetzungen laut Biograph definitiv bei Šamil’ selbst gelegen, welcher als maßgeblicher Anführer (glavnyj rukovoditel') die Gesetze der Scharia „[…] nach seinem Vorteil und Nutzen“126 auslegte, zum Krieg aufrief und damit den religiösen Fanatismus (religioznyj fanatizm) schürte. Indessen sei es Šamil’ gelungen, die Tschetschenen sogar gegen ihren Willen ‒ „den Tschetschenen gefiel S. 113–129; Dmitri Ivantsov: Russische Idee: Transfer ins XXI. Jahrhundert. Leipzig 2008, S. 10–50. 122 Polovcov: RBS Bd. 22 (1905), S. 498. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 499. 125 Vgl. Polovcov: RBS Bd. 22 (1905), S. 449. 126 Ebd., S. 499.

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dies nicht […]“127 ‒ allesamt zu bewaffnen und zum Wehrdienst zu verpflichten, während er „[…] insbesondere die Regeln des Korans bezüglich des Heiligen Kriegs der Bevölkerung propagierte.“128 Ungeachtet dieser immensen Organisationsleistung wird in der Biographie Šamil’s fortwährend der Begriff der Stämme (plemena) und Haufen (skopišča) verwandt, wenn es sich um Beschreibungen der Schlachten zwischen den eigenen russischen Truppen (naši vojska) und den tschetschenischen Guerillakämpfern handelt. Hierin und in der Erwähnung, dass Šamil’ zu keinerlei Verhandlungen mit dem Zaren bereit gewesen sei, wird die Vermutung laut, dass man es mit unzivilisierten und irrationalen Menschen zu tun hatte. Die Darlegung der sukzessiven Machtzunahme Šamil’s und seiner Anhänger sowie der Verbreitung eines fundamentalistischen Islams, suggeriert dem Leser gleichwohl die Gefahr eines unaufhaltsamen Prozesses, dem man, so eine eingeschobene Empfehlung des Biographen, mit weiteren Truppen hätte Einhalt gebieten müssen: „Es war unumgänglich, gegen Šamil’ energisch einzugreifen, indem man hätte zahlreiche Truppen entsenden müssen; doch dies wurde nicht gemacht […].“129 Der zerstörerischen Kraft Šamil’s, welcher gleichwohl auch Tschetschenen, die sich dem Russischen Reich gegenüber loyal verhielten, einbezog, habe man daraufhin nur noch mit der von Šamil’ selbst betriebenen Taktik verbrannter Erde entgegnen können: „[…] unsere Truppen bewegten sich weiter, während sie auf dem Weg liegende Dörfer in Brand setzten. Dies hatte bei den Bergvölkern einen bedrückenden Eindruck hinterlassen. Šamil’ überzeugte sich, dass ein Kampf mit den Russen in Tschetschenien unmöglich und dass er nicht in der Lage gewesen wäre, diesen unter seiner Hand zu halten.“130 An dieser Stelle wird folglich das vermeintlich geniale Kalkül der russischen Kriegsführung gepriesen. Ohne die Führung und den moralischen Einfluss Šamil’s seien die Bergbewohner sodann auch keine religiösen Fanatiker mehr gewesen und hätten sich, erschöpft vom dauerhaften Kampf, 1856 schließlich freiwillig der russischen Staatsregierung unterworfen.131 Jegliche unehrenhaften Versuche Šamil’s, die Tschetschenen doch noch vom Festhalten am Widerstand zu überzeugen, haben daher fehlschlagen müssen.132 Unterdessen hätten sich die russischen Truppen stets als faire und gutmütige Gegner erwiesen, was der Biograph durch das Detail herausstreicht, dass „Seine

127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 502. 130 Ebd., S. 509. 131 Vgl. Polovcov: RBS Bd. 22 (1905), S. 510f. 132 Vgl. ebd., S. 511.

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Majestät Šamil’ liebevoll umarmte und küsste und Kaluga als den Ort seines Aufenthalts bestimmte.“133 Solchermaßen wird Šamil’s Festnahme und Verbannung zu einem Akt der Gnade des Zaren uminterpretiert. Ähnlich beschönigend schließt die Lebensdarstellung daher mit einer Beschreibung von harmonisch zugebrachten letzten Lebensjahren ab: Šamil’ unterwarf sich seinem Schicksal vollkommen, lebte vollkommen ruhig das Leben eines Privatmenschen in Kaluga und leistete bald, auf eigenen Wunsch, einen Eid zur untertänigsten Treue zu Russland. […] Später bat er um Erlaubnis, nach Mekka zum Grab von Mohammed pilgern zu dürfen. Dies wurde ihm freilich gewährt, und während seines Pilgerns starb Šamil’ in Medina im Jahre 1871.134

Auf diese Weise wird Šamil’ auf den letzten Zeilen schließlich doch noch zu einem loyalen Angehörigen des Russischen Reiches stilisiert. Es scheint, dass der Autor an dieser Stelle aufzeigen wollte, dass es im Zuge der transkaukasischen Reichsexpansion zunächst zwar einer gewaltsamen Machtdemonstration vonseiten des Russischen Imperiums bedurfte, um Ordnung und Ruhe, d. h. zivilisierte Strukturen, zu schaffen. Sobald jedoch der Status quo weitgehend garantiert werden konnte, galt der vormalige Erzfeind scheinbar als ein bezwungenes, passives Mitglied der imperialen Gemeinschaft, das man für manche seiner Charakterzüge sogar bewundern konnte. Die Reichsregierung ließ so gesehen in ihrer Siegerpolitik Milde und in ihrer Religionspolitik Toleranz walten, angesichts dessen, dass sie Šamil’ am Leben ließ und ihm eine Pilgerfahrt nach Mekka gewährte. Aus dieser Simplifizierungsstrategie geht anschaulich hervor, dass die Formung und Legitimierung eines imperialen Gesamtstaatsbewusstseins Ende des 19. Jahrhunderts in klarer Abgrenzung zu einer vermeintlich unzivilisierten und unorthodoxen, gänzlich fremden Bevölkerung der neu zu erschließenden und zu gestaltenden Peripherie erfolgte.

Schlussbetrachtung Sowohl im BLKÖ als auch im RBS orientieren sich die jeweiligen Autoren beim Verfassen der Biographien denkwürdiger Reichsmitglieder an einer vertikal verlaufenden Zentralisierungstendenz, was verdeutlicht, dass die Legitimierung der imperialen Herrschaft ausschließlich von oben stattfand. Aus den hier vorgestellten 133 Ebd., S. 512. 134 Ebd.

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Beiträgen geht beispielhaft hervor, dass latente Gewaltandrohung gegenüber aufbegehrenden, peripheren Eliten-Angehörigen zur Vermeidung einer Schwächung der Regierungsmacht gerechtfertigt erschien. Darüber hinaus wird in beiden Lexika der merklich überspannte Versuch unternommen, die Gesinnung wie das Gemüt illoyaler Persönlichkeiten abzubilden. Ziel ist es offenbar, zu suggerieren, dass ein rationales, mäßiges Handeln in Hinblick auf Modernisierungsbestrebungen einzig dem Wohl des Reiches gereichen würde, hingegen ein mutmaßlich affektives, vernunftwidriges Vorgehen das imperiale System von innen zu zerstören drohe. Eine Konstanz der imperialen Herrschaftsstrukturen wird dadurch propagiert, dass niemand es vermöge, sie jemals aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Darstellung definitiven Widerstandes gegen die Staatsgewalt wird in beiden biographischen Sammelwerken folglich zur Bestätigung überlegener imperialer Macht aus dezidiert aristokratischer Perspektive benutzt. Jene vermeintliche Überlegenheit zeigt sich in der grundsätzlichen Bereitschaft zur Kommunikation und zu Reformen. Je eher man die jeweiligen Aufsässigen unter dem Gesichtspunkt einer gewissen Verhandlungsbereitschaft im Sinne des Fortbestandes des Imperiums vereinnahmen konnte, desto ehrenhafter und mutiger wird deren Aufbegehren in den Lexika dargeboten. Personen, welche in dieser Hinsicht nicht instrumentalisiert werden konnten, finden als tragisch-kuriose, sich von der restlichen Bevölkerung abspaltende Einzelfälle und als Exempel ihres eigenen Scheiterns in den Nachschlagewerken Platz. Das BLKÖ unterscheidet sich vom RBS in erster Linie dadurch, dass darin die Geschichte der Habsburgermonarchie kontinuierlich verklärt wird, indem immerfort auf eine vermeintlich friedfertige und einvernehmliche Vergangenheit rekurriert wird, die es um jeden Preis weitgehend aufrechtzuerhalten gelte. Das hierin zugrunde liegende Gesamtstaatsbewusstsein basiert vorwiegend auf der Erinnerung an die fatalen Geschehnisse im Revolutionsjahr 1848, womit sie als mahnende Grundlage zur Bewertung alles weiteren Schaffens und Wirkens nachfolgender Reichsmitglieder fungieren. Im RBS hingegen scheut man sich weniger davor, soziale und politische Missstände aus der Vergangenheit des Russischen Reiches zu benennen. Unruhen, wie die des Jahres 1648, werden gar als unvermeidbares Fatum für Fortschritt anerkannt. Aus der Lebensskizze Šamil’s, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, d. h. in der späten Expansionsphase des Romanov Imperiums verortet ist, lässt sich gar entnehmen, dass Kriterien, wie die der religiösen Zugehörigkeit und kulturellen Abstammung zur Stärkung des russischen imperialen Selbstverständnisses um die Jahrhundertwende beigetragen hätten. Im RBS ist von einem friedvollen geeinten russischen Staat demnach auch nur dann die Rede, wenn ein harmonisches Miteinander von vermeintlich vertrauten, durch eine gemeinsame

Biographische Lexika-Projekte des 19. Jahrhunderts als Werkstätten imperialer Narrative

Geschichte, Religion und Kultur eng verbundenen Volksgemeinschaften bestünde. Allein auf diese Weise könnten die Maßnahmen einer kulturellen Russifizierung135 eine vollständige Assimilation bewirken. Sobald jedoch ein neuer sog. fremdstämmiger, revolutionärer Reichsbewohner wie Šamil’ im RBS verhandelt wird, der einer anderen Konfession angehört, eine andere Sprache spricht und nach unbekannter Gesellschaftsordnung lebt, schiebt sich der Diskurs des Wilden, d.h. eines Wilden, den es vonseiten der Regierung mit bester Absicht zu überwältigen und zu zivilisieren gelte, in den Vordergrund. Auf diese Weise lassen sich die Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremden im Russischen Reich des späten 19. Jahrhunderts vortrefflich nachvollziehen. Bei dem Unternehmen, das BLKÖ und den RBS vergleichend als Werkstätten imperialer Narrative zu betrachten, wurde hierbei am Beispiel der Biographien aufrührerischer Eliten ein gewisser gesamtstaatlicher Impetus aus dem jeweiligen semantischen Feld beider Lexika ersichtlich. Herausgefordert durch die Idee, das Reich für die Ewigkeit, über jegliche Gefahr des Zerfalls hinweg, zu konservieren, verwoben Wurzbach wie Polovcov ihre imperial geprägten Anschauungen mit den jeweiligen sammelbiographischen Erzählungen zu zukunftsgerichteten Legendenbildungen. Beide Werke fußen demzufolge auf der Vorstellung einer gewissen Dynamik, die es durchaus erlaubt, Spielräume des Individuellen, d. h. Widersprüchlichkeiten, Inkongruenzen und Brüche, zu kreieren, zu formen oder auch zu negieren. Die Biographien des BLKÖ sowie des RBS basieren, wie hier exemplarisch aufgezeigt, zu einem großen Teil auf den entsprechend situativen Eingriffen der Biographen in das große Rollenrepertoire imperialer Akteure, um deren kulturelle Heterogenität, Flexibilität und Mobilität als Integrationsvorteil in puncto Reichslegitimierung auszulegen. Die Lexika bilden auf diese Weise einerseits im Besonderen relevante und nützliche Biographien für das Imperium ab, prägen andererseits aber zugleich auch im Allgemeinen als deutungsmächtige Medien ein vielschichtiges Metanarrativ von Reich entschieden mit.

135 Vgl. zur Russifizierungsdebatte Edward Thaden (Hrsg.): Russification in the Baltic Provinces and Finland, 1855–1914. Princeton 1981; Geoffrey Hosking: Russland. Nation und Imperium 1552–1917. Berlin 2000, S. 399–430; Vera Tolz: Russia. Inventing the Nation. London, New York 2001, S. 155–190; Aleksej Miller: Russification or Russifications. In: ders.: The Romanov Empire and Nationalism. Budapest, New York 2008, S. 45–65.

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Spätosmanische und postosmanische autobiografische Praxis Einige Beobachtungen

Thema dieses Kapitels ist die spätosmanische und nachosmanische Autobiografik und Memoirenliteratur, in der ein Ich explizit aus osmanischen Bezügen heraus artikuliert wird. Diese Literatur ist umfangreich, und es gibt noch keinen grundlegenden Überblick oder auch nur systematische Durchgänge durch sie. Mein Aufsatz artikuliert einige Wegmarken zu ihrem Verständnis. Die osmanische geht offenbar mit einer allgemeinen Konjunktur autobiografischer Praxis auch im späten Zarenreich und Habsburgerreich einher. Der seit 1815 vergleichsweise ruhende politische Boden der Old World Europas, Russlands und der osmanischen Welt ist in den 1870er Jahren auf mehreren Ebenen unwiderruflich in Bewegung geraten. Breites „Unbehagen“ durchdrang, mit dem Zeitgenossen Sigmund Freud gesprochen, ihre „Kultur“, wofür sich die boomhaften autobiografischen Texte als Zeugnisse lesen lassen. Die akute osmanische Krise der 1870er Jahre, der Berliner Kongress mit seinen neu ethnoreligiös fundierten postosmanischen Balkanstaaten und das neu benannte europäische Phänomen des Antisemitismus erscheinen als Zäsuren vor dem Boom. Dieser setzte in der osmanischen Welt allerdings erst etwas später als in den beiden benachbarten Vielvölkerreichen ein.

1. Kataklysmos und Boom (post-)osmanischer Ego-Dokumentation Ali Kemal (1867–1922), Literat und Politiker, beklagte zu Beginn seiner 1913 publizierten Selbstbiografie Ömrüm (Mein Leben) das Defizit an Memoiren in der türkischsprachigen osmanischen Welt. Er verband diese Leerstelle mit einem Mangel an Fähigkeit zur Projektion der Zukunft, denn diese bedinge Vertrautheit mit der Vergangenheit, was aus seiner Sicht einer reichhaltigen Autobiografik

Spätosmanische und postosmanische autobiografische Praxis

bedurfte.1 Reichhaltig war sie am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch nicht. Dennoch gab es einige wichtige, neuartige, spätimperiale Ego-Dokumente: so das erst 1991 erschienene Tagebuch des Abgeordneten Lütfi Fikri (1872–1934), das ein Ich im politischen Ausnahmezustand des Jahres 1913, nach dem jungtürkischen Putsch, beschreibt. So Ahmet Şerifs reisejournalistische Bestandsaufnahme des Osmanischen Reichs kurz vor dem Ersten Weltkrieg – umfangreiche Serien von Berichten in der jungtürkischen Zeitung Tanîn, die ein aufgewühltes, immer wieder frustriertes, aufbegehrendes spätosmanisch-muslimisches Ich voller Selbstzweifel mannigfach zur Sprache bringen.2 So auch Ömer Seyfettin (1884–1920): Der hervorragende Schriftsteller des Türkismus (türkischen Ethnonationalismus) ist durch Erzählungen mit ihrem direktem Stil und einer bewusst einfachen türkischen, nicht hochosmanischen Sprache bekannt geworden; dies gilt auch für sein kurzes Tagebuch über seinen Einsatz und die Kriegsgefangenschaft im Ersten Balkankrieg, 1912/13, die ihn prägten.3 Wir können Gattungsgrenzen sprengen. Wir könnten einen Großteil gesellschaftlich relevanter Historiografie in der nachosmanischen Welt bis ins späte 20. Jahrhundert als Produkte autobiografischer Praxis im weiteren Sinne bezeichnen – mangels übergreifender, professioneller Meistererzählungen (dazu nochmals am Schluss, Teil 4). Wir könnten auch ein von Ziya Gökalp (1876–1924) 1913 veröffentlichtes Gedicht als Ego-Dokument lesen: Darin erzählt uns dieser Prophet einer türkischen Zukunft eine Begegnung mit einer bezaubernden Fee aus Baku und seine Entwicklung zum pathetisch „idealistischen“ Türkisten. Noch nach der Revolution vom Juli 1908 hatte Gökalp als gemeinosmanischer Patriot eine föderalistische osmanische Zukunft postuliert und in Diyarbekir kurdische Gedichte veröffentlicht. Gökalps Gedicht Kızılelma (Roter Apfel) verhieß explizit einen neuen Adam, eine neue Eva und neues Leben in pantürkischer Zugehörigkeit und einem neu entdeckten „Geist des Islams“. Dafür müssten indes, so wiederum explizit, die Bäume im Garten des Reichs gestutzt und neu gepfropft werden.4 Die Prophetie hatte apokalyptischen Anspruch, nämlich den, eine letztgültige 1 Ali Kemal: Ömrüm [Mein Leben]. Istanbul 2001, S. 9 (Neuauflage). Ali Kemal wurde nach dem Ersten Weltkrieg Innenminister der Istanbuler Regierung und 1922 durch kemalistische Kräfte getötet. 2 Neuausgabe: Ahmet Şerif: Arnavudluk’da, Sûriye’de, Trablusgarb’de Tanîn [Die Zeitung Tanîn in Albanien, Syrien und Libyen], sowie Anadolu’da Tanîn [Die Zeitung Tanîn in Anatolien], 2 Bde., hrsg. v. Mehmed Ç. Börekçi. Ankara 1999. 3 Ömer Seyfeddin: Balkan harbi hatıraları [Erinnerungen an den Balkankrieg], hrsg. v. Tahsin Yıldırım. İstanbul 2011. 4 Türk Yurdu 2:31, 10 Kânunisanî 1328/ 23 Ocak 1913 (5. Februar 1913). Neuausgabe von Türk Yurdu: Ankara 1998, Bd. 2, S. 118.

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Ordnung im „Geist der Türken“ zu offenbaren. Gökalp, oft Vater des türkischen Nationalismus genannt, war Mitglied des jungtürkischen Zentralkomitees und übte danach auch auf Kemal Atatürk einen großen Einfluss aus. Nach dem Ersten Weltkrieg, der Niederlage an der Seite Deutschlands und während oder nach dem gewonnen Krieg um Kleinasien (1919–1922) wurden viele Memoiren geschrieben und – zum Teil erst Jahrzehnte später – veröffentlicht. „Memory boom“ hat dies Hülya Adak genannt.5 Obwohl kein Erforscher speziell von Memoirenliteratur wie Adak, habe ich in meinem Büro etwa zwei Dutzend Bücher stehen mit dem osmanischen Titel Hatıratım (oder Hatıralarım oder türkish Anılarım) oder Hayatım/Ömrüm, was „Meine Erinnerungen“, „Erinnerungen“ bzw. „Mein Leben“ heißt. Sie stammen meist von politisierten türkischsprachigen Männern mit Hochschulbildung, die im späten 19. Jahrhundert geboren sind und auf das erste Drittel oder die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückschauen. Wir sind da bei einer ähnlichen Kohorte, die Volker Depkat für Deutschland untersucht hat.6 Anders als in Deutschland verstanden sich die prägenden politischen Eliten des späten Osmanischen Reichs, im Umbruch der 1910er Jahre, bereits als revolutionär. Anders als in Deutschland prägten sie erfolgreich die Türkei des ganzen 20. Jahrhunderts. Die Memoiren Als ein Reich zusammenbrach der 84-jährigen Schriftstellerin Cahit Uçuk (1911–2004) folgten noch 1995 dem Narrativ des imperialen Kollapses und erfolgreichen republikanischen Neuaufbaus in Kleinasien – sechzehn Jahre nachdem erstmals die Memoiren von Mithat Şükrü Bleda (1874–1956), Generalsekretär des jungtürkischen Komitees im Ersten Weltkrieg und später Abgeordneter in Ankara, unter dem Titel Der Zusammenbruch des Imperiums erschienen waren.7 Die Jungtürken erwiesen sich nachhaltiger als die Revolutionäre in Russland, die drei Jahre nach ihnen an die Spitze eines Imperiums gelangten. Denn erst im frühen 21. Jahrhundert kam es zu einer bedeutenden, wenn auch nur teilweisen Demontage des Kemalismus und des Jungtürkentums, aus dem der Kemalismus hervorgegangen war. Die zentrale Phase autobiografischen Schreibens ehemaliger Osmanen, ob Jungtürken oder andere, fiel mit der Umgestaltung der osmanischen Welt von der Jungtürkischen Revolution von 1908 bis zum Ende der Zwischen5 Hülya Adak: Beyond the catastrophic divide. Walking with Halide Edip (the Turkish „Jeanne d’Arc“) through the ambiguous terrains of World War I. In: C. Ulbrich/H. Medick/A. Schaser (Hrsg.): Selbstzeugnis und Person: transkulturelle Perspektiven. Köln 2012. S. 357–379, 379. 6 Volker Depkat: Lebenswenden und Zeitenwenden: deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. München 2007. 7 Cahit Uçuk: Bir imperatorluk çökerken [Ein Reich bricht zusammen]. İstanbul 1999; Mithat Şükrü Bleda: İmparatorluğun çöküşü [Zusammenbruch eines Reichs]. Ankara 1979.

Spätosmanische und postosmanische autobiografische Praxis

kriegszeit zusammen, vor allem im Jahrzehnt des osmanischen „Kataklysmos“8 von 1912–1922. Dieser schließt die Balkankriege, den Ersten Weltkrieg und den Krieg um Kleinasien ein. Er umschließt damit die Zerstörung des noch verbliebenen osmanischen Zusammenhalts gemeinsam mit der Grundlegung eines türkischen Nationalstaats in Kleinasien und einer wenig stabilen postosmanischen Ordnung der arabischen Welt. Ein Angelpunkt postosmanischen autobiografischen Schreibens ist der Umgang mit dem Kataklysmos. Dazu gehört, sich aus der osmanischen Welt „herauszuschreiben“ oder nicht; sich in neue, nationalstaatliche Verhältnisse einzuschreiben oder nicht; sich für das Eine, das Andere oder eine dritte, unerfüllte Perspektive und die Blickrichtung dorthin zu rechtfertigen; Zeugnis für Vergangenes abzulegen und/oder sich davon abzusetzen; Widersacher, Täter der Zerstörung oder Konkurrenten bloßzustellen; Verlorenes und verpasste Möglichkeiten anzusprechen; Erfolg und Triumph zu äußern; oder eine Aporie, einen Suspens narrativer Geschichte oder einzig noch tragende, hindurchtragende religiöse Referenzen 9 zu artikulieren.

2. Nichttürkische Selbstzeugnisse Das Studium autobiografischer Praxis darf sich nicht auf osmanischsprachige und türkischsprachige10 Texte beschränken, auch wenn ich dies in meinem limitierten Beitrag großenteils tun werde. Ebenso viele übersetzte osmanisch-armenische bzw. postosmanisch-armenische Memoiren der gleichen Generation Der Ausdruck The Ottoman Cataclysm – kürzlich Titel einer Tagung an der Universität Basel – übernimmt den Begriff Kataklysmos aus der Septuaginta, die ihn für die Sintflut gebraucht. Ottoman Cataclysm bezeichnet den grundstürzenden Umbruch der östlichen Mittelmeerwelt, sowohl den inneren als auch äußeren Zusammenbruch osmanischen Zusammenhalts in den 1910er Jahren; mithin eine grundlegende, freilich durch das Jungtürkentum traversierte Zäsur. 9 So in Krikor Balakians Komposition von Memoiren und Zeitgeschichte in religiöser Sprache: Krikor Balakian: Das armenische Golgotha (armenisch).Wien 1922. (Armenian Golgotha. A Memoir of The Armenian Genocide, 1915–1918, übers. aus dem Armenischen von P. Balakian und A. Sevag. New York 2009). Vgl. Valentina Calzolari: 1915 dans la littérature arménienne: Le Golgotha arménien de Griogris Balakian. In: H. Kieser/E. Plozza (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern, Die Türkei und Europa. Zürich 2006, S. 91–106. Vgl. auch weiter unten die Abschnitte über Melûlî Baba und Said Nursi. 10 Osmanisch und Türkisch führe ich hier darum getrennt auf, weil die junge Republik Türkei die osmanisch-türkische Sprache massiv verändert hat. Selbst gebildete Türkischsprachige können heute die in lateinische Lettern transkribierte Ausgabe von Ali Kemals Ömrüm nur 8

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stehen in meinen Regalen.11 Neben osmanisch- und türkischsprachigen sind auch griechisch-, armenisch-, arabischsprachige und judenspanische (beziehungsweise ladinosprachige) Texte einzubeziehen; und solche von Kurden mit spezifisch kurdischen Referenzen, selbst wenn sie auf Osmanisch schrieben. Zu berücksichtigen sind auch diejenigen in verschiedenen Sprachen von Missionaren, Funktionären, Ingenieuren, Ärzten etc., Frauen und Männern, die zum Teil jahrzehntelang im Osmanischen Reich lebten. So zum Beispiel Louis Rambert (1839–1919), der Waadtländer Generaldirektor der osmanischen Régie des Tabacs, eines Organs der internationalen Verwaltung osmanischer Schulden. Er lebte seit 1891 in Istanbul.12 Von weit größerem Umfang ist das autobiografische Schrifttum, das Nahost-Missionarinnen und -Missionare verschiedener Organisationen und Denominationen hinterlassen haben. Viele autobiografische Texte der verschiedenen genannten Provenienzen sind seit dem späten 20. Jahrhundert wieder oder zum ersten Mal publiziert worden. Das hängt in diesem Falle nicht nur mit einem generellen neuen akademischen Interesse an Imperien und an Selbstzeugnissen zusammen, sondern speziell damit, dass der Kemalismus in seinem revolutionär-emanzipatorischen Selbstverständnis der Zwischenkriegszeit das spätosmanische Erbe, insbesondere den osmanischen Kataklysmos der 1910er Jahre, massiv verdrängt und verstellt und zugleich den internationalen Umgang mit diesen Themen auf Jahrzehnte beeinflusst hatte. Eine analoge Absetzung von der osmanisch-islamischen Referenzwelt, wenn auch weniger stark ausgebildet, da weniger kompensationsbedürftig, lässt sich bei den postosmanischen Nationalismen nichtmuslimischer Volksgruppen vor allem auf dem Balkan feststellen. Armenische autobiografische Praxis mit Bezug auf die spätosmanische Epoche hat besondere Charakteristika. Der überwiegende Teil der osmanischen Armenier, insbesondere die dominierende Partei ARF (Armenische Revolutionäre Föderation), die 1907–1912 mit dem jungtürkischen Komitee Einheit und Fortschritt im Bündnis stand, hatte ihre nationale Zukunft in einem reformierten, demokratisierten osmanisch-imperialen Rahmen angestrebt. Diese Perspektive stand auch vielen anderen nichtmuslimischen und muslimischen Osmaninnen und Osmanen nach der Jungtürkischen Revolution 1908 vor Augen. Konkrete Hoffnung auf eine reformierte osmanische Zukunft war berechtigt, da noch am 8. Februar 1914 mit einem Wörterbuch lesen. Das Original in arabischen Buchstaben bleibt den meisten unzugänglich. 11 Zur armenischen Autobiographik vgl. den Beitrag von Elke Hartmannn in diesem Band. 12 Ramberts fast vierzig Tagebuchbände schlummern im Musée du Vieux Vevey in Vevey am Genfersee.

Spätosmanische und postosmanische autobiografische Praxis

der Großwesir einen weitreichenden Reformplan für die armenisch-kurdischen Ostprovinzen unterschrieb. Statt dieser Zukunft mussten sich die Armenier mit der jähen Verneinung der Reformperspektive im Spätsommer 1914, der vergeblichen Hoffnung vieler auf einen raschen Sieg der Entente im ersten Kriegsjahr, und, nach 1915, mit dem Verlust ihrer Heimat, ihrer kollektiven Hoffnung für diese, ihres osmanischen Referenzrahmens und mit der erlittenen Vernichtung auseinandersetzen. Diesem hatten die eigenen Kräfte fast nichts entgegensetzen können. Männer und Frauen taten dies zeugenhaft erinnernd, dankbar für Wege der Rettung, nicht selten mit Selbstzweifeln und auch anklagend.13 Ich teile Elke Hartmanns Beobachtung, dass die armenischen Selbstzeugnisse von der osmanischen Welt und ihrem Bezugsrahmen geprägt blieben. Das gilt auch für die von ihr untersuchten sieben armenischsprachigen Bände Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs von Roupen, mit bürgerlichem Namen Minas Der Minassian, die gleichsam zur Bibel der ARF wurden. Sie artikulieren einen selbstbewussten revolutionären Lebensentwurf, der auf die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts und Rupens Guerillatätigkeit in den osmanischen Ostprovinzen fokussiert. Sie lassen indes das große armenische Trauma von 1915, und mit ihm eine grundsätzliche Infragestellung des revolutionären Habitus und der ARF-Strategie, beiseite.14 Armenier konnten ihre eigene Erfahrung nur bruchstückhaft in einen armenisch-republikanischen und sowjet-republikanischen oder, losgelöst, einen globalen und universalen Rahmen einschreiben – zumal sie damit bis ins späte 20. Jahrhundert weitgehend allein gelassen wurden. Teilweise Vergleichbares lässt sich vom missionarischen Schrifttum15 sagen: ein weithin unpubliziertes Schreiben über eine miterlebte unerhörte Christenverfolgung; den Verlust missionarischer Handlungsspielräume; den Verlust einer osmanischen Makrowelt und einer

13 Einige armenische Memoiren finden sich beschrieben in meiner Sammelrezension: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16: neueste Publikationen (Rezension). In: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3, www.sehepunkte.de/2007/03/10400.html (letzter Zugriff am 13.6.2015). 14 Elke Hartmanns Beitrag in diesem Band. Vgl. Elke Hartmann/Gabriele Jancke: Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog. Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität. In: C. Ulbrich/H. Medick/A. Schaser (Hrsg.): Selbstzeugnis und Person: transkulturelle Perspektiven. Köln 2012, S. 31–71. 15 Ein prägnantes Beispiel unter vielen ist Henry H. Riggs’ unpubliziertes Manuskript: A. B. C. F. M. History 1910–1942. Section on the Turkey Missions, eine Mischung von Memoiren und Geschichte der Türkeimission des American Board of Commissioners for Foreign Mission, ABC Ms. Hist. 31, 1942, Houghton Library, University of Harvard, Boston.

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Belle Epoque; und die Frustration von konfessionell oder auch deutschnational16 geprägten Hoffnungen und Illusionen für die nahöstlich osmanische Welt. Die nahöstlichen Zukunftsprojektionen waren vor allem bei den Amerikanern seit dem frühen 19. Jahrhundert millenarisch hochgesteckt. Sie blieben trotz ihrer pragmatischen Übertragung nach 1908 in ein politisches Vokabular und trotz ihrer Übernahme in Präsident Wilsons Nahostdiplomatie unverwirklicht.17 Das eigene, im Falle des Überlebens trotz aller Katastrophe doch noch einigermaßen bewahrte Leben, bildete oft die einzig mögliche Perspektive und Einheit, um in einer grundstürzenden Zeit Erlebtes überhaupt zur Sprache und in eine, sei es stockende Narration zu bringen; oder umgekehrt gesagt: das Leben über die Brüche hinweg schreibend zu bewahren und zu bekräftigen. Neben dem Schreiben vieler Armenier lässt sich etwa die autobiografische Schrift eines Palästinensers namens Najib erwähnen, der gegen die osmanische Beteiligung am Ersten Weltkrieg opponiert hatte, zum Tode verurteilt wurde und während des Weltkriegs im Untergrund lebte.18 Eine solche autobiografische Praxis unterscheidet sich, wenn auch nicht absolut, von Erinnerungsbüchern, die vor allem die Erinnerung an das Verlorene aufbewahren, ohne Umbrüche narrativ anzugehen. An diese Kategorie von Autobiografik lassen sich stärker politische Memoiren anschließen, die sich sowohl als Zeugnisse einer verlorenen osmanischen Welt verstanden, als auch deren Umbruch narrativ einzubringen suchten, ohne sich selbst politisch wieder darin bzw. in die nachosmanische Welt einschreiben zu können. Dies gilt für die Memoiren von Ohannes Pascha Kouyoumdjians (1858–1933), einem osmanischen Armenier, der 1913–1915 der Gouverneur von Libanon gewesen war.19 In dieser Art Autobiografik klingt die Vision einer modernisierten und demokratisierten osmanischen Welt weiterhin an, während nationalistische Memoiren sie weitgehend verdrängten oder als Illusionen abtaten. Dies trifft nicht nur auf Jungtürken und Kemalisten, sondern auch zum Beispiel auf das griechische Mitglied des Komitees Einheit und Fortschritt, Emmanouil 16 So bei Johannes Lepsius. Vgl. Hans-Lukas Kieser: Theologian, humanitarian activist and historian of Völkermord. An approach to a German biography (1858–1926). In: Anna Briskina-Müller/Armenuhi Drost-Abgarjan/Axel Meißner (Hrsg.): Logos im Dialogos: Auf der Suche nach Orthodoxie. Gedenkschrift für Hermann Goltz (1946–2010). Berlin 2011, S. 209–229. 17 Vgl. Hans-Lukas Kieser: Nearest east. American millennialism and mission to the Middle East. Philadelphia, New Jersey 2010. 18 Auf dieser Grundlage entstand: Raja Shehadeh: A rift in time. Travels with My Ottoman Uncle, London 2010. 19 Ohannès Pacha Kouyoumdjian: Le Liban. A la veille et au début de la Guerre. Mémoire d’un gouverneur, 1913–1915. Paris 2003.

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Emmanouilidis, Abgeordneter aus Izmir, zu. Er hatte nach 1908 voll und ganz die konstitutionelle gemeinosmanische Vision vertreten und wurde deswegen von anderen osmanischen Griechen in Izmir als Verräter am Hellenismus bezichtigt. In einer autobiografischen Schrift von 1920 hingegen, publiziert 1924, schrieb er sich, der nun seine Zukunft im griechischen Staat sah, in einen griechisch nationalistischen Diskurs ein, begann seine Darstellung erst mit 1912 und ließ damit seine vorgängige ganz andere, modern imperiale Perspektive von 1908 beiseite.20 Im politischen Schreiben hingegen (einschließlich des armenischsprachigen Tagebuchs) des bedeutenden armenisch-osmanischen Juristen, Literaten und Abgeordneten Krikor Zohrab (1861–1915), bleibt diese konstitutionell imperiale Perspektive weiterhin artikuliert, ab 1912 bis zu seiner Ermordung im Sommer 1915 immer besorgter und stockender.21 Kurdische Memoiren aus der späten osmanischen und frühen nachosmanischen Zeit sind selten, zumal wenige Kurden, noch weniger Kurdinnen, damals lesen und schreiben konnten. Die drei bekanntesten stammen von Kadri Cemilpascha, alias Zınar Silopi (1891–1973) und Ekrem Cemilpascha (1891–1974) sowie Nuri Dersimi (1893–1973). Sie folgen einem antikemalistischen „kurdischen Masternarrativ“ des 20. Jahrhunderts. Dieses Narrativ legt eine Geschichte kurdischen Leidens und kurdischer Uneinigkeit, aber zugleich unermüdlicher Entschlossenheit dar und artikuliert sich selbst als Repräsentanten langfristigen Widerstands und der Hoffnung auf Selbstbestimmung. Es bekämpft die 1923 im Vertrag von Lausanne niedergelegte nachosmanische Nahostordnung, soweit sie individuellen und kollektiven kurdischen Rechten im Wege stand. Nuri Dersimi unterscheidet sich davon insofern, als er seine alevitische Identität und die speziell alevitische Leidensgeschichte des Dersim, woher er stammte und das 1937/38 Zielscheibe umfassender Massaker wurde, herausstrich.22 Der primäre Fokus rückt bei dieser

20 Vangelis Kechriotis: On the margins of national historiography: The Greek İttihatcı Emmanouil Emmanouilidis – Opportunist or Ottoman patriot? In: Amy Singer/Christoph Neumann/Selçuk A. Somel (Hrsg.): Untold histories of the Middle East: recovering voices from the 19th and 20th centuries. London 2011, S. 124–140. 21 Rober M. Koptaş: Zohrab, Papazyan ve Pastırmacıyan’ın kalemlerinden 1914 Ermeni reformu ve İttihatçı-Taşnak müzakereleri [Die armenische Reform von 1914 und die Verhandlungen von Einheit und Fortschritt mit Daschnaksutiun in den Schriften von Zohrab, Papazyan und Pasdirmajian. In: Tarih ve Toplum Yeni Yaklaşımlar 5 (2007), S. 159–78; ders.: Armenian political thinking in the Second Constitutional Period: The case of Krikor Zohrap, M.A. thesis (unveröffentlicht). Bosporus Universität: 2005, Istanbul. 22 Mehmet Nuri Dersimi: Hatıratım [Meine Erinnerungen]. Stockholm 1986; Ekrem Cemil Paşa: Muhtasar Hayatım [Mein Leben in Kürze]. Brüssel 1989.

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Art von kurdischem Narrativ vom letzten osmanischen Jahrzehnt in die grundlegenden Jahre danach und die folgende Ära antikurdischer Repression. Zu spätosmanisch-nachosmanischen kurdischen Ego-Dokumenten nochmals anderer Art gehören jene mit prononciert religiösen Referenzen, die zwar Distanz, aber keine Feindschaft gegenüber dem Staat artikulieren. Melûlî Baba (1892–1989), alias Hüseyin Karaca, der Sohn eines kurdischen agha (Notabeln), starb 1989 im Alter von 97 Jahren im Dorf Kötüre bei Marasch in Zentralanatolien. Kurz vor seinem Tod machte er sich auf einigen Seiten auf Osmanisch in arabischer Schrift autobiografische Notizen. Er hatte Anfang des 20. Jahrhunderts eine gymnasiale Ausbildung an einer armenischen Schule in der Stadt Yarpuz, wohin ihn der Vater zu einem armenischen Freund entsandt hatte, genossen. Im Haus dieses Freundes habe Hüseyin bei der Mutter des Hauses „spirituelle Nahrung“ und wirklichen Glauben kennengelernt. In der Folge distanzierte er sich nach seiner frühen Heirat sowohl von seinem Vater, der polygam und ein Gelegenheitshehler war, als auch vom traditionellen Alevitentum und seinen Erbpriestern (dede). Mit wenigen Sätzen beschreibt er den erzwungenen Weggang seiner Pflegefamilie, die Tränen der spirituellen Mutter, das Massaker an den Armeniern und seine vergebliche Bemühung, etwas über ihr späteres Schicksal herauszufinden. Hüseyin begann, sich mit Gedichten, deren letzte Strophe jeweils das Ich thematisiert, als Bektaschi zu identifizieren und gab sich den neuen Namen Melûlî (der Traurige). Sein Haus entwickelte sich mit den Jahren und Jahrzehnten zu einem regionalen kulturellen und spirituellen Zentrum, wo das geistliche Lied (saz ve söz) gepflegt wurde. Melûlî blieb weitgehend apolitisch, verfluchte aber in Gedichten den repressiven Staat, der in den 1970er und 80er Jahren linke Studenten, darunter seinen Enkel Hamdullah Erbil, ins Gefängnis warf. Zugleich ironisierte er in Gedichten und Gesprächen mit der Generation seiner Enkel deren menschliche Unreife, Ungeduld und naives, scheinbar wissenschaftliches Besserwissen.23 Die Tausenden von Seiten religiöser Gelehrsamkeit und Unterweisung, meist in Form von Lehrbriefen von Said Nursi (1877–1960), alias (bis 1923) Said-i Kurdi, aus Nurs bei Bitlis, sind auch Selbstzeugnisse. Sie enthalten immer wieder explizite egodokumentarische Referenzen. Darin teilt Nursi sein Leben in drei Phasen ein, die mit dem späten Osmanischen Reich, der frühen Republik und dem Ende

23 Hamdullah Erbil/Latife Özpolat: Melûli Divanı ve Aleviliğin, Tasavvufun, Bektaşiliğin Tarihçesi [Die Gedichte von Melûli und eine Geschichte des Alevitentums, der Mystik und des Bektaschitums. Ankara o. D., ca. 1992; Hans-Lukas Kieser: Alevilik als Lied und Liebesgespräch. Der Dorfweise Melûli Baba (1892–1989). In: Robert Langer (Hrsg.): Migration und Ritualtransfer. Frankfurt 2005, S. 147–161. Gespräche mit Melûlî sind auf Video erhalten.

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der Einparteienherrschaft (1950) koinzidieren. Erst in der dritten Phase noch vor seinem Tod 1960 erlaubte er den informellen Lesekreisen, die er bediente, seine osmanisch geschriebenen Briefe in lateinischer Schrift abzudrucken.24 Denn der Abschied vom Osmanischen war auch Abschied von einer lingua sacra des Reichs gewesen, die neben der lingua sacra des Korans ihren Platz hatte. Das osmanische dîn ü devlet (Religion und Staat) bezeichnete die Untrennbarkeit von Islam und osmanischem Staat. Religiöse Elemente durchdrangen die Amtssprache und die Formeln der Kommunikation mit der Zentralverwaltung. Nursis Anspruch hatte nichts mit osmanischer Nostalgie oder der Bewahrung kommunikativer Formeln zu tun. Sie ging weit über die Beschreibung seines individuellen Lebens, geistlichen Werdegangs und eigener Wahrnehmung der modernen Welt hinaus. Nursi beanspruchte, Glauben an Gott im 20. Jahrhundert auf der Basis des Korans und der sunnitischen Tradition postosmanisch und postkalifal zu bezeugen und zu verteidigen. Dabei verstand er sich teilweise im Bunde mit Vertretern anderer monotheistischer Glaubensrichtungen. In seinem Einfluss auf einen modernen sunnitischen Islam ist er mit Karl Barths Schreiben und Wirken für den Protestantismus vergleichbar. Nursi ist der geistige Vater der weltweiten Nurculuk (islamische Reformbewegung) sowie mittelbar von Fethullah Gülen (geboren 1941) und dessen weltweiter Hizmet-Bewegung, die in der Türkei ihr Zentrum hat.

3. Jungtürkische Vielschreiber Weshalb haben die Jungtürken sich so sehr dem Schreiben von Memoiren hingegeben, dass ein führender Jungtürke, Celâl Bayar (1883–1986), der erst im Alter zur Feder griff, seinen umfangreichen Memoiren den einleuchtenden Titel Auch ich schrieb gab – nachdem Dutzende seiner ehemaligen Parteibrüder bereits Ihre Memoiren verfasst hatten?25 Bayar, Sohn eines muslimischen Migranten (muhacir) vom Balkan, Führer des jungtürkischen Komitees in Izmir vor dem Ersten Weltkrieg und türkischer Staatspräsident 1950–1960, bekräftigte auf nahezu zweitausend Seiten sein jungtürkisches Herkommen und dasjenige der Republik. Er beschrieb unter anderem seine Beteiligung an der erfolgreichen Vertreibung von

24 Nursis Schriften finden sich auf www.erisale.com sowie, in englischer Übersetzung, https:// www.dur.ac.uk/sgia/imeis/risale/downloads (letzter Zugriff am 13.6.2015). Vgl. Şükran Vahide: Bediuzzaman Said Nursi. Istanbul 1992. 25 Celâl Bayar: Ben de yazdım: millî mücadele’ye gidiş [Auch ich habe geschrieben: Der Weg zum nationalen Kampf]. Istanbul 1965–1966, über die Vertreibung S. 1573. Zur autobiografischen Praxis der Jungtürken vgl. auch den Beitrag von Murat Kaya in diesem Band.

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130.000 orthodoxen Osmanen auf Schiffe nach Griechenland aus der unmittelbaren Umgebung von Izmir im Juni 1914. Im Unterschied zu den aufgeführten armenischen und kurdischen Beispielen suchte die jungtürkische autobiografische Praxis kaum eine verlorene Welt schreibend zu bewahren, Verluste zu beklagen, erlittene Untaten, Fehlentscheide und ungerechte Ordnungen zu bezeugen oder eine junge Generation zu deren „Berichtigung“ anzuspornen. Weshalb schrieben sie dennoch? Vorweg ist bemerkenswert und hebt sich von der postimperialen autobiografischen Praxis in der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns ab, dass die politisch maßgeblichen imperialen Eliten des letzten osmanischen Jahrzehnts, die Jungtürken, zugleich auch die Revolutionäre im eigenen Reich waren – diejenigen, die, gewollt und vor allem ungewollt, eine postimperiale Zeit vorbereiteten. Fast alle Kemalisten entstammten dem Kreise der Jungtürken. Viele und die einflussreichsten stammten vom Balkan, so Talat Pascha (1874–1921), Enver Pascha (1881–1922) und Mustafa Kemal Atatürk (1881–1838). Sie verloren ihre Heimat im Ersten Balkankrieg Ende 1912 und projizierten – einige schon damals, andere später – eine muslimisch türkisch-nationale Zukunft in Kleinasien. Die Jungtürken neigten seit dem Ersten Balkankrieg immer offener dem Türkismus zu. Das Komitee machte sich die Inhalte und Dynamik der Türkismusbewegung, die ab 1911 rasch wuchs, zu eigen. Neben den Kriegszielen der imperialen Wahrung, Restauration (auf dem Balkan und in Nordafrika) und pantürkistischen Mehrung (im Kaukasus und in Zentralasien), kannte sie im Ersten Weltkrieg auch einen Minimalplan, nämlich das Ziel, einen vor allem in Kleinasien vollumfänglich souveränen türkischen Staat zu schaffen. Darin liegt ein großer Unterschied zu Deutschland: Hier erlitt 1918 das diffuse Kriegsziel von einem Reich mit Weltgeltung (und ab 1917 dessen territoriale Erweiterung nach Osten) Schiffbruch. Es war 1918 nicht möglich, einen deutschen Konsens für einen konkreten und operablen Minimalplan, zum Beispiel eine deutsche Demokratie in den Vorkriegsgrenzen, zu finden. Die Siegermächte bestimmten die Minimierung. Die jungtürkische Generation, aus der die kemalistische fast nahtlos hervorging, war daher keine Generation von frustrierten Imperialisten, wenn es auch Verlierer wie die Paschas an der Komiteespitze oder Dr. Mehmed Reschid (1873–1919), den Mitbegründer des Komitees, 1915 Gouverneur von Diyarbekir, gab. Dieser beging im Februar 1919 Suizid, nachdem er als einer der Angeklagten der Istanbuler Gerichte geflohen, aber wieder aufgespürt worden war. Die verzweifelten Rechtfertigungsversuche in Reschids kurz vor dem Tod verfassten Notizen sind die Ausnahme. Er hatte in den Jahren zuvor auf eine radikal antiarmenische und pantürkische Politik gesetzt und in den wenigen Monaten nach Weltkriegsende nicht mehr die Möglichkeit gehabt, „sich umzuschreiben“, das heißt von Exzessen

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zu distanzieren, sich als Antiimperialisten zu profilieren und seinen politischen Anspruch auf türkische Rechte in Anatolien zu beschränken.26 Talat Pascha, der einflussreichste Politiker im Nahen Osten der 1910er Jahre, war zugleich der erste komitaji oder revolutionäre Aktivist des 20. Jahrhunderts an der Spitze eines Großreichs. Er sah sich 1918 mit gutem Grund trotz allem als Vorbereiter eines alsbald markant postimperialen türkischen Nationalheims in Anatolien. Trotz Verlustes des Imperiums wegen der Weltkriegsniederlage, erfüllte es ihn und die Jungtürken mit Genugtuung, die demografische Homogenisierung und (muslimische) „Nationalisierung“ der Wirtschaft in Kleinasien und damit die Grundlage für einen Nationalstaat geschaffen zu haben. Ab 1919 wurden Dutzende autobiografischer Texte von Jungtürken verfasst, die sich mehr oder weniger den türkischen Nationalisten um Mustafa Kemal zuordneten. Gleich nach 1918 von Talat Pascha, im Exil in Berlin; von Cemal Pascha (1872–1922), seinem Komiteebruder, während des Weltkriegs Militärgouverneur von Großsyrien; sowie von Said Halim (1863–1921), Großwesir bis Anfang 1917. Cemals Memoiren wurden zuerst 1922 in München auf Deutsch veröffentlicht,27 Talats Memoiren erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf Türkisch,28 Said Halims französisch verfasste Memoiren erschienen erstmals im Jahre 2000 in Istanbul.29 Anfangs der 1920er Jahre im Ausland getötet, konnten diese führenden Jungtürken sich nicht mehr in die prägende Diskursbildung der Zwischenkriegszeit einmischen. Die genannten und die auf sie folgenden, politisch gelagerten Memoiren der jungtürkischen Generation sind großenteils Zeugnisse persönlicher Rechtfertigung und/oder Profilierung mit Blick auf den osmanischen Kataklysmos und die Umgestaltung danach. Es handelt sich um engagierte, parteiliche und selektive 26 Mehmed Reşid (Şahingiray): Hayatı ve Hâtıraları [Sein Leben und seine Erinnerungen], hrsg. v. N. Bilgi. Izmir 1997. Vgl. Hans-Lukas Kieser: From „patriotism“ to mass murder: Dr. Mehmed Reşid (1873–1919). In: Ronald G. Suny/Fatma M. Göcek/Norman Naimark (Hrsg.): A question of genocide: Armenians and Turks at the end of the Ottoman Empire. New York 2011, S. 126–149. 27 Djemal Pascha (Cemal Paşa): Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes. München 1922. 28 Talât Paşa: Talât Paşa’nın hâtıraları: Sadirâzam Talât Paşanın tarihin bir çok gizli taraflarının aydınlatan şimdiye kadar neşredilmemiş şahsî notları [Die Erinnerungen von Talat Pascha: Die bisher unveröffentlichten persönlichen Notizen des Grosswesirs Talat Pascha, die viele geheime Aspekte der Geschichte erhellen], hrsg. v. Enver Bolayir. Istanbul 1946. Vgl. Hülya Adak: Identifying the „Internal Tumors“ of World War I: Talat Paşa’nın Hatıraları (Talat Paşa’s Memoirs), or the Travels of a Unionist Apologia into „History“. In: A. Baehr/P. Burschel/G. Jancke (Hrsg.): Räume des Selbst: Selbstzeugnisforschung transkulturell. Wien 2007, S. 151–69. 29 Said Halim Paşa: L’empire ottoman et la guerre mondiale. Istanbul 2000.

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Artikulation erlebter Zeitgeschichte, die meist durch den Mitabdruck von Dokumenten unangreifbar und bewiesen erscheinen sollte; im Falle der Repräsentanten des Kriegsregimes vor allem gegenüber den Siegermächten und in Bezug auf den Umgang mit den Armeniern; im Falle der im Kemalismus aufgegangenen Jungtürken auch gegenüber Konkurrenten in den eigenen Reihen. An dieser Stelle ist das monumentalste Ego-Dokument dieser Gattung hervorzuheben, nämlich die in zwei Bänden zusammen mit einem dritten Quellenband veröffentlichte Rede von Mustafa Kemal aus dem Jahre 1927, die sehr bald zur Bibel kemalistischer Zeitgeschichtsschreibung erhoben und ebenfalls zuerst auf Deutsch veröffentlicht wurde. Adak hat zu Recht die dadurch konstruierte „Ich-Nation“ problematisiert.30 Falls nach 1923 verfasst, war diese Art von Autobiografik meist von einer Meistererzählung türkisch-nationaler Geschichte geprägt und enthielt ein variierendes Maß an nationalen Triumphgefühlen, Devotion gegenüber Kemal Atatürk, pauschaler Infragestellung der westlichen Sieger des Ersten Weltkriegs und national-heilsgeschichtlichen Untertönen.31 Sie definierte den gewonnenen Krieg um Kleinasien, die Revision des Vertrags von Sèvres in Lausanne und die Gründung der Republik 1923 als zentrale Stationen nationaler Gründungsgeschichte, in die die Autoren sich selbst einschrieben. Imperialer Nostalgie abhold, stellte sie die späte osmanische Ära unter Sultan Abdulhamid (1863–1921) und unter dem diktatorialen Triumvirat als negativ dar.32 Grundsätzliche Kritik an der jungtürkischen Bewegung, dem Kriegsregime und den Resultaten ihrer genozidären Innenpolitik ließ diese republikanische Autobiografik in der Regel dennoch nicht zu. Sie gehorchte dem narrativen Schema eines imperialen Zusammenbruchs, der von einem erfolgreichen nationalen Aufbruch überstrahlt wurde, mit dem „wir uns“ 30 Gasi Mustafa Kemal Pascha (Kemal Atatürk): Die neue Türkei 1919–1927: Rede gehalten in Angora vom 15. bis 20. Oktober 1927 vor den Abgeordneten und Delegierten der Republikanischen Volkspartei. Nach der unter Aufsicht des Verf. hergestellten französischen Fassung des Originaltextes übers. von Paul Roth. Leipzig 1928–1929. Vgl. Hülya Adak: National myths and self-na(rra)tions: Mustafa Kemal’s Nutuk and Halide Edib’s Memoirs and The Turkish Ordeal. In: South Atlantic Quarterly 102 (2003), Nr. 2–3, S. 509–527. 31 Vgl. generell H. Kieser: Die Herausbildung des türkisch-nationalen Geschichtsdiskurses (spätes 19. – Mitte 20. Jahrhundert). In: Markus Krzoska/Christian Maner (Hrsg.): Vom Beruf zur Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Münster 2005, S. 59–98. 32 Besonders negativ über das Imperium äußerte sich der Atatürk-Vertraute und vormalige Mitarbeiter Talat Paschas, Falih Rıfkı Atay, in mehreren seiner autobiografisch geprägten Schriften, so: Batış yılları [Jahres des Untergangs]. İstanbul 2011 (1963); Zeytindağı [Ölberg], İstanbul 2009 (1932); Ateş ve güneş. Suriye ve Filistin savaş anıları [Feuer und Sonne. Erinnerungen aus dem Krieg um Syrien und Palästina], aus dem Osmanischen von Muammer Sarıkaya, Istanbul 2009 (1918).

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und „ich mich“ identifiziere. Daher Çöküş und Batış sowie Çöküş ve Kuruluş (Kollaps und Neubegründung) oder analoge Wörter als wiederkehrende Begriffe in Titeln und Kapiteltiteln von Memoiren. Prägnant bringt das in der ersten Person Singular geschriebene Gedicht Ideal eines wenig bekannten Autors aus dem Jahre 1922 in Türk Yurdu (Türkisches Heim), der führenden Zeitschrift des Türkismus, die türkischnationale Individuation des imperialen Ichs auf den Punkt. Nach Jahrtausenden des Abenteuertums in Großreichen, in denen es seine nationale Kultur zu verleugnen hatte, kam dieses rastlose und entfremdete Ich im Mutterland Anatolien, wo es nur mehr die eigene Nation anbetete, zum Ziel und zur Ruhe.33 Auch wenn sie das nationale Narrativ und die damit neu definierte Wir-Gruppe im Großen und Ganzen bejahen, geben einzelne Memoiren Differenzierungen, Misstönen und Einzelkritik Raum. Verschiedene Persönlichkeiten, die im türkischen Befreiungskrieg (dem Krieg um Kleinasien 1919–1922) eine prominente Rolle gespielt hatten, fanden keinen oder keinen als passend empfundenen Platz in der jungen Republik unter der zunehmend autoritären Führung Atatürks. Zu dieser Gruppe zählen so verschiedene Personen wie die Schriftstellerin und Ikone der Nationalbewegung Halide Edib (Adıvar, 1884–1964), der General Kâzım Karabekir (1882–1948) und der Minister Rıza Nur (1879–1942), die alle noch vor Mitte der 1920er Jahre in Ungnade fielen. Sie hielten ihre eigene Sicht der Zeitgeschichte in umfangreichen Memoiren fest. Halide Edib und Kâzım Karabekir machten aufmerksam auf, wie ihnen schien, verpasste Möglichkeiten und zweifelhafte – zu radikale, zu exklusive – Weichenstellungen der jungen Republik.34 Edip setzte sich vergleichsweise explizit und kritisch mit dem Mord an den Armenier 1915/16 auseinander.35 Der Bakteriologe und Chirurg Dr. Rıza Nur war ein radikaler Türkist, aber, anders als Edib und Karabekir, in Konflikt mit dem jungtürkischen Komitee geraten, weshalb er 1912–1919 im Exil lebte. Seine dreibändigen Memoiren mischen politische Erfahrungen und Abrechnungen mit teilweise schonungsloser intimer Selbstbeobachtung.36 Auch der hohe Beamte und zweimalige osmanische Innenminister Ahmet Reşit Rey (1870–1956) stand ab 1913 in Opposition zum jungtürkischen Komitee. Noch kurz Abgeordneter der neuen Regierung in Ankara, zog er 33 Abdurrahman Hâmid: Mefkûre [Ideal]. Veröffentlicht in Türk Yurdu, Febr. 1925, Neuausgabe von Türk Yurdu: Ankara 1998, Bd. 8, S. 198. 34 Halide Edip Adivar: Memoirs. New York 1926; ders.: The Turkish Ordeal: Being the Further Memoirs. London 1928; Kâzım Karabekir: Hayatım [Mein Leben], hrsg. v. Faruk Özerengin. İstanbul 2000 und zahlreiche weitere autobiografisch geprägte Schriften. 35 Vgl. Adak: Beyond the catastrophic divide. 36 Rıza Nur: Hayat ve Hatıratım [Mein Leben und meine Erinnerungen], 3 Bde., hrsg. v. Abdurrahman Dilipak. Istanbul 1992.

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sich alsbald auf ein literarisches Leben zurück und beschränkte seine Memoiren auf die spätosmanische Epoche.37 Auch Ahmed Rıza (1859–1930), langjähriger osmanischer Parlamentspräsident, zuvor Führer der Jungtürken im Exil, beschränkte sich in seinen kurzen Memoiren auf diese Epoche. In autoritativem, selbstbewusstem und etwas schulmeisterlichem Ton artikulierte er dabei ein jungtürkisches Ich, das sich vom Regime ab 1913 distanzierte und die Komiteemitglieder einzeln differenziert qualifizierte. Ahmed Rıza hatte sich 1915 erfolglos gegen die Armenierpolitik gewandt.38 Ausschließlich auf die Politik des jungtürkischen Komitees konzentrieren sich die zweibändigen Memoiren von Muhittin Birgen (1885–1951). Er war Chefredakteur des Tanîn (Schall), zeitweiliger Berater Talats und osmanischer Abgeordneter gewesen. Nach 1919 hielt er sich aus Interesse an der kommunistischen Revolution und ihrer möglichen Verbindung mit dem Türkismus bis 1924 vorwiegend in Baku auf. Birgens Memoiren erschienen erstmals 1936/37, kurz vor Atatürks Tod, als Folge in einer Tageszeitung. Das war die hohe Zeit des Kemalismus, als die jungtürkische Ära kein Prestige genoss, aber dennoch als dunkle, unmittelbar vorrepublikanische Ära Neugierde weckte. Als heimlicher Jungtürke, der Kemal Atatürks tödliche Abrechnung mit jungtürkischen Konkurrenten 1926 glücklich überstanden hatte, aber die Türkei noch nicht am Ziel angekommen sah, gab Birgen Einblick in das jungtürkische Laboratorium einer neuen Türkei. Er grenzte sich explizit vom Faschismus, Hitlerismus (wie er ihn nannte) und Bolschewismus ab und kam zum Schluss, dass langfristig nur Demokratie in der Türkei eine Zukunft ermöglichen werde.39 Noch expliziter und ebenfalls in der Abgrenzung von Stalinismus, Nationalsozialismus und Faschismus äußerte sich der seit 1924 im Schweizer Exil lebende, aus dem osmanischen Herrscherhaus stammende Prinz Sabahaddin (1877–1948) in einem langen Brief an die türkische Zeitung Vatan (Heimatland), die ihn 1948 kurz vor seinem Tod angeschrieben hatte. Sabahaddin war der Führer der liberalen Opposition zum jungtürkischen Komitee und bereits vor 1908 ein Rivale und Gegner in der Opposition gegen Sultan Abdulhamid gewesen. Er galt als Freund nichttürkischer Minderheiten und vertrat die Förderung der Dezentralisierung 37 Ahmet R. Rey: Gördüklerim – yaptıklarım [Was ich gesehen und getan habe]. Istanbul 1945. 38 Ahmed Rıza: Ahmed Rıza Bey in Anıları [Die Erinnerungen von Ahmed Rıza Bey]. Istanbul 1988. Die Memoiren äußern sich nur knapp zum armenischen Thema, das die Sitzungsprotokolle ausführlich belegen. Vgl. Erdal Kaynar: Histoire d’un vieux Jeune Turc, thèse de doctorat sous la dir. de François Georgeon. Paris 2011, S. 788–795. 39 Muhittin Birgen: İttihat ve Terakki’de on sene [Zehn Jahre bei Einheit und Fortschritt], 2 Bde., hrsg. v. Zeki Arıkan. Istanbul 2006.

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und Privatinitiative im Osmanischen Reich auf wissenschaftlich-soziologischer Grundlage. Im Schreiben von 1948 hielt er Rückschau auf sein politisches Leben und bezeichnete den Weg zu wirklicher Demokratie in der Türkei noch als lange und steinig. In Wirklichkeit seien auch die konstitutionelle Periode (1908–1918) und die republikanische Periode wie die hamidische mehr oder minder Diktaturen und miteinander verbunden gewesen. Seit dem Ersten Weltkrieg, den er bereits im schweizerischen Exil verbracht hatte, purzle die Menschheit kopfunter vor sich hin und werde auch in der Religion keine Rettung finden.40 Sabahaddin stand der Republik kritisch, aber nicht feindlich gegenüber. Dies belegt auch der Band İnkılap tarihimiz ve Jön Türkler (Unsere Revolutionsgeschichte und die Jungtürken), den Sabahaddins Anhänger Ahmet Bedevi Kuran 1945 veröffentlichte. Auch dieses umfangreiche Geschichtsbuch mit vielen Dokumenten ist ein dezentes Ego-Dokument. Das Ich des Autors und das weit gefasste Wir einer reformorientierten Generation, in deren Mitte er Sabahaddin stellt, tauchen immer wieder auf. Der Band endet 1923 und begrüßt den Sieg im türkisch-nationalen Kampf um Anatolien, der 1922 zu Ende ging.41 Erst im Frühjahr 2014 ist der erste Teil eines bedeutsamen Selbstzeugnisses erschienen, nämlich des umfangreichen Tagebuchs von Cavid Bey (1875–1926), einem Intimus von Talat Pascha und langjährigen Finanzminister des Komitees Einheit und Fortschritt, der 1926 in einem Schauprozess in Ankara hingerichtet wurde. Bereits 1944–1946 waren zwar in der türkischen Zeitung Tanin große Teile des Tagebuchs erschienen. Einen wichtigen Abschnitt jedoch veröffentlichte der Herausgeber, Hüseyin Yalçın, nicht, sondern übergab ihn dem Türk Tarih Kurumu (Türkisches Geschichtsinstitut) in Ankara mit der Auflage, dass ihn dieses erst 20–30 Jahre später zugänglich machen solle. Dieser Teil ist 2014 noch immer nicht veröffentlicht, aber die Herausgeber des fast 900-seitigen ersten Bands der geplanten vollständigen Ausgabe von Cavids Tagebüchern weisen in ihrem Vorwort auf den Hauptgrund dafür hin: Cavid erklärte Talat und weitere Führer des Komitees Einheit und Fortschritt für schuldig am Verbrechen an den osmanischen Armeniern im Ersten Weltkrieg.42 Cavid stammte aus Saloniki aus 40 Prens Sabahaddin: Türkiye’deki basında son yazısı, 30 Mayıs 1948: „Prens Sabahaddin Beyin siyasi vasiyetnamesi: Mezardan ikazlar ve irşatlar“ [Seine letzte Schrift in der Türkei, 30. Mai 1948: «Das politische Vermächtnis von Prinz Sabahaddin»]. In: Gönüllü sürgünden zorunlu sürgüne [Vom freiwilligen zum erzwungenen Exil], hrsg. v. Mehmet Ö. Alkan. Istanbul 2007, S. 531–37. 41 Ahmet Bedevi Kuran: İnkılap tarihimiz ve Jön Türkler [Unsere Revolutionsgeschichte und die Jungtürken]. Istanbul 2000. 42 Cavid Bey: Meşrutiyet ruznâmesi [Tagebuch der Verfassungsperiode], hrsg. v. H. Babacan/S. Aşar. Ankara 2014, S. 10.

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dem Kreis der Dönme, das heißt den Anhängern von Schabbtai Zvi, die die religiöse Praxis sunnitischer Muslime teilten, aber immer wieder als Kryptojuden verunglimpft wurden.

4. Selbstzeugnis als einzig mögliche Wahrhaftigkeit Die Jungtürken im engeren Sinn, Komiteemitglieder und solche im loyalen Umkreis des jungtürkischen Komitees auch noch nach 1912, waren keine hilflosen, aber sehr wohl frustrierte Imperialisten. In den 1910er Jahren waren sie zugleich Nationalisten mit ausgeprägten Ressentiments.43 Als Ausnahme davon mag wohl nur Cavid Bey gelten. Ressentiments und eine im Frühjahr 1915 potenzierte imperiale Frustration, nachdem kriegerische Expansionsversuche gescheitert waren, sind ein Faktor ihrer ins osmanische Innere, primär gegen die Armenier gerichteten Massengewalt. Allerdings nicht als Selbstzweck. Die Annullierung jahrhundertealten osmanischen Zusammenhalts und des pionierhaften osmanischen Reformpostulats imperialer Gleichheit zusammen mit Pluralität gehorchte 1915 einem am Vorabend des Ersten Weltkriegs artikulierten türkistischen Projekt. Jungtürken im engeren Sinn waren auch die meisten Kemalisten, die das türkistische Projekt unter Führung Kemal Paschas auf Kleinasien beschränkten. Sie verzichteten damit auf die noch zuvor aktuelle pantürkistische, in den Kaukasus und nach Zentralasien ausgreifende Dimension. Jungtürken im weiten Sinn waren, in Kurans Terminologie, die ganze reformorientierte, konstitutionalistische osmanischsprachige Generation des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere Liberale wie Prinz Sabahaddin und Ahmet Reşit Rey sowie viele osmanische Nichtmuslime bis hin zu Krikor Zohrap (1861–1915). Während erstere sich auf die Staatsmacht konzentrierten und bei ihnen der Schwerpunkt auf komitacılık (Komiteementalität und -aktivität), das heißt auf revolutionärem Aktivismus, schlagkräftiger Organisation und apokalyptischer Ideologie lag, zeichneten sich Jungtürken im weiteren Sinn durch den Willen zu umfassenden Reformen und das Postulat von Freiräumen, aber auch Unsicherheit im politischen Vorgehen aus. Sie suchten von Innen, von der osmanischen Erfahrung her in Synergie mit westlichen Anstößen die Zukunft der Türkei beziehungsweise der ganzen (nach-)osmanisch nahöstlichen Welt neu zu entwerfen und zu entwickeln. Die von den Jungtürken beider Art nicht zu Ende geführte, in dem Kataklysmos 43 Vgl. Maurus Reinkowski: Hapless imperialists and resentful nationalists: trajectories of radicalization in the late Ottoman Empire. In: ders./Gregor Thum (Hrsg.): Helpless imperialists. Imperial failure, fear and radicalization. Göttingen 2013, S. 47–67.

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des Weltkriegs und den jungtürkischen und kemalistischen Einparteienregimes – und später wieder im großen Militärputsch von 1980 – erstickte Auseinandersetzung wirkte in Tausenden von Selbstzeugnissen im 20. Jahrhundert nach. „Die Türkei retten“ blieb bis Ende des 20. Jahrhunderts ein geflügeltes Wort unter Menschen in der Türkei oder mit Wurzeln in der Türkei, das sich dann einstellte, wenn Gespräche über die Großregion eine grundsätzlichere Wende nahmen. Was die spätosmanisch-nachosmanische autobiografische Praxis von derjenigen in der übrigen Old World unterscheidet, ist ihre ungebrochene Aktualität auch noch Jahrzehnte nach dem Ende des Reiches. Es stellten (und stellen) sich anhaltend dringende Fragen nach der Zukunft im Nahen Osten, während Europa mit dem Zweiten Weltkrieg eine definitive Zäsur und danach mit transatlantischer Hilfe einen Neuaufbau erlebte. Der osmanische Kataklysmos ist bis ins frühe 21. Jahrhundert Zeitgeschichte geblieben, im Unterschied zum europäischen Ersten Weltkrieg. So fand die moderne „deutsche Frage“ mit Deutschlands Zerschlagung im Zweiten Weltkrieg eine vorläufige, und mit der Wiedervereinigung Ende des 20. Jahrhunderts innerhalb der Europäischen Union eine mehr oder weniger definitive, aufbauende Antwort. Die moderne Nahostfrage hingegen – die Question d’Orient der internationalen Diplomatie seit dem späten 18. Jahrhundert – ist heute aktueller denn je. Multiperspektivische Meistererzählungen über den Kataklysmos sind noch nicht in Sichtweite. Die Historiografie über den nachosmanischen Nahen Osten ist heute national, international und transnational tief zerfurcht. Am glaubwürdigsten, nachvollziehbarsten, transparentesten erscheinen bis ins 21. Jahrhundert vielen Leserinnen und Lesern in der nachosmanischen Welt Selbstzeugnisse ohne Anspruch auf eine institutionelle „Wissenschaftlichkeit“, zumal sie Letztere als manipuliert erfahren hatten oder zu abgehoben, um relevant zu sein. Viele türkische Selbstzeugnisse konnten sich mit dem Lauf der Dinge abfinden, indem sie die Gründung der Republik Türkei als Erfolgsgeschichte bejahten, ihr Leben zumindest passiv darin einschrieben und den osmanischen Kataklysmos zuvor verdrängten oder aber als schemenhafte Negativfolie einer besseren Zeit danach andeuteten. Andere nachosmanische Selbstzeugnisse nahmen Distanz, fokussierten vor allem auf die konstitutionelle Periode (1908–1918) und sahen das Potential und die Hoffnungen der Umbruchsgeneration noch unerfüllt. Oft setzten sie sich mit persönlichen Kränkungen oder dem Scheitern eines Engagements auseinander – als teils nüchterne, dokumentierte Rechenschaftsberichte, teils emotionale Zeugnisse. Sie dienten der Selbstvergewisserung durch Umbrüche hindurch, zugleich machten sie unerfülltes Engagement geltend und bewahrten dessen Potential schreibend für die Zukunft auf.

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Dies ist besonders ausgeprägt und anklagend im Schreiben kurdischer Autoren, deren Memoiren meist erst im späten 20. Jahrhundert postum erschienen. Teilweise trifft dies auch auf armenische Autoren zu. Im Unterschied zu den anderen befasste sich die armenische Autobiografik mit der weitgehenden Auslöschung armenischer Existenz in der osmanischen Welt und mit einer vieltausendfachen individuellen Erfahrung von Vernichtung, aber auch von Rettung. Im Unterschied zu den anderen schrieben auch viele Armenierinnen. Keine ethnoreligiöse Gruppe im späten Osmanischen Reich war gebildeter gewesen als die armenische millet. Eine systematische Untersuchung würde vermutlich ergeben, dass die Armenier, die zentrale Opfergruppe des Kataklysmos, proportional zu ihrer Zahl mit Abstand am meisten und sehr verschiedenartige Selbstzeugnisse hinterließen. Was Opfern noch übrig bleibt, falls sie schreiben können, ist Zeugnis über sich, ihr dennoch erhaltenes Leben, die Zeit vor der Katastrophe und erlittenes Unrecht abzulegen – und damit über einen passiven Opferstatus und die Ohnmacht von Verlierern hinauszuwachsen. Die Wegmarken und Symbole christlicher Heilsgeschichte spielten dabei eine wichtige Rolle. Auch islamische theologische Referenzen und alevitisch-bektaschitische Poesie mit Ichbezug wurden in die autobiografische Praxis ehemaliger imperial subjects der etwas speziellen, nämlich osmanischen Art einbezogen. Im Gegensatz zum Europa der Weltkriege ist der postosmanische Nahe Osten noch nicht auch nur einigermaßen zur Ruhe gekommen. Der Abschied vom Reich fiel im osmanischen Fall außerordentlich schwer, zumal das Reich von seiner Gründungsgeschichte und Etablierung im Spätmittelalter her in der Innensicht mehr als ein Imperium, nämlich universal als „wohl bewahrte“ Dar ül-Islam (»Welt des Islams«) vorgestellt wurde; und zumal seit Ende des 18. Jahrhunderts einschneidende Reformen das Reich hätten retten sollen. Viele Pläne und Hoffnungen waren unerfüllt geblieben. Der Weg vom osmanisch-muslimischen Kosmopolitismus hin zu einem völkischen Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert war hastig und radikal, ebenso der Weg von einem Sultansregime zu einem Komiteeregime und alsbald einer autoritären kemalistischen Republik mit Führerkult.44 Spätosmanische Biografien waren daher radikalen Umbrüchen ausgesetzt, die zu beschreiben und zu „überschreiben“ die Möglichkeiten und Dimensionen autobiografischer Praxis und mehrere Jahrzehnte kaum genügten.

44 Hans-Lukas Kieser: Djihad, Weltordnung, „Goldener Apfel“. Die osmanische Reichsideologie im Kontext west-östlicher Geschichte. In: Richard Faber (Hrsg.): Imperialismus in Geschichte und Gegenwart. Würzburg 2004, S. 183–203.

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ИмпериЯ / „Ich“ und Imperium Das Kaiserreich und die russische Autobiographik, 1830–1860 … Car la politique dans ce triste siècle est tellement liée à tous les intérêts personnels, qu’elle est devenue pour chacun une affaire de famille1

Autobiographien waren für Historiker traditionell vor allem als Quellen der „Literarisierung der Selbstanalyse“2 und somit als Zeugnisse des fortschreitenden Werdens der modernen autonomen Persönlichkeit interessant. Doch können aus meiner Sicht Akzente auch anders gesetzt werden: das Imperial Subject, das im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung stehen soll, evoziert in autobiographischen Texten auch die Komplexität der Wechselbeziehungen zwischen der Autonomie des „Ich“ auf der einen und den sozial-politischen Bindungen des neuzeitlichen Subjekts auf der anderen Seite. Bezieht sich das „klassische Ich“ der Moderne auf den europäischen und urbanen Raum,3 so ist das Imperial Subject, das mich interessiert, in Russland, in den Weiten eines eurasischen Imperiums zu verorten, das sich Mitte des 19. Jahrhunderts von Kalisz im Westen bis nach Kalifornien im Osten erstreckte. Aus dieser Perspektive wird das Imperium, wie von Ilya Gerasimov vorgeschlagen, zum „milieu that stimulates the formation of a modern subjectivity characterized by self-reflection and social constructivism“.4

1 Dolly Ficquelmont an Pёtr Andreevič Wjazemskij [St. Petersburg 07.12.1830]. In: Il diario di Dar’ja Fёdorovna Ficquelmont, hrsg. v. N. M. Kauchtschwili. Milano 1968 (Pubblicazioni dell’Università cattolica del Sacro Cuore, 18), S. 185. 2 Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974, S. 37; Kaspar von Greyerz: Einführung. In: ders. (Hrsg.): Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. München 2007, S. 2. 3 Vgl. Fabian Brändle u. a.: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung. In: Kaspar von Greyerz u. a. (Hrsg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). Köln 2001, S. 3–34, hier S. 27ff. 4 Ilja Gerasimov u. a.: Homo Imperii revisits the “Biographical Turn”. In: Ab Imperio (2009), Nr. 1, S. 17–21, hier S. 20.

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In meinem Beitrag beschränke ich mich auf die Betrachtung Russlands im Zeitraum der 1830–1860er Jahre, der sich weitgehend mit der Regierungszeit Kaiser Nikolaus’ I. (1825–1855) deckt. In diesen Jahren veränderte sich das Verhältnis zwischen Imperium und Selbst in Russland in doppelter Weise. Einerseits verzeichnete man einen „rasanten Aufschwung“ der russischen Autobiographik.5 Andererseits veränderte sich aber auch das Antlitz des militär-feudalen Reiches petrinischer Prägung aus dem 18. Jahrhundert dramatisch. Stichworte sind hier der „offizielle Nationalismus“ seit den 1830er Jahren und der Beginn der „großen Reformen“ Alexanders II. (1855–1881) in den 1860er und 1870er Jahren. Mich interessiert, auf welche Weise diese autobiographischen und imperialen Praktiken und Wandlungsprozesse im Russischen Reich miteinander verflochten waren. In einer Epoche, wo Lebenswege oft noch straff vorgezeichnet waren, spiegelte sich die Kommunikation des Selbst mit der überpersönlichen Größe des Imperiums in unterschiedlichen autobiographischen Typen. Diese Typologie und die Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Transformation von Lebensstrategien der homini imperii werden im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen. Auch wenn es in der historischen Analyse durchaus Sinn macht, im weiteren Sinne „autobiographische Praktiken“, und nicht bloß „Autobiographien“ zu untersuchen,6 wird der Blick im Folgenden auf verbale und nicht verbale Semantiken (Bilder, Gesten, Emotionen etc.), d. h. auf die begriffliche Ebene der Interaktion zwischen dem Ich und dem Imperium in autobiographischen Texten gerichtet. In der hier analysierten Epoche wurden die autobiographischen Praktiken in Russland durch den Adel dominiert – das betrifft auch die homines imperii. Ich werde mich allerdings bemühen, dieses Bild zu nuancieren, denn die Prägung durch das Imperium bestand nicht nur in der Teilnahme der Eliten an der Verwaltung und ihrem Beitrag zum Funktionieren des Kaiserreichs. Die Wirkung dieser Praktiken wird anhand autobiographischer Quellen der Geistlichkeit (Missionare), des kleinen und mittleren Beamtentums sowie der Bauern gezeigt. Die absichtliche Überzeichnung des privaten Lebens gegenüber der Mission im Dienste des Imperiums bzw. der Bekämpfung desselben führte zur hohen öffentlichen Nachfrage solcher Texte: Viele von den hier zitierten Quellen wurden deshalb bereits am Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht.

5 Andrej Tartakovskij: Russkaja memuaristika XIX veka i istoričeskoe soznanie [Russische Memuaristik des 19. Jahrhunderts und das geschichtliche Bewußtsein]. Мoskau 1997, S. 32–48. 6 Vgl. Jochen Hellbeck/Klaus Heller: Vorwort. In: dies. (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 7–9, hier S. 8.

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Das Imperium und seine Typen Bis Anfang des 19. Jahrhunderts wird das Imperium (imperija) in russischen Selbstzeugnissen meist mit dem gemeinsamen Vaterland (otečestvo) assoziiert.7 Die Verbundenheit des Ich mit dem Land wird als Dienst (služba) wahrgenommen und beschrieben, der weitgehend mit der aufklärerischen Mission des Dienstes am Gemeinwohl (blago obščee) identisch war. Imperija wird mit dem „Staat“ sowie mit der ordnenden Macht im Allgemeinen gleichgesetzt – analog zum damaligen Umgang mit dem Begriff empire im Französischen. Dies geschah umso mehr, als in der russischen Autobiographik dieser Zeit Französisch bzw. Lehnübersetzungen aus dem Französischen eindeutig dominierten. Auch die Autobiographie als Genre folgte in Russland vor allem dem französischen Muster.8 Neben der Dienstethik tritt in den hier betrachteten Texten auch die räumliche Dimension des Imperialen in den Vordergrund, wurde doch imperija in dieser Zeit als ein „Staat, ein Raum der Erde [definiert], der von einem Herrscher regiert wird, der den Titel ‚Kaiser’ trägt“.9 Das Imperium war dabei in der Wahrnehmung der Zeitgenossen im ständigen Wachsen begriffen und kannte im Prinzip keine Grenzen. So ließ beispielsweise eine Strophe der informellen Hymne des Russischen Reiches unter Katharina II. (1762–1796) „Grom pobedy razdavajsja!“ („Lasst den Ruf des Sieges ertönen!“) die Imperial Subjects laut verkünden, dass sie bereit seien, ihre „Hände bis ans Ende des Universums zu strecken“ („svoi gotovy ruki v kraj vselennoj my prostret’“). Konstituierend für imperija war schließlich die kulturelle und ethnische Vielfalt; denn, so heißt es schon Mitte des 18. Jahrhunderts

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Teilaspekte dieses Begriffs werden analysiert von Ricarda Vulpius: K semantike imperii v Rossii XVIII veka: ponjatijnoe pole civilizacii [Zur Semantik des Imperiums in Russland im 18. Jahrhundert. Das Begriffsfeld „Zivilisation“]. In: Alexej Miller/Ingrid Schierle/ Denis Sdvižkov (Hrsg.): „Ponjatija o Rossii“: K istoričeskoj semantike imperskogo perioda [„Begriffe von Russland“. Zur historischen Semantik des imperialen Zeitalters] Bd. 2. Moskau 2012, S. 50–70 sowie Olga Ageeva: Titul „imperator“ i ponjatie imperija v Rossii s pervoj četverti XVIII veka [Titel imperator und der Begriff des Imperiums in Russland im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts]. In: http://www.historia.ru/1999/05/ageyeva.htm, (letzter Zugriff 30.10.2013); Ingrid Schierle: „Otečestvo“ – Der russische Vaterlandsbegriff im 18. Jahrhundert. In: Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten. Göttingen 2007, S. 143–162. Tartakovskij: Russkaja memuaristika, S. 152–163; Elena Gretchanaia/Catherine Viollet: Ressusciter ces voix oubliées. Journaux féminins russes en langue française (1780–1854). In : dies. (Hrsg.): «Si tu lis jamais ce journal…» Diaristes russes francophones 1780–1854. Paris 2008. S. 9–68. ‚Imperija‘. In: Slovar’ Akademii Rossijskoj. Teil III (Z-М). St. Petersburg 1792, S. 295.

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in einem patriotischen Gedicht: Das kaiserliche „Volk spricht diverse Sprachen“, und das ist gut so.10 Durch die Aufgabe, diesen heterogenen Raum zu erobern und zu verwalten, wurden in Russland im 18. und 19. Jahrhundert bestimmte Typen imperialer Selbstentwürfe und imperialer Autobiographik geformt. Ein wichtiger Ich-Typus war dabei der Krieger des Imperiums, ein (männlicher wie weiblicher) homo imperii, der die imperiale Offenheit und Vielfalt als Vorteil und Basis für seine persönlichen Lebensstrategien schätzte und zu nutzen verstand.11 Ein staatlich geprägter und in ständiger Expansion begriffener geographischer Raum erzeugte aber auch „negative“ Identitäten, wie am Beispiel des Feindes des Imperiums zu zeigen sein wird.

Im Dienste des Imperiums Die biographischen Situationen, die eine Persönlichkeit in Russland (und in anderen Ländern) in diesem Zeitraum zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und zur schriftlichen oder bildlichen Fixierung des eigenen Selbst bewegten, standen häufig – wenn auch nicht ausschließlich – im Kontext des Dienstes am Imperium. Dieser war mitunter – zum Beispiel im Krieg oder bei Eroberungen – mit existentiellen Herausforderungen verbunden. Aber auch religiöse Praktiken, die in der Frühen Neuzeit eine Schlüsselrolle bei der Individualisierung und der Entstehung eines modernen Ich spielten, waren zum Teil von imperialen Handlungslogiken beeinflusst (wie z. B. Normierung der Beichtpraktiken, Förderung und Überwachung der missionarischen Tätigkeit etc.).12 Schließlich gehörte neben dem Raum auch die Zeit, in welcher das innere Leben des „Ich“ platziert wurde,

10 „Jazyki raznymi veščaet Tvoj narod» ([N. Popovskij]. Stichi Ee Imperatorskomu Veličestvu velikoj i vsemilostivejšej našej monarchine [Na feierwerk, 1 janvarja 1755 goda]. In: Poėty XVIII veka [Dichter des 18. Jahrhunderts] Bd. 1. Leningrad 1972, S. 103. 11 Vgl. schon die Memoiren von Ekaterina Daškova: (Zapiski [1805]), im Original auf Französisch: Mon histoire. Paris 1804. Zu homines imperii vgl. Stephen Norris/Willard Sunderland (Hrsg.): Russia’s People of Empire. Life Stories from Eurasia, 1500 to the Present. Bloomington 2012. 12 S. u. a. Viktor M. Živov: Cerkovnaja politika Petra Velikogo i nasledie XVII stoletija. In: ders. (Hrsg.): Iz cerkovnoj istorii vremen Petra Velikogo: Issledovanija i materialy [Aus der Geschichte der Kirche unter Peter dem Großen: Forschungen und Materialien]. Moskva 2004, S. 34–68.

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dem Imperium: Nicht zufällig entstand der Terminus jurnal (im Sinne von Tagebuch) im Russischen ursprünglich im militärischen Kontext.13 Dem Ideal der Aufklärung des katharinäischen Zeitalters folgend, sollte sich das Ich ganz dem Dienst am Gemeinwohl des Imperiums unterwerfen, um in diesem gleichsam aufzugehen: „je m’oubliait, s’il y allait du patriotisme“, schrieb beispielsweise 1771 der spätere Generalissimus Alexander Suvorov (1730–1800) in einem Brief aus einem „fernen Krieg“ in Polen.14 Die Persönlichkeit Suvorovs sollte bald zu einem Leitbild für die Selbststilisierung späterer Autobiographen werden, wie zum Beispiel beim Dichter und Partisanen des Vaterländischen Krieges gegen Napoleon Denis Davydov (1784–1839) oder dem späteren Prokonsul des Kaukasus Aleksej Ermolov (1777–1861).15 Doch diese, auf das Imperium und das Gemeinwohl ausgerichtete Einstellung änderte sich während und nach der napoleonischen Epopöe in zunehmendem Maße. Die schockierenden Erlebnisse militärischer Niederlagen Russlands und die Erfahrung des Vaterländischen Krieges von 1812 schrieben sich tief in die Selbstzeugnisse der Zeitgenossen ein. So schrieb beispielsweise der Historiker Nikolaj Karamzin (1766–1826) nach der russisch-österreichischen Niederlage in der Schlacht von Austerlitz (1805) an seinen Bruder: „[I]ch blieb einige Nächte ohne Schlaf und kann mich bis jetzt nicht an diesen Gedanken [an die Niederlage] gewöhnen“.16 Tatsächlich sollten die Erlebnisse der napoleonischen Epoche zu einem wichtigen Impuls für die massenhafte Verbreitung autobiographischen Schreibens in Russland werden, wobei der Effekt wellenartig in Abhängigkeit von entsprechenden Jubiläen in Erscheinung trat. So lassen sich auffällige Konjunkturen russischer Autobiographik erst in den 1830er Jahren und dann zum fünfzigsten und hundertsten Jahrestag des Vaterländischen Krieges in den Jahren 1862 und 1912 beobachten.17

13 David Ransel: A Russian Merchant’s Tale: The Life and Adventures of Ivan Alekseevich Tolchënov, Based on His Diary. Bloomington 2009, S. XVII. 14 Aleksandr V. Suvorov an Aleksandr I. Bibikov [Creuzburg (Ostpreußen), 25.11.1771]. In: Alexander V. Suvorov. Pis’ma [Briefe]. Moskva 1986, S. 25. Zum Verhältnis von Autobiographik und dem Gemeinwohl s. Andrej Tartakovskij: Russkaja memuaristika XVIII – pervoj poloviny XIX veka. Ot rukopisi k knige [Russische Memoiristik des 18. – erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von der Handschrift zum Buch]. Moskva 1991, S. 48. 15 Vgl. Sočinenija v stichach i prose Denisa Davydova [Werke in Poesie und Prosa von Denis Davydov] Bd. 1. St. Petersburg 1840; Zapiski A.P. Ermolova 1798–1826 [Aufzeichnungen von A.P. Ermolov]. Moskva 1991. 16 Nikolaj M. Karamzin an Vassilij M. Karamzin [Moskau, 18.01.1806]. In: N.M. Karamzin. Izbrannye statji i pis’ma [Ausgewählte Artikel und Briefe]. Moskva 1982, S. 224. 17 Andrej Tartakovskij: 1812 god v vospominanijach sovremenikov [Das Jahr 1812 in den Erinnerungen der Zeitgenossen]. Moskva 1995, S. 6.

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Die Relation zwischen Ich und Imperium begann sich in dieser Zeit zu verändern. Nach und nach wurde semantisch der imperiale Staat von der Heimat bzw. dem Vaterland getrennt. So heißt es beispielsweise im Tagebuch des jungen Gardeleutnants Aleksandr Čičerin (1793–1813) im Jahr 1812: „L’amour de la patrie doit me faire tout oublier :… nos troupes seront en déroute, l’Empire perdu, mais ma patrie reste encore […]“.18 Das Vaterland (patrie) wurde zur Person und zur hoch emotionalisierten Größe, so zum Beispiel im Tagebuch von General-Major Vasilij Vjazemskij (1775–1812): „Das Herz zittert, wenn es sieht, in welchem Zustand sich Mütterchen Russland befindet […] Trauer, nichts als Trauer um das liebe Vaterland.“19 Im Gegenzug wurde der im 18. Jahrhundert eindeutig mit der Person des Kaisers (bzw. der Kaiserin) verbundene Begriff des Imperiums (imperija) de-personalisiert und seiner emotionalen Dimension entkleidet.20 Das autobiographische Ich verstand sich in zunehmendem Maße als Teil einer nationalen, nicht einer imperialen Gemeinschaft. Frühere autobiographische Muster wurden dabei an die neuen Bedürfnisse der Zeit angepasst, so wurde Aleksandr Suvorov zum Beispiel nachträglich der Charakter der Volksverbundenheit und Volkstümlichkeit (narodnost’) zugeschrieben.21 Auch die kognitiven Landkarten (mental maps) des imperialen Raums veränderten sich: Anstelle potentieller Grenzenlosigkeit etablierte sich die Vorstellung eines arrondierten staatlichen Territoriums mit Grenzen (predely), die verteidigt, nicht erweitert werden müssen. Damit entstand auch eine „Festungsmentalität“, die bis heute ihre Aktualität in Russland nicht verloren hat und unzählige 18 [Alexander V.Cičerin]: Journal commencé le 6 Septembre 1812. In: OIK GPIB (Rara-Abteilung der Staatlichen Historischen Bibliothek Moskau), Bl. 5, Eintrag vom 06.09.1812. 19 Vassilij V. Vjazemskij: Žurnal 1812 goda. In: 1812 god. Voennye dnevniki [Das Jahr 1812. Kriegstagebücher], hrsg. v. Andrej Tartakovskij. Moskva 1990, S. 198, 210. Vgl. dazu mein Artikel: Denis A. Sdvižkov: Selbstherrschaft der Liebe. 1812 als Roman. In: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft (2012), S. 105–125. 20 „Was meiner und meines Reiches (imperii) Ehre, und seinen Grundinteressen widrig ist, das ist ihnen auch schädlich“, schreibt etwa Katharina II. ihrem „Herzensfreund“ Fürst Potёmkin, 27.11.1788 (zit. nach: Ekaterina II i G.A. Potёmkin: ličnaja perepiska [Katharina II. und G.A. Potёmkin: Private Korrespondenz], 1769–1791. Moskva 1997, S. 328. Auf Grund der Analyse der Autobiographik des Adels im XVIII. Jahrhundert stellt Elena Marassinova fest: „Die Begriffe gosudar’ (Herrscher) – gosudarstvo (Staat) – otečestvo (Vaterland) galten als Synonyme. Elena Marassinova: Vlast’ i ličnost’: očerki russkoj istorii XVIII veka [Macht und Persönlichkeit: Skizzen aus der russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts]. Moskva 2008, S. 230–232. 21 Die Schlussworte Suvorovs aus seinem Hauptwerk „Nauka pobeždat’“ („Die Lehre vom Sieg“), 1795 „Meine Herren Offiziere – was für Freude!“ wurden umgewandelt in: „Wir sind Russen – was für eine Freude!“

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persönliche Lebenswege und Ich-Entwürfe prägte. Der Krieger des Imperiums wich dem Typus des Vaterlandsverteidigers. Das lässt sich gut an der Fülle von Kriegsmemoiren nachvollziehen, die bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Löwenanteil autobiographischer Literatur in Russland ausmachten. So erwähnen die Erinnerungen an die napoleonischen Kriege immer stärker den „vaterländischen“ Charakter der Kämpfe und schenken der universal-imperialen Mission Russlands immer weniger Bedeutung. In diesem Zusammenhang verloren die russischen Auslandsfeldzüge der Jahre 1813–1814 im Vergleich zur Verteidigung der Heimat im Jahr 1812 im öffentlichen Interesse und für die einzelnen Lebensgeschichten immer stärker an Bedeutung. Wurden früher die „klassischen“ Kriege des Imperiums außerhalb der eigenen Grenzen – wie etwa der Ungarische Feldzug der russischen Armee im Jahr 184922 – und die eigene Beteiligung daran durch den Hinweis legitimiert, es sei notwendig gewesen, das imperiale Prinzip als solches in Europa zu verteidigen, so stellten sich später die Kriegsteilnehmer in vergleichbaren Kontexten als „Befreier der Slaven“ dar.23 Auch hinsichtlich der Thematisierung der kulturellen und ethnischen Vielfalt des Reiches änderten sich die semantischen Muster: Wurde früher die Diversität des imperialen Raumes betont, setzten sich in zunehmendem Maße eine kolonialistische Semantik und ein Pathos der Eroberung (pokorenie) und Pazifizierung (usmirenie) durch. Von nachhaltiger Wirkung waren hier die langen Eroberungskriege im Kaukasus (1817–1864). Die autobiographischen Zeugnisse zu diesem Krieg bilden die Hauptmasse der Kriegs-Memuaristik in Russland bis in die 1860er Jahre. In diesen Texten spiegelt sich die Erfahrung einer klassischen imperialen Eroberung neuer Gebiete, mit dem Bau von Militärstraßen und Forts sowie dem Vorrücken der Kaukasischen Grenzlinie, einer Art „russischer Limes“. Die Erfahrung des Dienstes im Kaukasus und der neu entstehende russische Orientalismus führten bei den Eroberern zur Herausbildung einer eigenen Identität der russischen Kaukasier (kavkazcy), die sich auch in der Autobiografik niederschlug. Als Kaukasier bezeichnete man im 19. Jahrhundert – anders als heute – nicht die Angehörigen kaukasischer Völker, sondern Mitglieder des russischen Militärs und der zarischen Administration im Kaukasus. Populär wurde dieser Begriff mit dem 22 Pёtr V. Alabin: Četyre vojny. Pochodnye zapiski v 1849, 1853, 1854–56, 1877–78 godach. T. I: Vengerskaja vojna [Vier Kriege. Feldtagebücher 1849, 1853, 1854–56, 1877–78. Bd. 1: Der Ungarische Krieg]. Samara 1888. 23 V. Nazariev: Za Avstriju i protiv nee [Für und gegen Österreich]. In: Russkaja Starina 82 (1894), S. 181. Eine ähnliche Entwicklung – von lokalen Identitäten zu gesamtnationalen – erforschte Julia Murken anhand bayerischer Kriegsmemoiren im Laufe des 19. Jahrhunderts: Julia Murken: Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812. Ihre Kriegserfahrungen und deren Umdeutungen im 19. und 20. Jahrhundert. München 2006, S. 114–117.

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Erscheinen der gleichnamigen physiologischen Skizze von Michail Lermontov (1814–1841) im Jahr 1841. Die Bezeichnung wird hier nur auf russische Kaukasier bezogen, die Einheimischen verdienten in Lermontovs Augen dagegen nicht das Attribut der Kaukasier. In seiner fiktionalen Biographie eines echten Kaukasiers schildert Lermontov ein „halbrussisches, halbasiatisches Wesen“ eines Menschen, der mit 18 Jahren, nach dem Lesen der Romantiker, in einer „Leidenschaft zum Kaukasus entflammt“. An die Stelle der Kriegsromantik tritt später eine „Liebe zu allem Tscherkessischen“: Der Kaukasier trägt nun „asiatische Trachten“, und „selbst im Gouvernement Voronež [in Zentralrussland, d. Verf.] schnallt er Dolch oder Säbel nicht ab“.24 Gegen Ende des Jahrhunderts hatte sich diese koloniale Matrjoschka-Identität schon tief in der russischen Elite in den imperialen Randgebieten verwurzelt. Der Sohn des Vizekönigs im Kaukasus, Großfürst Aleksandr Michajlovič (1866–1933), erinnerte sich an die Zeit um 1880: Wir liebten den Kaukasus und träumten davon, für immer in Tiflis zu bleiben. Das Europäische Russland interessierte uns nicht. Unser begrenzter Patriotismus veranlasste uns dazu, von oben herab mit Misstrauen und sogar Verachtung auf die goldbestickten Boten aus St. Petersburg zu schauen. Der russische Monarch wäre sicherlich schockiert, sollte er erfahren, dass fünf seiner Neffen im fernen Süden Pläne für die Trennung des Kaukasus von Russland hegten.25

In der gleichen Form und Funktion solcher russisch-kolonialer Misch-Identitäten, die mit jenen der französischen pieds-noirs vergleichbar sind, entstanden sukzessive auch russische Turkestaner, Charbiner usw. Einen vorläufigen Abschluss dieser Entwicklung markierten die sowjetischen Afghanen (afgancy) kurz vor dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Auch der Begriff der Kolonie (kolonija) im heutigen (imperialen) Sinne wurde in Russland offenbar zum ersten Mal für den Kaukasus genutzt – im Unterschied zur älteren und konkurrierenden Bedeutung, die sich ausschließlich auf Siedlungseinheiten und Gebiete der 24 Dt. Übersetzung von Barbara Heitkam, , (letzter Zugriff 30.10.2013). 25 Grossfürst Alexander Michailovič: Kniga vospominanij Bd. 1. Paris 1933, S. 23 [Dt.: Alexander von Russland (eigene Biographie), Einst war ich Großfürst, Leipzig, 1932]. Es gab sogar ein Jahrbuch „Die Kaukasier, oder Heldentaten und Biographien herausragender Personen, die im Kaukasus tätig waren“. Vgl. Diljara Ismail-Zade: Nastojaščij kavkazec [Der echte Kaukasier]. In: Rodina 1–2 (2000), S. 82–86, dort auch weitere Hinweise auf die autobiographischen Quellen. Die Forschung über die Grenzidentitäten boomt, vgl. zum Kaukasus: Michael Khodarkovsky: Bitter choices: Loyalty and Betrayal in the Russian Conquest of the North Caucasus. Ithaca 2011.

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inneren Kolonisation Russlands durch Siedler aus dem europäischen Landesteil bezog.26 Mit den Kriegen im Kaukasus entstand schließlich der autobiographische Typ bzw. Selbstentwurf des kolonialen Administrators und „Zivilisators“, so etwa in den Selbstzeugnissen des Prokonsuls des Kaukasus Alexej Ermolov.27 Weitere Autobiographien dieser Art erschienen mit der Erweiterung des Russischen Reiches in Zentralasien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.28 Seit den Kaukasus-Kriegen markierte also der „Dienst in Kolonien“ russische Autobiographien in ähnlicher Weise, wie die verwundete Schulter die Selbstzeugnisse Arthur Conan Doyles (1859–1930) prägten und die Spuren einer überstandenen Typhus-Erkrankung von Sherlock Holmes die koloniale Vergangenheit von Doktor Watson in Afghanistan offenbarten.29 Einen Sondertyp bildet die Autobiographik orthodoxer russischer Missionare, zu denen noch wenig Forschung vorliegt. Nach dem Wolga-Gebiet und Sibirien weiteten sie ihre Tätigkeit später auf China und Japan aus.30 Daneben gab es Versuche, auch nach Palästina und bis in das orthodoxe Abessinien (Äthiopien) vorzurücken.31 In den westlichen Randgebieten des Russischen Reiches entstand auch eine besondere autobiographische Tradition der professionellen Russifizierer, wie sie 26 Obozrenie rossijskich vladenij za Kavkazom, v statističeskom, etnografičeskom, topografičeskom i finansovom otnošenii [Überblick der transkaukasischen Länder in russischem Besitz von statistischer, ethnographischer, topographischer und finanzieller Seite]. Teil 1. St. Petersburg 1836, S. 63. Über die „innere Kolonisation“ jetzt: Ilja Kukulin u. a. (Hrsg): Tam, vnutri. Praktiki vnutrennej kolonizacii v kulturnoj istorii Rossii [Dort innen. Praktiken innerer Kolonisierung in der russischen Kulturgeschichte]. Moskva 2012. 27 Zapiski A.P. Ermolova. 28 G.P. Fёdorov: Moja služba v Turkestanskom krae (1870–1906) [Meine Dienstzeit in der Region Turkestan]. In: Istoričeskij vestnik 9–12 (1913); B.L. Rustam-Bek-Tageev: Russkie nad Indiej. Očerki i rasskazy iz boevoj žisni na Pamire [Die Russen über Indien. Skizzen und Erzählungen über das Militärleben auf dem Pamir]. St. Petersburg 1900 u. a.m. 29 „Any one who has been in India […] is received by Baron [G.V.] Rosen [der damalige Oberbefehlshabende des Kaukasischen Sonderkorps, d. Verf.] into the Russian service“ (Richard Wilbraham: Travels in the Trans-Caucasian Provinces of Russia and along the southern shore of the lakes of Van and Urumiah in the autumn and winter 1837. London 1839, S. 181). 30 Die ersten autobiographischen Zeugnisse dieser Art entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts (Iz putevych zapisok pravoslavnogo missionera [Aus den Reisetagebüchern eines orthodoxen Missionärs]. In: Duchovnaja Beseda (1858), Bd. 3, S. 39–66, S. 324–327. 31 Abissinskaja missija archimandrita Paisija i N. N. Ašinova (Rasskaz učastnika ėkspedicii L. Nikolaeva) [Die abyssinische Mission des Archimandriten Paisius und N.N.Ašinov (Bericht des Teilnehmers der Expedition L.Nikolaev)]. Odessa 1889. Vgl. Edward T. Wilson: Russia and Black Africa before World War II. New York, London 1974.

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zum Beispiel der General-Gouverneur von Vilna Michail N. Murav’ev (1796– 1866) oder der Gouverneur von Kalisz Aleksandr P. Ščerbatov (1834–?) mitgeprägt haben.32 Neben den Texten dieser beiden Personen wurden bis Ende des 19. Jahrhunderts in russischen historischen Zeitschriften zahlreiche, ideologisch neutralere Autobiographien von Reichsbeamten veröffentlicht, die ihr Leben als Gouverneure, Senatoren, Revisoren oder Militärs höheren Ranges als ständige Wanderung durch die Weiten des Imperiums schildern. In diesen autobiographischen Texten wird ein Karriereabschnitt in den westlichen Gebieten bzw. im Weichselland häufig als Lebensabschnitt beschrieben, der auch das ganze weitere Leben prägte.33 Auch der autobiographische Typus des imperialen Reisenden änderte sich. Im ausgehenden 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts schilderten russische Seefahrer in Tagebüchern und Memoiren die imperialen Missionen Russlands im Mittelmeer und im Pazifik – von Alaska bis zu den Sandwich-Inseln (Hawaii).34 Nach dem Krimkrieg und dem Verkauf Alaskas (1867) wurden die Projekte dieses maritimen Imperiums zunächst auf Eis gelegt. Dafür wurden die Territorien in Zentral- und Ostasien sowie im Fernen Osten intensiv erforscht. Neben Russen waren es oft Nachfahren russifizierter Minderheiten, wie zum Beispiel Nikolaj M. Prževalskij (1839–1888), Pёtr P. Semenov-Tjan’-Šanskij (1827–1914) oder Grigorij E. Grum-Gržimajlo (1860–1936),35 die sich als Reisende und For32 Michail N. Murav’ev-Vilenskij: „Gotov soboju žertvovat’ [„Ich bin bereit, mich zu opfern“]. Moskva 2009; Alexandr P. Ščerbatov: Russkij gubernator v Pol’še. Iz zapisok otstavnogo gubernatora [Der russische Gubernator in Polen: Aus den Aufzeichnungen eines Gubernators a.D.]. In: Russkaja Starina 42 (1884), S. 595–616; 43 (1884), S. 399–410; 48 (1885), S. 705–713. 33 Auch das betraf die Vertreter der „imperialen“ Kirche – vgl. die Memoiren des Mitropoliten Evlogij über seine Lebensjahre in Chelm/Cholm im damaligen Russisch-Polen (Mitropolit Evlogij (Georgievskij): Put’ mojej žisni [Der Weg meines Lebens] [1938]. Paris 1947. 34 Pavel P. Svin’in: Vospominanija na flote [Erinnerungen von der Kriegsmarine]. Teil 1–3. St. Petersburg 1818; Vladimir B. Bronevskij: Zapiski morskogo oficera, v prodolženie kampanii na Sredizemnom more pod načalstvom vice-admirala D.N. Sinjavina [Aufzeichnungen eines Marineoffiziers, während der Kampagne im Mittelmeer unter der Führung des Vize-Admirals D.N. Sinjavin]. Teil 1–4. St. Petersburg 1836. Da die Reiseberichte im 19. Jahrhundert auf Grund der Tagebücher entstanden, trugen sie oft autobiographische Züge, vgl. [Ivan F. Krusenštern]: Putešestvie vokrug sveta v 1803, 4, 5 i 1806 godach […] na korabljach Nadežde i Neve […] [Die Reise um die Welt in den Jahren 1803, 4, 5 und 1806 (…) mit den Schiffen Nadežda und Neva (…)]. St. Petersburg 1809. 35 Pёtr P. Semenov-Tjan’-Šanskij: Memuary [Memoiren] Bd. 1–4. St. Petersburg 1913, Moskva 1946; Nikolaj M. Prževalskij: Tret’e putešestvie v Centralnoj Azii [Die dritte Reise in Zentralasien]. St. Petersburg 1883; ders.: Kak putešestvovat’ po Centralnoj Azii. Pervaja glava

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scher in Zentralasien und im Fernen Osten einerseits ihrer gesamteuropäischen zivilisatorischen Mission bewusst waren und andererseits die eigene Tätigkeit als „‚russische‘ nationale Sache“36 oder Basis für eine imperiale „russische Kolonisation“ verstanden.37 Ähnlich wie ihre britischen Zeitgenossen und Konkurrenten in Zentralasien, Sir Aurel Stein (1862–1943) oder Sir Francis Younghusband (1863–1942), sahen sie ihr Leben nicht nur der Wissenschaft gewidmet, sondern empfanden sich – zu Recht – als Schlüsselfiguren im Great Game des Britischen und Russischen Imperiums in Zentralasien.38

Imperium als Lebens- und Karriereraum Homines imperii in Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nutzten das Imperium mitunter als komfortablen Lebens- und Karriereraum. Sie verstanden sich als Teil des Reiches, nicht zuletzt dank eigener Netzwerke innerhalb der multiethnischen Elite und der Möglichkeit, die gesellschaftliche Meinung (obščee mnenie) im Zarenreich mitzugestalten. Die Konzepte/Begriffe imperija und imperator wurden dementsprechend auch in russischen Selbstzeugnissen in der eigenen Werteskala und der Liste der Karriereoptionen ganz oben platziert. Die Bezugsgrößen der Nation (nacija/narod) und der Gesellschaft (obščestvo/obščestvennost’) – letztere verstand man im Russischen als Gegenpol zum Staat (gosudarstvo) – wurden auch in der russischen Autobiographik in zunehmendem Maße zu Konkurrenten für das Imperiale. Dies musste nicht zwangsläufig zu Identitätsoder Loyalitätskonflikten führen. Wenn es dennoch zu solchen Konflikten kam, konnten sie persönliche Reflexionen anstoßen, die sich in autobiographischen Praktiken niederschlugen. 4-go putešestvija po Centralnoj Azii [Wie reist man in Zentralasien. Das erste Kapitel der 4ten Reise in Zentralasien]. In: Sbornik geografičeskich, topografičeskich i statističeskich materialov po Azii, Bd. 32. St. Petersburg 1888. S. 142–233; Grigorij E. Grum-Gržimajlo: Opisanie putešestvija v Zapadnyj Kitaj [Die Beschreibung der Reise in Westchina] Bd.1–3. Moskva 1948 u. a. 36 Grigorij E. Grum-Gržimajlo an Graf S.D. Šeremet’ev [St. Petersburg, 01.02.1889]. In: Istoričeskij Archiv 2 (2006), S. 178–191. 37 Pёtr P. Semenov-Tjan’-Šanskij: Putešestvie v Tjan’-Šan’ [Reise in den Tian Shan], 1856– 1857 [Memuary Bd. 2]. Moskva 1958, S. 17. 38 Beiden Seiten gemein waren ihre Sinophobie und oft dezidiert rassistische Aussagen. Vgl. David Schimmelpenninck Van Der Oye: Toward the Rising Sun: Russian Ideologies of Empire and the Path to War with Japan. DeKalb 2001, S. 34. Zur Problematik im Allgemeinen: Mary Louise Pratt: Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. London 1992.

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Bis in die 1860er Jahre wurde die Ideologie des Nationalismus – anders als deren verharmlosende und offiziöse Form der Volkstümlichkeit (narodnost’) – von der bonne société des Reiches als inkompatibel mit den Strukturen des Imperiums angesehen, als vulgär eingestuft und für die eigene Lebens- und Karriereplanung langfristig als Leitvision abgelehnt. Nehmen wir als Beispiel den Historiker und Publizisten Sergej N. Glinka (1776–1847), Herausgeber der nationalistischen Zeitschrift Der Russische Bote (Russkij Vestnik). Nach einer sehr kurzen Phase der Popularität in den Jahren 1812–1815 wandte sich das gebildete Publikum von seinen als Jahrmarktspatriotismus bespöttelten Schriften ab. Glinka war daraufhin gezwungen, sein Leben durch das Verfassen von Grabinschriften zu bestreiten und starb in Armut. Seine vollständigen Memoiren blieben bis Ende des 19. Jahrhunderts unveröffentlicht.39 Diejenigen, die in ihrer Karriereplanung dagegen weiterhin auf das Imperium setzten, konnten sich häufig einer entsprechenden Lebensdividende sicher sein. In besonderem Maße galt dies für sogenannte Grenzgänger.40 Neben Juden sind im russischen Fall zu dieser Gruppe vor allem Polen zu zählen, die freiwillig in die Dienste des Reiches traten (oder dazu gezwungen wurden).41 So zum Beispiel Apollinarij Rutkevič (Apolinary Rutkiewicz), ein Teilnehmer des polnischen Novemberaufstands 1830/1831, der nach seiner Gefangennahme durch Kosaken in den Kaukasus geschickt wurde. Mehrmals dachte er, so berichten seine Erinnerungen, an Selbstmord. Am Ende avancierte Rutkevič jedoch zum General-Leutnant der kaiserlichen Armee. In seinen Memoiren spricht er von sich immer noch gelegentlich als Pole, doch die Wir-Gruppe mit der er sich noch stärker verbunden fühlte, war das Erivan-Regiment der kaiserlichen Garde. Hier findet er seine Frau und erhält seine Offiziers-Epauletten; hier wird er beim Sturm auf das heutige Sotschi verwundet. Dementsprechend bezeichnet er sich in seinem Selbstzeugnis als „alten Erivaner“.42 Ein anderes Beispiel liefern die Memoiren des Literaten Faddej Bulgarin (Jan Tadeusz Krzysztof Bułharyn, 1789–1859). Als gebürtiger Pole aus dem heutigen 39 Zapiski Sergeja Nikolaeviča Glinki [Aufzeichnungen von Sergej Nikolaevič Glinka]. St. Petersburg 1895. 40 Vgl. Grenzgänger in Vielvölkerreichen: Grenzziehungen und -überschreitungen in Russland und Österreich-Ungarn (1840–1918), Themenheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), H. 5. 41 Zum jüdischen Fall vgl. Alexis Hofmeister: Jüdische Grenzgänger an der imperialen frontier: die Anfänge jüdischer Autobiografik in russischer Sprache. In: ebd., S. 435–448 sowie sein Beitrag in diesem Band. Den polnischen Fall beleuchtet u. a. Jens Herlth in seinem Aufsatz im vorliegenden Sammelband. 42 Apollinarij F. Rutkevič: Iz vospominanij starogo erivanca (1832–1839 gg.) [Aus den Erinnerungen eines alten Erivaners, 1832–1839]. In: Istoričeskij Vestnik 137 (1914), N. 8–12.

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Weißrussland hatte Bulgarin eine bewegte Biographie, die in mancher Hinsicht einzigartig, andererseits aber auch typisch für die „Reichs“-Polen Russlands war. Die eigene Nationalität wurde für sie entweder zum Leitmotiv des Lebens oder sie wurde verdrängt und durch andere Kollektivzuschreibungen ersetzt. Bulgarin, der mit zweitem Vornamen nach dem polnischen Nationalhelden Tadeusz Kościuszko hieß, kämpfte zeitweise in den Reihen der napoleonischen Legionen, verfasste dann patriotische Romane auf Russisch, die sich äußerst erfolgreich verkauften, und gab schließlich die russischsprachige Zeitschrift Syn Otečestva (Sohn des Vaterlandes/Patriot) heraus. In seinen Memoiren wählt er bewusst eine a-nationale Identität, indem er allgemein von den Slaven redet oder die Untertanen des Russischen Kaisers allgemein als Petrianer bezeichnet: Als Dank an [Kaiser Peter I., d. Verf.] sollten wir unseren gemeinsamen Stammesnamen der Slaven durch den Namen des Reichsgründers ersetzen. Russland muss Petrovien oder Romanov-Imperium heißen, und wir Petrianer oder Romanover.43

Fallstudie: Das Tagebuch der Dorothea (Darja/Dolly) Fёdorovna Ficquelmont Eine Muster-Autobiographie des imperialen Grenzgängers aus der höfischen Elite hat Dorothea (Darja/Dolly) Fёdorovna Ficquelmont (1804–1863) verfasst. Sie war die Enkelin des berühmten Helden des Vaterländischen Krieges, Feldmarschall Michail I. Kutuzov (1745–1813). Aufgewachsen in Reval, wurde sie mit dem französischen Emigranten und Habsburger Diplomaten Charles Louis (Karl Ludwig) Graf von Ficquelmont (1777–1857) verheiratet und begleitete diesen auf seinen Missionen nach Neapel, St. Petersburg, Mailand und Wien. Ihr bedeutendes autobiographisches Erbe – ein ausführliches Tagebuch auf Französisch 1829–1862 und umfangreiche Korrespondenz – wurden nur teilweise veröffentlicht.44 Wie bereits 43 Faddej Bulgarin: Vospominanija [Memoiren] Bd. 1–6. St. Petersburg 1846–1849, hier Bd. 1, S. 85. Über Bulgarin: Bernhard Chiari: Das „polnische Scheusal“. Faddej Venediktovič Bulgarin in St. Petersburg (1789–1859). In: S. Creuzberger u. a. (Hrsg): St. Petersburg-Leningrad-St. Petersburg. Eine Stadt im Spiegel der Zeit. Stuttgart 2000, S. 62–82. 44 Der Vorgänger des Grafen Ficquelmont auf diesem Posten des Habsburger Gesandten, Ludwig von Lebzeltern, heiratete auch eine russische Aristokratin, Sinaida Laval. Die beiden hinterließen ebenfalls einen nur teilweise veröffentlichten autobiographischen Nachlass. Vgl. Un collaborateur de Metternich. Mémoires de Lebzeltern, hrsg. v. E. de Levis-Mirepoix. Paris 1949; Sinaida Lebzeltern/Ekaterina Trubeckaja, in: Zvezda (1975), N. 12, S. 179–194.

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ihre Mutter Elizaveta Chitrovo (1783–1839) führte Dolly Ficquelmont 1829–1838 einen einflussreichen Salon in St. Petersburg und verstand sich als eine der Schlüsselfiguren der höheren Gesellschaft. Als solche hatte sie direkten Einfluss auf die opinion générale (obščee mnenie) des Kaiserreiches und deren Entscheidungsträger. Nicht von ungefähr nannte der Dichter und Schriftsteller Pёtr Vjazemskij (1792–1878) in einem Brief an Dolly ihren Salon „votre empire“.45 Dass der Salon der Ehefrau eines ausländischen Gesandten in Russland ein solches öffentliches Gewicht haben konnte, wäre später, nach dem Krimkrieg, schlicht unvorstellbar gewesen. Wie stark die Soziabilität und das kulturelle Leben dieser Epoche insgesamt durch Frauen der gesellschaftlichen Elite geprägt waren, ist nicht nur für Russland ein gut erforschtes Phänomen.46 Diese öffentliche Identität verband sich bei Dolly Ficquelmont problemlos mit familiären Bindungen. In ihrem Tagebuch schreibt sie viel und mit großer Emphase über ihr vollendetes Glück als Ehefrau und Mutter. Die imperiale Normalität spiegelt sich in ihrem Tagebuch vor allem in der häufigen Wiedergabe von Nachrichten über Verlobungen und Ehepläne in den befreundeten adeligen Familien sowie in Berichten über die zahlreichen gegenseitigen Besuche. Dolly Ficquelmont war durchaus bereit, in diese Welt der europäischen Imperien auch Osmanen miteinzuschließen: Eine große Delegation der Pforte hielt sich gerade 1829–1830 in der russischen Hauptstadt auf, um die Friedensbedingungen des Vertrags von Adrianopel (1829) zu mildern. Das Einzige, was den Osmanen in den Augen der Autorin bei ihrem Bestreben nach Zivilisation fehlte, war deren Verhältnis zu Frauen und ihre Ablehnung, „d’élever et d’émanciper leurs femmes.“47 Am Beispiel von Dolly Ficquelmont lässt sich zudem zeigen, welche Rolle die am Anfang des Artikels erwähnten religiösen Praktiken für die Autobiographik, auch im imperialen Kontext Russlands, spielten. Russisch-orthodox getauft, sprach Dolly, wie viele andere Mitglieder der Reichselite, kein Russisch und fing erst mit 25 Jahren an, die Sprache zu lernen. Kirche und Kirchendienste spielten in ihrem Leben keine besondere Rolle, im Gegensatz zu Praktiken der eigenen Persönlichkeitsbildung, vor allem in der anvertrauten Form der Konversation. Auch die spezifische Prägung durch eine Konfession spielte bei ihr offenbar eine untergeordnete

45 Il diario di Dar’ja Fёdorovna Ficquelmont, S.186. 46 Zur Schlüsselrolle der Frauen allgemein in diesem Zeitraum vgl. Viktor V. Vinogradov: Jazyk Puškina: Puškin i istorija russkogo literaturnogo jazyka [Die Sprache von Puškin: Puškin und die Geschichte der russischen Literatursprache]. Moskva, Leningrad 1935, S. 209–221. 47 Il diario di Dar’ja Fёdorovna Ficquelmont, S. 130, 132.

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Rolle: Der christliche Glaube wurde von ihr eher in universalistischem Geiste im Sinne der Heiligen Allianz praktiziert. Obwohl Dolly in Wien die russisch-orthodoxe Kirche besuchte, war ihr dortiger Beichtvater und Gesprächspartner in Fragen des Glaubens der katholische Geistliche Prinz Alexander zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst. Nach ihrer Ankunft in St. Petersburg wählte sich Dolly als religiösen Gesprächspartner den Mitropoliten Filaret (Drozdov). Sie sprach mit ihm Französisch und ging unter seiner Führung während der Bußwochen (govenie) „in sich“. „Faire ses dévotions“ bedeutete für Dolly neben Gesprächen auch intensive Lektüre. Ihr Ziel war es, dadurch ihre innere Welt „in Ordnung zu bringen“: „j’ai recommencé à lire et à mettre mes idées un peu en ordre“.48 Den ersten Riss in dieser heilen Welt der christlichen Imperien markierte – auch für Dolly Ficquelmont – der polnische Novemberaufstand 1830/1831. Die Reichskrise äußerte sich für sie augenfällig im Verschwinden der Polen von den Petersburger Bällen und aus den hauptstädtischen Salons. Ihrem guten Freund Alexander Puschkin (1799–1837) folgend, betrachtete Dolly den Novemberaufstand anfangs noch als Bruderzwist oder Bürgerkrieg (guerre civile). Doch die zunehmende Gewalt und ihre Verbitterung angesichts der harschen Pazifizierung (usmirenie) des Aufstands durch loyale zarische Verbände änderte ihre Einschätzung. Am Ende nannte sie Nikolaus I. einen Despoten und konstatierte, der vormalige Bürgerkrieg zwischen Untertanen eines Reiches habe sich in einen Eroberungskrieg (une guerre de conquête) einer Nation gegen eine andere verwandelt.49 Nach dieser Krise und dem Cholera-Aufstand im gleichen Jahr in St. Petersburg schien Dolly allein noch das Habsburger Reich eine sichere Welt zu sein. Doch auch hier erlebte sie später die turbulenten Jahre 1848/49 in Mailand, Venedig und Wien in noch weit dramatischeren Umständen.50 Obwohl immer noch liberal – in ihrem aristokratischen Verständnis – gesinnt, hegte Dolly nach der Revolution von 1848/49 keinerlei Sympathien mehr für die aufständischen Italiener, Ungarn, Tschechen und Polen. Letztere wurden von ihr nun sogar als Hauptverursacher der Unruhen und als ihre persönlichen Feinde angesehen. Auch im Habsburger Reich erkannte Dolly die imperiale Krise vor allem an der Auflösung traditioneller Formen und Institutionen der Soziabilität, so zum Beispiel in der Stadt Mailand, wo sie 1848 mit den anderen „Österreichern“ in eine Art gesellschaftlicher Isolation geriet. Ihrem Tagebuch vertraute sie an: „Nous

48 Ebd., S. 122. 49 Ebd., S. 170. 50 Dazu: Josef F. Polišenský: Aristocrats and the Crowd in the Revolutionary Year 1848. A contribution to the history of revolution and counter-revolution in Austria. New York 1980.

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continuons à vivre dans la séparation la plus complète des Milanais“.51 Die Krise des Imperiums, die sie persönlich an der Peripherie des Reiches erlebte, äußerte sich im Verschwinden der vermittelnden imperialen Macht und der Auflösung transnationaler persönlicher Netzwerke. Für Dolly kam dies einem „Rückfall ins Mittelalter“ gleich: Nous avons l’air d’être retombés dans le Moyen Age, tant les passions politiques sont brulantes et farouches. Aucun lien ni d‘amitié, ni d’affection, ni de reconnaissance n’existe, il n’y a plus que deux camps ennemis et aucun milieu.52

Das Haus, das für Dolly zum einen Zentrum des Privaten, zum anderen Zentrum des öffentlichen Salonlebens war, sollte zum nächsten empfindlichen Ziel werden, das nicht mehr durch das Imperium gesichert war. Die Realität und die Krise des polyethnischen Habsburgerreiches brachen 1848 in buchstäblichem Sinne in Dollys sancta sanctorum ein: Bei den Unruhen in Mailand wurde ihr italienischer Koch durch einen Blindgänger tödlich verletzt, in Venedig erlebte sie den nächtlichen Besuch eines Kommissars der revolutionären Republik mit gezücktem Säbel in ihrem Haus. In Wien wurde ihr Mann 1848 für kurze Zeit Außenminister im ersten verantwortlichen Ministerium (Regierung), doch seine vormalige Nähe zu Metternich, seine Verbindungen nach Russland und seine Rolle des Vermittlers zwischen zwei Imperien, die er auch seiner Frau verdankte, wurden ihm jetzt zum Verhängnis: „On ne craint pas […] de nous supposer tous deux vendus à la Russie […] Je ne puis dire combien je souffre de cette haine aveugle et fanatique qu’on porte à tout ce qui est russe“.53 In Wien stürmten Studenten aus der Akademischen Legion, ebenfalls tief in der Nacht, das Haus der Ficquelmonts und zwangen Dollys Mann, vom Balkon des Hauses seinen Rücktritt zu verkünden: „J’ai cru pendant quelques minutes qu’aucun de nous ne sortirait vivant […] c’était horrible“.54 Das Datum des 4. Mai 1848 blieb für Dolly mit traumatischen Erinnerungen verbunden und wurde in den nachfolgenden Jahren in ihrem Tagebuch als Wendepunkt ihres Lebens reflektiert. Während des wenig später ausbrechenden Krimkrieges versagte schließlich auch das Bündnis „zwischen unseren zwei Kaiserreichen“. Den Bruch erlebte sie wie eine traumatisierende Trennung von Vater und Mutter: „quand on a deux patries, 51 Comte F. de Sonis: Lettres du Comte et de la Comtesse de Ficquelmont à la Comtesse Tiesenhausen. Paris 1911, S. 143 52 Ebd., S. 142–143, 145–146. 53 D.F. Ficquelmont an E.F. Tiesenhausen, Wien 22.04.1848. In: ebd., S.156. 54 Ebd., S. 161.

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on les aime comme père et mère […] lorsque les deux ne peuvent marcher d’accord, on en éprouve une grande souffrance“.55 Insgesamt markierte der Krimkrieg eine epochale Wende für das imperiale Europa, wie es nach 1815 entstanden war. Dies galt auch für viele Lebenswege von Menschen, die dieses Europa als einzig denkbare und mögliche politische Ordnung empfanden. Eine entsprechende Krise erlebte in diesen Jahren zum Beispiel Herzog Eugen von Württemberg (1788–1857), der seine ganze Biographie mit der „kaiserlich-russischen Armee“ verband, dessen Söhne jedoch vor dem Krimkrieg in österreichische und preußische Dienste übergetreten waren.56 Für Dolly Ficquelmont markierte dieser Zeitpunkt vor allem das Ende ihrer öffentlichen Rolle als Salonführerin und Vermittlerin zwischen zwei Imperien. Sie zog sich aus dem Politischen ins Private zurück.

Ich contra Imperium Ein neuer Typus des imperialen autobiographischen Selbstentwurfs war im betrachteten Zeitraum schließlich jener des Feindes des Imperiums. Dieser brauchte das Reich für eine Selbst- Identifikation ex negatio, war dabei aber nicht minder kosmopolitisch geprägt als zum Beispiel jener Dolly Ficquelmonts oder Faddej Bulgarins. Eine Musterbiographie (und Autobiographie) lieferte hier für Russland der Londoner Exilant und Verleger Alexander Herzen (1812–1870). Für die Entstehung des neuen autobiographischen Typus des Feindes des Imperiums legten Herzens Erinnerungen Mein Leben (Byloe i dumy) (1856–1869) eine wichtige Grundlage. Das autobiographische Schreiben sollte, Herzen zufolge, ein Gegennarrativ der Gesellschaft (obščestvo) zur offiziellen Geschichte des Imperiums bzw. Staates (gosudarstvo) schaffen. So heißt es in der Einleitung seiner Autobiographie: „Momentan [d. h. in den 1860er Jahren, d. Verf..] gibt es kein anderes Land, wo Memoiren nützlicher sind, als Russland“.57 Herzens Byloe i dumy begründete in Russland die autobiographische Tradition von Menschen, die sich dem titanischen Kampf gegen das Zarenreich, gegen die Hydra des „Reiches des Bösen“ verschrieben hatte. Herzen selbst knüpfte dabei in bedeutendem Maße an das bekannte Werk von Marquise Astolphe de Custine (1790–1857), La Russie en 1839, und das von ihm geprägte Bild vom Russischen 55 Ebd., S. 449, 452. 56 Eugen von Württemberg: Memoiren des Herzogs Eugen von Württemberg. 3 Bde. Frankfurt a. O. 1862. 57 Alexander I. Herzen: Sobranie sočinenij v 30 tomach [Ausgewählte Werke in 30 Bde.] Bd. 8. Moskva 1956, S. 405–406; Tartakovskij: Russkaja memuaristika, S. 325.

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Reich als „Völkergefängnis“ (prison des peuples) an. Dieses Bild des Zarenreiches sollte die Politik der russischen revolutionär-demokratischen Befreiungsbewegung und den Internationalismus der oppositionellen russischen Intelligencija nachhaltig prägen. Genauso populär wurde der Slogan vom prison des peuples jedoch auch im Habsburger Reich. Typisch für die Autobiographik eines Feindes des Imperiums war die Inversion aller auf das Imperium bezogenen Lebenskonstellationen. Der imperiale Raum wird hier vom Einsatzbereich für den Dienst am Imperium zum Ort der Selbstrealisierung. Die Überwindung des Imperiums ist dem mutigen, einsamen Kämpfer vorbehalten. Die stilisierte Konfrontation von stumpfem, kollektivem und weitläufigem Imperium auf der einen und dem kultivierten, mutigen Ich auf der anderen Seite findet sich zum Beispiel in autobiographischen Texten von Polen aus dem Zarenreich.58 Die lange Traditionslinie von polnischen Lebens- und Fluchtgeschichten reicht hier von Texten aus dem späten 18. Jahrhundert – z. B. Moritz/Maurycy/Móric August Benjowskis (1746–1786) Flucht von Kamčatka (1771)59 – bis zur Verfilmung entsprechender Biographien aus dem 20. Jahrhundert. Das Imperiale wurde in autobiographischen Texten der Gegner des Reiches nicht nur mit der Weite des Raumes, sondern auch mit dem Bereich des Krieges assoziiert. So heißt es schon bei Herzen: „Der Despotismus ist ein ewiges Kriegslager, das Imperium ist ein Krieg, der Kaiser ein Feldherr“.60 Statt der offiziellen Religiosität spielten hier eher quasi-religiöse Praktiken für die Formung der eigenen Identität eine Rolle. So schildert beispielsweise Herzen eindrücklich seine „Anbetung“ der Geschichte der Französischen Revolution.61 Hatten für die oben beschriebenen homo imperii die Polen als Feinde des Imperiums eine konstitutive Funktion bei der Formung der eigenen Identität, so gaben sich die Feinde des Reiches – so zum Beispiel Herzen – gerne polonophil. Eine Gemeinsamkeit bleibt die enge Bindung der eigenen Lebensgeschichte an die Beschreibung des 58 Vgl. den Beitrag von Jens Herlth in diesem Band. 59 Erste Ausgabe: The Memoirs and Travels of Mauritius August Count de Benyowsky: Magnate of the Kingdom of Hungary and Poland […]. London, Dublin 1790. 60 Alexander I. Herzen: Byloe i dumy [Erinnerungen und Gedanken] Bd. 2. Moskva 1957. S, 139. 61 „C’est l’étude qui nous donna une autre patrie, une autre tradition; c’était la tradition de la grande lutte du XVIII e siècle. Oh! que nous vous avons aimés, en puisant de toute la force de nos poumons, l’air frais soufflant pour la première fois sur le monde par la grande ouverture de 1789. Nous courbions nos têtes avec vénération devant ces figures sombres et fortes de vos saints pères du grand concile républicain, allant inaugurer l’ère de la raison et de la liberté“ (Alexander I. Herzen: Sobranie sočinenij v 30 tomach [Ausgewählte Werke] Bd. 20, Teil 1. Moskva 1960, S. 43).

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Dienstes. Während sich die homo imperii allerdings dem Dienst am Reich verpflichtet fühlten, verstanden sich deren Gegner in zunehmendem Maße als Diener des (einfachen) Volkes (narod).

Fazit Das Imperium prägte in vielfältiger Weise die Lebenswege und Identitäten seiner Untertanen. Die im Text skizzierten Typen des imperialen Selbst entstammten alle den imperialen Eliten bzw. Gegeneliten oder zumindest den gehobenen Schichten. Doch es soll nicht der Eindruck entstehen, dass die Spezifika des imperialen Ich nur aus der Teilnahme an imperialer Herrschaft bzw. deren Infragestellung resultierten. Nicht weniger, vielleicht sogar noch ausdrucksvoller ist in dieser Hinsicht die für unseren Zeitraum eher spärliche Autobiographik der unteren Stände des Reiches. Zum Beispiel wurde das ganze Leben des Leibeigenen russischen Bauern Nikolaj Šipov (1802–?) durch die imperiale Struktur des Russischen Reiches bestimmt: Šipov verdankte seinen Wohlstand der Tradition des Viehhandels an der südlichen Steppenfrontier des Imperiums, seine Kenntnisse der türkischen und kaukasischen Sprachen ermöglichten ihm die Pflege eines persönlichen Netzwerkes bis nach Konstantinopel. Sein Leben war geprägt von der Verfolgung als geflohener Leibeigener durch die Behörden des Reiches. Später eröffnete das Imperium ihm die Möglichkeit, sein Talent als Unternehmer zu nutzen und Erdölquellen „neben der Festung Groznaja“ zu verpachten. Šipov wurde Marketender im Kaukasus-Krieg und später von Kämpfern der Bergvölker gefangengenommen. In der Gefangenschaft träumte er davon, wie „all den Streitereien und dem Blutvergießen ein Ende gesetzt werden könnte und unser Zar dieses schöne Land beherrscht.“ 62 Seine Teilnahme am Kaukasus-Krieg und seine Gefangenschaft eröffneten ihm schließlich den Weg in die langersehnte Freiheit: Das Imperium hatte jenen entflohenen Leibeigenen, die aus der Gefangenschaft bei den Bergvölkern zurückkehrten, die Freiheit versprochen, wenn sie bereit waren, an der Kolonisierung des Kaukasus mitzuwirken. Dieses Angebot sollte Šipov annehmen.

62 Istorija mojej žisni. Rasskaz byvšego krepostnogo krest’janina Nikolaja Šipova [Die Geschichte meines Lebens. Die Erzählung eines ehemaligen Leibeigenen Nikolaj Šipov], 1802–1881. St. Petersburg 1881 [verfasst 1862]. Vgl. die neuere Quellenedition: Vospominanija russkich krest’jan XVIII – pervoj poloviny XIX veka. Moskva 2006, S. 220. Jetzt dazu grundlegend: Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Bielefeld 2013.

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Ein anderes Beispiel der Subjektkonstitution „von unten“ lässt sich im hier betrachteten Zeitraum am Tagebuch des Bergwerkverwalters Andrej Versilov (1772–?) festmachen, der später als Zollbeamter nach Palangen (Palanga) und Riga versetzt wurde. Im Unterschied zu Šipov, der die Erlangung seiner persönlichen Freiheit in den Mittelpunkt der Lebensgeschichte stellt, schildert Versilov im Tagebuch vor allem seinen sozialen Aufstieg. Wider Willen in die fremden Ostseeprovinzen versetzt, empfindet er das bunte Völkergemisch in Riga eher negativ. Er äußert sich abwertend über die „groben Esten“, „dummen Letten“, das „Polen-Lumpenpack“ und die „stinkenden Juden“ und thematisiert „die deutsche Ausbeutung“ (ugnetenie) als Hindernis für seine eigene Beamtenkarriere.63 Mit anderen Worten: Sowohl bei den imperialen Eliten als auch bei den eigentlichen Untertanen (subjects) des Reiches finden wir in entsprechenden autobiographischen Texten eine Widerspiegelung der dynamischen Entwicklung des imperialen Models im 19. Jahrhundert und seiner beginnenden Krise im „nationalen Zeitalter“. So entstand im hier untersuchten Zeitraum zum Beispiel ein von den Behörden geförderter Typ der Autobiographie, der sich dem Narrativ der Überwindung imperialer Vielfalt und der Homogenisierung der Reichsstrukturen verpflichtet fühlt. Dem Druck der Assimilation und Integration sahen sich nun nicht nur frühere Fremdstämmige (inorodcy) gegenüber – wie die oben vorgestellten russifizierten Polen Apolinary Rutkiewicz oder Faddej/Tadeusz Bułharyn, sondern in zunehmendem Maß auch ehemalige Andersgläubige (inovercy), wie Altgläubige, Unierte Christen und ganz besonders Juden.64 Auf der anderen Seite schuf der russische Buchmarkt – insbesondere nach der Lockerung der Zensurbestimmungen im Jahr 1905 – jedoch auch Platz für eine antiimperiale Welle der Autobiographik mit ihren Figuren und Ich-Entwürfen der Unbezwingbaren, Abtrünnigen und Feinden des Imperiums.65 63 Kratkoe izvestie o žisni Andreja Pavloviča Versilova. Im samim napisannoe i sobstvennoju jego rukoju [Der kurze Bericht über das Leben von Andrej Pavlovič Versilov, eigenhändig geschrieben] [1835, 1840]. St. Petersburg 1895, S. 20–22. 64 Vgl. etwa Michail Lebedev: Rasskaz evreja [Moshe Silberberg], obrativšegosja v christianstvo [Bericht eines konvertierten Juden Moshe Silbergerg]. In; Minskie eparchialnye vedomosti 22 (1882), S. 636–643; Nikolaj Potapenko: Puti vseblagogo Promysla Božija v mojej žisni (iz zapisok pravoslavnogo svjaščennika, obrativšegosja iz evreev) [Wege der Göttlichen Vorsehung in meinem Leben (aus den Aufzeichnungen eines konvertierten orthodoxen Priesters)]. In: Chersonskie eparchialnye vedomosti 19 (1881), S. 514–535 (zweite Paginierung). Vgl. Yohanan Petrovsky-Shtern: Moshko the Imperial. In: Ab Imperio (2009), Nr. 1, S. 115–148. 65 M. Špigel: Iz zapisok kantonista [Aus den Aufzeichnungen eines Kantonisten]: Evrejskaja starina Bd. IV. N. 2. 1911, S. 249–259. Auch „russische Katholiken“ kann man dazu zählen, vgl. jetzt Vladimir S. Pečerin: Apologia pro vita mia. Žisn’ i priključenija russkogo katolika,

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Der dem Imperialen in der russischen Autobiographik zugeordnete Platz veränderte sich im Laufe des hier betrachteten Zeitraums im bedeutenden Maße. Ein imperialer Krieger konnte noch Ende der 1830er sein Leben durch den Dienst am Kaiserreich gerechtfertigt sehen, so etwa der Artillerist und Publizist Ilja Radožickij (1784–1861) in seinen Memoiren über den Kaukasus-Krieg: „Und mit Entzücken lese ich das Buch meines Lebens / Ich zittere, ich preise es […]“.66 Während eine weitverbreitete These besagt, dass sich die russische autobiographische Tradition durch eine gewisse Ich-Schwäche auszeichnet, belegt auch durch die Semantik der entsprechenden russischen Texte – Menja sovut […] („mich nennt man“ statt: Ich heiße etc.), – so erscheint mir die Häufung des Wortes Ich im letzten Zitat durchaus symptomatisch für den hier betrachteten Zeitraum.67 Der homo imperii wird sich hier nicht nur seiner Mission, sondern auch seiner Selbst bewusst. Der Drang nach einer Aufhebung des Ich wäre aus meiner Sicht eher in jenen Selbstzuschreibungen zu vermuten, in denen dem Imperium Rationalität und Nutzen für das Gemeinwohl abgesprochen werden und die versuchen, das Reich durch andere Konzepte von Gemeinschaft (obščestvo/Gesellschaft, narod/Volk) zu ersetzen, dem sich das Ich dann ganz opfert und sich in diesem auflöst. Am Ende des analysierten Zeitraums wurde in Russland die bedingungslose Selbstidentifizierung mit dem klassischen Imperium im Stil des 18. Jahrhunderts und seiner abstrakten Dienstmoral jedoch bereits problematisch. Einen Ausweg aus der Krise suchten die einen durch Umorientierung auf das nationale Imperium: An die Stelle des Soldaten des Imperiums tritt der (russische) Vaterlandsverteidiger. Die anderen versuchen, wie Dolly Ficquelmont, von der aktiven Rolle in der (inter)imperialen Öffentlichkeit zurückzutreten. Die dritten nutzen schließlich die imperiale Krise, um sich in ihrer Biographie und Autobiographie als Kämpfer gegen das Völkergefängnis zu stilisieren. Ungeachtet dieser Tendenzen besaß das Imperium im weiteren Verlauf des Jahrhunderts jedoch noch genug integratives Potential, um unterschiedlichen Grenz- und Quergängern als Zufluchtsort zu dienen. Diese Charaktereigenschaft wurde nach 1917 dem auf den Ruinen des alten Reiches errichteten sowjetischen Imperium vererbt. rasskazannye im samim [Das Leben und die Abenteuer eines russischen Katholiken, von demselben dargestellt]. St. Petersburg 2011. 66 Ilja T. Radožickij: Pochodnye zapiski artillerista v Asii s 1829 po 1831 god [Feldtagebücher eines Artilleristen in Asien 1829–1831]. Moskva 1856–1857, S. 1. Das Zitat ist eine Antwort auf die Abrechnung Puschkins mit dem „Voltairianertum“ seiner Jugend (Erinnerung, 1828: „Und mit Abscheu lese ich das Buch meines Lebens / Ich zittere, ich verfluchte es.“) 67 Vgl. Boris F. Egorov: Russkij charakter [Der russische Charakter]. In: Iz istorii russkoj kultury Bd. 5 (XIX. Jahrhundert). Moskva 1996, S. 51–79.

Waltraud Heindl

Inszenierungen, Fiktionen und die Produktion von Erinnerungskultur Streiflichter zu den Autobiographien von k. (u.) k. Beamten Die Hochbürokratie zählte in der österreichischen bzw. (ab 1867) österreichischungarischen Monarchie zweifellos zur Elite des Staates. Ihre Reputation, gekonnt zu verwalten, ihr Ruhm, Hüterin des Rechtsstaates gewesen zu sein, war auch nach dem Untergang der Monarchie geradezu sprichwörtlich. Die Bürokratie, so die landläufige Meinung, hatte im Laufe der Jahrhunderte die Verwaltungsstrukturen und Gesetze für den komplizierten, vielgestaltigen, multinationalen Staat geschaffen. Die Beamten beherrschten Gesetze und Normen, wussten mit ihnen umzugehen, ja zu jonglieren. Dank ihrer Fähigkeiten war es ihnen in den letzten Jahrzehnten der Monarchie gelungen, auch in die Politik vorzudringen.1 Die Beamten, die noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Untertanen der jeweiligen Majestät waren, wie es der ihnen zugedachten Rolle entsprach, hatten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Bürgern mit politischen Interessen und Ansprüchen entwickelt, die dem Staat ihren bürokratischen Stempel aufdrückten. In der Periode von 1861 bis 1916 waren von 26 Ministerpräsidenten 17, also fast zwei Drittel, Beamte, von 157 Ministern wurden 70, fast die Hälfte, aus dem Beamtenstand rekrutiert. Eines der wichtigsten Ministerien, das Finanzministerium, wurde zwischen 1848 und 1914 von 26 Ministern geleitet. Fast alle kamen aus dem Beamtenstand.2 Fast alle waren studierte Juristen, kannten und hüteten die neue Verfassung von 1867, von deren Einführung sie profitiert hatten. Sozial gesehen gehörten die hohen Beamten nicht nur im Staatsgetriebe, sondern auch in der Gesellschaft zu der hoch respektierten Gruppe des Bildungsbürgertums, die in Wien einen wesentlichen Anteil der zweiten Gesellschaft repräsentierte, nach dem Adel, der ersten Gesellschaft. Gebildet und gut ausgebildet, in allen 1 Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848, Wien, Köln, Graz (2. Aufl.) 2013 (= Studien zu Politik und Verwaltung Bd. 36); Waltraud Heindl: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich 1848–1914, Wien, Köln, Graz 2013 (= Studien zu Politik und Verwaltung Bd. 107). 2 Heindl: Josephinische Mandarine, S. 282.

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Staatsangelegenheiten bewandert, mit eleganten Manieren ausgestattet, kulturell auf dem neuesten Stand, so beschreibt Robert Musil die Hochbürokratie in seinem Mann ohne Eigenschaften in einigen sehr differenten, typischen Ausprägungen. Zur hohen Bürokratie zählten in der Hierarchie der Ministerien in Wien die Sektionschefs, die Präsidialchefs der Ministerien, eventuell noch einflussreiche Ministerialräte, in den Königreichen und Ländern die Statthalter im jeweiligen Land und ihre Stellvertreter.

Selbstzeugnisse von Beamten Zum eigentlichen Metier der Bürokratie gehört bekanntlich das Schreiben. Die österreichischen Beamten verfassten nicht nur Aktenstücke, sie hinterließen auch eine beträchtliche Anzahl an Selbstzeugnissen: vor allem Erinnerungen in Form von Autobiographien, auch Tagebücher und Briefe – vermutlich mehr als andere gesellschaftliche Gruppen. Diese Selbstzeugnisse schlummern in öffentlichen und privaten Archiven, viele sind unter dem Titel Erinnerungen, Memoiren oder Autobiographie publiziert. Auch die Romane, die so mancher Beamte verfasste, gehen häufig auf eigene Lebenserfahrungen zurück, enthalten also starke autobiographische Ansätze. Generell ist die Beobachtung zu machen: Je höher der Rang und die gesellschaftliche Position, desto mehr wurde an Selbstzeugnissen hinterlassen. Ich habe für meine Forschungen zur österreichischen Bürokratie publizierte und nicht publizierte Selbstzeugnisse von ungefähr 70 hohen, hauptsächlich bürgerlichen Beamten gelesen. Von niederen Beamten existieren nur sehr wenige schriftliche Aussagen, die als Selbstzeugnisse zu werten sind.3 Selbstzeugnisse von Beamten stellen daher Bausteine zur Geschichte von oben dar.4 Im Unterschied zu der Zeit vor 1848 spielen in der Literatur der Selbstzeugnisse aus der Periode zwischen 1848 und dem Ersten Weltkrieg Tagebücher eine untergeordnete Rolle. Von Tagebüchern werden in der Forschung häufig besondere Aufschlüsse erwartet, da sie spontan verfasst zu sein scheinen, daher das Tagesgeschehen unmittelbar aufzeichnen und der historischen „Wahrheit“ näher kommen als Memoiren, die eben aus der Erinnerung schöpfen. Das würde auch 3 Karl Megner Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des Beamtentums, Wien 1985 (= Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie Bd. 21). Megners Studie betrifft das niedere Beamtentum. 4 Siehe den Titel des Beitrags von Markus Funck / Stefan Malinowski: Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle zur Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik. In: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 7 (1999), S. 237–270.

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für Beamten-Tagebücher gelten, wären sie nur geschrieben worden, um Memorabilien oder eigene Gedanken und Reflexionen festzuhalten, wie wir es von einigen literarischen Tagebüchern kennen. Franz Grillparzer (1791–1872), Leiter des Hofkammerarchivs, also höherer Beamter in der Allgemeinen Hofkammer (Finanzministerium) und Autor von Dramen und Novellen, schrieb ein solches Tagebuch, das seine Meinung zu den verschiedensten Themen, zu Kunst, Politik und Zeitgeschehen, zu eigenen Amtserlebnissen sowie seine Eindrücke von verschiedenen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen festhielt.5 Tagebücher in dieser Form sind allerdings bei Beamten rar. Wir finden solch bunte Notizen noch bei anderen Dichterbeamten.6 Diese Beamtendichter-Tagebücher wurden allerdings erst nach dem Tod der Autoren herausgegeben, dürften aber von den Verfassern selbst in der Annahme, dass sie als Schriften von bekannten Persönlichkeiten dereinst publiziert werden würden, redigiert und „bereinigt“ worden sein. Damit sind ihre Unmittelbarkeit und ihr Wahrheitsgehalt bereits in Frage gestellt. Das nicht publizierte Tagebuch des Mathias Perth (1788 – 1856), der Beamter im Obersthof- und Landjägeramt war, stellt daher eine Rarität dar.7 Er überlieferte uns 58 (!) Tagebücher, die er von 1806 bis 1856 verfasste. Akribisch fleißige Sammelarbeit, in denen er Informationen des Tages in einer willkürlichen Reihenfolge wiedergibt. Wasserstandsaufzeichnungen aus europäischen Städten reihen sich an Berichte von Weltkatastrophen, Erdbeben, Überflutungen, Brände, alle höchstwahrscheinlich der Wiener Zeitung entnommen. Daran knüpfte Perth selbst verfasste Gedichte, Schilderungen von Theater- und Opernaufführungen. Notizen über Einnahmen und Ausgaben wechseln mit Gebeten und der Auflistung gelesener Bücher. Am Ende verfasste er – und das ist das Erstaunliche – für jeden Tagebuchband ein eigenes Register mit Orts- und Personennamen sowie Sachbegriffen. Der Beamte Perth verwaltete so die Komposition seines eigenen Lebens. Er erlaubt sich keine Analysen des Tagesgeschehens, keine Reflexionen, keine Gefühle, Sehnsüchte oder Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Ein Chronist objektiviert hier die Welt und das eigene Leben, die Person, die sie erlebt, ist verschwunden. Die Folgen von strenger Amtsdisziplin und rigider Selbstzensur? 5 Franz Grillparzer: Briefe und Tagebücher. Eine Ergänzung zu seinen Werken, hrsg. v. Carl Glossy/August Sauer. Stuttgart, Berlin o. J.; bei Heindl: Gehorsame Rebellen, S. 215–221, 250–252. 6 Zum Beispiel: Eduard Bauernfeld: Aus Bauernfeld’ s Tagebüchern, hrsg. v. Carl Glossy. Bd. 1: 1819–1848, Wien 1895, Bd. 2: 1848–1879. Wien 1896; Ignaz von Castelli: Aus dem Leben eines Wiener Phäaken. Die Memoiren des I. F. Castelli, neu hrsg. v. Adolf Saager. Stuttgart (3. Aufl.) 1927. 7 Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Nachlass Perth, siehe auch Heindl: Gehorsame Rebellen, S. 331f.

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Perths Tagebücher stellen in Methode, Stil und Inhalt geradezu den Prototyp eines Selbstzeugnisses eines österreichischen Beamten dar, unpersönlich und ohne Sentiment. In weniger krasser Form finden wir diese Methode in den Beamten-Selbstzeugnissen anderer Staatsdiener und späterer Zeiten wieder. Wie erwähnt, sind Tagebücher von Beamten aus der Zeit zwischen 1848 und dem Ersten Weltkrieg selten zu finden. Diesen wenigen Quellen ist jedoch ein Merkmal gemeinsam: Sie sind in der Jugend ausführlich und farbenreich, in den späteren Beamten-Jahren berichten die Tagebuchschreiber jedoch nur mehr nüchtern und trocken von den Tagesereignissen, eventuell von der Lektüre und den Berichten in den Zeitungen. Die Tagebücher werden nun oftmals summarisch geführt. Um nur ein Beispiel zu nennen, seien die zahlreichen, nicht publizierten Tagebücher des Adolph Pratobevera Freiherrn von Wiesborn (1806–1875) genannt. Pratobevera war Justizbeamter, in den 1860er Jahren Justizminister und verfasste von seinen Jugendjahren an bis knapp vor seinem Tod im Jahr 1875 Tagebücher8. Pratobevera wird im Laufe seines Lebens – ähnlich wie Mathias Perth – zum nüchternen Chronisten seines eigenen Lebens: er zählt die Geschehnisse auf, nennt die Zeitungsartikel, die ihn beeindruckten, Bücher, die er gelesen hat. Das Individuum tritt vollkommen zurück. Der Verdacht liegt nahe, dass die Tagebücher der späteren Lebensphase als Gedächtnisstütze für eine Publikation (z. B. Memoiren) gedacht waren. Das Verfassen von Briefen stand damals noch hoch im Kurs. Allerdings sind nur wenige aussagekräftige Briefe von Beamten erhalten oder bekannt. Ein Fundus bildet hier jedoch eine Ausnahme: die sehr persönlichen 53 Briefe des Staatsdieners polnischer Abstammung Dr. Ludwig Ritter von Janikowski (1868–1911) an seinen Freund, den Schriftsteller Karl Kraus. Von Janikowski war bis vor kurzem nur das großartige Bildnis von Oskar Kokoschka aus dem Jahr 1909 bekannt, das unter anderem 2010 in der Ausstellung Kunst und Wahn in Wien um 1900 gezeigt wurde. Die Freund- und Bekanntschaften von Janikowskis (Karl Kraus, Adolf Loos, Peter Altenberg, Oskar Kokoschka) stecken den Lebensraum ab, in dem sich dieser Staatsdiener, der den unwichtigen Posten eines Bibliothekars im Eisenbahnministerium bekleidete, bewegte: Es war das Wiener intellektuelle und künstlerische Milieu der Jahrhundertwende. Von Janikowski schrieb die Briefe an Karl Kraus zwischen 1909 und 1911 in einem geistig höchst labilen Zustand. In diesen Jahren war er Patient der psychiatrischen Anstalt (damals „Irrenanstalt“ genannt) Steinhof, die gerade nach den neuesten Erkenntnissen der Klinikarchitektur von 8

Nachlass Pratobevera, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Zu diesen und anderen Tagebüchern Heindl: Gehorsame Rebellen, vor allem Kapitel „Versuch einer Soziografie“, S. 243–334.

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Otto Wagner errichtet worden war und eine europäische Novität darstellte. Von Janikowskis labiler Gesundheitszustand erlaubte ihm offenbar Freiheiten, die sich ein Beamter im Staatsdienst sonst nicht genommen hätte. Diese Briefe stellen daher ein seltenes Zeitdokument eines höchst unglücklichen Beamten dar, der sich freimütig darüber äußert, dass er in einem ungeliebten Ministerium arbeiten muss.9 Sie sind ein kulturhistorisches „Juwel“, das nicht nur tiefe Einblicke in das kreative Milieu Wiens vor dem Ersten Weltkrieg gewährt, sondern auch in das Leben der modernsten psychiatrischen Heilanstalt Wiens. Die meisten der überlieferten Beamten-Briefe sind Familienbriefe, die von Verwandten oder deren Nachkommen bewahrt wurden, sie sind vorwiegend privaten Inhalts. So die Briefe Peter von Salzgebers (1789–1858), eines hohen Beamten, an seine Tochter Minna, die einen privaten Erzählcharakter tragen und wenig über Politik enthalten. Seine kluge Frau Wilhelmina (1801–1860) dagegen erörtert in ihren Briefen viel intensiver politische Fragen und scheut sich nicht, ihre fortschrittliche Meinung, etwa über die Regierungen oder die Revolution auszusprechen, die der hohe Funktionär von Salzgeber, Mitverfasser der ersten Verfassung Österreichs im Jahr 1848, lieber bei sich behielt, besonders, wenn es sich um die Beurteilung der Revolution handelte.10 Ein Beispiel, dass aus den Selbstzeugnissen von Beamtenfrauen und Beamtentöchtern beträchtliche geschlechtsspezifische Unterschiede im Erzählen deutlich werden. Sie sind im Vergleich mit denen ihrer Männer bzw. Väter häufig weit offener, ob es sich nun um politische oder um Familienprobleme handelt (ein Faktum, auf das ich noch zurückkomme). Die klassische Dichotomie öffentlich vs. privat, die in der Forschung den Geschlechterverhältnissen des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wird, löst sich in der Literatur der leider nur wenig vorhandenen Briefe österreichischer Beamtenfrauen weitgehend auf.11 Die weitaus größte Zahl an überlieferten Selbstzeugnissen von Beamten, die uns in der franzisko-josephinischen Ära und darüber hinaus dankenswerterweise hinterlassen wurde, bilden publizierte und nicht publizierte Autobiographien. Die Autoren konnten auf die bereits skizzierte Reihe von Vorbildern von Tagebüchern und Autobiographien aus der Zeit vor 1848 zurückblicken. Dabei spielte wahrscheinlich auch eine Rolle, dass seit dem späten 18. Jahrhundert, im Zuge der

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Briefe Janikowskis an Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Teilnachlass Karl Kraus, Heindl: Josephinische Mandarine, S. 267–276. 10 Die Briefe befinden sich im Privatarchiv Dr. Beatrix und Dr. Heinrich Blechner, Wien. 11 Zu den Geschlechterdifferenzen im autobiografischen Schreiben: Minneke Bosch/Gabriele Jancke/Claudia Ulbrich (Hrsg.): Auto/Biografie. L´Homme 24 (2013), H. 2, im Besonderen Editorial, S. 5.

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Entstehung einer eigenständigen österreichischen Literatur, fast alle Schriftsteller und Dichter gleichzeitig als Beamte arbeiteten. Von der Obrigkeit wurde damals der Staatsdienst vielfach auch als Aufgabe verstanden, Schriftsteller, die keinen Brotberuf hatten, zu versorgen. In der Folge sollte eine reichhaltige Literatur von Beamten-Erinnerungen zur Tradition werden, die in den meisten Fällen (wenn auch nicht immer) als „literarisch“ im weiteren Sinne zu bezeichnen ist. Im Folgenden sollen diese Beamten-Autobiographien im Mittelpunkt stehen: Trotz der angedeuteten Vielzahl und Vielfalt wird versucht, einen Überblick zu wagen bzw. zu beleuchten, welche Themen von den Beamten angeschnitten und welche ausgespart wurden, welche Aussagekraft und welchen Quellenwert die Texte haben, ob gemeinsame Merkmale und wenn ja, welche existieren, ob sich Merkmale einer bestimmten Mentalität der Hochbürokratie aus den Erinnerungen herauskristallisieren lassen, und vor allem, wie sich diese Elitetruppe des Staates in ihren Selbstzeugnissen präsentierte.

Schreibanlässe und Adressaten von Autobiographien Die Motive, warum Beamte Erinnerungen verfassten, werden in den Texten meistens nicht deklariert, doch sind sie aus der Lektüre einigermaßen ersichtlich: Das Bedürfnis, in der Erinnerung von Zeitgenossen beziehungsweise deren Nachfahren präsent zu bleiben, wozu auch der Umstand diente, mit Namen und eigenem Buch in der Österreichischen Nationalbibliothek vertreten zu sein, und damit ein entsprechendes Image aufzubauen, spielte eine Rolle. Manche wollten wohl auch ihre Schreibkunst öffentlich beweisen, wie der hohe Beamte im Finanzministerium, Nationalökonom und Professor für Finanzwissenschaften in Czernowitz (Čer­nivcy) Friedrich F. G. Kleinwaechter (1877–1959), der neben seinen Erinnerungen eine Bilanz über den Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie verfasste und zudem einen Beamtenroman schrieb.12 Es ist wenig relevant, ob die Autoren selbst ihre Werke publizierten oder ob es andere für sie taten, denn viele Beamte schienen damit gerechnet zu haben, dass ihr Schriftgut dereinst einem größeren Leserkreis vorgestellt werden würde. Daher wurde bei der Abfassung wahrscheinlich häufig ein größeres Publikum (und seien es nur der Historie verfallene Personen) im Auge behalten. Kleinwaechter beispielsweise publizierte seine 12 Friedrich F. G. Kleinwaechter: Der Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie. Leipzig 1920; Friedrich F. G. Kleinwaechter: Der fröhliche Präsidialist. Wien 1947; Friedrich F. G. Kleinwaechter: Bürokraten. Ein heiterer Roman aus dem alten Österreich. Wien 1948.

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Schriften selbst. Er scheint bei Lebzeiten kalkuliert zu haben, dass seine Erzählung nach dem Untergang der österreichisch–ungarischen Monarchie eine begeisterte Leserschaft und eine entsprechende Abnehmerzahl plus Tantiemen finden würde. Der hohe Beamte im Ministerium für Cultus und Unterricht und im Ministerratspräsidium Robert Ehrhart (1870–1956) überließ es hingegen seinen Nachfahren, seine Memoiren zu publizieren.13 Manche Erinnerungen wurden für die eigenen Kinder und die Familie verfasst. Die Erinnerungen des Sektionsrates (später Hofrates) im Finanzministerium und Verfassers finanzpolitischer Schriften Gustav Höfken (1811–1889) blieben unveröffentlicht,14 dagegen brachte der hohe Justizbeamte und Minister für Cultus und Unterricht Carl von Stremayr (1823–1904) seine Memoiren selbst heraus15. Diese für die Familie bestimmten Autobiographien sind aus naheliegenden Gründen besonders auf die Herausstreichung von Harmonie in Familie und Amt bedacht. Eine besondere Rolle spielten sowohl Rechtfertigungen des eigenen Tuns als auch offene „Abrechnungen“ mit Konkurrenten und Gegnern, die häufig nicht zimperlich ausfielen. Dies zeigt sich beispielsweise in den Memoiren des hohen Beamten im Unterrichtsministerium und kurzzeitigen Burgtheaterdirektors Max von Millenkovich-Morold (1866–1945), der später im Dritten Reich eine beachtliche Position als „deutscher Schriftsteller“ stark nationalsozialistischer Prägung bekleiden sollte. In seinen 1940 erschienenen Erinnerungen stellte er offen und abfällig seine ehemaligen Kollegen aus dem „alten Österreich“ bloß, wo er 1918 wegen seines eklatanten Deutschnationalismus vom Amt des Burgtheaterdirektors entlassen worden war.16 Auch die Erinnerungen des langjährigen Statthalters in Niederösterreich (damals Österreich unter der Enns) und provisorischen Ministerpräsidenten der Regierung Cisleithaniens Erich Graf Kielmansegg (1847–1923), die im Gegensatz zu Millenkovich-Morolds Memoiren erst lange Jahre nach seinem Tod von einem Historiker publiziert wurden17, sparen nicht mit Rundumschlägen gegen seine Kollegen. Kielmanseggs Erinnerungen, die er nach seiner Pensionierung im Jahr 1914 zu schreiben begann, stellen keine 13 Robert Ehrhart: Im Dienste des alten Österreich. Wien 1958. 14 Gustav (seit 1868 Ritter von) Höfken: Aus meinem Tagebuch. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Nachlass Höfken, Karton 2. 15 Carl von Stremayr: Erinnerungen aus meinem Leben. Seinen Kindern und Enkeln gewidmet. Wien 1899. 16 Max von Millenkovich-Morold: Vom Abend zum Morgen. Aus dem alten Österreich ins neue Deutschland. Mein Weg als österreichischer Staatsbeamter und deutscher Schriftsteller. Leipzig 1940. 17 Erich Graf Kielmansegg: Kaiserhaus, Staatsmänner und Politiker. Aufzeichnungen des k. k. Statthalters Erich Graf Kielmansegg. Mit einer Einleitung von Walter Goldinger. Wien 1966.

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zusammenhängende Lebensgeschichte dar, sondern setzen sich aus Charakterdarstellungen von Funktionären aus Politik und Verwaltung zusammen, die trotz aller Ungerechtigkeiten in seiner (oft einseitigen) Beurteilung tiefe Einblicke in Politik und Verwaltung der Monarchie erlauben. Kielmansegg, protestantisch und aus einer hannoveranisch-holsteinischen Adelsfamilie stammend, war einerseits im Verwaltungsbetrieb ein Außenseiter, andererseits durch seine im Laufe der Jahre wachsende Identifikation mit Österreich und vor allem mit Kaiser Franz Joseph I. jedoch ein Insider. Er galt als einer der fähigsten Verwaltungsbeamten, hatte einen enormen Überblick und war so erstaunlicher Urteile fähig. Kielmanseggs Erinnerungen zählen zu den für die politische Geschichte der letzten 50 Jahre der österreichischen Monarchie ergiebigsten autobiographischen Quellen. Ähnlich wertvoll sind die erst kürzlich vollständig herausgegebenen Erinnerungen, Tagebücher und Briefe von Josef Redlich (1869–1936),18 der als vielseitiger Mann – er war gleichermaßen geachtet als Rechtswissenschaftler, Professor an internationalen und heimischen Universitäten, Verwaltungsfachmann, Beamter, Politiker, Minister im Ersten Weltkrieg und Historiker – die Zeitereignisse kommentierte und viele Persönlichkeiten aus seinem vielfältigen Umfeld analysierte. Redlichs Selbstzeugnisse tragen zur Aufklärung wichtiger Ereignisse sowie zum Gesamtbild der Regierungszeit Kaiser Franz Josephs wesentlich bei. Redlich schrieb den Großteil seiner Erinnerungen, Tagebücher und Briefe allerdings nicht als Beamter. Genau genommen können wir sie deshalb nicht in die Kategorie der Beamten-Selbstzeugnisse einreihen. Im Gegensatz zu den autobiographischen Quellen der Staatsdiener sind die von Politikern der österreichisch-ungarischen Monarchie, so lehrt uns deren Lektüre, häufig offener, unverblümter und deshalb für die historische Forschung oft aufschlussreicher als die Beamten-Erinnerungen. Allerdings ist eine exakte Grenze zwischen Politikern und Beamten schwer zu ziehen. Die eben erwähnten sowie die folgenden Memoiren sind als besonders typische Auswahl aus einem größeren Quellenfundus zu verstehen. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Ausgeklammert bleiben in unserem Zusammenhang die höchst interessanten Briefe und Erinnerungen der Direktoren der Staatstheater, der Staatsoper und des Burgtheaters, deren Verfasser auch zu den Staatsbeamten zählen. Der bekannteste Vertreter dieser ungewöhnlichen Beamten war wohl Staatsoperndirektor Gustav Mahler (1860–1911). Allerdings agierten er und seine Kollegen in erster Linie künstlerisch und äußerten sich in ihren Selbstzeugnissen als Künstler, 18 Josef Redlich: Schicksalsjahre Österreichs. Bd. 1: Erinnerungen und Tagbücher 1869–1914, Bd. 2: Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936, Bd. 3: Biographische Daten und Register, hrsg. v. Fritz Fellner/Doris A. Corradini. Wien, Köln, Weimar 2012.

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ebenso wie ihre Frauen beziehungsweise Witwen. Die Memoiren und Briefe der Alma Mahler-Werfel (1879–1964) lassen sich schwerlich in die Kategorie Beamten-Erinnerungen einordnen.19

Autobiographien als historische Quellen Bezüglich der Beurteilung des Quellenwerts der Memoirenliteratur ist selbstredend größte Vorsicht angebracht. Außer bewussten oder unbewussten Erinnerungslücken sind Beschönigungen und bewusste Lügen nicht auszuschließen. Außerdem sind Erinnerungen, wie wir wissen, selektiv, können auf Irrtümern, Falschinformationen etc. beruhen – unseren Verdächtigungen sind diesbezüglich keine Grenzen gesetzt.20 Teilweise, allerdings nicht immer, ist es jedoch nicht schwierig, aus anderen Quellen den Wahrheitsgehalt einzuschätzen. Briefe stellen unter Umständen ein wichtiges Korrektiv dar. Wie wichtig Briefe als Vergleichsfolie von Memoiren sein können, zeigt – freilich bezogen auf den privaten Bereich – zum Beispiel der Briefwechsel von Lina Höfken (ca. 1827?–1883) mit ihrem Mann, dem Sektionsrat, später Hofrat, im Finanzministerium Gustav Höfken (1811–1889). Gustav verfasste seine Lebensgeschichte, die, wie er deklarierte, für seine Kinder geschrieben wurde.21 Sein autobiographischer Text entwirft eine Biedermeieridylle: Harmonie im Finanzministerium, wo er angeblich viele Freiheiten genoss; in der Familie herrschte gegenseitige Liebe, Glück mit den sechs wohlgeratenen Kindern. Folgen wir jedoch dem Briefwechsel, entsteht ein gegenteiliges Bild: Höfkens Ehefrau Lina fühlte sich von ihrem viel beschäftigten Mann vernachlässigt, vier von sechs Kindern bereiteten große Sorgen, weil sie sich offenbar nicht standesgemäß verhielten: Eine Tochter und ihr Ehemann waren der Spielsucht verfallen und machten beträchtliche Schulden, der zweitälteste Sohn flüchtete aus dem Elternhaus, um sich als Matrose auf einem Schiff in Hamburg anheuern zu 19 Zu Gustav Mahler zuletzt Buch und Katalog zur Ausstellung anlässlich der 150. Wiederkehr des Geburtstags von Gustav Mahler, Österreichisches Theatermuseum, Wien, 11.–3.10.2010, Gustav Mahler und Wien: »leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener«, hrsg. v. Reinhold Kubik/Thomas Trabitsch. Wien 2010; Autobiographie von Alma Mahler-Werfel: Alma Mahler: And the Bridge is Love. In collaboration with E. B. Ashton. Ersterscheinung New York 1958, deutsche Ersterscheinung Alma Mahler: Mein Leben. Frankfurt a. M. 1963. 20 Heindl: Josephinische Mandarine, S. 244. Zum Problem der „Wahrheit“ in den Auto/ Biographien Thomas Etzemüller: Biographien. Lesen – erforschen – erzählen. Frankfurt a. M., New York 2012, S. 15. 21 Gustav Höfken: Tagebuch und Briefwechsel in Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Höfken, Karton 2.

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lassen, wo er vom Mast fiel und schwerbehindert zurückkam. Dazu traten andauernde Sorgen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten der Söhne und der Wahl ihrer Ehepartner. Der jüngste Sohn vernachlässigte sein Jurastudium und ging eine nach Ansicht der Eltern „nicht ebenbürtige“ Ehe mit einer Jüdin ein. Lina Höfken flüchtete sich in Streitereien mit Dienstmädchen, Ressentiments gegenüber dem Ehemann und reiste sehr oft zu ihrer in Leipzig „bürgerlich“ verheirateten Tochter. – Die Erinnerungen und Briefe des Ehepaares Höfken sprechen nicht von großen Staatsaffären, sondern von einem sehr persönlichen vorgetäuschten „Familienglück“ und einem in der Realität gelebten Familienunglück. Dieser Vergleich von Lebenserinnerungen und Briefen demonstriert anschaulich, wie unsicher die Aussagen von Autobiographien sind. Autobiographien von Beamten weisen trotz aller Unterschiede im persönlichen Leben, in Herkunft und Karriere ihrer Verfasser einige gemeinsame Merkmale auf. Es gab eine Tradition im Verfassen von Selbstzeugnissen, das bestimmten Mustern folgte und zur Standardisierung führte. Diese Muster wurden bereits bezüglich der Selbstzeugnisse aus der Periode vor 1848 erwähnt: Wie in den Tagebüchern der vormärzlichen Ära nehmen in den Erinnerungen der Beamten aus der Zeit Kaiser Franz Josephs die frühen Lebensjahre, Elternhaus, Kindheit, Jugend, Schule und Studium eine überdimensionale Stellung ein, das Alltagsleben der Herkunftsfamilie wird lebendig. Gleichzeitig erfahren wir viel über die Stationen der Karriere, hin und wieder etwas über Kollegen und Vorgesetzte. Liebe, Eheleben und Familie, die, so hoffen wir, auch im Leben der Beamten einen wesentlichen Wert darstellten, werden in den Selbstzeugnissen dagegen weitgehend ausgeblendet.22 Merkwürdig still wird es auch, wenn es um die eigentliche Amtstätigkeit der Beamten geht. Die Ausnahme bestätigt hier die Regel, so Memoiren, die allerdings weit nach dem bürokratischen Leben und nach dem Ende der Monarchie veröffentlicht wurden, wie die Darstellungen des erwähnten Grafen Kielmansegg. Die meisten Beamten bieten uns eine – selbst zensurierte – Auswahl ihres mehr oder weniger bunten und mehr oder weniger bedeutsamen Lebens. Aufmerksame Leserinnen und Leser werden nach der Lektüre von einigen Beamten-Erinnerungen feststellen, dass sie nicht mehr erfahren haben, als das, was der jeweilige Staatsdiener als schicklich und opportun für die Weitergabe an die Um- und Nachwelt hielt. Das ist nicht erstaunlich und repräsentiert keine Novität in der Memoirenliteratur: Jeder Memoirenschreiber ist in den Wertekanon seiner Zeit eingebettet und will in guter Erinnerung bleiben. Allerdings scheint das Verlangen, sowohl dem allgemeinen wie dem bürokratischen Wertekanon zu entsprechen, ein besonderes Kennzeichen der Autobiographien von Beamten zu sein. 22 Heindl: Josephinische Mandarine, S. 25.

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Die meisten Autobiographien von k. k. Beamten sind also für so manche allgemeinen historischen Fragen aufschlussreich, doch in erster Linie sind sie Selbst-Zeugnisse, das heißt, sie legen über das Leben der Verfasser, über die eigenen „(Helden-)Taten“ Zeugnis ab, dabei bleiben sie merkwürdig unpersönlich. Wir erleben diese Erinnerungen wie ein Spiel auf der Bühne, die Leserinnen und Leser sind das Publikum, doch was sich hinter den Kulissen des Theaters abspielt, bleibt meist im Dunklen. Die Erinnerungen wirken so wie (Selbst-)Inszenierungen. Doch davon soll später die Rede sein.

Bürgerliche Werte, symbolisches Kapital und die „große Politik“ Wenn Beamte in ihren Autobiographien kaum auf ihre private Lebensgestaltung zur Zeit ihrer Amtsführung eingehen, so präsentieren fast alle – und das wie beiläufig – das gesamte symbolische Kapital (Bourdieu), das ihnen zur Verfügung stand. Sie werden nicht müde, ihre Bildung, Kultur, ihren Geschmack in Kunst und Alltagsleben, die besuchten Opern- und Theateraufführungen, ihre Lektüre, ihre (guten) Manieren und die ihrer Ehefrauen und Kinder, ihren gesellschaftlichen Umgang, die Abendgesellschaften, die sie selbst gaben und zu denen sie eingeladen waren, die Besuchsrituale und selbstverständlich die „gute Familie“, aus der sie bzw. ihre Ehefrauen stammten, zu betonen. Eindrucksvoll und geradezu klassisch (im Sinne Bourdieus, der bei seinen Untersuchungen genau diese Gruppe von Menschen im Visier hatte23), erfahren wir aus den Beamtenerinnerungen vieles über den Geschmack der Zeit und den Habitus der Mitglieder der Hochbürokratie und damit des geachteten Bildungsbürgertums.24 Es mögen sich in diesen Quellen manchmal Dichtung und Wahrheit vermischen. Gleichzeitig demonstrieren die Verfasser von Beamten-Erinnerungen mit dieser Form der Selbstdarstellung ihre soziale Zugehörigkeit zur (groß)bürgerlichen Schicht mit allem, was von dieser als „comme il faut“ betrachtet wurde. Der Beweis „bürgerlich“ zu sein, scheint für die Beamten einen hohen Wert dargestellt zu haben, vermutlich auch, um sich von den „kleinen“, im damaligen Fachjargon „subalternen“ Schreibern und anderen „Expedit- oder Registratur-Beamten“ im Dienst wie im Privatleben abzugrenzen. Die Vertreter der Hochbürokratie demonstrierten damit augenfällig die Amtshierarchie und die Differenz zwischen der „Welt“, der sie angehörten, und jener der „gewöhnlichen Bürokraten“. In so manchen Fällen 23 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 51992. 24 Ebd., S. 298ff., auch S. 585–619, auch Heindl: Josephinische Mandarine, S. 244.

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mögen die Erzählungen von der eigenen „gutbürgerlichen“ Lebensführung und Weltanschauung dazu gedient haben, eine nicht ganz so „gutbürgerliche“ Herkunft sowie den Mangel an Kapital und materiellem Wohlstand zu kompensieren. Tatsächlich ließen die Gehälter der Beamten außer in den ganz hohen Rängen zu wünschen übrig25, ein gravierendes Problem, das vor allem junge Staatsdiener nicht müde wurden zu beklagen26. Auch wenn die Lebensrealität der Bürokraten etwas anders ausgesehen haben mochte, so vermitteln ihre Selbstzeugnisse dennoch anschaulich die gesellschaftlichen Ideale und die Wertskala dieses Berufsstandes. Es liegt daher nahe, dass es in den Memoiren kaum nachlässige, faule oder gar korrupte Beamte, wohl aber intrigante und selbstsüchtige Kollegen gibt. Lediglich am Rand der Memoirenliteratur werden verschämt Fälle von Korruption angedeutet. Jede andere Vorgangsweise wäre als nicht korrekt empfunden worden und hätte dem gesamten Berufsstand geschadet, auf dessen Reputation zu achten war. Die hohe Bürokratie hielt offensichtlich viel von dem Stand, dem sie angehörte, und vertraute den Memoiren ihren Stolz darauf an. Der ésprit de corps war äußerst stark entwickelt. Es wurde wohl über Sozialisten, Marxisten, Anarchisten, „Nichtkatholiken“ und Künstlerexistenzen im Staatsdienst, die auch im Amt mehr Künstler als Beamte waren, geschrieben – offiziell unerwünschte Personen in den Behörden! Nach außen, d. h. auch in den hier betrachteten Selbstzeugnissen, wurden die Kollegen indes stillschweigend gedeckt, sowie auch die Fehler, die von diesen und anderen begangen wurden. Die von Beamten gezeichneten Bilder ihrer Arbeit mussten mit dem Beamtenethos, mit den Werten und Tugenden des Staatsdienstes übereinstimmen. Der Rest ist Schweigen und die Produktion weitgehend klischeehafter Muster! Es ist erstaunlich, dass wir in Selbstzeugnissen hoher k. k. Beamter kaum die Erörterung von großen politischen Fragen finden, etwa der Rolle Österreich-Ungarns im Spiel der Großmächte, die Beschreibung oder gar Kritik der österreichisch-ungarischen Politik, die zum Ersten Weltkrieg führte. Eine Ausnahme bildet hier der bereits erwähnte Josef Redlich, der allerdings nicht als Staatsdiener, sondern als Wissenschaftler und Politiker seinem Tagebuch Urteile und Gedanken über politische Fragen anvertraute. Stufte der Historiker Redlich möglicherweise sein Tagebuch und seine Erinnerungen für seine und künftige Generationen als historisches Zeitdokument und Quelle ein? Als Beispiel sei ein Teil der Eintragung vom 28. Juni 1914 über die schockierende Nachricht der Ermordung 25 Ebd., S. 288f. 26 Siehe beispielsweise die Briefe der Wilhelmina Salzgeber über die Äußerungen ihres Sohnes Albano in den 1850er Jahren, Privatarchiv Dr. Beatrix und Dr. Heinrich Blechner, Wien.

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des Thronfolgerpaars Franz Ferdinand und Sophie zitiert. Als Redlich von der Tragödie erfuhr, benachrichtigte er alle Bekannten in seinem Umkreis. In seinem Tagebuch schildert er seine Begegnungen mit Journalisten, zitiert die sehr verschiedenen Meinungen, die er zu Gehör bekam, und gibt auch seine eigene preis. „Ich besuchte“, so Redlich, „Prof. Singer in der Redaktion der Zeit“, der in dem Ende des Erzherzogs und seiner Frau eine glückliche Fügung für Österreich erblickte: So werden viele Tausende denken: ich bin nicht dieser Meinung. Denn Franz Ferdinand würde das durch die Schwäche und Planlosigkeit Franz Josephs unhaltbar gewordene Regime auf jeden Fall beseitigt und eine wahre Existenzerprobung Österreichs-Ungarns nach außen und innen durchgeführt haben. Nun ist ein gutmütiger, 27jähriger, unbefähigter Prinz der Nachfolger des 84jährigen Kaisers. Und jede Einwirkung auf die staatlichen Probleme des Reiches nach innen und außen durch einen kräftigen Willen scheint unmöglich geworden zu sein.27

Redlich entwirft in seinen Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen ein buntes Panorama der Jahre von 1869 bis 1936, über Innen- und Außenpolitik sowie über seine Tätigkeit als Minister und Professor, seine Reisen zwischen den Kontinenten sowie auch sein teilweise schwieriges Privatleben werden lebendig. Der Mensch Redlich wird sichtbar. Die Selbstzeugnisse des Politikers Redlich stehen dabei in scharfem Kontrast zu den Memoiren der Beamten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der kaisertreue, loyale, aber sehr selbstbewusste Beamte Graf Kielmansegg, der die Geschichte seines Lebens und seiner Zeit in Monographien über Kaiserhaus, Minister und hohe Beamte kleidete, gibt uns Einblicke in die Amtstätigkeit der hohen Bürokratie und in die innere Politik. Seine eigene Amtstätigkeit wird oft, sein Privatleben wird – im Gegensatz zu Redlich – zur Gänze ausgeblendet. Kielmanseggs Kritik betrifft nur die Feinde unter seinen Beamtenkollegen, die er schroff abkanzelt, doch für das Kaiserhaus findet er fast nur positive Worte, besonders über Kaiser Franz Joseph und den Thronfolger Franz Ferdinand. Über den nachmaligen Thronfolger und zukünftigen Kaiser Erzherzog Karl schreibt er vorsichtig zurückhaltend, er habe „keine günstigen Urteile“ über ihn gehört. Nicht mehr! Karl scheint ihn – anders als Franz Joseph und Franz Ferdinand – ignoriert zu haben, worüber der Hocharistokrat Kielmansegg sicher indigniert war28. Die Erinnerungen von Politikern wie die Redlichs sind freimütiger, offener. Sie müssen deshalb nicht wahrhaftiger sein.

27 Redlich: Schicksalsjahre 1, S. 609. 28 Kielmansegg: Kaiserhaus, S. 171.

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In der Ersten Republik Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, als man es mit dem Amtsgeheimnis der vergangenen monarchischen Zeit nicht mehr so ernst nahm, schrieben ehemalige Beamte als Zeitzeugen Erinnerungen und Sachbücher über den Untergang der Monarchie: so Alexander Graf Musulin (1868– 1947), hoher Beamter im diplomatischen Dienst, der bereits erwähnte Friedrich Kleinwaechter, Rudolf Sieghart (1866–1934), die gefürchtete „graue Eminenz“ als Vorstand des Ministerratspräsidiums und als späterer Gouverneur von Staatsbanken, ferner Alexander Spitzmüller-Harmersbach (1862–1953), Beamter im Finanzministerium, später Handelsminister und vor dem Ende der Monarchie für kurze Zeit Finanzminister und, wie Sieghart, Gouverneur von Staatsbanken29. In ihren Selbstzeugnissen und anderen Publikationen berichten sie über wichtige Entscheidungen ihrer Amtszeit, die jedoch, genau genommen, einer (allerdings informierten) Öffentlichkeit bereits bekannt waren. Sensationelle Enthüllungen und Indiskretionen sind auch in diesen Büchern kaum zu finden. Die Meinungen der Autoren und ihre politischen Gewichtungen sind dennoch interessant, wenn auch ihre Sicht der monarchischen Vergangenheit oftmals verklärt und nostalgisch ist. In den Diplomatenmemoiren finden wir am ehesten Gedanken über die Aufgaben einer imperialen Großmacht, die Österreich-Ungarn immerhin war.30 Im Allgemeinen scheinen die Bürokraten von der Macht und Größe ihres Imperiums Österreich-Ungarn überzeugt gewesen zu sein, seine (Welt-)Geltung war für sie kein Gegenstand von Diskussionen. Ihm zu dienen empfanden sie als (imperiales) Privileg, das sie mit Stolz erfüllte und aus dem sie ihr Selbstbewusstsein bezogen. Oder hat man sich in der Hochbürokratie zweifelnde Gedanken verbeten, weil sie die Hinfälligkeit des Reiches – zumindest ab der Jahrhundertwende – sehr wohl erkannte? Es entspricht der Absicht der Selbstinszenierung, dass die Präsentation des eigenen symbolischen Kapitals in den Beamten-Erinnerungen offensichtlich wichtiger 29 Alexander Musulin: Das Haus am Ballhausplatz. Erinnerungen eines österreichisch-ungarischen Diplomaten. Wien 1924; Kleinwaechter: Der Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie; Rudolf Sieghart: Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht. Berlin 1932; Alexander Spitzmüller-Harmesbach: „…. und hat auch Ursach´, es zu lieben“. Wien 1955. 30 Zu den Memoiren von Diplomaten William D. Godsey: Aristocratic Redoubt. The Austro-Hungarian Foreign Office on the Eve of First World War. West Lafayette Ind. 1999. Zu den Autobiographien ungarischer Beamten siehe Éva Somogyi: Professionalisierung und Veränderung der nationalen Identität von ungarischen Beamten im k. u. k. Ministerium des Äußern. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 118 (2010) S. 140–167 (Teil 1) und Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 119 (2011) S. 116–140 (Teil 2).

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war als Ausführungen über die „große Politik“. Eine weitgespannte Erörterung der politischen Lage wäre ihnen vermutlich als Kompetenzüberschreitung erschienen. – Wie wichtig ist für die historische Forschung des 19. Jahrhunderts die so reiche Erinnerungsliteratur der österreichischen Beamten? Was können wir aus den Beamtenerinnerungen gewinnen? Allein die Frage, was und warum vergessen und verschwiegen wurde, was in den Memoiren Dichtung und was Wahrheit ist, wo verdrängt und bewusst gelogen wurde, ist für uns aufschlussreich.

Amtsleben und Privatleben Selbstverständlich gehörte zum Amt die Beherrschung der entsprechenden Rituale und Zeremonien der Hierarchie, die in zahlreichen Erinnerungen in allen Nuancen fein ausgefeilt illustriert werden. Je höher der Rang des Amtsinhabers war, desto größer hatte in dessen Umgangsformen die Distanz zu den ihm hierarchisch nicht „ebenbürtigen“ Beamten zelebriert zu werden. Der „Sinn für Distinktion“ (Bourdieu)31 war in der Hochbürokratie stark ausgeprägt und kam im Berufsleben durch die stillschweigend akzeptierten Verhaltensformen zum Ausdruck. Typisch für die hierarchische Gliederung erscheinen uns heute die von den Bürokraten mit Freude und verhaltener Ironie geschilderten gegenseitigen Titulierungen und Grußzeremonien. War es üblich, dass der Vorgesetzte seinen akademisch vorgebildeten Untergebenen freundlich herablassend mit der im gesellschaftlichen Leben üblichen Höflichkeitsanrede „Sie“ und „Herr Kollega“ ansprach, so durfte der Angesprochene nicht mit dem direkten „Sie“ antworten, sondern musste die damals bereits altertümlich anmutende indirekte Anrede in der dritten Person Plural mit Verwendung des Amtstitels wählen („Haben Herr Sektionschef schon gelesen“, „Sind Herr Ministerialrat gut gereist“). Üblich war, den im Dienst – nicht im Alter – Höhergestellten mit „Euer Hochwürden“ oder „Euer Exzellenz“ anzureden.32 Das private freundschaftliche „Du“ durfte im Behördenleben nur von einem Rangnahen verwendet werden. Der Ministerialrat konnte unter Umständen den Sektionschef mit „Du“ ansprechen unter der Hinzusetzung des Rangtitels (beispielsweise „Du, Herr Sektionschef “). Der hierarchisch unter dem Ministerialrat stehende Sektionsrat durfte sich dies nicht erlauben. Den Amtsdienern verweigerte man gar bis 1918 die Höflichkeitsanrede „Sie“ und „Herr“. Sie wurden von den hochrangigeren Beamten mit „Er“ und dem Familien31 Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 405. 32 Kleinwaechter: Der fröhliche Präsidialist, S.55f., S. 62f., S. 66f.; Ehrhart: Im Dienste, S. 7, siehe dazu und zum Folgenden Heindl: Josephinische Mandarine, S. 181–192.

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namen ohne vorangestelltes „Herr“ angesprochen. Diese Verhaltensformen schufen Abstand. Gleiches galt für die Ausstattung der Amtsräume, die je nach Rang prächtig oder, dem ärarischen Spargeist entsprechend, für Junge oder „Mindere“ geradezu ärmlich waren, und in Erinnerungen oft minutiös beschrieben werden. Amt und Hierarchie prägten selbstverständlich auch die schriftliche Kanzleisprache. Die Kanzleisprache hatte abgesehen von den üblichen Floskeln, die die Behörden- und Beamtenhierarchie verlangte, einer gewissen Wahl und einem bestimmten Fluss der Worte zu folgen. Sie hatte klar und deutlich zu sein. Vor allem aber galt es, in Wort, Grammatik und Stil den Eindruck der unpersönlichen Objektivität zu erwecken, um das Amt in jedem Fall unangreifbar zu machen. Claudio Magris machte die überraschende Beobachtung, dass Johann Wolfgang von Goethe nach der Bekanntschaft mit österreichischen Persönlichkeiten in seinen Karlsbader Jahren begann, sich insbesondere in seinen Briefen der Kanzleisprache der habsburgischen bürokratischen Kultur zu bedienen. Diese verbarg, wie Magris bemerkte, „eifersüchtig die eigene Intimsphäre hinter dem Schild korrekter traditioneller Formen und höfischer Graduierung.“33 Auch Adalbert Stifter präsentiert uns die österreichische Kanzleisprache in seinem Roman Nachsommer auf literarisch höchstem Niveau, indem er sie dem hohen Bürokraten Freiherrn von Risach in den Mund legt.34 Auch die Autobiographien der k. k. Beamten sind vielfach von dieser unpersönlichen Amtssprache gekennzeichnet. – Es konnte nicht ausbleiben, dass die Beamten die Normen und Rituale des streng geregelten Amtslebens auch in den privaten Bereich übertrugen. Es dürfte ihnen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen sein, wie stark Amtsrituale und Amtsdisziplin ihr Leben prägten. Dass Amt und Privatleben eine Einheit bildeten, mochte ihnen „normal“ und nicht erwähnenswert vorgekommen sein. Die Beschreibung der nahezu byzantinischen Gepflogenheiten des Amtes in Beamten-Memoiren gewährt nicht nur Einblick in den Behördenbetrieb einer vergangenen Epoche, die das Lesen dieser Quellen bunt und für uns heute eindrucksvoll fremd macht. Sie vermitteln uns auch die Einsicht in den dahinterliegenden politischen Sinn: Das wesentliche Kriterium der Differenzierung im Amt stellten die hierarchischen Rangunterschiede dar, die gleichzeitig soziale Rangunterschiede ausdrückten. Die nationalen Unterschiede, bekanntlich als das „Staatsund Reichsproblem“ der zu Ende gehenden Monarchie angesehen, verblassten dagegen im Amt. In der Alltagspraxis ging der deutschsprachige Sektionschef selbstverständlich mit dem tschechischen Sektionschef Mittagessen, aber niemals 33 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966, S. 65. 34 Erstausgabe: Adalbert Stifter: Nachsommer. Pest 1857.

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mit seinem jungen, ihm unterstellten Konzipisten, der von gleicher Nationalität war. Der Nationalismus prägte die Behördenwelt zumindest bis in die letzten Jahre der Monarchie offenbar weit weniger, als dies die Nationalgeschichtsschreibung im Allgemeinen wahrhaben wollte. Konnte diese Behördenwirklichkeit der um sich greifenden Tendenz der Nationalisierung der Gesellschaft entgegenwirken? Tatsächlich wurden die heiklen nationalen Fragen von der Politik in die Bürokratie hineingetragen. So wissen wir aus den Schriften Kleinwaechters (allerdings erst 1947 erschienen) über die schwierige Position der Beamten gegenüber den Abgeordneten der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder jeglicher parteilichen Couleur und jeder Nation Bescheid: „Im alten Österreich waren solche Dinge nicht einfach“, bemerkt der Autor bezüglich der Besetzung wichtiger Posten in den Ministerien: Wenn auch das deutsche Element das Übergewicht hatte, so musste doch auf die verschiedenen Nationen Rücksicht genommen werden. Und deren hatten wir eine hinreichende Menge. Tschechen, Polen, Kroaten, Serben, Ruthenen, Slowenen, Italiener und Rumänen. Sie alle forderten entsprechende Vertretung in der Bureaukratie der Ministerien. Wenn auch nicht alle ihre Wünsche, die ja schon von vornherein auf Abhandeln berechnet waren, erfüllt werden konnten, so musste ihnen doch so weit entgegen gekommen werden, dass unter den Beamten der Ministerien alle Nationen vertreten waren. Schon um Interpellationen der Abgeordneten im Reichsrate beantworten zu können, die immer wieder über die mangelhafte Vertretung ihrer Nationen in den Ministerien Klage führten. Dazu kam, dass auch die Kronländer berücksichtigt werden wollten, denn ein Italiener aus Südtirol war ebenso keine hinreichende Vertretung für die dalmatinischen Italiener wie ein Tscheche aus Mähren für die Tschechen in Böhmen. Ein Deutscher aus den Sudetenländern war wiederum kein Ersatz für einen Deutschen aus den Alpenländern. Das ergab eine Rechenaufgabe, die nur im Wege höherer präsidieller Mathematik zu lösen war.35

Solche „Enthüllungen“ finden sich freilich in keinem offiziellen Behördenakt, denn die Beamten hatten sich jeder nationalen und parteipolitischen Beurteilung zu enthalten. Es galt strenge Objektivität walten zu lassen, vor allem peinliche Diskussionen über nationale Fragen vor der Außenwelt mit Hilfe des Amtsgeheimnisses zu kaschieren. Nicht, dass die Beamten der Zentralbürokratie durchwegs so „anational“ gewesen wären,36 wie es das strenge Reglement vorschrieb. Doch 35 Kleinwaechter: Der fröhliche Präsidialist, S. 21f, siehe auch Heindl: Josephinische Mandarine, S. 107. 36 Ebd., S. 106–120.

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die Beamten hüteten sich, ihre nationale Einstellung oder gar eventuelle innere nationale Differenzen offen auszutragen. Die Amts-Hierarchie verdeckte wirkungsvoll die heikle Frage der Nationalisierung. In jede Autobiographie schlichen sich bewusst oder unbewusst Indiskretionen ein. Jeder Beamte setzte andere Schwerpunkte aus seinem Behördenleben, die uns zum Beispiel etwas über eine Protektion bei Postenbesetzungen und Versetzungen oder Details über Prozesse von schwierigen innenpolitischen Entscheidungen verraten. Wenn wir, Historikerinnen und Historiker, diese Informationen wie ein Puzzle zusammensetzen, erhalten wir ein detailliertes Bild über die Mechanismen und die Routine der bürokratischen Arbeit, erwerben Vorstellungen über das Funktionieren des Staatsapparates und der inneren Politik.

Selbstbild – Fremdbilder Wie bereits angedeutet, steht in den Erinnerungen der k. k. Beamten die Inszenierung der eigenen Persönlichkeit im Vordergrund. Was wir daher aus den Beamten-Memoiren am deutlichsten rekonstruieren können, ist das bereits erwähnte jeweilige Selbstbild, das sich die Beamten zurechtzimmerten, um es einer lesenden Öffentlichkeit zu präsentieren. Aus den Erzählungen aus dem jeweiligen Beamtenleben sind daher unschwer die „basic personal characteristics“ (Norbert Elias37), die Merkmale der geistigen Existenz, der Mentalität der hohen Bürokratie mit ihren Idealen und Werten zu rekonstruieren. Die intensive Produktion von Erinnerungsliteratur spricht jedenfalls für das Selbstwertgefühl, das Selbstbewusstsein und das Mitteilungsbedürfnis der Hochbürokratie. Es wäre allerdings vermessen, die Konstruktion einer kollektiven Identität oder einer kollektiven Biographie aus den Beamten-Memoiren anpeilen zu wollen. Dafür sind sie zu distanziert und verhüllen mehr als sie aussagen. Trotzdem lassen sich charakteristische gemeinsame Merkmale erkennen. Das Individuum, der Beamte, tritt in der Regel in der Erinnerungsliteratur weitgehend zurück und ist aus dem autobiographischen Konstrukt nur schemenhaft ersichtlich. Die schreibende Person und die in den Erinnerungen dargestellte ist – das wird bald klar – nicht die gleiche. Auch die oben erwähnte Darstellung der (Helden-)Taten als Beamte findet genau genommen nicht statt. Wir sind gezwungen, die überlegene Rechtssicherheit, die umfangreichen Kenntnisse und 37 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M. 1983, S. 172, siehe auch Heindl: Gehorsame Rebellen, S. 331.

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das sichere Wirken der Bürokratie für die Wohlfahrt der Staatsbürger – nobel distanziert, kühl angedeutet – zwischen den Zeilen zu lesen. Doch bekommen wir das sichere Gefühl, die Verfasser der Autobiographien seien zweifellos wichtige Personen gewesen, die mit Umsicht, vielen Kenntnissen und Einfühlungsgabe den Staat zum Wohl der Bürger verwalteten. Trotz der vagen Selbstdarstellung wirkt die Erinnerungsliteratur der Beamten auf uns heute merkwürdig authentisch. Auf dieses Phänomen werde ich noch zurückkommen. Ein wichtiges Anliegen für das Verfassen der eigenen Lebensgeschichte stellte, wie bereits angedeutet, das offensichtliche Bedürfnis der bürokratischen Eliten dar, ein entsprechendes Image bzw. Selbstbild aufzubauen. Immerhin nahmen sie eine wichtige Position in Staat und in Gesellschaft ein, um die sich Mythen und Gerüchte rankten. Was blieb ihnen anderes übrig, um sich einer größeren Öffentlichkeit darzustellen, als Memoiren zu verfassen, um ihre Stellung in Staat und Gesellschaft (wenn auch post festum) selbst zu positionieren? Es gab kaum andere Möglichkeiten einer Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit. Vor allem fehlte es an geeigneten Medien mit Breitenwirkung.38 Sich in Zeitungen zu präsentieren oder Meinungen zu äußern, kam nicht infrage, da sich ein kaiserlicher Staatsbeamter unmöglich öffentlicher Medien zwecks Selbstdarstellung, Berichtigungen oder Meinungsäußerungen bedienen konnte. Es hätte gegen das den Beamten auferlegte Amtsgeheimnis, dem ein enormer Wert beigemessen wurde, überhaupt gegen die in der Bürokratie übliche Diskretion verstoßen. Das Verfassen von Zeitungsartikeln war Politikern vorbehalten. Was den Beamten blieb, war Memoiren zu schreiben. Diese ermöglichten es ihnen, sich und ihren Stand (nach ihrer Amtszeit wohlgemerkt!) ins rechte Licht zu rücken. Aber auch bei den im Nachhinein veröffentlichten Erinnerungen war das Amtsgeheimnis zu wahren, das die Beamten bis zum Tod und darüber hinaus zu Stillschweigen über ihr amtliches Tun verpflichtete. Ein Vergehen gegen ihr Schweige-Gelöbnis konnte beispielsweise mit dem Entzug der Pension bestraft werden. Dieses von den meisten Beamten internalisierte Gebot hielt sie davon ab, zu viel von sich und aus ihrem Behördenleben preiszugeben. So gab der korrekte Graf Kielmansegg beispielsweise expressis verbis sein Gelöbnis auf das Amtsgeheimnis als Grund an, warum er seine Erinnerungen nicht publizieren wollte, als man ihn dazu aufforderte.39 In diesem Zusammenhang bestätigt sich im weiten Feld der Amtsdisziplin die These von Michel Foucault, dass die Disziplin eine der

38 Heindl: Josephinische Mandarine, S. 244f. 39 Kielmansegg: Staatsmänner, S. 19.

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wichtigsten Strategien staatlicher Macht darstellt.40 Sie durchdrang nicht nur das Berufs-, sondern auch das Privatleben. Die Disziplin des Amtes und das Schweigegebot bestimmen nachhaltig die Autobiographie eines jeden Beamten. Die belletristische Literatur Österreichs nahm sich des Themas Beamte und Bürokratie in einem außergewöhnlichen Umfang an. Die Beschreibungen der Beamtenwelt durch Schriftsteller41 reichen von den düsteren Zeichnungen Franz Kafkas, den skurrilen Schilderungen Fritz von Herzmanovsky-Orlandos und der liebevollen Beschreibung verschiedener Beamtentypen durch Joseph Roth bis zu den nuancierten Bildern Robert Musils und Heimito von Doderers, um nur einige bekannte Autoren herauszugreifen. Durch diese Werke ist es einigermaßen möglich, das Bild zu rekonstruieren, das sich intellektuelle Zeitgenossen von der Bürokratie machten.42 In diesen von der Literatur produzierten Fremdbildern gibt es beachtliche gemeinsame Aussagen: Die Literatur bestätigt im Großen und Ganzen das rechtskundige, umsichtige Walten der Bürokratie im Sinne des Gemeinwohls. Fast alle Autoren sind geradezu begierig – teilweise mit viel Ironie, aber auch unverkennbarer Faszination – den bürokratischen Kosmos zu beschreiben. Diesen hätten sich die Beamten, so meinten die Schriftsteller, selbst geschaffen, in diesem lebten sie relativ geschützt und dieser blieb nicht nur auf das Amt beschränkt, sondern färbte auf ihren gesamten Lebensraum, also auch auf die Privatsphäre wie auf die Mentalität der Beamten ab. Für die Außenwelt der Schriftsteller hatte dieser Mikrokosmos sehr viel starre Routine und skurrile Weltfremdheit – mit einem Wort: Unverständliches – an sich.43 In dieses Urteil stimmen auch jene Personen, die den Beamten vermutlich am nächsten standen, mit ein: die Beamtenfrauen mit ihren eigenen Lebensgeschichten. Auch hier wirken die Berichte von Frauen als Erweiterung und Korrektiv der Beamten-Memoiren. Die Ehefrauen und Töchter – nicht eingeengt durch Amtsgeheimnis und Beamtendisziplin – konnten in ihren Memoiren und Briefen über ihr (Familien-)Leben weit offener schreiben als ihre Männer. Wie die Schriftsteller wurden sie offenbar durch die Gewohnheiten ihrer Ehemänner und Väter aus deren Beamtenwelt des Öfteren in Erstaunen versetzt. Die Enkelin (geboren 1889) eines Hofgerichtsrates in Prag, der aus einer alten tschechischen

40 Siehe Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1994, S. 175. 41 Sabine Zelger: Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie – literarische Reflexionen aus Österreich. In: Literatur und Leben, Neue Folge, 75 (2009). 42 Heindl: Josephinische Mandarine, S. 235–243. 43 Heindl: Josephinische Mandarine, S. 247.

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Beamtenfamilie stammte, schildert zum Beispiel den Haushalt ihres Großvaters (geboren 1830) folgendermaßen: Das Leben der Stranskýs in Mělnik war sehr regelmäßig, regelmäßiger als die Uhr. Das war das Verdienst des Großvaters. Er brachte in den Haushalt seine Kanzleigewohnheiten ein und hielt bis zu seinem Tod daran fest. Niemand traute sich, sein Tagesprogramm zu stören, am wenigsten meine Großmutter, die zwar sonst sehr selbständig war, aber durch die damalige Erziehung angehalten worden war, in ihrem Mann das „Oberhaupt der Familie“ und den „Haushaltsvorstand“ zu sehen und ihn stets zu respektieren. Das Vermögen verwaltete sie nach ihrem Gutdünken, aber die Ordnung, die er im Haus einführte, nahm sie ohne Widerrede an, auch wenn sie manchmal gegen ihren Sinn war. Um sieben Uhr früh standen wir auf, und zum Frühstück kam der Großvater schon ganz angezogen, als ob er sofort ins Büro weggehen wollte.44

Dies sind Berichte aus erster Hand: Das Amtsleben prägte das Leben der gesamten Familie. Die Beamten selbst sahen gerade das von der Außenwelt empfundene „Anderssein“ ihrer eigenen Welt als Normalität an, ein Faktum, das ihre Mentalität offenbart: Die Leitlinie ihres Lebens wurde von Beamtenethos und bürokratischer Wertskala diktiert, und das bedeutete streng gesetzestreues und rechtstaatliches Handeln, die Einhaltung der Rituale und Traditionen sowie die Wahrung der Amtsverschwiegenheit. Die Beamten hatten diese Forderungen in ihr Leben integriert. Sie bezogen diese Haltung, die zu ihrem Habitus wurde – auch das lehren uns die Memoiren der Beamten – aus der Macht der Institution, die ihnen von den obersten Instanzen, Kaiser und Staat, gegeben wurden. Wenn ein Beamter das Gewicht des Amtes nicht schon vor seinem Dienstantritt erkannt hatte, wurde es ihm in der Praxis durch die Vorgesetzten eingeimpft: „Sie sind niemand – Sie haben gar keine Macht, das Amt hat Macht“ so skizziert Otto Friedländer (1889–1963), zwar nur kurzzeitig Staatsbeamter an einem Gericht, doch auch als Beamter der Wiener Handelskammer mit den Gebräuchen der Staatsbürokratie vertraut, die „Amtsmentalität“: „Sie üben das Amt nur durch die Macht des Amtes aus – Sie haben daher niemals ´ich` zu sagen – Sie haben niemanden etwas zu befehlen – das Amt befiehlt […]“!45 Die Beamten mussten diesem Amt höchste Bedeutung beimessen und waren stolz darauf, Amtsträger 44 Ludmila Matiegková in Pavla Vošalíková (Hrsg.): Von Amts wegen. K. k. Beamten erzählen. In: Damit es nicht verloren geht 37 (1998), S. 293. 45 Otto Friedländer: Letzter Glanz der Märchenstadt. Das war Wien um 1900. Austriaca. Wien, München 1969, S. 69; Heindl: Josephinische Mandarine, S. 191.

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zu sein. Die Kaiser- und Staatstreue war selbstverständliches Resultat, wobei die Frage, wer von beiden an der Spitze der Beamten-Loyalität stand, im Laufe der Jahre wechseln konnte.46 Der Monarch war in der Gestalt Franz Josephs für viele vorrangig vor dem abstrakten „Staat“. Dies galt in den Greisenjahren des Kaisers offenbar sogar noch viel stärker als in den Anfangsjahren des Verfassungsstaates (1867), als die Beamten den Ruf bürgerlich-liberal zu sein hatten. Sogar der sozialdemokratisch politisch engagierte Beamte in der Parlamentsbibliothek Karl Renner (1870–1950), Staatspräsident der Ersten und Bundespräsident der Zweiten Republik, ließ in seinen Memoiren keinen Zweifel an seiner Treue gegenüber dem Monarchen und dem monarchischen Staat.47

Fazit Der früher erwähnte Eindruck der Authentizität, den die Beamten-Memoiren auf uns heute machen, entspringt der vollkommenen Deckung von Amt und Person. Das Resultat davon ist: Die Beamten-Memoiren verschweigen und verdecken. Die Staatsdiener verhüllten vornehm die Vorteile, die mit ihrem hochgeschätzten Amt verbunden waren. Die Selbstzeugnisse verbergen die schwierige und ambivalente Position ihrer Verfasser, einerseits im wahrsten Sinne des Wortes subjects (Untertanen) zu sein, da jeder Beamte den Eid auf Kaiser und Staat geleistet hatte und damit zur Gänze eben Kaiser und Staat untergeben war. Zugleich waren die Beamten jedoch Bürger (citizen) par excellence, da sie als gebildete Juristen mehr als andere Staat, Recht, den Rechtsstaat, den sie zu hüten hatten, verstanden und an seiner Formung entschieden teilhatten. Die österreichisch-ungarische Welt war spätestens seit den 1890er Jahren mit starken Umbrüchen – sozialer, politischer, wissenschaftlicher und kultureller Natur – konfrontiert. In den hier betrachteten Selbstzeugnissen werden die Schwierigkeiten nicht beim Namen genannt, die diese für ihre Verfasser mit sich brachten. Gerade sie, die Staatsdiener, waren mit dieser enormen Komplexität von Problemen48 stärker konfrontiert als andere Zeitgenossen. Sie hatten die zunehmend dynamisch werdenden politischen, nationalen, sozialen und kulturellen Prozesse mitsamt ihren oft nicht mehr durchschaubaren Konflikten mit 46 Heindl: Josephinische Mandarine, S. 90–98. 47 Karl Renner: An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen. Wien 1946. 48 So kennzeichnet Luhmann das 20. Jahrhundert, Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, auch Heindl: Josephinische Mandarine, S. 279.

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zu meistern. Die hier benannten Probleme werden allerdings in den Memoiren höchstens mit einer zurückhaltenden Scheu angedeutet. Es ist jedoch für genau Lesende nicht schwierig, die Anspielungen zu verstehen: Die Beamten mussten lernen, die für sie radikal neuen Tendenzen in Kunst und Wissenschaften sowie die demokratischen Wünsche „neuer“ Schichten und der zu Bildung und Beruf drängenden Frauen zu respektieren und zu erfüllen, auch wenn diese gar nicht in ihrem Sinn lagen. Sie hatten das größte Problem in den Griff zu bekommen, den Staat trotz aller Widrigkeiten und zerstörerischen Tendenzen funktionsfähig zu halten. Sie hatten die Monarchie gegen die Ansprüche der Nationalbewegungen – oder manchmal umgekehrt – die Nationen gegen den Staat zu verteidigen. Sie mussten sich gegen unvernünftige Anmaßungen von Politikern jeder Couleur und jeder Nation abschirmen. Die Beamten präsentieren uns in ihren Erinnerungen nicht explizit, aber unübersehbar ihre Selbstzufriedenheit: Ungeachtet ihres hohen Arbeitsethos und Pflichtbewusstseins waren sie stolz darauf, so das Selbstbild, dass sie in diesen wirren Zeiten nicht wie ideale Beamte „bürokratisch“ und nach den vorgeschriebenen Normen „amtshandelten“, wie es der ideale Beamte zu tun verpflichtet gewesen wäre. Sondern sie handhabten das bürokratische System, das für die Lösung der komplexen Fragen nicht mehr ausreichte, locker und nach ihrer Interpretation. Damit fanden sie kreative Lösungen oder zumindest adäquate Antworten auf die komplizierten Fragen und erwiesen sich als klug handelnde, sinnvolle, staatserhaltende Kraft, ja tragende Säule der Monarchie. So wollten sie sich selbst sehen und von der Nachwelt gesehen werden. Die Memoirenliteratur der Hochbürokratie war erfolgreich. Sie wurde von Zeitgenossen und von späteren Generationen rezipiert und trug entscheidend zum Aufbau einer kollektiven Erinnerungskultur von Beamten und über Beamte bei. Die Literatur, wie beschrieben, und auch der Film nahmen sich schon bald nach der Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie mit Begeisterung dieser Darstellungen an. Die Erinnerungsliteratur trug so zur Verstärkung des von den Beamten kreierten mythischen Bildes des österreichischen Beamten bei einem späteren Publikum bei. Auch die Klischees wurden auf diesem Weg erzeugt. In der Öffentlichkeit spielt das Bild des unbestechlichen, gerechten und auf die Einhaltung des Rechtsstaates achtenden Beamten der k. u. k. Monarchie auch heute noch eine beträchtliche Rolle – zu Recht oder Unrecht!

Ulrich Schmid

Die subjektbildende Kraft des Imperiums Autobiographien in der späten Zarenzeit In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand das Zarenreich vor einer Reihe entscheidender Herausforderungen. Nach der schmählichen Niederlage im Krimkrieg 1856 hatte Russland den Status einer europäischen Hegemonialmacht verloren. Die Bauernbefreiung von 1861 war nur das prominenteste Signal einer tief greifenden Umschichtung der russischen Gesellschaft. Bereits unter Nikolaus I. (1796–1855) hatte sich eine Entfremdung des Hofs auf der einen Seite und der Aristokratie auf der anderen Seite angekündigt.1 Diese gesellschaftliche Differenzierung setzte sich nun fort: Immer mehr Raznočincy, also Akteure außerhalb der traditionellen Ständeordnung, prägten den öffentlichen Diskurs, viele Adlige leisteten nicht mehr um des Prestige willens Staats- oder Militärdienst, sondern fanden darin ihr Auskommen. Schließlich entstand auch eine neue Schicht gesellschaftlicher Aufsteiger, die fast amerikanische Karrieren absolvierten. Zu erinnern ist hier an Figuren mit bäuerlichem oder kleinbürgerlichem Familienhintergrund wie Aleksandr Nikitenko (1804–1877), Savva Morozov (1862–1905) oder Pavel Tret’jakov (1832–1898).2 Das ständische Gefüge war in Bewegung geraten; der Hof verlor zusehends sein Distributionsmonopol für Anerkennung. Gerade diese gesellschaftliche Umbruchsituation löste auch die individuelle Persönlichkeit aus dem Kosmos der zaristischen Regelkultur. Ein deutliches Zeichen dieser Krise ist etwa der Eintrag des späteren Finanzministers Dmitrij Obolenskij (1822–1881) in seinem Tagebuch vom 13. April 1856: Ich habe zu Ostern den ersten Orden bekommen und wurde zum ersten Mal Kavalier, indem ich alle tieferen Ordensstufen ausließ. Ich erhielt direkt den Vladimir der dritten Stufe am Hals mit einer sehr liebenswürdigen Notiz des Großfürsten. Ich gebe zu, 1 Nicholas Riasanovsky: A Parting of Ways. Government and the Educated Public in Russia 1801–1855. Oxford 1976. 2 Waltraud Bayer: Die russischen Medici. Der russische Bürger als Mäzen. Wien, Köln, Weimar 1996.

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dass mich diese Auszeichnung sehr gefreut hat, obwohl ich sie erwartet hatte, denn meine Dienstkollegen hatten diese Auszeichnung schon erhalten. Wir sind von den fristgerechten Auszeichnungen schon so verwöhnt, dass wir uns darüber freuen wie über die fristgerechte Rückzahlung eines Kredits. Hackel bemerkte zu Recht, dass sich ein seltsamer Brauch in Russland breit gemacht habe – jeder fordert eine Auszeichnung und ist unzufrieden, wenn man sie ihm nicht rechtzeitig gibt. […] Ich sage auch ganz offen, dass ich mich geschämt hätte, diesen Orden zu bekommen, wenn ihn meine Dienstkollegen nicht schon gehabt hätten, weil ich in meiner Dienstkarriere noch nichts Besonderes geleistet habe.3

Obolenskijs Zeugnis zeigt, wie die offizielle Auszeichnungs- und Karrieremaschine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Glaubwürdigkeit verloren hatte. Eine „gelungene“ Biographie verdankte sich nun bereits nicht mehr dem externen Maßstab einer erreichten Hierarchiestufe, sondern musste auch eine innere, subjektive Evidenz aufweisen. Die Aufwertung des Subjekts gegenüber der offiziellen Regelkultur wurde auch gefördert durch die in Russland nur ansatzweise vorhandene bürgerliche Öffentlichkeit, wie sie Habermas für die britische, französische und deutsche Gesellschaft beschrieben hat. Wenn es keinen öffentlichen Aushandlungsraum für Werte gibt, dann wird das moralische Urteilsvermögen des Einzelnen zum Gerichtshof für das menschliche Verhalten. Diese beginnende Entkoppelung individueller Lebensläufe von offiziösen Mustern spiegelte sich auch im öffentlichen Diskurs. In den 1840er Jahren verstärkte sich das Interesse an der Persönlichkeit (ličnost’).4 Gerade das drängende Problem der russischen Rückständigkeit rückte das Individuum als möglichen Motor des gesellschaftlichen Fortschritts in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die publizistischen Meinungsführer Vissarion Belinskij, Aleksandr Herzen und Konstantin Kavelin erinnerten an die Leistung Peters des Großen, der als einzelne Persönlichkeit die russische Gesellschaftsordnung an ein westliches Niveau angenähert hatte.5 Peter war in der späten Zarenzeit auch deshalb eine wichtige Referenzfigur, weil er das imperiale Selbstverständnis des Russischen Reichs begründet hatte. In der Gestalt Peters des Großen begründen die Begriffe Imperium und Persönlichkeit 3 Dmitrij A. Obolenskij: Zapiski. Sankt-Peterburg 2005, S. 125. 4 Julia Herzberg: Autobiographik in „Ost“ und „West“. In: Julia Herzberg/Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 15–62, S. 36. 5 Jochen Hellbeck: Russian Autobiographical Practice. In: Jochen Hellbeck/Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia. Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 279–298, S. 282.

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eine besondere Konjunktur. Das Imperium ist die persönliche Leistung Peters und umgekehrt ist Peters prominenteste Identität jene des Imperators – seine Person garantiert den Zusammenhalt des Reichs. Dieses privilegierte Verhältnis von Kaiser und Imperium hielt sich zumindest dem Anspruch nach bis zur Februarrevolution 1917. Katharina die Große erblickte den Sinn ihres Lebens in der durchaus auch quantitativen Vermehrung russischer Errungenschaften. In einem Brief an Baron Grimm vom 11. Juli 1789 zog sie in absurder Form ihre Regierungsbilanz:6 Le résultat laconique: Pendant ces dernières 19 années [sc. ihrer Regierungszeit als Kaiserin, U.S.] Gouvernements érigés selon la nouvelle forme . . 29 Villes érigées et bâties . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Conventions et traités conclus . . . . . . . . . . . 30 Victoires remportées . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Edits mémorables portant lois ou fondations . . . 88 Edits pour soulager le peuple . . . . . . . . . . . . 123 ____ 492

Der auftrumpfende Stolz, der sich in der ebenso imposanten wie nichtssagenden Zahl „492“ äußert, befeuert auch Katharinas Autobiographie. Ihre Erzählung präsentiert sich als narrative Addition ihrer Regierungsakte. Genauso wie die Summe dieser Leistungen nach oben offen ist, waren auch der Erweiterung des russischen Imperiums von vornherein prinzipiell keine Grenzen gesetzt. Mehr noch: Gerade die ständige Expansion zeugte von der Vitalität eines Imperiums, die bloße Bestandsicherung ist bereits ein Zeichen von Schwäche. Imperien folgen Zyklen, in denen sich Expansion, Konsolidierung und Niedergang abwechseln.7 Die imperiale Selbstbestätigung entfaltet ihre Attraktivität jedoch nur in der Phase der Expansion. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kannte das neuzeitliche Russland nur den Expansionsmodus: Sibirien, die Schwarzmeerküste und der Kaukasus waren wichtige Eroberungen, die nicht nur das Territorium, sondern auch das Prestige des 6 Valentin Gitermann: Geschichte Russlands Bd. 2. Zürich 1945, S. 201. 7 Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005, S. 110.

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Zarenreichs enorm erweiterten. Deshalb hatte die russische Bildungselite Alexander I. (1777–1825) als einzigen europäischen Monarchen wahrgenommen, der auf Augenhöhe mit Napoleon verkehren konnte. Auch die Regierungszeit Nikolaus’ I. unterstützte die imperiale Selbstwahrnehmung Russlands als europäischer Großmacht. Ganz unverhohlen bestand schließlich auch ein wichtiges Ziel des Krimkriegs in der Verwirklichung von Katharinas griechischem Projekt – der Eroberung von Byzanz und damit der russischen Herrschaft über die Wiege der Orthodoxie. In der Imperienforschung hat Michael Doyle den Begriff der augustäischen Schwelle eingeführt, der den Übergang von der Expansion zur Konsolidierung eines Reiches markiert.8 Mit der Niederlage im Krimkrieg hatte das russische imperiale Projekt in der Tat eine solche Schwelle erreicht, die neue Kommunikationsstrategien erforderte. Das Jahr 1856 markiert eine tiefe Krise im russischen imperialen Bewusstsein. Auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Zar erfuhr elf Jahre später eine traumatische Veränderung. Am 4. April 1866 erhob ein russischer Untertan seine Hand gegen den Herrscher von Gottes Gnaden. Zwar überlebte Aleksandr II. die Schüsse des Studenten Dmitrij Karakozov, aber die Position des Selbstherrschers hatte sich grundlegend geändert: Er war nicht mehr unantastbar.9 Konservative Publizisten wie Michail Katkov (1818–1887) beeilten sich deshalb, in ihren einflussreichen Zeitungsartikeln die Grundlagen der absolutistischen Herrschaft diskursiv wiederherzustellen. Katkov wollte die sakrale Legitimation des Zaren entkoppeln von der fehlerhaften Bürokratie, die zwar im Auftrag des Selbstherrschers arbeitete, aber ohne seine metaphysische Überhöhung auskommen musste: Im Verständnis und Gefühl des Volks ist die Höchste Macht ein heiliges Prinzip. Je erhabener und heiliger dieses Prinzip im Verständnis und Gefühl des Volkes ist, um so unzweckmäßiger, falscher und ungeheuerlicher ist jene Auffassung, die in den einzelnen administrativen Ämtern etwas wie ein Facette der Höchsten Macht erblicken will. 10

Auch fünfzehn Jahre später, als Alexander  II . tatsächlich einem Attentat zum Opfer fiel, beschwor Katkov als großer Explikator problematisch gewordener

8 Michael Doyle: Empires. Ithaca, London 1994, S. 93. 9 Claudia Verhoeven: The odd man Karakozov. Imperial Russia, modernity, and the birth of terrorism. Ithaca 2009. 10 Michail Katkov: Isključitel’noe gospodstvo bjurokratii i Verchovnaja vlast’ [Die ausschließliche Herrschaft der Bürokratie und die Höchste Macht]. In: ders.: Imperija i kramola [Imperium und Аufruhr]. Moskva 2007, S. 90–91, S. 90.

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Selbstverständlichkeiten die Einheit Russlands. Das Zarenreich erscheint in Katkovs Darstellung als individueller Organismus, der sich im Leben der Zaren inkarniert: Die russische Macht ist das Resultat einer tausendjährigen Geschichte. Russland ist keine Frage, Russland ist keine Meinung, keine Idee, keine abstrakte Formel; es ist die realste Realität, vielschichtig und umfassend. Russland ist eine unendlich fein organisierte Individualität (individual’nost’), eigentümlich und sich selbst gleich. Wenn es existiert, dann gibt es wohl auch Grundlagen und Regeln ihrer Existenz.11

Jedoch signalisierte bereits die Tatsache, dass Katkov das Gottesgnadentum gegen moderne Herrschaftsformen wie die repräsentative Demokratie oder die administrative Bürokratie verteidigen musste, die Krisenhaftigkeit des Status quo. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Imperialität schon nicht mehr die Voraussetzung, sondern bereits der diskursive Effekt aristokratischer Lebensbeschreibungen.

Zwischen Loyalität und Individualität Diese veränderte Situation führte auch dazu, dass sich das Koordinatensystem autobiographischer Produktion veränderte. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Dienstbiographie dominiert, in der chronologisch eine Karriere erzählt wurde. Als paradigmatisches Beispiel darf hier Autobiographie des Hofdichters und Ministers Gavrila Deržavin (1743–1816) gelten. Die Distanz zwischen erlebendem Individuum und erlebtem Schicksal spiegelt sich hier sogar in der Aussagestruktur: Deržavin erzählt sein eigenes Leben in der dritten Person.12 Erst mit dem Aufkommen des Prosaromans wurden neue narrative Möglichkeiten geschaffen, das eigene Leben erzählbar zu machen und mit der Würde individueller Unverwechselbarkeit auszustatten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der biographische Prosaroman relativ spät in das Genresystem der russischen Literatur Einzug hielt. Ein gutes Beispiel bietet der Erstlingsroman Wer ist schuld? (Kto vinovat?) von Alexander Herzen (1812–1870) aus dem Jahr 1847. Dieser Roman

11 Michail Katkov: Vse, čto protivorečit osnovnomu stroju russkogo gosudarstva, dolžno byt’ ustraneno iz nego samym rešitel’nym obrazom [Alles, was der grundsätzlichen Ordnung des russischen Staates widerspricht, muss aus ihm auf das Entschiedenste entfernt werden]. (8.4.1881) In: ders.: Imperija i kramola, S. 246f. 12 Ulrich Schmid: Ichentwürfe. Russische Autobiographien zwischen Avvakum und Gercen. Zürich 2003, S. 157.

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verfügt zwar über eine durchgehende Handlung, zerfällt aber eigentlich in eine Vielzahl biographischer Erzählungen, die der Erzähler zu jeder Handlungsfigur als flashback liefert. Wichtig ist bei Herzens Roman vor allem die Einführung der Kategorie des Tragischen. In der autobiographischen Tradition wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eigentlich nur das „gelungene“ Leben zum Gegenstand schriftlicher Fixierung. Die Titelfrage von Herzens Roman impliziert zwar immer noch die gelungene Biographie als Norm, die nur aufgrund der widrigen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als unerreichbar präsentiert wird. Immerhin aber gewinnen psychologische Introspektion und moralische Dilemmata an Gewicht – zuvor gab es einen „richtigen“ Lebensweg, dessen innere Logik und Notwendigkeit in der Autobiographie narrativ nachgewiesen wurde. Der gesellschaftliche Innovationsschub während der Regierungszeit Alexanders II. (1855–1881) führte auch zu einer Modernisierung der erzählerischen Mittel, die zur Erfassung von zunehmend individualisierten Lebensläufen zur Verfügung standen. Gerade Aristokraten, die hohe Funktionen im Staat oder im Militär innehatten, bezogen zwar ihren Lebenssinn immer noch hauptsächlich aus ihrer Position in der zaristischen Regelkultur, verwiesen aber in aller Deutlichkeit auf individuell zurechenbare Leistungen, die sich nicht im automatischen Ablauf der Staatsmaschinerie erschöpften. Die Dienstbiographie machte sich deshalb immer noch als einflussreiches Modell im Hintergrund bemerkbar, wurde aber ergänzt durch eine persönliche autobiographische Erzählung, die über die Aufzählung von Amtsfunktionen, Auszeichnungen und Titeln hinausgeht.13 Diese Verschiebung lässt sich bereits in der stark gestiegenen Anzahl von Autobiographien höherer Beamter und Militärs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ablesen. Auch Adlige, die nicht in die höchsten Chargen des Staatsdienstes vordrangen, hielten ihr eigenes Schicksal und ihren Beitrag zur nationalen Größe Russlands für so bemerkenswert, dass sie eine eigene Lebensbeschreibung vorlegten. Das pragmatische Ziel solcher autobiographischer Schriften war mithin ein doppeltes: Es ging um die Profilierung Russlands und um den Nachweis der individuellen Arbeit am imperialen Projekt. Zwar dominieren in aristokratischen Autobiographien vor allem bei der Schilderung von Kindheit und Jugend immer noch die traditionellen Muster: Der eigenen Geburt wird meistens eine Familiengeschichte vorausgeschickt, die auf die soziale und ökonomische Situation eingeht. Die eigenen Eltern werden in der Regel nicht als interessante psychologische Charaktere geschildert, sondern bilden als Statisten bloß den Hintergrund für das Auftreten des wahren Protagonisten.14 13 Ebd., S. 187. 14 Ebd., S. 285ff.

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Dieses Modell hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten. Sogar Lev Trockijs berühmte Autobiographie folgt in den ersten Kapiteln diesem Muster.15 In vielen Fällen wird das biologische Elternpaar ergänzt durch den imperialen Übervater, der sich dem Ich-Erzähler wie in einer Offenbarung zeigt. Die Begegnung mit dem Zaren – natürlich aus der Ferne und ohne persönlichen Kontakt – wird in quasi-religiöser Sprache beschrieben. Dieser wichtige Moment fällt auch aus der familiären Alltagszeit heraus und begründet eine neue mythische Zeiterfahrung, in der das heranwachsende Subjekt seine Biographie im imperialen Raum beginnt. Oft wird die Einführung in die imperiale Ideologie als persönliche Initiation geschildert. Der spätere Weißgardisten-General Anton Denikin (1872–1947) gibt einen Besuch Alexanders II. in Polen im Jahr 1880 als Kindheitserlebnis wieder: Im Haus ging alles drunter und drüber. Meine Mutter nähte mir Tag und Nacht Plüschhosen und ein Seidenhemd; der Vater brachte seine militärische Uniform in Ordnung und polierte auf einem Spezialbrett mit Aussparungen die Knöpfe seiner Jacke. […] Als der Zug des Zaren eintraf, trat der Herrscher zum offenen Fenster des Waggons und sprach freundlich mit jemandem aus dem Begrüssungskomitee. Der Vater erstarrte mit der Hand am Mützenschirm und schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Ich wandte die Augen nicht vom Herrscher ab.16

Die Bildungsinstitutionen des Zarenreichs konnten im Idealfall auf diese emphatische Grundlage aufbauen. Denikin unterstreicht das „nationale Ideal“ der Offiziersschule, das ihn vor den Gefahren der sozialistischen Propaganda immunisiert habe.17 Auch der Eisenbahnexperte und spätere Verkehrs-, Finanz- und Premierminister Sergej Ju. Witte (1849–1915) beschreibt als frühestes Kindheitserlebnis die Nachricht vom Tod des Zaren Nikolaus I.: Ich erinnere mich, dass ich mich als kleiner Junge mit meiner Kinderfrau in meinem Zimmer befand (das war in Tiflis), als plötzlich meine Mutter schluchzend ins Zimmer trat, dann folgten mein Großvater, die Großmutter, die Tante und alle schluchzten herzzerreißend. Ich erinnere mich, dass der Grund ihrer Tränen und ihres Schluchzens die gerade eingetroffene Nachricht vom Tod des Imperators Nikolaj Pavlovič war. 15 Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Berlin 1930. 16 A.I. Denikin: Put’ russkogo oficera [Der Weg eines russischen Offiziers]. New York 1953, S. 35f. 17 Ebd., S. 68f.

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Das machte auf mich einen sehr starken Eindruck; so konnte man nur beim Verlust eines sehr nahen Menschen schluchzen. Überhaupt war meine Familie eine sehr monarchistisch eingestellte Familie, und auch ich habe diesen Charakterzug geerbt.18

Witte widmet Alexander III. (1881–1894) ein ganzes Kapitel seiner Memoiren und versucht vor allem, Kritik an der autoritären Regierungsführung dieses Zaren zu zerstreuen. In Wittes Darstellung ist Alexander III. ein kluger, sparsamer, nüchterner und religiöser Herrscher, der das Wohl seines Volkes über alles stellte. Verhaltener fällt das Lob über Nikolaus II. (1894–1917) aus. Witte bringt als generelle Charakterisierung des letzten Zaren nur hervor, dass er ein „sehr guter Mensch“ und „äußerst gebildet“ sei.19 Bei der Kommentierung einzelner Personalentscheidungen lässt Witte aber durchblicken, dass er den Zaren weder für führungsstark noch charakterfest hält. Gegen Ende seiner Memoiren wird Witte noch deutlicher. Nach dem Ausbruch des Weltkriegs heißt es über Nikolaus II.: In der Tiefe seiner Seele muss er gefühlt haben, dass er der wichtigste, wenn nicht sogar einzige Schuldige an diesem schändlichen und dummen Krieg war.20

Gleichzeitig wahrt Witte aber immer das Decorum und stellt auch nicht ansatzweise die Legitimität der Zarenherrschaft in Frage. Eine ähnliche zarentreue Grundstimmung findet man auch in den Memoiren des Generals Nikolaj Epančin (1857–1939). Bezeichnenderweise trägt das umfangreiche Buch den Titel Im Dienst dreier Zaren. Entsprechend ehrerbietig ist auch die Ausdrucksweise, wenn von den Selbstherrschern die Rede ist. Jede Tätigkeit des Zaren wird mit dem Hilfsverb „geruhen“ beschrieben; außerdem werden oft die Adjektive „allerhöchst“ und „augustäisch“ eingesetzt. Konsequent wird auch das Personalpronomen „Er“ für den Zaren groß geschrieben. Dabei geht es Epančin allerdings nicht um das Aufzeigen der Distanz, sondern umgekehrt um den Nachweis der inneren Verbindung von Herrscher und Untertan. Bei der Schilderung seiner Kadettenzeit schreibt Epančin etwa: Nebenbei möchte ich erwähnen, dass der Herrscher fast immer sagte, wenn er seine Armee begrüßte: Seid gegrüßt, Jungs! (Zdorovo, rebjata!). Seltener nannte er sie nach den Regimentern: Seid gegrüßt, preobražency, semenovcy! In diesem Wort „Jungs“ wurden jenes Verhältnis ausgedrückt, das sich in unseren Regeln zwischen dem Zaren und den 18 Sergej Ju. Vitte: Vospominanija [Erinnerungen]. 3 Bde. Tallinn, Moskva 1994, Bd. I, S. 55. 19 Vitte: Vospominanija, Bd. II, S. 14. 20 Vitte: Vospominanija, Bd. III, S. 46.

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Soldaten etabliert hatte: „Soldat ist ein wichtige Bezeichnung; mit diesem Namen wird sowohl der erste Soldat, der Imperator, als auch der letzte Untergebene bezeichnet.21

Epančins gesamte Autobiographie fokussiert nicht auf seine eigene Person, sondern stellt gewissermaßen eine Biographie der drei letzten Zaren aus seiner subjektiven Perspektive dar. Sein eigenes Leben findet seine Erfüllung in der Erfüllung der Dienstpflicht gegenüber dem Imperium. Tragend ist dabei die Vorstellung, dass sowohl das autobiographische Subjekt als auch der Zar selbst über diese Pflicht in das große imperiale Projekt eingebunden sind. Deshalb sollte Epančins Autobiographie auch nicht als Ausdruck eines Untertanenbewusstseins gedeutet werden. Er schreibt sich vielmehr selbst jene historische Mission der imperialen Herrschaftssicherung zu, der er sich selbst ebenso wenig wie der Zar entziehen kann. Denikin und Epančin gehören in ihrer unbedingten Herrschertreue noch zum feudalistischen Gesellschaftssystem des frühen 19. Jahrhunderts. In ihrer jugendlichen Zarenbegeisterung sind sie zwar keine Ausnahmen, aber sie halten an ihrer Loyalität zu den Romanovs bis ins hohe Alter fest. Ein interessantes Gegenbeispiel bietet der Volkstümler (narodnik) und spätere Renegat Lev Tichomirov (1852–1923). In seiner Autobiographie erinnert er sich an die patriotische Grundstimmung während der Kindheit: In meiner Kindheit war ich sehr fromm; als Kind betete ich voller Inbrunst, während des Gottesdiensts bat ich Gott um das, was ich brauchte, und war überzeugt, dass der Herr in dieser Minute das Gebet erfüllen wird. Ich liebte auch Russland sehr, ich weiß nicht, warum. Aber ich war stolz auf Russlands Größe, ich hielt es für das erste Land auf der Welt. Ich verfügte natürlich über keine klare Vorstellung der politischen Verhältnisse, aber ich fühlte das Ideal des allmächtigen, allerhöchsten Zaren, des Herrschers über alles und alle.22

Während der Schulzeit führte eine intensive Lektüre ausländischer Autoren Tichomirov indes zu einer Kritik an der absolutistischen Staatsordnung; der Monarchismus sei mehr atmosphärisch denn als politisch begründbares System präsent gewesen: Der Monarchismus meines Vaters war ebenfalls instinktiv, wenig explizierbar, und sogar offensichtlich theoretisch kaum haltbar. In mir hinterließ der Vater den Keim 21 N.A. Epančin: Na službe trech imperatorov. Vospominanija [Im Dienste dreier Imperatoren. Erinnerungen]. Moskva 1996, S. 65. 22 Lev Tichomirov: Vospominanija [Erinnerungen]. Moskva, Leningrad 1927, S. 29.

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des Monarchismus, aber vor allem durch sein Gefühl, durch sein warmes Verhältnis zum Imperator Nikolaj I., durch Erzählungen von Äußerungen des damaligen russischen Zeitgeistes, u.ä.23

Dass der zunächst sozialistisch eingestellte Tichomirov seine patriotische Schulbildung in verfremdendem Licht darstellt, liegt nahe. Erstaunlicherweise findet sich aber auch in den Memoiren eines Mitglieds der Zarenfamilie eine ähnliche Abschweifung. Der Großfürst Aleksandr Michajlovič (1866–1933), ein Enkel Nikolaus’ I., kritisiert im Rückblick den patriotischen Unterricht, der ihn zu einer stereotypen Wahrnehmung der europäischen Nationen geführt habe: Auf diese Weise erklärte sich mein früherer Antisemitismus durch den Einfluss der Lehre der orthodoxen Kirche auf mich, aber dieses Gefühl verschwand, als ich die Mängel im Geist der Kirche selbst erkannte. Für mich war es viel schwieriger, in meinem Charakter jene Xenophobie zu überwinden, die durch die russischen Geschichtslehrer in meiner Seele eingepflanzt wurden. Ihre Auswahl der Ereignisse unserer Vergangenheit überging jene Abgründe, die immer wieder die Völker von ihren Regierungen und Politikern trennten. Die Franzosen wurden für die vielen Treuebrüche Napoleons kritisiert. Die Schweden mussten für das Unglück bezahlen, daß Karl XII . während der Regierungszeit Peters des Großen über Russland gebracht hatte. Den Polen durfte man ihre lächerliche Eitelkeit nicht verzeihen. Die Engländer waren immer „das heimtückische Albion“. Die Deutschen waren schuldig, weil sie Bismarck hatten. Die Österreicher trugen die Verantwortung für die Politik von Franz Joseph, einem Monarchen, der nicht eine seiner vielen Versprechungen gegenüber Russland erfüllt hat. Meine „Feinde“ waren überall. Das offizielle Verständnis des Patriotismus forderte, dass ich in meinem Herzen das Feuer des „heiligen Hasses“ gegen alle und alles nährte.24

Gemeinsam ist allen aristokratischen Dienstbiographien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dass sie fast durchwegs auf die Schilderung des privaten Lebens verzichten. Ehe, Kinder, Familie und Freizeit sind Themen, die nicht als relevant erscheinen. Das eigene Leben wird im größeren Rahmen der Weltgeschichte wahrgenommen. Bedeutsam ist es nur insofern, als sich die Wege des Autobiographen und der Zeitläufe kreuzen. Diese Knotenpunkte werden oft auch als Einschnitte im individuellen Lebensvollzug gedeutet. Ein prominentes Beispiel bietet der

23 Ebd., S. 30f. 24 Velikij knjaz’ Aleksandr Michajlovič: Kniga vospominanij [Buch der Erinnerungen]. Tom 1. Paris 1933, S. 92.

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1. März 1881 – der Tag der Ermordung Alexanders II. Fast alle Autobiographien setzen hier eine Zäsur, die nicht selten mit einer Kapitelgrenze zusammenfällt.

Die literarische Erforschung des Ich Psychologische Introspektion, die in der späten Zarenzeit zum künstlerischen Standardrepertoire der erzählenden Literatur gehört,25 kommt in diesen Autobiographien nicht vor. Das mag naheliegend erscheinen, weil die Staatsdiener nicht über die diskursiven Möglichkeiten der Literatur verfügten. Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb keiner der großen Romanciers des 19. Jahrhunderts eine Autobiographie hinterlassen hat. Die Antwort muss darauf hinauslaufen, dass Ivan Gončarov (1812–1891), Ivan Turgenev (1818–1883), Fedor Dostoevskij (1821–1881) und Lev Tolstoj (1828–1910) dieses Projekt bereits als ausgeführt betrachtet haben. Gončarov legte mit Oblomov (1849) einen biographischen Roman par excellence vor, in dem das subjektive Erleben des Protagonisten im Vordergrund stand. Im Bereich der Fiktionalität war das erlaubt, was im Bereich der Memoirenliteratur als irrelevant galt: die Darstellung des suchenden Bewusstseins, das nicht nur die offiziellen Prestigemaßstäbe, sondern auch die subjektive Lebensführung ständig hinterfragt. Turgenev modellierte in literarischer Objektivierung sein Coming of Age in einem nicht erhaltenen Roman mit dem Titel Zwei Generationen; über eine hohe autobiographische Relevanz verfügt auch sein erster publizierter Roman Rudin (1856), der ähnlich wie Oblomov programmatisch einen privaten Eigennamen im Titel trägt.26 Damit wird die „Interessantheit“ dieses individuellen Lebenslaufs signalisiert, der sich jenseits der staatlichen Anerkennungskategorien abspielt. Bei Dostoevskij spielt die biographische Thematik eine untergeordnete Rolle. Seine Romane konzentrieren sich auf das diskursive Aushandeln verschiedener ideologischer Positionen. Trotzdem verfolgte Dostoevskij 1870 ein Romanprojekt unter dem Titel Das Leben eines großen Sünders. Die Hauptidee bestand laut Dostoevskijs Notizen in der biographischen Darstellung eines hochmütigen Protagonisten, der über die Menschheit herrschen will. Nach einer Reise durch Russland verliert er seine Arroganz und gründet schließlich ein Kinderheim. In diesem Entwurf sind alle Möglichkeiten angelegt, die Dostoevskij auch für seine eigene Biographie 25 Horst-Jürgen Gerigk: Wsewolod Garschin: Die rote Blume. In: Die russische Novelle Herausgegeben von Bodo Zelinsky. Düsseldorf 1982, S. 112–119. 26 Ulrich Schmid: Narzissmus in der Krise. Turgenev und Rudin. In: Jan Peter Locher (Hrsg.): Schweizerische Beiträge zum XI. Internationalen Slavistenkongress in Bratislava, September 1993. Bern 1994, S. 341–353.

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als attraktiv erachtete: Er wollte berühmt werden, sich gleichzeitig aber auch in der Nachfolge Christi in Demut üben. Ein solch paradoxes Leben konnte er nur in den hysterischen und unwahrscheinlichen Plots seiner späten Romane abbilden. Tolstoj begann seine literarische Karriere bereits mit einer fiktionalisierten Wunschautobiographie, in der er sich selbst sogar eine in der Kindheit präsente Mutter andichtete.27 Unter umgekehrten Zeichen stand sein Spätwerk, in dem sich sein Ich-Ideal oft Mönchsfiguren annähert (Vater Sergij, 1890, Nachgelassene Aufzeichnungen des Mönchs Fedor Kuz’mič, 1905, Vater Vasilij, 1906).

Diener des Reiches Gottes Allerdings eröffnete sich auch im Bereich der Religion eine Grundspannung. Aus dem geistlichen Stand gibt es nur wenige genuine Autobiographien.28 Das ist vor allem damit zu erklären, dass in diesem Kontext das individuelle Leben per se nicht als bemerkenswert erscheint, sondern nur in seiner Ausrichtung auf die christliche Heilsgeschichte.29 Das dominante Genre der geistlichen Autobiographie ist deshalb die Beichte.30 Das vielleicht berühmteste Beispiel bietet hier Lev Tolstojs Beichte (1879) – ein Text, der die Wende von der Literatur zur Religion weniger dokumentiert als erst recht eigentlich vollzieht. Mit dieser Lebensbeschreibung, in der alles vor Tolstojs eigener religiöser Wende von 1878 als falsch und alles Spätere als richtig gewertet wird, präsentiert Tolstoj seinen Lesern ein neues Ich, das überhaupt öffentlicher Aufmerksamkeit würdig ist. Tolstoj selbst begab sich mit dieser Konzeption auf eine Gratwanderung: Auf der einen Seite suchte er den Ruhm und Applaus seiner Zeitgenossen, auf der anderen Seite versagte er ihn sich aus religiösen Gründen. Einen möglichen Habitus,

27 Pavel Birjukov: L.N. Tolstoj. Biografija [L.N. Tolstoj Biographie]. 3 Bde. Berlin 1921, Bd. 1, S. 57. 28 Vgl. Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel’ knig i publikacij v žurnalach [Geschichte des vorrevolutionären Russland in Tagebüchern und Memoiren. Kommentierte Bibliographie der Monographien und Zeitschriftenpublikationen]. 5 Bde. Moskva 1976–1989, Bd. III/1, S. 368f. Für die Jahre 1857–1894 verzeichnet diese maßgebliche Bibliographie zehn Autobiographien aus dem geistlichen Stand. 29 Dies ist bereits die Grundspannung der ersten frühneuzeitlichen russischen Autobiographie des Protopopen Avvakum. Vgl. Schmid: Ichentwürfe, S. 43–70. 30 Vgl. Sylvia Sasse: Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur. München 2009.

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der diesen double bind aushalten konnte, fand er in der Figur des Gottesnarren (jurodivyj), den er immer wieder als Vorbild bezeichnete. Eine interessante weitere Spielart bieten die anonymen Erzählungen eines russischen Pilgers, die erstmals 1881 in Kazan’ erschienen und erst vor kurzem dem Archimandriten Michail Kozlov (1826–1884) zugeschrieben wurden.31 In diesem Text erzählt ein Pilger, wie er von einem Starcen das richtige Beten und damit das richtige Leben erlernt: Eine ganze Woche lang sprach ich in meiner einsamen Hütte auf dem Felde in dieser Weise täglich sechstausend Jesusgebete, kümmerte mich um nichts anderes und achtete der fremden Gedanken nicht, wie sehr sie mich auch bestürmen mochten. […] Und was geschah? Ich gewöhnte mich so sehr an das Gebet, dass ich, sobald ich es auch nur kurze Zeit unterließ, das Gefühl bekam, als fehlte mir etwas, als hätte ich etwas verloren; dann fing ich wieder an zu beten, und in demselben Augenblick wurde mir froh und leicht ums Herz.32

Diese hesychastische Gebetspraktik dominiert später das ganze Leben des Pilgers, der dennoch in einer späteren Erzählung auf seine profane Kindheit und Jugend zu sprechen kommt. Als Dreijähriger verlor er seine Eltern und wuchs bei seinem begüterten Großvater auf, der eine Herberge im Gouvernement Orel führte. Nachdem er im Alter von sieben Jahren vom Ofen gefallen war und dabei seinen Arm gebrochen hatte, war er nicht mehr für Feldarbeit zu gebrauchen. Deshalb brachte ihm sein Großvater das Lesen und Schreiben bei. Gegen seinen Willen wurde er mit einem Mädchen verheiratet und erbte das Haus des Großvaters. Sein eifersüchtiger Bruder steckte das Haus jedoch in Brand – das Ehepaar konnte sich mit Mühe und Not retten und lebte fortan ärmlich in einer Hütte. Allerdings starb die Frau bald und so brach der Pilger zu seiner endlosen Wanderschaft auf.33 Das gesamte Leben des Pilgers steht unter dem Zeichen der Tugendliebe (Dobrotolubie), einer Sammlung von Lehrschriften verschiedener asketischer Autoren der christlichen Orthodoxie. Die äußere Lebenswirklichkeit ist für ihn nur insofern relevant, als sie ihm Gelegenheit zur Nachfolge Christi gibt. So ist ihm jede Erniedrigung und jede Beschimpfung willkommen, weil er darin den Nachweis 31 I. V. Zemenenko-Basin: Avtorstvo „Otkrovennych rasskazov strannika duchnovomu svoemu otcu“ [Die Autorschaft der „Aufrichtigen Erzählungen eines Pilgers für seinen geistigen Vater“]. In: Archimandrit Michail (Kozlov) (Hrsg.): Zapiski i pis’ma [Aufzeichnungen und Briefe]. Moskva 1996, S. 123–156. 32 Lydia S. Meli-Bagdasarowa (Hrsg.): Erzählungen eines russischen Pilgers. Luzern 1944, S. 19. 33 Ebd., S. 85–91.

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der Gnade Gottes erblickt. Auch seine Biographie ist nicht ein narratives Kontinuum, sondern eine Sammlung von Episoden, in denen sich die Gottgefälligkeit des eigenen Lebens immer deutlicher zeigt. Dabei ist auch eine klare Selektion bestimmter Ereignisse am Werk: Gar mancherlei ist mir im Leben zugestoßen, Gutes wie Schlimmes; nicht alles lässt sich in Kürze wiedergeben; vieles ist dem Gedächtnis auch schon entschwunden, denn ich war bemüht, vor allem das zu behalten, was meine träge Seele zum Gebet führen und anregen könnte; an das Übrige habe ich selten zurückgedacht – oder besser gesagt – ich war bestrebt, das Vergangene zu vergessen, gemäß den Lehren des heiligen Apostels Paulus: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strebe nach dem, was vor mir liegt.34

Eine solche autobiographische Konzeption bleibt blind für staatliche oder imperiale Rahmenbedingungen. Das einzige Reich, das zählt, ist das Reich Gottes. Der Pilger dieser Erzählungen zieht aus dieser Besonderheit nicht die radikale Konsequenz Tolstojs, der rabiat gegen alle staatlichen und kirchlichen Institutionen vorgeht und sie nachgerade als Teufelswerk verdammt. Es gibt indes eine geistliche Autobiographie, die genau diese Position einnimmt. Der Archimandrit Spiridon (i.e. Georgij Kisljakov, 1875–1930) veröffentlichte zunächst anonym im Jahr 1917 unter dem Titel Gesehenes und Erlebtes (Iz vidennogo i perežitogo) seine Lebensbeschreibung, die in einer aggressiven Ablehnung des Staats gipfelt. Auslöser für diese Haltung war das Trauma des Ersten Weltkriegs, den Spiridon als Feldprediger in der Ukraine erlebte. Die Anklage ist aber letztlich eine Selbstanklage. Spiridon verachtet sich, weil er dem Kampf der russischen Soldaten noch einen „religiös-ethischen Charakter“35 verliehen habe. Als satanisches Zeichen dieser Perversion erscheint ihm das Kreuz auf der Unterseite eines deutschen Kriegsflugzeugs. Spiridons eigenes Leben wird damit zum Prüfstein für die entscheidende Frage: Brauchen wir Christus oder nicht? Was ist uns teurer: Christus oder der Staat? Zwei Göttern können wir doch nicht dienen. […] Das ist der wichtigste Grund, weshalb ich es geradezu als meine christliche Pflicht erachtet habe, von meinem gegenüber Christus straffällig gewordenen Leben Beichte abzulegen.36

34 Ebd., S. 95. 35 Archimandrit Spiridon: Verstoßene Seelen. Graz, Wien, Köln 1994, S. 256. 36 Ebd., S. 259f.

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Spiridon erhebt seine eigene Autobiographie in den Rang eines Evangeliums, wenn er seine Lebensbeschreibung selbst als Erlösung betrachtet: Oh, wie bin ich glücklich, dass ich durch meine Beichte erneut bei Christus sein darf, dass der zarte Frühling meiner religiösen Kindheit sich erneut für mich entfaltet! Und wie bin ich meinem Herrn für meine Beichte dankbar!37

Fazit Die Beispiele aus den Bereichen des Dienstadels und der Geistlichkeit haben gezeigt, wie das Imperium als subjektbildende Kraft sowohl positiv als auch negativ wirken kann. Im weltlichen Kontext bezieht das autobiographische Ich seine Schreibermächtigung aus dem welthistorischen Projekt des Imperiums, das gestärkt werden muss. Im geistlichen Kontext ist das russische Imperium dagegen die Allegorie des weltlichen Schattendaseins, das ignoriert und in asketischer Praxis überwunden werden muss. Strukturell ist mit dem Reich Gottes gewissermaßen ein paralleles Imperium gegeben, das es zu verteidigen gilt. Spiridon verwendet explizit die militärisch-expansive Rhetorik, wenn er sein eigenes Lebensprojekt darlegt: Natürlich, wenn wir wirklich an Christus glauben und Ihn für den lebendigen christlichen Gott halten, müssen wir alle für ihn auf dem Schlachtfeld sterben und Ihn von der Ausbeutung durch den Staat befreien.38

Letztlich ist also das Imperium in seiner weltlichen oder geistlichen Ausprägung jener Referenzpunkt, der das russische Subjekt im späten 19. Jahrhundert erst mit einem Lebenssinn ausstatten kann. Eine autonome Autobiographie des Subjekts, das sich vornehmlich für sich selbst interessiert, lässt sich zu diesem Zeitpunkt vorerst nur im geschützten Reservat der Romanliteratur beobachten. Aber auch im Bereich der Literatur ist das Imperium immer präsent. In Alexander Herzens Byloe i dumy tritt Nikolaus I. als wichtigste Referenzgröße der autobiographischen Erzählung auf.39 Herzen inszeniert sich selbst als poetisches Subjekt, das auf die Prosa der russischen Verhältnisse stößt. Dieser Konflikt wird 37 Ebd., S. 263. 38 Ebd., S. 259f. 39 Ulrich Schmid: The Family Drama as an Interpretive Pattern in Aleksandr Gercen’s Byloe i dumy. In: Russian Literature 61 (2007), S. 67–102. Vgl. dazu auch den Beitrag von Denis Sdvižkov in diesem Band.

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hauptsächlich im Kampf gegen das zarische System ausgetragen, das mithin auch als Negativfolie für die Ausprägung eines subjektiven Bewusstseins dient. Herzen bezieht seinen Lebenssinn also gerade aus der Negation des imperialen Projekts. Deshalb gerät seine eigene Autobiographie nach dem Tod von Nikolaus I. ins Stocken. In Abwesenheit des ideologischen Gegners muss Herzen erst wieder zu einem neuen Verhältnis zum Imperium finden, das mit Alexanders II. Reformpolitik ein neues Gepräge erhalten hat. Herzens Ausweg aus diesem Dilemma ist bezeichnend: Sein Blick schweift weg von Russland und richtet sich auf die europäische revolutionäre Bewegung. Nicht er selbst ist nun der Held seiner autobiographischen Erzählung, sondern besser reüssierende Akteure der republikanischen Bewegung wie Arnold Ruge, Giuseppe Garibaldi, Stanisław Worcell oder Alexandre Ledru-Rollin. Herzens Autobiographie bietet also ein interessantes Beispiel einer Subjektkonzeption, die noch in ihrem Protest ganz auf das imperiale Projekt der Zaren bezogen bleibt.40 Immerhin aber verfügt die russische Literatur mit Herzens Byloe i dumy über das Modell eines politischen Bildungsromans, der alternative Prestigeräume eröffnet und damit auch den diskursiven Aktionsradius des Subjekts im Imperium entscheidend erweitert.

40 Schmid: Ichentwürfe, S. 327–370.

Carla Cordin

Von Schreibanlässen und Erinnerungsfunktionen Erkenntnisgewinn aus autobiographischer Praxis von Juristen im späten Zarenreich

In letzter Zeit […] ist das Interesse an Geschichte, an der eigenen und der fremden Vergangenheit gewachsen. Dieses Faktum zeugt zweifelsohne von einer Verstärkung der bewussten Beziehung zum Leben, von dem Bestreben, jene Ereignisse zu überdenken […], die Russland vor nicht so langer Zeit erlebt hat. […] Die neuen politischen und kulturellen Werte, die in den gesellschaftlichen Kreislauf geworfen wurden, müssen ins System eingefügt werden, müssen an die durch das Leben verkomplizierte Weltsicht herangeführt werden. Die Herausgabe eines neuen historischen Journals benötigt unter solchen Umständen keinerlei Rechtfertigung.1

Mit diesen Worten beginnt das Vorwort der Redaktion, das der ersten Ausgabe der Moskauer Zeitschrift Golos minuvšego (Stimme der Vergangenheit) im Jahr 1913 vorangestellt wurde. Die Zeitschrift vereinte zahlreiche biographische Porträts verstorbener Persönlichkeiten, historische Untersuchungen und autobiographische Texte, um so das Interesse der Öffentlichkeit an der „eigenen und fremden Vergangenheit“ zu bedienen. Mit den Ereignissen, „die Russland vor nicht so langer Zeit erlebt hat“ dürfte das Redaktionskomitee wohl in erster Linie auf die Revolution von 1905 mit der erstmaligen Einrichtung eines Parlaments in Russland anspielen. Allerdings findet sich im Heft auch eine autobiographische Schrift des Juristen und Publizisten Konstantin Arsen’ev (1837–1919) mit dem Titel Aus fernen Erinnerungen, die die Zeit der Großen Reformen von Zar Alexander II. (1818–1881) in den 1860er-Jahren und Arsen’evs persönliche Involvierung darin zum Thema hat. Auf diese Erinnerungsschrift wird später ausführlicher eingegangen. 1

Golos minuvšego. Žurnal istorii i istorii literatury [Stimme der Vergangenheit. Journal für Geschichte und Literaturgeschichte] 1 (1913), S. 5. Alle Übersetzungen aus dem Russischen sind meine eigenen.

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Im zitierten Vorwort der ersten Ausgabe der Stimme der Vergangenheit wird bemerkenswert offen reflektiert, dass Schreiben über die eigene Vergangenheit ein von gegenwärtigen Bedingungen und Zielen unmittelbar beeinflusster Prozess ist. Dies passt zu Volker Depkats Umschreibung von persönlichen Erinnerungen als „Akte sozialer Kommunikation“: „Als Akte sozialer Kommunikation erfüllen Autobiographien in konkreten Konstellationen genau identifizierbare Funktionen – und dies heißt zu fragen, wann und warum jemand über sein Leben reflektiert, wie er es schildert und was dies für die Stabilität symbolischer Sinnwelten bedeutet.“2 Die Frage nach dem Anlass für das Verfassen von Erinnerungen wird mit dieser Konzeption von Autobiographik unmittelbar in den Fokus gerückt. In der Stimme der Vergangenheit wird die Notwendigkeit etwas schriftlich zu fixieren im historischen Wandel gesehen, den Russland in den letzten Jahren durchlebt hat. Indem man diesen hier ganz explizit gemachten Schreibanlass ernst nimmt, eröffnet sich bereits ein Einblick in Wahrnehmungen, Interpretationen und Selbstverortungen des schreibenden Subjekts. Der vorliegende Aufsatz möchte sich mit dem Quellenwert von autobiographischem Schreiben auseinandersetzen und konkrete Wege aufzeigen, wie Selbstzeugnisse gewinnbringend analysiert werden können. Hintergrund dieser Überlegungen ist mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Anatolij F. Koni (1844–1927): Zwischen Recht, Volk und Macht. Die autobiographische Praxis eines liberalen Juristen in spätem Zarenreich und früher Sowjetunion.3 In der Folge wird zuerst kurz dargelegt, warum gerade das autobiographische Schreiben der Juristen im späten Zarenreich sich als Quelle anbietet, um Zugang zu zentralen Fragen dieser Zeit zu erhalten. Gleichzeitig werden einige zusammenfassende Überlegungen rund um Schreibanlässe und Erinnerungsfunktionen angeführt, die dem methodischen Umgang mit Selbstzeugnissen im nachfolgenden Text zugrunde liegen. Im Abschnitt Die Akteure und ihre autobiographischen Schriften wird danach eine knappe Übersicht zu den ausgewählten Figuren und deren Erinnerungstexten gegeben. Und im Rest des Aufsatzes wird schließlich an konkreten Beispielen vorgeführt, wie die Quellenarbeit funktionieren kann und welche ersten Erkenntnisse sich andeuten. Dabei wird im Abschnitt Mit Autobiographie und Biographie auf den Spuren des Imperiums auch auf die Frage

2 Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 1 (2003), S. 441–476, hier S. 476. 3 Der Aufsatz stammt aus der Anfangsphase des Dissertationsprojekts und wurde in einer früheren Version auf der Konferenz Autobiographische Praxis und Imperienforschung in Basel im Juni 2013 vorgestellt.

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eingegangen, welchen Stellenwert biographische Nachforschungen für die Analyse autobiographischer Texte haben. Angetrieben von aufgeklärten, einem westlichen Vorbild verpflichteten Reformbürokraten initiierte Zar Alexander II. in den 1860er-Jahren zahlreiche Reformen. Darunter war im Jahre 1864 auch eine Gerichtsreform, die der russischen Justiz erstmals moderne rechtsstaatliche Züge verlieh. Bis dahin hatte eine auf Stände ausgerichtete und stark formalisierte Rechtsprechung vorgeherrscht, in der Polizei, Gerichtskanzlei und Gouverneure die Verfahren maßgeblich bestimmten und dem Richter nur wenig Spielraum ließen. Die ganze Untersuchung beruhte auf Schriftlichkeit und sah eine Anhörung des Angeklagten vor dem Gericht nicht vor. Je nach Beweismittel erfolgten automatische Urteile – so zum Beispiel ein Schuldspruch im Falle eines Geständnisses.4 Mit dem Erlass des Zaren vom 20. November 1864 wurden Gerichtsstatuten in Kraft gesetzt, die die Prozessordnungen revolutionierten. Die Rechtsprechung funktionierte neu im mündlichen und öffentlichen Verfahren. Verteidiger und Ankläger rangen vor Publikum um ein Urteil, teilweise installierte man Geschworenengerichte. Für die unteren Instanzen gab es eine von der örtlichen Selbstverwaltung organisierte Lokaljustiz durch gewählte Friedensrichter. Die Gewaltentrennung minderte den Einfluss von Polizeibehörden, Gouverneuren und Ministerien auf den Vollzug der Rechtsprechung. Dank der Kassationsgerichte verfügten die Juristen nun über gewisse rechtsschöpfende Kompetenzen. Während Richter und Staatsanwälte ihre Aufgaben also völlig neu definiert bekamen, entstand mit der Anwaltschaft gar eine – selbstverwaltete! – Berufsgruppe, die bisher in dieser Form überhaupt nicht existiert hatte.5 Die Juristen der reformierten Gerichte waren in ihrem Berufsalltag stark konfrontiert mit der imperialen Politik und den radikalen gesellschaftlichen Strömungen, die die zweite Jahrhunderthälfte im Russischen Imperium prägten. Die Gerichtsreform an sich war zentraler Teil eines fortschrittlichen politischen Projekts, das aber schnell auf große Gegenwehr von konservativer Seite stieß und so in einem beständigen politischen Kampf zwischen Weiterentwicklung, Anpassung und Eingrenzung stand.6 Vor Gericht selber wurden dabei v.a. in den 1870er-Jahren die Taten der revolutionären Gruppierungen verhandelt, die mit Agitation in der Bevölkerung und gewaltsamen Anschlägen auf Politiker den 4 Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914. Frankfurt/M. 1996, S. 11–37. 5 Ebd., S. 39ff. 6 Z.B. Marina V. Nemytina: Sud v Rossii. Vtoroja polovina XIX – načalo XX vv [Gericht in Russland. Zweite Hälfte XIX – Anfang XX. Jahrhundert]. Saratov 1999, S. 247–48.

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Sturz der Zarenherrschaft forcieren wollten. In den Gerichtsprozessen gegen diese Oppositionellen wurde der Wunsch des Zaren und der konservativen Elite nach exemplarischer Bestrafung der Aufständischen nur zu deutlich. Zunächst wurde versucht, Druck auf die Juristen auszuüben, bevor dann politische Fälle mehr und mehr der Zuständigkeit der regulären Gerichte entzogen wurden.7 Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass die sich neu konstituierende, um Anerkennung kämpfende Berufsgruppe der Juristen in enger Verflechtung mit der imperialen Politik stand. Gerade in Reaktion auf die revolutionären Tendenzen in der Bevölkerung verlangte die Berufsausübung von den Juristen fast zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit diesem Spannungsfeld.8 Lebensläufe und autobiographisches Schreiben der Juristen bieten sich deshalb als „Sonden“9 an, um einen Zugang zu den Vorstellungen und Wahrnehmungen von Akteuren in dieser wechselhaften Zeit zu erhalten. Wie zu Beginn des Aufsatzes angedeutet, wird dabei von der Grundannahme ausgegangen, dass autobiographisches Schreiben sich als Akt sozialer Kommunikation in einem Setting von spezifischen Schreibanlässen und Erinnerungsfunktionen bewegt und so einen Einblick in die Prozesse der Selbstverortung historischer Akteure in ihrer Gegenwart bietet. Das autobiographische Reflektieren wird als Praxis der aktiven Darstellung und Hervorbringung des Selbsts in den Blick 7

Zu den politischen Prozessen Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 615ff. sowie Nikolaj A. Troickij: Advokatura v Rossii i političeskie processy [Die Advokatur in Russland und die politischen Prozesse] 1866–1904 gg. Tula 2000. Exemplarisch für den Druck auf die Juristen ist der Gerichtsprozess von 1878 gegen Vera Zasulič (1849–1919), die in der revolutionären Bewegung aktiv war und ein Attentat auf den Stadthauptmann von St. Petersburg verübt hatte. Justizminister Konstantin Ivanovič Palen (1833–1912) versuchte den Gerichtsvorsitzenden A. F. Koni (1844–1927), von dem später noch ausführlich die Rede sein wird, in mehreren Gesprächen maßgeblich zu beeinflussen. Nachdem die Geschworenen Zasulič trotzdem freigesprochen hatten, wurde Koni von der konservativen Presse massiv angefeindet und ein beruflicher Aufstieg wurde ihm für Jahre verwehrt. Auch Palen selber konnte sich nach diesem Ausgang des Prozesses nicht auf seinem Posten halten. Zu Zasulič neu auch: Stephan Rindlisbacher: Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulic und das radikale Milieu im späten Zarenreich. Wiesbaden 2014. 8 Laura Engelstein fasst dies treffend in eine Kurzformel: „Doctors, lawyers, statisticians, and economists held opinions on social issues, and because their activities were so heavily monitored and constrained, they also developed opinions on directly political issues.“ Laura Engelstein: The Dream of Civil Society in Tsarist Russia: Law, State, and Religion. In: Nancy Bermeo/Philip Nord (Hrsg.): Civil Society before Democracy. Lessons from Nineteenth-Century Europe. Boston 2000, S. 23–42, hier S. 27. 9 Simone Lässig: Die historische Biographie auf neuen Wegen? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (2009), S. 540–553, hier S. 553.

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genommen.10 Dazu wird die textuelle Struktur der autobiographischen Schrift ernst genommen11 und ihr Stellenwert in Lebensverlauf und Kommunikationsnetz des Autors nachverfolgt. Daraus ergeben sich Rückschlüsse auf Wahrnehmungen, Werte, Überzeugungen und Selbstverständnis der reflektierenden Person. Über die autobiographische Praxis von Juristen soll so eine Annäherung an größere Fragenkomplexe der Imperiengeschichte versucht werden. Besonders interessieren dabei zum Beispiel Wahrnehmung und Selbstverortung in Bezug auf die heterogenen ethnischen, religiösen und schichtspezifischen Strukturen des Russischen Reichs, die Visionen für die Zukunft des Imperiums und die eigene Rolle als Akteur im Großreich sowie das Verhältnis zwischen professionellen und zivilgesellschaftlichen Anliegen und dem autokratischen Staat.

Die Akteure und ihre autobiographischen Schriften Mit Anatolij F. Koni (1844–1927) rückt ein russischer Jurist ins Zentrum, der mit zu den bedeutendsten seiner Zeit gehörte.12 Seine autobiographische Praxis soll mit derjenigen von zwei Berufskollegen abgeglichen werden. Es sind dies der zu Beginn erwähnte Jurist und Publizist Konstantin K. Arsen’ev und der Anwalt Aleksandr I. Urusov (1843–1900). Diese Auswahl hat nicht den Anspruch, die Juristenschaft in Russland im späten Zarenreich repräsentativ abzubilden. Generalisierende Aussagen sind aufgrund der Heterogenität der Berufsgruppe auch

10 Zum Begriff der autobiographischen Praxis: Jochen Hellbeck: Introduction. In: ders./ Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia. Göttingen 2004, S. 12. „We have chosen to speak of autobiographical practices, rather than autobiographies, in order to encourage thinking about autobiographical texts not only as literary forms, not just as passive records, but also as active instruments of a given notion of self.“ 11 Zum Begriff der Textualität: Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, S. 453/54. „Jede Autobiographie ist ein Text, also ein in sich selbst geschlossenes Sinnganzes […].“ Dieser Ansatz möchte sich von der in der Forschungspraxis verbreiteten Tendenz lösen, Autobiographien „als eine Art Steinbruch“ zu nutzen, „aus dem je nach Erkenntnisinteresse einzelne Stücke als historische Fakten herausgebrochen werden“. Volker Depkat: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung. In: Thomas Rathmann/Nikolaus Wegmann (Hrsg.): „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Berlin 2004, S. 102–117, hier S. 109. 12 Zuletzt wieder die Betitelung von Koni als „Oberhaupt“ unter den Juristen und „verehrte Figur der Justizreform“ in: Bill Bowring: Law, Rights and Ideology in Russia. Landmarks in the Destiny of a Great Power. New York 2013, S. 5.

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nur schwer möglich.13 Vielmehr fällt die Wahl auf diese drei Persönlichkeiten, weil sie nicht nur ausführliche Reflexionen zu ihrem Leben verfasst haben, sondern auch besonders stark involviert waren in das erwähnte Spannungsfeld rund um Justiz, imperiale Politik und gesellschaftliche Entwicklungen. Anatolij Koni schloss 1865 sein Studium der Jurisprudenz in Moskau ab und war danach in unterschiedlichen Positionen direkt an der Umsetzung der Gerichtsreform an verschiedensten Orten im Zarenreich beteiligt. 1871 wurde er in die Hauptstadt berufen und in den 1880er-Jahren schließlich Oberstaatsanwalt am Kriminalkassationsdepartement in St. Petersburg. Nach seinem offiziellen Rücktritt 1896 wirkte er noch viele Jahre als Mitglied im Staatsrat und als Senator an der höchsten Gerichtsbehörde, bevor er sich nach dem Umsturz durch die Bolschewiki 1917 bis zu seinem Tod im Jahre 1927 auf juristische und sonstige Lehrund Vortragstätigkeit für diverse Institute und Organisationen konzentrierte.14 Konstantin Arsen’ev besuchte von 1849 bis 1855 die Kaiserliche Rechtsschule in St. Petersburg und arbeitete nach der Gerichtsreform als einer der ersten Anwälte in Russland. Er war maßgeblich an der Selbstorganisation des Berufsstandes 13 Für Darstellungen von Juristen und verwandten staatlichen Elitegruppen im Zarenreich und ihren politischen/gesellschaftlichen Überzeugungen z. B.: Baberowski: Autokratie und Justiz; Brian L. Levin-Stankevich: The Transfer of Legal Technology and Culture: Law Professionals in Tsarist Russia. In: Harley D. Balzer (Hrsg.): Russia’s Missing Middle Class. The Professions in Russian History. Armonk NY u. a. 1996, S. 223–243; Peter Liessem: Verwaltungsgerichtsbarkeit im späten Zarenreich. Der Dirigierende Senat und seine Entscheidungen zur russischen Selbstverwaltung (1864–1917). Frankfurt a. M. 1996; Dominic C. B. Lieven: Russia’s Rulers Under the Old Regime. New Haven, Conn 1989; Heike Kathrin Litzinger: Juristen und die Bauernfrage. Die Diskussion um das bäuerliche Grundeigentum in Russland von 1880 bis 1914. Frankfurt a. M. 2007 und natürlich auch zu den Juristen, die im Vorfeld der Gerichtsreform aktiv waren: Richard Wortman: The Development of a Russian Legal Consciousness. Chicago 1976. 14 Biographische Forschung zu Koni aus der Sowjetzeit: N. I. Leonov: Obščestvenno-političeskie vzgljady A. F. Koni v 60–70 gody XIX veke [Gesellschaftlich-politische Ansichten Konis in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jhd.s]. Moskau 1974 (unveröffentlichte Dissertation); Vladimir Nikolaevič Sašonko: A. F. Koni v Peterburge – Petrograde – Leningrade. Leningrad 1991; Vasilij Ivanovič Smoljarčuk: Anatolij Fedorovič Koni (1844–1927). Moskau 1981; Vasilij Ivanovič Smoljarčuk: A. F. Koni i ego okruženie [Koni und seine Umgebung]. Moskau 1990; Sergej Aleksandrovič Vysockij: Koni. Moskau 1988 und aktuell neben diversen Aufsätzen noch: Svetlana Aleksandrovna Domanova: Perepiska A. F. Koni kak istoričeskij istočnik [Die Briefwechsel von Koni als historische Quelle]. Мoskau 1999 (unveröffentlichte Dissertation); sonstige Arbeiten zu Koni neben einigen Aufsätzen v.a.: Elizabeth Ballantine: Koni and the Russian Judiciary, 1864–1917. Yale 1986 (unveröffentlichte Dissertation). Daneben existieren zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Rhetorik von Konis Gerichtsreden.

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beteiligt. Ab 1880 brachte er sein juristisches Wissen in diversen Gremien und Kommissionen ein und publizierte regelmäßig zu Fragen von Recht und Selbstverwaltung als Korrespondent der liberalen Zeitschrift Vestnik Evropy (Der Bote Europas).15 Aleksandr Urusov studierte zeitgleich mit Koni an der Juristischen Fakultät in Moskau und arbeitete danach als Anwalt, wo er mit spektakulären Verteidigungen in politischen Prozessen schnell große Bekanntheit erlangte. 1872 wurde er für einige Jahre ins Gouvernement Livland verbannt, weil man ihn der Unterstützung von verurteilten revolutionären Mandanten bezichtigte. Danach schickte man ihn als Staatsanwalt nach Warschau. Ab 1881 arbeitete er wieder als Anwalt in St. Petersburg und Moskau bis zu seinem Tod 1900.16 Anatolij Koni, Konstantin Arsen’ev und Aleksandr Urusov gehörten allesamt zur Elite der Juristen des Zarenreichs und spielten bei der Implementierung der Gerichtsreform und der Entwicklung des Juristenberufs eine wichtige Rolle. Sie alle waren Teil der Reformgeneration, haben in den 1850er bzw. 1860er-Jahren studiert und dann in verschiedensten Positionen an den frisch installierten Gerichtshöfen gearbeitet und sich stark engagiert in den Organen der Selbstorganisation des neuen Berufsstandes. Die schriftlichen Reflexionen über das eigene Leben und das berufliche Wirken der ausgewählten Personen sind sehr vielfältig und umfangreich. Keiner der drei hat eine klassische Autobiographie verfasst, die als Monographie auf das gesamte Leben zurückblickt. Alle drei haben aber zeitlebens Erfahrungen aus ihrem Alltag niedergeschrieben und insbesondere Arsen’ev und Koni haben da­raus Erinnerungsartikel geformt, die in zahlreichen zeitgenössischen Zeitschriften erschienen und einem breiten Publikum von ihrem Leben berichten sollten.17 Von Koni gibt es gar ganze Sammelbände mit Erinnerungen an die verschiedensten Gerichtsfälle oder Arbeitsorte und private biographische Begebenheiten sowie Erinnerungsporträts über verschiedene Personen aus dem Rechtsbereich oder 15 Biographische Forschung zu Arsen’ev: A. A. Simutenko: K. K. Arsen’ev i rossijskoe liberal’noe dviženie konca XIX–načala XX veka [Arsen’ev und die russische liberale Bewegung Ende 19. bis Anfang 20. Jahrhundert]. St. Petersburg 2006 (unveröffentlichte Dissertation). 16 Biographische Forschung zu Urusov: Anžela Vladimirovna Stepanova: A. I. Urusov – jurist i sudebnyj orator [Urusov – Jurist und Gerichtsredner]. Saratov 2005 (unveröffentlichte Dissertation). 17 Z.B. A. F. Koni: Iz zametok i vospominanij sudebnogo dejatelja. Osvidetel’stvovanie duševno-bol’nych [Aus den Notizen und Erinnerungen eines Gerichtstätigen. Die Begutachtung von psychisch Kranken] (1870–1895). In: Russkaja Starina 2 (1907), S. 259–287; K. K. Arsen’ev: Vospominanija K. K. Arsen’eva ob učilišče pravovedenija [Erinnerungen von K. K. Arsen’ev an die Kaiserliche Rechtsschule] 1849–1855. In: Russkaja Starina 4 (1886), S. 199–220.

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der Literaturszene.18 Urusov hat kurz vor seinem Tod damit begonnen, aus mehreren Alben gesammelter Versatzstücke seines Lebens Memoiren zu formen, die in Auszügen posthum veröffentlicht wurden19, zudem hat er sich zum Thema der Erinnerung auch publizistisch geäußert.20 Neben solchen veröffentlichten Texten hinterließen die drei Juristen in großem Umfang Tagebücher, Erinnerungsalben und Briefwechsel.21

Historischer Wandel als Anlass zum Verfassen von Erinnerungsschriften Wenn man nun – wie z. B. von Volker Depkat gefordert – danach fragt, „wann und warum jemand über sein Leben reflektiert“, dann fällt auf, dass sowohl Koni als auch Arsen’ev und Urusov immer wieder direkt in ihren Texten das eigene Erinnern begründen und auf den selbst erlebten historischen Wandel als Schreib­anlass verweisen – ganz im Stile des eingangs erwähnten Vorworts zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Stimme der Vergangenheit. Immer wieder merken die Autoren in ihren Erinnerungen an, dass Wandel zum Vergessen früherer Zustände führe und diese deshalb mit Erinnerungsschriften wach gehalten werden sollen. So ergänzt Koni beispielsweise seine Erinnerung an den Gerichtsprozess gegen die Revolutionärin Vera Zasulič mit einem mehrseitigen Exkurs zum damaligen Verhalten seines Vorgesetzten an der Kaiserlichen Rechtsschule, an der er gelegentlich unterrichtete. Er rechtfertigt dies, indem er schreibt, die Reaktion des Schulleiters sei „eine Episode, die würdig ist, vor dem

18 Z.B. A. F. Koni: Na žiznennom puti. [Auf dem Lebensweg]. St. Petersburg, Tallin, Berlin 1912–1929, Bände 1–5 in div. Auflagen. 19 Aleksandr Ivanovič Urusov: Memuary, zapiski i pis’mo knjazja A. I. Urusova (Posmertnye zapiski) [Memoiren, Notizen und ein Brief des Fürsten A. I. Urusov (hinterlassene Aufzeichnungen)]. In: Severnye cvety, al’manach. Moskau 1901, S. 160–168. 20 Aleksandr Ivanovič Urusov: Interesny li my [Sind wir interessant]? In: Knjaz’ Aleksandr Ivanovič Urusov (1843–1900): Stat’i o teatre, o literature i ob iskusstve, pis’ma ego, vospominanija o nem [Fürst A. I. Urusov: Artikel über Theater, Literatur und Kunst, seine Briefe, Erinnerungen an ihn]. 3 Bde., Bd. 2, hrsg. v. A. Andreeva/O. Gol’dovskij. Moskau 1907, S. 53–56. 21 Nachlass Koni u. a.: GARF (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii) F. 564 (Moskau); IRLI (Institut russkoj literatury) F. 134 (St. Petersburg); Nachlass Arsen’ev u. a.: IRLI F. 359 (St. Petersburg); Nachlass Urusov u. a.: RGALI (Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva) F. 514 (Moskau).

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Vergessen gerettet zu werden“.22 In einer Rückschau auf die Anfrage, Justizminister zu werden, spricht Koni sogar davon, eine Episode außerhalb des Hauptstrangs nur deshalb anzuführen „um die Stimmung dieser Minute zu illustrieren“.23 Dem Leser soll also auch in der veränderten Zukunft noch klar sein, unter welchen Voraussetzungen damals gehandelt wurde. Genau gleich argumentiert Arsen’ev, wenn er 1917 erläutert, wie in den 1850er-Jahren während des Krimkriegs die Beziehung der russischen Bevölkerung zu den französischen Künstlern an den Theatern der Hauptstädte gewesen sei: Er beschreibe sowohl die Gelassenheit als auch aufkommende Unruhe, um den Nachgeborenen klar zu machen, welche Bedingungen im damaligen Russland vorgeherrscht hätten.24 Dieses Erklären der vergangenen Zeit scheint auch Urusov sehr wichtig zu sein, denn er hält in seinen Memoiren fest, dass er zeitlebens alles, was als „Erinnerungsstück der Zeit“ diente, gesammelt habe. Diese „Erinnerungsstücke“ würden in späteren Jahren wertvoll sein, weil sie ermöglichten, die gewesenen Zeiten wieder auferstehen zu lassen.25 Diese Art der Argumentation findet sich sowohl in zeitnah verfassten autobiographischen Schriften als auch in Erinnerungen, die Ereignisse aus der entfernten Vergangenheit zum Gegenstand haben. So behauptet zum Beispiel Koni am Anfang seiner Politischen Notiz von 1878, in der er Ereignisse der nahen Vergangenheit schildert, dass ein zukünftiger Historiker auf die letzten fünf bis sechs Jahre als Zeit der inneren Widersprüche zurückblicken werde. Im nachfolgenden Text führt er dann all jene Fakten auf, die diesen zukünftigen Historiker zu so einer Einschätzung kommen lassen werden.26 Urusov benutzt die genau gleiche Wendung, wenn er in einem Text über das russische Theaterwesen – in das er selber aktiv involviert ist – davon spricht, dass es dank seiner Niederschriften der aktuellen Zustände „einem zukünftigen Historiker der russischen Bühne“

22 A. F. Koni: Vospominanija o dele Very Zasulič [Erinnerungen an den Fall Vera Zasulič] [1904–06]. In: A. F. Koni: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach [Gesamtausgabe in acht Bänden], Bd. 2, hrsg. v. S. Volk/M. Vydrja/A. Muratov. Moskau 1966–69, S. 24–252, hier S. 185. Zum Gerichtsprozess gegen Vera Zasulič und Konis Rolle darin vgl. Fußnote 7. 23 A. F. Koni: Moja Gefsimanskaja noč’ [Meine Nacht Gethsemane] [1906]. In: Koni: Sobranie sočinenij, Bd. 2, S. 360–376, hier S. 374. 24 K. K. Arsen’ev: Iz teatral’nych vospominanij [Aus Theater-Erinnerungen]. In: Golos minuv­ šego. Žurnal istorii i istorii literatury [Stimme der Vergangenheit. Journal für Geschichte und Literaturgeschichte] 2 (1917), S. 235–241, hier S. 235–237. 25 Urusov: Memuary, zapiski i pis’mo, S. 161 sowie Urusov: Interesny li my?, S. 55. 26 A. F. Koni: Političeskaja zapiska 1878 goda. Zakon 19 maja 1871 g. [Politische Notiz des Jahres 1878. Das Gesetz vom 19. Mai 1871.] [1878]. In: Koni: Sobranie sočinenij, Bd. 2, S. 329–347, hier S. 330.

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leichter gelingen werde, Urteile zu fällen.27 Das Veränderliche der Zeit wird hier also ganz bewusst angesprochen, und proaktiv begründet man das Festhalten der persönlichen Erlebnisse mit der Notwendigkeit, diese für die Analysten einer späteren Zeit zu erhalten.28 Wenn hingegen autobiographische Schriften erst Jahrzehnte nach den beschriebenen Ereignissen verfasst werden, wird zum Schreibanlass oft ausgeführt, dass man sich bewusst geworden sei, wie wenige „Zeugen dieser entfernten Zeit“ noch übrig seien und dass man diese vergangene Epoche deshalb nun unbedingt beschreiben wolle.29 So sollen offensichtlich auch die jüngeren Zeitgenossen einen Einblick erhalten in Zeiten, zu denen der historische Wandel den Zugang erschwert hat. Warum dieser Einblick überhaupt wichtig ist, wird von Koni, Arsen’ev und Urusov manchmal ganz unmittelbar erläutert. So schreibt zum Beispiel Urusov den Zeitungsartikel Sind wir interessant? und meint auf die Titelfrage: „Jede Strophe eines gehaltlosen Briefes wird in einigen Jahrhunderten die Bedeutung einer Zeugenschaft, fast schon eines Denkmals haben.“30 Oder Arsen’ev integriert in seine Erinnerung in der anfangs erwähnten Zeitschrift Stimme der Vergangenheit 1913 die Bemerkung, dass sein Leben, wie „in Miniaturansicht“ vieles der allgemeinen Geschichte zeigen würde.31 In solchen Äußerungen offenbart sich auch ganz grundsätzlich ein stark ausgeprägtes historisches Bewusstsein. Der Moskauer Historiker Andrej G. Tartakovskij (1931–1999), der sich intensiv mit russischen Selbstzeugnissen beschäftigt hat, ortete in diesem Bewusstsein für Geschichtlichkeit und Bedeutung der eigenen Lebensepoche einen der zentralen Schreibanlässe für Memoiren im 19. Jahrhundert.32

27 A. I. Urusov: Končina Ščepkina [Der Tod von Ščepkin] [Biblioteka dlja čtenija [Bibliothek für Lektüre] 7 (1863)]. In: Knjaz’ A. I. Urusov, Bd. 1, S. 135–148, hier S. 156. 28 Gleichzeitig wir mit dieser Argumentation Objektivität und Schlüssigkeit der eigenen Interpretationen gestärkt. So kann ein Geschichtswissenschaftler der Zukunft im Wissen der nachfolgenden Ereignisse auf die vergangene Zeit zurückblicken und diese folglich überlegen analysieren. 29 Arsen’ev: Iz teatral’nych vospominanij, S. 235. 30 Urusov: Interesny li my?, S. 53. 31 K. K. Arsen’ev: Iz dalekich vospominanij [Aus fernen Erinnerungen]. In: Golos minuv­ šego. Žurnal istorii i istorii literatury [Stimme der Vergangenheit. Journal für Geschichte und Literaturgeschichte] 1 (1913), S. 161–170, hier S. 165. 32 Ulrich Schmid: Ichentwürfe. Die russische Autobiographie zwischen Avvakum und Gercen. Zürich 2000, S. 39–40 und Jochen Hellbeck: Russian Autobiographical Practice. In: ders./ Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia. Göttingen 2004, S. 282. Hellbeck macht deutlich, dass die Gründe für dieses ausgeprägte historische Bewusstsein in der von der Intelligencija stark gefühlten Rückständigkeit Russlands gegenüber Westeuropa zu

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Diese Beispiele geben einen Eindruck davon, wie in den Erinnerungsschriften russischer Juristen ganz explizit damit argumentiert wird, dass historischer Wandel in seiner allgemeinsten Form – das Fortschreiten der Zeit, die Veränderung der Welt – Grund und Rechtfertigung für das Verfassen von autobiographischen Texten sein kann, mit denen man eine als historisch bedeutsam verstandene Zeit beleuchten will. Es wird beim Lesen dieser Schriften offensichtlich, wie stark die Erfahrung von historischem Wandel zur Reflexion über das eigene Leben anregte. Über das Sensorium für diesen Schreibanlass finden sich so bereits Hinweise auf die Bedeutung und Bewertung vergangener Ereignisse in der Wahrnehmung und Interpretation des Autors. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass dieses Erinnern auch unmittelbar dem Ziel diente, in einer wechselhaften Zeit Selbstvergewisserung zu erhalten und eine Möglichkeit zu finden, mit den neuen historischen Begebenheiten umzugehen.

Selbstvergewisserung und Werteerhaltung als Funktionen von Erinnerungsschriften Die Funktion der autobiographischen Praxis, Gelegenheit zur Selbstvergewisserung und Werteerhaltung unter sich verändernden historischen Begebenheiten zu sein, wird von Arsen’ev in seiner Schrift Vor einem halben Jahrhundert und jetzt unmittelbar angesprochen. Im autobiographischen Text, den er 1911 verfasste und veröffentlichte, denkt er laut über den Sinn von Erinnerung in Anbetracht der fortschreitenden Zeit nach. Er betont, dass man der Vergangenheit gerade ins Gesicht schauen solle, um ihr die nützlichen Lektionen für Gegenwart und Zukunft zu entnehmen.33 Direkt bezieht er sich dabei auf die Zeit der Reformen in den 1860er-Jahren und führt aus, wie wichtig es sei, immer wieder an diese Zeit und die Menschen, die damals für Veränderungen gesorgt hätten, zu erinnern. Arsen’ev schrieb 1911 also seine Erinnerungen an das vergangene halbe Jahrhundert mit dem explizit gemachten Ziel nieder, darin das zu betonen, was ihm auch unter neuen historischen Begebenheiten nach wie vor wichtig schien. Über die Funktion dieses Textes findet sich deshalb auch gleich ein Einblick in das Selbstverständnis und die Werthaltungen des Autors. Was Arsen’evs Interpretation der geschichtlichen Entwicklung war und welchen Überzeugungen er anhing, wird suchen sind. Vgl. zur Intelligencija und zu dem Boom autobiographischer Texte in Russland im 19. Jahrhundert auch nachfolgende Abschnitte. 33 K. K. Arsen’ev: Polveka tomu nazad i teper’ [Vor einem halben Jahrhundert und jetzt]. In: Vestnik Evropy 2 (1911), S. 303–315, hier S. 312.

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unmissverständlich klar, wenn er beklagt, dass in der Epoche der Gegenreformen in den 1880er-Jahren, das Feiern der Großen Reformen der 1860er-Jahre nicht mehr erlaubt gewesen sei. Neben der Gerichtsreform war damals vor allem die Aufhebung der Leibeigenschaft unter den Bauern 1861 von enormer Tragweite gewesen. 1886 aber hatte man das Feiern des 25-Jahre-Jubiläums verboten. 34 Dagegen argumentiert Arsen’ev: „Das Jubiläum, das mit solcher Skrupellosigkeit für nicht nötig befunden wird, ist nötig, ja unabdingbar […] um sich nochmals dem dunklen Vergangenen zuzuwenden und sich unumkehrbar […] zu distanzieren.“35 Fast schon programmatisch wird hier also aktives Erinnern gefordert. Ein klares Bild von politischem und gesellschaftlichem Wandel ist in den dargelegten Reflexionen omnipräsent und geht mit deutlichen Bewertungen einher: von der dunklen Vergangenheit der frühen Jahrhunderte mit den versklavten Bauern zur hochgelobten Epoche der Großen Reformen und weiter in die Zeit der Gegenreform mit ihrem skrupellosen Verbot des Erinnerns. Wie Arsen’ev andeutet, seien Erinnerungsschriften und Jubiläen zu den 1860er-Jahren vor dem Hintergrund dieses Wandels besonders wichtig. Seit der Zeitenwende der Gegenreformen in den 1880er-Jahren müssten die eigenen Werte aktiv propagiert werden, da sie auch noch 1911 von den Nachwehen dieser negativen Veränderungen verdrängt zu werden drohten. Mit ihren Erinnerungen, der Auswahl von Themen und deren spezifischen Darstellung und Bewertung konnten Koni, Arsen’ev und Urusov also unmittelbar ihre Sicht der Dinge festhalten und ihre eigenen Überzeugungen befördern. Autobiographische Reflexion wird dadurch zu einer Art Interessensvertretung zum Schreibzeitpunkt. Dies ist gerade dann besonders interessant, wenn sich darüber Spuren kollektiver Identitäten finden lassen. So deutet sich in den Erinnerungen der Juristen immer wieder eine gemeinsame Strategie der Selbstdarstellung an, die mit den Interessen der Berufskohorte zusammenhängt. Dieser Fokus auf die Profession ist am augenfälligsten bei Anatolij Koni. 1914 gab er zum 50. Jubiläum der Gerichtsreform einen Sammelband mit dem Titel Otcy i dety sudebnoj reformy (Väter und Söhne der Gerichtsreform) heraus.36 Im Vorwort zu dieser Sammlung zahlreicher in den letzten Jahren von Koni verfassten Porträts zu Juristen schreibt er, das Ziel dieses Werks sei „die Belebung der Vorstellung über die Zeit der Umsetzung der Gerichtsreform und ihre Pio34 Arsen’ev: Polveka tomu nazad i teper’, S. 309. 35 Arsen’ev: Polveka tomu nazad i teper’, S. 315. 36 A. F. Koni: Otcy i deti sudebnoj reformy (k 50-letiju Sudebnych Ustavov 1864 g., 20 nojabrja 1914) [Väter und Söhne der Gerichtsreform (zum 50. Jubiläum der Gerichtsstatuten von 1864, 20. November 1914)], Moskau 1914.

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niere“.37 1914 sollte also mit dem Band Väter und Söhne der Gerichtsreform dem zeitgenössischen Publikum jene Vergangenheit näher gebracht werden, von der es in der sich rasant verändernden Welt schon keine Vorstellung mehr gebe. Dass die Zeit der Gerichtsreform von 1864 und die daran beteiligten Persönlichkeiten aber unbedingt jeden Wandel von Gesellschaft und Politik überdauern sollten, war Koni offensichtlich ein großes Anliegen. Er widmete die Sammlung biographischer Skizzen der jungen Juristengeneration und es wird deutlich, dass Koni hier über seine autobiographische Praxis den Nachwuchskräften vorbildliches Verhalten nahelegen wollte. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass eine Sammlung von Biographien als Teil der autobiographischen Praxis Konis verstanden wird. Es liegt aber nahe davon auszugehen, dass in solchen Porträts – verfasst über das professionelle Leben von Berufskollegen – immer auch über das eigene „Selbst“ nachgedacht wurde. Nicht umsonst fasst Jochen Hellbeck den Begriff der „autobiographischen Praxis“ sehr offen und spricht davon, dass autobiographische Praktiken nicht nur Erinnerungstexte umfassen können, sondern z. B. auch visuelle Repräsentationen und Aufführungen: Reden, mündliche Befragungen oder Bilder. Kurz alles, was als Instrument für eine aktive Darstellung des Selbst dient – und das können auch biographische Skizzen über Berufskollegen sein.38 Auch von der anderen Seite her gedacht spricht vieles dafür, dass die Grenze zwischen Biographie und Autobiographie als fließend anzusehen ist. Denn auch für das Verfassen eines klassischen autobiographischen Textes muss immer eine gewisse Außenposition zum Leben eingenommen werden. Der russische Literaturtheoretiker Michail M. Bachtin (1895–1975) hat dafür den Begriff der vnenachodimost’ (Außerhalbbefindlichkeit) geprägt.39

Porträtieren als kollektive autobiographische Praxis Das weit verbreitete Porträtieren der Juristen untereinander darf nicht isoliert betrachtet werden. Nur wenn das Verfassen von Personenporträts als Praxis ernst genommen wird, zeigt sich, dass diese Form bereits ein Einschreiben in eine

37 Ebd., S. III. 38 Hellbeck: Introduction, S. 12/13. Vgl. auch die konkreten Ausführungen von Hellbeck zu Konstellationen, wo das biographische Werk selber zur autobiographischen Praxis des Autors wird in: Jochen Hellbeck: The Diary between Literature and History: A Historian’s Critical Response. In: Russian Review 4 (2004), S. 621–629, hier S. 623. 39 Ausführungen in Schmid: Ichentwürfe, S. 20ff.

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gesellschaftliche Tradition bedeutete, die viel über das Selbstverständnis dieser Menschen aussagt. Erinnerungstexte über Zeitgenossen zu verfassen boomte im Russland des 19. Jahrhunderts.40 Es entstand ein regelrechtes Genre der Vospominanija sovremennikov (Erinnerungen der Zeitgenossen). Diese waren ein Phänomen der Intelligencija, die sich in – oft zur allgemeinen Politik kritisch eingestellten – Zirkeln zusammenschloss.41 Die Erinnerungen der Zeitgenossen wurden selber zum konstituierenden Merkmal dieser intellektuellen Elite. Sie waren – wie Barbara Walker treffend schreibt – „selber eine Institution“ der gebildeten Schicht. Ihre Funktion war es, über das Erinnern an wichtige Exponenten der eigenen Gruppe den Zusammenhalt des Netzwerks zu bestärken.42 Dazu dienten neben Erinnerungen an wichtige Persönlichkeiten auch weitere Vergangenheitsberichte aller Art, in denen der Erinnernde dem potentiellen Leser die Lebendigkeit der Beziehung zur früheren Zeit eindringlich deutlich zu machen versucht. Dadurch wurden die Wichtigkeit des Erlebten und die Tragfähigkeit der damaligen Allianzen unterstrichen und damit auch deren Bedeutung bis hinein in die Gegenwart postuliert. Immer wieder wurde dazu in Form kleiner Nebensätze unterstrichen, dass der Lesende es hier mit autobiographischen Verarbeitungen zu tun habe, dass der Autor also direkter Zeuge der beschriebenen Ereignisse sei und dass diese bis heute nachwirken würden. Kein Adjektiv fällt in diesem Zusammenhang häufiger als „lebendig“ (živoj). 43 Das klingt dann beispielsweise in Konis Erinnerung Aus Jugend- und Altersjahren so: „Ich erinnere mich lebendig an den 8. März […]“;

40 Dies im Kontext des grundsätzlich gesteigerten Interesses für Autobiographien in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vgl. für eine Aufzählung der Zeitschriften, die damals begannen, regelmässig Lebenserinnerungen zu publizieren: Schmid: Ichentwürfe, S. 38. 41 Der Begriff Intelligencija wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland geläufig und bezeichnete in seiner unspezifischen Form die Gruppe derer, „die sich schon ihrer Bildung nach vom ‚Volk‘ abhoben und die auf Grund ihrer aufgeklärten, westeuropäisch-orientierten Geisteshaltung der Monarchie und dem bürokratischen Apparat entfremdet“ waren. Richard Pipes: Die historische Entwicklung der russischen Intelligentsia. In: ders. (Hrsg.): Die russische Intelligentsia. Stuttgart 1962, S. 66. Gleichzeitig war in dieser gebildeten Schicht das moralische Pflichtgefühl prägend, die eigenen Fähigkeiten für eine bessere Zukunft Russlands und der Welt einzusetzen. Victoria Frede: Doubt, Atheism, and the Nineteenth-Century Russian Intelligentsia. Madison 2011, S. 14. 42 Barbara Walker: On Reading Soviet Memoirs. A History of the “Contemporaries” Genre as an Institution of Russian Intelligentsia Culture from the 1790s to the 1970s. In: Russian Review 3 (2000), S. 327–352, hier S. 330. 43 Walker: On Reading Soviet Memoirs, S. 335. Walker verweist darin auch konkret auf den exzessiven Gebrauch von „lebendig“-Variationen in den Erinnerungen des vielleicht ersten russischen Intelligent Aleksandr Radiščev (1749–1802).

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„bis heute, mehr als […] 50 Jahre später, ist mir lebendig in Erinnerung […]“ oder „ er zeichnete sich vor mir lebendig ab, als ich nach 40 Jahren eine Rede über ihn halten musste […]“.44 Die Praxis des „lebendigen“ Erinnerns an wichtige Figuren aus der Vergangenheit beschreibt Victoria Frede beispielhaft in ihrer Monographie Doubt, Atheism, and the Nineteenth-Century Russian Intelligentsia. Sie berichtet darin von Intellektuellenzirkeln, in denen große Aufmerksamkeit auf die Person und ihren Lebensstil gelegt wurde und allfällige moralische Verfehlungen oder Abweichungen vom Idealweg stark kritisiert wurden. Dies geschah mit Vorliebe, indem Zeitgenossen Erinnerungen an von diesen revolutionären Intelligencija-Zirkeln besonders geschätzte Figuren verfassten. So wurde etwa der Literaturkritiker und Publizist Vissarion Grigor’evič Belinskij (1811–1848) oder der Philosoph und Schriftsteller Aleksandr Ivanovič Gercen (Herzen) (1812–1870) in lobpreisender Art und Weise einer jüngeren Generation vorgehalten, damit diese sich ein Vorbild nehme und ihre Mission nicht vernachlässige.45

Juristische Berufsethik und Verortung in der Zivilgesellschaft Die Selbstverortung von Koni, Arsen’ev und Urusov in der intellektuellen Elite des Zarenreichs funktioniert also nicht zuletzt über die Praxis des Schreibens von biographischen Skizzen. Doch was lässt sich daraus spezifischer über das Selbstverständnis dieser Juristen lernen? Wie kann der Anspruch eingelöst werden, über diese Reflexionen Wahrnehmung von Struktur und Gesellschaft des imperialen Russlands näher zu beleuchten? Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der konkreten Ausgestaltung der Werte und Verhaltensweisen, die in den Erinnerungen betont werden. Welche Errungenschaften der Juristen nämlich genau an die nächste Generation weitergegeben werden sollten, daran ließ gerade Koni in seinen Texten keinen Zweifel. Er porträtierte im Sammelband zu den Vätern und Söhnen der Gerichtsreform und auch davor und danach in unzähligen weiteren solcher Skizzen die – wie er sagt – „helle Seite“ der Reformer.46 Die Porträts über Leben und Wirken herausragender Juristen versehen diese Personen mit einer Aura, die sich in der Großzahl der Texte ähnelt. Es ist die Rede vom 44 A. F. Koni: Iz let junosti i starosti [Aus Jugend- und Altersjahren] [in div. Zeitschriften und Sammelbänden ab 1912, 1922 in der analysierten Form]. In: Koni: Sobranie sočinenij, Bd. 7, S. 65–158, hier S. 79, 96, 126. 45 Frede: Doubt, Atheism, and the Nineteenth-Century Russian Intelligentsia, S. 137. 46 Koni: Otcy i deti sudebnoj reform, S. IV.

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hervorragenden, edlen Juristen, dem nichts wichtiger sei, als die helle Zeit der 1860er-Jahre und die Statuten der Gerichtsreform in ihrer ursprünglichen Form zu bewahren. So schreibt Koni über Aleksandr Urusov und den Moskauer Juristen Fedor N. Plevako, dass sie den „Dienst am Wort“ mit Würde verrichteten und der Gerichtsreform immer treu geblieben seien.47 Und über Arsen’ev meint er: „Tiefe und bedingungslose Erhabenheit in Formen und Mitteln des Kampfes, genaues Studieren des Falles […], das sind die […] Merkmale von ihm als Verteidiger. […] Arsen’ev war […] ein leidenschaftlicher Verteidiger der ‚alten’ Gesetzbücher, v.a. des Geschworenengerichts.“48 Dass Koni hier durchaus selektiv erinnerte, war ihm selber bewusst und schien ihm durchaus legitim und zweckmäßig: So schreibt er nämlich in der Einleitung zum Porträtband von 1914, sein Urteil über die Juristen richte sich nur „nach den besten […] Eigenschaften ihrer Persönlichkeit und Tätigkeit“.49 Diese Eigenschaften waren es offensichtlich, die Koni an die zukünftige Generation von Juristen weitergeben wollte, die unter gewandelten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen einen ebensolchen Einsatz für die Justiz leisten sollte, wie er ihn in der Zeit der Reform in den 1860er-Jahren für seine Kollegen – und damit auch für sich – skizzierte. Es liegt nahe, dass die Erinnerungsschrift hier in Zusammenhang mit der Professionalisierung des neuen Berufsstandes zu betrachten ist. Der junge Beruf musste sich behaupten und eine Berufsidentität erschaffen.50 Hierbei war die Praxis des autobiographischen Schreibens offensichtlich hilfreich. Koni und zahl-

47 A. F. Koni: Dva sudebnych oratora [Zwei Gerichtsredner]. In: Koni: Na žiznennom puti, Bd. 2, S. 416–429, hier S. 427. Veröffentlichung zudem in erweiterter Form im Sammelband Väter und Söhne der Gerichtsreform von 1914. 48 A. F. Koni: Konstantin Konstantinovič Arsen’ev. In: Russkaja Starina 2 (1908), S. 245–255, hier S. 247–248; Veröffentlichung zudem in erweiterter Form im Sammelband Väter und Söhne der Gerichtsreform von 1914. 49 Koni: Otcy i deti sudebnoj reform, S. IV. 50 Jane Burbank: Discipline and Punish in the Moscow Bar Association. In: Russian Review 1 (1995), S. 44–64, hier S. 48. Burbank geht in diesem Aufsatz der erfolgreichen Formierung einer Berufsidentität unter den Anwälten am Beispiel der Moskauer Anwaltskammer nach und verweist dabei v.a. auf Disziplinierungspraktiken der Berufsgruppe. Auf S. 63 erwähnt Burbank auch kurz Konis Väter und Söhne der Gerichtsreform und meint, dass darin die Hoffnung aufscheine, das berufliche Erbe einer weiteren Generation von Juristen weiterzugeben. Zur Professionalisierung der Anwälte auch: Jörg Baberowski: Rechtsanwälte in Russland, 1866–1914. In: Charles E. MacClelland/Stephan Merl/Hannes Siegrist (Hrsg.): Professionen im modernen Osteuropa. Berlin 1995, S. 29–59. Und grundsätzlich zu Professionalisierung und deren Ausformung im russischen Kontext: Harley D. Balzer: Introduction. In: ders. (Hrsg.): Russia’s Missing Middle Class. The Professions in Russian History. Armonk NY u. a. 1996, S. 3–16.

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reiche weitere Juristen verfassten Porträts über jene Exponenten der Zunft, die ihnen vorbildhaft erschienen. Erinnerungsschriften über Berufskollegen erhielten so Modellcharakter. Grundlegende Werte der Profession wie bedingungsloser Einsatz für das neutrale Recht ungeachtet politischen Drucks, Kampf gegen Veränderungen an den Reformstatuten oder hingebungsvolle Ausübung des Berufs wurden als Handlungsmaximen festgeschrieben – nicht zuletzt aus dem Anlass, dass die sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen diese Werte ins Wanken zu bringen drohten. Im Nachwort zum Sammelband kritisiert Koni denn auch den mangelnden Einsatz zahlreicher Juristen der ersten Stunde, die 1914 nicht mehr voll und ganz für die Ideale der Reformzeit einstünden.51 Das optimale juristische Verhalten im Sinne der neuen Gerichtsstatuten fällt als Beschreibungskomponente in den Porträts auf. Daneben gibt es aber auch Elemente der Selbstdarstellung, die es erlauben, die Professionalisierungsbestrebungen der Juristen in einem breiteren Kontext zu sehen. Koni führt in der Einleitung zum Porträtband aus, dass seine biographischen Skizzen die Juristen inklusive ihrer „Arbeiten in Wissenschaft, Literatur und Kunst“ darstellen würden, um einen „ganzheitlicheren Begriff “ von ihrer Vielseitigkeit zu generieren.52 Und tatsächlich findet sich kaum eine Erinnerungsschrift von Koni – aber auch von Arsen’ev oder Urusov – an einen Berufsgenossen, in dem dieser nicht als obščestvennyj dejatel’, als öffentlich Tätiger, als gesellschaftlicher Akteur bezeichnet wird. Die Berufskollegen werden als vorbildliche Mitglieder einer größeren Gemeinschaft von engagierten Menschen dargestellt, die sich vielfältiger kultureller oder sozialer Aufgaben widmen und dabei das Wohl der gesamten Bevölkerung im Sinne hätten. Andreas Renner beschreibt in seiner Studie Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich, wie das Monopol des Staates auf das öffentliche Wohl nach den 1860er-Reformen immer mehr von freien Zusammenschlüssen in Vereinen oder Berufsgruppen herausgefordert wurde. Diese waren von einem nur schwer zu fassenden, vagen Geist der gesellschaftlichen Pflicht durchdrungen und begründeten so eine Art Zivilgesellschaft.53 Dazu zählt Renner auch eine neue, urbane Kultur, in der Museen, Bibliotheken, Theater und diverse weitere soziale und kommunikative Infrastrukturen wichtiger wurden.54 Obščestvennost’ wird so zur Kategorie der Selbstbeschreibung einer gesellschaftlichen Gruppe, die eine

51 Smoljarčuk: Anatolij Fedorovič Koni, S. 56–57. 52 Koni: Otcy i deti sudebnoj reform, S. IV. 53 Andreas Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875. Köln 2000, S. 146–159. 54 Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich, S. 155.

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soziale und politische Agenda hatte und sich in unterschiedlichen Formationen selber organisierte.55 Wenn Koni, Arsen’ev und Urusov in ihren Porträts die optimalen Juristen also mit auffallender Regelmäßigkeit als gesellschaftliche Akteure bezeichnen, beförderten sie damit ihren Anspruch, die Zukunft von Staat und Gesellschaft maßgeblich mit zu beeinflussen. Welche Bedeutung dieses Konzept haben kann, mag Konis Porträt über den polnischstämmigen Juristen Vladimir Spasovič (Włodzimierz Spasowicz) (1829–1906) ein Stück weit verdeutlichen, das ebenfalls im mehrfach zitierten Sammelband zu den Vätern und Söhnen der Gerichtsreform enthalten ist.56 Während Spasovič genauso wie die anderen Porträtierten zuerst als würdiger Fachmann und treuer Verfechter der neuen Gerichtsstatuten beschrieben wird, behandelt der Schluss der Skizze, immerhin ein Fünftel des Textes, das polnische Selbstverständnis des Juristen. Ein allfälliger russisch-polnischer Konflikt wird aber elegant im Bild des gesellschaftlichen Akteurs aufgelöst, wenn Koni nach langer Ausführung zum Polentum des berühmten Advokaten im letzten Satz alle möglichen Zweifel an dessen Person mit den Worten ausräumt, Spasovič habe die Vorstellung vom Menschen als Diener an der gesellschaftlichen Entwicklung geprägt.57

Mit Autobiographie und Biographie auf den Spuren des Imperiums Wahrnehmung und Aushandlung von Zugehörigkeit zu nationalen Gruppen oder gesellschaftlichen Wertegemeinschaften verweist auf ein Forschungsfeld, das in letzter Zeit immer wieder mit einem biographischen Fokus beleuchtet worden ist. Die neue Imperiengeschichte fragt nach der Wechselwirkung zwischen Individuum und Imperium.58 Ausgehend von der „prinzipiellen Heterogenität“59 im imperialen Staat interessiert sie sich für die „shifting identities“ von Menschen, die Akteure in ganz verschiedenen Gemeinschaften sein können.60 Ilja Gerasimov 55 Ilʹja Vladimirovič Gerasimov: Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization, 1905–30. Basingstoke 2009, S. 23. 56 Vgl. zu Spasovič auch den Aufsatz von Jens Herlth in diesem Sammelband. 57 A. F.  Koni: Vladimir Danilovič Spasovič (1829–1907) [1903]. In: ders.: Otcy i deti sudebnoj reformy, S. 227–235, hier S. 235. 58 David Lambert: Introduction: Imperial Spaces, Imperial Subjects. In: ders./Alan Lester (Hrsg.): Colonial Lives Across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century. Cambridge u. a. 2006, S. 1. 59 Gerasimov: Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia, S. 140. 60 Alexander P. Kaplunovskij: Die Politisierung der Angestellten im späten Zarenreich. In: Walter Sperling (Hrsg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im

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spricht von der Biographie als Möglichkeit, die verschiedenen Zugehörigkeiten, die ein Bewohner des Imperiums aufweisen kann, an einer Person exemplarisch aufzuzeigen. So vereinen sich im Leben eines einzelnen Menschen möglicherweise die Biographien eines Nationalistenführers, eines hervorragenden Wissenschaftlers und eines erfolgreichen Staatsangestellten.61 Weiter lässt sich danach fragen, wie über Lebensgeschichten – oder besser „Lebensgeographien“ Verbindungen innerhalb des dynastischen Großreichs entstanden sind, die das Imperium in seiner Räumlichkeit mitbestimmten und beispielsweise über philanthropische Kampagnen oder berufliche Netzwerke den Zusammenhalt dieser „distanzierten kulturellen Strukturen“ ermöglichten.62 Dahinter steht omnipräsent die Frage, wie Menschen im – bezogen auf Russland autokratischen – Imperium „über sich selbst und ihre vorgestellten Gemeinschaften zu bestimmen versuchten“ 63. Hier überschneiden sich Fragen nach Professionalisierungsbestrebungen und solche nach zivilgesellschaftlichen Aktionsmustern. Beides ist nur analysierbar unter Einbezug des Verhältnisses zum wichtigsten machtpolitischen Akteur, dem Staat.64 Für die Annäherung an zahlreiche der angesprochenen Fragen scheint der Fokus auf Juristen geradezu prädestiniert zu sein. Das Spannungsfeld rund um die politisch umstrittene Gerichtsreform in Zeiten gesellschaftlicher Radikalisierung wurde bereits angesprochen. Es kommt der universelle Anspruch des Rechts auf Einheitlichkeit im beherrschten Territorium hinzu, der sich nicht immer mit der für Imperien typischen Vielfalt von Völkern und rechtlichen Traditionen vereinen ließ. Und gerade vor dem Hintergrund der ethnischen und konfessionellen Heterogenität des Landes bietet die Justiz noch weitere Anknüpfungspunkte. So ist die Frage nach dem Umgang des imperialen Staates mit religiöser Vielfalt oder nationalen Russischen Reich 1800–1917. Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 313–344, hier S. 313. 61 Gerasimov: Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia, S. 140. Aktuelle Arbeiten mit ähnlichem Fokus sind z. B. auch Michail Chodarkovskij: Bitter Choices. Loyality and Betrayal in the Russian Conquest of the North Caucasus. Ithaca 2011 oder Stephen M. Norris/Willard Sunderland (Hrsg.): Russia’s People of Empire. Life Stories from Eurasia, 1500 to the Present. Bloomington Ind. u. a. 2012. 62 Lambert: Introduction: Imperial Spaces, Imperial Subjects, S. 2–3, 10, 13. Vgl. ferner auch die Überlegungen zum Einfluss der Mobilität in den Karrieren der Staatsangestellten auf deren Imperien- und Raumwahrnehmung: Malte Rolf: Einführung: Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1850–1918). In: Geschichte und Gesellschaft 1 (2014), S. 5–21. 63 Walter Sperling: Jenseits von Autokratie und Gesellschaft: Zur Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Jenseits der Zarenmacht, S. 31. 64 Kaplunovskij: Die Politisierung der Angestellten im späten Zarenreich, S. 314. Im ganzen Sammelband von Sperling wird dafür plädiert, nicht a priori von einer Dichotomie zwischen Autokratie und Gesellschaft auszugehen.

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Identifikationen eine elementare Wirkungsstätte des Rechts. Oder – wie Laura Engelstein es in ihrem Aufsatz The Dream of Civil Society ausdrückt – das Recht und insbesondere die Gesetze zur Religion sind der Ort, an dem sich die Frage nach der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft am deutlichsten stellt.65 Dass Juristen nicht nur unmittelbar durch die Aushandlung von Gesetzesartikeln oder deren Auslegung mit diesen Fragen konfrontiert wurden, sondern auch auf einer grundsätzlicheren Ebene dafür sensibilisiert waren, ist naheliegend. Vor diesem Hintergrund interessieren also ganz besonders Wahrnehmungen, Selbstverortungen und Zukunftsvisionen eines Konis, Arsen’evs oder Urusovs im Hinblick auf das Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionsgemeinschaften, aber auch unterschiedlichster sozialer Schichten und politischer/weltanschaulicher Gruppierungen im Imperium. Die Analyse autobiographischer Reflexionen scheint dafür besonders vielversprechend. Gleichzeitig liegt es auf der Hand, dass erst der Abgleich dieser persönlichen Spiegelung mit der Biographie des Verfassers und seinem tatsächlichen Agieren einen Einblick in Handlungsspielräume und Selbstverständnis der Individuen ermöglicht. Erst durch die Einordnung der autobiographischen Praxis in den Lebensverlauf wird deren Stellenwert und Bedeutung erkennbar. So werden die Schriften der ausgewählten Juristen nicht als isolierter vollendeter Korpus betrachtet, sondern als lebendige, sich verändernde Ergebnisse im Prozess der Selbstdarstellung. Diese Selbstdarstellung ist erst zusammen mit den konkreten Umständen des Schreibens – wie beispielsweise Initiatoren, Publikationswege, Adressaten, Überlieferungsgeschichte – gewinnbringend analysierbar. Die biographische Arbeit, die allein dafür schon nötig ist, wird ergänzt um den Blick auf das konkrete Handeln im Lebensverlauf. Dabei darf der Fokus durchaus ein zielgerichteter sein. Es geht nicht um eine möglichst vollständige Rekonstruktion der biographischen Begebenheiten von der Wiege bis zur Bahre. Vielmehr soll die autobiographische Praxis mit ihren Zielen, Funktionen, Legitimationsstrategien und Selbstdarstellungen die Richtung vorgeben, in der biographisch nachgeforscht wird. Der punktuelle Abgleich zentraler Elemente der autobiographischen Praxis mit dem tatsächlichen Einsatz in professioneller Tätigkeit, Berufsorganisationen, politischen Gremien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, publizistischen Organen oder privaten Korrespondenzkreisen scheint vielversprechend, um Einsatz, Überzeugungen, Widersprüche, Leerstellen und Handlungs(un)fähigkeiten genauer erkennen zu können.66 So ermöglichen 65 Engelstein: The Dream of Civil Society in Tsarist Russia, S. 31. 66 Heiko Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Brigitte Hilmer/Georg Lohmann/Tilo Wesche (Hrsg.): Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Weilerswist 2006, S. 47.

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Autobiographie und Biographie gemeinsam eine Annäherung an aktuelle Fragen der Imperiengeschichte.

Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt und räumlicher Weite Im Hinblick auf die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Zusammensetzung im Imperium fällt gerade in den autobiographischen Schriften von Koni die prominente Stellung auf, die Menschen unterschiedlichster Schicht und Herkunft zugewiesen bekamen. Klassisches Beispiel ist die Erinnerung an eine Kutschenfahrt um 1890 in der Umgebung von Jalta auf der Halbinsel Krim. Im Gefährt saßen laut Koni neben ihm selber noch „ein stellvertretender Staatsanwalt von einem der nordwestlichen Kreisgerichte mit Ehefrau, ein einheimischer reicher Tatare in geschmücktem Kostüm, eine französische Gouvernante und ein außerordentlich redseliger Gutsbesitzer aus dem Umland von Saratov, der über die Krim staunte, wohin es ihn verschlagen hatte, nachdem er zwanzig Jahre ohne Unterbruch auf seinem Hof verbracht hatte“. Dieses Setting entwickelt sich in Konis Bericht zur Arena des Gerichts über ihn – den Richter. Der Landbesitzer, der die letzten zwei Jahrzehnte nicht von seinem Gut weggekommen ist, beginnt nämlich, von der Gerichtsbehörde in Saratov zu erzählen und bald kommt die Rede auf Koni, den Zasulič-Fall und einige seiner Entscheide bei Kassationsfragen. Der stellvertretende Staatsanwalt aus den nordwestlichen Gouvernements mischt sich ein und zusammen diskutieren sie über das Geschick des Petersburger Juristen. Dieser gibt sich erst ganz zum Schluss zu erkennen.67 Fast das Gleiche berichtet Koni auch in einem anderen Text. Er sei 1878, kurz nach dem folgenschweren Freispruch von Vera Zasulič, für viele Stunden mit einem älteren Herrn im Eisbahncoupé gegessen und Richtung Charkov gefahren. Der ältere Herr habe erzählt, er habe „zwanzig Jahre auf dem Dorfe gelebt“ und sei jetzt soeben das erste Mal wieder in St. Petersburg gewesen und da habe er auch, allerdings vergeblich, Tickets für den Zasulič-Prozess zu erhalten versucht. Als Koni sich zu erkennen gibt, bietet ihm der Mann freundlichst seine Unterstützung an, falls der von allen Seiten für den Freispruch der Revolutionärin kritisierte Gerichtsvorsitzende in Moskau einen Zwischenhalt einlegen möchte.68 Eine fast identische Situation findet sich gleich im Anschluss an diese Episode, als Koni mit einem ihm unbekannten Mann im Abteil 67 A. F. Koni: Za granicej i na rodine [Im Ausland und in der Heimat]. In: Na žiznennom puti, Bd. 3. Tallin, Berlin 1922, S. 259–305, hier S. 285–288. 68 A. F. Koni: V doroge [Auf dem Weg]. In: Na žiznennom puti, Bd. 1. St. Petersburg 1912, S. 628–650, hier S. 628–630.

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weiterfährt. Er beschreibt diesen folgendermaßen: „In den Konturen des Gesichts schimmerte ein entfernter tatarischer Typ durch, aber der hellblond-gräuliche, dichte Bart verlieh ihm, zusammen mit dem weichen Bogen der Lippen, doch einen slavischen Charakter“, und er merkt im Gespräch sofort, dass dieser „offensichtlich zum hochgebildeten Kreis der Moskauer Gesellschaft“ gehörte. Wieder kommt das Thema der Justiz auf, diesmal weiß das Gegenüber auch, dass er mit dem berühmten Gerichtsvorsitzenden spricht, und Koni nutzt die Gelegenheit, den Unbekannten von der Korrektheit seines Verhaltens im Zasulič-Prozess zu überzeugen. Erst bei der Verabschiedung wird klar, dass der Mitfahrer niemand Geringeres als der berühmte Slavophile Ivan Sergeevič Aksakov (1823–1886) war.69 Alle diese Episoden veröffentlichte Koni zwischen 1912 und 1922 in seinen Sammelbänden Na žiznennom puti (Auf dem Lebensweg) – teilweise gleich mehrmals in verschiedenen Ausgaben. Wieder soll die Frage nach der Funktion solcher Erinnerungen gestellt werden. Es wirkt, als würden das Eisenbahncoupé und die Kutsche auf der Reise durch das Imperium einen geschützten Begegnungsort mit der vielfältigen Bevölkerung des Landes bilden.70 Der Slavophile Aksakov genauso wie der Gutsherr, der zurückgezogen im Umland von Saratov wohnt und der Mann, der die letzten zwei Jahrzehnte auf dem Dorfe gelebt hat – sie alle diskutieren über Recht und Gesetz sowie über den Richter Koni, und die großen Prozesse ihrer Zeit sind ihnen ein Begriff. Der in der Kutsche anwesende Tatare hingegen wirkt mit seinem Kostüm eher wie ein Requisit, das die örtliche Abgelegenheit des Gesprächs

69 Ebd., S. 631–634. Die Slavophilie war eine Geistesströmung, die gegen die Europäisierung Russlands, die seit Ende des 17. Jahrhunderts ihren Lauf nahm, ankämpfte. Dem rationalen-aufgeklärten Westlertum wurde eine religiös-spirituelle Rückbesinnung auf eine Lebensweise entgegengehalten, von der man fand, dass sie spezifisch russisch sei. Vgl. dazu das Einführungskapitel in: Stephen Lukashevich: Ivan Aksakov – 1823–1886. A Study in Russian Thought and Politics. Cambridge, Mass 1965, S. 1–14. Und für eine kürzere Übersicht zu Aksakov auch den Eintrag in: Russkie pisateli 1800–1917: Biografičeskij slovar’ [Russische Schriftsteller 1800–1917. Biographisches Lexikon], Bd. 1, Moskau 1989, S. 268–282. 70 Die Eisenbahn als „Ort der Begegnung“ von Menschen mit unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft ist auch in der russischen Literatur ein oft verwendetes Erzählmotiv. Benjamin Schenk nennt in seiner Monographie Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter Dostoevskijs Roman Der Idiot oder Tolstojs Novelle Die Kreutzersonate als typische Beispiele. Frithjof Benjamin Schenk: Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter. Stuttgart 2014, S. 237ff. Vgl. auch S. 245ff. zum Reisebericht Čto takoe Rossija (Was ist [eigentlich] Russland?) von Pavel A. Kruševan, in dessen Erzählung in den Wartesälen der Bahnhöfe und Coupés der Züge verschiedene Ethnien bzw. „nationale Typen“ aufeinandertreffen.

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über den Petersburger Prozess noch betont. Selber nimmt er aber – genau wie die anwesenden Frauen – keinen Anteil an der Diskussion. Es liegt nahe zu vermuten, dass Koni über das öffentliche Erinnern solcher Episoden sein berufliches Tun zu rechtfertigen versuchte. Eine Absolution scheint besonders glaubwürdig gewesen zu sein, wenn sie von bedeutenden Persönlichkeiten wie einem Ivan Aksakov kam, der die Gerichtsreform seit Jahren teils zugetan, teils kritisch kommentierte und von dem bekannt war, dass er über den Freispruch Vera Zasuličs empört war.71 Auch das Urteil tendenziell Außenstehender, die die letzten Jahrzehnte entfernt von den großen Zentren gelebt hatten, schien einen besonders hohen Stellenwert zu haben. Vor dem Leser entsteht ein Bild des imperialen Russland, in dem fast alle – sei es in Moskau, Charkov oder auf der Krim – über das Rechtswesen und seine Tätigen Bescheid wussten und sich ein Urteil bildeten. Besonders relevant scheint dabei auch die Meinung der einfachen Bevölkerung gewesen zu sein – auch wenn diese nicht in jeder Episode mitdiskutierte. Grundsätzlich ist es nämlich auffällig, dass Koni, Arsen’ev und Urusov in ihren autobiographischen Texten immer wieder Begegnungen mit dem Volk erwähnten. Ausführungen zum Berufsalltag wurden um Aussagen zur Verankerung der eigenen Tätigkeit in der Bevölkerung, im wahren, praktischen Leben ergänzt. Und nichts schien wertvoller gewesen zu sein, als ein Lob aus dem Munde eines einfachen Bauern. Sinnbildlich hierfür ist die Szene aus Konis Bericht über seine Untersuchung zur Entgleisung des Zarenzugs 1888 in der Nähe von Charkov. Koni erzählt, dass er in dieser Zeit „anonyme Schmähschriften in Prosa und Versen“ erhalten habe, aber gleichzeitig einmal bei sich auf dem Tisch eine Ikone gefunden habe, auf der in ungelenker Art gestanden sei: „Beschütze und hilf dem gerechten Verfolger der Unrechten«.72 An solchen Stellen deutet sich ein tiefes Bedürfnis von Koni an, dass seine rechtswissenschaftliche Tätigkeit von der vielfältigen Bevölkerung des Reichs und insbesondere auch von der Mehrheit der ungebildeten Bauern gutgeheißen wurde und sein Handeln in der Sanktionierung durch den einfachen Menschen Legitimation fand und so mehr bewirken konnte, als wenn es nur auf die juristische Fachwelt beschränkt gewesen wäre. In diesem Kontext interessant sind auch die autobiographischen Reflexionen Konis über seine Einstellungen zu Menschen, die aufgrund ihrer Religion benachteiligt wurden. Er selber bemühte sich, so seine Darstellung, die restriktiven Gesetze so liberal wie möglich auszulegen und dadurch Einfluss zu

71 Lukashevich: Ivan Aksakov, S. 70–73. 72 A.  F. Koni: Krušenie carskogo poezda v 1888 godu [Entgleisung des Zarenzugs im Jahre 1888] [beendet 1923]. In: Koni: Sobranie sočinenij, Bd. 1, S. 420–495, hier S. 466.

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nehmen auf das Wohl der religiösen Minderheiten im Russischen Reich. 73 Ein erster Abgleich mit Konis Biographie zeigt weiter, dass er den Kontakt zum einfachen Volk auf verschiedenste Art und Weise gesucht hat. So wurde er in diversen Landkreisen über demokratische Wahlen zum Ehrenfriedensrichter ernannt und zudem in die Stadtduma von St. Petersburg gewählt.74 Auch besuchte er Versammlungen der lokalen Selbstverwaltung (zemstvo), wenn er auf Reisen an solchen vorbeikam.75 Diese Auseinandersetzung mit der Beziehung zur vielfältigen Bevölkerung des russischen Reiches zeigte sich schon in der Gerichtsreform selber, die die Einführung von Geschworenengerichten mit sich brachte. Für viele liberale Juristen waren diese von enormer Bedeutung, da auf diese Weise die gesamte Bevölkerung ihr Rechtsempfinden in den Justizprozess einbringen sollte, was einem demokratischen Novum im autokratischen Staat gleichkam.76 Was als Schaffung von Rechtsbewusstsein und Hebung der Rechtsbildung auf dem Land interpretiert werden konnte, nennt Koni schlicht „Vertrauen in sein Volk“. Und dieses stelle die Gerichtsreformer in eine Reihe mit den Bauernbefreiern.77

73 Vgl. dazu insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen Koni und Konstantin Petrovič Pobedonoscev (1827–1907). Pobedonoscev – selber ausgebildeter Jurist und bekannter Zivilrechtler – hatte als Oberprokuror der Heiligen Synode von 1880–1905 großen Einfluss auf Politik und Geistesleben des Staates. Er verfocht einen streng konservativen Kurs, der auf der privilegierten Stellung der orthodoxen Kirche beharrte und die Gleichberechtigung verschiedener Glaubensrichtungen im Lande ausschloss. Eintrag zu Pobedonoscev in: Russkaja filosofija. Moskau 1995, S. 367–369. In seiner Erinnerungsschrift Triumviry berichtet Koni ausführlich von den unterschiedlichen Ansichten von ihm und Pobedonoscev über die Auslegung des Gesetzes, die Glaubensfreiheit und die Rolle der orthodoxen Kirche im Staat. A. F. Koni: Triumviry [Triumviri][nach 1907]. In: Koni: Sobranie sočinenij, Bd. 2, S. 253–328. 74 Dies erwähnt Koni selber in mehreren kürzeren autobiographischen Texten und betont dabei, wie viele Menschen ihm in diesen Wahlen das Vertrauen geschenkt hatten. Z.B. A. F. Koni: Avtobiografija. In: P. K. Tichomirov (Hrsg.): Istoričeskaja zapiska vtoroj S.-Peterburgskoj gimnazii. St. Petersburg 1905, S. 378–380. 75 Koni: Krušenie carskogo poezda, S. 453. 76 Zum Geschworenengericht und den zeitgenössischen Debatten dazu z. B. S. M. Kazancev: „Sudebnaja Respublika“ carskoj Rossii [„Gerichtsrepublik“ des zarischen Russlands]. In: ders.: Sud prisjažnych v Rossii: Gromkie ugolovnye processy [Das Geschworenengericht in Russland: Große Strafprozesse] 1864–1917 gg. Leningrad 1991, S. 3–19 und Jörg Baberowski: Geschworenengericht und Anwaltschaft. Ein Beitrag zur Erforschung der Rechtswirklichkeit im ausgehenden Zarenreich. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 38 (1990), S. 25–72. 77 A. F. Koni: Sudebnaja reforma i sud prisjažnych. Vortrag vor der Juristischen Gesellschaft, St. Petersburg, 28.11.1880. In: Koni: Sobranie sočinenij, Bd. 4, S. 201–222, hier S. 214.

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Diese Spuren eines Selbstverständnisses, das den Juristen im Dienste der Bauern zeigte, finden sich nicht nur bei Koni. Konstantin Arsen’ev suchte diese Verbindung in den 1870er-Jahren sogar ganz unmittelbar, indem er aufs Land zog. Er kaufte 1878, als sein Engagement als Anwalt bereits zugunsten publizistischer Arbeit stark zurückgegangen war, ein Grundstück nicht allzu weit von St. Petersburg entfernt. In seinem Tagebuch begründete er diesen Schritt mit seinem Wunsch, Verantwortung vor der Gesellschaft übernehmen zu wollen.78 Stolz hielt er auch fest, er sei von den Bauern seiner Region dazu angehalten worden, für ein Amt im Landkreis zu kandidieren.79 Arsen’ev engagierte sich daraufhin für viele Jahre als Landschaftsabgeordneter, Ehrenfriedensrichter und vor allem auch als Publizist für Anliegen an der Schnittstelle von ländlicher Selbstverwaltung und Rechtswesen. Immer wieder rückte dabei auch die Frage der Glaubensfreiheit ins Zentrum.80 Auch in Bezug auf Aleksandr Urusov ist es auffällig, dass er in den Porträts von Koni und Arsen’ev immer als Anwalt der schwachen Bevölkerungsteile bezeichnet wurde, der – um Arsen’ev zu zitieren – „niemals seine Hilfe entsagte […] gerade wenn Religion oder Nationalität Quelle der Unterdrückung waren“. Er sei in dieser Beziehung einem herumreisenden Ritter der Gerechtigkeit gleich gewesen, der sogar „Verteidigungen in Vilna, Warschau oder Minsk“ auf sich genommen habe.81 Das Bild des Anwalts, der auch fern von Moskau und St. Petersburg arbeitete und so allen Bevölkerungsteilen im Russischen Reich zu Hilfe kam, steht jedoch in gewissem Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen. So hat es nämlich viel zu wenig Justizbeamte und Anwälte gegeben, die wirklich bereit waren, Dienst 78 Vgl. hier auch wieder die bereits im Abschnitt Porträtieren als kollektive autobiographische Praxis erwähnte augenfällige Verortung der Juristen in der Intelligencija. Victoria Frede nennt den Drang der gebildeten Schichten zur Übernahme von Führungsverantwortung für die Nation und die ganze Menschheit als wesentlichen Punkt des Selbstverständnisses der Intelligencija. Frede: Doubt, Atheism, and the Nineteenth-Century Russian Intelligentsia, S. 14. 79 P. I. Šlemin: Dnevnik K. K. Arsen‹eva [Tagebuch von K. Arsen’ev]. In: Archeografičeskij ežegodnik za 1977 god (1978) [Archeographisches Jahrbuch], S. 312–322, hier S. 317. bzw. RGALI, F. 40, op. 1, ed. Chr. 14, l. 34 ob–35. 80 Z.B. K. K. Arsen’ev: Svoboda sovesti i veroterpimost’. Sbornik statej [Religionsfreiheit und Glaubenstoleranz. Sammelband mit Artikeln]. St. Petersburg 1905. 81 K. K. Arsen’ev: Iz obščestvennoj chroniki. Kn. A. I. Urusov. In: Vestnik Evropy 5 (1900), S. 433–435, hier S. 434. Urusov ist z. B. in zahlreichen Ritualmord-Prozessen als Anwalt der beschuldigten Juden aufgetreten und hat sich auch innerhalb der Anwaltschaft gegen Gesetze zur Einschränkung der Berufsausübung von jüdischen Juristen gewehrt, Stepanova: A. I. Urusov, S. 79–80 und als Überblick zur ethnisch-religiösen Zusammensetzung und Antisemitismus in der russischen Advokatur Baberowski: Rechtsanwälte in Russland, S. 52–57.

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außerhalb der zentralen Städte zu verrichten.82 Ganz abgesehen davon, dass große Teile der Rechtsprechung unter den Bauern selber abgewickelt wurden, ohne Teil des reformierten Gerichtswesens zu sein.83 Das mag auch die Darstellung einer Bevölkerung, die sich im ganzen Imperium rege Gedanken zum Geschehen im Rechtsbereich machte und diese auf Kutschenfahrten zum Besten gab oder in Form von Ikonen Stellung bezog, etwas relativieren. Dass der Kontakt zum Volk aber eine wesentliche Komponente im autobiographischen Schreiben führender Juristen zu sein scheint, verweist auf einen Selbstentwurf, der Legitimation durch Verbindung zur einfachen Bevölkerung suchte und eine spezifische Vorstellung von Stellenwert und Konstitution des Volkes beinhaltete.84 Die autobiographische Praxis half offensichtlich, diese Verankerung zu betonen.85 Davon ausgehend kann man fragen, was für eine Handlungsbefähigung diese Menschen für sich daraus ableiteten und wie sich das in ihren konkreten Aktionen zeigte. So fällt zum Beispiel auf, dass Koni, der den größten Teil seines Lebens auf die Hauptstadt St. Petersburg fokussiert war, zum Magnet für Bitten und Fragen von Menschen aus weiten Teilen des Imperiums wurde. Immer wieder weist er auf diese Verbindungslinien auch nochmals in seinen Erinnerungsschriften hin, so dass die imperialen Weiten mit einem engmaschigen Netz aus Kontakten zwischen dem hauptstädtischen Juristen und den Bauern in der Provinz überzogen scheinen.86 82 Baberowski: Rechtsanwälte in Russland, S. 32–33 und Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 348ff. 83 Zu den 1861 geschaffenen Volost’-Gerichten für die Bauernschaft: Jane Burbank: Legal Culture, Citizenship, and Peasant Jurisprudence: Perspectives from the Early Twentieth Century. In: Peter H. Solomon (Hrsg.): Reforming Justice in Russia, 1864–1996. Power, Culture, and the Limits of Legal Order. Armonk, New York 1997, S. 82–106. 84 Vgl. zu den unterschiedlichen Bildern, die sich die gebildete Gesellschaft in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Bauern machte auch die Studie von Cathy Frierson. Cathy A. Frierson: Peasant Icons. Representations of Rural People in Late Nineteenth-Century Russia. New York 1993. 85 Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass Koni gerade solche Erinnerungsepisoden in der Sowjetzeit ausbaute und erneut veröffentlichte. Ob hier die autobiographische Praxis sogar eine bewusste Reaktion auf die Abwehrhaltung der Bolschewiki gegenüber imperialen Eliten war, bleibt zu überprüfen. 86 Vgl. beispielsweise Koni: Političeskaja zapiska 1878 goda. In der Politischen Notiz von 1878 äußert sich Koni zu den negativen Folgen repressiver Gesetzgebung. Er untermalt seine Argumentation u. a. mit einem ausführlichen Zitat aus dem Brief eines verzweifelten Mannes an seinen Vater und macht so klar, dass er in direktem Kontakt mit den Menschen aus der einfachen Bevölkerung stehe, die unter diesen Gesetzen leiden würden. Vgl. exemplarisch auch den Brief einer Bäuerin aus dem Dorf Filippowa, die mit Bitte um juristischen Rat an den Petersburger Juristen gelangte: GARF F. 564, op. 1, d. 722.

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Verhältnis zur Staatsmacht Dabei rückt wieder die Frage nach der Beziehung zur Selbstherrschaft in den Fokus. Erneut lohnt sich das Ansetzen bei der Funktion autobiographischen Schreibens. So ist davon auszugehen, dass gerade die Praxis des exzessiven Porträtierens nicht nur Professionalisierungsbestrebungen im juristischen Berufsfeld diente, sondern auch eine wichtige Funktion für das Ausloten der eigenen Position im Verhältnis zum Staatsapparat einnahm, dem die Juristen teilweise selber angehörten. Die Beziehungen zu Behörden und politischen Instanzen und die Diskurse um Herrschaftsausübung im Russischen Reich werden gerade in den autobiographischen Reflexionen von Koni immer wieder zum Thema. Prominent vertreten sind zum Beispiel Erzählungen über das Verhältnis zwischen ihm, dem russischen Zaren und dessen Ministerentourage. Solche Textstellen erhalten nicht zuletzt dank einer auffällig literarischen Sprache eine besondere Bedeutung.87 Über solche Reflexionen kann ein Einblick gewonnen werden in Interpretationen der imperialen Herrschaft und insbesondere auch in die Vorstellungen von den eigenen Möglichkeiten in Hinblick auf Einfluss und Mitsprache. Dabei fällt auf, wie häufig Koni solche Erinnerungen um Kurzbiographien von Staatsmännern ergänzte, deren Tun er moralisch beurteilt. Ein typisches Beispiel ist der Bericht zur Nebenfigur Nikolaj A. Nekljudov (1840–1896) in der Erinnerungsschrift Triumviry, in der es eigentlich vor allem um Pobedonoscev und zwei weitere hohe Beamte geht.88 Koni beschreibt darin als Exkurs die Figur eines Kollegen am Kriminalkassationsdepartement und berichtet, wie Nekljudov Todesurteile in Fällen politischen Terrors sprechen musste und daran, in der Interpretation Konis, schließlich zerbrach. Sein abschließendes Resümee zum Leben des Berufskollegen klingt wie ein Schreckensszenario, das auch ihn selber hätte ereilen können: Einen Weg der „unehrenbaren Abstriche und Kompromisse“ habe Nekljudov zurückgelegt, um in eine Position zu kommen, die ihm endlich politischen Einfluss verschafft hätte. Vielleicht nur kurz vor dem Aufstieg ins Ministeramt sei er dann aber verstorben, wodurch die Träume der Jugend nichtig geworden seien und nur die Sünden des Alters blieben.89 Es liegt nahe, das biographische Porträt hier auch als eine Art Probelauf zu interpretieren, der im Unterschied zum realen

87 Z.B. Koni: Krušenie carskogo poezda, S. 447. 88 Zu Pobedonoscev vgl. Fußnote 73. 89 Koni: Triumviry, S. 313–316.

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Leben erlaubte, andere Legitimationen und Zugehörigkeiten durchzudeklinieren bzw. deren Ablehnung zu bekräftigen.90

Implizite Schreibanlässe und Erinnerungsfunktionen Daran anschließend soll zum Abschluss des Aufsatzes nochmals unterstrichen werden, dass es sich lohnt, an Quellen der autobiographischen Praxis immer sehr offen heranzutreten. Bis jetzt ist durch die Auswahl an Zitaten aus den autobiographischen und biographischen Texten der Juristen möglicherweise der Eindruck entstanden, dass die Verfasser der Erinnerungstexte diese sehr kontrolliert und zielbewusst niedergeschrieben haben. Der Grad der bewussten Ausgestaltung des Gedächtnisses an vergangene Erlebnisse und frühere Bekannte – das Ausmaß der Zielführung aller solcher Erinnerung – scheint im Endeffekt aber geringer, als die Autoren manchmal selber mit ihren expliziten Überlegungen glauben machen wollen. Einige Beispiele sollen diesen Widerspruch kurz erläutern. Urusov fordert in seinem Artikel Sind wir interessant? die Menschen auf, Erinnerungsstücke zu sammeln, zu sortieren und den späteren Generationen zukommen zu lassen.91 Er selber aber begann erst dann mit dem Ordnen und Verschriftlichen seiner Erinnerungen, als er schon sehr krank war und das Werk nicht mehr nach außen tragen konnte. Arsen’ev berichtet im Zeitungsartikel in der Stimme der Vergangenheit, wie seine persönliche Lebensgeschichte „in Miniaturansicht“ vieles der „großen“ Geschichte beleuchten könne. Aber je länger man liest, desto mehr schweift Arsen’ev vom Hundertsten zum Tausendsten und irgendwann bricht aus ihm heraus, was vielleicht viel eher den Schreibanlass für seinen Text bildete: „Für mich sind all diese Gesichter noch zu ihren Lebzeiten ins Reich der Schatten entschwunden und jetzt im Alter ist es für mich tröstlich, ihre ‚unscharfen Gestalten‘ für einen Moment daraus hervorzuholen.“92 Trost sollte die Erinnerung also spenden. Und vielleicht auch einfach das zu Papier bringen, was sich nicht vergessen lässt, weil es einen tief berührt hat. So schreibt Koni zum Beispiel in der Erinnerung Aus Jugend- und Altersjahren zuerst streng, er wolle in diesen Text keine Episoden zum Studentenleben in Mietshäusern integrieren, weil das zu weit führen würde. Aber wenig später berichtet er im gleichen Text ausführlich vom Schicksal eines Mäd90 Schmid: Ichentwürfe, S. 14 spricht von der Lebensgeschichte, die per se keinen „Probelauf “ zulässt. Auch S. 393 zu „negativen Identifikationsfiguren“, die in Erinnerungen auftauchen können. 91 Urusov: Interesny-li my?, S. 56. 92 Arsen’ev: Iz dalekich vospominanij, S. 170.

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chens, das – genauso wie die studentischen Mietshäuser – wenig Zusammenhang zum sonstigen Inhalt der Erinnerung hat, aber „ihm nicht aus dem Gedächtnis“ gehe, wie Koni erklärend hinzufügte.93 Autobiographische Schriften erhalten durch solche Erinnerungsbruchstücke eine spezifische Textstruktur von Exkursen in Exkursen. Besonders schön zeigt sich dies in der soeben erwähnten autobiographischen Schrift zu den Jugend- und Altersjahren. Die fast hundertseitige Erinnerung beginnt mit den Jugendjahren, und Koni beschreibt seine Schulzeit und die Aufnahmeprüfungen an die Universität. An dieser Stelle fügt er eine Episode zu einem Rencontre mit einem Kommilitonen ein. Anstatt danach mit der Beschreibung der Aufnahmeprozedur weiterzufahren, kommt es plötzlich ohne jegliche Begründung zu einem anscheinend unmotivierten Zeitsprung von etwa zwanzig Jahren, und Koni beschreibt eine Reise ins Ausland, auf der er eine vornehme Petersburger Dame näher kennenlernt. Diese trifft er dann kurz darauf in St. Petersburg wieder, vertieft in ein Gespräch mit einem Koni unbekannten Mann. Leider stellt die Dame Koni und den Unbekannten einander nicht vor. Dies nimmt Koni in der Erinnerungsschrift zum Anlass, einen mehrseitigen Einschub über die Mode seiner Jugendzeit in Moskau zu platzieren, wo es auch nicht üblich war, sich vorzustellen, was zu diversen peinlichen Begebenheiten geführt hatte. Schließlich kündet er dem mittlerweile wohl etwas verwirrten Leser an, dass er nun zurückkehre zum unbekannten Mann. Und erst jetzt, fünf Seiten nach dem Zeitsprung, schließt sich der Kreis: Dieser stellt sich nämlich als jener Kommilitone heraus, mit dem Koni bei der Aufnahmeprüfung an die Universität 1861 ein Rencontre gehabt hat.94 Offensichtlich werden also die autobiographischen Texte von Koni, Arsen’ev und Urusov immer wieder vom Moment des Erinnerns selber geleitet, so dass nur noch am Rande ein Zusammenhang mit den jeweils im Titel oder in der Erinnerungsschrift selber genannten Zielangaben und Schreibanlässen auszumachen ist. An solchen Stellen wird erkennbar, wie komplex Erinnern funktioniert und wie wichtig es folglich ist, nicht vorschnell verengte Interpretationen von Anlass und Funktion autobiographischer Praxis zu erstellen und so die Chance für eine gewinnbringende Analyse der Erinnerungsvorgänge zu vergeben.95 Mit den dargelegten Beispielen versuchte der Aufsatz erste Wege aufzuzeigen, wie Biographien und die autobiographische Praxis als Teil derselben einen Zugang zu den Auseinandersetzungen, Wahrnehmungen und Handlungsoptionen von 93 Koni: Iz let junosti i starosti, S. 150. 94 Koni: Iz let junosti i starosti, S. 72–77. 95 Zur Komplexität des Erinnerungsvorgangs z. B. Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn, S. 42.

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Menschen im imperialen Russland ermöglichen. Über die Annäherung an Selbstverständnis und Zukunftsvisionen von Juristen, die eng in zahlreiche Diskurse und Auseinandersetzungen ihrer Zeit involviert waren, werden Erkenntnisse zu Themenkomplexen wie Professionalisierung und Intelligencija-Kultur gewonnen. Aber auch zu übergeordneten Themenfeldern der Imperiengeschichte wie die Wahrnehmung der heterogenen Gesellschaftsstruktur oder die Möglichkeiten der Mitbestimmung im autokratischen Russland bietet sich ein Zugang. Immer wieder wird dafür bei der autobiographischen Praxis angesetzt, deren Textstrategien analysiert werden, um die Interpretation des Autors nachzuvollziehen, die dieser an seine potenziellen Leser weitergeben möchte. Ziele und Anlässe für solche Selbstdarstellung lenken neben der Einsicht in Selbstverständnis und Überzeugungen des schreibenden Subjekts den Blick auf die Wirkungsmächtigkeit solcher Praktiken im Schreibmoment. Es hat sich dabei gerade zum Schluss nochmals gezeigt, dass autobiographisches und biographisches Schreiben auf verschiedenen Ebenen etwas über das Selbstverständnis des Verfassers aussagt. Es kommt immer wieder zum augenfällig zielgerichteten Einsatz von Erinnerungstexten und -porträts für die Verbreitung eigener Interpretationen und Vorstellungen, deren Propagieren gerade aus Anlass politischer und gesellschaftlicher Veränderungen besonders nötig wird. Aber daneben gibt es auch weniger deutlich einzuordnende Erinnerungselemente in den Texten. Manchmal sind vielleicht gerade an solchen Stellen emotionale Nähe, Freundschaften, Loyalitäten oder aber Traumata und persönliche Abneigungen des Erinnernden besonders deutlich zu spüren. Auch wenn solche Episoden oft in Form von Abschweifungen und Anekdoten in den autobiographischen Texten auftauchen und auf den ersten Blick wenig Relevanz für übergeordnete Fragen zu haben scheinen, ist es zentral, diese ernst zu nehmen. Zwar widersprechen solche Mikrosujets eigentlich den kompositorischen Regeln autobiographischen Schreibens, doch bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich nicht selten als Mittel des Autors, eigene Aussagen zu unterstreichen, zu ergänzen oder Negativ­ folien dazu zu entwickeln96 – ähnlich wie Koni es mit seiner Interpretation von Nekljudovs Tod versucht hat.

96 Schmid: Ichentwürfe, S. 392–393.

Peter Holquist

Bureaucratic Diaries and Imperial Experts Autobiographical Writing in Tsarist Russia in the late Nineteenth Century: Fëdor Martens, Dmitrii Miliutin, Pëtr Valuev1

Working on a monograph on Russia’s contribution to the crystallization of the “laws and customs of war” in the late nineteenth century, I was overjoyed to learn about the existence of the diary of the leading Russian international legal scholar and diplomat, Fëdor Fëdorovich Martens (1845–1909). Martens held the chair of international law at Saint Petersburg University for nearly forty years and served as a delegate of the Russian government at the 1874 Brussels Conference on Land Warfare (a conference which owed its existence to his efforts) and at the First (1899) and Second (1907) Hague Peace Conferences.2 I was deeply unoriginal in my interest in such a document, of course. A rich vein of literature has interrogated the questions of “Soviet subjectivity” on the role of various “ego documents” in self-fashioning – but diaries first and foremost.3 The focus on such twentieth-century documents of course built upon studies of an earlier nineteenth-century aristocratic and intelligentsia tradition. This

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I would like to thank Martin Aust and Benjamin Schenk for organizing the conference “Imperial Experts and Autobiographical Practices,” and for their suggestions. For invaluable thoughts, comments and criticisms, I am indebted to: the conference participants; Laura Engelstein; Victoria Frede; John Randolph; and, Carla Cordin. All were remarkably generous with their ideas; any and all errors are my own. On Martens, see Vladimir Vasil’evich Pustogarov: Our Martens: F. F. Martens, International Lawyer and Architect of Peace, expanded edition, edited and translated by William Elliott Butler. The Hague 2000; Martin Aust: Völkerrechtstransfer im Zarenreich. Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens. In: Osteuropa 60 (2010), S. 113–125; Lauri Mälksoo: Friedrich Fromhold von Martens (Fyodor Fyodorovich Martens) (1845– 1909). In: Bardo Fassbender and Anne Peters (eds.): The Oxford Handbook of the History of International Law. Oxford, 2012, p. 1147–1151; and Peter Holquist: By Right of War (ms.), ch. 1. See: Jochen Hellbeck: Revolution on my Mind: Writing a Diary under Stalin. Cambridge (Mass.) 2006, and the subsequent debates about “Soviet subjectivity.”

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historiographical focus in the Russian field obviously is situated within a broader scholarship documenting the various practices that emerged as the “sources of the self.”4 In addition to being a specialist in international law, Martens was a frequent advisor to the Russian government on questions of diplomacy and foreign relations. Therefore his diary has drawn the attention of scholars working on Martens as a historical figure and also as a source on the government and court politics in the final decades of the autocracy. His diary is found in the Foreign Relations Archive of the Russian Empire (Arkhiv vneshnei politiki rossiiskoi federatsii, AVPRI). AVPRI does not fall under the Russian archival administration (Rosarkhiv) and its protocols on access, but is directly subordinate to the Russian Ministry of Foreign Affairs (MID) and its more restrictive guidelines. There, the diary is found in fond 340, “the collection of documentary materials from the personal archives of MID officials.” Tellingly, then, it is part of a general collection of ego-materials generated by MID officials. For many years, Soviet authorities did not publicize the existence of the diary. And as it was located in AVPRI and subjected to restrictive usage guidelines scholars did not discover and utilize it. Late in the perestroika era, officials of the Soviet Ministry of Foreign Affairs apparently decided to draw the attention of scholars to Martens and his diary. They allowed one MID official – Vladmir Vasil’evich Pustogarov – access to the diary. In 1993 Pustogarov published a biography of Martens, with a heavy reliance on the diary, with the publishing house Mezhdunarodnye otnosheniia (International relations).5 At roughly the same time Pustogarov was granted access, MID officials approached William Elliott Butler, a distinguished American specialist on Russian law, at an academic conference in Moscow in 1990, informing him of the diary’s existence and offering to let him work with it.6 Several years later, in 1996, the Russian Foreign Ministry’s official 4 Charles Taylor: Sources of the Self: The Making of Modern Identity. Cambridge (Mass.) 1989; also Michel Foucault: Technologies of the Self (1982). In: Luther H. Martin et al. (ed.): Technologies of the Self: A Seminar with Michel Foucault. Amherst 1988, p. 16–49. 5 Vladimir Vasil’evich Pustogarov: “. . . s palmovoi vet’viu mira”: F. F. Martens – iurist, diplomat, publitsist [“. . . with the palm branch of peace”: F. F. Martens—Jurist, Diplomat, Publicist]. Moscow 1993. The publisher abridged the Russian original; the full text appeared in English translation as: Pustogarov: Our Martens. 6 See Butler: Meeting Martens. In: Pustogarov: Our Martens, p. ix–x. The very next day after MID officials contacted Butler at the conference, he was granted access to the Foreign Ministry archive, where he found the Martens diaries waiting for his use in the reading room. The only other scholar who had signed the “sheet of scholars who have utilized the file” (list pol’zovaniia) was Pustogarov, who had seen the diaries several weeks previously.

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journal Mezhdunarodnaia zhizn’ (International life) published fragments of the diary covering the years of Russia’s revolutionary crisis of 1905–1907.7 The diary consists of eight notebooks, covering – with intermittent breaks – the years from 1883 (when Martens was 38 years old) to April 1909, the year of Martens’ death. In addition, there is a file of typed transcriptions of portions of the diary from the 1905–1907 period, produced by AVPRI officials.8 (Martens’ handwriting is atrociously hard to decipher.) The diary was deposited by Martens’ family in the Imperial Foreign Ministry archive in Saint Petersburg in the years following Martens’ death in 1909 but before the outbreak of the First World War.9 Together with the rest of the Main Archive of the (imperial) Ministry of Foreign Affairs (GAMID), Martens’ collection was moved in the Soviet period from Saint Petersburg (Leningrad) – where Martens lived and worked for most of his life – to Moscow, where the Soviet state had re-located the formerly imperial ministries and in 1946 formed what would become AVPRI, as the institutional repository for the Soviet Ministry of Foreign Affairs. E. Chirkova, who selected and introduced portions of Martens’ diary from the years 1905–1907 for the 1996 publication in the journal Mezhdunarodnaia zhizn’, characterizes his diary as “above all those of an official of MID and of an expert in international relations. There is hardly any mention of about the author’s personal life or about his family. The teaching activities of Martens also find no reflection

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Fragments published as Fëdor Martens: Politika Rossii v 1905–1907 gg.: Iz dnevnika F. F. Martensa [The Politics of Russia in the Years 1905–1907: From the Diary of F. F. Martens]. In: Mezhdunarodnaia zhizn’ nos. 1, 2, 4 (1996). In the mid–1920s, there had been a little-noticed publication of excerpts of his diary covering the same period: Fëdor Martens: “Nashe nyneshnee pravitel’stvo–chort znaet chto”: Iz dnevnika professora F. F. Martensa. 1905-i god [“Who the Hell Knows What is up with Our Present Government”: From the Diary of Professor F. F. Martens]. In: 1905-i god: Revoliutsionnoe dvizhenie v Odesse i Odeshchine. Sbornik 2. Odessa 1926, p. 331–355. AVPRI (Arkhiv vneshnei politiki rossiiskoi imperii), f. 340 (Collection of documentary materials from the personal archives of MID officials), op. 787 (F. F. Martens), dd. 1–10. There are eight notebooks, covering period from 1883–1909 (Jan. 1883–Dec. 1884; Jan. 1885–Dec. 1887; Dec. 1890–Sept. 1897; Sept. 1897–Dec. 1898; Jan. 1899–Nov. 1901; Nov. 1901–Jan. 1905; Jan. 1905–Jan. 1907; March 1907–April 1909), as well a file compiled by Martens’ son Nikolai, for the period Jan. 1912–March 1913 (d. 8). (Nikolai Martens also served in the Russian Ministry of Foreign Affairs.) Typescript transcriptions of portions of Fëdor Martens’ diary covering the “revolutionary crisis” of 1905–1907 are found in d. 9: it was from this typescript that Chirkova prepared the 1992 publication of excerpts from Martens’ diary. Butler: Meeting Martens, p. ix.

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in the diary.”10 Chirkova justifies the selection of these years not only because of their historical significance, but also because these years marked, she claims, the high point of Martens’ career, pointing to his part in the Portsmouth peace negotiations ending the Russo-Japanese War and to his role at the Second Hague Peace Conference in 1907.11 Chirkova concludes by noting that “Martens’ diary is a profoundly subjective composition, even by the standards of that genre”: in it he is hyper-critical of his superiors, exaggerates his own importance, and comes across as a pedantic scholar.12

The Bureaucratic Diary Within The Traditions of Autobiographical Writing in Russia Much of this is true. I would like to propose, however, that Martens’ diary was not simply a universal form of diary, but instead represented a particular genre of diary. In Russia, of course, there was a rich nineteenth-century diary tradition.13 The most well-known manifestations are the diaries and ego documents of members of well-born or aristocratic families, both of Slavophile and Westernizer orientation: the voluminous diary and epistolary trail of the Stankevich-Bakunin circle; Alexander Herzen and his remarkable memoirs, My Life and Thoughts, and the broader Herzen-Ogarëv circle; the diaries and ego-documents of the Slavophiles,

10 E. Chirkova: Introduction to Martens: Politika Rossii 1905–1907 godov: Iz dnevnika Martensa. In: Mezhdunarodnaia zhizn’ 1 (1994), here p. 99. 11 I would challenge Chirkova’s argument here. The high point of Martens’ career came in the 1870s, when he could count on the support of both War Minister Dmitrii Miliutin and several officials in MID, notably Vice-minister Aleksandr Genrikovich Jomini. By 1905, Martens was bemoaning the fact that the government had become more reactionary and that his own influence in it had waned. 12 Chirkova: Introduction, here p. 99–100. 13 See: Larisa Zakharova: Memuary, dnevniki, chastnaia perepiska vtoroi poloviny XIX veka [Memoirs, Diaries, and Private Correspondence of the Second Half of the 19th Century]. In: Istochnikovedenie istorii SSSR XIX-nachala XX v. Moscow 1970, p. 346–367; Laura Engelstein/Stephanie Sandler (eds.): Self and Story in Russian History. Ithaca 2000; Barbara Walker: On Reading Soviet Memoirs: A history of the “Contemporaries” Genre as an Institution of Russian Intelligentsia Culture from the 1790s to the 1970s. In: Russian Review 59 (2000), p. 327–352; Jochen Hellbeck/Klaus Heller (eds.): Autobiographical Practices in Russia/Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, esp. articles by Zakharova: Die Persönlichkeit des Autokraten: Alexander  II. In seinen Tagebüchern und Briefen (p. 103–126) and Jochen Hellbeck: Russian Autobiographical Practice (p. 279–298). Cf. also Denis Sdvizhkov’s article in this volume.

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such as the Ivan and Natal’ia Kireevskii and the Aksakov clan; and Leo Tolstoy’s diaries. Most of these individuals were either private figures or figures involved in public (rather than state) institutions. These texts were written by individuals deeply aware of the Western tradition of the self and the role of the diary as device in shaping the self and reflecting upon it. (Jean-Jacques Rousseau was a major influence on Tolstoy in his decision to keep a diary and informed Tolstoy’s expectations of the genre.) For Slavophile diarists, a further impetus were new forms of Orthodox religiosity, indebted both to pietism and romanticism. This particular sensibility demonstrated a high degree (some would say a hyper-degree) of interiority, self-reflexivity, and self-criticism. 14 The spirit of Romanticism and a self-conscious attempt to reflect on the intimate inform these texts. With a concern for the intimate, many of these texts wrestle with questions of family life and romantic relations.15 Moreover, while the tradition of textual self-reflection was a longstanding one, Irina Paperno has suggested that: [R]oughly between the French Revolution and the Napoleonic wars, across Europe, the rise of historical consciousness found expression in the form of memoir and diary writing that connect personal lives to the social and historical situation of time and place. Arguably, in Russia, the high point of such historical consciousness was the 1840s through the 1860s.16

14 On the Bakunin and Herzen-Ogarëv sets, see: John Randolph: The House in the Garden: The Bakunin Family and the Romance of Russian Idealism. Ithaca 2007; Victoria Frede: A Radical Circle Confronts a Radical Woman: M. L. Ogarëva, the Westernizers, and the problem of individualism in the 1830s–1840s. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54 (2006), p. 161–189; and Ilya Kliger: Auto-Historiography: Genre, Trope, and Modes of Emplotment in Aleksandr and Natal’ja Gercen’s Narratives of Family Drama. In: Russian Literature 61 (2007), p. 103–138. For the Slavophile variant of this type of diary, see: Laura Engelstein: Orthodox Self-Reflection in a Modernizing Age: The Case of Ivan and Natal’ia Kireevskii. In: Hellbeck/Heller (eds.): Autobiographical Practices in Russia, p. 77–102. On Tolstoy and his diaries, see: Robert E. Gurley: The Diaries of Leo Tolstoy: Their Literariness and their Relation to his Literature. Ph.D. dissertation, University of Pennsylvania, 1979; Irina Paperno: Tolstoy’s Diaries: The Inaccessible Self. In: Engelstein/Sandler: Self and Story, p. 242–265; and, Irina Paperno, “Who, What Am I?” Tolstoy Struggles to Narrate the Self. Ithaca, 2014. 15 On the intimate as a convention of this age, see esp. John Randolph: “That Historical Family”: The Bakunin Archive and the Intimate Theater of History in Imperial Russia, 1780–1925. In: The Russian Review 64 (2004), p. 574–593. 16 Irina Paperno: Stories of the Soviet Experience: Memoirs, Diaries, Dreams. Ithaca 2009, p. 9.

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This consciousness is exemplified in the career of Petr Ivanovich Bartenev (1829– 1912). A hereditary noble, he graduated from Moscow University in 1851 with a degree from the Historical-Philological Faculty. From 1859 to 1873, he headed the Chertkov Library, Moscow’s first public library and a leading repository of texts on Russia’s history and culture. From this position, Bartenev in 1863 established the monthly historical journal Russkii arkhiv (Russian Archive, published 1863–1918), which for the next half century routinely published diaries, memoirs, and correspondence of Russian figures past and present relating to Russia’s history. Other popular-historical publications followed soon after, such as Russkaia starina (Russian Antiquity, 1870–1918) and later Byloe (The Past, 1900–1933). It is notable that both Martens and Dmitrii Miliutin would begin composing diaries (Miliutin in 1873, and Martens in 1883) in the years following the establishment of this journal and its monthly publication of individuals’ accounts of their role in History.17 Both the aristocratic-Romantic diaries and those of imperial bureaucrats, each in their own way, partook of this historicizing impulse. If one sits down in the AVPRI reading room to open the notebooks of Martens’ diary with expectations of the aristocratic, romanticist, self-reflective diary, one would be sorely disappointed. Chirkova had described Martens’ diary as “a profoundly subjective composition.” By “subjective,” she appears to mean that Martens’ account is judgmental and partisan: ”subjective” as the opposite of “objective.” But the diary strikes me as remarkably lacking in subjective elements – if by “subjectivity” one means a degree of self-awareness and self-reflexivity. In the diary, Martens rages and fumes about many people – but they are almost invariably his superiors, and sometimes subordinates and rivals, in the Ministry of Foreign of Affairs. (It is this aspect, presumably, that Chirkova finds “subjective.”) Family life and personal relations, by contrast, occupy him far less. Martens’ diary is essentially a text of professional concerns – his role as a state actor on the stage of history. It is profoundly un-lyrical. The diary shows very little self-awareness or meditation on the intimate and the process of fashioning the self. It is a diary remarkable for its lack of self-reflection, either about the act of keeping a diary or about the author himself. The diary, to be sure, reveals a great deal about Martens – but the revelations are more about the conventionality of expression and conformity to a set of guidelines for both genre and sentiment. What I mean to suggest here is that, alongside the romanticist and self-reflective texts produced largely by individuals from high-born, closely-knit aristocratic clans, there was another diary tradition in nineteenth-century Russia. This genre

17 I am grateful to Victoria Frede for drawing my attention to the significance of Bartenev.

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tradition was of the bureaucratic diary.18 The authors of such texts pursued careers state service and their sociological profile extended from the high-born (e.g., Pëtr A. Valuev), to those who came from middling or lower gentry (Dmitrii A. Miliutin or Sergei Witte) or even non-gentry background (Fëdor Martens – who achieved nobility via bureaucratic advancement up the Table of Ranks, but who throughout his life was profoundly anxious about status and standing in a way that a Count Leo Tolstoy would never be). Martens began his diary in 1883, at age 38, after he had already become a well-established official figure. The diaries do not cover his adolescent years or his struggle to make a career. Unlike the obsessive soul-baring and interrogation of intimate relations found in, say, the Ogarëva or Tolstoy texts, the Martens diaries (like those of Miliutin and Valuev) treat family and intimate issues very rarely. Indeed, Martens’ diaries and extant correspondence are strikingly silent about his parents – his mother died when he was five, and his father when he was nine – or his eight older siblings. There is no mention at all of them – in the diaries, or in his extant correspondence.19 And when the diaries do touch on family affairs, they do so in highly formulaic Victorian forms of sentimentality.20 (The furnishings of Martens’ family apartments and home office leave no doubts to these sensibilities.) In his diary one finds conventional – if sincere – declarations of how much he missed his wife, Ekaterina, née Tur (daughter of a Senator and lawyer). In his entry from 25 September 1899 (OS), upon his return to Russia after the Hague Conference, he wrote that “today, at last, I arrived at my dear Waldensee, to my dear wife and sweet children. I was indescribably happy to be with them again […].” Martens then proceeded to contrast this programmatic statement of family happiness against a presentation of his self-sacrifice for the diplomatic service and for Russia: “I have spent five months abroad, in the most difficult labor. And I must again take up the reading

18 One possible parallel is the officer memoir: see John Keep: From the Pistol to the Pen: The Military Memoir as a Source on the Social History of Pre-Reform Russia. In: Cahiers du monde russe et soviétique 21 (1980), p. 295–320, esp. 295–297. 19 The most detailed analysis of Martens’ family background is found in Pustogarov: Our Martens, ch. 1, who weighs the account set forth by Jaan Kross in his novel: Professor Martens’ Departure: A Novel. Trans. Anselm Hollo. New York 1994; Estonian original 1984, the most psychologically acute analysis of Martens to date. 20 For a treatment of the bureaucrat Sergei Witte as an eminent Russian Victorian, see: Frank Wcislo: Tales of Imperial Russia: The Life and Times of Sergei Witte, 1849–1915. New York 2011.

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of boring lectures. It is very hard.”21 (Likely due to the fact that Martens was a selfmade man – a striver – his diaries contain many such overwrought expressions of self-pity.) Indeed, his entries portray both his service life and his family life in terms of duty. In late January 1905 he melodramatically wrote that incompetence of his superiors and the Russian government had brought such shame to Russia that it led him to think of suicide. It was only out of concern for his children and his dear wife that he could not consider such a step.22 He frequently confides to his diary that he is shielding his family, and especially his wife, from his professional humiliations and disappointments. Thus he locked himself in his study and poured out his frustration on the November night in 1907 when he learned that he had not been awarded the Nobel Peace Prize (sic!) – sparing his wife this shame.23 In respect to his devotion to wife and family, the presentation of intimate life is entirely Victorian and conventional. He may well have considered ruminations on subjects that were beyond the boundaries of propriety to be self-indulgent or even indecent.24 There is none of the messiness and meditation on intimate and romantic life one finds, say, in the Tolstoy diaries. Martens hints only discreetly at family foibles and romantic entanglements. Thus on hearing of the death of Konstantin Pobedonostsev (Ober-Procurator of the Holy Synod, advisor to Alexander III and Nicholas II, and noted reactionary), he recollected that he had not shared Pobedonostsev’s political views, but appreciated how “in our family drama with my father-in-law, (Pobedonostsev) was a strong supporter and an honest advisor.” 25 The diary, however, is silent about the nature of this embarrassing incident. Less than three weeks later, he noted his sadness over the death of Eduard Vasil’evich Frish, whom he knew as the founder of the Saint Petersburg University Juridical Society and, together with Martens, a member of the International Court of Arbi21 F. F. Martens diary, entry for 25 Sept. 1899 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 5, ll. 79–80ob.); one month earlier, he had expressed similar sentiments about missing his wife and children on his fifty-fourth birthday while he was abroad serving on an arbitration tribunal: entry for 15 Aug. 1899 (ibid., l. 67) . Later, serving as Russian delegate to the Second Hague Peace Conference, he bemoans the fact that his service on an arbitration tribunal in a strange city means that he is alone and not able to be with his wife Katia on her birthday: F. F. Martens diary, entry for 27 July 1907 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 9, l. 139). 22 F. F. Martens diary, entry for 21 Jan. 1905 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 9, ll. 5.) Similarly, he writes that it was only concern for his children that prevented him from resigning his post: F. F. Martens diary, 2 April 1906 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 9, l. 88): “Children, this is the heavy sacrifice I make for you–continuing to serve this government.” 23 F. F. Martens diary, 28 Nov. 1907 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 9, l. 169). He reacted similarly the following year: see entry for: 28 Nov. 1908 (ibid., l. 196). 24 I am grateful to Victoria Frede for her suggestions on this issue. 25 F. F. Martens diary, entry for 11 March 1907 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 9, l. 116).

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tration. In noting his death, Martens particularly valued Frish for his help in yet another family saga – this one with the “whore L. V. Shneider” who had destroyed his brother-in-law.26 As with the “drama” with his father-in-law, the diary sheds no further light on this affair other than this passing reference. (It is telling that Martens recorded these two incidents – clearly, cases of family embarrassment – which concerned members of his wife’s family.) Martens’ diary is a representative of a well-established genre – the nineteenth-century bureaucratic diary.27 This type of diary was less a conscious device for self-fashioning than a means to justify one’s professional career and to testify to one’s role in the making of “history.” The genre was a product of a Victorian age – the age of self-help books, the self-made man (such as Martens), the age of meritocracy over privilege. Martens presented his lack of further advancement in the Foreign Ministry as the result of status-obsessed policies of that ministry (headed, in his words, “by the counts”), of the Russian government, and of Russian society. In 1899 he decried the fact that the Minister of Foreign Affairs “had not studied at any institution and has no higher education; that his aide completed (only) the Corps of Pages; and, the cluelessness of the senior advisor knows no bounds.”28 Martens valorized his own work ethic and professional training, in contrast to the aristocrats, who had advanced through privilege. As Pustogarov and Kross stress – and as the diary amply confirms – Martens imagined himself as a man who had advanced by his own merit and intelligence and who stressed his own hard work and long hours. In the aftermath of the First Hague Peace Conference, in mid-August 1899, he wrote that “my place in the world is one which I personally, and by my own labor and mind, have earned for myself.”29 He had a very complicated and ambivalent set of views toward Sergei Witte, but at the end of the 26 F. F. Martens diary, entry for 31 March 1907 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 9, ll. 126). 27 See the suggestive observations of W. Bruce Lincoln: In the Vanguard of Reform: Russia’s Enlightened Bureaucrats, 1825–1861. DeKalb 1982, p. 80–82. On the role of such documents in bureaucratic infighting, this time in the case of the multiple versions of Sergei Witte’s self-serving “Memoirs,” see: Boris V. Anan’ich/Rafael Sh. Ganelin: S. Iu. Vitte— memuarist [S. Iu. Vitte as a Memoirist]. Saint Petersburg 1994; Boris V. Anan’ich/Rafael Sh. Ganelin: Sergei Iul’evich Vitte i ego vremia [Sergei Iul’evich Vitte and His Times]. Saint Petersburg 1999; and Wcislo: Tales of Imperial Russia, esp. Wcislo: Introduction: The Storyteller and His Story, pp. 1–17. 28 F. F. Martens diary, entry for 16 April 1899 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 5, l. 31 ob.). Earlier, he had complained that the official who composed the Russian government’s December 1898 circular for the Hague Peace Conference, M. G. Priklonskii (an official in MID’s First Department), had graduated from “the philological department of Moscow University!” F. F. Martens diary, entry of 31 Jan. 1899 (ibid., l. 7). 29 F. F. Martens diary, entry for 15 August 1899 (AVPRI, f. 340, op. 787, d. 5, l. 67 ob.).

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day he appreciated him as a man who also had advanced to the highest ranks of the Russian government by his own talents.30 Martti Koskenniemi, in his superb study of the rise of international law in the last third of the nineteenth century, has portrayed “the men of the year 1873” – those who founded the Institute of International Law (Institut de droit international, IDI) and the Revue de droit international et de legislation comparée – as archetypal representatives of the Victorian age.31 This is equally valid for Martens, who was the second Russian to join the IDI, in 1874, one year after its founding. The bureaucratic diary, both in terms of genre and in terms of emphasis and values, was a Victorian artifact. Martens’ diary as an example of a Victorian genre, as opposed to a Romantic one, explains in part its formulaic treatment of intimacy and family life. But there is another reason that the diary takes this particular form. The personal accounts of Martens, Miliutin, and Valuev are dedicated overwhelmingly to these men’s service life. In a sense, they are not so much documents of personal or private life, as an alternative record of state service. Within a bureaucracy in which arbitrary will (proizvol) played such a role, and lacking a legal order by which to contest administrative decisions, officials (Witte is one obvious example) clearly felt the need to keep their own account of their achievements in state service. The Russo-Turkish War of 1877–1878, for instance, presents several explicit cases of officials – Vladimir Aleksandrovich Cherkasskii, Dmitrii Gavrilovich Anuchin, Mikhail Aleksandrovich Gazenkampf, Dmitrii Antonovich Skalon – maintaining diaries, compiling individual archives and publishing memoirs and correspondence in order to exculpate their own conduct in that war. Thus the lack of personal and family information is not an individual foible of Martens’ diary, but rather is representative of this genre of a diary of a state official. One other concern colors the nature of these bureaucratic diaries. They were often intended to be public documents. They were meant to record these statesmen’s role in history. Martens, it seems clear, wrote his diary entirely with this end in mind. His son, who also had entered the Russian Foreign Ministry, deposited the diary with the Foreign Ministry archive only several years after Martens’ death. Even before his death, however, Martens had been circulating this material with others. Martens had entrusted a copy of his “autobiography” to several colleagues (“friends” would not be the right term), among them Platon L’vovich Vaksel’ (Waxel), with whom Martens had worked in MID for many years. (Vaksel’ was long-serving Vice-director and then Director of the MID Chancellery.) But 30 On Witte, see Wcislo: Tales of Imperial Russia. 31 Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law, 1870–1960. Cambridge (UK) 2002, ch. 1.

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in 1903 Martens demanded that Vaksel’ return the “autobiography,” since one of those with whom Martens had shared it had abused his trust. Martens observed that Vaksel’, upon receiving his memoirs had hinted that sharing it risked abuse of this confidential gift – and so it had transpired.32 I have found no other references to such an “autobiography,” and the document is not found in the Martens’ collection in the MID archive. It is my strong supposition that this text was either a cleaned-up version of his diary, or a personal memoir based upon the diary as its source. Equally significant is the evident fact that Martens had shared this “autobiography” in an instrumental and calculated manner, among confidants as a way of providing his own narrative of his career and achievements, to stand against the published record and official archive. And he intended it to be a testament, after his death, to the part he had played in broader sweep of Russian and European history. Other such bureaucratic diaries were equally semi-public in nature. One can place both the well-known Diary and Memoirs of Dmitrii Miliutin (1816–1912) in this same category. Miliutin was a leading statesman for nearly the entire reign of Alexander II (1855–1881) and the period of the Great Reforms. Miliutin served as War Minister from 1861 until 1881, when Alexander III relieved him of his post. W. Bruce Lincoln uses the felicitous term “enlightened bureaucrats” for these officials – a far more accurate designation than “liberals.”33 Dmitrii Miliutin began to keep a diary in 1873, when he had already been serving as War Minister for twelve years and was by then a good fifty-seven years old. The diary covers the final years of his service as War Minister (1873–1881) and his private life from 1881 down to 1900. In self-imposed exile on his estate in the Crimea after 1881, he then composed a set of memoirs, which took the story of his life from his birth up until the date when his diary picks up, in 1873. Unlike the Memoirs, which he composed among his caring family after his removal in 1881, he composed the diaries in real time. In his first diary entry, he declared that he began the task of conducting a diary out of “a responsibility before history. With these goals in mind I will henceforth note down in my diary all corresponding facts which might in time prove useful to a future historian for explaining the hidden side of

32 F. F. Martens to P. L. Vaksel’, 20 April 1903 (Otdel rukopisei Rossiiskoi natsional’noi biblioteki (Saint Petersburg), f. 123, ed. khr. 308, ll. 104–105). 33 Lincoln: In the Vanguard of Reform. On this debate between Western and Russian terminology, see Larisa Zakharova: The Reign of Alexander II: A Watershed? In: Dominic Lieven (Ed.). The Cambridge History of Russia, vol. 2, Imperial Russia, 1689–1917. New York 2006, p. 597–598 and esp. p. 597, n. 13.

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our social life.”34 (Recall that Bartenev’s Russkii arkhiv had been publishing such material as contributions to understanding Russian history since 1863.) Miliutin’s diary underwent repeated re-working later in life, all with a view toward the later publication of these works. The final edition was re-copied in 1900 in fair hand by his daughters as an authorized copy, having excised certain portions of the original draft diary. In November 1911, shortly before his death, Miliutin deposited his rich archive, including the several manuscript copies of his diaries and memoirs, to the Imperial General Staff Academy. In these ego documents, Miliutin – very much like Martens – insistently pointed to his own hard work and achievements. Both men were adamant that their success was the product of their own individual merit within a capricious bureaucracy and autocratic system. One can consider the well-known diary of Pëtr Aleksandrovich Valuev (1815– 1890) alongside these two other diaries, both in respect to similarities and differences.35 Valuev served as Minister of Internal Affairs under Alexander II from 1861 to 1868, and Minister of State Assets from 1872 to 1877. The two-volume published text of Valuev’s diary covers the years 1861 to 1876, and is a much-cited source for government and court politics of these years. In some respects, Valuev was a different type of figure than both Martens and Dmitrii Miliutin. Generationally, he was a coeval of Miliutin; Martens was a generation younger. Milutin and Valuev – as well as Bartenev – were part of the “remarkable” Moscow milieu of the 1830s36; Martens came of age in Saint Petersburg at the end of Nicholas I’s (1825–1855) reign and the beginning of that of Alexander II. But unlike Miliutin and Martens, Valuev was high-born and had literary sensibilities. He was personally acquainted with both Alexander Pushkin and Petr Viazemskii. In his later years, he wrote four novels. 34 Dmitrii Miliutin: Dnevnik, 1873–75 [Diary, 1873–75]. Larisa G. Zakharova (ed.). Moscow 2008, p. 21. See Zakharova: Predislovie [Foreword], p. 3–16 and Ot redaktora [From the Editor], p. 17–18; and also: P. A. Zaionchkovskii: Ot redaktora [From the Editor]. In: Dnevnik Miliutina [Miliutin´s Diary], vol. 1. Moscow 1947; and Evgenii Viktorovich Tarle: Dnevnik Miliutina kak istoricheskii istochnik [Miliutin’s Diary as a Historical Source]. In: Voprosy istorii 10 (1949), p. 107–110. 35 Pëtr Valuev: Dnevnik P. A. Valueva [The Diary of P. A. Valuev], 2 vols.: vol. 1, 1861–1864 and vol. 2, 1865–1876, edited and introduced by P. A. Zaionchkovskii. Moscow 1961. It is notable that Larisa Zakharova – responsible for editing and publishing the Dmitrii Miliutin memoirs and diaries – was herself a student of Zaionchkovskii, who had overseen the publishing of Valuev’s diary. 36 Isaiah Berlin: A Remarkable Decade. In: Russian Thinkers. New York 1978, p. 114–209, employing the term popularized by Pavel Vasil’evich Annenkov in his memoirs, first published in serial form in 1880: Zamechatel’noe desiatiletie, 1838–48 [A Remarkable Decade, 1838–1848].

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Valuev had begun keeping a diary earlier in his life (ca. 1845, when he was around 30) than either Martens or Miliutin. And – again unlike Martens and Miliutin – he had done so at a point when he was still not a major official figure. Nevertheless the nature of Valuev’s diary is similar to those of Martens and Miliutin in its near-myopic focus on his official duties. Pëtr A. Zaionchkovskii, who oversaw the publication of the diaries, insisted in his introduction that the diary was not a memoir, but rather a true “day-to-day account.” Zaionchkovskii thinks it likely, however, that the diary does not represent the first or original draft of Valuev’s daily notes. The diary text lacks any corrections or insertions, and Zaionchkovskii posits that Valuev first composed notes and then entered them in clean hand into the “diary.” Valuev then further reworked this text after his departure from the post of Minister of Internal Affairs in 1868, composing Excerpts from my diary, which included an “introductory note” (predislovnaia zametka). These Excerpts were intended to serve as a commentary on the existing diary record and contained only that which “had historical interest” – but at the same time preserved “the aspects of authenticity, contemporaneity, and precision.”37 Political considerations led Valuev to correct and eliminate certain of the diary entries in the Excerpts – mainly softening criticism of certain state figures. Zaionchkovskii does not find convincing Valuev’s claim that he had reproduced entries from his diary word-for-word in his “excerpts.” Thus the original diary (itself likely composed on the basis of earlier draft notes) differed from the Excerpts.38 Anatolii Koni, the famed criminal lawyer, provides an interesting insight into the gulf between Valuev as an individual and Valuev as a statesman. He came into contact with Valuev first in 1866, in relation to a formal inquiry into his dissertation On the right of self-defense (O prave neobkhodimoi oborony).39 Koni got to know Valuev more closely in the early 1880s, when Valuev’s career was in decline. Koni noted the gulf between the Valuev one found in the published diaries and the man he had known from the early 1880s. The “old Valuev” found in the diary excerpts published in Vestnik Evropy (Herald of Europe) reflected, in Koni’s words, “petty turmoil and egotistical concerns about preserving his own significance and

37 All following information from Zaionchkovskii: Ot redaktora. In: Valuev: Dnevnik, vol. 1, 1861–1864, p. 5–16; citation from p. 9, quoting from Valuev’s introduction to the Excerpts. 38 Zaionchkovskii’s 1961 two-volume publication is based on the diary, not the Excerpts. 39 Anatolii Koni: Iz let iunosti i starosti [From My Years of Youth and Old Age]. In: Koni: Sobranie sochinenii v vos’mi tomakh, vol. 7. Moscow 1966–69, detailing his relations with Valuev at vol. 7, p. 113–124. I am indebted to Carla Cordin for bringing this text to my attention. On Koni and his autobiographical writings cf. also Carla Cordin’s text in this volume.

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honor in issues of crucial importance.”40 Koni was not alone in sensing this gulf between the persona of everyday man and that of a statesman. Only a few days before his death, Valuev wrote about this chasm himself: The appreciation of a man and appreciation of so-called statesmen often diverge in the most fundamental respects. But should these appreciations diverge? Can a view of a statesman renounce the view of him as simply as a man, and a Christian at that? And can he, in his final hours of earthly existence, in looking back on the path he has trodden, separate the affairs of state from his duty and affairs as a simple man? How the significance of one and other changes in his own eyes! How differently he weights that which was called and recognized as needs of state!41

I posit that the bureaucratic diary as genre was not cause of such a divergence between “the man” and “the statesman.” Rather, such diaries were rather an instrument in cultivating, crafting and curating an identity as a “statesman” (gosudarstvennyi deiatel’ or gosudarstvennyi chelovek) – a term used by Valuev, Martens, and Miliutin, with a high degree of self-consciousness, to describe themselves. Indeed, this investment in the state as the instrument of both history and of self-realization distinguishes the Victorian-bureaucratic diary genre from the Romantic-aristocratic one. Valuev’s diaries began a second, public life (a public life he had evidently had in mind while reworking his original diary) from 1891, within one year after his death, when they began to be published, first in Russkaia starina (Russian Antiquity). While still alive, in the 1880s, Valuev had shared a copy of the excerpts of his diary for the years 1847–1860 with the journal.42 The portions of Valuev’s diary covering the 1870s and 1880s were published by a variety of Russian historical journals in the aftermath of the 1905 Revolution. In 1919 the journal Byloe (The Past) published portions of the diary covering the later period, from 1877 to 1884.43 Like Martens’ diary, then, Valuev’s diary demonstrates a permeable boundary between the diary as a personal text and other ego documents (Martens’ Autobiography, Valuev’s Excerpts from the diary). These texts were clearly composed with the intention of circulating them among friends, acquaintances, and bureaucratic allies – and with an eye toward possible future (posthumous) publication – in an 40 Koni: Iz let iunosti i starosti, vol. 7, p. 123. 41 Koni: Iz let iunosti i starosti, vol. 7, p. 123–124. 42 Zaionchkovskii: Ot redaktora, p. 10–12; Editorial forward to the diary. In: Russkaia starina 5 (1891), p. 167. 43 The journal’s plans for publication, however, dated from 1913.

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environment where many such texts were being published and discussed in such popular-historical publications as Bartenev’s Russkii arkhiv, Russkaia starina, and later Byloe. Both Valuev and Martens entrusted their diaries to their sons, who then promptly shared them with publishers or deposited them in official archives.

Diaries enter the “archive” I would note one other significant development, beyond such diaries themselves. That is the institutionalization of the family and individual archives at the turn of the twentieth century, as they entered an emerging web of first public and then increasingly state institutions serving as public repositories for “archives.” For much of the nineteenth century, both the Romantic-aristocratic and Victorian-bureaucratic diary genres had been cultivated and curated by families, and thus existed in a semi-private, semi-public realm. As an example, the Bakunin family archive, encompassing not only the Bakunin family’s own materials but also the letters from Nikolai Stankevich and Vissarion Belinsky, was amassed over the course of the first half of the nineteenth century and lovingly curated by the four Bakunin sisters – in a manner similar to how the Miliutin family fostered and curated Dmitrii Miliutin’s diaries and memoirs. From the last third of the nineteenth century, the Bakunin family shared the archive of their illustrious relatives of the “remarkable decade” (1838–1848: the time when Valuev had begun his archive, and when Bartenev had come of age) with certain scholars such as Aleksandr Pypin and Pavel Annenkov, thereby retaining the family’s role as gate-keepers and cultivators of the family myth.44 After 1900, the family moved the archive from the estate at Priamukhino to a dacha in the Crimea, where in the early twentieth century it attracted a new generation of scholars (among them Pavel Miliukov and Aleksandr Kornilov). The move to the Crimea also marked the first use of the term “archive” for this collection of family documents. In 1904 Nikolai Stankevich’s nephew, who was at that time the librarian at the Historical Museum in Moscow, obtained the Bakunin family’s permission to transfer all of his uncle’s letters and materials, as well as the letters of Belinskii, to the Historical Museum. Natal’ia Semenovna Bakunina, in a 1903 letter, proclaimed that she had agreed to this transfer because the materials “belong more to Russian society than to a family.” Natalia Semenovna died in 1914. Sometime during the First World War the remainder of the archive passed 44 See Randolph: That Historical Family; and also John Randolph: On the Biography of the Bakunin Family Archive. In: Antoinette Burton (ed.): Archive Stories: Facts, Fictions and the Writing of History. Durham 2006, p. 209–231.

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in to the hands of the historian Aleksandr Kornilov, who used it to produce two volumes of a planned trilogy-history of the Bakunin family. Just prior to his death in 1925, Kornilov arranged for it to be deposited to the fledgling Institute of Russian Literature, where it remains to this day.45 A similar genre of archive, from a person of much the same background (and also – like Bakunin, and like Valuev – from a family closely linked to Moscow and Moscow University), was that of Vladimir Cherkasskii. Cherkasskii was a key figure among the liberal Slavophiles in the 1840s and 1850s, and played a major role in crafting the legislation to emancipate the serfs in 1861 and in implementing peasant reforms in Poland in 1864. In the 1870s he became the second elected mayor of Moscow, and during the 1877–1878 Russo-Turkish War served as the Director of the Civilian Administration attached to the Russian High Command. In the emancipation of the serfs and Polish reforms, he was a close friend and collaborator of Nikolai Miliutin, the brother of Dmitrii Miliutin; in his service during the 1877–1878 war, he worked closely with Dmitrii Miliutin in his capacity as war minister. (As with so many other figures, a major part of his diary and his legacy was to justify and defend his role in the Russo-Turkish War.)46 As with the Bakunins, upon Cherkasskii’s death in 1878 his papers passed into the hands of family and close friends: first to his wife, Ekaterina Alekseevna Cherkasskaia and then, upon her death, to Pëtr Fëdorovich Samarin. Under his direction, Princess Ol’ga Nikolaevna Trubetskaia in the early twentieth century undertook the cataloguing of the archive for the transfer from the hands of family and friends to the Moscow Public Rumiantsev Museum, where it remains to this day. (An institution first renamed as the Lenin, and then the Russian State Library.) Together with 45 Randolph: That Historical Family, esp. p. 589–591. 46 On Cherkasskii, see: Vladimir Aleksandrovich Cherkasskii: Knaiz’ Vladimir Aleksandrovich Cherkasskii: Ego stat’i, ego rechi i vospominaniia o nem [Prince Vladimir Aleksandrovich Cherkasskii: His Articles, His Speeches and Reminiscences about Him]. Moscow 1879; Princess Ol’ga Nikolaevna Trubetskaia: Materialy dlia biografii Kn. V. A. Cherkasskogo [Materials for a Biography of Prince V. A. Cherkasskii], vol. 1, pts. 1–2. Moscow 1901; Pëtr Mikhailovich Maikov: Cherkasskii, Vladimir Aleksandrovich. In: Aleksandr Aleksandrovich Polovtsov (ed.): Russkii biograficheskii slovar’ [The Russian Biographical Dictionary], vol. 22. Saint Petersburg 1905, p. 198–208; Richard Wortman: Koshelev, Samarin, and Cherkassky, and the Fate of Liberal Slavophilism. In: Slavic Review 21 (1962), p. 261–279; and Vladislav Iakimovich Grosul: Vladmir Aleksandrovich Cherkasskii. In: Boris Samuilovich Itenberg/Valentin Valentinovch Shelokhaev (eds.): Rossiiskie liberaly [Russian Liberals]. Moscow 2001, p. 159–197. Dmitrii Gavrilovich Anuchin, Cherkasskii’s aide in 1877–78, serialized in the journal Russkaia starina a long defense of Cherkasskii’s role in that war, basing it on his own diary and access to Cherkasskii’s personal archive, held at that time by the deceased Cherkasskii’s friends.

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cataloguing this material, Trubetskaia employed the archive to compose – with the aid of the famous historian Vasilii Kliuchevskii – the book Materials for a biography of Prince V. A. Cherkasskii (Materialy dlia biografii kn. V. A. Cherkasskogo). Tellingly, Trubetskaia modestly titles her work “Materials for a biography,” rather than a “Biography” in its own right. In it, she reproduces large chunks of the archive as excerpts and appendices.47 Just before his death in November 1911, Dmitrii Miliutin bequeathed his diaries, memoirs, and correspondence – composed, re-edited, re-copied and curated for nearly two decades after 1881 – to the Imperial General Staff Academy. They now are found alongside the Cherkasskii materials, in the Manuscript Division of the Russian State Library.48 And, as we have seen, Nikolai Martens, Fëdor Martens’ son, transferred his father’s diary to the archive of the Imperial Russian Foreign Ministry sometime between 1909 and the outbreak of the First World War. So the mid-nineteenth century tendency to curate these materials as family collections mutates in the early twentieth century into depositing these materials first in “public” institutions – which in the next decade became “state” institutions. The Soviet state unintentionally consolidated this process after the 1917 Revolution by centralizing and standardizing what had in the pre–1917 period been a network of separate public (e.g., the Rumiantsev Museum or Tret’iakov Gallery) and state (e.g., the institutional archives of ministries and other state bodies) repositories. So, in addition to the proliferation over the last third of the nineteenth century of excerpts of diaries and other ego documents entering the public realm by means of published excerpts in monographs and especially in periodicals devoted to history (Russkii Arkhiv, Russkaia Starina, Byloe) – the early twentieth century saw the large-scale transfer of “personal” or “family” archives into public and state institutions, where they were now accessible to professional scholars as “archives.” The Soviet state’s subsequent consolidation of the variegated set of institutions (public and official-bureaucratic) into one unified edifice completed the “professionalization” and “institutionalization” of such collections.

47 See Trubetskaia: Materialy dlia biografii, vol. 1, p. iii–iv. The collection now constitutes the Prince V. A. Cherkasskii Collection, Otdel rukopisei Rossiiskoi gosudarstvennoi biblioteki (OR RGB, Moscow), f. 327, sections I and II. 48 D. A. Miliutin Collection, OR RGB, f. 169. On Miliutin’s deposit of his archive, see Larisa G. Zakharova: Ot redaktora. In: Dmitrii Miliutin: Vospominaniia, 1843–56. Moscow 2000, p. 18–20.

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Autobiographical documents of imperial subjects or imperial experts? What do these diaries tell us about imperial experts and their autobiographical practices? I came to think of the diaries as specifically bureaucratic diaries, produced in the age of historicism and in an era of profound consciousness of the need to document history, when considering the Martens diary, which forms the core of my analysis in the paper. There is a good deal about his superiors, colleagues, and foes. There is little self-reflection about why he has these concerns, and no examination about the autobiographical act as a subject-producing act. At first I was inclined to ascribe the nature of this diary to Martens as a man with a shallow personality. And indeed, he was a rather one-dimensional figure – remarkable as a self-made man, but also very much scarred by the experience of making both himself and his career (for him the two were largely co-terminus) in the status-conscious Russian imperial bureaucracy. To which extent, one may ask, can these ego documents also serve a history of imperial experts? Martens is known to two scholarly communities. Historians of international law know him as a leading Russian and indeed world-renowned specialist on international law and especially the law of war. He held the chair of international law at Saint Petersburg University, wrote a textbook on international law that was translated into seven languages (including Persian and Japanese), served as an advisor to the Russian government and was appointed repeatedly as a delegate for the Russian government to international conferences – most notably 1874 Brussels and Hague 1899 and 1907. Diplomatic historians know Martens in a different way: as the editor and author of the historical commentaries to a fifteen-volume officially-sponsored compilation of Russia’s treaties and conventions with foreign powers – for which he was granted unmatched access over several decades to the archives of the Russian Ministry of Foreign Affairs.49 In addition to his ongoing, multi-volume treaty series (with the obligatory historical introduction and commentary), Martens used his unrivalled access to this archival material to publish path-breaking articles (generally in the leading liberal monthly Vestnik Evropy) on the history of Russia’s foreign relations.50 Martens, in short was both a specialist 49 Fëdor Martens: Recueil des traités et conventions conclus par la Russie avec les Puissances étrangères / Sobranie traktatov i konventsii, zakliuchennykh Rosseiu s inostrannymi derzhavami, 15 vols. Saint Petersburg 1874–1909. 50 E.g. Martens: Rossiia i Prussiia pri Ekaterine  II : Iz istorii nashikh mezhdunarodnykh otnoshenii [Russia and Prussia under Catherine II: From the History of Our International Relations]. In: Vestnik Evropy no. 5 (May 1882), p. 226–268; Martens: Rossiia i Prussiia v epokhu revstavratsii [Russia and Prussia in the Restoration Era]. In: Russkaia mysl’,

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in diplomatic history – tasked as such by the Ministry of Foreign Affairs – as well as a legal scholar. This prominence did not prevent him from complaining that his own government ignored and did not appreciate him.51 While both Miliutin and Martens considered themselves “statesmen,” Miliutin was emphatically a military man – one who was the product of both university (Moscow University, 1833) and specialized military education (Imperial Military Academy, 1836). He also took part in active military service, participating in campaigns in the Caucasus, from 1836 to 1860, interrupted by a spell serving as an instructor at the Military Academy. Famously, he served as War Minister from 1861 to 1881, when he was removed and went into retirement – to write his memoirs. Moreover, Martens and Miliutin knew each other: their careers intersected at various points – with Miliutin serving as something of a patron to Martens. And after Miliutin was removed in 1881, Martens continued to correspond with him, sending him his books and offprints. In his introduction to the Munich conference of 2014, Benjamin Schenk proposed three vectors for understanding the overarching analytic of “imperial experts and their autobiographical practices” at the end of the nineteenth and the beginning of the twentieth centuries.52 First, he suggested that the category of “imperial subjects” is a productive lens for pursuing comparative imperial history. In particular, it is a frame for examining imperial self-description – of tracking “the subjective dimension of imperial rule”. And Schenk insists that we understand the term “subject” in two registers. First, “subject” reflects the position of these individuals as serving under a superordinate authority: subjects – in the sense of the German “Untertan” or the Russian “poddannyi”. Second, it also captures the

no. 1, pt. 2 (1888), p. 27–51 and no. 2, pt. 2 (1888), p. 17–50; Martens: Rossiia i Angliia v prodolzhenie XVI I XVII vekov [Russia and England druing the 16th and 17th Centuries]. In: Russkaia mysl’ no. 1, pt. 2 (1891), p. 38–54 and no. 2, pt. 2 (1891), p. 1–36; Martens: La question du désarmement dans les relations entre la Russie et l’Angleterre (on the 1816 disarmament proposal). In: Revue de droit international et de la législation compare 26 (1894), p. 573–585; Rossiia i Angliia v nachale XIX -go stoletiia [Russia and England at the Beginning of the 19th Century]. In: Vestnik Evropy no. 10 (Oct. 1894), p. 653–695 and no. 11 (Nov. 1894), p. 186–223); Martens: Imperator Nikolai I i Koroleva Viktoriia [Emperor Nicholas I and Queen Victoria]. In: Vestnik Evropy no. 11 (Nov. 1896), p. 74–130; Martens: Aleksandr i Napoleon I: poslednie gody ikh druzhby i soiuza [Aleksandr I and Napoleon I: the Last Years of their Friendship and Alliance]. In: Vestnik Evropy, no. 2 (Feb. 1905), p. 609–639; no. 3 (March 1905), p. 110–37; no. 4 (April 1905), p. 562–614. 51 His complaints were similar in nature to those of the protagonist in the article on the Ottoman case by Barbara Henning in this volume. 52 Cf. also Martin Aust’s and Benjamin Schenk’s introduction to this volume.

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sense of these individuals as agents, with goals to realize, and who endeavored to fashion themselves in an imperial situation.53 In fact we can read the bureaucratic diaries of Martens, Miliutin and Valuev as examples of an autobiographical boom, which apparently took place not only in the Russian but also in the Habsburg and the Ottoman Empires at the end of the nineteenth century. But to which extent this phenomenon can be linked to a specific imperial setting, is still an open question. From my point of view we have to clearly distinguish processes, which were general to the nineteenth-century (the expansion of the state and the state education system, the crystallization of professional disciplines, the rise of specialized knowledge, the cult of meritocracy against tradition),54 and processes that are properly imperial. To this I would add that we are studying these particular imperial experts at a specific historical moment and within a specific morphology of empire – one in which certain actors (both within the imperial states and in imperial society) were seeking to move from a model of imperial subjecthood to imperial citizenship.55 As regards Martens, Miliutin and Valuev specifically, however, I hasten to add that they indeed imagined themselves as political subjects of empire rather than as imperial citizens of empire. They certainly believed that their expertise granted them a privileged 53 For studies of individuals fashioning themselves in an imperial situation, see Wcislo: Witte; and especially Willard Sunderland: The Baron’s Cloak: A History of the Russian Empire in War and Revolution. Ithaca 2014. 54 On the global nineteenth century, see the relevant sections of Christopher Alan Bayly: The Birth of the Modern World, 1780–1914. London 2004; and Jürgen Osterhammel: The Transformation of the World: A Global History of the Nineteenth Century. Princeton 2014 (German original: 2009). 55 For studies of how this transformation was taking place in the Russian Empire, see Sunderland: The Baron’s Cloak, esp. ch. 3; Yanni Kotsonis: States of Obligation: Taxes and Citizenship in the Russian Empire and Early Soviet Republic. Toronto 2014; Ekaterina Pravilova: A Public Empire: Property and the Quest for the Common Good in Imperial Russia. Princeton 2014; Faith Hillis. Children of Rus’: Right-Bank Ukraine and the Invention of the Russian Nation. Ithaca 2013, esp. part 3; Alexander Semyonov: “Greater Britain” into “Greater Russia”: A Case of Imagining Empire and Nation in the Early Twentieth Century Russian Empire. In: John W. Boyer/Berthold Molden (eds.): EU tROPE s. The Paradox of European Empire (= Parisian Notebooks no. 7). Chicago 2014, p. 25–48; and Peter Holquist: Dilemmas of a Progressive Administrator: Boris Nol’de. In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 7 (2006), p. 241–273. For suggestive studies showing a similar dynamic in the late Ottoman empire, see: Bedross Der Matossian: Shattered Dreams of Revolution: From Liberty to Violence in the Late Ottoman Empire. Stanford 2015; Julia Phillips Cohen: Becoming Ottoman: Sephardi Jews and Imperial Citizenship in the Modern Era. Oxford 2014; and Karen M. Kern: Imperial Citizen: Marriage and Citizenship in the Ottoman Frontier Province of Iraq. Syracuse 2011.

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position – but at the end of the day, they deferred to the political authority of the autocrat. They did not seek to realize their subjectivity through specifically political activity or make assertions about being self-acting, self-realizing citizens with a claim themselves to act in the name of a political project. That is, while they were operating within a larger envelope of ideas and practices, one in which empires began to move toward a conceptualization of imperial citizenship, as actors they themselves continued to act as subjects of empire. So turning specifically to Martens and Miliutin, can we analyze them as “imperial subjects”? My answer would be “yes” – but in soft rather than hard terms. Martens was undoubtedly an imperial cosmopolitan, an up-by-the-bootstraps success story in nineteenth-century imperial Russia, whose frame and context were both international and imperial. Hailing from the Baltic, he made himself a life and a career at the center of imperial power, Saint Petersburg, rather than in situ, on the borderlands. Martens’ life is a stirring story of poor-boy-does-good in the setting of imperial Russia. And in many respects this story is a generic nineteenth century one, not necessarily related to empire: the rise of specialist knowledge, the growth of state bureaucracies and the state education system, the emergence of academic and professional disciplines. But the frame was the Russian empire. Consider: a child born in the imperial periphery to an Estonian family of small means (so small that little can be found in the historical record on his childhood), orphaned at age nine, and then raised in a German Lutheran foundling home in Saint Petersburg. Only by his own efforts and achievement did he manage to attend a Lutheran Gymnasium and then Saint Petersburg University, where he again excelled at the Law Faculty. While later in his career Martens obsessed over his marginalization due to his lack of high birth, one might equally marvel at how this poor orphan boy came to be the leading scholar of international law in imperial Russia and his government’s official delegate on the world stage.56 Indeed, Martens was a classical representative of what might be termed the Petersburg side of Russian political and cultural life, in contrast to the Moscow side. This Petersburg universe was demonstratively imperial and cosmopolitan, in contrast to Moscow, which was emphatically Russian.57 Fëdor Martens – the 56 On Martens in this light, see ch. 1 of my forthcoming ms. By Right of War. 57 Summarizing a vast literature on this iconic contrast, see: Sidney Monas: St. Petersburg and Moscow as Cultural Symbols. In: Theofanis George Stavrou (ed.): Art and Culture in Nineteenth Century Russia. Bloomington 1983, p. 26–39; Richard Wortman: Moscow and Petersburg: The Problem of Political Center in Tsarist Russia. In: Sean Wilentz (ed.): Rites of Power: Symbolism, Ritual, and Politics since the Middle Ages. Philadelphia 1985, p. 244–271; and Orlando Figes: Natasha’s Dance: A Cultural History of Russia. New York 2002, ch. 3, “Moscow! Moscow!” pp. 147–216.

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striver from the borderlands, Lutheran, non-Russian – was emblematic of this Petersburg world. He traveled to Berlin, Vienna, Paris, the Hague, London, Oxford and New York. He dreamed of an ambassadorial appointment in the Hague. Following the habit of all official Petersburg, the Martens family summered outside of the noxious and disease-ridden capital. In the 1880s they spent most summers in Baden-Baden. But by 1896 Martens purchased “Waldensee estate, close by Vol’mar, in Lifland province.” 58 Yet not once in his life did he visit either Moscow or Kiev, the capitals of Russian cultural and spiritual life. So while Martens’ life and career necessarily played out within the structure and imaginary of imperial Russia as empire, his realm of maneuver was much more the Russian empire as a European great power: Saint Petersburg, the Baltic lands, and the spheres of Russia’s diplomatic representation in Europe.59 Second, Martens was an imperial subject to the extent that he consciously addressed the tensions between empire and nation. He was certainly aware that he lived in a dynastic land empire in an age of nationalism. He identified the principle of nationality as the defining feature of the new age of international law – although, he thought, too many people saw in it a panacea.60 But he insisted that “nationalism” often served as a demagogic slogan in the face of more complex realities – such as empires. He was, for example, a critic of attempts by Italian legal scholars to make the nation the font of legitimacy for law. In an article, published in 1883 on The National Politics of Prince Bismarck, Martens reflected on the uses to which nationalism and nationality were put.61 This essay was essentially an exposition of Bismarck’s political efforts from 1851–1859, in the form of a review of the first volume of the first German chancellor’s memoirs. Martens praised how the “Reich’s unifier” brilliantly managed to achieve Germany’s “national interests” – reproducing, of course, Bismarck’s own self-mythologization of his efforts in his ego documents. Bismarck, in Martens’ telling, consciously strove 58 This is how he signed letters composed while at the estate: see, e.g., Martens to Vaksel’, 29 July 1889 (Otdel rukopisei Rossiiskoi natsional’noi biblioteki [OR RNB], St. Petersburg, f. 123, ed. khr. 308, ll. 71–72) (he must have been renting Vol’mar at this time); Martens to Dmitrii Miliutin, 24 August 1898 (OR RGB f. 169, karton 68, d. 42, ll. 14–15 ob.); Martens to Vaksel’, 11 August 1903 (OR RNB, f. 123, ed. khr. 308, ll. 106–107). 59 I am grateful to Benjamin Schenk for his suggestions on this point. 60 Fëdor Martens: Sovremennoe mezhdunarodnnoe pravo tsivilizovannykh narodov [The Contemporary International Law of Civilized Nations], vol. 1, 2nd revised and expanded edition. Saint Petersburg 1887, § 33, p. 147–51. 61 Fëdor Martens: Natsional’naia politika kniazia Bismarka: Ocherk [The National Politics of Prince Bismarck: A Note]. In: Vestnik Evropy no. 6 (June 1883), p. 694–753, reviewing Otto von Bismarck: Preußen im Bundestag, Bd. 1. Leipzig 1882.

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to make Prussia an attractive option for other Germans by pursuing progressive domestic policies and thereby winning over Germans to the idea of a Prussia-led Germany. Martens thus presented Bismarck’s efforts as a mid-nineteenth century Prussian enactment of what in Russia was the imperial Petrine project of stateled progressive reform. Martens opened and closed this essay with a discussion of the usages of the terms “nationality” (russkaia natsional’nost’) and “national interest” (vo imia natsional’noi politiki i natsional’nykh interesov russkogo naroda) in Russian debates of the 1880s.62 He noted that the term “Russian national interests” had become something of a talisman in these debates – one needed only to invoke it, and all was justified. But what, he asked, did these interests in fact constitute? Martens noted that in the past several years people had more clearly defined what they meant by “Russian national interests”: a return to the institutions of the pre-Petrine era, to Muscovy, and to institutions which were Russian “from time immemorial” and which marked Russia’s distinctiveness from all other peoples.63 Martens’ entire essay was intended to contrast such national mysticism to Bismarck’s instrumental use of state power – the rational pursuit of national interests. As Martens argues, Bismarck succeeded in achieving “German national interests,” but in doing so, the Prussian aristocrat saw no need to return to the policies of the first Brandenburg princes – any more than Russia’s rulers in the 1880s should fall back upon the practices of Muscovy.64 In short, Martens’ article was a none-too-veiled call in 1883 for a rational Petrine raison d’état, in the face of the irrational romanticization of Muscovy and Russian specificity in the reign of Alexander III (1881–1894).65 Miliutin as war minister was of course an imperial subject like Martens, in that he conducted his life in a broader imperial context. And, like Martens, he meditated on the tensions of empire in an age of nationalism. One need only consult any of Miliutin’s diary entries on the Polish question. He was fearful, and at times hysterical, on the question of Poles and their threat to the Russian empire. But unlike Martens, Miliutin was also an active practitioner of empire – both the breaker and the maker of imperial frameworks. He campaigned in the Caucasus – indeed, he volunteered to serve there – from 1839 to 1845, fighting Shamil. As chief-of-staff to the Caucasus army in 1859, he helped develop the Russian plan

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Martens: Natsional’naia politika, p. 694. Ibid., p. 695. Ibid., p. 752 On the romanticization of Muscovy under Alexander III, see Richard Wortman: Scenarios of Power: Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. 2. Princeton 2000, part II: Alexander III and the Inception of a National Myth, pp. 159–306.

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to expel the Circassians from the Western Caucasus. As war minister he actively oversaw the completion of this operation in 1864, resulting in the expulsion of ca. half a million souls to the Ottoman empire, in the course of which perhaps one quarter of them perished.66 He helped direct the military suppression of the 1863–1864 uprising in Poland and the empire’s western provinces. And in 1874 he implemented his long-planned military reform, introducing the model of universal conscription to the Russian empire in emulation of Prussia – but with this difference: he conceived of the military reform as a forge for transforming the empire’s variegated peoples into more standardized imperial subjects. One fateful consequence of this reform was to suggest the idea of imperial citizenship as a corollary to this service.67 An additional category of analysis suggested by Benjamin Schenk in his introductory remarks to the Munich conference was that of “historical change”, i.e. the question of whether there was a boom in autobiographical publications and practices at the end of the nineteenth-century in all three empires, a boom that would both trace a consciousness of change in all three empires, as well as a self-conscious engagement (by historical “subjects”) with this change in all three empires.68 As a general observation, I would again note what I think is the emergence, especially in the late nineteenth and early twentieth centuries, of ideas about “imperial citizenship.” This shift, I repeat, does not yet figure for Martens or Miliutin. I would underscore, however, that there was clearly a boom in the last third of the nineteenth century in publications of memoirs, letters, documentary materials, and diaries in the form of books and especially as articles in a growing periodical press. This era also clearly witnesses, as we have seen, a broad transfer of documentary repositories from the hands of loving family curators – who had not kept such materials private, but rather made them semi-public through the selective sharing of the materials to trusted relatives and acquaintances — to formal, professional 66 Peter Holquist: To Count, to Extract, To Exterminate: Population Statistics and Population Politics in Late Imperial and Soviet Russia. In: Terry Martin/Ronald Suny (eds.): A State of Nations: Empire and Nation-making in the Era of Lenin and Stalin. New York 2001, p. 111–144. 67 See Pëtr A. Zaionchkovskii: Voennye reformy 1860–1870-kh godov [The Military Reforms of the 1860s and 1870s]. Moscow 1952; Joshua Sanborn: Drafting the Russian Nation: Military Conscription, Total War, and Mass Politics, 1905–1925. DeKalb 2003; and Robert Baumann: Universal Service Reform: Conception to Implementation, 1873–1883. In Bruce Menning/David Schimmelpenninck van der Oye (eds.): Reforming the Tsar’s Army: Military Innovation in Imperial Russia from Peter the Great to the Revolution. New York 2004, p. 11–33. 68 Cf. also Martin Aust’s and Benjamin Schenk’s introduction to this volume.

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repositories, whether they were state institutions (ministerial archives) or public institutions. This shift both professionalized the procedures of presentation and access, and qualitatively transformed the circle and nature of the people studying such documents, now recognized formally as abstract “archives”. And what of “the (imperial) expert”? At our Munich gathering, Martin Aust drew our attention to the category of “expert” as a field for analyzing how a specific and important set of people engaged in imperial autobiographical practices at the end of the nineteenth century.69 And indeed, this analytic category seems to be a very fitting analytic for this period and our common problematic. Aust emphasized that we might understand “imperial expert” (or, “expert in the context of empire”) in two different ways. First, the extent to which imperial rule served as the frame for the emergence of disciplines and knowledge – as the engine driving the training, employment and advancement of large new cohorts of people. In the process, this dynamic transformed both the tools of empire (with the expansion and professionalization of the imperial state bureaucracy) as well as the texture of the imperial fabric (in terms of changing the horizons and expectations of the empire’s subjects, an increasing proportion of whom now have contact with or are directly employed by the state). Both Martens and Miliutin were undoubtedly imperial experts in the first sense, as men trained and employed by the imperial state. And both also thought of themselves explicitly as “experts.” Martens – within the framework of imperial Russia – was manifestly a product of the expansion of bureaucracy and evolution of a statist-bureaucratic worldview under both Nicholas I and Alexander II. And in terms of his chosen field, he partook in the more general emergence of international law as a discipline.70 The vast expansion in teaching and publishing international law in Russia owed much to the institutional legacy of the reigns of Alexander I (1801–1825) and Nicholas I, and to the reforming measures of Alexander II, such as the 1863 university statute. But international law in Russia also was part of a broader tectonic shift throughout Europe.71 In his authoritative study of the development of international law, Martti Koskenniemi contends that, in fact, international law did not emerge as a discipline – “a professional sensibility” – until ca. 1870, with the establishment of the journal Revue de droit international et de

69 Cf. also Martin Aust’s and Benjamin Schenk’s introduction to this volume. 70 Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations, p. 42–47. On different manifestations of this phenomenon, in Germany and the United States, see: Betsy Röben: Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht, 1861–1881. Baden-Baden 2003; and John Witt: Lincoln’s Code: The Laws of War in American History. New York 2012. 71 On the synergy of these two processes, see ch. 1 of my By Right of War.

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legislation comparée (1869) and the founding of the Institut de droit international in 1873. Prior to the 1860s, he shows, throughout Europe there was very little consciousness of international law as a discrete field in its own right, separate from philosophy, diplomacy or public and civil law. Indeed, most countries did not even teach international law as a separate subject. Tellingly, Martens described his field of study in both his inaugural lecture and his two-volume textbook (1882–1883) as “contemporary” (sovremennoe) international law.72 Coming to age in Russia’s era of positivism Martens insisted that international law was a “science” like any other. He noted that, regrettably, international law had only recently moved to investigating the “events and phenomena of actual life.” Martens recognized natural law – but insisted “that the science [my emphasis: PH] of international law cannot limit itself to laying out the foundations which logically flow from human nature, but also must turn to a study of the laws of the historical development of peoples in their international life.”73 Yet while Martens undoubtedly thought of himself as an “expert,” it is less certain that he was an imperial expert. By contrast, Miliutin is a man who would qualify both as an expert, and an expert of empire. Upon graduation from the imperial military academy, Miliutin volunteered to serve in the Caucasus in order to “gain military knowledge and experience”, advancing by 1844 to the post of quartermaster general for Russian forces in the Caucasus. After a tour of Europe in 1845, Miliutin then took over the teaching of military geography at the Imperial General Staff Academy, where he developed the discipline of “military statistics.”74 Inspired by impressions gained in his travels and in his study of the Prussian army, Miliutin insisted on the significance of statistics as a discrete discipline. He looked to the newly emerging social sciences as the foundations of this new field of study. In his textbook for the new subject, which drew extensively on French and German works, Miliutin observed that statistics encompassed “the independent study of man himself, in his social life.” Statistics was not merely a descriptive endeavor. Citing the examples of Britain and France, he noted that statistics was a tool of administrative practice. It was a science, analogous to biology: “just as in a study of the human body one must begin by studying the individual organs, so in a 72 Fëdor Martens: O zadachakh sovremennogo mezhdunarodnogo prava [On the Tasks of Contemporary International Law]. In: Zhurnal Ministerstva Narodnogo Prosveshcheniia 155, no. 5/6 (1871), p. 251–268; Martens: Sovremennoe mezhdunarodnnoe pravo tsivilizovannykh narodov (1882–83). 73 Martens: O zadachakh, p. 258–259. 74 Stoletie voennogo ministerstva, 1802–1902, tom 3, otd. 6 Voennye ministry [A Century of the War Ministry, 1802–1902, vol. 3, part 6, War Ministers]. Saint Petersburg 1911, p. 240–243.

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study of the body politic one must first examine each of its organs separately.” And in this organicist presentation, it was “elements” (elementy) that comprised the essential component parts of the population.75 Henceforth, military statistics and geography (which encompassed the population) would occupy a prominent place in the curriculum of the General Staff Academy, with fully one-quarter of students’ coursework devoted to this subject.76 The conceit that one could disaggregate the population into constituent elements – each of which had specific attributes – informed his policies in the 1859–1864 Circassian expulsions (in a negative sense), and was equally an underlying conceptual template for his 1874 military reforms.77

Conclusion Martens and Miliutin clearly conceived of themselves as “experts” in an age of specialization, professionalization and burgeoning bureaucracy. Both were “imperial experts” in the sense that their careers – indeed, their entire lives – played out within an all-imperial context. Martens, however, oriented himself toward a European professional identity and operated largely within the sphere of Great Power politics. He was a figure of the imperial metropole. Of the two, Dmitrii Miliutin is the person who most conforms to the model not only of an expert who was a product and inhabitant of an imperial situation, but one who also self-consciously theorized and implemented imperial modes of governing. Miliutin was a product of empire – but also a breaker and maker of imperial frameworks. In this chapter I have examined the ego documents of three individuals: Fëdor Martens, Dmitrii Miliutin, and Pëtr Valuev. Each considered himself a “statesman” and each – in an age of increased attention toward historical consciousness and publication of ego materials tied to historical achievements – kept a diary. In all 75 Dmitrii Miliutin: Pervye opyty voennoi statistiki [First Efforts at Military Statistics], 2 vols. Saint Petersburg 1847–48, vol. 1:38–39, 44–45, 54, 56, 58; see also Dmitrii Miliutin: Kriticheskoe issledovanie znacheniia voennoi geografii i voennoi statistiki [A Critical Examination of the Significance of Military Geography and Military Statistics]. In: Russkii geopoliticheskii sbornik, no. 2 (1997), p. 39–48 (original, 1846). 76 Russian general staff officers undertook a large-scale project to publish volumes detailing the military geography and statistics of the Russian empire – contributing to how the imperial state knew and saw its diverse population. See: Holquist: To Count; and David Rich: Imperialism, Reform, and Strategy: Russian Military Statistics, 1840–1880. In: The Slavonic and East European Review 74 (1996), p. 621–639. 77 Holquist: To Count.

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three cases, the diaries were composed with an eye toward later dissemination. I have proposed understanding these diaries as representatives of a historically and culturally-specific genre, the “bureaucratic diary,” a product of both a historicizing and a Victorian age. We enrich our understanding of these historical figures and their age by approaching these sources not simply as a repository of facts, but equally as projects born of a specific historical moment and of a particular morphology of empire.

Barbara Henning

A Passionate Ottoman in late 19th Century Damascus Mehmed Salih Bedirhan’s Autobiographical Writing in the Context of the Ottoman-Kurdish Bedirhani Family

The following discussion on imperial identity and autobiographical writing takes its inspiration from the trajectory of a late 19th- century Ottoman official of Kurdish background, Mehmed Salih Bedirhan, who lived from 1873/74 to 1915. Mehmed Salih was not a prominent political actor of the late-Ottoman period. He was an official of minor importance and influence, employed in the provincial administration in different parts of the Ottoman Empire over the late 19th and early 20th centuries. Nevertheless, his life provides an illustrative example of an “imperial career”, in the sense that the actions he took and the hopes he cherished were firmly embedded in the context of empire. He was shaping his imperial life-world, while at the same time the context of empire informed and restricted his personal and professional trajectory.1 Mehmed Salih was a member of the Ottoman-Kurdish Bedirhani family. The family’s history reflects the impact of Ottoman state centralization on the Kurdish emirates in Eastern Anatolia in the mid–19th century and the subsequent attempts of the Ottoman state to extend its control over the Kurdish nobility and integrate its members into the ranks of the imperial bureaucracy. Following the trajectories of different family members in late-imperial times and beyond the eventual collapse of the empire after the First World War illustrates how individual actors from a very similar background differed in their evaluations of the political situation and their respective room for maneuver: Some members of the Bedirhani family remained firmly attached to the Ottoman Empire, others broke away, seeking greater Kurdish autonomy under Russian or British protection. As the 20th century proceeded, several family members joined the struggle for Kurdish independence in exile, while others chose to remain in Turkey after the formation of the Kemalist Republic, adopting Turkish surnames and trying to assimilate into the urban 1

Drawing on David Lambert/Alan Lester (eds.): Colonial Lives Across the British Empire: Imperial Careering in the Long Nineteenth Century. Cambridge 2006, pp. 1–3.

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elite of Istanbul. Within the history of the Bedirhani family, one finds a multitude of individual stories to potentially pursue. Mehmed Salih Bedirhan caught my attention because – contrary to many other, arguably more politically active and socially or economically prominent members of the Bedirhani family – he wrote about himself and his life. Excerpts from his writings have been preserved, albeit in a single, rather particular edition. The autobiographical text introduces Mehmed Salih and his personal trajectory, depicts his ambitions, his dreams and disappointments and offers a glimpse of his ideas about his own, complex and shifting Ottoman-Kurdish imperial identity. For a number of reasons, Mehmed Salih’s recollections constitute an interesting body of writing: First of all, the author’s timing for writing up his memoirs is crucial: He did so over an extended period of time prior to the outbreak of the First World War. At a time, in other words, when Kurdish nationalist ambition, discussions about independence or autonomy of a Kurdish nation state as well as Kurdish resistance to the Turkish-Kemalist political project were not on the agenda yet.2 In 19th-century Syria, Mehmed Salih was writing and thinking about himself in an Ottoman-imperial framework, negotiating Kurdish, Ottoman as well as religious, social and cultural aspects of his identity and bringing in the particular background of his family, the Bedirhanis. In 1915, shortly after the Ottoman Empire had entered the First World War, Mehmed Salih passed away. Contrary to many of his contemporaries who would write about the late-Ottoman period in retrospect or later revise and edit their memoirs from late-Ottoman times, influenced by newly emerging discourses of ethnic nationalism and nationalist historiography, Mehmed Salih never had a chance (or, for that matter, a reason) to do so.3 He died an imperial official and remained, in his own words, a passionate Ottoman throughout his entire life. Secondly, as it has already been indicated, Mehmed Salih was not a high-level Ottoman official or influential policy maker. Rather, he was a state servant like there were many others, a bureaucrat of average importance. Yet his perspective is not neglectable, on the contrary: His writings about his activities and observations in the Ottoman province of Syria and in the district of Hawran in particular contribute an actor’s point of view on processes of Ottoman state centralization in the later 19th century that have so far most extensively been studied from the

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Cf. Hakan Özoglu: Kurdish Notables and the Ottoman State: Evolving Identities, Competing Loyalties, and Shifting Boundaries. New York 2007, pp. 69–72. On autobiographical writings of members of the Ottoman political elite after the dissolution of the empire cf. also Murat Kaya’s article in this volume.

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macro-perspective of social and economic history.4 Mehmed Salih’s account provides an opportunity to bring the individual, in his case not a prominent decision maker but a practitioner of empire, back into the analysis of these historical processes.5 Instead of reading Mehmed Salih’s writings as a coherent and objective compilation of historical facts and personal truths about the protagonist,6 an analysis benefits from taking into account the embeddedness of the text in social and cultural frameworks particular to the late-Ottoman period which informed the author’s ideas about the self and his personal trajectory and provided him with models to write about his life.7 It seems therefore productive to look at Mehmed Salih’s autobiographical writing as a text8 in which ideas about the self and meanings of empire for the individual are not merely expressed but at the same time constructed and continuously modified. Such a perspective then raises the question how general processes of social change and identity formation that took place over the late-Ottoman period were reflected in Mehmed Salih’s writings. Mehmed Salih Bedirhan’s autobiographical writings were read, re-evaluated and commented upon after his death. The text in its published form does therefore 4

Examples for this approach include Philip Khoury: Urban Notables and Arab Nationalism. Cambridge 1983; Linda Schatkowski Schilcher: Families in Politics. Damascene Factions and Estates of the 18th and 19th Centuries. Stuttgart 1985; and idem: Violence in Rural Syria in the 1880s and 1890s: State Centralization, Rural Integration and the World Market. In: Farhad Kazemi/John Waterbury (eds.): Peasants and Politics in the Modern Middle East. Miami, Florida 1991, pp. 50–84; Birgit Schäbler: Aufstände im Drusenberg­ land. Ethnizität und Integration einer ländlichen Gesellschaft Syriens vom Osmanischen Reich bis zur staatlichen Unabhängigkeit. Gotha 1996; Hanna Batatu: Syria’s Peasantry, the Descendants of Its Lesser Rural Notables, and Their Politics. Princeton 1999; Max L. Gross: Ottoman Rule in the Province of Damascus. Diss., Georgetown University 1979; Martha Mundy/Richard Saumarez Smith: Governing Property, Making the Modern State. Law, Administration and Production in Ottoman Syria. London 2007; among others. 5 Albert Hourani: How Should We Write the History of the Middle East? In: International Journal of Middle Eastern Studies 23 (1991), pp. 125–136, see also Geoffrey Wolff: Minor Lives. In: Marc Pachter (ed.): Telling Lives. The Biographer’s Art. Philadelphia 1981, pp. 57–72. 6 Cf. Pierre Bourdieu: L’illusion biographique. In: Actes de la recherche en sciences sociales 62 (1986), Nr. 1, pp. 69–72. 7 For an analysis of biographical writing at the crossroads between individual agency and structural constraints, see the preface of Hans Erich Bödeker (ed.): Biographie Schreiben. Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Bd. 18. Göttingen 2003, pp. 19–21. 8 Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), H. 3, pp. 441–476. Cf. also Volker Depkat’s article in this volume.

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not only tell us about ideas Mehmed Salih had about himself, but also opens up a discussion about the image some of his descendants wanted to convey of him and his role in the family’s history as they edited and published the text in the 1990s. An investigation of this attempt to translate an imperial career into the logic of Kurdish nationalist historiography shifts the focus from Mehmed Salih’s own rendering of an imperial expert’s life to the making of an early pioneer of Kurdish nationalism by some of his descendants. I want to have a closer look at Mehmed Salih and his writings, proceeding in three steps, first of all briefly presenting him and what is known about his bio­ graphy and locating him in the context of the quite prominent Ottoman-Kurdish Bedirhani family that he was a member of. Secondly, I turn to the text itself, Mehmed Salih’s recollections, published under the title Defter-i Â’malım (Journal of my deeds) and the particular background of its publication and edition. In a third step, in the context of the discussion about imperial expertise, I am interested in the connections between Mehmed Salih’s personal trajectory and the imperial framework.

Mehmed Salih Bedirhan (1873/74–1915): A biographical sketch Mehmed Salih’s career can be called imperial in several respects: On the one hand, his trajectory gives ample evidence of an imperial mobility, starting already in his early childhood. From his writings, one can gather how movement of people across the Ottoman Empire was facilitated, that is in Mehmed Salih’s case through the activation of a network of solidarity based on family connections that spanned almost the entire imperial space and connected the provinces to the imperial capital, as well as different regions among each other. On the other hand, his writings reveal a strong imperial ambition. Mehmed Salih struggled to get an education that would allow him to succeed as an Ottoman official and advance in the higher ranks of the imperial bureaucracy. This ambition was cut short by leading members of his own family: his maternal uncle and later father-in-law Bedri Paşa in particular had other plans for him. Still, the prestige culture of Ottoman officialdom, secular western education and urban bureaucracy remained a crucial framework of reference for Mehmed Salih to position and define himself in the late-Ottoman society. However, not only Mehmed Salih’s ambitions but also the eventual frustration of his personal and professional aspirations constitutes an imperial aspect of his biography. Conflicting mechanisms of empire made and unmade his career, encouraging his personal ambition but in turn also constraining him, as collective identities and responsibilities were projected onto him

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as an individual. Thus, Mehmed Salih’s trajectory reflects the context of empire with some of its complexities and contradictions. It also illustrates the spectrum of options and strategies available to him in his attempts to succeed or at least get by as an imperial subject. A closer look at Mehmed Salih’s biography further illustrates some of the aspects mentioned above: Mehmed Salih was born in 1873/74 into a prominent family of Ottoman-Kurdish notables, the Bedirhanis.9 The family derived its name from their common ancestor, Emir Bedirhan, who opposed Ottoman centralization efforts in the region of Cizre, Eastern Anatolia in the mid–19th century, was defeated by the Ottoman army and exiled with his entire retinue and family in 1848, first to the island of Crete and later to Damascus. Emir Bedirhan had numerous children, and in the 1870s, at the time when Mehmed Salih was born, many of them were employed in the Ottoman administration, both as low-ranking provincial officials and among the more prominent political players in the imperial capital and provincial centers.10 Bedri Paşa Bedirhan (1848–1914), one of the older sons of Emir Bedirhan, had become the head of the family in Syria in the late 19th century. Bedri Paşa was well connected both in the province of Syria and in the Ottoman capital Istanbul. He was a member of the Ottoman council of state (şura-yı devlet) and held different positions in the Ottoman administration of the province of Syria over the late 19th century.11 During his term in office as governor (mutasarrıf) of the Hawran district, he provided a number of his relatives with

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For details on the Bedirhani family history, cf. Malmisanij [Mehmed Tayfun]: Cızira Botanlı Bedirhaniler ve Bedirhani Ailesi Derneği’nin Tutanakları [The Bedirhanis from Botan in the Jezira and the Records of the Bedirhani Family Association]. Istanbul 2009; and Suavi Aydin/Jelle Verheij: Confusion in the Cauldron: Some Notes on Ethno-Religious Groups, Local Powers and the Ottoman State in Diyarbekir Province, 1800–1870. In: Joost Jongerden/Jelle Verheij (eds.): Social Relations in Ottoman Diyarbekir, 1870–1915. Leiden 2012, pp. 15–54. 10 Other examples of more prominent family members include Osman Nuri Paşa, a son of Emir Bedirhan, and Abdürrezzak Paşa (1864–1918?), a grandson, who were both members of the staff of Sultan Abdülhamid II in the Yıldız palace. Abdurrahman Paşa (1868–1936), another son of Emir Bedirhan, had completed the mülkiye school for Ottoman bureaucrats and embarked on a promising career as a state official, but left the empire for Geneva, Switzerland in 1898 because of his ties to the Young Turk opposition. 11 From 1887 to 1889, Bedri Paşa served as governor of the Hawran district for the first time. He was reappointed to the same office in 1894, cf. sālnāmeyi vilāyeti sūriye, def ’a 27 [yearbook of the province of Syria, nr. 27], 1311 (1894), pp. 83–84. In 1897, Bedri was employed as governor in Hama, and in 1901 he served as governor in Tripolis (Syria), cf. Thomas Eich: Abū l-Hudā aṣ-Ṣayyādī. Eine Studie zur Instrumentalisierung sufischer Netzwerke und genealogischer Kontroversen im spätosmanischen Reich. Berlin 2003, p. 208.

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employment in the lower ranks of the Syrian provincial administration. Among those taken under his wing were Mehmed Salih’s father, and later also Mehmed Salih himself. Being part of the patronage network of Bedri Paşa’s, however, came at the price of submitting to his authority. Mehmed Salih was thus born into a family of notables of Kurdish origin that in the second half of the 19th century was about to successfully find its place within a newly-emerging Ottoman administrative elite. Mehmed Salih’s father, Mahmud İzzet Bedirhan (d. 1911), was a nephew of the above-mentioned Emir Bedirhan. He served in the Ottoman provincial administration in a village near Latakia in Syria when his first son was born. Mehmed Salih’s mother Leyla was a daughter of Emir Bedirhan. She died when Mehmed Salih was only five years old. While the father was traveling and transferring between posts throughout the empire and remained a distant figure in the childhood memories of his son, Mehmed Salih was brought up by his maternal grandmother Ruşen (ca. 1813–1895), widow of the late Emir Bedirhan. His father married again soon after the death of his first wife. This marriage did not meet with Mehmed Salih’s approval and further alienated father and son. Mehmed Salih spent his childhood traveling quite extensively throughout the empire in the company of his grandmother, visiting and living with different maternal relatives and their families for some time, then moving on again. Their itinerary illustrates the empire-wide network of the Bedirhani family that came to function as a network of solidarity for the half-orphaned Mehmed Salih and his widowed grandmother. In his teens, Mehmed Salih received a solid education in Ottoman state schools in Istanbul, Damascus and for a short time also attended the Alliance Israéliteschool in Jerusalem. Mehmed Salih’s short stay in Jerusalem also constituted an early attempt to seek support outside the network of Bedri Paşa: An uncle that had married into the Bedirhani family took care of him in Jerusalem and even offered to pay the fees for his higher education. Nothing, however, came of these plans. While Mehmed Salih himself hoped to continue his studies at the mülkiye, the Ottoman school for bureaucrats in Istanbul, his family thought differently about his future. In 1891, he was urged to marry his cousin, Samiye. The couple then lived in the household and thus under close control of Samiye’s father Bedri Paşa Bedirhan, at the time an influential notable in Ottoman Syria and key authority figure in the Bedirhani family. When Bedri Paşa was appointed as district governor in Hawran for the second time in 1894, Mehmed Salih accompanied him as a low-level official. Later, he was deployed as a curator of one of Bedri Paşa’s properties in the area of Baalbek.

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Mehmed Salih’s own notes do not provide any information concerning the time period from the mid–1890s to 1914, but it emerges from the biography of Mehmed Salih’s daughter Ruşen Bedirhan (1909–1992) that Mehmed Salih remained active in the lower ranks of the Ottoman bureaucracy in Syria and was later transferred to Kayseri.12 During these years, he continued to stay close to his father-in-law Bedri Paşa. In 1906, when some members of the Bedirhan family were involved in the assassination of Rıdvan Paşa, the mayor of Istanbul, the entire family faced repercussions. Mehmed Salih seems to have left Syria and accompanied Bedri Paşa into exile to the island of Rhodes. His memoirs, at least in their published form, however, are silent about this unsettled period of his life. The fact that Mehmed Salih still strongly identified with the Ottoman Empire in his notes from 1914 onwards indicates that being sent into exile in 1906 did, in retrospect, not constitute a meaningful break for him in his commitment to the Ottoman-imperial system. After 1900, it appears that Mehmed Salih became increasingly politicized and critical of the authoritarian rule of Sultan Abdülhamid  II. He published an oppositional journal, Ümid (Hope) in Egypt and the distribution of his writings was prohibited in the Ottoman Empire.13 From 1913 onwards, he was a contributor for the Ottoman-Kurdish periodicals Rojî Kurd and Yekbûn, his articles in Ottoman Turkish and Kurdish were chiefly concerned with the question of education of the Ottoman-Kurdish youth.14 In 1914, Mehmed Salih was back in the Ottoman lands and organized Bedri Paşa’s funeral in İzmir. When the Ottoman Empire was about to enter the First World War, Mehmed Salih had returned to Syria. In Damascus, he was aiding Abdurrahman Paşa Yusuf, one of the most prominent Kurdish notables of the city, in his effort to raise Kurdish irregulars for the 4th Ottoman army that were to fight under the command of Cemal Paşa. In

12 Malmisanij: Cızira Botanlı, pp. 191–192. 13 See Başbakanlık Osmanlı Arşivi [Prime Ministry’s Ottoman Archives, Istanbul, henceforth BOA]: Y.PRK.UM. 51.70 (Ağostos 1316 / August 1900). A Kurdish student association called “Hêvî”, the Kurdish equivalent to ümid (“hope”) was founded in Istanbul in 1912. Apart from his contributions to Rojî Kurd and Yekbûn, which were published by Hêvî, Mehmed Salih seems not to have been actively involved with this Istanbul-based association, and it is unclear to me if the similar choice of names is a coincidence or contains a reference of some sort. Cf. Malmisanij [Mehmed Tayfun]: Kürt Talebe-Hêvî Cemiyeti. İlk Legal Kürt Öğrenci Derneği [Kürt Talebe-Hêvî Cemiyeti. The First Legal Kurdish Student Association]. Istanbul 2002. 14 The published edition of Mehmed Salih’s memoirs contains an appendix with some of his articles for Rojî Kurd, cf. Mehmet Salih Bedirhan/Rewşen Bedirhan/Mehmet Uzun: Defter-i Â’malım. Mehmet Salih Bedirhan’ın Anıları [Journal of My Deeds. The Recollections of Mehmet Salıh Bedirhan]. Istanbul 1998, pp.107–120.

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March 1915, at age forty-two, Mehmed Salih suddenly passed away, succumbing to typhoid fever in Damascus. While his childhood years and early youth take up the major part of the published memoir, Mehmed Salih’s activities as a journalist in opposition to the regime of Abdülhamid II and later as a contributor to the debate about the situation of the Kurds in the Ottoman Empire are not a prominent subject in the published version of his writings. Keeping in mind that the text was issued for publication in the 1990s, in the context of an increased interest of a Kurdish audience in the history of the Kurdish nationalist movement and its protagonists, the focus of the text on the private instead of the political life of Mehmed Salih is somewhat unexpected. A closer look at the origins as well as the edition and publication of the text attempts to shed further light on these issues.

Defter-i Â’malım as a multi-layered text What Mehmed Salih has written is not a memoir or an autobiography in the narrower sense of the term. At least not in the form in which it was made available to a wider audience, first in 1992 in a serial for Özgür Gündem, a daily newspaper in Turkey, issued in Turkish but mainly reaching out to a Kurdish readership, and later as a separate booklet with extensive footnotes, edited by Mehmed Salih’s daughter Ruşen Bedirhan and Mehmed Uzun, a renowned Kurdish writer.15 The original text was written in Ottoman Turkish. Today, it is available not in its original Ottoman version but in the form of a transcription into modern Turkish provided by the two editors. The extent to which the editors have made changes in the original is difficult to evaluate. Any information about Mehmed Salih is certainly filtered through their particular perspective, which is firmly rooted in Kurdish nationalist historiography. The editors’ choices, comments and footnotes on the text reflect a particular discourse on Kurdish history and the projection of categories of Kurdish national identity back into late-Ottoman times. In spite of these limitations, it is possible to obtain valuable information about Mehmed Salih’s imperial life-world and his late-Ottoman world-views from the edition of the text. It is not easy to resolve when exactly Defter-i Â’malım was written. I would argue that the text consists of a number of autobiographical fragments, written at different times (roughly between 1909 and 1915) and with different intentions 15 In Özgür Gündem (Istanbul Nov.-Dec. 1992), and later Mehmet Salih Bedirhan/Rewşen Bedirhan/Mehmet Uzun: Defter-i Â’malım. Mehmet Salih Bedirhan’ın Anıları. Istanbul 1998.

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in mind. The editors chose to join a number of textual fragments from the papers left behind by the late Mehmed Salih, possibly leaving out other elements that did not fit their historical narrative. Evidence for such omissions can be found in the published version of the text itself, where an excerpt from the original Ottoman memoirs is reproduced.16 In the excerpt, Mehmed Salih sketches out the contents of his recollections, and gives a list of events that he intends to write about. Some of them, however, are never mentioned again in the published text – these parts might have never been written, maybe they were lost at some later date, or maybe the editors decided not to include them. The textual fragments that were included in the edition differ in character: The first and in the edition most extensive part is an autobiographical account written in retrospect, most probably in 1909.17 Here, Mehmed Salih writes about his childhood years and his life as a young man in the 1880s and 1890s. Then, his writings are interrupted, quite suddenly and without further explanation. They resume in the fall of 1914, when Mehmed Salih was involved in the recruitment of irregular Kurdish fighters for the Ottoman army in Damascus. Following an extensive general comment on current events, this second, shorter part of his writings is composed on a daily basis, evoking the style of a diary. Such changes and irregularities make it difficult to clearly situate the text in one genre or another. However, being interested in processes of transition rather than the study of autobiographical accounts as literary compositions, I hope to set aside the genre question by merely pointing out that all fragments of the text can be subsumed under the category of ego-documents, that is texts that contain any kind of statements about the self, about past life experiences, social knowledge as well as the writer’s expectations for the future.18 What awaits the reader in Defter-i Â’malım is not a high-level bureaucrat’s account of his public activities. There are examples for this kind of autobiographical writing, especially after 1908, and these texts might have even served as models and inspiration for Mehmed Salih. His own account, however, is strikingly private in nature. He writes about his hopes and disappointments, his ambitions and frustrations. He is very critical with himself and writes in an emotional manner about the loss of relatives that were dear to him and about his devotion and friendship 16 Bedirhan/Uzun (eds.): Defter-i Â’malım 1998, pp. 17–19. 17 This can be gathered from the published text itself, where the date 15.05.1327 (according to the lunar Islamic calender, confirming to 04.06.1909) is mentioned. The constitutional revolution of 1908 and the abdication of Sultan Abdülhamid II in 1909 might have appeared as meaningful breaks to Mehmed Salih that prompted him to reflect on his own role in these events as well as on the past in general. 18 Cf. Winfried Schulze (ed.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen. Berlin 1996, p. 28.

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to a female cousin who died at a young age. This inward perspective, suggesting that the text was in large parts written for his immediate relatives, probably his children and grandchildren, is a particularity of the source.19 Mehmed Salih comments on the intention of his writings in his preface: He expresses the hope that his recollections can provide instructive and inspiring lessons and examples to his descendants.20 Although he was writing at a period of time when breaking away from the Ottoman Empire was a prospect conceivable for some actors, in particular members of minority communities, Mehmed Salih’s memoirs contain a steadfast commitment to an Ottoman-imperial identity. The prominence of this commitment, made in the introduction to the second part of his memoirs that begin in 1914,21 is at odds with the nationalist discourse on Kurdish history prevalent in the late 20th century, at the time when the text was published. In the 1990s, the public interest in the protagonists of the early Kurdish nationalist movement was on the increase, as works on popular history and also historical fiction – published both within Turkey and in the Kurdish exile community in Europe – indicate.22 Writing about Kurdish history and its protagonists, also in Kurdish language, became possible as the public discourse on minorities in Turkey shifted during the 1990s.23 In the wake of this general curiosity about Kurdish national history, Celadet Bedirhan, a political activist who had died in exile in Syria in 1951, attracted the attention of the Kurdish writer Mehmed Uzun. Based on a number of extensive interviews with Celadet’s wife Ruşen Bedirhan, Uzun wrote a fictionalized biography of Celadet Bedirhan in Kurdish. The rediscovery of Ruşen’s father, Mehmed Salih Bedirhan, and his autobiographical account was thus closely connected to Uzun’s work on Celadet Bedirhan. It remains difficult to reconcile the account of the self-proclaimed passionate Ottoman and Ottoman-Kurdish intellectual Mehmed Salih with an anachronistic 20th-century historical narrative that assumes an early and 19 Alan Duben/Cem Behar: Istanbul Households. Marriage, Family and Fertility 1880 – 1940. Cambridge etc. 1991, p. 22 come to the conclusion that family and private life are subjects that rarely figure prominently in Ottoman memoirs. 20 Bedirhan/Uzun (eds.): Defter-i Â’malım, p. 19. 21 Ibid., p. 85. 22 Examples include the work of Malmisanij [Mehmed Tayfun], first published in Sweden, as well as Mehmed Uzun’s fictionalized life stories of the Kurdish nationalist activists Memduh Selim and Celadet Bedirhan, respectively, cf. Mehmed Uzun: Siya Evînê. Istanbul 1992; and idem: Bîra Qederê. Istanbul 1995. In 1996, Avesta, a publishing house with a focus on Kurdish literature and history, was founded in Istanbul. 23 See Clémence Scalbert-Yücel: Emergence and Equivocal Autonomization of a Kurdish Literary Field in Turkey. In: Nationalities Papers 40 (2012), Nr. 3, pp. 357–372.

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definite break between an oppressive Ottoman state and a fairly homogeneous Kurdish opposition struggling for national independence. But as their extensive footnotes and the additional material added to Mehmed Salih’s account illustrate, the editors meant for Defter-i Â’malım to be read as a preface to a specific narrative of Kurdish national history that emphasizes both the long tradition of Kurdish nationalist activity and the particular claim of the Bedirhani family to leadership within the Kurdish independence movement.

Imperial dimensions of Mehmed Salih’s trajectory: Mobility, ambition, and competing projects of empire Instead of chronological references, space and movement structure large parts of the memories of Mehmed Salih, especially as far as his childhood-years are concerned. From a very young age, he was on the move throughout the Ottoman Empire, traveling in the company of his grandmother. During these years, relying on the solidarity network of his family, Mehmed Salih came to experience the imperial scale of the life-world he was growing up in. The family’s network spanned the entire Ottoman province of Syria. Mehmed Salih’s travels led him over the years from his birthplace in Latakia to Damascus, and later to Beirut and Jerusalem. The Bedirhani family’s network equally included provincial spaces further off, taking Mehmed Salih for example to the Aegean island of Limnos, where he attended primary school. He also spent time in the imperial capital, Istanbul, on several occasions. In addition, the homeland and place of origin of the Bedirhani family, the Kurdish emirate of Botan in Eastern Anatolia and its capital Cizre played a crucial role on Mehmed Salih’s mental map of the empire. The land of his ancestors was a place that he never set foot on himself, as the family was prohibited to return there after 1848, but that was continuously remembered by his senior family members and thus figured prominently as an imagined space in his own memories. Kurdish, the language of his grandmother and his childhood, constituted an important link to this place of origin. A second space within the Ottoman Empire that held some importance for the Bedirhanis was the island of Crete. Emir Bedirhan had lived there with his family in exile for a number of years, and in the 1890s the family still owned property there. Mehmed Salih himself mentioned a small source of income he had in Crete, part of the inheritance he received after his mother’s death.24

24 Bedirhan/Uzun (eds.): Defter-i Â’malım, p. 54.

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Quite possibly informed by the imperial dimension of his childhood and early youth, the empire became the framework for Mehmed Salih’s professional ambitions.25 In his writings, he devoted considerable space to the description of his hopes to become a high-level Ottoman state official. Early on, he claims in his recollections, he realized that the road to success in the imperial system must lead through education. It was therefore imperative for him to continue his studies at the Ottoman imperial school for bureaucrats, the mülkiye.26 Behind this vision of imperial success that Mehmed Salih subscribed to and worked actively towards lay a deep belief in individualism and the value of personal achievement. Mehmed Salih’s position within his own family was at best secondary, as he was only related to the main lineage of the family through his late mother, half-orphaned and in addition too young for his opinions to be considered by senior family members. While his prospects within the collective of the family were rather bleak, an imperial career held the promise of professional success, in exchange for considerable effort, but on the seemingly fair basis of personal achievement and merit. Eventually, Mehmed Salih’s plans for the future were spoiled by the interference of Bedri Paşa Bedirhan, who insisted that Mehmed Salih should get married instead of further pursuing his education. The vision of empire as a project of educated reformers that are selected and advance in the hierarchy on the basis of ability and merit, however, accompanied Mehmed Salih throughout his life and continued to inform the image he tried to convey of himself. Throughout his writings, as he describes and localizes himself within late-Ottoman society and particularly when he sets himself apart from others, the ideals he held true about empire shine through. In the 1890s, for example, when Mehmed Salih accompanied his father-in-law into the Hawran district and started working in the local administration there, he was soon confronted with the widespread practice of corruption. A petitioner offered him a bribe to advance his case, and, as he 25 Corinne L. Blake: Training Arab-Ottoman Bureaucrats: Syrian Graduates of the Mulkiye Mektebi, 1890–1920. Diss., Princeton University 1991, p. 88 and p. 101 describes how Syria did not offer a particularly stimulating intellectual environment in the 1880s and 1890s, as newspapers and book printing were restricted and secondary state schools were few in number. Traveling beyond the Syrian province therefore certainly broadened Mehmed Salih’s horizons in terms of education. 26 He shared his dream of a career in the Ottoman bureaucracy with many of his contemporaries: “The ideal man of the time was the government servant. The greatest desire of the educated youth was not to become a businessman or engineer, but to enroll in the Imperial School of Civil Servants (Mekteb-i Mülkiye-i Şâhâne), which became the best school of higher learning in default of a university.” Niyazi Berkes: The Development of Secularism in Turkey. Montreal 1964, p. 257. Also, Mehmed Salih would have found a role model within his own family: His uncle Abdurrahman Paşa had graduated from the mülkiye in 1889.

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confessed in his memoirs, Mehmed Salih pocketed the money. Such behavior being in clear contradiction with the values he held true about imperial rule and also with the image he had created of himself, he immediately regretted having taken the money and was, as he relates, overwhelmed by remorse. He vowed to never again participate in corruption.27 Thinking of himself as incorruptible became a strategy for Mehmed Salih to feel superior to people around him that were otherwise more powerful, notably his father-in-law Bedri Paşa. Bedri Paşa’s vision and working-knowledge of imperial rule differed considerably from Mehmed Salih’s. Claims made by Mehmed Salih in his writings that Bedri Paşa engaged in all kinds of illegal activities, bought his way into the Ottoman administration, was brazenly corrupt and did not shy away from forging the signature of Mehmed Salih to get a loan on the latter’s property, are supported by other contemporary sources.28 When Mehmed Salih writes about himself as an upright and honest citizen and servant of the empire, he is also setting himself apart from Bedri Paşa and his ilk. Another important motif that informed Mehmed Salih’s image of himself is his education. Repeatedly, he comments on the lack of intellectual ability of people that cross his path and that he dislikes for some reason. He proudly comments on his superior knowledge of French and mocks a fellow member of Bedri Paşa’s household with whom he takes French language classes.29 He also mentions in his writings that one of his maternal uncles he was not particularly fond of, Ali Şamil Paşa, was illiterate and an “uncivilized” brute.30 The Hawran region in the late 1890s, however, was probably a very lonely environment for the self-declared intellectual Mehmed Salih. Yusuf Ziya Paşa, an Ottoman official and intellectual originally from Jerusalem who served as governor in as-Suwayda’ – that was, after all, the capital of the Hawran province – in 1894, complained that he could find practically no one to have an inspiring conversation with and regretted that books or newspapers rarely found their way into the region.31 The situation in the smaller villages of the Hawran region was probably similar, if not worse. This indicates 27 Bedirhan/Uzun (eds.): Defter-i Â’malım, p. 81. The intention Mehmed Salih set in his writing, to provide an inspiration for posterity, might have influenced the depiction of the events as a lesson that he learned. 28 See for example reports by the German consul in Beirut, Archiv des Auswärtigen Amtes, Libanon R 14023 Bd. 2, N°31 (19.02.1896); and also Khoury: Urban Notables 1983, p. 48. Bedri Paşa was close to Osman Nuri Paşa, then the Ottoman governor of the province of Syria, who had a reputation for corruption and working for his personal benefit. 29 Bedirhan/Uzun (eds.): Defter-i Â’malım, p. 65. 30 Ibid., p. 42. 31 Algernon Heber-Percy: A Visit to Bashan and Argob. London 1895, pp. 102–103. The author met Yusuf Ziya in as-Suwayda’ in 1894.

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how starkly Mehmed Salih’s educational background and his continuous emphasis on his intellectual abilities and refinement set him apart from others around him. Mehmed Salih’s high hopes for an imperial success story never materialized. This was at least in part due to the fact that his idea of imperial rule as an arena of educated bureaucrats selected and employed based on their abilities and considered for their individual achievements stood in stark contrast with a second model of imperial rule that was organized along the lines of collective interests of households, patronage networks and factions instead. Not only his own family gave preference to the interest of the collective over Mehmed Salih’s individual dreams and hopes, by urging him to marry and accept his place within the family’s hierarchy. The imperial bureaucracy itself, the very institution Mehmed Salih had placed his hopes in, equally operated with categories of collective identity in its interactions with him and other members of the Bedirhani family. Time and again, Mehmed Salih’s plans and room to maneuver were restricted by the Ottoman state, which assigned a collective identity to him and other family members and in consequence treated the family as one homogeneous entity, at times distributing collective punishment and sanctions against its members. In April 1906, two relatives of Mehmed Salih, Abdürrezzak and Ali Şamil Bedirhan, were involved in the assassination of Rıdvan Paşa, the mayor of Istanbul, at the train station in the suburb of Göztepe.32 While it is difficult to reconstruct the events leading up to the assassination in detail, there is some evidence for ongoing tension and personal animosity between Abdürrezzak Bedirhan and Rıdvan Paşa prior to the murder. According to one account, Abdürrezzak had approached Rıdvan Paşa during a ceremony at the Yıldız palace and asked the mayor to see to it that the street leading up to the Bedirhani villa in Şişli, at that time a rather remote area, was paved. Although Rıdvan Paşa promised quick action, nothing happened. Abdürrezzak felt slighted and had one of Rıdvan Paşa’s servants kidnapped in revenge. Rıdvan then sent out a gang of ruffians armed with sticks to Abdürrezzak’s house with the mission to free the kidnapped servant. At that point, the situation escalated, as a fight broke out between Rıdvan’s men and the inhabitants of the Bedirhani villa and both sides opened fire. Eventually, one of Abdürrezzak’s brothers was injured, giving Abdürrezzak cause to seek revenge, which apparently led to the attack on Rıdvan Paşa, carried out by four hired assassins of Kurdish background.33 What seems to have started as a personal and quite 32 See BOA: Y.PRK.AZN 24.55 (03/1322) for details of the murder investigation. 33 See Mehmed Zeki Pakalin: Sicill-i Osmanî Zeyli, II . Cilt [Ottoman Personal Records, Supplement]. Ankara 2008, pp. 54–56 for the most detailed version of the account that is most frequently cited. The fight at the villa in Şişli is also remembered by Cemil Filmer

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petty argument between two Ottoman high officials escalated into a political affair when enemies of the Bedirhani family in the palace circle close to Abdülhamid II convinced the sultan that the too powerful Bedirhanis had actually tried to stage a coup, and had been planning to attack and overthrow the sultan himself during the general confusion in the aftermath of the assassination of Rıdvan Paşa. Neither in the Ottoman documents concerning the case nor in the personal recollections of any of those involved could I find any confirmation for such a scheme. However, the murder of Rıdvan Paşa was a convenient occasion for rivals of the Bedirhani family to not only get rid of them but to deliver a blow to their entire network of supporters in the capital. Several hundred individuals were targeted during the investigations following the assassination of Rıdvan Paşa, many of them were exiled from Istanbul as a consequence of their alleged links to the family.34 Almost immediately after the assassination, the entire Bedirhani family found itself under general suspicion. Family members living as far off as Nablus or Beirut35 were tracked down and arrested, questioned, dismissed from their positions and exiled in the process of the investigation. Mehmed Salih did not escape these measures of collective punishment. Even though there was no evidence of him being involved in Rıdvan Paşa’s assassination whatsoever, he was exiled from Syria and sent off to the island of Rhodes,36 probably in the company of Bedri Paşa and several other relatives. The rehabilitation and return from exile of most of the Bedirhanis became only possible following a general amnesty after the constitutional revolution of 1908. While these events certainly affected Mehmed Salih at the time, they do not seem to have constituted a decisive turning point for him in his patriotism and attitude towards the Ottoman Empire. Looking into how other family members reflected on the period in exile from 1906 onwards helps to situate Mehmed (1895–1990), whose family lived next door to the Bedirhanis at the time. He, as a young boy, witnessed the shooting from his window, see Klaus Kreiser/Patrick Bartsch (eds.): Türkische Kindheiten. Frankfurt a. M. 2012, pp. 58–83. 34 The Turkish writer Halide Edip recalls that her father, Mehmed Edib Bey, who was married to a former wife of Ali Şamil Paşa Bedirhan and maintained close contacts to the latter, feared repercussions because of his links to the Bedirhani family. He was, however, never targeted – a fact that adds evidence to the hypothesis that the reasons for arresting people in connection with the murder of Rıdvan Paşa were political rather than based on actual links of kinship or friendship to the Bedirhanis, see Müslüm Yücel: Osmanlı-Türk Romanında Kürt İmgesi [The Image of the Kurd in the Ottoman-Turkish Novel]. Istanbul 2011, pp. 178–185. 35 See BOA: DH.SYS 34.94 (01.04.1906). 36 Malmisanij [Mehmed Tayfun]: Abdurrahman Bedirhan ve İlk Kürt Gazetesi Kurdistan [Abdurrahman Bedirhan and the First Kurdish Journal ‘Kurdistan’]. Spanga 1992, p. 105.

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Salih’s perspective further: Kamuran Bedirhan (1895–1978), in an autobiographical interview recorded by the French orientalist Thomas Bois in Beirut in 1946,37 recalls how he was attending the prestigious Galatasaray school in Istanbul in 1906 when he was called into the headmaster’s office one day together with eleven of his brothers and cousins that also attended the school at the time. The young Bedirhanis were immediately brought away under police custody, to be interrogated and later sent into exile with their families. In retrospect, Kamuran Bedirhan understands this event to have shattered his confidence in an imperial future for him and his family beyond repair. His statements have to be taken with a grain of salt, as they constitute a comment on the Ottoman past made in a particular historical situation: In 1946, Kamuran Bedirhan was living in exile in Syria, working actively towards an independent Kurdish state and promoting the idea of his own family’s claim to leadership in such a state. It made sense for him to stress a definite moment of rupture with the imperial system within this larger narrative of his nationalist awakening.38 His own actions after his return from exile in the early 20th century, however, offer a different perspective and do not support the idea of an immediate break with the Ottoman Empire after 1906. As a young man, Kamuran fought in the Balkan Wars on the Ottoman side.39 He also chose to study law in Istanbul, a profession that would have prepared him to enter the Ottoman civil service if the empire had survived. Another comment on the events of 1906 can be found in a short autobiographical account written by Abdürrezzak Bedirhan, a cousin of Mehmed Salih’s. In 1910, he writes in his bid for asylum addressed to tsarist Russia40 that he sees no future for himself and his family in the Ottoman Empire and has thus decided to emigrate, seeking protection in the Russian Empire. Abdürrezzak was one of the chief suspects tried for the murder of Rıdvan Paşa in 1906 and was therefore targeted more directly and punished more severely than his cousin Kamuran, who was at the time only a minor. Abdürrezzak was imprisoned in Tripoli (Libya) and held in solitary confinement for more than three years. In detail, he describes the injustice he experienced and misery his family had to suffer after the exile of all its male members from Istanbul, also mentioning that the family was expropriated when they were forced to leave the capital. Different from Kamuran Bedirhan, 37 Joyce Blau: Mémoires de l’émir Kamuran Bedir-Khan. In: Etudes Kurdes 1 (2000), pp. 71–90. 38 The events of 1906 and the following years in exile have a very prominent place and are told in great detail in the autobiographical account given by Kamuran Bedirhan, cf. ibid. 39 Robert Olson: The Emergence of Kurdish Nationalism and the Sheikh Said Rebellion 1880–1925. Austin 1989, p. 13. 40 Abdürrezzak Bedirhan: Otobiyografya [Autobiography], trans. Hasan Cunî. Istanbul 2000, p. 16.

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Abdürrezzak perceived the events of 1906 as a rupture not only in retrospect, but also in his day-to-day dealings with the Ottoman state at the time. After being finally released from prison in 1910, he realized that his prospects in post-Hamidian Istanbul were bleak. Abdürrezzak had been a high official close to the former sultan Abdülhamid II before he fell from grace. Under the Unionist’s regime, he found his former networks of support no longer in place. His best option, it seemed to him, was to look for a different imperial setting. His experience and contacts in Russia from the time he had worked as a diplomat at the Russian embassy in St. Petersburg made him turn to the tsar and eventually, after his bid for asylum was granted, move to Yerevan in 1911.41 A third account of the events in 1906 and their aftermath, however, helps to put Abdürrezzak’s approach into perspective, illuminating that breaking away from the Ottoman Empire under the rule of the Committee of Union and Progress was not the only alternative open to Bedirhani family members after they regained their freedom or returned from exile. Abdurrahman Paşa (1868–1936), a son of Emir Bedirhan and slightly older than both Kamuran and Abdürrezzak, had studied to be an Ottoman official at the mülkiye school in the 1890s and established connections to the Young Turk opposition, which led to his departure from Istanbul for exile in Geneva in 1898. Having just returned to the Ottoman Empire with his wife after an amnesty in 1905, he had hardly settled in when he was arrested and sent off to Tripoli with other members of his family in 1906. From his prison cell, Abdurrahman wrote letters to his new-born daughter Leyla, describing the conditions of his confinement and expressing his worries about the fate of the entire family.42 Released from prison in 1908, it would have made perfect sense for him to turn his back on the empire, too – particularly since his wife was from Switzerland. However, he evaluated his situation differently, and contrary to Abdürrezzak, he chose to stay in Istanbul. The memoirs of his younger daughter Müveddet Gönensay (*1910) are a source for Abdurrahman’s trajectory after 1908, describing his career as an Ottoman official in Istanbul and the province of Aydın prior to the First World War.43 He had not lost confidence in the Ottoman imperial system – maybe because the empire still provided him with employment and a framework to make sense of the world and imagine his future. According to his

41 Michael Reynolds: Abdürrezzak Bedirhan. Ottoman Kurd a Russophile in the Twilight of Empire. In: Kritika 12 (2011), Nr. 2, pp. 411–450. 42 Malmisanij [Mehmed Tayfun]: Abdurrahman Bedirhan, p. 48 and pp. 73–77. 43 Müveddet Gönensay: Müveddet Gönensay’ın Anıları 1910–1991 [The Memoirs of Müveddet Gönensay]. Istanbul 1991.

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daughter’s account, he seems to have lost his orientation with the breakdown of the empire after 1918, spending the early Republican years retired and depressed. These comparisons help to contextualize Mehmed Salih’s declaration to be a ‘passionate Ottoman’ in 1914. They show that with his attitude, he was more or less in line with the majority of his family at the time. Prior to the First World War, the Ottoman imperial framework remained without real alternative for the Bedirhanis. Even the outlier Abdürrezzak was at the time of his departure from the Ottoman Empire in 1911 not breaking with the imperial system per se, he was rather looking for a different imperial sponsor and framework to pursue his personal goals.44 A second episode from Mehmed Salih’s biography shows how treating the Bedirhani family as a homogeneous collective entity was not a phenomenon restricted to the reign of Sultan Abdülhamid II but continued after 1908 and under the rule of the Committee of Union and Progress. Immediately after the Ottoman Empire had entered the First World War, Mehmed Salih declared himself eager to fight for the Ottoman army and volunteered to join the troops at the Caucasusfront. His renderings of the incident in his memoirs remain rather vague. He recalls that it was difficult for him to obtain permission to go anywhere near the Ottoman-Russian border because of ‘trouble’ stirred up at the time by his cousin Abdürrezzak.45 What Mehmed Salih did not mention, but what can be reconstructed from writings from and about Abdürrezzak Bedirhan is that the latter had interpreted the outbreak of the war quite differently from Mehmed Salih and saw it as an opportunity not to defend but to fight against the Ottoman Empire, making a bid for personal power and Kurdish autonomy under Russian protection and his own leadership in Eastern Anatolia. Already in the spring of 1913, Abdürrezzak Bedirhan, the former Ottoman civil servant now living in Russian exile, had been crossing the Kurdish areas around the city of Bitlis, seeking to establish contacts with the Kurdish tribal chiefs there, hoping to convince them to throw in their lots with him and support his project for Kurdish local autonomy under Russian protection. He was supported by the Russian government, while the Ottoman administration monitored his actions in the border region closely and suspiciously.46 While Abdürrezzak was the most prominent among the activists promoting Kurdish support for a Russian intervention in Eastern Anatolia, there is evidence that other members of the Bedirhani family, among them Kamil, Hüseyin Kenan 44 Cf. Reynolds: Abdürrezzak Bedirhan. 45 Bedirhan/Uzun (eds.): Defter-i Â’malım, pp. 87–88. 46 Reynolds: Abdürrezzak Bedirhan, p. 442.

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and Hasan Fevzi Bedirhan, were out in Anatolia on a similar mission at the eve of the First World War. The common goal of their efforts seems to have been to regain control of the Bedirhani family’s former land holdings in Eastern Anatolia and to reestablish political influence in the region that had been under the rule of Emir Bedirhan prior to 1848. The faction of the Bedirhanis in Eastern Anatolia tried several strategies before they confronted the Ottoman Empire outright: Hüseyin Kenan Bedirhan, for instance, ran in the local elections in 1908, hoping to become the parliamentary delegate for the region of Siirt. However, he lost by a large margin against the candidate the Committee of Union and Progress was backing. Later, he applied for the post of the local governor (mutasarrıf) of Siirt, again without success. Feeling by then that he had exhausted his opportunities to establish his influence in Siirt while playing according to the Ottoman rules, he turned to Russia. In the summer of 1913, he was promoting Kurdish autonomy under Russian rule in the region of Siirt.47 Hüseyin Kenan’s actions shed some light on the broader agenda of a faction around Abdürrezzak in the Bedirhani family that sought to reestablish former influence of the family in Eastern Anatolia, mobilizing Kurdish identity to rally support for this goal. It comes as no surprise that several months afterwards in 1914, on the eve of the Ottoman Empire’s entering into the First World War, the name Bedirhan rang a bell and raised suspicion when Mehmed Salih asked to be transferred to the Caucasus front, to fight the Russian enemy there. The administration of the very empire Mehmed Salih felt so passionate about, doubted his loyalties, and he was not given permission to join the Ottoman forces in the Caucasus. Whereas members of the Bedirhani family were not allowed to enter the area near the eastern Russian-Ottoman border, other Ottoman soldiers with Kurdish backgrounds were fighting in the Caucasus. One prominent example was Ekrem Cemilpaşa (1891–1974), member of an influential Kurdish notable family based in Diyarbakir, who was to become one of the heads of the Kurdish independence movement in exile in Syria in the 1930s.48 This differentiation indicates that in 1914/15, the Ottoman state’s perception of the threat of unrest and possible secession in Eastern Anatolia was not yet colored by an exclusively ethnic understanding of the conflict lines. There was, in principle, still room for passionate Ottomans of Kurdish background – but anyone whose cousins were blacklisted as troublemakers in the Ottoman government records raised suspicions. Mehmed Salih’s 47 See reports from the German consul Dr. Bergsfeld in Trabzon, Archiv des Auswärtigen Amtes, Asia Generalia 1, R 17572, Bd. 2, N°39, (21.06.1913) for information on Hüseyin Bedirhan’s activities in Siirt. 48 Cf. Özoglu: Kurdish Notables, pp. 103–107.

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frustrated attempt to volunteer for the Caucasus front conveys an idea of how identities were not only claimed and negotiated by individual actors like Mehmed Salih but at the same time assigned by the state and society at large, and the two sides did not always overlap. Claiming Kurdish identity in 1914 did not necessarily mean being in opposition the Ottoman Empire, and being from the same family did not mean sharing the same political outlooks – this is what can be gathered from Mehmed Salih’s autobiography and from other ego-documents of his family members. But declaring oneself loyal to the empire did not mean and guarantee being treated on the basis of one’s individual actions – this becomes clear in studying the Ottoman state’s handling of Mehmed Salih’s case. The Bedirhani family did not constitute an entity with homogeneous interests. Instead, there were splits and different factions within the family. Representatives of the empire, however, continued to assign a collective identity to all family members. This led to a rather paradoxical situation in which the Ottoman Empire that Mehmed Salih declared himself to feel so patriotic and passionate about did not trust him to join the fighting in the Caucasus, for fear his loyalties towards his family might inspire him to desert the army. It has been argued here that Mehmed Salih’s personal trajectory was marked by two opposing concepts of empire and imperial rule: one based on individual merit, the other operating on the grounds of collective identities. Mehmed Salih’s career and biography reflect these different imperial projects in their complexity and with their contradictions and at the same time convey an idea of his individual room for maneuver. His life story contains moments of individual agency, opportunities to choose one road over another which would have been, as the discussion of parallel trajectories of other family members has shown, equally conceivable. Mehmed Salih’s story also shows that there were structures and labels at play that he and his relatives could not bend or discard at will. One of the obstacles they were faced with was the Ottoman state’s perception of the family as a collective entity with prescribed common goals and shared political outlooks. This particular outside perception of the Bedirhani family remained a continuity from the Hamidian period into the early 20th century. It stands to reason that imperial and post-imperial ideas about identity are often at odds with each other, as the discussion of the reading and editing of Mehmed Salih’s writings in the particular context of Kurdish nationalist historiography in the late 20th century has illustrated. This observation, however, should not conceal that imperial outlooks on categories of identity are far from homogeneous but rather manifold and often contradictory as well.

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Đorđe Stratimirović (1822–1908) Eine Selbstverortung im Imperium Đorđe Stratimirović hatte in seinem Leben viele Rollen inne. Er war Kommandant der serbischen Armee in der Revolution von 1848, General in der k. k. Armee, Diplomat im habsburgischen Dienst und einer der wichtigsten Vertreter sowohl der Serben als auch der übrigen Slawen im Habsburgerreich. Er stand in Beziehung mit etlichen einflussreichen Personen, nicht nur der Habsburgermonarchie, sondern in ganz Europa. So bot er seine Dienste auch der Regierung des Fürstentums Serbien, der italienischen Regierung und Garibaldi, dem russischen Zaren Alexander  II. und Napoleon  III. an. Nichtsdestoweniger blieb er bis zum Ende seines Lebens in Wien. Dieser Beitrag untersucht Stratimirović’ Selbstverortung im habsburgischen Imperium, welche anhand verschiedener Selbstzeugnisse aus seiner Feder zu analysieren sein wird. Dabei geht es vor allem darum, wie Đorđe Stratimirović seine Rolle in der Habsburgermonarchie sah, welche Karrieremöglichkeiten ihm dieses Staatsgebilde bot und wie er sein Leben im Imperium in verschiedenen Selbstzeugnissen präsentiert hat. Darüber hinaus ist zu fragen, wem Stratimirović’ Loyalität im politischen und diplomatischen Handeln galt, wem gegenüber er retrospektiv beim Schreiben seiner Selbstzeugnisse loyal war und mit wem er sich identifiziert hat. War es das Imperium, die Dynastie, der Kaiser oder die serbische Nation? Dabei wäre es wichtig zu hinterfragen, ob „des Kaisers Generäle“ tatsächlich „jenseits des Nationalismus“1 standen oder ob nichtdeutsche Offiziere in zweifacher weise Loyalität üben konnten: gegenüber dem Kaiser und dem Imperium wie auch gegenüber der eigenen Nation. Da die Umgestaltung der Habsburgermonarchie im Zeichen von Föderalismus, Dualismus oder Zentralismus eine der wichtigste Fragen der Zeit gewesen war, ist es wichtig zu untersuchen, wie er dieses Problem sah und für welche Imperiumskonzeption er stand. Dabei muss auch in den Blick geraten, wie er zu der wichtigsten Frage des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Südosteuropa stand: 1

Vgl. István Deák: Der K.(u.)K. Offizier 1848–1918. Wien 1991. [Englischer Titel: Beyond Nationalism. A social and political history of the Habsburg officer corps 1848–1918].

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der Orientalischen Frage, die den Fortbestand des Osmanisches Reiches und die Gründung neuer Nationalstaaten in Südosteuropa betraf.

Quellenlage Đorđe Stratimirović hat während seiner militärischen und politischen Karriere zahlreiche Spuren hinterlassen. Zuerst hat er seine serbischsprachigen Erinnerungen 1894 unter dem Titel Uspomene generala Stratimirovića geschrieben, nachdem er seine Karriere beendet und sich nach Wien zurückgezogen hatte. Die Erinnerungen mit vier umfangreichen Anhängen2 wurden 1913 von seinem Sohn Đorđe Đ. Stratimirović herausgegeben. Dieses Selbstzeugnis lässt sich dabei der Untergruppe der Memoiren, als Aufzeichnungen von selbsterlebten Begebenheiten verstanden, zuordnen. Im Unterschied zur Autobiographie stellt der Memoirenschreiber Stratimirović seine soziale Rolle in den Mittelpunkt der Darstellung.3 Die Erzählung beginnt mit der serbischen Bewegung von 1848/49 und stellt den umfangreichen militärischen und politischen Karriereweg von General Stratimirović bis zum Ende des serbisch-osmanischen Krieges von 1876–77 dar. Dabei hat der Autor alle persönlichen Momente, Passagen über seinen Freundeskreis sowie Berichte über seine Freizeit ausgelassen. Somit beschreiben diese Erinnerungen ausschließlich die Laufbahn des Generals. Seine Autobiographie hat Đorđe Stratimirović im Winter 1903/04 in deutscher Sprache verfasst. Sie wurde von seiner Tochter 1911 unter dem Titel Was ich erlebte mit zwei Anhängen in Wien veröffentlicht.4 Offensichtlich handelt es sich hierbei 2

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Die Anhänge enthalten einige Zeitungsartikel von General Stratimirović, die in der Zeitung „Srbobran“ erschienen sind, einige Reden, die er im ungarischen Parlament gehalten hat, Briefe und Dokumente, Berichte über die Gefechte 1848/49 sowie einige Lieder von und über Stratimirović. Vgl. Đorđe Stratimirović: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića: izdao ih sa četiri posebna dodatka i jednom hronološkom tablicom sin njegov Đorđe Đ. Stratimirović: sa dva lika [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović: veröffentlicht mit vier Anhängen und einer chronologischen Tabelle durch seinen Sohn Đorđe Đ. Stratimirović]. Wien 1913. „Beschreibt die Autobiographie den Werdegang eines noch nicht sozialisierten Menschen, gehen Memoiren von der gefestigten Identität eines seiner sozialen Rolle bewussten Individuums aus.“ Vgl. Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt/M. 1970, S. 9–16. Die Anhänge in der deutschsprachigen Autobiographie sind nicht sehr umfangreich. Es geht hierbei vor allem um die Beschreibungen der militärischen Aktionen in den Jahren 1848/49 sowie um einige weitere Dokumente. Vgl. Georg von Stratimirović: Was ich erlebte. Erinnerungen von General von Stratimirović. Wien 1911.

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um eine Autobiographie, denn Stratimirović ergänzt die serbische Fassung um seine Kindheit, Ausbildung, den Anfang der militärischen Karriere, Heirat sowie um sein Leben in Wien, nachdem er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte. In diesem Werk widmet der Autor viele Passagen seinen Freunden, Bekannten und Feinden, ferner schreibt er über seine Freizeit und Urlaube. Man kann davon ausgehen, dass Đorđe Stratimirović beim Schreiben der deutschen Version die serbische Variante, die er bereits früher verfasst hatte, als Vorlage benutzte. Jedoch findet man bedeutende Unterschiede in beiden Werken, besonders was seine Ausführungen über Loyalität und Identifikationsangebote betrifft. General Stratimirović stand mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit in Briefkontakt. Seine Korrespondenz ist zwar zum großen Teil erhalten, befindet sich jedoch verstreut in mehreren Archiven. Nahezu jedes Archiv, das Bestände über die Serben in der Habsburgermonarchie hat, enthält Briefe und Dokumente, die Stratimirović betreffen. Die wichtigsten Archivalien befinden sich hierbei in den Archiven auf dem Gebiet der Vojvodina, im Archiv der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Sremski Karlovci und in der Abteilung des selbigen Archivs in Belgrad. Darüber hinaus befindet sich eine umfangreiche Sammlung seiner Briefe und Akten im Österreichischen Staatsarchiv in Wien. Seine Briefwechsel mit Lajos Kossuth dürften in den Archiven in Budapest liegen. Darüber hinaus liegen vereinzelte Briefe in verschiedenen Archiven in Kroatien, wie z. B. in Zadar. Einzelne Briefe von Đorđe Stratimirović sind in etlichen Quelleneditionen veröffentlicht. Der ungarische Historiker József Thim hat in seiner dreibändigen Quellensammlung über den serbisch-ungarischen Aufstand 1848/49 mehrere Briefe vom General Stratimirović ediert.5 Des Weiteren hat Nikola Petrović einen aufschlussreichen Briefwechsel mit István Türr in einer Quellenedition publiziert.6 Einen Eindruck davon, wie Đorđe Stratimirović die Politik in Südosteuropa eingeschätzt und welche Ansichten er vertreten hatte, vermitteln seine weiteren Publikationen. 1856 hatte er dazu das Buch Die Reformen in der Türkei7 veröffentlicht, welches eine wertvolle Quelle für seine Auffassung über die Orientalische

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Vgl. József Thim (Hrsg.): A magyarországi 1848–49-iki szerb fölkelés története [Die Geschichte des serbischen Aufstands in Ungarn in 1848–49]. 3 Bde. Budapest 1930. Vgl. Nikola Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka. Građa: 1860–1885. [Svetozar Miletić und die Nationalpartei. Quellen: 1860–1885], 3 Bde. Sremski Karlovci 1968. Vgl. Georg von Stratimirovics: Die Reformen in der Türkei. Wien 1856.

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Frage darstellt. Zudem sind die Reden, die er im ungarischen Parlament gehalten hatte, von großer Bedeutung.8 Während seiner politischen Karriere hatte Đorđe Stratimirović auch eine große Anzahl von Artikeln in Zeitungen, sowohl in der Habsburgermonarchie als auch in anderen Ländern Europas, veröffentlicht. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, alle diese Artikel zu sammeln und zu analysieren. Näher unter die Lupe genommen werden daher nur jene Artikel, die in der Zeitung Srbobran9 1863 als Anhang der serbischen Variante seiner schriftlichen Erinnerungen veröffentlicht wurden.

Des Kaisers Generäle Das Habsburgerreich bestand aus verschiedenen territorialen Einheiten und einer Reihe unterschiedlicher Völker. Im Jahrhundert der Nationalbewegungen forderten auch die Völker im Kaisertum Österreich mehr Rechte für ihre eigene Nation. Sie alle hoben ihre Treue gegenüber der Kaiserlichen und Königlichen Majestät hervor, gleichwohl blickten sie auf die Ländereien ihrer Nachbarn innerhalb des Reiches und waren immer wieder auf der Suche nach einer ausländischen Macht, die ihre Ansprüche unterstützte.10 Diese Nationalbewegungen stellten eine wesentliche Herausforderung für das Habsburgische Imperium im Verlauf des sogenannten langen neunzehnten Jahrhunderts dar. Was aber hielt diesen Vielvölkerstaat zusammen? Zum einen war das die Person Kaisers Franz Joseph I. aus der Dynastie Habsburg-Lothringen, und zum anderen stand Seiner Majestät die habsburgische Armee immer zur Seite: „Dank ihrer eindrucksvollen Präsenz in allen Ländern der Monarchie war die Armee die bedeutendste gesamtmonarchische Einrichtung des Reiches.“11 Obwohl die Armee nicht formal Träger der politischen Entscheidungen im Habsburgerreich war, war sie dennoch ein sehr wichtiger Faktor für den Fortbestand der Monarchie. Das Rückgrat dieser Armee waren ihre Offiziere, die die Bindeglieder zwischen dem Kaiser und den Mannschaften darstellten.

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Vgl. ders.: Dělaně poslanika bečkerečkog Đorđa Stratimirovića na ugarskom saboru 1865–8 něgovim biračima [Die Tätigkeit Đorđe Stratimirovićs, Abgeordneter aus Betschkerek, auf dem ungarischen Reichstag 1865–8, seinen Wählern gewidmet]. Novi Sad 1869. 9 „Srbobran“ war eine konservativ-klerikale Zeitung der Serben in Ungarn, die von 1861 bis 1867 herausgegeben wurde und eine prohabsburgische Richtung vertrat. 10 Vgl. Deák: Der K.(u.)K. Offizier, S. 14. 11 Ebd., S. 15.

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1849 beanspruchte die kaiserliche Armee, die Dynastie und das Kaisertum gerettet zu haben. Der österreichische Offizier sah sich als Kämpfer für Legitimität und Gegenrevolution.12 Es war zudem eine besondere Vertrautheit zwischen den Offizieren und dem Monarchen vorhanden, da jeder einzelne Offizier direkt von Seiner Majestät ernannt worden war und ihm persönliche Treue geschworen hatte. Unter den Offizieren gab es vor allem Angehörige von Gruppen, die von einer Tradition im Militärdienst und von Loyalität zur Dynastie gekennzeichnet waren.13 Man könnte nun also davon ausgehen, dass ein solches Offizierskorps einen dementsprechenden Platz in der sozialen Pyramide innehielte. Obwohl Offiziere im Kaiserreich Österreich natürlich nicht geringschätzig behandelt wurden, hatten sie jedoch keine überproportional herausgehobene Stellung inne. Denn es gelang dem Militäradel ebenso wenig wie dem Beamtenadel, mit dem alten Adel eine gemeinsame Interessensfraktion zu bilden: „Der alte Adel war immer noch Herr aus eigenem Besitz. Der Offizier war hingegen nur Herr seiner geistigen Haltung nach und soweit sein Dienstgrad ihm Befehlsbefugnisse einräumte. Hier geriet er nun in einen fatalen Zwiespalt, denn im Alltag genügte es ihm leider nicht immer, sich nur als Herr zu fühlen, sondern man musste auch als solcher auftreten.“14 In dieser Lage bedurften die Offiziere eines Rückhaltes, den sie in der Person des Monarchen fanden. Man trug nicht irgendeine Uniform, sondern des „Kaisers Rock“ und war damit auf eine Ebene hinaufgehoben, die trotz aller Miseren des Alltags über den anderen uniformierten Würdenträgern stand. „Sie, die Offiziere des Kaisers, waren allerdings auch jener Berufsstand, der die Realität des Reiches wie kaum jemand sonst am eigenen Leibe erfuhr. Wer gestern noch in Venetien auf Posten gestanden, heute in Galizien Dienst verrichtete, morgen nach Bosnien abzurücken hatte und übermorgen womöglich nach Böhmen oder in die Tiroler Berge versetzt werden konnte, für den verlor der bürgerliche Heimatbegriff seine Geltung.“15 Es stellt sich nun aber die Frage, ob dieser „Offizier des Kaisers“ wirklich seine Heimat vergessen hatte? Heißt das, wie auch István Deák mit dem englischen Titel Beyond Nationalism seines Buches Der K.(u.) K. Offizier betont, dass er jenseits des Nationalismus stand und dass seine Heimat nun das Offizierskorps war? Oder war dies eher bei den deutsch-österreichischen Offizieren der Fall? 12 Vgl. Jean Bérenger: Die Geschichte des Habsburgerreiches 1273 bis 1918. Wien 1996, S. 617. 13 Vgl. Deák: Der K.(u.)K. Offizier, S. 16f. 14 Vgl. Johann Christoph Allmayer-Beck / Peter Broucek: Militär, Geschichte und politische Bildung: aus Anlass des 85. Geburtstages des Autors. Wien 2003, S. 51f. 15 Vgl. Johann Christoph Allmayer-Beck / Erich Lessing: Die K.(u.)K. Armee 1848–1914. München 1974, S. 181.

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Wenn es um Mentalitäten geht, liest man in der Geschichtsschreibung oft, dass das Offizierskorps durch ein Standesgefühl charakterisiert und als supranationale Einheit geformt wurde. Dieser Auffassung nach war die einzige politische Einstellung habsburgischer Offiziere ein beruflich veranlasster Reichspatriotismus, d. h. die dynastisch-konservative politische Linie des Kaiserhauses.16 Dieser Auffassung nach verachteten nicht nur deutsche Offiziere, sondern auch diejenigen, die anderen Nationalitäten angehörten, den politischen Beruf und betrachteten die Armee als ihre eigentliche Heimat.17 Die Geschichte Đorđe Stratimirović’ bietet Gelegenheit, diese Thesen kritisch zu diskutieren.

General Đorđe Stratimirović – ein biographischer Abriss Đorđe Stratimirović entstammte einer hochgeachteten serbischen Familie in der Habsburgermonarchie, die von Maria Theresia 1745 geadelt worden war.18 Er wurde 1822 in Neusatz geboren. Das evangelische Halbgymnasium besuchte er in Werbass (Verbász). Anschließend ging er auf die Bataillonsschule in Titel und von 1837 bis 1841 auf die Ingenieurakademie in Wien. Nachdem er die Ausbildung abgeschlossen hatte, diente er als Leutnant in Mailand und Pavia. 1843 schied er aus der Armee aus und lebte zurückgezogen auf seinem Gut in Kulpin.19 Seine eigentliche politische Laufbahn begann im Frühjahr des Revolutionsjahres 1848. Zum einen war er Präsident des Hauptausschusses und zum anderen wurde er im Juni 1848 zum Oberkommandierenden der aufständischen serbischen Truppen ernannt, solange Woiwode Stavan Šupljikac abwesend war. Stratimirović verlor an Einfluss, als er sich im Herbst 1848 in einen politischen Gegensatz zu Patriarch Rajačić manövrierte. Es ging dabei um einen Konflikt innerhalb der serbischen Führung zwischen den liberalen und antiösterreichisch gesinnten Kräften, die Stratimirović verkörperte, und der konservativen Strömung, die loyal zum Wiener Hof stand und dessen Vertreter der Patriarch war. Rajačić entzog Stratimirović das Oberkommando und befahl ihm, das Schlachtfeld zu verlassen und nach Karlowitz zu kommen. Wenige Monate später, als es im April 16 Vgl. Dušan J. Popović: Srbi u Vojvodini [Serben in der Vojvodina], Bd. 3. Novi Sad 1963, S. 196. 17 Vgl. Günter Klein: Die rumänischen Offiziere in der K.(u.)K. Armee. Sozialer Aufstieg ohne Verlust der nationalen Identität. In: Revista Istorică 7 (1996), H. 3–4, S. 175–189, hier S. 183. 18 Vgl. Popović: Srbi u Vojvodini [Serben in der Vojvodina], Bd. 3, S. 99. 19 „Stratimirović, Djordje“ in: Mathias Bernath / Felix von Schroeder: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas Bd. 4. München 1970, S. 212.

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1849 zum Zusammenbruch der serbischen Armee kam, war der Patriarch jedoch gezwungen, Stratimirović zu bitten, das Kommando wieder zu übernehmen.20 Zu dem Zeitpunkt hatte die serbische Bewegung bereits ihr revolutionäres Wesen verloren und somit siegte der Einfluss der konservativen Politik, die der Dynastie gegenüber loyal war. Die serbische Armee als unabhängige Formation existierte nicht mehr und vereinigte sich mit der Südarmee von Ban Jelačić,21 unter dessen Befehl auch Stratimirović stand. Im Sommer des Jahres 1849 kämpften österreichische, kroatische und serbische Armeen zusammen gegen die Ungarn, die schließlich nach einer russischen Intervention im August 1849 bei Világos in Siebenbürgen kapitulierten. Nach der Revolution im Jahr 1849 trat Stratimirović wieder in die österreichische Armee ein und stieg innerhalb von zehn Jahren vom Oberstleutnant zum General auf. In dieser Zeitspanne wurde er mit mehreren diplomatischen sowie militärischen Aufträgen in Serbien, Bosnien, Dalmatien und besonders Montenegro betraut. Seine militärische Karriere beendete er schließlich bereits 1859 mit nur 37 Jahren aus unklaren Gründen. Kurz danach wurde er 1860 zum Generalkonsul auf Sizilien ernannt, wobei er sein Amt nicht lange ausüben konnte, weil Giuseppe Garibaldi die Insel noch im selben Jahr eroberte. Die nächste Zäsur in seiner Karriere folgte im Jahr 1863, als er aus dem Staatsdienst ausschied. Daraufhin bot er seine Dienste dem russischen Zaren sowie dem Fürstentum Serbien an. Als seine Angebote nicht angenommen wurden, verband er sich mit den Südslawen und wurde zu einem der prominentesten Mitglieder der revolutionären Emigranten.22 Die Jahre 1864/65 verbrachte er in Genua mit dem Versuch, sich mit anderen Revolutionären aus dem Habsburgerreich zu vereinen und einen großen Aufstand auf dem Balkan auszurufen.23 Da seine Bemühungen in Italien jedoch keinen Erfolg hatten, kehrte Stratimirović 1865 nach Wien zurück. Sofort engagierte er sich wieder in der Politik und 20 Vgl. Jelena Smiljanić: Srpski narodni pokret 1848/49 i uloga Đorđa Stratimirovića. [Die Serbische Nationalbewegung 1848/49 und die Rolle des Đorđe Stratimirovićs], In: Rad muzeja Vojvodine 51 (2009), S. 261–270. 21 Joseph Jelačić von Bužim war Feldherr und Ban von Kroatien, überdies k.k. Feldzeugmeister. In der Revolution von 1848 befehligte er zusammen mit Alfred Fürst zu Windisch-Grätz die Niederschlagung des Wiener Oktoberaufstandes. 22 Vgl. Vasilije Krestić: O Đorđu Stratimiroviću i njegovom političkom programu iz 1872. godine. [Über Đorđe Stratimirović und sein politisches Programm aus dem Jahr 1872], In: Zbornik za istoriju 18 (1978), S. 31–49. 23 Belege dafür liefern seine veröffentlichten Briefe an ungarische Revolutionäre und seine ehemaligen Gegner Lajos Kossuth sowie István Türr. Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka. [Svetozar Miletić und die Nationalpartei], Bd. 1, S. 240–286.

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wurde zur prominentesten Persönlichkeit der serbischen konservativ-klerikalen Partei, die gegen die Zusammenarbeit mit den Magyaren und für die Kooperation mit Wien war.24 1865 und 1869 wurde er als Vertreter der Serben ins ungarische Parlament gewählt, wo er als Gegenpart zu Svetozar Miletić einen konservativen Standpunkt vertrat. Während des gesamten nächsten Jahrzehnts schwelte nun der Konflikt zwischen den beiden Akteuren Miletić und Startimirović. Es ging nicht nur um politische Differenzen zwischen den beiden Seiten, sondern auch um einen Machtkampf um die führende Rolle im politischen Leben der Serben in Südungarn.25 Auf der einen Seite stand ein Mann aus adeligem Haus, der hohes Ansehen für seine Rolle, die er 1848/49 gespielt hatte, genoss und der über Verbindungen sowohl zu Wiener Kreisen als auch in Karlowitz zum altem Bürgertum, Landadel und zu älteren Offizieren aus der Militärgrenze verfügte. Auf der anderen Seite war ein Handwerker mit wenig politischer Erfahrung, mit einem liberalen und demokratischen Programm, unterstützt durch die junge Intelligenz, mit dem die Mittelschicht und das Kleinbürgertum in Stadt und Land sympathisierten. Für die zeitgenössische Öffentlichkeit war der Ausgang dieses Streits zwischen den beiden Rivalen alles andere als eindeutig. Seine letzte aktive Tätigkeit hatte Stratimirović während des Krieges zwischen Serbien und dem Osmanischen Reich im Jahre 1875. Er war als Offizier und Militärberater in Serbien, wurde aber der Spionage für Österreich verdächtigt und ausgewiesen. Von 1877 an war er quasi ständig in Wien, lebte von der Politik zurückgezogen und schrieb seine Erinnerungen. Er verstarb im Jahr 1908 in Wien.

Karriereweg Wie hat nun Đorđe Stratimirović seine eigene Laufbahn wahrgenommen und in seinen Selbstzeugnissen dargestellt? Zunächst ist zu fragen, wie er seine militärische Karriere charakterisiert hat und im Anschluss daran, warum er aus der Armee ausgeschieden ist. Das Leitmotiv seines Werdegangs sowohl im Militär als auch später in der Diplomatie und Politik fasst Stratimirović selbst so zusammen: „Ich würde ein mächtiger Herr werden und über viele Menschen

24 Ebd., S. 228. 25 Die Geschichte der Serben auf dem Boden des Königreiches Ungarn bzw. der Habsburgermonarchie war ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum einen gekennzeichnet durch den Kampf um die Anerkennung und Gleichberechtigung als Nation und zum anderen durch die Forderung nach mehr Autonomie und einem eigenen Territorium innerhalb Ungarns.

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befehlen.“26 Stratimirović glaubte fest daran, dass ihm ausschließlich Hauptrollen in der Geschichte vorbestimmt seien. Đorđe Stratimirović verfügte über alle Vorbedingungen, die ihn für eine vielversprechende militärische Karriere prädestinierten. Zum einen stammte er aus einer adeligen Familie, was in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch einen wichtigen Vorteil für junge Offiziere darstellte.27 Zum anderen hatte er in seiner Familie ruhmreiche Vorbilder, die seit dem 17. Jahrhundert dem Kaiser gedient hatten. Die Erzählungen, die er über seine grandiosen Vorfahren und ihre militärische Heldentaten gegen die Osmanische Herrschaft in der Herzegowina gehört hatte, hatten zudem seinen Ehrgeiz, in das Militär einzutreten, geweckt: „Sie [Tante Julie, M. Đ.] war die lebende Chronik unserer Familie, und ich eilte zu ihr, um mir über unsere Familie erzählen zu lassen. Höre, Gjoko, wir sind ein altes Geschlecht und gehören zu den besten Familien der Serben; deine Ahnen waren immer Helden und auch unser Kulpin ist eine der wenigen Herrschaften im Komitate, die nicht gekauft, sondern mit dem Schwerte erworben worden ist.“28 Die Rekrutierung und Ausbildung der zukünftigen Offiziere waren bis weit in das 19. Jahrhundert hinein sehr verwirrende Vorgänge und erst langsam entwickelte sich ein einheitliches System.29 Đorđe Stratimirović folgte einem Weg, der seiner adeligen Herkunft entsprach. Er ist auf den Rat eines Familienfreundes im Jahre 1836 in die Ingenieurakademie in Wien eingetreten, wo der Lehrplan schwierig und Drill eine übliche Ausbildungsmethode war. Das Leben und die Ausbildung in der Ingenieurakademie in Wien beschreibt Đorđe Stratimirović deckungsgleich mit seinen Kameraden: „Bei dem ganz militärisch geregelten Leben, wo jede Stunde des Tages ihre unabänderliche Bestimmung und Verwendung hatte, waren wohl besondere Erlebnisse der Zöglinge ausgeschlossen.“30 Wie István Deák festgestellt hatte, könnten hinter den fast identischen Berichten und Erfahrungen einige ungeschriebene Codes zum Schreiben von militärischen Memoiren liegen.31

26 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 21 27 1850 stammten 89 Prozent der Generäle aus adeligen Familien, während dieser Prozentsatz in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beträchtlich zurückging. Vgl. Klein: Die rumänischen Offiziere, S. 181. 28 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 5. 29 Vgl. Deák: Der K.(u.)K. Offizier, S. 98. 30 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 15. 31 István Deák: The Habsburg Army in Memoir Literature. In: Solomon Wank u. a. (Hrsg.): The Mirror of History. Essays in honor of Fritz Fellner. Santa Barbara (CA), Oxford 1988, S. 68–89, hier S. 76f.

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Über den Status eines Mannes mit einer militärischen Karriere ist in der Autobiographie und in den Memoiren von Stratimirović nicht viel zu finden. Für ihn war zwar wichtig zu betonen, dass er ein General in der kaiserlichen Armee war, dennoch sind weitere Andeutungen über diese Fragen kaum vorhanden. Nichtsdestotrotz lässt eine Passage etwas über den Status der österreichischen Armee in Italien erkennen: „In den österreichisch-italienischen Provinzen war die Stellung der k. k. Offiziere keine beneidenswerte. Die Bevölkerung hasste uns und wir hatten bei aller Vorsicht zahlreiche Konflikte mit den Italienern. […] Infolgedessen waren wir angewiesen, außer Dienst nur in Zivil zu gehen. Trotzdem kam es vor, daß einzelne Offiziere, die von der Stadt in die Vorstädte zurückkehrten, von hinter den Bäumen versteckten Strolchen angehalten, ganz entkleidet und an die Bäume gebunden wurden.“32 Andere Autobiographen bestätigen dieses Bild der gesellschaftlich isolierten österreichischen Offiziere, die von höheren Gesellschaftsschichten in Italien gemieden wurden.33 Dass man nur wenige Stellen in den Selbstzeugnissen von Stratimirović über den Status der Offiziere im Habsburgerreich finden kann, verwundert nicht, da er von der Geltung der höheren Vertreter der Armee überzeugt war und sie nicht in Frage stellte. Dafür ist für ihn aber von großer Bedeutung, seine führende beziehungsweise untergeordnete Rolle zum Ausdruck zu bringen. Hinsichtlich dieser Frage sind in den analysierten Selbstzeugnissen mehrere aussagekräftige Stellen zu finden. Für die gesamte Lebensdarstellung von Stratimirović ist es charakteristisch, dass er nie gerne eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Wann immer er unter jemandes Befehl stehen sollte, empfand er das als problematisch, und es fiel ihm sehr schwer, in dieser Situation nicht in einen Konflikt mit seinem Vorgesetzten zu geraten. Dies kommt erstmals zum Vorschein, als er über seine Rolle in der serbischen Bewegung von 1848/1849 berichtet. Đorđe Stratimirović stand im ersten Jahr der Revolution an der Spitze der Revolutionsbewegung, worauf er sein ganzes Leben lang stolz war. Dennoch verlor er schon am Ende des Jahres 1848 an Einfluss und konnte sich als Anführer der Bewegung nie wieder durchsetzen. Trotzdem schreibt er weiter über seine Popularität bei der Armee und widmet der Ergebenheit serbischer Soldaten ihrem „lieblichsten“ Führer gegenüber gleich mehrere Seiten. Andere Quellen und die Erzählungen anderer Teilnehmer der Revolution bestätigen seine Darstellung jedoch nicht ganz. Es war eher ein Zwiespalt in der serbischen Armee vorhanden, und während einige ihn unterstützen, war er bei anderen nur als junger ehrgeiziger Mann bekannt, der

32 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 19. 33 Vgl. Deák: Der K.(u.)K. Offizier, S. 132.

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nach eigenem Ruhm strebte.34 Allerdings hinterließ die Tatsache, dass er mit 26 Jahren bereits an der Spitze eines ganzen Volkes stand, einen prägenden Eindruck in seinem Leben. Man kann davon ausgehen, dass genau diese Ereignisse seine Einstellung gegenüber führenden beziehungsweise untergeordneten Rollen stark geprägt haben. Gleich ob in Galizien, Bosnien, Serbien, Montenegro oder in Wien, Stratimirović konnte den Befehlen seiner Vorgesetzten oft nicht folgen. Immer wieder übernahm er selbst das Kommando und weigerte sich, Aufträge zu erfüllen: „Was die Dienstverhältnisse in Radautz betrifft, so gehörte meine Stellung als zweiter Oberst nicht zu der angenehmsten, da ich keinen Wirkungskreis hatte und mich auch mit dem von hoher Protektion getragenen Oberstleutnant Baron Piret […] nicht am besten vertragen konnte.“35 Vermutlich hat diese Eigenschaft das frühzeitige Ende seiner militärischen Laufbahn beeinflusst, als er mit 37 Jahren in den Ruhestand versetzt wurde. Auf Grund des bereits Erläuterten ist es nicht schwierig zu vermuten, welche Bedeutung für Stratimirović Offiziersränge und militärische Auszeichnungen hatten. Er stieg nämlich in seiner relativ kurzen militärischen Karriere in der habsburgischer Armee zum Generalmajor auf und gehörte somit im Alter von nur 37 Jahren zu einer kleinen und ausgewählten Gruppe der Offiziere in der habsburgischen Armee, die rasch in den Rang eines Stabsoffiziers (Majors oder Obersten) vorgerückt waren. Das Durchschnittsalter der Generalmajore in der k.(u.)k. Armee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrug 56 Jahre.36 Im Leben eines Offiziers waren neben den Rängen Auszeichnungen und Orden wichtigste Belohnungen für seinen Dienst und seine Tapferkeit auf dem Schlachtfeld. General Đorđe Stratimirović hat sich auch stets mit dieser Frage beschäftigt. Eine erste Auszeichnung hatte er vom Vladika von Montenegro, Peter  II ., für seine Tätigkeit in der Revolution 1848/49 bekommen. Anschließend wurde ihm für seine Teilnahme am Krieg in Montenegro im Jahre 1853 vom Kaiser von Russland das Kommandeurskreuz des Vladimirordens verliehen.37 Dennoch war die Auszeichnung, nach welcher jeder habsburgische Offizier im Verlaufe seiner Karriere strebte, der Militär-Maria-Theresien-Orden, und mit dem Versuch, diesen zu erhalten, beschäftigte sich auch General Stratimirović während seines ganzen militärischen Werdegangs. Bei den Kriterien der Verleihung sollte allein 34 „In der [serbischen] Bewegung gab es keinen Mann, der so sehr gelobt und getadelt wurde. Auf beiden Seiten wurde übertrieben. […] Er war populär, aber er hatte auch viele Feinde. Einige haben ihn verehrt, die anderen haben ihn durch den Sand gezogen.“ Vgl. Jakov Ignjatović: Memoari [Memoiren]. Belgrad 1988, S. 207. 35 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 109. 36 Vgl. Deák: Der K.(u.)K. Offizier, S. 202. 37 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 82, 105.

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die Tapferkeit vor dem Feind entscheidend sein, wobei Religion, Nationalität und Herkunft keine Rolle spielen durften. Stratimirović war sehr enttäuscht, diesen Orden nicht bekommen zu haben, weshalb er darüber in mehreren Passagen sowohl in seiner Autobiographie als auch in den Memoiren, jedoch mit anderen Worten, berichtete. In der deutschsprachigen Autobiographie erläutert er die formalen Gründe, warum er diesen Orden nicht bekommen dürfe, da „es die Einbegleitung des kommandierenden Generals, unter dessen Oberbefehl er diese Taten vollbrachte, mangelte. Ohne Zweifel würde mir Banus Jellacic diese Einbegleitung anstandslos gegeben haben; allein ich wollte es nicht verlangen, weil dadurch mein selbständiger Oberbefehl über die Serben in Frage gekommen wäre.“38 Sicherlich war es Stratimirović nicht angenehm zu erwähnen, dass er am Anfang der Revolution gegen die Wiener Regierung opponierte und er erst später, als ihn die Umstände gezwungen hatten und sich die ganze serbische Bewegung mit den Habsburgern vereinigen musste, seine Position veränderte. In den serbischen Memoiren findet man dazu eine ausführlichere Erklärung.39 Bei der Diskussion, ob ihm der Orden verliehen würde oder nicht, wurde nämlich die Tatsache, dass er sich zuerst für das serbische Volk und gegen die Habsburger einsetzte, als entscheidender Nachteil wahrgenommen, und die Mehrheit hatte sich entschlossen, ihm diese höchste Tapferkeitsauszeichnung der Habsburgermonarchie nicht zu verleihen, so Stratimirović. 1859 war ein ereignisvolles und entscheidendes Jahr im militärischen Werdegang von Stratimirović. Während des Sardinischen Krieges40 wurde er dem Gouverneur von Dalmatien zugeteilt. Im selben Jahr stieg er in die Generalcharge auf, denn im Militär wurden als Folge des Krieges zahlreiche Offiziere befördert. Jedoch nur wenige Monate später wurde General Stratimirović frühzeitig pensioniert. In seiner Autobiographie sowie in den Memoiren berichtet er kurz und knapp über dieses wichtige Ereignis. Warum seine militärische Karriere in der k. k. Armee ein frühzeitiges Ende fand, bleibt aber unklar. Als Grund nennt er eine militärische Mission, die er 1859 in Dalmatien nicht erfüllen wollte: Erst auf der Fahrt wurde mir klar, welcher Art die Dienste waren, die ich eigentlich leisten sollte; es war mir nämlich außer dem offiziellen Auftrage noch eine andere

38 Ebd., S. 82. 39 Vgl. ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 49. 40 Der Sardinische Krieg wurde 1859 zwischen dem Kaiserreich Österreich sowie dem Königreich Sardinien und dessen Verbündetem Frankreich geführt. Die Niederlage der Österreicher öffnete den Weg zur Einigung Italiens.

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militärische Mission zugedacht, die ich weder mit meiner Stellung als k. k. General, noch mit meiner persönlichen Würde vereinbar fand. In Castelnuovo [Herceg Novi] angekommen, erklärte ich dem mich dort erwartenden Generalmajor R., daß ich es entschieden ablehne, die mir zugemutete Rolle zu spielen.41

Welche Art diese Mission hatte, geht aus den Selbstzeugnissen Stratimirović’ nicht hervor. Es sieht aber nicht so aus, als ob er enttäuscht von der Habsburger Regierung gewesen sei, denn er begann kurz darauf eine diplomatische Karriere und wurde im Jahre 1860 zum k. k. Generalkonsul auf Sizilien ernannt. Der Austritt aus der habsburgischen Armee stellt aber für Stratimirović kein Ende seines militärischen Engagements dar. Im Jahre 1875 befand er sich in Belgrad. Die große Orientkrise zeichnete sich ab und die Frage nach dem Erhalt des Osmanischen Reiches war wieder aktuell, eine Frage, mit der sich Đorđe Stratimirović sein ganzes Leben lang befasste. Nicht nur die Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker waren es, die ihn nach Belgrad zogen, er war nicht minder ehrgeizig als 1848 und wartete ungeduldig auf eine führende Rolle in der serbischen Armee im Krieg gegen das Osmanische Reich. Allerdings kam es nur zu einer großen Enttäuschung. Die serbische Regierung beauftragte nicht den habsburgischen Offizier mit der Führung der Armee, sondern einen russischen General, Michail Černjaev. Obwohl offensichtlich enttäuscht, nahm Stratimirović dennoch kurzzeitig an dem Krieg teil. Wieder einmal kam er mit seinem Vorgesetzten nicht zurecht und musste das Schlachtfeld verlassen. Stratimirović wurde aus dem Fürstentum Serbien unter dem Verdacht, für die Interessen der Habsburgermonarchie gearbeitet zu haben, ausgewiesen: „So wurde meine Opferwilligkeit damit belohnt, daß man mich den ungarischen Behörden auf Gnade und Ungnade auslieferte. In Semlin angekommen, wurde ich unter Anklage angeblichen Landesverrates verhaftet und in das Gefängnis nach Neusatz gebracht, in dem ich drei Wochen gehalten wurde, und über den Undank des Fürsten Milan nachdenken konnte.“42 Daraufhin entschied er sich, mit seiner Familie nach Wien zu ziehen, wo er ohne Bezug zu Armee, Diplomatie oder Politik den Rest seines Lebens verbrachte. Bis zu der kurzen Episode im serbisch-osmanischen Krieg im Jahre 1876, in dem er wieder die Führung von Soldaten übernahm, vertrat Đorđe Stratimirović in diplomatischen Missionen sowohl die Habsburgermonarchie nach außen als auch das serbische Volk im Kaiserreich. Die Geschichtsschreibung über die 41 Vgl. ders.: Was ich erlebte, S. 115; ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 71. 42 Vgl. ders.: Was ich erlebte, S. 149f.

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Habsburgermonarchie betont, dass ein Karriereweg in der Armee mit Außendienst und Diplomatie unvereinbar gewesen sei und dass von einer Militarisierung der Diplomatie auf Personalebene im Habsburgerreich keine Rede sein könne. Dennoch hatte Franz Joseph in den früheren Jahrzehnten seiner Regierung gelegentlich Missionschefs mit militärischem Rang nach Russland und auf den Balkan entsandt.43 So überlappen sich auch im Fall von General Stratimirović seine militärische und diplomatische Laufbahn im habsburgischen Dienst, wurde er doch während seiner militärischen Karriere mit etlichen diplomatischen Missionen auf dem Balkan betraut. Warum Đorđe Stratimirović jedoch im Jahre 1860 als Generalkonsul nach Palermo geschickt wurde, ist weniger klar. Zuerst wurde er wegen seines Ungehorsams gegen Ende 1859 in den Ruhestand versetzt. Die Entscheidung wurde jedoch kurz darauf wieder rückgängig gemacht. Stratimirović erhielt das Angebot, in den diplomatischen Dienst einzutreten. Was aber zeichnete ihn für diese wichtige Position aus? Und warum wurde gerade er nach Palermo geschickt, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als das Ende des Königreichs beider Sizilien bereits erahnt werden konnte und als die Habsburger ihre eigene Position in Italien bereits verloren hatten? Zudem war Stratimirović kein Experte für die Beziehungen zwischen dem Königreich beider Sizilien und dem Habsburgerreich. Eine Antwort auf die erste Frage bietet er in seiner Autobiographie: „Hier [in Wien] erfuhr ich, daß ich in den Ruhestand versetzt worden bin […]. Ich bat um meine Entlassung aus dem Staatsverbande, da ich in russische Dienste zu treten beabsichtige. Dieses gefiel den maßgebenden Kreisen nicht. Man gab mir hierauf noch eine Personalzulage im doppelten Ausmaße der Pension und ernannte mich im Frühjahre 1860 zum k. k. Generalkonsul für Sizilien.“44 Đorđe Stratimirović hatte nämlich ein dichtes Netzwerk und Beziehungen zu wichtigen Personen sowohl in Wien als auch bei den Serben und anderen Slawen in der Habsburgermonarchie. Er stellte eine potentielle Gefahr für die Dynastie dar, und man hatte ihn im Auge zu behalten. Dementsprechend bekam er eine neue Aufgabe, und zwar das Amt des Konsuls in Palermo, mit ausreichend Abstand von den Serben in Südungarn. Normalerweise hätte man ihn nach Südosteuropa geschickt, da er sozusagen ein Experte auf diesem Gebiet war, in diesem Fall aber entsandte man ihn ausnahmsweise nach Sizilien. Man wollte ihn nicht aus den Augen verlieren, zumal zu Beginn des Jahres 1860 in Wien die Aufhebung der Vojvodschaft Serbien und Temeser 43 William D. Godsey: „Der österreichisch(e)(-ungarische) Diplomatische Dienst zwischen Stände- und Nationalgesellschaften“. In: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918 Bd. IX, Teilbd. 1. Wien 2010, S. 1245–1261, S. 1251. 44 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 117.

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Banat vorbereitet wurde. Vielleicht wollte man ihn auch von den Serben entfernt halten, um diese heikle Entscheidung ohne größeren Widerstand durchführen zu können. Als er zurückkam, war „in Wien alles für die Aufhebung der Vojvodschaft vorbereitet. Seine Majestät empfing mich zwar gnädig wie immer, berührte aber nicht die Frage der Vojvodschaft und befahl mir, in Wien zu bleiben und ohne seine Erlaubnis die Residenz nicht zu verlassen.“45 Dies könnte eine Erklärungsmöglichkeit sein, zumal Stratimirović eine einflussreiche Person unter den Serben in der Habsburgermonarchie war und über das nötige Netzwerk verfügte, um eine Opposition zu unterstützen und zu organisieren. „In der Tat hat meine Anwesenheit in der Vojvodschaft und die Demonstrationen der Serben zu meinen Gunsten, die Magyaren so erschreckt, daß alle Altkonservativen nach Wien eilten und Seine Majestät beschworen, mich zurückzuberufen, da man mit den Ungarn nie zu einem Ausgleiche gelangen werde, so lange die Vojvodschaft bestehe.“46 Da Stratimirović sich immer mehr mit der Politik auseinandersetzte – insbesondere mit der Lage der Serben im Habsburgerreich sowie mit der Orientalischen Frage – schied er im Jahre 1863 aus dem militärischen sowie diplomatischen Dienst der Habsburger aus. Seine Entscheidung erläutert er in seinen serbischsprachigen Memoiren, in denen er behauptet, dass sein Engagement für die Serben ihm viele Gegner schuf. In der deutschsprachigen Autobiographie wollte er diese Aktivität nicht betonen und stellte nur kurz fest, dass er aus dem Dienst ausgetreten sei: „Ich füge bei, daß mir damals der Minister des Äußern Graf Rechberg schrieb, daß mein Austritt aus der Armee auf meine Stellung als Generalkonsul keinen Bezug habe, und daß er trachten werde, mir bald eine neue Verwendung zu bestimmen. Ich lehnte jedoch dieses Anerbieten ab, verzichtete auch auf diesen Rang und widmete mich ganz dem politischen Leben.“47 Obwohl Đorđe Stratimirović schon seit Beginn seiner Karriere großes Interesse an der Politik zeigte, setzte er sich mit dem politischen Leben der Serben im Habsburgerreich erst seit der Aufhebung der Vojvodschaft im Dezember 1860 intensiver auseinander. Diese Entscheidung der Wiener Regierung hatte ihn sehr berührt, denn die Vojvodschaft wurde nach der Revolution 1848/49 eingerichtet und in der Wiedereingliederung in Ungarn sah er die Annullierung aller Errungenschaften des serbischen Kampfes während der Revolution. Auf der serbischen Versammlung, die in Folge der Abschaffung der Vojvodschaft im Jahre 45 Ebd., S. 128; ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 80. 46 Ders.: Was ich erlebte, S. 128; ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 80. 47 Ders.: Was ich erlebte, S. 135.

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1861 einberufen wurde (Blagoveštenski Sabor), hatten sich bei den serbischen Politikern im habsburgischen Imperium zwei Richtungen herauskristallisiert. Eine Gruppe bestand aus den Anhängern der Wiener Regierung, die zweite waren die Befürworter der Zusammenarbeit mit Ungarn. In seiner politischen Tätigkeit vertrat Stratimirović vorwiegend die Richtung, die eigentlich das habsburgische Offizierskorps kennzeichnete, nämlich die dynastisch-konservative Linie des Kaiserhauses, oder, wie man es damals nannte, den Reichspatriotismus.48 Er war ein Unterstützer der serbisch-konservativen Partei, welche für eine Kooperation mit Wien stand und die Wiederherstellung der Vojvodschaft verlangte, wohingegen die andere Gruppe unter der Führung von Svetozar Miletić „sich mit einigen serbischen Komitaten und Munizipien unter ungarischer Herrschaft begnügte, auf ein besonderes politisches Territorium verzichtend.“49 Nachdem Đorđe Stratimrović in den Jahren 1865 und 1869 als Deputierter in das ungarische Parlament gewählt worden war, kooperierte er eng mit Wien und stand an der Spitze der konservativ-klerikalen Partei der Serben. Je mehr er sich mit der kirchlichen Hierarchie verband, desto mehr entfernte er sich von Svetozar Miletić. Als Führer zweier gegensätzlicher politischer Tendenzen, mit unterschiedlichen politischen Auffassungen über die nationale Entwicklung der Serben im habsburgischen Reich, wurden die beiden erbitterte Feinde und kämpften bei jedem Schritt sowie in allen wichtigen Fragen gegeneinander.50 Die Zusammenarbeit mit Ungarn beziehungsweise der Rückhalt in Wien war die wichtigste Frage, mit der sich serbische Politiker auf dem Gebiet der ehemaligen Vojvodschaft auseinandersetzten, wobei Svetozar Miletić und Đorđe Stratimrović die beiden wichtigsten Vertreter dieser opponierenden Richtungen darstellten. Seine Erbitterung über die Politik von Miletić bringt Stratimirović in seiner Autobiographie an mehreren Stellen zum Ausdruck: Unter den Führern der ungarischen Partei trat vor allen Miletić hervor, welcher glaubte, für die Aufhebung der Vojvodschaft sich an Wien rächen zu sollen. Er war ein geschickter Agitator und guter Redner, aber ein kurzfristiger Politiker; später hat er selbst an sich im Waizner Gefängnisse erlebt, wohin die Magyarenfreundschaft die Serben geführt hat. Die konsequente Magyarisierung bis in die Volksschule hinab beweisen

48 Vgl. Allmayer-Beck/Lessing: Die K.(u.)K. Armee, S. 183. 49 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 129f; ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 80. 50 Vgl. Krestić: O Đorđu Stratimiroviću i njegovom političkom programu [Über Đorđe Stratimirović und sein politisches Programm], S. 36.

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unwiderleglich die Irrungen der damaligen magyarenfreundlichen Politik Miletić’ und die Berechtigung unseres Festhaltens an Österreich.51

Auch wenn der Ballhausplatz mit Đorđe Stratimirović denjenigen unterstützte, der die Interessen Wiens vertrat, gelang es Svetozar Miletić dennoch, sich mit seinen Ideen durchzusetzen. Seine Enttäuschung darüber äußert Stratimirović in seinen Selbstzeugnissen: „Zwischen dem wilden Radikalismus der Miletić’schen Partei und meinen konservativen Anschauungen war jeder dauernde Kompromiss ausgeschlossen. Indessen hatte die Partei des Miletić […] sehr an Einfluß gewonnen und durch fortwährende Verdächtigung meiner Absichten meine Stellung im Volke sehr geschwächt, so daß ich mit dem besten Willen nicht mehr mit Erfolg für dasselbe wirken konnte.“52 Mit der Wahl im Jahre 1872, an der er nicht teilnahm, endet Stratimirović’ Darstellung seines politischen Wirkens bei den Serben in Südungarn. Auch wenn er nicht mehr im ungarischen Parlament tätig war, bedeutet dies jedoch nicht, dass sein politisches Engagement damit ein Ende nahm. Wie bereits angedeutet wurde, war Stratimrović der Meinung, dass die Politik von Miletić zu radikal und extrem war. Er glaubte, dass eine solche Politik unter den bestehenden „politischen Umstände[n] keine wünschenswerte Ziele für das [serbische] Volk erreichen kann“, denn sie erzeuge nur Widerstand in der Regierung und würde jegliche politischen und die kirchlich-nationalen Interessen in größte Gefahr bringen. Daher deutete er gegen Ende des Jahres 1872 an, dass er beabsichtige, „eine bescheidene, aber liberale und unabhängige serbische Politik zu gründen, die innerhalb der Grenzen der legitimen Opposition unsere nationalen Interessen verteidigen wird, und ebenso unter den gegenwärtigen Umständen den gefährlichen Radikalismus sowie bedingungslose Zusammenarbeit mit der Regierung verweigern wird“.53 Um eine solche Partei zu gründen, hatte Stratimrović beschlossen, auch eine neue politische Zeitschrift mit dem Titel Serbische Politik herauszugeben, deren erste Ausgabe im Januar 1873 veröffentlicht werden sollte.54 Allerdings wurde keiner dieser großen Pläne realisiert. Möglicherweise lag ein Grund darin, dass sein 51 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 130. 52 Ebd., S. 143f. 53 Vgl. Raspis Đ. Stratimirovića iz 1872. godine. Rukopisno odeljenje Matice srpske [Aufruf des Đ. Stratimirović aus dem Jahr 1872. Handschriftenabteilung der Matica Srpska], Nr. 3.519 und 11.997. Zitiert nach: Krestić: O Đorđu Stratimiroviću i njegovom političkom programu [Über Đorđe Stratimirović und sein politisches Programm], S. 39. 54 Vgl. Đorđe Stratimirović: Od 1. januara god. 1873. izlazi u Novom Sadu nov srbski list, pod naslovom „Srbska politika“ [Plakat mit der Ankündigung: Ab dem 1. Januar 1873. wird in Novi Sad die neue serbische Zeitung „Serbische Politik“ erscheinen], Novi Sad 1872.

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politisches Programm nicht genügend Unterstützer fand, weshalb Stratimirović enttäuscht sein Vorhaben aufgeben musste und sich in der Folge einer deutlich ruhigeren Tätigkeit als Journalist widmete. Da seine Pläne keine Zustimmung beim serbischen Volk fanden, erwähnt Stratimirović sie in seinen Selbstzeugnissen auch mit keinem Wort. Gemeinhin charakterisiert die Selbstzeugnisse von Stratimirović der Versuch, seine Entscheidungen, Verhältnisse und Betrachtungsweisen zu rechtfertigen und dem deutschsprachigen sowie dem serbischen Publikum seine Selbstverortung darzustellen. Die politischen Ideen von Đorđe Stratimirović wurden am Ende seiner Karriere von den Serben im Habsburgerreich aufgegeben; in Wiener Regierungskreisen war er keinesfalls als loyale Person bekannt. Infolgedessen hatte er seine deutschsprachige Autobiographie sowie seine serbischen Memoiren wohl verfasst, um sein Handeln und seine Motivationen zu begründen. Wenn es um bestimmte Wendepunkte in seiner Karriere ging, verteidigte er oft den eigenen Standpunkt, indem er betonte, dass die „Logik der Tatsachen“ ihn dazu gezwungen habe, sich so zu verhalten, wie er es letztlich getan hat.55 Über diejenigen Wendepunkte, die zu erwähnen ihm zu unangenehm waren, schrieb er einfach nicht, und daher sind diese auch schwierig zu erkennen. Für die Brüche, die Stratimirović in seinen Selbstzeugnissen thematisiert hat, zeichnen in seinen Augen ausschließlich Andere verantwortlich. Am Ende seiner Autobiographie fasst er zusammen, worin die Ursachen für Brüche in seiner Laufbahn lagen: Der Umstand, daß ich mit kaum sechsundzwanzig Jahren Oberbefehlshaber der Serben war, daß ich in der k. k. Armee vom ehemaligen Leutnant sofort zum Oberstleutnant und hierauf ziemlich rasch zum Obersten und General vorrückte; die Tatsache, daß ich das oft bewiesene persönliche Wohlwollen Seiner Majestät besaß, ließ mir im Heere eine Menge Neider und mächtiger Feinde erstehen; ich wurde das Opfer mannigfacher Intrigen, die den frühzeitigen Abbruch meiner militärischen Karriere herbeiführten. Aber nicht nur in der österreichischen Armee, auch im serbischen Volke selbst, dessen Liebling ich früher gewesen, war ich während meiner politischen Tätigkeit vielfachen Anfeindungen von Seiten eines großen Teiles der serbischen ausgesetzt.56

Das Eingeständnis, dass man es hätte anders machen können, wird man in den Selbstzeugnissen von Stratimirović vergeblich suchen. Daher ist es schwierig, 55 Ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 11. 56 Ders.: Was ich erlebte, S. 158.

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Erklärungen für bestimmte Wendepunkte zu finden, wie auch zu verstehen, warum es zu der ein oder anderen Wendung in seiner Karriere gekommen ist und wie er selbst dies wahrgenommen hat. Warum genau er die Armee verlassen hat, weshalb er aus dem habsburgischen Staatsdienste ausgeschieden ist und wieso er am Ende seiner politischen Tätigkeit bei den Serben in Südungarn eine neue Partei zu gründen versuchte und dabei gescheitert ist, erfährt man anhand seiner Autobiographie und Memoiren nicht. Infolgedessen muss man andere Quellen heranziehen, um seine Laufbahn besser verstehen zu können.

Identitätsfragen Für einen k. k. General, Vertreter der Habsburgermonarchie im Ausland und serbischen Politiker im ungarischen Reichstag ist die Frage nach seiner Identität von großer Bedeutung. Dabei wäre zu fragen, mit wem er sich identifiziert hat: War es das Imperium, die Dynastie, der Kaiser oder die serbische Nation? Wem galt seine Loyalität im politischen und diplomatischen Handeln? Inwiefern unterscheidet sich dies von der Darstellung seines Lebens in seiner Autobiographie und den Memoiren, und wem trat er retrospektiv beim Schreiben seiner Selbstzeugnisse loyal gegenüber? Dabei ist es wichtig zu hinterfragen, ob er möglicherweise in zweifacherweise Loyalität übte: gegenüber dem Kaiser beziehungsweise dem Imperium und gegenüber der serbischen Nation. In der Geschichtswissenschaft wird immer wieder betont, dass für einen Offizier in der k. k. Armee, genauso wie für einen habsburgischen Diplomaten, unerschütterliche Treue gegenüber dem Kaiser, Identifikation mit der Dynastie – nicht mit der eigenen Nation – sowie in politischer Hinsicht ein Reichspatriotismus als charakteristisch anzusehen seien. Es wurde behauptet, dass in dem Offiziersund diplomatischen Korps die Liebe zur engeren Heimat: Tirol, Böhmen, Ungarn oder Galizien, hinter der Liebe zum gemeinsamen, durch den Kaiser verkörperten Vaterland zurücktreten sollte.57 Hier stellt sich die Frage, ob tatsächlich alle Offiziere weitgehend den Nationalitäten in der Monarchie gegenüber unempfindlich waren, besonders wenn man nichtdeutsche Offiziere unter die Lupe nimmt. Wie lässt sich General Đorđe Stratimirović in diesen Rahmen einordnen? War General Stratimirović „nationalblind“? War die Armee tatsächlich seine Heimat in dem Sinne, dass er seine Herkunft vergessen hätte? In seinem Fall lautet die Antwort zweifellos nein. Ganz im Gegenteil charakterisierte ihn ein starkes Nationalgefühl. Im Verlaufe seiner Karriere im Militär, in der Diplomatie und in der 57 Vgl. Bérenger: Die Geschichte des Habsburgerreiches, S. 619.

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Politik handelte er stets als Serbe aus der Habsburgermonarchie. Die Bestätigung dieser seiner Identität findet man in allen seinen Selbstzeugnissen, von seiner Autobiographie über die Memoiren, die veröffentlichten politischen Programme bis hin zu privaten Briefen. Auch wenn er in der deutschsprachigen Autobiographie mitunter Äußerungen über die Unterstützung der Serben weggelassen hat und er sein Engagement für seine Nation nicht hervorheben wollte, wird aufgrund vieler Passagen klar, dass er ein Vertreter der Serben war und sich auch dementsprechend fühlte. Diese Auslassungen weisen nicht auf eine Inkonsequenz in seiner Selbstdarstellung hin, sondern sie bestätigen vielmehr die Vermutung, dass er die Autobiographie auf Deutsch für das Publikum in der Habsburgermonarchie geschrieben hat, wohingegen er für den serbischen Adressatenkreis sein Nationalbewusstsein immer wieder zum Ausdruck bringen wollte.58 Die Ziele, die er in der Politik zu verfolgen beabsichtigte, hatte er dabei definiert und zusammen mit den Reden, die er im ungarischen Reichstag gehalten hatte, im Jahre 1869 in einer Broschüre für seine Wähler veröffentlicht. Hier legt er offen dar, dass er ein Vertreter der serbischen Nation ist: „Als ein Serbe muss ich meinem Bedürfnis entsprechen […] Eine der wichtigsten Aufgaben meiner Anwesenheit hier bei Euch ist, dass ich meine Stimme für die Freiheit des Vaterlandes erhebe und für die Gleichheit der Nationalitäten und Sprachen, die meiner Meinung nach unbedingt notwendig für eine bessere Zukunft Ungarns ist.“59 Schon allein diese Passage, wie auch alle seine Schriften, beweisen, dass er sich im ungarischen Reichstag stets für die serbische Nation engagierte. Daher kann die Behauptung, dass man seiner deutschen, slawischen oder rumänischen Identität abschwören musste, um an der Politik im ungarischen Teil der Monarchie teilzunehmen, nicht als plausibel angenommen werden.60 Aufgrund dessen, dass nur wenige Studien in der Geschichtswissenschaft über serbische, rumänische oder 58 Die folgende aussagekräftige Passage wird z. B. in Stratimirović’ deutscher Autobiographie weggelassen: „Aber kein serbischer Patriot, dem der heilige orthodoxe Glaube und die Liebe zum serbischen Volke in sein Herz und Seele durchwoben sind, keiner, dem serbische Ehre unantastbar war, wagte nicht zu denken, dass das serbische Volk auf seine berechtigten Ansprüche für die Anerkennung der eigenen Nation verzichten werde.“ Vgl. Stratimirović: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 11. 59 Ders.: Dělaně poslanika bečkerečkog [Die Tätigkeit Đorđe Stratimirovićs, Abgeordneter aus Betschkerek], S. 8. 60 „Kaum ein Nichtmadjare konnte eine große Laufbahn hinter sich bringen, es sei denn, er schwor seiner deutschen, slawischen oder rumänischen Herkunft ab, änderte seinen Namen und gab sich als Vollblutmadjare.“ Vgl. Nikolaus von Preradovich: Die politisch-militärische Elite in Österreich 1526–1918. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 15 (1964), S. 393–420, hier S. 410.

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slowakische Deputierte im ungarischen Reichstag vorhanden sind, sollte man allerdings jede Verallgemeinerung vermeiden. Auch wenn sie nur eine Ausnahme darstellen sollten, weisen Beispiele wie Đorđe Stratimrović auf serbischer oder Trajan Doda auf rumänischer Seite darauf hin,61 dass es auch möglich gewesen war, die eigene Nation im Reichstag zu vertreten, ohne den eigenen Namen und seine Herkunft vergessen zu müssen. Serbische Patrioten wurden in Selbstzeugnissen von Stratimirović immer als Personen mit positiven Eigenschaften geschätzt, genauso wie der Kampf um die Anerkennung serbischer Rechte: „Die Serben sind eine Nation und werden selbst mit den äußersten Mitteln ihre Rechte zu verteidigen wissen.“62 Mit ähnlichen Worten, die Emotionen wecken sollten, rief er die Mitglieder der serbischen Nation im Jahre 1848 zum Widerstand auf: „Der Fremde drang bei uns ein. Wir waren im Schlaf und leiden seitdem. Du sollst aber versichert sein, dass Deiner Sippe Führer Dir nicht wie bisher ein unerträglicher Herr sein wird, sondern ein freundlicher Bruder und guter Lehrer.“63 In Stratimirović Selbstverortung lässt sich noch eine weitere Kontinuität in seiner Opposition zu Ungarn erkennen. Bereits beim Antritt seiner Schulzeit beginnt die Beschreibung seiner Konflikte mit den Angehörigen dieser Nation: „Meine unsympathischen Kameraden waren zwei Ungarn, Graf C. und Herr v. O. Beide kennzeichnete große Arroganz und Haß gegen die Slaven. Mich insbesondere als ,Vadracz’ (wilden Serben) beehrten sie mit ihrer Antipathie.“64 Es war eben diese Haltung, mit der er später seine ganze Laufbahn hinweg Ungarns Politik gesehen hatte: „Der ungarische Chauvinismus und die ausgesprochene Tendenz, alle andere Nationalitäten zu magyarisieren, machten es, daß das Nationalitätengesetz nicht durchgeführt wurde.“65 Passend dazu werden bei ihm alle Gegner der Ungarn positiv bewertet. Kaisertreue und militärisches Standesgefühl standen somit prinzipiell nicht im Gegensatz zum Nationalbewusstsein, und mehrmals in der Geschichte des Habsburgerreiches unterstützten sie sich gegenseitig. Das Beispiel von General Stratimirović veranschaulicht diese doppelte Identität, auch wenn man im Verlaufe 61 Trajan Doda war ein Vertreter der Rumänen im ungarischen Reichstag und hatte eine fast deckungsgleiche militärische und politische Karriere wie Đorđe Stratimirović. Vgl. Klein: Die rumänischen Offiziere in der K.(u.)K. Armee, S. 187. 62 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 32. 63 Ders.:Draga braćo i narode Srbski! [Liebe Brüder und das serbische Volk] [12. Маi 1848] Dok. 156. In: Thim (Hrsg.): A magyarországi 1848–49-iki szerb fölkelés története [Die Geschichte des serbischen Aufstands in Ungarn in 1848–49]. Bd. 2, S. 283. 64 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 15. 65 Ebd., S. 142.

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seiner Karriere sowohl Loyalitätswechsel als auch revolutionäre Tätigkeiten feststellen kann. Damit korrespondiert ein multinationaler Aspekt in Stratimirovićs Privatleben. Seine erste Frau war eine Serbin, während seine zweite Gattin Albine von Beck einer adeligen deutschen Familie entstammte. Auch in seinen veröffentlichten Selbstzeugnissen vermittelt General Đorđe Stratimirović das Bild zweifacher Loyalität. Einerseits schreibt er immer über „unsere Monarchie“, andererseits vertritt er die „Interessen unseres [serbischen] Volkes“, und diese Possessivausdrücke tauchen ausnahmslos in seiner Autobiographie und seinen Memoiren immer dann auf, wenn es um das habsburgische Imperium und das serbischen Volk innerhalb dieses Imperiums geht. Darüber hinaus bezeichnet er die Habsburgermonarchie immer als Vaterland. In diesem Sinne sind besonders die abschließenden Worte in seiner Autobiographie interessant: „Wenn ich heute die Rechnung meines Lebens schließe, so erkenne ich mit Genugtuung, daß ich nicht umsonst gelebt: ich habe das Hochgefühl gewonnener Schlachten empfunden und weiß, daß mein Name einst in den Blättern der ruhmreichen Geschichte des serbischen Volkes in unserer Monarchie verzeichnet sein wird.“66 In seiner Autobiographie und seinen Memoiren hat Stratimirović sich bemüht, den Leser zu überzeugen, dass er vom Scheitel bis zur Sohle loyal gegenüber dem Kaiser war. Dabei unterstreicht Stratimirović seine enge persönliche Beziehung zum Kaiser: „Meine Position war im allgemeinen außergewöhnlich. Alle meine persönlichen Sachen wurden direkt von dem Kaiser gelöst. Darüber hinaus hatte ich eine besondere Erlaubnis, zu Seiner Majestät gehen zu können, ohne dass ich groß bitten musste. Ich konnte mich immer melden, wenn ich nach Wien und von dort abreiste.“67 Kaiser Franz Joseph I. hatte in seiner langen Regierungszeit immer wieder gezeigt, dass er für keines seiner Herrscherrechte so bereit war zu kämpfen wie für seine bewaffnete Macht. Dies kommt daher, dass er, genauso wie seine Offiziere, die Ereignisse von 1848/49 nicht vergessen konnte, weshalb er mit ihnen eine besondere Verbindung pflegte.68 General Stratimirović beschreibt seine Gespräche mit dem Kaiser folgendermaßen: Als ich eines Tages über den Burgplatz ging, um in der Militärkanzlei eine Audienz bei Seiner Majestät nachzusuchen, erblickte mich der Kaiser aus dem Fenster seiner gegenüberliegenden Appartements. Nicht wenig überraschte mich ein eilig herabgekommener 66 Ebd., S. 158. 67 Ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 68; ders.: Was ich erlebte, S. 127. 68 Vgl. Allmayer-Beck/Lessing: Die K.(u.)K. Armee, S. 182–184.

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Flügeladjutant, der mir den Befehl überbrachte, gleich zu Seiner Majestät zu kommen. […] Der Kaiser war eben beim Gabelfrühstück. Er lud mich ein, an seinem Tische Platz zu nehmen und verlangte einen ausführlichen Bericht über meine montenegrinischen Erlebnisse. […] Mehr als anderthalb Stunden verweilte ich beim Kaiser.69

Sogar wenn die Entscheidungen Seiner Majestät in starkem Gegensatz zu Stratimirović’ Einsichten standen, fand er in seinen Selbstzeugnissen Worte, um den Kaiser zu entschuldigen. Es gibt nämlich wenige Ereignisse in der habsburgischen Politik, die Stratimirović so sehr enttäuscht haben, wie die Aufhebung der Serbischen Vojvodschaft im Jahre 1860. Dennoch schreibt er diesbezüglich über den Kaiser: „Seine Majestät war unangenehm berührt, daß in einigen serbischen Städten, durch magyarische Agitatoren beeinflußt, die Serben selbst für die Aufhebung der Vojvodschaft stimmten und die ungarische Konstitution wünschten. Leider waren die politischen Erwägungen stärker als die gnädigen Intentionen des Kaisers.“70 Eine Kontinuität in der Identifikation mit dem Imperium und der habsburgischen Dynastie kann man aber nicht feststellen, da später geschriebene und veröffentlichte Selbstzeugnisse im Gegensatz zu einigen zeitgenössischen privaten Briefen stehen. Seine Briefe aus Italien von 1864/65, in denen er die Habsburger als „Teufels Dynastie“ bezeichnet, vermitteln ein anderes Bild: „Man spricht wieder so ‚hochfahrend‘ als wenn unser Herrgott express für nichts Anderes zu sorgen hätte, als für die Herrschaft der Habsburger.“71 In diesen Briefen macht er sich aber immer Sorgen, dass seine Stellungnahmen nicht zu des Kaisers Ohren kommen: „Vor allem erlauben Sie nicht, dass meine Loyalität gegen Österreich, von der ich vielfache Beweise gegeben, in Zweifel gezogen werde.“72 Man kann davon ausgehen, dass Stratimirović dreißig Jahre nach dem Ende seiner Karriere, als er seine Selbstzeugnisse verfasste, seine Position verändert hatte. Nachdem er seinen Einfluss bei den Serben im Habsburgerreich verlor, für die er sich während seines ganzen Werdegangs engagiert hatte, entschied er sich, die letzten dreißig Jahre seines Lebens weder in Kulpin, wo er geboren war, noch in Neusatz, das das Zentrum des politischen und kulturellen Lebens der Serben 69 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 104f; ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 66. 70 Ders.: Was ich erlebte, S. 128f.; ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 79. 71 Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei]. Bd. 1, Dok. 102, S. 251. 72 Thim (Hrsg.): A magyarországi 1848–49-iki szerb fölkelés története [Die Geschichte des serbischen Aufstands in Ungarn in 1848–49]. Bd. 3, Dok. 626, S. 327.

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im Imperium darstellte, zu verbringen. Der ehemalige habsburgische General zog vielmehr zusammen mit seiner Familie nach Wien, in das Zentrum des Imperiums, wo auch Kaiser Franz Joseph residierte. Dementsprechend wollte er sich als absolut loyaler Diener der Monarchie darstellen und versuchte eine Kontinuität herzustellen, wenn es um seine Loyalität der Dynastie gegenüber ging. Daher vermeidet er in veröffentlichten Selbstzeugnissen alle unangenehme Punkte und alle Brüche, die während seines Werdegangs stattgefunden haben; sie lassen sich erst erkennen, wenn man diese Quellen mit den privaten Briefen vergleicht. Ein offensichtlicher Versuch, seine Loyalität zur Dynastie zu betonen, charakterisiert seine Darstellung der serbischen Bewegung im Jahre 1848/49. Stratimirović weigerte sich zu schreiben, dass diese Revolution zuerst einen antiösterreichischen Charakter hatte und erst später ein Wechsel und eine Hinwendung der Serben zur Dynastie stattgefunden hat. Das Wichtigste dabei ist, dass im ersten Jahr dieser Revolution er selbst ein Vertreter der antihabsburgischen Richtung war, weshalb er unter anderem in einen Konflikt mit dem konservativen und der Dynastie loyalen Patriarchen Rajačić kam. Am Ende seiner Erzählung über die Ereignisse in der Revolution betont Đorđe Stratimirović, die Verdienste, „welche die Serben der Dynastie und Österreich geleistet, waren in jeder Richtung hervorragend und wir hatten wesentlich dazu beigetragen, daß die ungarische Revolution besiegt worden ist.“73 In seiner Darstellung der Revolution 1848/49 fand weder bei ihm noch bei der serbischen Bewegung als Ganzem ein Loyalitätswechsel statt. Demnach wäre diese Revolution ausschließlich gegen Magyaren gerichtet gewesen, weil diese die Serben und andere Nichtmagyaren nicht anerkennen wollten und behaupteten, dass es in Ungarn nur eine ungarische Nation gebe. Seine eigenen Leistungen während der Revolution beschreibt er in seiner Autobiographie und seinen Memoiren auf eine Weise, wie sie am Ballhausplatz von treuen Untertanen erwartet wurde. Diese Darstellung ist deckungsgleich mit derjenigen in Species-Facti, die er dem Ordenskapitel für die Verleihung des Maria-Theresia-Ordens hinsichtlich seiner Verdienste während der Revolution beigefügt hatte. Hier versuchte er sowohl seine eigene Rolle, die er bei der Organisation und Führung der einzelnen Schlachten innehatte, wie auch die Bedeutung seiner Siege nicht nur für die serbische Bewegung, sondern auch für die Habsburgermonarchie hervorzuheben. Die politische Seite der Bewegung hat er dabei bewusst verschwiegen, denn ihre Darstellung wäre nicht zu seinen Gunsten ausgefallen. Der Wiener Hof hegte nämlich keine Sympathie gegenüber der

73 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 78.

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serbischen national-revolutionären Bewegung und versuchte sie genauso wie die ungarische Revolution zu unterdrücken.74 Auf der anderen Seite vermitteln seine zeitgenössischen Briefe ein anderes Bild über seine Einstellungen und Aktionen während der Revolution. Stratimirović beschwerte sich in mehreren Briefen an Patriarch Rajačić, dass einige Offiziere „zu kaiserlich-königlich und zu reaktionär sind“.75 In diesen Briefen schrieb er auch gegen die Einflüsse der Bürokratie und der Kamarilla sowie für die Erhaltung der revolutionären Errungenschaften, die den Interessen des serbischen Volkes entsprächen. Darüber hinaus beklagte er sich, dass viele Offiziere in der Korrespondenz die deutsche Sprache benutzen und seinen Befehlen nicht gehorchten. Seiner Auffassung nach sollten sie zuerst Serben und nur zweitrangig Österreicher sein.76 Diese Meinung bringt er in seinen Selbstzeugnissen, die er am Ende seines Lebens geschrieben hatte, nicht zum Ausdruck, denn es war nicht in seinem Interesse, antideutsche und antihabsburgische Ideen zu vertreten. Im Oktober 1848 verteidigte er aber sein Verhalten, indem er versuchte, seine serbischen Bestrebungen mit Anerkennung und Loyalität gegenüber der Dynastie zu verbinden. Er betonte, dass er nie gegen den Kaiser gewesen und das einzige Ziel, das er verfolgte, gewesen sei, „unsere heilige Nation, unter der Regierung unseres gnädigen Kaisers und Königs gesichert und befestiget zu sehen“.77 Seine Reise nach Italien im Jahr 1864 erwähnt er in seiner Autobiographie sowie in seinen Memoiren nur kurz: „Im Sommer 1864 war ich erkrankt und begab mich zur Erholung nach Italien. Hier brachte ich in Pegli bei Genua ein ganzes Jahr zu. Nachdem der Aufenthalt am Meere meine Gesundheit vollkommen hergestellt hatte, kehrte ich über die Schweiz im Herbste 1865 nach Wien zurück.“78 Die Kor74 Vgl. Slavko Gavrilović: Đorđe Stratimirović o svojoj ulozi na bojnim poljima 1848–1849. [Stratimirović über seine Rolle auf den Schlachtfeldern 1848–1849], In: Zbornik za istoriju 2 (1970), S. 117–122, hier S. 117. 75 Vgl. Dragoljub M. Pavlović: Srbija i srpski pokret u južnoj Ugarskoj 1848 i 1849 [Serbien und die serbische Bewegung in Südungarn in den Jahren 1848 und 1849]. Belgrad 1986, S. 64f. 76 Archiv SANU (Srpska Akademija nauka i umenosti) in Sremski Karlovci, Arhiva Teofila Dimića, [Archiv der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Sremski Karlovci. Nachlass des Teofil Dimićs], Dok. 48, 10. Januar 1849; Milan Petrov: Đorđe Stratimirović 1848–1849. godine. [Đorđe Stratimirović in den Jahren 1848–1849] In: Zbornik Matice srpske za istoriju 59/60 (1999), S. 17–40, hier S. 27. 77 Vgl. Đorđe Stratimirović: Narodu vojvodstva Serbskog [Dem Volk der Woiwodschaft Serbiens]. Dok. 492. In: Thim (Hrsg.): A magyarországi 1848–49-iki szerb fölkelés története. [Die Geschichte des serbischen Aufstands in Ungarn in 1848–49]. Bd. 3, S. 94. 78 Vgl. ders.: Was ich erlebte, S. 135; ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića, [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović] S. 83.

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respondenz mit Lajos Kossuth, István Türr und Ilija Garašanin aus diesem Jahr wirft jedoch Licht auf seine eigentlichen Unternehmungen in Italien. Nach der Ankunft in Turin im Oktober 1864 bot er dem Führer der ungarischen Emigration, Lajos Kossuth, ein Treffen an und verband sich auch mit István Türr, einem Ungarn, der sich sein Leben lang gegen die Habsburgermonarchie eingesetzt hatte.79 Danach offerierte er dem italienischen König Viktor Emanuel seine Dienste: „Dienste, die der Regierung der erste beste der italienischen disponiblen Generale leisten kann, werde ich doch im Kriege auch leisten können.“80 Darüber hinaus erklärte er in einem Brief an Ilija Garašanin81 die Gründe, die ihn nach Italien gebracht haben: „Um ehrlich zu sein, außer meiner Gesundheit, waren die mir bekannten Dinge ein Grund, warum ich nach Italien gekommen bin: um zu versuchen so lange bis unsere Sachen im Osten nicht bereit sind, in der italienischen Armee Glück zu finden“.82 In diesen Briefen legt der „schwarz-gelb gewesene Stratimirovich“ offen, dass er „hierher kam, um gegen Österreich zu arbeiten“.83 Als er feststellte, dass seine Pläne in Italien nicht zu erfüllen waren, bot er Ilija Garašanin und dem serbischen Fürsten Mihailo Obrenović seine Dienste an: „Darüber hinaus möchte ich im Allgemeinen Seiner Hoheit und Ihnen, Herr Minister, meinen Dienst für die nationale Sache anbieten. Beauftragen Sie mich, über Dinge so zu schreiben, wie Sie es wünschen.«84 Er war bereit, auf Anweisung der serbischen Regierung und zu ihren Gunsten in der ausländischen Presse Propaganda zu machen, um eine bestimmte Politik zu verteidigen und an heiklen diplomatisch-politischen Missionen teilzunehmen. Über seine eigene Korrespondenz in diesen Jahren machte sich Đorđe Stratimirović ständig Sorgen, da ihm die Konsequenzen seiner Tätigkeit gegen die Dynastie klar waren. Daher findet sich in jedem seiner Briefe die Bitte an den Empfänger, diesen Brief zu vernichten: „Zur Sicherheit vernichten Sie diesen

79 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei]. Bd. 1, S. 226. 80 Ebd., Dok. 103, S. 252. 81 Ilija Garašanin war ein serbischer Politiker und Staatsmann, der als Innenminister und Ministerpräsident im Fürstentum Serbien von 1861 bis 1867 tätig war. 82 Vgl. Vojislav J. Vučković: Politička akcija Srbije u južnoslovenskim pokrajinama Habsburške monarhije 1859–1874 [Politische Aktionen Serbiens in den südslawischen Gebieten der Habsburgermonarchie in den Jahren 1859–1874]. Belgrad 1965, S. 151. 83 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei]. Bd. 1, Dok. 104 und 117, S. 256; 276. 84 Vgl. Vučković: Politička akcija Srbije [Politische Aktionen Serbiens]. S. 151–153.

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Brief, denn wenn er in österreichische Hände [kommt], so könnte [ich] für immer Adieu dem Vaterlande sagen.“85 Im Mai 1865 schrieb Stratimirović an István Türr über seine Rückkehr in die Habsburgermonarchie, dass er „entweder österreichische Festungsstrafe oder die Gnade dieser Teufels-Dynastie annehmen muß! – Nun da ist mir die Festung doch noch lieber als die Gnade – und daß ich zum Kreuz krieche, werden die Habsburger nicht erleben“.86 Dennoch kehrte er nur ein paar Monate später, als er in der Emigration in seinen Bemühungen keinen Erfolg fand, nach Wien zurück. Im Herbst 1865 hat er sich wieder in der Politik engagiert, und seitdem kooperierte er eng mit Wiener Regierung.87 Angesichts einer umfassenden politischen Amnestie für Kroatien und Ungarn glaubte Stratimirović, dass er wieder in das Habsburgerreich zurückkommen dürfte, ohne Gefahr zu laufen, eingesperrt zu werden: „Man setzt mich in Kenntniß, daß demnächst eine große politische Amnestie für Ungarn und Croatien bevorstehe, ich kann also ohne Gefahr eines Processes zurückkehren.“88 Durch seinen alten Bekannten Leopold Mandl, der im österreichischen Geheimdienst tätig war, hat Stratimirović der Wiener Regierung wieder seinen Dienst angeboten: „Wenn die Regierung über all dies hinwegsähe und sich so verhielte, als ob sie nichts gewusst habe“ schrieb er, „gäbe es für mich kein Hindernis mehr, politisch wieder aktiv zu werden – schließlich hatte die Selbige mich zu meiner damaligen Haltung provoziert“. Im gleichen Brief weist er ferner darauf hin, dass er bereit ist „treulich und vorbehaltlos die österreichische Regierung zu unterstützen« und fügt hinzu, dass der einzige Mann, der ihm gegenüber immer gut war, Kaiser Franz Joseph sei, der daher „der beste Richter in dieser Angelegenheit [ist] und ich bin zuversichtlich, dass seine Majestät meinem Wort, trotz meiner italienischen Reise, glauben würde.« Das Außenministerium war der Ansicht, dass eine Rückkehr von Stratimirović wünschenswert und nützlich wäre, insbesondere weil das ungarische Parlament zu tagen begann und er auf seine Landsleute einen Einfluss im Interesse der Habsburger ausüben könne.89

85 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei]. Bd. 1, Dok. 99, S. 242–244. 86 Ebd., Dok. 117, S. 272f. 87 Vgl. Krestić: O Đorđu Stratimiroviću i njegovom političkom programu [Über Đorđe Stratimirović und sein politisches Programm], S, 35. 88 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei]. Bd. 1, Dok. 123, S. 28 2f. 89 Vgl. Danica Milojević: O boravku Đorđa Stratimirovića u Italiji 1864–1865. godine [Über den Verbleib des Đorđe Stratimirovićs in Italien in den Jahren 1864–1865]. In: Istorijski časopis 29/30 (1982), S. 401–411, hier S. 410.

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Stratimirović’ Bild vom habsburgischen Imperium Was bedeuteten Stratimirović’ serbische Präferenzen in seiner Privatkorrespondenz für die Habsburgermonarchie? Strebte Stratimirović nach politischer Anerkennung der Serben und ihrer Vertretung? Hegte er den Wunsch nach einem autonomen Territorium für die eigene Nation innerhalb der Monarchie? Oder neigte er vielleicht zum Irredentismus, das heißt der Absicht, die Monarchie in national homogene Staaten aufzuteilen? Möglicherweise weisen all diese abwechselnden Positionen, die Stratimirović in seinen Selbstzeugnissen zum Ausdruck gebracht hat, auf seine Kunst des Lebens, in einer unübersichtlich imperial-nationalen Konstellation mit wechselnden Loyalitätsentwürfen zu operieren. In den 1860er Jahren verloren die Habsburger aufgrund ihrer Niederlagen in der italienischen Einigung und gegen Preußen an Gewicht im europäischen Mächtekonzert. Innenpolitisch waren sie mit der Frage nach einer Umgestaltung des Reiches konfrontiert, die Aspirationen der Nationalbewegungen berücksichtigte. Am Ballhausplatz, in Budapest sowie bei den politischen Vertretern der historischen Nationen und aller ethno-linguistischer Gruppen waren die Diskussionen über neue Konzeptionen, die das habsburgische Imperium revitalisieren konnten, in dieser Zeit sehr lebendig. Sollte die Neuordnung auf der Grundlage von Zentralismus, Föderalismus, Dualismus oder etwa eines föderalen Dualismus beschlossen werden? Diese Zwickmühle, die in engem Zusammenhang mit der Nationalitätenfrage stand, war von entscheidender Bedeutung für den Fortbestand des Kaisertums Österreich. Da Đorđe Stratimirović seine politische Tätigkeit genau in diesem Zeitraum am Intensivsten ausübte, ist es von Bedeutung zu untersuchen, welche Position er in diesen Diskussionen einnahm und wie er mit diesen Fragen in seinen Selbstzeugnissen umging. In gleicher Hinsicht ist auch seine Haltung gegenüber den politischen Zentren der Monarchie, Wien und Budapest, zu beleuchten. Darüber hinaus ist zu fragen, ob eine Kontinuität in seiner Selbstdarstellung festzustellen ist. Für Stratimirović bedeutete Widerstand gegen den Zentralismus zugleich auch Opposition gegenüber einer Germanisierung und deutschen Vorherrschaft in der Monarchie. Seiner Auffassung nach war es für einen Vielvölkerstaat verhängnisvoll, dass die Deutsch-Österreicher, die nicht einmal eine Mehrheit im Kaiserreich darstellten, die anderen Völker beherrschten. Dabei ist interessant, dass er diese scharfe Kritik gegenüber einer Germanisierung der Monarchie in der Zeitschrift Srbobran, die von seinen serbischen Gegnern wegen ihrer pro-habsburgischen Richtung verurteilt und abgelehnt wurde, zum Ausdruck brachte. Im Jahre 1863 schrieb er in einem Artikel unter dem Titel Großdeutsche Fantasien: „Allmählich kriecht aus dem Kokon die Raupe der deutschen Idee heraus und ein schwarz-rot-gelber

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Schmetterling fliegt fröhlich durch die Luft in seiner wahren Gestalt – in der Gestalt von Feindseligkeiten der Deutschen gegenüber den Slawen.“90 Im gleichen Text erläutert er seine Ideen weiter: „und ein Staat, der wie Österreich 17 Millionen Slawen zählt, kann nicht dulden, dass seine deutschen Behörden öffentlich ihre Politik und Absichten bekennen: die Slawen zu germanisieren und jede legitime Opposition gegen das Deutschtum als Reaktion und russische Intrigen zu betrachten, und den Slawen die Fähigkeit zur Bildung abzusprechen sowie Kultur und Deutschtum zu ein und derselben Sache zu erklären.“91 Diese Auffassung von Stratimirović war nicht unbedingt mit einer Gegnerschaft zur Dynastie verbunden. Wie schon festgestellt wurde, war seine Kaisertreue – abgesehen von einer kurzen Phase im Jahre 1864/65 in Italien – ziemlich ausgeprägt. Während der Revolution von 1848/49 betonte er, dass er nicht gegen den Kaiser zu kämpfen beabsichtige, sondern gegen eine Zentralisierung und Germanisierung sowie gegen die Vorherrschaft der deutschen Kultur und Sprache. In der Zeit der Etablierung der Nationen hoffte Stratimirović, dass die Serben in der Habsburgermonarchie auch eine offizielle Anerkennung erreichen konnten. Dennoch ist in den Selbstzeugnissen, die er am Ende seiner Laufbahn verfasste, nichts von dieser Opposition gegenüber dem Zentralismus zu finden – im Gegensatz zu seinen Briefen aus der Zeit der Revolution von 1848/49 und zu seinem veröffentlichten politischen Programm aus dem Jahre 1869. Auch gegen das dualistische Prinzip des Staatsaufbaus hat Stratimirović sich engagiert, weil er bei dessen Verwirklichung eine Magyarisierung erwartete. Seine Gegnerschaft zur ungarischen Vorherrschaft im ungarischen Teil der Monarchie brachte er sowohl in seinen zeitgenössischen Texten als auch in der später verfassten Autobiographie und den Memoiren zum Ausdruck. Im Verlauf seiner gesamten Karriere setzte er sich für die Gleichheit aller Nationen in der Habsburgermonarchie und für die Anerkennung der Serben als einer Nation innerhalb der Monarchie ein: „Ich denke, dass die Worte: ‚freies Volk mit freiem Volk‘, also im Singular verwendet, nur viele Mistverständnisse verursachen können. […] Vielleicht habe ich kein Recht dazu, dennoch denke ich, dass dieser Singular das ganze Programm der zukünftigen Politik bezeichnet! Das Programm der magyarischen Zentralisierung in dem ungarischen Teil und der deutschen Zentralisierung auf der anderen Seite von Leitha.“92 90 Vgl. Stratimirović: Velikonemačke fantazie [Großdeutsche Fantasien]. In: Srbobran III (1863), Nr. 52. 91 Ebd. 92 Ders.: Dělaně poslanika bečkerečkog [Die Tätigkeit Đorđe Stratimirovićs, Abgeordneter aus Betschkerek], S. 8f.

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Seine Rückkehr in die Habsburgermonarchie aus Italien im Jahre 1865 war mit dem Plan einer Reorganisation des Kaisertums auf „liberal-föderalistischer Basis“ verbunden: „Konstituiert sich Österreich auf liberal-föderalistischer Basis, so hat es die Nationen befriedigt und ist so stark, dass nicht Napoleon, nicht Italien ihm etwas anhaben kann“.93 In der Wiener Politik kam es 1865 tatsächlich zu einer Wende vom zentralistischen zum föderalistischen Standpunkt. Daraufhin kam es zu einem Personalwechsel in der Regierung, und der zentralistisch orientierte Anton Schmerling wurde Ende Juni 1865 durch Richard Belcredi, einen Unterstützer der föderalistischen Umstrukturierung der Habsburgermonarchie, ersetzt. Somit entschied sich Kaiser Franz Joseph vorübergehend für die Idee des Föderalismus, welche viele Anhänger unter den konservativen Aristokraten und in militärischen Kreisen hatte. Diese Änderungen im Habsburgerreich mit der zeitweiligen Dominanz föderalistisch orientierter Kreise beförderten Stratimirović Entschluss zur Rückkehr in das Habsburgerreich entscheidend. In Neusatz stand er schnell wieder an der Spitze der serbischen politischen Kräfte in Südungarn, die sich aktiv für das Konzept des Föderalismus engagierten und eng mit den herrschenden Kreisen in Wien zusammenarbeiteten. Die serbischen Föderalisten unter der Führung von Stratimirović waren der Meinung, dass die föderalistische Monarchie den Serben ihr nationales Überleben im Habsburgerreich ermöglichen könne.94 Im Jahre 1866, als die Habsburgermonarchie nach ihrer Niederlage gegen Preußen den Deutschen Bund verlassen und die Vereinigung Deutschlands Preußen überlassen musste, befand sie sich wieder in der Lage, zwischen zwei Wegen wählen zu müssen: Entweder sich mit den Ungarn zu verständigen und somit eine dualistische Monarchie zu gründen, oder mit allen Völkern auf der Grundlage des Föderalismus zu kooperieren. Der neue Außenminister Friedrich von Beust war überzeugt, dass so schnell wie möglich ein Ausgleich mit den Ungarn erreicht werden müsse. Die serbischen Föderalisten unter Đorđe Stratimirović waren gegen jedwede Zugeständnisse an die Ungarn, wohingegen die liberal-demokratischen Kräfte, die Svetozar Miletić führte, der Meinung waren, dass man sich nicht gegen die Ungarn wenden sollte, wenn keine Aussicht auf Erfolg für die Serben bestand. Diese gegensätzlichen Auffassungen der beiden Fraktionen

93 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei], Bd. 1, Dok. 119, S. 276f. 94 Vgl. Milojević: O boravku Đorđa Stratimirovića [Über den Verbleib des Đorđe Stratimirovićs in Italien], S. 409f.

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bestimmten die endgültige Differenzierung der ersten politischen Parteien der Serben in Südungarn.95 Noch im September 1866 hatte sich Stratimirović dafür eingesetzt, die Vereinbarung zwischen Wien und Budapest zu verhindern. Er insistierte, dass die Serben dem Kaiser ein Gesuch übergeben sollten mit der Bitte, dass der Kaiser „auch auf die serbische Nation Rücksicht nehmen möge, als einem politischen Faktor, der mit dem Monarchen eben solche Staatsverträge (pacta conventa) habe wie die Magyaren.“96 Đorđe Stratimirović beschrieb auch später in seiner Autobiographie, dass dies „der letzte Moment [gewesen war], wo die Serben versuchen konnten, ihre nationale Autonomie zu retten“97. Allerdings wurden die österreichisch-ungarischen Verhandlungen im Februar 1867 erfolgreich abgeschlossen, womit der Dualismus triumphierte, was gleichzeitig die Niederlage aller föderalistischen Kreise in der Monarchie bedeutete.98 Mit dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich 1867 erlebte die Politik von Stratimirović einen großen Misserfolg. Dies hieß jedoch nicht, dass er hartnäckig jede Zusammenarbeit mit Ungarn ablehnte. Schon vor dem Ausgleich schrieb er im Oktober 1865 an István Türr, dass er im ungarischen Landtag „nach Möglichkeit trachten [werde], die Eintracht zwischen Serbo-Croaten und Magyaren zu erhalten. Wir werden diese Eintracht nicht stören, es heißt jetzt auf die Magyaren den entsprechenden Einfluss geltend zu machen.“99 Nach dem Ausgleich arbeitete er weiter daran, einen Modus vivendi mit den Ungarn zu finden: „Nach dem Fait accompli des ungarischen Ausgleiches konnte man serbischerseits vernünftigerweise nichts anderes, als einen anständigen Modus vivendi mit den Magyaren suchen.“100 In seinem politischen Programm aus dem Jahr 1869 legte er offen, dass der „Ausgleich von 1867 aus unserer Sicht weder den Interessen der Gesamtmonarchie noch unseren Interessen, noch den anderen Slawen in der Monarchie 95 Ders.: O borbi Đorđa Stratimirovića za federalizaciju Habsburške monarhije 1865–1867. godine [Über den Kampf des Đorđe Stratimirovićs für die Föderalisierung der Habsburgermonarchie in den Jahren 1865–1867]. In: Ljiljana Aleksić-Pejković (Hrsg.): Idejna i politička kretanja kod jugoslovenskih naroda, Čeha i Slovaka u drugoj polovini XIX veka [Die ideologischen und politischen Bewegungen der Südslawen, Tschechen und Slowaken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts]. Belgrad 1987, S. 55–69, hier S. 61. 96 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei]. Bd. 1, Dok. 147, S. 321. 97 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 137. 98 Barbara Jelavich: Modern Austria: empire and republic. 1815–1986. Cambridge 1987, S. 67–69. 99 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei]. Bd. 1, Dok. 125, S. 285. 100 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 145.

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dient. Wir haben jedoch gelernt, vollendete Tatsachen zu akzeptieren. Dennoch behalten wir uns das Recht vor, nach Ablauf einer Frist eine Überprüfung und Revision des Ausgleichs zu suchen, die die politische Gleichberechtigung aller Nationen vervollständigen wird.“101 Als also das Kaisertum Österreich auf Grundlage des dualistischen Prinzips reorganisiert wurde, ließ Stratimirović seine politische Tätigkeit nicht ruhen, sondern kämpfte im ungarischen Parlament für eine Gleichheit der Nationalitäten im ungarischen Teil der Monarchie: „Wenn man die Worte ‚magyar nemzet‘ dort benutzt, wo die Rede über den Staat ist, dann stellen sie eine Negation der gleichen Rechte anderer Völker in Ungarn dar, sie personifizieren das Übergewicht der Magyaren, weshalb sie ein Grund der ewigen Streitigkeiten zwischen gleichberechtigten Brüdern sind.“102 Außer den Briefen, die Stratimirović in Italien schrieb, weisen seine übrigen Selbstzeugnisse nicht darauf hin, dass er die Habsburgermonarchie aufgab. Er vertrat eher eine Umgestaltung der Monarchie im Sinne des Föderalismus, weshalb er auch aus Italien reemigrierte. Anhand seiner Selbstzeugnisse lässt sich nicht sagen, dass er irredentistische Ideen vertrat und dass er den serbisch besiedelten Teil der Monarchie abspalten wollte: „Unser Vaterland ist der wichtigste Teil der Monarchie geworden und ihr Schicksal ist eng mit dem Schicksal von Österreich verbunden. […] wir sollten darauf hinarbeiten, Österreich zu erhalten und voranzubringen, weshalb mich der Patriotismus ruft, die Verständigung mit der Krone für den zweiten Punkt meines Programms zu nehmen.“103 Die Serbische Vojvodschaft und das Temeser Banat waren, auch wenn sie nicht vollständig den Wünschen der Serben entsprachen, Errungenschaften der Revolution von 1848/49, weshalb er sich sein ganzes Leben lang bemühte, bei der Wiener Regierung die Wiederherstellung dieser Gebiete zu erreichen. Stratimirović stand für einen Föderalismus, in dem die Serben auch ein autonomes Territorium bekommen würden.104 Sympathie für alle Slawen und eine enge Zusammenarbeit aller Slawen in der Habsburgermonarchie sind in allen seinen Selbstzeugnissen feste Topoi. Stratimirović stand für eine Umgestaltung der Monarchie, die eine slawische Entität unter der Dynastie Habsburg-Lothringen enthalten sollte. Diese Auffassung hatte er in einem Brief im September 1848 in folgender Art dargestellt: 101 Vgl. ders.: Od 1. januara 1873. izlazi u Novom Sadu nov srbski list [Plakat mit der Ankündigung: Ab dem 1. Januar 1873. wird in Novi Sad die neue serbische Zeitung „Serbische Politik“ erscheinen]. 102 Beseda izgovorena 3. (15.) Dekembra 1866 u Zemaljskom Saboru u Pesti [Rede am 3. (15.) Dezember 1866 im Landtag in Pest. Anhang in: Stratimirović: Was ich erlebte, S. 138. 103 Vgl. ders.: Dělaně poslanika bečkerečkog [Die Tätigkeit Đorđe Stratimirovićs, Abgeordneter aus Betschkerek], S. 4. 104 Ders.: Srbi i Mađari [Serben und Ungarn], Srbobran III (1863), Nr. 52.

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Da Österreich nur als ein slawischer Staat existieren kann, ist es notwendig, dass man alles Handeln von Deutschtum reinigt, um ein reines slawisches Gesicht auf Grund der konstitutionellen Freiheit zu bekommen […] indem ich bewahrte, dass ich nichts gegen die Lothringer Dynastie von Österreich habe, sondern nur gegen das unserem Volk sowie der Dynastie gefährliche deutsche Element. [Ich bin] für die Vereinigung mit Serbien, aber nicht für eine Abspaltung der Woiwodina, sondern für eine Bestrebung Serbiens, sich von der Türkei loszutrennen und sich mit dem slawisch-lothringischen Staat zu vereinigen.105

Auch wenn es in einigen Berichten Hinweise darauf gibt, dass Stratimirović „darauf abzielt, die Vereinigung aller Südslawen unter dem Szepter der Dynastie Obrenovic zu erzielen“,106 bestätigen Quellen, die aus der Feder von Stratimirović selbst stammen, diese Ansicht jedenfalls nicht. Er trat vielmehr zusammen mit tschechischen Föderalisten unter der Führung von František Palacký und František Ladislav Rieger für die slawischen Völker der Monarchie und für deren föderalistische Struktur ein.107 In den Selbstzeugnissen, die er erst dreißig Jahre nach dem Ende seiner politischen Tätigkeit verfasst hatte, kann man eine Kontinuität in der Vorstellung einer Verbindung mit allen Slawen der Monarchie feststellen, was ihn wiederum von der Politik Svetozar Miletić’ entfernte: Erst bei den Toasten wurde mir die Absicht und der wahre Charakter dieses Bankettes klar. Miletić toastirte auf die Wiederherstellung der ungarischen Konstitution und versicherte, daß die Serben Hand in Hand mit den Ungarn dafür einstehen wollen. Diese schöne Harmonie wurde durch meinen Toast unangenehm gestört. Empört durch das leichtsinnige Aufgeben unserer in Strömen Blutes erkämpften Rechte, trank ich auf die Solidarität aller Slaven der Monarchie, als der einzigen Garantie der Erhaltung unserer Nationalität.108

Obwohl seine Sympathien gegenüber den Slawen auch in der deutschsprachigen Autobiographie vorhanden sind, hat Stratimirović bestimmte Ereignisse, die seine slawische beziehungsweise serbische Vernetzung betonen, ausgelassen. So 105 Vgl. Thim (Hrsg.): A magyarországi 1848–49-iki szerb fölkelés története [Die Geschichte des serbischen Aufstands in Ungarn in 1848–49], Bd. 3, Dok. 472, S. 56. 106 Vgl. Petrović (Hrsg.): Svetozar Miletić i Narodna stranka [Svetozar Miletić und die Nationalpartei], Bd. 2, S. 56; Krestić: O Đorđu Stratimiroviću i njegovom političkom programu [Über Đorđe Stratimirović und sein politisches Programm], S. 38. 107 Vgl. Bernath/von Schroeder: Biographisches Lexikon Bd. 4, S. 48; Bd. 3, S. 383. 108 Vgl. Stratimirović: Was ich erlebte, S. 134.

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beschreibt er z. B. nur in den Memoiren in serbischer Sprache, wie er von Serben und anderen Slawen in Triest feierlich empfangen wurde und „ein glänzender Ball und Bankett zu meinen Ehren vorbereitet wurde“.109 Im Leben von Stratimirović sind dennoch kaum Spuren von panslawischen Ideen vorhanden. Ab und zu versuchte er sich mit Russland zu verbinden, jedoch hatten diese Schritte eher episodischen Charakter und sollten die Habsburger provozieren, um seine Ziele voranzutreiben. General Stratimirović, der oft in seinen Selbstzeugnissen die eigene Rolle und den eigenen Einflussbereich überschätzte, berichtete auch darüber, wie er in einer russischen Kirche in Lemberg empfangen wurde: „Während ich in der Kirche war, sammelten sich die Soldaten sowohl an der Pforte als auch in der Kirche und jubelten mehrmals ‚Er lebe hoch!‘ und der russische Priester fügte bei dem gewöhnlichen Gebet für den Herrscher und den Bischof auch meinen Namen hinzu. Die Liebe zwischen Serben und Slawen im Allgemeinen war wahrscheinlich der Hauptgrund für das Misstrauen gegenüber meiner Person bei österreichischen militärischen Kreisen.“110 Diese Feststellung ist in seiner deutschsprachigen Autobiographie ausgelassen, da er in dieser seine Verbindungen mit den Slawen nicht betonen wollte. So legte er in einem Zeitungsartikel offen: „Indem wir für die Russen schreiben und sprechen, kämpfen wir gegen den Pangermanismus“.111 Ein slawischer Staat unter der Dominanz von Russland galt ihm trotzdem nicht als wünschenswertes Ziel. Ein weiterer wichtiger Punkt in der Politik von Stratimirović war sein Engagement für gute serbo-kroatische Beziehungen. In seinem politischen Programm schreibt er: „Wir sind überzeugt, dass wir alleine unsere legitimen Wünschen nicht erreichen können; deswegen unterstreichen wir unsere vollkommene Solidarität mit anderen Völkern in Ungarn, insbesondere mit unseren Blutsbrüdern, den Kroaten.“112 Stratimirović war während seiner ganzen Karriere der Meinung, dass man eng mit den Kroaten zusammenarbeiten solle, weshalb er öfters über die aktuellen Streitigkeiten in Zeitungen schrieb: Seit einiger Zeit übernimmt ein Teil unserer und der kroatischen Journalisten die traurige Aufgabe, zwei Stämme einer und derselben Nation zu entfremden. Naturnotwendigkeit unserer Entwicklung ist unser gemeinsames Interesse, das stärker als 109 Ders.: Uspomene generala Đorđa Stratimirovića [Erinnerungen des Generals Đorđe Stratimirović], S. 50. 110 Ebd., S. 68. 111 Ders.: Velikonemačke fantazie [Großdeutsche Fantasien]. 112 Ders.: Od 1. januara 1873. izlazi u Novom Sadu nov srbski list [Plakat mit der Ankündigung: Ab dem 1. Januar 1873. wird in Novi Sad die neue serbische Zeitung „Serbische Politik“ erscheinen].

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individuellen Leidenschaften ist. Alles was uns verbindet ist stärker als das, was uns trennt. Eine glorreiche Zukunft ruft uns zu gegenseitiger Hilfe – die Zukunft, die nur zu erreichen ist, wenn wir uns einig sind. Entsagen wir daher, Brüder, der unreifen Fragen: Was ist serbisch und was ist kroatisch? Wir Serben und Kroaten haben ein einziges Schlachtfeld, wo wir uns austoben dürfen und das ist das Schlachtfeld der kulturellen Entwicklung.113

Fazit Anhand der Selbstzeugnisse von Đorđe Stratimirović ist festzustellen, dass die Offiziere in der habsburgischen Armee nicht zwangsläufig nationalblind waren, sondern dass es möglich gewesen war, eine zweifache Loyalität auszubilden und zu praktizieren: dem Kaiser gegenüber sowie auch gegenüber der eigenen Nation. Dieser doppelten Identifikation gab Stratimirović allein schon durch seine Erinnerungen sowohl in serbischer als auch in deutscher Sprache Ausdruck. Während er in den serbischsprachigen Memoiren den Akzent besonders auf sein Engagement für die serbische Nation legte und man seine Kritik an der Habsburgermonarchie zwischen den Zeilen lesen kann, bemühte sich Stratimirović in seiner deutschsprachigen Autobiographie seine Kaisertreue zu betonen. Mit den Memoiren wollte Stratimirović seine Ideen und Handlungsmotivation beim serbischen Publikum rechtfertigen, da am Ende seiner Karriere seine politische Richtung mehrheitlich abgelehnt wurde, wobei auf der anderen Seite für ihn auch von Bedeutung war, dem deutschsprachigen Leser seine Laufbahn mit einem anderen inhaltlichen Schwerpunkt darzustellen. Die Diskussionen über eine Umgestaltung der Habsburgermonarchie waren eine der wichtigsten Fragen in dem Zeitraum, in welchem General Stratimirović in der Politik tätig war. Als Vertreter der Serben im ungarischen Parlament nahm er an diesen Diskussionen sehr aktiv teil. Auch wenn er diese Fragen in seiner Autobiographie sowie in seinen Memoiren zum großen Teil vermied, ist anhand anderer Texte aus seiner Feder festzustellen, dass er gegen den Zentralismus und eine Germanisierung des Imperiums war. Im Gegensatz dazu ist seine starke Ablehnung des dualistischen Prinzips des Staatsaufbaus in allen Selbstzeugnissen von Stratimirović zu finden, weil er bei dessen Verwirklichung eine Magyarisierung im ungarischen Teil des Reiches erwartete. Dabei weisen die ausgewerteten Quellen nicht darauf hin, dass Stratimirović trotz seiner revolutionären Versuche 113 Ders.: Budimo mudri i spravedljivi [Seien wir weise und gerecht]. Srbobran  III (1863), Nr. 44.

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in Italien 1864/65 die Habsburgermonarchie grundsätzlich zu zerstören beabsichtigte. Vielmehr setzte er sich während seiner ganzen Karriere für eine föderalistische Monarchie ein, in der die Serben ein autonomes Territorium zugesprochen bekommen würden. Deswegen bemühte er sich sein Leben lang bei der Wiener Regierung, die Wiederherstellung der Serbischen Woiwodschaft und des Temeser Banat zu erreichen, welche für ihn als eine Errungenschaft der Revolution von 1848/49 sehr wichtig war. Zusammen mit tschechischen Föderalisten vertrat Đorđe Stratimirović des Weiteren die Idee des Austroslawismus, d. h. der Umgestaltung der Monarchie in einen slawischen Staat unter der Habsburger Dynastie. Im Zusammenhang mit seiner Idee von einer slawischen Monarchie stand auch seine Vorstellung von anderen Südslawen unter osmanischer Herrschaft. Er stand für die Eingliederung dieser Slawen in die Habsburgermonarchie. Möglicherweise wurde er genau wegen dieser Ideen, die als schlimmste Alternative von den meisten Politikern im Fürstentum Serbien betrachtet wurde, aus der serbischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur bis heute verdrängt.

Matthias Golbeck

(Selbst)beschreibungen von den Grenzen des Imperiums Die Briefe des russischen Beamten und Amateurwissenschaftlers N.F. Petrovskij aus dem Generalgouvernement Turkestan und Kaschgar. 1870–18951 „In Europa waren wir nur Gnadenbrotesser und Sklaven, nach Asien aber kommen wir als Herren. In Europa waren wir Tataren, in Asien aber sind auch wir Europäer. Unsere Mission, unsere zivilisatorische Mission in Asien, wird unseren Geist verlocken und uns dorthin ziehen, wenn nur erst einmal die Bewegung angefangen hat.“2

Als Dostoevskij diese Zeilen 1881 schrieb, hatte „die Bewegung“ in Richtung Zentralasien bereits mit einigem Erfolg für das Zarenreich ihren Höhepunkt erreicht. Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Russländische Reich die drei Horden in den kasachischen Steppen weitestgehend unter seine Kontrolle gebracht. Lokalem Widerstand begegnete das Imperium durch die Errichtung von Festungen, so 1847 bei Raim am Syr-Dar’ja, die auch späteren Expeditionen dienten. Unter Zar Aleksander II. gelang es bis Anfang der 1860er Jahre, den Krieg im Kaukasus zu beenden.3 Hierauf begann das Imperium 1864 seine Expansion nach Mittelasien mit der Einnahme Tschimkents und beendete diese 1884 in der Oase Merv. Inmitten dieser zwanzigjährigen Ausdehnung gründete das Zarenreich 1867 das Generalgouvernement Turkestan mit Konstantin Petrovič fon Kaufman (1818–1882) als dessen erstem Generalgouverneur. Die bis in die 1890er Jahre variablen Grenzen dieses 1

Dieser Aufsatz basiert auf meiner im Sommersemester 2014 an der LMU München eingereichten Masterarbeit. Für seine Veröffentlichung danke ich den Herausgebern des vorliegenden Bandes. Frithjof Benjamin Schenk und Boris Ganichev bin ich für die kritische Durchsicht des Textes sehr dankbar. 2 Fjodor Dostojewski: Fragen und Antworten [1881]. In: Fjodor Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, hrsg. v. E.K. Rahsin. München 1980, S. 591–596, hier S. 591. 3 Vgl. Yuri Bregel: An Historical Atlas of Central Asia. Leiden 2003, S. 62–65; Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. München 2001, S. 154, 158.

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Territoriums versuchte die Zentralregierung in verschiedenen Verträgen zu regeln. Der St. Petersburger Vertrag mit China legte 1881 die Grenzen in Ostturkestan fest, brachte dem Zarenreich aber auch das Recht zur Einrichtung von Konsulaten auf chinesischem Gebiet. 1895 beendete das Imperium den Pamir-Konflikt mit Großbritannien vertraglich.4 Die skizzierten Entwicklungen brachten neben russischen Siedlern sukzessive auch Militär- und Verwaltungsangehörige in die Region. Zu ihnen zählte der Finanzbeamte und spätere Generalkonsul Nikolaj Fёdorovič Petrovskij (1837–1908). Der vorliegende Aufsatz beruht auf der Auswertung von 162 seiner Briefe aus Turkestan der Jahre 1870 bis 1895, deren Ergebnisse im Folgenden exemplarisch präsentiert werden. Die Aufgabe von Männern wie Petrovskij war die Sicherung, Erschließung und Verwaltung der neuen Territorien. Ihr Handeln legitimierte sich einerseits durch ein Schutz- und Stabilitätsbedürfnis St. Petersburgs, welches der russische Außenminister Aleksandr Michaijlovič Gorčakov (1798–1883) 1862 in seiner Zirkulardepesche formuliert hatte. Anderseits erforderte das Great Game mit Großbritannien eine Positionierung Russlands. Zugleich oblag diesen Beamten und Offizieren die Repräsentation des Imperiums vor Ort und die Erfüllung der von Dostoevskij erwähnten mission civilisatrice.5 Russische Akteure wie Petrovskij haben parallel zur militärischen Expansion auch an der Erforschung Turkestans mitgewirkt. Oft wissenschaftliche Amateure, beruhte ihre Expertise vor allem auf ihrem lokalen Erfahrungsschatz und ihrem direkten Zugang zum Forschungsgegenstand. Damit standen sie in einem Spannungsfeld zur universitären Orientalistik (vostokovedenie). Diese Disziplin, verstanden als jene Fächer, welche sich mit dem arabischen und zentralasiatischen Raum befassten, hatte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in St. Petersburg und Moskau institutionalisiert. Das russische Engagement im Kaukasus und in Zentralasien erforderte vielfältiges Fachwissen in Militär und Verwaltung. Fachwissenschaftler wie auch Amateure beteiligten sich an nationalen und internationalen Diskussionen der Orientalistik. Gemeinsam erörterten sie die Position des Zarenreiches unter den Kolonialmächten, das Für und Wider der Expansion sowie deren Legitimation.6 4 Vgl. Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 164–166; Otto Hoetzsch: Russland in Asien. Geschichte einer Expansion. Stuttgart 1966, S. 77–89; Vladimir Buchert: „…I ego russkij portret“ [„… Und sein russisches Porträt“]. In: Nikolaj Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], hrsg. v. Vladimir Mjasnikov. Moskva 2010, S. 20–66, hier S. 25. 5 Vgl. Hoetzsch: Russland in Asien, S. 27, 113; Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 162–163. 6 Vgl. Rostislav Rybakov: „300 Years of Oriental Studies in Russia“. Imperial, Soviet and Post-Soviet Periods. Moscow 1997, S. 16–43; Vera Tolz: Russische Orientalisten und der

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In den Gesamtdarstellungen zur russischen Geschichte spielt die Expansion des Zarenreiches nach Mittelasien meist nur eine untergeordnete Rolle und wird im Kontext des russischen Engagements im gesamten asiatischen Raum erwähnt.7 Zentralasien findet vor allem in zahlreichen Arbeiten zum Great Game Erwähnung.8 Dennoch ist die Expansionsgeschichte auch Teil eigenständiger Publikationen, von denen auf die frühe, aber bis heute gültige politikgeschichtliche Darstellung „Russland in Asien“ von Otto Hoetzsch hingewiesen sei.9 Fragen nach gesellschaftlichem, kulturellem oder religiösem Wandel durch und während der Expansion sind meist Gegenstand von Spezialmonographien.10 Stellvertretend für jüngere Arbeiten mit einer akteurszentrierten Ausrichtung, denen sich auch der vorliegende Beitrag zuordnet, kann Jörn Happels Untersuchung des Kolonialaufstandes von 1916 gesehen werden.11 Biographische und autobiographische Arbeiten zum Russländischen Imperium sind noch selten. Sie dienten in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise der Verdeutlichung struktureller Zusammenhänge oder der Analyse der kulturellen transnationale Imperien-Diskurs an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert. In: Martin Aust (Hrsg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte. 1851–1991. Frankfurt a. M. 2013, S. 126–159. 7 In nachfolgenden Darstellungen findet die russische Expansion überwiegend als Teil der Außenpolitik der Zaren Nikolaj I., Aleksander II. und Aleksander III. statt: Dietrich Beyrau/Manfred Hildermeier: „Von der Leibeigenschaft zur frühindustriellen Gesellschaft (1856–1890)“. In: Gottfried Schramm (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Russlands Bd. 3.1. Stuttgart 1983, S. 5–202; Günther Stökl: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1997; Manfred Hildermeier: Geschichte Rußlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2013. 8 Vgl. Peter Hopkirk: The Great Game. The Struggle for Empire in Central Asia. New York 1992; Mehmet Saray: The Russian, British, Chinese and Ottoman Rivalry in Turkestan. Ankara 2003; Evgeny Sergeev: The Great Game. 1857–1907. Russo-British relations in Central and East Asia. Washington 2013. 9 Vgl. auch Mary Holdsworth: Turkestan in the Nineteenth Century. A Brief History of the Khanats of Bukhara, Kokand and Khiva. Oxford 1959; Edward Allworth (Hrsg.): Central Asia. 130 Years of Russian Dominance. A Historical Overview. Durham 1994; Daniel Brower: Turkestan and the Fate of the Russian Empire. London 2003; Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent. 1865–1923. Bloomington 2007; sehr lesenswert auch Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 139–176. 10 Vgl. beispielsweise: Baymirza Hayit: Islam and Turkestan under Russian Rule. Istanbul 1987; Robert Crews: For Prophet and Tsar. Islam in Russia and Central Asia. Cambridge 2006; Hélène Carrère d’Encausse: Islam and the Russian Empire. Reform and Revolution in Central Asia. London 2009; Alexander Morrison: Russian Rule in Samarkand. 1868–1910. A Comparison with British India. Oxford 2008. 11 Vgl. Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916. Stuttgart 2010.

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Konstruktion von Individualität. Auf theoretischer Ebene plädieren Jochen Hellbeck und Klaus Heller für ein Verständnis von Autobiographien, Memoiren sowie Tagebüchern und Briefen als autobiographische Praktiken. Zeitlich setzen sie Mitte des 19. Jahrhunderts ein, weil ihrer Analyse zufolge hier das Individuum in Russland erst greifbar wird.12 Für das 19. Jahrhundert liegen zudem einige autobiographische Studien zu Mitgliedern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen vor. Beispielsweise befasst sich Galina Ul’janova mit Biografien russischer Kaufleute in Moskau und Julia Herzberg analysiert bäuerliche Autobiographik.13 Ähnliche Studien mit einer Ausrichtung auf Zentralasien und die Expansion sind dagegen selten. Die diesem Aufsatz zugrunde liegende Untersuchung rückte daher die Selbstzeugnisse eines Akteurs der russischen Expansion in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Nikolaj Fёdorovič Petrovskij war als russischer Offizier und Beamter zwischen 1870 und 1903 unter anderem im Dienst des russischen Finanz- und Außenministeriums im Generalgouvernement Turkestan und der östlich angrenzenden chinesischen Provinz Xinjiang tätig. Neben und während seiner beruflichen Tätigkeiten befasste er sich intensiv mit der Geschichte, den Kulturen, den Sprachen, der Archäologie sowie dem Klima und der Geographie Zentralasiens und stand zudem mit bekannten Orientalisten seiner Zeit im Austausch. Seine Briefe zeugen von einer vielseitig interessierten Persönlichkeit und eröffnen eine noch zu selten betrachtete, individuelle Perspektive auf die eingangs skizzierten Zusammenhänge. Petrovskij hat in seinen Schreiben über das Zeitgeschehen, seine Arbeit oder sich selbst gegenüber seinen 19 Adressaten reflektiert, die aus unterschiedlichen beruflichen und sozialen Gruppen stammten. Dabei entwarf und aktualisierte er über viele Jahre eine Selbstbeschreibung von sich, die Gegenstand der hier 12 Vgl. Jochen Hellbeck/Klaus Heller: Vorwort. In: dies. (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praxis in Russland. Göttingen 2004, S. 7–9; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive früher einsetzend: Ulrich Schmid: Ichentwürfe. Die russische Autobiographie zwischen Avvakum und Gercen. Zürich 2000; Julia Herzberg: Autobiographik als historische Quelle in ‚Ost’ und ‚West’. In: Julia Herzberg/Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln 2007, S. 15–62. 13 Vgl. Galina Ul’janova: Autobiographische Texte russischer Kaufleute und ihre kulturelle Dimension. In: Jochen Hellbeck/Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia, S. 155–177; Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Bielefeld 2013; ein umfassender Überblick autobiographischer Arbeiten in der Imperienforschung findet sich in Martin Austs noch unveröffentlichtem Aufsatz „Biographik, Autobiographik und Russländisches Imperium“, welcher demnächst in Volker Depkats „Autobiographie als Text und Quelle“ erscheint. Für den Einblick in das Manuskript danke ich Martin Aust.

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vorgestellten Untersuchung ist. Anke Stephan zufolge kann in den Selbstbeschreibungen untersucht werden, wie Petrovskij sich in vorgegebenen Strukturen zurechtgefunden hat, sie sich angeeignet, gestaltet und verändert hat.14 Dabei erweisen sich die Briefe aufgrund ihrer inhaltlichen Vielfalt, durch ihre große Zahl und den langen Editionszeitraum als eine wertvolle Quelle. In Petrovskijs Selbstbeschreibungen spielen die berufliche Ebene des Staatsdieners und die private Ebene des Beiträgers zur Erforschung Zentralasiens eine qualitativ und quantitativ charakteristische Rolle. Beide standen daher im Zentrum der Untersuchung und werden im Folgenden exemplarisch vorgestellt. Die Analyse war von zwei strukturierenden Fragestellungen geleitet: (1) Wie hat Petrovskij sich und seinen Dienst für das Imperium sowie dessen Vorgehen vor Ort beschrieben? (2) Wie hat sich der nicht universitär gebildete Finanzbeamte und Konsul Petrovskij gegenüber seinen akademischen Fachkollegen beschrieben? Für die Beantwortung beider Fragen werden zunächst die bekannten Teile der Biographie Petrovskijs vorgestellt und in ihren politik- sowie wissenschaftsgeschichtlichen Kontext eingeordnet. Hierauf werden die Quellen – Petrovskijs Briefe – vorgestellt, quellenkundlich betrachtet und hinsichtlich theoretischer Fragen diskutiert. Anschließend findet eine Darstellung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse statt.

N.F. Petrovskij, die russische Expansion nach Asien und die Orientalistik Wer war dieser Nikolaj Fёdorovič Petrovskij? Die ersten Jahre seines Lebens liegen völlig im Dunkeln. Petrovskij wurde am 30. November 1837 geboren.15 Über seinen Geburtsort, seine familiäre Herkunft oder seine schulische Ausbildung ist nichts bekannt. Petrovskij hatte einen Bruder, Sergej Fëdorovič, über den nur 14 „Es geht also darum zu erforschen, auf welche Weise Menschen sich in vorgegebenen Strukturen orientieren, sie wahrnehmen, sie sich aneignen, sie gestalten und verändern.“ Anke Stephan: Erinnertes Leben. Autobiographien, Memoiren und Oral-History-Interviews als historische Quellen. In: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas 10 (2004), S. 1–33, hier S. 2; ähnlich jüngst bei Malte Rolf: Einführung: Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1815–1918). In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 5–21, hier S. 7–8. 15 Für Petrovskijs Biographie vgl. umfassend Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 20–66 und Andrej Kononov: „Petrovskij, Nikolaj Fëdorovič“. In: Biobibliografičeskij slovar‹ otečestvennych tjurkologov [Biografisches Wörterbuch der vaterländischen Turkologen], hrsg. v. Akademija Nauk SSSR, Moskva 1989, S. 189–190.

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überliefert ist, dass er von 1880 bis 1907 für die staatliche Finanzaufsicht in Turkestan gearbeitet hat. Erst am Ende seiner militärischen Ausbildung, die Nikolaj Fёdorovič 1858 am Vtoroj moskovskij kadetskij korpus (Zweite Moskauer Kadettenanstalt) abschloss, mehren sich die Informationen über seinen Lebensweg und bleiben dennoch lückenhaft. Petrovskij wechselte nach Ausbildungsende im Rang eines Feldwebels in die 12. Astrachaner Grenadiereinheit. Ab 1859 unterrichtete er Russisch am Aleksandrinskij sirotskij kadetskij korpus (Aleksandrinische Kadettenanstalt für Waisen) in Moskau, den er 1861 aus familiären Gründen verließ, ohne, dass Genaueres überliefert ist.16 Petrovskij wuchs einerseits im Kontext der autokratischen Stagnation der Regentschaft Nikolajs I. auf. Dessen Herrschaft stand im Zeichen der Angst vor einem erneuten Umsturzversuch, wie er ihn 1825 durch die Dekabristen erlebt hatte. Trotz Reformansätzen wie den Speranskij’schen Rechtskodifikationen zeugte seine Politik grundsätzlich von einer den Status quo bewahrenden Haltung. Wenn sich Nikolaj I. im internationalen Ringen, beispielsweise um das Osmanische Reich, mehrfach durchzusetzen wusste, offenbarte der Krim-Krieg doch die tiefgreifenden Modernisierungsrückstände des Russländischen Imperiums, die seine Herrschaft nicht zu überwinden vermochte. Andererseits erlebte Petrovskij als junger Erwachsener bis zum Ende seiner ersten Berufsjahre in Moskau die frühe, reformorientierte Regentschaft Aleksanders II. Bauernbefreiung, Militär-, Justiz- und Universitätsreform sind nur einige der unter seiner Regentschaft reformierten Themen.17 Dennoch zeigen sich in Petrovskijs Vita die Grenzen dieses weiterhin autokratischen Regimes. Am 16. Juli 1862 wurde er, nun im Rang eines Stabskapitäns, als Gefangener in der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg inhaftiert. Man warf ihm Verbindungen zu „Londoner Propagandisten“ vor. Zeitpunkt und Begründung seiner Verhaftung legen nahe, dass sie im Zusammenhang mit Aktivitäten der im westeuropäischen Ausland ansässigen, russischen Exilkreisen stand. Der Verdacht, in Kontakt zu diesen Kreisen zu stehen, genügte auch unter der verhältnismäßig liberalen Regentschaft Aleksanders II. für eine Inhaftierung.18

16 Vgl. Nikolaj Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], hrsg. v. Vladimir Mjasnikov. Moskva 2010, S. 318; Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 21. 17 Vgl. Hans-Joachim Krautheim/Lothar Kolm: „Das Konservative Prinzip: Die Herrschaft Nikolaus’ I. (1825–1855)“. In: Klaus Zernack (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Russlands Bd. 2.2. Stuttgart 2001, S. 1057–1099, hier S. 1057–1065; Beyrau/Hildermeier: Leibeigenschaft, S. 6–11; Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 876–877. 18 Vgl. Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 21; Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 864–867.

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Doch bereits am 9. Dezember 1863 wurde Petrovskij unter Verwendung einer Bürgschaft von Dmitrij Dmitrievič Daškov (1831–1901), einem mit ihm befreundeten Zemstvo-Vertreter, wieder freigelassen. Erst ein knappes Jahr später erhielt der Stabskapitän eine einjährige Gefängnisstrafe. Man rechnete jedoch die Untersuchungshaft auf sein Urteil an, so dass er nicht erneut in Haft musste. Daher konnte Petrovskij kurz darauf, am 28. Mai 1865, Sof ’ja Alekseevna Sachnovskaja, die Tochter eines Stabskapitäns, heiraten. Im selben Jahr trat er in den Dienst des Gosudarstvennyj kontrol’ (Staatskontrolle).19 Neben seinen beruflichen Fortschritten zeigten sich bei Petrovskij Mitte der 1860er Jahre wissenschaftliche Interessen. Am 20. März 1866 trat er dem Imperatorskoe obščestvo ljubitelej estestvoznanija, antropologii i ėtnografii pri Moskovskom universitete (Kaiserliche Gesellschaft der Liebhaber der Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie an der Moskauer Universität, nachfolgend KGLNAE) als Mitarbeiter bei. Aus seinem Privatleben ist aus dieser Zeit nur die Geburt seines Sohnes Nikolaj im Jahr 1869 bekannt. Beruflich ging Petrovskij 1870 im Dienst des Finanzministeriums als dessen Agent in das 1867 gegründete Generalgouvernement Turkestan. Seine Aufgabe bestand darin, Informationen über den Zustand des Handels zu sammeln. 1872 ließ er sich in Taschkent nieder. Zwei eigenständige Publikationen aus dem Jahr 1873, „Materialy dlja torgovoj statistiki Turkestanskogo kraja“ (Materialien für die Handelsstatistik der Region Turkestan) und „O šelkovodstve i šelkomotanii v Srednej Asii“ (Über die Seidenraupenzucht und das Seidenwickeln in Zentralasien), verdeutlichen, womit Petrovskij sich unter anderem befasst hat. Zur Informationsgewinnung ist er durch die Region gereist. 1872 besuchte er Buchara, worüber er ein Jahr später im Vestnik Evropy (Bote Europas) seinen Reisebericht „Moja poezdka v Bucharu“ (Meine Reise nach Buchara) veröffentlichte. In Taschkent war er an der Einrichtung der Turkestan-Abteilung der KGLNAE beteiligt. Für das Sredneaziatskoe učënoe obščestvo (Mittelasiatische Forschungsgesellschaft) wurde er als Sekretär tätig. 1878 bereiste Petrovskij die Kaukasusregion und machte in Tiflis, Batumi und Kars Station. Auch hier untersuchte er den russischen Handel.20 Bevor Petrovskij 1882 in den diplomatischen Dienst wechselte, bekam er 1880 den Auftrag, eine Revision der Gouvernements Saratov und Samara durchzuführen. Erst der 1881 geschlossene Vertrag von St. Petersburg schuf die Voraussetzungen für Petrovskijs spätere Tätigkeit als Konsul. Er ermöglichte Russland die Einrichtung von Konsulaten in Ili, Tarbagata, Urg, Sučžou, Turfan und Kaschgar. 19 Vgl. Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 21. 20 Vgl. Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 21–24; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 317, 337.

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Gleichzeitig öffnete er 45 chinesische Städte für den russischen Handel. Auf seine eigene Bitte hin wurde Petrovskij am 1. Juni 1882 zum Konsul in Kaschgar ernannt. Im Oktober desselben Jahres reiste er in Kaschgar an und meldete dem Ministerium Mitte Dezember 1882 die Einrichtung des Konsulats. Für die Revision des Generalgouvernements Turkestan reiste Petrovskij vorläufig wieder ab und kehrte erst Ende 1883 endgültig auf seinen Posten zurück. In Kaschgar blieb er bis zu seiner Pensionierung 1903 und wurde am 14. März 1895 noch zum Generalkonsul befördert. Neben den zahlreichen Konsulatstätigkeiten setzte sich Petrovskij für den Schutz der ortsansässigen russischen Untertanen ein, die zumeist Händler waren. Ebenso unterstützte er die zahlreichen Forschungsreisenden in der Region.21 Kaschgar liegt in Ost-Turkestan östlich des Pamir-Gebirges und südlich des Tjan-Šan’ Gebirges, am westlichen Rand des Tarim-Beckens. Die bewohnbaren Gebiete waren im 19. Jahrhundert sowohl von Nomaden als auch von urbanen Kulturen geprägt. Mitte des 18. Jahrhunderts eroberte die chinesische Qing-Dynastie zunächst die Region nördlich des Tjan-Šan’ (Džungaria) und später das Tarim-Becken. Sie verdrängte die lokale Elite und übten fortan ihre indirekte Herrschaft über ihnen loyale Beks und ihr Militär aus. Von den zahlreichen Aufständen im 19. Jahrhundert gegen diese Fremdherrschaft destabilisierte die Rebellion der muslimischen Tunganen in Džungaria Anfang der 1860er Jahre Ost-Turkestan am nachhaltigsten. Die Chinesen wurden verdrängt. In Kaschgar wechselte die Führung ab Ende der 1850er Jahre mehrfach, bis sich 1867 der ehemalige kokandische General Jakub Bek (1820 oder 1826/27–1877) durchsetzte. Bis zur Rückeroberung 1877 durch die Chinesen dehnte er seine islamische Herrschaft über große Teile Ost-Turkestans aus. Russen und Briten nutzten die sichtbare Schwäche der Chinesen und schlossen in den 1870er Jahren Handelsverträge mit Jakub Bek. London erhoffte sich einen weiteren Pufferstaat gegen das Zarenreich. Russische Truppen besetzten Kul’dža bis zum St. Petersburger Vertragsschluss. Petrovskijs Amtsantritt in Kaschgar fiel unmittelbar in die Phase nach diesen Ereignissen.22 Der Konsul war in den sich Ende der 1880er Jahre abzeichnenden Territorialkonflikt um die Pamir-Region involviert. Russische Militärexpeditionen hatten die in einem Protokoll von 1884 geregelten Grenzen mit China in der Hochgebirgsregion in Frage gestellt und Anfang der 1890er Jahre russische Gebietsansprüche

21 Vgl. Sarah Paine: Imperial Rivals. China, Russia, and their Disputed Frontier. New York 1996, S. 161–163; Buchert: Russkij portret [Russisches Portrait], S. 24–26, 55. 22 Vgl. Jürgen Paul: Zentralasien. Neue Fischer Weltgeschichte Bd. 10. Frankfurt a. M. 2012, S. 370–374; Kerrin Gräfin von Schwerin: Wissen und Kontrolle. Das Große Spiel in Asien im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2010, S. 288–291; Hodong Kim: Holy War in China. The Muslim Rebellion and State in Chinese Central Asia, 1864–1877. Stanford 2004, S. 73–97.

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gewaltsam geltend gemacht. Von britischer Seite kamen Sorgen vor einer russischen Invasion Indiens auf. Zudem missbilligte Großbritannien die durch den St. Petersburger Vertrag gestärkte wirtschaftliche Stellung des Zarenreiches in der Region. London unternahm daher einerseits Versuche, die lokalen chinesischen Eliten gegen Russland zu vereinnahmen und ging andererseits von der Kaschmirregion aus militärisch gegen lokale Volksgruppen vor, die ihnen die Bündnis­ treue verweigerten. Petrovskij befand sich in dieser Zeit zwischen allen Fronten. Er hatte Befehle aus St. Petersburg auszuführen, musste das russische Vorgehen gegenüber der lokalen chinesischen Führung rechtfertigen und gleichzeitig die britischen Aktivitäten im Auge behalten. Die Lage entspannte sich erst durch das 1895 zwischen St. Petersburg und London geschlossene Pamir-Abkommen.23 In seiner Zeit als Konsul betätigte sich Petrovskij auch als Amateurwissenschaftler. Ohne universitäre Ausbildung in den verschiedenen Disziplinen, die sich im Rahmen der Orientforschung Zentralasien widmeten, verfolgte er mit unterschiedlicher Intensität eigene Interessen an Wetterbeobachtungen, Linguistik, Ethnographie, Geschichte oder Archäologie. Er unternahm eigene Untersuchungen und archäologische Ausgrabungen, las einschlägige Literatur, übersetzte fremdsprachige Fachpublikationen und baute ein Netz von Kontaktpersonen für das Sammeln von Artefakten auf. Darüber hinaus stand er in einem regen Austausch mit St. Petersburger Fachkreisen. Die Beiträge des „spezialisiert[en] ‚Amateur[s]’“24 Petrovskij schienen dort gefragt zu sein. Die Eroberung des Kaukasus und die Ausdehnung Russlands in die kasachischen Steppen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten in Staat und Militär den Bedarf an qualifiziertem Personal und fundierten Kenntnissen über die neuen Herrschaftsgebiete aufkommen lassen. Eine Bündelung vorhandener institutioneller und personeller Fachkompetenz in St. Petersburg und Moskau war die Konsequenz. Dies zeigte sich beispielsweise am Ausbau der Sprachlehreinrichtungen an den Universitäten und im Außenministerium oder der Aufnahme der Geographie in das militärische Ausbildungsprogramm in den 1850er Jahren.25 Ab den 1860er Jahren warb Gouverneur fon Kaufman zudem qualifiziertes Personal an, unterstützte die Ansiedlung der großen Forschungsgesellschaften im neugegründeten Generalgouvernement und förderte die Verbreitung gewonnener 23 Vgl. Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 26–28, 38; Hopkirk: The Great Game, S. 432–437, 449–451, 460, 464, 498–500; Bregel: Historical Atlas, S. 64; Beyrau/ Hildermeier: Leibeigenschaft, S. 194; Paine: Imperial Rivals, S. 166. 24 Tolz: Russische Orientalisten, S. 128. 25 Vgl. Rybakov: Oriental Studies, S. 16, 20, 24–29, 33; David Schimmelpenninck van der Oye: Toward the Rising Sun. Russian Ideologies of Empire and the Path to War with Japan. DeKalb 2001, S. 28–30.

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Erkenntnisse beispielsweise über die Herausgabe statistischer Jahrbücher. Fon Kaufman lag unter anderem an der ethnographischen Erforschung der Region, weil er vom Nutzen dieses Wissens für seine Administration überzeugt war. Petrovskij war einerseits Mitglied mehrerer Forschungsgesellschaften und für diese aktiv. Andererseits führte er selbst eigene ethnographische oder archäologische Untersuchungen durch.26 Ab den 1870er Jahren suchte und fand die russische Orientalistik den internatio­ nalen Austausch, beispielsweise auf wissenschaftlichen Kongressen. Ihre Vertreter waren an ausländischen Universitäten ausgebildet worden und kehrten nun auf die lange durch deutsche oder französische Wissenschaftler besetzten Lehrstühle ins Zarenreich zurück. Der Einfluss der Rückkehrer zeigte sich beispielsweise in den zahlreichen Übersetzungen ausländischer Forschungsarbeiten ins Russische oder durch die Verwendung des Russischen als Wissenschaftssprache. Auch Petrovskij betätigte sich als Übersetzer. Laien wie er, deren Expertise auf ihrer Anwesenheit in den peripheren Regionen sowie deren detaillierter Kenntnis beruhte, traten über die Kongresse oder die Publizistik mit den Fachkreisen über Fragen nach dem Sinn der Expansion oder dem Charakter des Imperiums in Austausch. Petrovskij war seit 1894 Mitglied des Imperatorskoe Russkoe Archeologičeskoe Obščestvo (Kaiserlich Russische Archäologische Gesellschaft, nachfolgend Archäologische Gesellschaft), nahm an ihren Sitzungen teil und publizierte in ihrem Fachorgan, den Zapiski Vostočnogo otdelenija Imperatorskogo Russkogo apcheologičeskogo obščestva (Blätter der Ost-Abteilung der Kaiserlich Russischen Archäologischen Gesellschaft, nachfolgend BOKRAG).27

Briefe aus Turkestan: Material und Theorie Die untersuchten Briefe, die Petrovskij dienstlich und privat verfasst hat, sind der 2010 erschienenen Edition „Turkestanskie Pis’ma“ (Turkestanische Briefe) von Vladimir Mjasnikov entnommen.28 Der Band umfasst 189 Briefe Petrovskijs der Jahre 1870 bis 1907. Neben den Briefen sind vier Antwortschreiben dreier Korrespondenzpartner, zwei Dienstberichte sowie zwei weitere Publikationen Petrovskijs mit abgedruckt. Zudem enthält die Edition einen umfangreichen wissenschaftli26 Vgl. Brower: Turkestan, S. 43–47, 50–56; Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 23–24. 27 Vgl. Rybakov: Oriental Studies, S. 34, 43; Tolz: Russische Orientalisten, S. 127–128; Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 31. 28 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe].

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chen Apparat, der ihre inhaltliche Erschließung erleichtert. Die Briefe sind nicht gleichmäßig über den Editionszeitraum verteilt. Es existieren einzelne Jahre beziehungsweise kurze Phasen, aus denen keine Schreiben überliefert sind. Dem gegenüber stehen Jahre mit zahlreichen Schreiben Petrovskijs, wie das Jahr 1895 mit der Höchstzahl von 24 Briefen. Die Edition enthält alle bekannten Schreiben Petrovskijs. Diese befinden sich im Institut vostočnych rukopisej Rossijskoj akademii nauk (Institut für Orientalische Handschriften der Russischen Akademie der Wissenschaften) in St. Petersburg. Zudem sind Petrovskijs Konsulatsberichte aus Kaschgar im Archiv vnešnej politiki rossijskoj imperii (Archiv der Außenpolitik des Russländischen Imperiums) in Moskau gesammelt.29 Ein Teil der in der verwendeten Edition veröffentlichten Briefe ist bereits an anderer Stelle von Vladimir Buchert beziehungsweise Aleksandr Kolesnikov herausgegeben worden. Der große Mehrwert der hier verwendeten Edition liegt in ihrer Vollständigkeit.30 Unter den 19 Korrespondenzpartnern Petrovskijs befinden sich Schriftsteller, Journalisten, Historiker, Militärs, Diplomaten und Universitätslehrer. Petrovskij stand mit niedrigeren und hohen Beamten genauso wie mit berühmten und wenig bekannten Wissenschaftlern in Kontakt. Alle Adressaten lassen sich entweder seinen beruflichen Stationen oder seinen verschiedenen privaten Interessen zuordnen. Von ihnen seien hier drei exemplarisch vorgestellt. Zu den langjährigen beruflichen Kontakten Petrovskijs zählte Baron Fëdor Romanovič Osten-Saken (1832–1916). Dieser war von 1865 bis 1871 Sekretär des Imperatorskoe Russkoe Geografičeskoe Obščestvo (Kaiserlich Russischen Geographischen Gesellschaft, nachfolgend Geographische Gesellschaft), in welcher auch Petrovskij ab 1894 Mitglied war. Daraufhin trat Osten-Saken bis 1897 in den Dienst des Außenministeriums, in welchem Petrovskij als Konsul ab 1882 angestellt gewesen ist. Der Baron war zunächst Vizedirektor der später für Petrovskijs Konsulat zuständigen Asien-Abteilung. In

29 Diese Informationen wurden dem Autor von Vladimir Buchert, der an der Herausgabe beteiligt gewesen ist, am 13.1.2014 per E-Mail bestätigt. 30 Vgl. Vladimir Buchert: Turkestanskie pis’ma N.F. Petrovskogo [Die Turkestanischen Briefe von N.F. Petrovskij]. In: Aleksej Nalepin (Hrsg.): Rossijskij Archiv’. Al’manach. Novaja Serija [Russländisches Archiv. Almanach. Neue Serie]. Bd. 12. Moskva 2003, S. 450–517; Vladimir Buchert: ‚S kitajcami my živëm poka ladno’. Pis’ma rossijskogo konsula v Kašgare N.F. Petrovskogo k D.F. Kobeko. 1883–1895 gg [‚Mit den Chinesen leben wir ganz gut. Die Briefe des russländischen Konsuls in Kaschgar N.F. Petrovskij mit D.F. Kobeko 1883–1895]. In: Istoričeskij archiv [Historisches Archiv] 1 (2007), S. 167–196; Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 55, 66; Aleksandr Kolesnikov: N.M. Prževal’skij i russkie issledovateli Kyrgyzstana [N.M. Prževal’skij und die russische Erforschung Kirgisistans]. Biškek 2004; Aleksandr Kolesnikov: Russkie v Kašgarii [Russen in Kaschgar]. Biškek 2006.

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der Zeit ihrer überlieferten Korrespondenz arbeitete Osten-Saken aber bereits als Direktor der Abteilung für Innere Beziehungen.31 Petrovskijs Kontakte zu namhaften Journalisten erklären sich durch sein anhaltendes Interesse an der Veröffentlichung eigener Artikel und längerer Schriften.32 Ein Beispiel für seine Kontakte ist Aleksej Sergeevič Suvorin (1834–1912). Suvorin war seit 1876 Herausgeber der Zeitung Novoe vremja (Neue Zeit), in der Petrovskij mehrfach in den 1880er und 1890er Jahren Artikel veröffentlichte. 33 Petrovskij besaß zudem vielseitige wissenschaftliche Interessen und stand beispielsweise mit dem berühmten Orientalisten Sergej Fëdorovič Ol’denburg (1863–1934) in Kontakt. Von 1895 bis 1900 war Ol’denburg Professor der St. Petersburger Universität, ab 1900 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und von 1904 bis 1929 ihr ständiger Sekretär. Der Konsul stand mit dem jungen Gelehrten bezüglich zahlreicher archäologischer Interessen in den 1890er Jahren in regem Austausch.34 Betrachtet man nun das Material aus quellenkundlicher Perspektive, lassen sich Petrovskijs Briefe nach Kurt Düwell als schriftliche Überreste einordnen, da ihr Autor sie nicht selbst bewusst bearbeitet, zusammengestellt und veröffentlicht hat. Auch ist ein diesbezüglicher Wunsch nicht überliefert. Vielmehr bildet die verwendete Edition eine Sammlung der aus der Gesamtkorrespondenz Petrovskijs archivarisch erhaltenen Exemplare. Eine andere Leserschaft, außer dem jeweiligen Adressaten, scheint keinen Einfluss auf Petrovskijs Selbstbeschreibung gehabt zu haben.35 Die verwendeten Quellen können Stefan Weiß zufolge zudem als politische Briefe verstanden werden. Ganz ähnlich den zeitgenössischen Korrespondenzen zwischen Regierungen und ihren Gesandten im Ausland, verläuft die Grenze zwischen privatem und dienstlichem Inhalt auch in den Schreiben Petrovskijs durch einen Brief hindurch und verschwimmt teilweise. Kurt Düwell spricht in einem vergleichbaren Zusammenhang bei Herbert von Bismarck von politischer

31 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 314, 317; Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 31. 32 Vgl. für Petrovskijs Publikationsliste Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 337–340. 33 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 316, 337. 34 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 321, 323, 326; Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 31. 35 Vgl. Kurt Düwell: „Briefe, Tagebücher, Gesprächsaufzeichnungen“. In: Egon Boshof/Kurt Düwell/Hans Kloft (Hrsg.): Grundlagen des Studiums der Geschichte. Eine Einführung. Köln 1997, S. 256–258, hier S. 256–257.

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Privatkorrespondenz. Diese verschiedenen Ebenen in Petrovskijs Briefen ermöglichen die Betrachtung einer vielschichtigen Selbstbeschreibung des Briefautors.36 Die Schreiben Petrovskijs sind größtenteils ohne Repliken überliefert. Da aber bei allen editierten Schreiben der Adressat bekannt ist, lassen sich zumindest Teilaussagen über das Sender-Empfänger-Verhältnis machen, dessen Einfluss auf den Inhalt Stefan Weiß betont. So kann geklärt werden, ob es sich um ein berufliches oder ein privates Verhältnis handelt. Erschließen lassen sich ebenfalls soziale Informationen wie Rang-, Standes- oder Altersunterschiede. Daher lässt sich der Einfluss dieser Faktoren auf Petrovskijs Selbstdarstellungen angemessen berücksichtigen.37 Die von Volker Sellin angemahnte Echtheitsprüfung der Urheberschaft Petrovskijs ist mit Blick auf den wissenschaftlichen Charakter der verwendeten Edition positiv ausgefallen. Eine mögliche Selbstzensur des Briefautors aus Furcht vor staatlicher Zensur scheint mit Verweis auf die durchgehend offen geäußerte Kritik Petrovskijs an Personen und Situationen sehr unwahrscheinlich. Zudem waren im Untersuchungszeitraum nur Literatur und Presse von Zensur betroffen, was im Zensurstatut von 1865 geregelt war.38 Auf der theoretischen Ebene können die Briefe Petrovskijs zunächst dem Bereich der Selbstzeugnisse zugerechnet werden. In ihnen ist Petrovskij „schreibendes und beschreibendes Subjekt“39, wird aber auch unfreiwillig selbst beschrieben40. Der Briefautor tritt in seinen Schreiben „selbst handelnd“41 auf und konstruiert im Schreibprozess Sinn.42 Seine Briefe sind durch eine zeitliche Distanz zum Inhalt gekennzeichnet. Die in ihnen beschriebene Vergangenheit tritt dem Leser nicht unmittelbar entgegen, sondern ist bereits verarbeitet. Selbstdeutungen und Sinngebungen spiegeln sich also nicht nur in Petrovskijs Briefen, sondern sind während

36 Vgl. Stefan Weiss: Briefe. In: Bernd Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht (Hrsg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit. Paderborn 1992, S. 45–60, hier S. 59; Düwell: Briefe, Tagebücher, Gesprächsaufzeichnungen, S. 256– 257. 37 Vgl. Weiss: Briefe, S. 48. 38 Vgl. Volker Sellin: Einführung in die Geschichtswissenschaft. Göttingen 2005, S. 48; Friedhelm Kaiser: Zensur in Russland von Katharina  II. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 25 (1978), S. 146–155, hier S. 152–155; Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1263–1265. 39 Presser nach Herzberg: Autobiographik, S. 17. 40 Vgl. Schulze nach Herzberg: Autobiographik, S. 17. 41 Krusenstjern nach Herzberg: Autobiographik, S. 17. 42 Vgl. Heiko Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Brigitte Hilmer/Georg Lohmann/Tilo Wesche (Hrsg.): Anfang und Grenzen des Sinns. Weilerswist 2006, S. 42–54, hier S. 42.

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des Schreibprozesses konstruiert worden. Zudem unterliegen sowohl ihre Inhalte als auch ihre narrative Struktur der sozialen Rückgebundenheit ihres Autors.43 Jochen Hellbeck und Klaus Heller haben unter der Bezeichnung autobiographische Praxis vorgeschlagen, „[…] historische Formen der Selbstwahrnehmung, auch wenn sie nur in materialisierter Gestalt überliefert sind, als einen dynamischen, mit zeitgenössischen Ereignissen und Handlungen stets interagierenden Prozess zu verstehen.“44 Diesem Verständnis schließt sich die vorliegende Untersuchung an. Petrovskijs Briefe als autobiographische Praxis zu verstehen heißt, den aktiven Entwurf des Selbstbildes durch ihren Autor gegenüber dem Adressaten des Briefes zu betonen. Die Briefe sind zugleich Spiegel und Konstruktionsort von Petrovskijs Selbstbild. Der Briefautor musste bei ihrer Abfassung sowohl soziale Konventionen, wie zum Beispiel den Rang der Adressaten, als auch inhaltliche und strukturelle Vorgaben des zeitgenössischen Briefes beachten. Vergleichbar dem Schreiben einer Autobiographie reflektierte er in seinen Briefen historische Ereignisse, was die Notwendigkeit ihrer Kontextualisierung hervorhebt. Im Unterschied zu einer Autobiographie waren sie nicht nur für den Entwurf des eigenen Selbstbildes gedacht. Das heißt, Petrovskijs Selbstbild kann nur aus einer größeren Zahl von ihnen rekonstruiert werden. Mit Hinblick auf die Überlieferungssituation muss diese Rekonstruktion aber unvollständig bleiben. Hinzu kommt der von Franz von Kutschera angemerkte potentiell grenzenlose Charakter des menschlichen Seins.45 Petrovskijs Sprache wird weder seiner eigenen Komplexität gerecht, noch war die gewählte Briefform auf diese Vollständigkeit ausgerichtet. Zweifellos ist es dennoch möglich, einzelne Aspekte der Selbstbeschreibung Petrovskijs zu betrachten, wie sich diese aus den Briefen ergeben. Der bereits verwendete Begriff Selbstbeschreibung bedarf abschließend einer Eingrenzung. Er meint einerseits die den Briefautor direkt beschreibenden Aussagen in der ersten Person Singular. Andererseits bezieht der Begriff alle Aussagen mit ein, durch die der Autor der Briefe indirekt – mit Winfried Schulze „unfreiwillig“46 – beschrieben wird. Gemeint sind solche Aussagen, die erst aus einer größeren Zahl von Briefen erschlossen werden können. Während die erste 43 Vgl. Ulrike Jureit: Authentische und konstruierte Erinnerungen. Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen. In: Werkstattgeschichte 18 (1997), S. 91–100, hier S. 91; Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn, S. 42; Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 441–476, hier S. 446, 453–455. 44 Hellbeck/Heller: Vorwort, S. 8. 45 Vgl. diese Überlegung unter der Formulierung „Individuum est ineffabile“ bei Franz von Kutschera: Ästhetik. Berlin 1988, S. 49–50. 46 Vgl. Schulze nach Herzberg: Autobiographik, S. 17.

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Begriffsebene der direkten Kontrolle Petrovskijs unterlag, entzog sich die zweite Bedeutungsebene seinem Einfluss. Die Selbstbeschreibung ist von der Selbstwahrnehmung zu unterscheiden, die als ein innerer, teils nicht sprachlicher Prozess aufgefasst wird. Über diesen lassen die Briefe Petrovskijs keine gesicherten Rückschlüsse zu.

Petrovskijs Selbstbeschreibung als Staatsdiener Diese theoretischen und methodischen Überlegungen sowie den skizzierten historischen Kontext im Blick, widmete sich die Untersuchung in einem ersten Schritt Petrovskijs Selbstbeschreibung als Staatsdiener. Der Finanzbeamte und spätere Generalkonsul hat sich in seinen Briefen gegenüber Arbeitskollegen, Vorgesetzten, Bekannten oder Journalisten als kritisch denkender, engagierter und eigeninitiativ zum Wohl des Staates handelnder Beamter dargestellt. Seine Karriere fest im Blick, war er bemüht, sein erworbenes Fachwissen herauszustellen und dieses über seine beruflichen Aufgaben hinaus durch publizistische Aktivitäten für sich nutzbar zu machen. Petrovskij hat sowohl als Finanzbeamter als auch später als Konsul nie mit Kritik gegenüber seinen beruflichen wie auch privaten Adressaten gespart. Er begründete diese mit seiner beruflichen Expertise, die er vor Ort erworben hatte, und unterstrich sein Interesse am Wohl des Staates. Er entwarf in seinen Schreiben in den 1870er Jahren beispielsweise an Nikolaj Andreevič Ermakov (1824–1897), Abteilungsdirektor im Finanzministerium, und in den Briefen an Osten-Saken in den 1880er und 1890er Jahren von sich das Bild des guten, loyalen, aber kritisch denkenden und beobachtenden Staatsdieners, der beispielsweise seine Einschätzung der Investitionspolitik des Generalgouvernements oder der Geldverschwendung offen und rückhaltlos weitergab.47 Beispielhaft verdeutlicht das Petrovskijs Brief vom 28. März 1873 an Ermakov, in dem er den Feldzug fon Kaufmans gegen Chiva kritisierte. Petrovskij betonte eingangs, dass er den Sinn dieses Krieges nicht diskutieren wolle. In seiner folgenden Kriegskostenschätzung (2 Millionen Rubel) und der Erörterung laufender Reformprozesse im Generalgouvernement zeigte sich dennoch deutliche Kritik. Der Krieg verzögere, so Petrovskij, beispielsweise den Abschluss der Gebietsreform von 1867, die Korrektur der mangelhaften Gebührenordnung und die Lösung von Fragen des Eigentumsrechts.48 47 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma, Nr. 16, S. 97–99, hier S. 98–99; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 19, S. 102–104, hier S. 103. 48 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 20, S. 104–105.

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Die Kritik Petrovskijs diente aber immer auch seiner eigenen Rechtfertigung und Entlastung. Während er sein Wissen mitteilte, betonte er häufig, die zuständigen Stellen bereits über den Sachverhalt informiert zu haben, beklagte aber zugleich, dass sich daraufhin niemand bei ihm gemeldet hätte. Das Handeln der Führungsebene sowie die daraus folgenden Konsequenzen könnten ihm folglich nicht angelastet werden. Indem Petrovskij sein Unverständnis über bestimmte Befehle der Staatsführung äußerte, beschrieb er sich als jemand, der aufgrund seiner lokalen Expertise urteilen könne. In diesem Zusammenhang versuchte Petrovskij, seine Kritik auch für sein persönliches Fortkommen zu nutzen. Dadurch, dass er anbot, sein Wissen höheren Dienststellen zur Verfügung zu stellen, hob er gegenüber diesen seine Leistungsbereitschaft hervor. Er ging also davon aus, dass dies als Empfehlung für höhere Aufgaben dienen könne. Aus seiner Tätigkeit als Konsul illustriert der Fall des Safdar-Ali-Chan einige der genannten Zusammenhänge. Petrovskij fungierte auch für lokale Machthaber wie den Khan von Kandžut als Ansprechpartner des Russländischen Imperiums in Ost-Turkestan. Am 17. November 1888 schilderte Petrovskij gegenüber Baron Osten-Saken, dass der Khan ihm erklärt habe, sich dem russischen Zaren unterstellen zu wollen. Der Konsul überbrachte die Bitte dem Außenministerium und schlug vor, den Khan an den Generalgouverneur von Turkestan, Nikolaj Ottonovič Rozenbach (1836–1901), zu verweisen. Die Regierung entschied anders, wies Petrovskij an, dem Khan mitzuteilen, dass die Regierung seinen Wunsch, Diener Russlands zu werden, gern annehme und entsandte den Berater des Generalgouverneurs zum Khan. Petrovskij kritisierte das Vorgehen der Regierung, da dem Khan unklar gewesen sei, wer „die Regierung“ sei und wie er „Russland dienen“ könne, da man das seiner Auffassung zufolge nur gegenüber Gott täte. Der Konsul fragte sich, warum man dem Khan einen lokal bekannten Offizier sandte, obwohl russische Hilfe für das Khanat auch zukünftig wegen der politischen Gesamtsituation ausgeschlossen sei. Diese würde er, Petrovskij, seit langem besser kennen als alle früheren Reisenden, und er fügte hinzu: Wenn mir das Ministerium nur einmal, wenigstens in groben Zügen, eine Anweisung gegeben hätte, welche Pläne es Badachšan, Šutnan, Rušan, Wachan, Kandžut, Čitral usw. gegenüber hatte – ob man Kontakte knüpfen oder ablehnen sollte, zur Vereinigung oder Zersplitterung beitragen sollte usw. – dann hätte ich mich gern daran gemacht […].49

Petrovskij stellte sich mit seiner Kritik als umfassend informierten Regionalexperten für die lokalen Verhältnisse und internationalen Fragen der Grenzregion dar. 49 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 102, S. 210–213, hier S. 212.

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Er stellte das Urteilsvermögen der Ministerialführung in der fernen Hauptstadt offen in Frage und versuchte sich gegenüber Osten-Saken für die Aufklärung der St. Petersburger Entscheidungsträger ins Gespräch zu bringen. Zugleich wies er die Verantwortung für folgende Probleme durch die Kritik an seiner mangelnden inhaltlichen Einbindung vorsorglich von sich.50 Als engagierter Beamter stieß Petrovskij bereits im Dienst des Finanzministeriums ungefragt Diskussionen an, erörterte mit seinen Gesprächspartnern aktuelle Probleme, diskutierte mögliche Lösungen und lud auch zu gemeinsamen Projekten ein. Bemerkenswert ist, dass dies auch mit ranghöheren Beamten wie Pëtr Nikolaevič Stremouchov (1823–1885), zeitweise Direkter der Asien-Abteilung im Außenministerium geschah. Beispielsweise stellte er Ermakov am 4. Oktober 1872 eine Alphabetisierungskampagne für Turkestan vor. Petrovskij wollte hierzu die Aktivitäten des Komitees für Alphabetisierung, welchem Ermakov angehörte, auf das Generalgouvernement ausweiten. Er schlug erstens die Übersetzung eines Kalenders für Einheimische in eine Turksprache vor, die er bereits beherrsche. Zweitens wollte er die Übersetzung einer Landkarte des Russländischen Reiches für Unterrichtszwecke übernehmen. Drittens traute er sich die Übersetzung eines Lehrbuches für Arithmetik zu. Viertens schien ihm auch die Herausgabe einer Art Erste-Hilfe-Anleitung für den Alltag sinnvoll. Petrovskij schloss seine Vorschläge mit dem Hinweis, diese bei Interesse weiter ausführen zu können. 51 Der junge Finanzbeamte nutzte für die Umsetzung seiner Ideen auf dem Gebiet der Volksbildung, das außerhalb seiner beruflichen Aufgaben lag, seine beruflichen Kontakte. Petrovskij beschrieb sich damit als über die reine Pflichterfüllung hinaus interessierten und einsatzbereiten Beamten. Dessen war er sich selbst bewusst und sorgte sich in den 1870er und 1880er Jahren noch um die Außenwirkung seines „Diensteifers“, wie zum Beispiel sein Vorhaben belegt, ein Konsularstatut für das Imperium zu erstellen. Gegenüber Osten-Saken formulierte er dazu am 4. August 1886: „Man könnte, natürlich, das über das Ministerium machen, aber ich wünsche mir weder meinen Diensteifer auszustellen, noch bis zum Ende der Dienstzeit darüber zu sprechen.“52 In den kommenden Jahren schien er diese Sorge zunehmend abzulegen. Petrovskij ärgerte sich im Gegenteil über die mangelnde Unterstützung aus St. Petersburg für sein Engagement, wie seine Kritik an zu langwierigen

50 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 102, S. 211–212. 51 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 18, S. 101–102, hier S. 102. 52 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 86, S. 191–192, hier S. 192.

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Diskussionen bereits hier belegt. In seiner Beziehung zum Außenministerium beschrieb er sich daher konsequent als den aktiven Part.53 Dem Konsul war die Würdigung seiner selbst als umfangreich aufgefassten Leistung zunehmend wichtig. Im Pamir-Konflikt der 1890er Jahre stellte er sich als lokale Schlüsselfigur dar. So berichtete er beispielsweise am 5. Oktober 1891 Osten-Saken sichtlich stolz von Erfolgen bei der Enttarnung britischer Aktivitäten in der Region und beeilte sich den Baron zu bitten, im Ministerium in Erfahrung zu bringen, ob dies dort auf die erhoffte Zufriedenheit gestoßen sei.54 In seiner Beschreibung blieb Petrovskijs Handeln auf das Staatswohl gerichtet. Zugleich diente es der Sorge um das eigene Fortkommen. Dass sein Engagement nicht selten auf Ablehnung stieß, schien Petrovskij bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes nicht zu entmutigen. Petrovskijs Lageberichte, die stets dem Muster der Problemerörterung mit anschließenden Lösungsvorschlägen folgten, gewannen in den 1890er Jahren durch von ihm eingefügte Rückbezüge auf eigene ältere Schreiben eine neue Qualität. Ein Brief zur Zuspitzung der Lage im Pamir sowie möglichen Eskalationsszenarien des Konfliktes vom 29. April 1893 an Osten-Saken illustriert das. Der Konsul beschrieb sich gegenüber dem Kollegen als erfahrenen und weitsichtigen Analysten, als er formulierte: „Vor fast 20 Jahren (wie schnell die Zeit verging) schrieb ich dem verstorbenen Petr Nikolaevitč [Stremouchov, Anm. d. A.] offiziell (mein Brief muss in der Asien-Abteilung sein), dass die Engländer uns aus dem Hindukusch ein neues Kaukasus schaffen. Ob erraten oder vorausgesehen, jedenfalls ist mein Brief in gewisser Weise ein historisches Dokument.“55

Gleichzeitig diente dies in der Krise auch der Selbstvergewisserung, Probleme schon früh und deutlich angesprochen zu haben und daher für etwaige negative Konsequenzen nicht verantwortlich gemacht werden zu können. Petrovskijs Selbstbeschreibung als Regionalexperte äußerte sich auch in seinem ausdauernden Bemühen um die Möglichkeit, eigene Artikel mit politischen, wirtschaftlichen oder auch zeithistorischen Themen in diversen Journalen zu veröffentlichen. Er stellte sich als umfassend informierten Regionalexperten sowie als gut vernetzten Informanten dar, der überzeugt schien, etwas zu den 53 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 80, S. 183–185, hier S. 184; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 91, S. 196–197. 54 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 111, S. 219–222, hier S. 120. 55 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 121, S. 233–234.

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öffentlichen Debatten beitragen zu können. Dies kommt besonders in dem häufig zu findenden Angebot zum Ausdruck, auch über den jeweils aktuellen Anlass hinaus publizistisch tätig sein zu wollen. Ein Schreiben vom 19. Dezember 1879 an Suvorin, dem Herausgeber der „Neuen Zeit“, illustriert das. Petrovskij informierte den Journalisten über die Abreise von Abdur Rahman Khan (1844–1901), dem späteren Emir von Afghanistan, aus Samarkand nach Afghanistan. Petrovskij bot Suvorin an, einen kurzen Artikel über den Khan zu verfassen, der auch am 1. Januar 1880 veröffentlicht wurde. Abschließend bot Petrovskij dem Herausgeber an, ihm auch zukünftig seine regionale Expertise zur Verfügung zu stellen, sofern ihm dieser Beitrag gefalle.56 Petrovskijs publizistische Aktivitäten fanden außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit statt, griffen aber auf das beruflich in Taschkent und Kaschgar erworbene Wissen zurück und bezogen sich auch inhaltlich stark auf seine beruflichen Themen. Titel wie „Učëno-torgovaja ėkspedicija v Kitaj v 1874–1875 godach“ (Die Wissenschafts- und Handelsexpedition in China in den Jahren 1874–1875), veröffentlicht 1878, oder „Iz Kašgara“ (Aus Kaschgar), 1884 publiziert, verdeutlichen das.57 Ein Brief vom 5. Mai 1891 an Viktor Petrovič Burenin (1841–1926), einen Redakteur bei der „Neuen Zeit“, bestätigt das Vorgehen auch für die 1890er Jahre. Darin lieferte der Konsul Informationen über einen Skandal um den britischen Diplomaten und einstigen indischen Vizekönig Frederick Hamilton-Temple-Blackwood, dem Marquess von Dufferin und Ava (1826–1902).58 Zudem schien Petrovskij sich früh im Bereich der jüngsten Politik- und Militärgeschichte für so kompetent zu halten, dass er seinen journalistischen Korrespondenzpartnern Rezensionen einschlägiger Publikationen zur Region Turkestan anbot. Bereits in einem Schreiben vom 4. Juni 1873 an Michail Matveevič Stasjulevič (1826–1911), dem herausgebenden Redakteur des Journals „Bote Europas“, kritisierte Petrovskij die im selben Jahr publizierte „History of Bokhara“ des ungarischen Historikers Arminius Vámbéry (1832–1913) auf Grundlage seiner regionalen Expertise.59 Bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes war es ihm jedoch nicht umfassend gelungen, sich als regelmäßiger und gefragter Autor aus Ost-Turkestan in St. Petersburg zu etablieren. Bestätigt wird dies durch die 56 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 30, S. 118; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 31, S. 119; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 317, 337. 57 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 337–340. 58 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 110, S. 219. 59 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 22, S. 107–109; Arminius Vámbéry: History of Bokhara. From the Earliest Period Down to the Present. London 1873.

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auch in den Kaschgarer Jahren nötige Unterstützung von Freunden und Bekannten. Beispielsweise bat Petrovskij am 31. Januar 1884 bei Dmitrij Fomič Kobeko (1837–1918), Historiker und hoher Finanzbeamter in St. Petersburg, um dessen persönliche Vermittlung bei einem Artikel.60 Es ist schon mehrfach angeklungen, dass vor allem der Konsul Petrovskij mit der Darstellung seiner kritischen und engagierten Haltung sein eigenes Fortkommen in den Blick nahm. So beklagte er sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit über die schlechten Lebens- und Arbeitsumstände, unter welchen er seinen Dienst in Kaschgar aufnehmen musste. Als kritischer Staatsdiener sah er die Schuld beim Ministerium, wie er Kobeko im Januar und April 1884 schrieb. Bei seinem Arbeitgeber hatte er sich nach eigener Aussage frühzeitig um die Mittelbewilligung für den Konsulatsaufbau bemüht und beschrieb sich damit als vorausschauend.61 Bei seinen Anfang bis Mitte der 1880er Jahren einsetzenden Bemühungen um eine Versetzung betonte Petrovskij, dass nicht der Dienst im Konsulat das Problem sei, sondern der Mangel an gleichgesinnten Gesprächspartnern. Beständiger Teil seiner Begründungen blieb die fehlende Unterstützung aus St. Petersburg für seine Arbeit. Sein ergebnisloses Bemühen und die politisch angespannte Situation vor Ort, von denen er unter anderem Kobeko und Ermakov 1884 berichtete, verstärkten seinen Wunsch auf Versetzung.62 Petrovskij trat in der Folge an Kollegen und Bekannte wie Kobeko und Osten-Saken bezüglich ihrer Hilfe heran und äußerte seine Wünsche und Vorstellungen. Aus ihnen sprach ein junger, sich als ambitioniert begreifender Beamter, der seine Ansprüche über seine Erfahrungen und Kenntnisse begründet sah und umso enttäuschter reagierte, als diese keine Berücksichtigung fanden. Ein exponiertes Beispiel ist Petrovskijs Bemühen um die Stelle als politischer Agent des Imperiums in Buchara. Am 1. November 1885 hob er gegenüber Osten-Saken hervor, dass er in Buchara aber nicht dem Generalgouverneur unterstellt sein dürfe. Am selben Tag fügte er gegenüber Kobeko hinzu, dass er als Agent in Buchara auch nicht niedriger als auf seinem bisherigen Posten gestellt sein könne. Selbstbewusst formulierte er: „Auf die erste Stelle [in Buchara, A. d. Autors] habe ich mehr Anrecht als irgendein Anderer.“63

60 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 43, S. 139–140. 61 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 42, S. 136–139, hier S. 136–137; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 49, S. 150–151. 62 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 51, S. 152–153; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 52, S. 153–154, hier S. 153. 63 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 70, S. 171–172, hier S. 172; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 71, S. 172–173.

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Diese Ansicht gründete auf Petrovskijs beschriebenem Selbstbewusstsein als engagierter, kritischer und berufserfahrener Staatsdiener und Regionalexperte. Die Bemühungen erreichten jedoch nicht ihr Ziel. In einem Schreiben vom 17. Mai 1886 an Osten-Saken teilte Petrovskij dem Baron zerknirscht mit, dass Nikolaj Valer’evič Čarykov (1855–1930), der bisherige diplomatische Beamte beim Generalgouverneur von Turkestan, in Buchara zum Zug gekommen war. Indem der Konsul diesen als Karrieristen, lernunwillig und völlig abhängig von seinen Übersetzern degradierte, kontrastierte er sich selbst als erfahren, lernwillig und sprachgewandt. Doch schien diese Selbsteinschätzung in St. Petersburg nicht geteilt zu werden.64 Gegen Ende der 1880er Jahre verschob beziehungsweise erweiterte sich Petrovskijs Fokus hinsichtlich seiner Karriere. Nachdem sein Bemühen um einen Stellenwechsel erfolglos geblieben war, begann er sich um die Aufwertung seines Postens zum Generalkonsul zu bemühen. Hierbei kritisierte er beispielsweise am 17. November 1888 gegenüber Osten-Saken nun vor allem den hohen Arbeitsaufwand sowie jene politischen Aufgaben, die den Rahmen eines gewöhnlichen Konsulats seiner Meinung nach überschritten. Das indirekte Lob höherer Stellen für sein Engagement im Pamir-Konflikt, das er beispielsweise aus dem Innenministerium erhalten hatte und in einem Schreiben vom 14. März 1992 an Osten-Saken erwähnte, schien seinen Wunsch zu rechtfertigen.65 Da sich auch dieser Wunsch nicht zeitnah realisierte, sah sich Petrovskij zu Beginn der 1890er Jahre parallel nach einer Versetzungsmöglichkeit um, war sich aber der damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst. Wieder reflektierte er seine dienstliche Verantwortung im Pamir-Konflikt. Petrovskijs Selbstbeschreibung deutet auf einen Konflikt zwischen seinem Bemühen hin, ein gewissenhafter Staatsdiener zu sein, und dem Wunsch nach leichteren Lebens- und Arbeitsumständen. Aufgrund des Zeitrahmens der Untersuchung blieb ungeklärt, welche Wirkung die Mitte März 1895 erfolgte Ernennung zum Generalkonsul auf Petrovskijs Selbstbeschreibung gehabt hat.66

64 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 77, S. 179–181, hier S. 179–180. 65 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 102, S. 211–213; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 115, S. 225–228. 66 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 111, S. 221–222; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 115, S. 225–228; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 325.

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Petrovskijs Selbstbeschreibung als Beiträger zur Erforschung Zentralasiens Viele Eigenschaften, mit denen Petrovskij sich in beruflichen Zusammenhängen charakterisiert hat, finden sich auch auf der zweiten Ebene seiner Selbstbeschreibung als Beiträger zur Erforschung Zentralasiens. Ohne universitäre Ausbildung in den verschiedenen Disziplinen, die sich im Rahmen der Orientforschung Zentralasien widmeten, entwickelte Petrovskij früh eigene Interessen an Meteorologie, Linguistik, Ethnographie oder Geschichte und verfolgte diese mit unterschiedlicher Intensität an allen Orten seines beruflichen Wirkens. Er trat den entsprechenden Forschungsgesellschaften bei und wurde für diese in Taschkent tätig. Seine besondere geographische Lage in Kaschgar sowie bestehende Verbindungen zu den publizistischen und wissenschaftlichen Kreisen in St. Petersburg ermöglichten ihm die Teilnahme an der archäologischen Erforschung der Region. In seinen Briefen trat er sowohl gegenüber beruflichen Bekannten als auch hochrangigen Wissenschaftlern als vielseitig interessierter Übersetzer und Publizist, selbstbewusster Assistent, ebenbürtiger Gesprächspartner und einfacher Sammler auf. Petrovskij beschrieb früh sein Interesse für regionale Sprachen und deren Nutzen bei der Informationsbeschaffung. Am 18. Februar 1872 formulierte er beispielsweise gegenüber Ermakov: „Ich bin buchstäblich der einzige Mensch in Taschkent, zu dem die Sarten nicht deswegen kommen, um dem russischen Vorgesetzten ihr Salam zu verkünden, sondern um von Herzen über religiöse und andere Fragen zu plaudern.“67

Der Finanzbeamte grenzte sich hier auf der beruflichen Ebene deutlichen von seinen Kollegen ab, indem er seine Fähigkeiten betonte. Seine Sprachkenntnisse nutzte er allerdings auch für sein Interesse an Kultur und Geschichte der Region. In beidem unterrichtete ihn gegen kleine Gefälligkeiten beispielsweise Džura-Bek (gest. 1906), ein ehemaliges Oberhaupt der Stadt Kitab. Gegenüber einzelnen Briefpartnern trat Petrovskij in der Folge mit seinem Wissen auch als Mentor auf, verschaffte ihnen Materialien und gab Empfehlungen. Seine Hilfestellungen in den Briefen an Kobeko vom 1. und 16. November 1885 beschreiben den Erfolg seines Selbststudiums.68 67 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 7, S. 81–86, hier S. 82. 68 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 7, S. 82; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 71, S. 172; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 72, S. 174–175, hier S. 174.

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Der Konsul Petrovskij beteiligte sich auch direkt an der Wissensschöpfung durch Verbreitung vorhandener Erkenntnisse und eigene Beiträge, wie sein Brief vom 17. Mai 1886 an Osten-Saken beispielhaft verdeutlicht. Einerseits hatte er den partiellen Abdruck des Buches „The Chinese Government“ von William Mayers nach dessen gewinnbringender Lektüre in der Regionalzeitung Turkestanskie vedomosti (Turkestanische Nachrichten) veranlasst. Andererseits berichtete er von eigenen ethnographischen Aufzeichnungen traditioneller Kleidungsstücke, Alltags- und Kultgegenstände der Einheimischen, die er mit Hilfe einer Camera Obscura vorgenommen hatte. In einem folgenden Brief an den Baron aus dem Jahr 1887 beschrieb Petrovskij, dass ihm speziell an der wissenschaftlichen Erforschung der Region Kaschgar gelegen war, für welche er in Austausch mit Baron Viktor Romanovič Rozen (1849–1908) stand, dem Vorsitzenden der Ost-Abteilung der Archäologischen Gesellschaft.69 Die Meteorologie ist ein weiterer Bereich, in dem Petrovskij in den 1880er Jahren Eigeninitiative bewies. Im September 1883 berichtete der Konsul Ermakov über die Anschaffung der notwendigen Instrumente. Mit diesen führte er in Kaschgar eigene Untersuchungsreihen durch und beschrieb sich hierbei im März 1885 gegenüber Osten-Saken als Forscher, der maß und auswertete: Als Petrovskij sich um die Einrichtung einer festen Wetterstation bemühte, für die er Genrich Ivanovič Vil’d (1833–1902), Meteorologe und Direktor der Glavnaja fizičeskaja observatorija (Physikalisches Hauptobservatorium) in St. Petersburg, gewann, erweiterte sich seine Selbstdarstellung noch um den Aspekt der Interpretation der Messergebnisse. 70 Am 20. Februar 1887 teilte er Osten-Saken mit: „Es stellt sich (nach fünfmonatiger Beobachtung) heraus, dass Kaschgar nicht so trocken ist, wie angenommen und folglich mit seiner relativen Höhe (4 tausend Fuß) nicht so fern vom Klima unseres südlichen Russlands ist und vielfältiger kultiviert werden könnte als zum Beispiel Fergana.“71

Im Bereich der Forschungsgeschichte Zentralasiens entwarf sich Petrovskij in seinen Briefen schließlich als Entdecker. Zwischen 1885 und 1892 spürte der Konsul 69 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 77, S. 180; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 91, S. 197; William Mayers: The Chinese Government. A Manual of Chinese Titles, Categorically Arranged and Explained, with an Appendix. Shanghai 1886. 70 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 38, S. 129–131, hier S. 129; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 64, S. 165–166, hier S. 166; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 77, S. 180. 71 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 91, S. 197.

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zunächst dem Nachlass des 1857 in Kaschgar hingerichteten Forschungsreisenden Adolf Schlagintweit (1829–1857) nach und bemühte sich im Folgenden intensiv um die Aufstellung eines Denkmals sowie um eine offizielle Danksagung von Seiten des Königreichs Bayern für seine Bemühungen.72 In zahlreichen Briefen an Kobeko, Osten-Saken oder auch an den Naturforscher und Reisenden Nikolaj Michajlovič Prževal’skij (1839–1888) informierte er über den Fortgang seiner Nachforschungen und warb um Unterstützung, nahm aber auch die Erfolge für sich in Anspruch. Für das Denkmal mobilisierte er schließlich seinen Abteilungsleiter Ivan Alekseevič Zinov’ev (1835–1917), die Geographische Gesellschaft sowie den deutschen Gesandten in Peking, Maximilian August Scipio von Brandt (1835–1920). Am 14. Mai 1892 konnte Petrovskij schließlich an Osten-Saken vom lang ersehnten Dank berichten, der ihm durch Freiherr Rudolf von Gasser (1829–1904), dem Gesandten Bayerns in Russland, überbracht worden war.73 In den späten 1880er Jahren bemühte sich Petrovskij erfolgreich um die Veröffentlichung eigener Texte beziehungsweise Übersetzungen, welche aus dem Themenkreis seiner vielfältigen wissenschaftlichen Interessen stammten. Hierzu zählte auch Petrovskijs Forschungs- und Reisehandbuch „Sputnik putešestvennikov v maloissledovannych stranach“ (Begleiter für Reisende in wenig erforschten Ländern), auf welches General Fëdor Aleksandrovič Fel’dman (1835–1902), unter anderem Leiter des Militärforschungsausschusses beim Generalstab, aufmerksam geworden war. Am 14. Oktober 1888 bedankte sich der Konsul für dessen Interesse und beschrieb ihm Aufbau und Inhalt des Textes. Diesen hatte Petrovskij aus verschiedenen fremdsprachigen Texten sowie seinen eigenen Erfahrungen zusammengestellt, wie er hervorhob. Indem der Konsul betonte, bei einer etwaigen 72 Der Münchner Geograf und Naturforscher Adolf Schlagintweit wurde mit seinen Brüdern Hermann und Robert auf Empfehlung Alexander von Humboldts und des preußischen Königs Wilhelm IV. 1854 für eine von Humboldt konzipierte Expedition nach Westindien entsandt. Die in Kooperation mit der Royal Geographical Society, dem Great Trigonometrical Survey und der East-India-Company durchgeführte Reise hatte erdmagnetische und kartographische Aufnahmen der bereisten Regionen zum Ziel. Adolf wurde auf seiner Rückreise durch Turkestan in Kaschgar als vermeintlich chinesischer Spitzel auf Geheiß des lokalen Machthabers Wali Khan hingerichtet. Vgl. Helmut Mayr: „Schlagintweit“. In: Hist. Kom. b. d. Bayer. Akad. d. Wissenschaften (Hrsg.): Neue deutsche Biographie Bd. 24. Berlin 2010, S. 23–25, hier S. 24; Schwerin: Wissen und Kontrolle, S. 276–280. 73 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 62, S. 163–164, hier S. 164; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 80, S. 184; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 82, S. 187–188, hier S. 188; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 84, S. 189; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 92, S. 197–198, hier S. 198; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 102, S. 212.

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Veröffentlichung durch den Generalstab auf jede Vergütung zu verzichten und sich lediglich 100 Exemplare zur privaten Verwendung erbat, beschrieb er sein großes Interesse am Erscheinen seiner Arbeit. Insgesamt entwarf Petrovskij das Bild eines reflektierten und erfahrenen Regionalexperten, dem an Anerkennung und öffentlicher Resonanz für seine Arbeit gelegen war.74 Im Bereich der Archäologie stießen Petrovskijs Münz-Funde aus der Gegend um Jarkant auf Interesse, wie das Schreiben vom 4. Juli 1892 an Rozen zeigt. Deren rätselhafter Charakter war der Grund für die 1893 erfolgte Veröffentlichung des durch eigene Fotografien Petrovskijs illustrierten Artikels „Zagadočnye jarkendskie monety“ (Rätselhafte Münzen aus Jarkant) in den BOKRAG , dem Fachjournal der Archäologischen Gesellschaft. Dass hierzu offenbar keine Unterstützung Dritter nötig war, deutet darauf hin, dass der Amateur Petrovskij in diesem Bereich durchaus anerkannt gewesen ist.75 Als Übersetzer nutzte Petrovskij dagegen noch die ihm angebotenen Publikationsmöglichkeiten, auch wenn dies möglicherweise zu Lasten der Qualität seiner Arbeit ging. Er hatte das Buch „Die Post- und Reiserouten des Orients“ des österreichischen Orientalisten Aloys Sprenger aus dem Jahr 1864 übersetzt. Sein Text erschien 1894 unter dem Titel „Drevnie arabskie dorožniki po sredneaziatskim mestnostjam“ (Alte arabische Wege durch zentralasiatische Gegenden) in Taschkent. Petrovskij erläuterte Ol’denburg am 14. Januar 1895, dass er den Text zusätzlich umfangreich kommentieren wollte. Als ihm die „Turkestanischen Nachrichten“ allerdings eine zeitnahe Veröffentlichung als Zeitungsbeilage anboten, die von Generalgouverneur Baron Aleksander Borisovič Vrevskij (1834–1910) subventioniert würde, habe er eingewilligt.76 Während das erste und das letzte Beispiel gezeigt haben, dass Petrovskij an der Resonanz auf seine Arbeiten gelegen war, verdeutlichen alle drei beispielhaft das partizipative Spektrum dieses wissenschaftlichen Laien in der orientalistischen Publizistik. Der Konsul Petrovskij beschrieb sich in den 1880er und 1890er Jahren als Beiträger und Unterstützer von Forschungsreisenden bei der Vorbereitung ihrer Reisen und auf ihrer Durchreise in Ostturkestan. Für die Unterstützung im Vorfeld der fünften Forschungsreise Nikolaj Michajlovič Prževal’skijs nach Tibet setzte Petrovskij vor allem seine umfangreichen Ortskenntnisse ein. In einem Schreiben 74 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 101, S. 209–210; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 324. 75 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 116, S 228–229; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 326. 76 Vgl. Aloys Sprenger: Die Post- und Reiserouten des Orients. Mit 16 Karten nach einheimischen Quellen. Leipzig 1864; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 328; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 140, S. 253.

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vom 28. August 1887 machte er den Reisenden auf etwaige administrative Hürden in China aufmerksam und schlug ihm eine Reiseroute durch den Pamir vor. Unmittelbar vor Reiseantritt beriet der Konsul Prževal’skij am 15. Februar 1888 nochmals beispielsweise beim Kauf von Lastentieren und erteilte Auskünfte über benötigte Dokumente. Abschließend versicherte Petrovskij dem Naturforscher, dass er bei Problemen mit den lokalen Behörden „festen Boden für verschiedene Maßnahmen“77 hätte, und meinte damit wohl seine Interventionsmöglichkeiten als Konsul bei etwaigen Schwierigkeiten. Auch nach Prževal’skijs Aufbruch schien sich Petrovskij weiter für dessen Reise verantwortlich zu fühlen. Am 9. September 1888 versorgte der Konsul den Forschungsreisenden mit aktuellen Informationen über einen Machtwechsel in Kaschgar und einen möglichen in Urumči und schlussfolgerte, dass beide der Reise nur zuträglich sein können. Abschließend wiederholte der Konsul sein Versprechen, alles ihm mögliche zum Gelingen der Reise beitragen zu wollen. Als Regionalexperte stellte sich Petrovskij damit als umfassend informiert, einflussreich und betont hilfsbereit dar:78 Vor Ort in Kaschgar umfasste die Hilfestellung Petrovskijs auch die Unterbringung der Reisenden im Konsulat. Am 20. November 1890 berichtete er Osten-Saken über seinen Gast Eduard Blanc. Der Waldinspektor war beauftragt, sich mit den russischen Maßnahmen zum Schutz von Bahnlinien gegen Sandverwehungen im Generalgouvernement vertraut zu machen. Der Nutzen dieser Hilfe war gegenseitig, da Petrovskij durch Gäste wie Blanc beispielsweise neue Informationen erhielt. So erkundigte er sich in einem Brief aus demselben Jahr bei seinem Vorgesetzten Ivan Alekseevič Zinov’ev über einen neuen russisch-französischen Vertrag, von dem ihm sein Gast berichtet hatte. Gleichwohl bedeuteten die Gäste für ihn zusätzlichen Aufwand und ihre teilweise große Zahl schien Petrovskij zu ermüden, wie sich in einem Schreiben vom 10. Januar 1891 an Osten-Saken zeigt.79 Ernsthafte Kritik von Seiten des Konsuls kam vor allem an Reisenden auf, die sich seiner Meinung nach nur als Wissenschaftler ausgaben, wie das Beispiel des Geografen und Zoologen Grigorij Efimovič Grum-Gržimajlos (1860–1936) verdeutlicht. Am 15. August 1886 berichtete der Konsul Prževal’skij, dass der Geograf vor allem durch überhebliche Kritik an Erkenntnissen Alexander von Humboldts 77 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 98, S. 206–208, hier S. 207. 78 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 96, S. 203–204, hier S. 203; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 98, S. 206–207; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 99, S. 208. 79 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 107, S. 216; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 108, S. 216–217; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 109, S. 217–218, hier S. 218; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 324.

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(1769–1859), zielloses Umherirren und ernsthaften Ärger mit den lokalen Behörden auffalle. Petrovskij sorgte sich daher um den Ruf der russischen Wissenschaft. Gegenüber Prževal’skij stellte er im selben Brief Überlegungen zur Kontrolle von Forschungsreisen an, beispielsweise durch die Geographische Gesellschaft. Damit beschrieb sich der Konsul als der russischen Forschung an sich und nicht nur einzelnen Wissenschaftlern verpflichtet. Bis Mitte des Jahrzehnts schien seine Unterstützung jedoch durch seine patriotische Einstellung sowie den Pamir-Konflikt eine gewisse Begrenzung zu erfahren. Dies zeigt unter anderem seine sehr allgemeine Kritik an einigen englischen Reisenden in einem Brief von 1895 an Osten-Saken. Petrovskij kritisierte Anfang der 1890er Jahre zudem die ausbleibende Dankbarkeit von Seiten der internationalen Reisenden für seine geleistete Unterstützung. Der Konsul stellte sich insgesamt selbstbewusst gegenüber den teilweise bekannten Wissenschaftlern wie Sven Hedin (1865–1952) dar und forderte Anerkennung für seine eigenen Leistungen zu ihrer Unterstützung. 80 Abschließend werden Petrovskijs Selbstbeschreibung als forschender wissenschaftlicher Amateur und Materiallieferant in den 1880er und 1890er Jahren in den Beziehungen zu den bekannten Orientalisten Rozen und Ol’denburg analysiert.81 In den 1880er und 1890er Jahren sammelte, kaufte und leitete Petrovskij zahlreiches archäologisches Material an Rozen und Ol’denburg weiter. Gleichzeitig berichtete er von der Erschließung eigener Fundstellen und beschrieb sich somit auch als Archäologe. Mit beiden Wissenschaftlern stand der Konsul zudem in einem engen fachlichen Austausch. Bereits in einem Brief vom 27. November 1886 an Osten-Saken berichtete der Konsul über einige Funde aus dem östlichen Turkestan, die er an Rozen und die Akademie der Wissenschaften geschickt habe. Hierunter seien beispielsweise Abdrücke von syrischen Inschriften aus der Nähe der Stadt Uč-Turfan gewesen, die er dem Orientalisten und Judaisten Daniil Abramovič Chvol’son (1819–1911) zukommen lassen wollte. Neben den bereits erwähnten Münzen, die 1893 zu Petrovskijs Publikation in Rozens Fachjournal führten, zählen die 87 Blätter umfassenden Sanskrit-Handschriften, über die er Rozen am 15. September 1892 berichtete, zu Petrovskijs spektakulärsten Funden, wie ihm der Indologe Ol’denburg bestätigt hat. Das geht aus einem Schreiben an 80 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 81, S. 185–187, hier S. 186; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 162, S. 270–271, hier S. 271; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 129, S. 242–243, hier S. 243; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 322. 81 Aus Platzgründen muss hier Petrovskijs Tätigkeit als Lieferant von regionalem Spezialwissen vor allem für Prževal’skij unangesprochen bleiben. Vgl. dazu Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 75, S. 177–178 sowie die Briefe Nr. 76, 79, 82, 85 und 89.

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Osten-Saken vom 21. August 1893 hervor. Hatte Petrovskij 1892 beim Versand der 87 Schriftstücke an Rozen bezüglich seiner Anerkennung noch die St. Petersburger Fachkreise im Blick gehabt, verlieh Ol’denburgs Einordnung der Funde Petrovskijs Selbstbeschreibung den Ausdruck des Sammlers von europäischem Rang. 82 Seitdem seit Ende des 18. Jahrhunderts militärische Expeditionen der Kolonialmächte von wissenschaftlichen Missionen begleitet wurden beziehungsweise diese ihnen folgten, gehörte das Sammeln von Informationen sowie von kulturellen und historischen Artefakten, wie Petrovskij es für Rozen und Ol’denburg betrieb, zur kolonialen Praxis. Wissenschaftliche Sammlungen wie die des Asiatischen Museums der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften (gegr. 1818) zeugen hiervon.83 Die zahlreichen Briefe des Jahres 1892 an Rozen verdeutlichen darüber hinaus Petrovskijs eigene Forschungsleistung sowie den fachlichen Austausch, in welchem er sich befand. Am 4. Juli 1892 berichtete er Rozen beispielsweise über eine eigene Fundstelle unweit von Kaschgar, die er erschließen wolle, und reflektierte dabei Erkenntnisse des Historikers und Mongolisten Grigorij Nikolaevič Potanin (1835–1920) aus dem Journal „Bote Europas“ hinsichtlich der zu erwartenden Funde. Am 3. September 1892 bat Petrovskij Rozen um Vermittlung an einen Experten bezüglich einiger rätselhafter Glasnägel, die er in einem Hünengrab ebenfalls unweit Kaschgars entdeckt habe. Ol’denburg teilte er am 15. Mai 1893 bezüglich der Untersuchungsergebnisse der Glasnägel mit, dass diese ihn nicht überzeugen würden. Mit dieser fachlichen Kritik beschrieb Petrovskij seine Selbstauffassung, über eine mit St. Petersburger Fachkreisen gleichrangige Expertise für dieses Thema um 1890 zu verfügen. Der Konsul bewertete Funde, rezipierte Fachkollegen und übte zuweilen auch Kritik an deren Urteil. Gleichzeitig suchte er über Rozen den Kontakt zu Fachleuten, wo ihm das Wissen fehlte. Insgesamt beschrieb er sich damit als Experte auf seinen Interessenfeldern.84 Die Briefe an Ol’denburg aus den 1880er und 1890er Jahren bestätigen die bisher in diesem Bereich gewonnenen Erkenntnisse. In der Rolle des Zuträgers sammelte Petrovskij auch für den Indologen zahlreiches Material. Am 15. Mai 1893 82 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 86, S. 191–192; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 119, S. 231–232; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 125, S. 238–239; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 122, S. 234–236, hier S. 234. 83 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 2013, S. 116–118; Rybakov: Oriental Studies, S. 24–25. 84 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 116, S. 228–229; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 117, S. 229–230, hier S. 229; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 122, S. 235–236; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], S. 326.

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und nochmals am 2. August 1894 beschrieb Petrovskij sein Netz aus Kontaktleuten in der Region, das er zu diesem Zweck aufgebaut hatte, damit aber bereits in Konkurrenz zu George Macartney (1867–1945) stünde, dem späteren britischen Generalkonsul in Kaschgar, der ähnlich vorginge. Dennoch beschrieb der Konsul in mehreren Briefen zwischen 1894 und 1895, neben erwähnten Handschriftenfunden, zahlreiche Sendungen von Gemmen oder Buddha-Figuren an den Gelehrten aus St. Petersburg. Verweisen die Briefe an Rozen und Ol’denburg auf zwei einzelne Beziehungen, so deutet der Versand der Funde an Rozen und die Diskussion mit Ol’denburg über selbige auf vielfältigere Forschungsbeziehungen hin, die Petrovskij pflegte.85 Das Lob Ol’denburgs, welches Petrovskij für diese und die bereits im Zusammenhang mit Rozen besprochenen Sammlungen erhalten und gegenüber Osten-Saken erwähnt hat, zeigen, dass er Anerkennung unter seinen fachlichen Kontakten in St. Petersburg genoss und ihm an deren Verbreitung lag. Lob und Anerkennung gründeten sich wohl auch auf den fachlichen Austausch, in dem der Konsul ebenfalls mit Ol’denburg stand. Gemeinsam tauschten sie sich über Aspekte der Geschichte Ost-Turkestans oder die Interpretation einzelner archäologischer Funde aus. Beispielsweise äußerte sich Petrovskij gegenüber dem Indologen am 2. August 1894 zur Frage, ob Ost-Turkestan einst unter indischem Einfluss gestanden haben könnte und plädierte für die Richtigkeit der These. An anderer Stelle diskutierte der Konsul mit Ol’denburg am 24. April 1895 die Interpretation einer Tonmaske im Kontext ähnlicher Funde und beschrieb sich damit als fachlich versiert. Indem der Konsul am 1. März 1895 Ol’denburg gegenüber aber offen zugab, dass es erst des fachkundigen Hinweises im Journal der Archäologischen Gesellschaft bedurft hatte, um ihn auf den wissenschaftlichen Wert des Materials aufmerksam zu machen, zeigte Petrovskij selbst die Grenzen seiner Kennerschaft als „einfacher Sammler“86 auf, als den er sich am 26. November 1895 selbst beschrieben hat.87

85 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 122, S. 234–235; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 134, S. 247–248, hier S. 248; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 145, S. 257–258; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 136, S. 249–250, hier S. 249. 86 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 160, S. 269–270, hier S. 269. 87 Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 134, S. 247–248; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 149, S. 260–261; Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 142, S. 255–256, hier S. 255.

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Schlussfolgerungen Der Lebensweg Nikolaj Fёdorovič Petrovskijs sowie seine Selbstbeschreibungen als engagierter Staatsdiener, Regionalexperte und wissenschaftlicher Beiträger in seinen Briefen weisen bestimmte Merkmale imperialer Biographien auf, die Malte Rolf jüngst beschrieben hat. Petrovskij gehörte zu einer Gruppe sehr „mobiler Akteure“. Seine verschiedenen Dienstorte am Rand des Reiches und damit verbundene Dienstreisen in das Zentrum sowie in Turkestan selbst verdeutlichen das. Auch auf privater Ebene begab sich der Amateurwissenschaftler zu lokalen Ausgrabungen oder nahm an Sitzungen der Ost-Abteilung der Archäologischen Gesellschaft in St. Petersburg teil. Das Imperium bildete den Rahmen seines Denkens und Handelns. Auf lokale Probleme reagierte Petrovskij daher mit Lösungsvorschlägen, die für das gesamte Reich Geltung beanspruchten. Mangels Vorgaben für seine Arbeit in Kaschgar, skizzierte der Konsul zum Beispiel ein Konsularstatut für das Imperium. Als Assistent der Forschungsreisenden sorgte er sich aufgrund des Fehlverhaltens Einzelner vor Ort um den Ruf der russischen Wissenschaft insgesamt und schlug daher die zentrale Steuerung von Forschungsreisen durch die Geographische Gesellschaft vor. Zudem bildet sein vielfältiges Netz persönlicher Kontakte in Zentrum und Peripherie diese Zusammenhänge ab.88 Petrovskijs Werdegang verdeutlicht exemplarisch die von Rolf beschriebene „eng[e] Wechselwirkung mit den grundlegenden Ordnungsmustern“89 des Imperiums. Das Russländische Reich war für den Mittzwanziger Petrovskij einerseits ein „Ermöglichungsraum“. Die Expansion nach Zentralasien eröffnete ihm ab 1870 einen beruflichen Karriereweg vom Finanzbeamten in Taschkent zum Generalkonsul in Kaschgar. Zeitgleich entwickelte Petrovskij seine Expertise in diversen Bereichen der russischen Orientalistik, die ihm spätestens ab Mitte der 1880er Jahre auch privat Anerkennung in Fachkreisen verschaffte. Mit Blick auf seine Verurteilung im Jahr 1864 könnte aber auch gefragt werden, ob Taschkent und Kaschgar nicht seine einzigen Karriereoptionen gewesen sind und das Imperium Petrovskijs Werdegang durch ein politisch begründetes Urteil einschränkte. Sein vergebliches Bemühen um eine Versetzung vom auswärtigen Dienst in das Imperium oder sein selbst als langwierig beschriebenes Bitten um Beförderung deuten darauf hin, ließen sich aber nicht abschließend klären. Dafür verweisen Petrovskijs kritische Haltung, seine Eigeninitiativen und das Bemühen um seine Karriere beziehungsweise um die Anerkennung seiner 88 Vgl. Rolf: Imperiale Biographien, S. 5, 9, 11; Buchert: Russkij portret [Russisches Porträt], S. 31. 89 Vgl. Rolf: Imperiale Biographien, S. 9.

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Leistungen als drei zentrale Merkmale seiner Selbstbeschreibung auf die von Anke Stephan hervorgehobenen Handlungsspielräume, deren Grenzen und ihre Ausgestaltung. Aus der Perspektive des Finanzbeamten und des Konsuls deuten seine durchgehend kritische Haltung und seine fortwährende Eigeninitiative auf Spielräume hin, die in Kaschgar am größten schienen. Petrovskijs Anregungen zu gemeinsamen Projekten oder die Diskussion des politischen Vorgehens im Pamir bezeugen beispielhaft seinen Willen, diese Spielräume auszugestalten. Dabei gewann seine Selbstdarstellung als Regionalexperte in Kaschgar Züge des „m[a]n on the spot“90, der während des Pamir-Konfliktes die Entscheidungen des Zentrums kritisierte und alternative Einschätzungen sowie Vorgehensweisen präsentierte. Zugleich belegen die durchgehend nötige Unterstützung Dritter bei Petrovskijs Publikationsversuchen, seine selten umgesetzten Ideen und seine häufig ignorierte Expertise die engen beruflichen Partizipationsmöglichkeiten.91 Diese könnten in dem das 19. Jahrhundert hindurch andauernden Reformprozess des russischen Konsularwesens begründet liegen. In dessen Verlauf wurden sowohl die institutionelle Zuordnung als auch Rechte und Pflichten der Konsuln diskutiert und verändert. Zudem wandelte sich zur selben Zeit international die diplomatische und außenpolitische Praxis, was beispielsweise auch in Großbritannien zu Fragen nach Nutzen, Einfluss und Spielräumen diplomatischer Akteure außerhalb der internationalen Metropolen führte.92 Petrovskij schätzte seine Handlungsspielräume offensichtlich falsch ein. Besonders deutlich wurde das bei seinen Versetzungswünschen ab Mitte der 1880er Jahre. Der Konsul begründete sein Anrecht auf bestimmte Stellen mit seinen Qualifikationen und zog Fähigkeiten anderer Bewerber in Zweifel. Mit Bezügen auf schon früh erkannte und kritisierte Probleme Anfang der 1890er Jahre betonte er seine Weitsicht, nahm aber auch eine Art Rückschau auf seine Leistungen zum Wohl des Staates vor. Diese Punkte deuten auf ein Fortbestehen einiger Elemente 90 Benedikt Stuchtey: Kolonialismus und Imperialismus von 1450 bis 1950. In: Europäische Geschichte Online (EGO) 2010 [zuletzt konsultiert am 15.05.2015], S. 1–23, hier S. 7. 91 Vgl. Stephan: Erinnertes Leben, S. 7–8; Rolf: Imperiale Biographien, S. 8. 92 Vgl. Elena Safronova: Russian Consular Service in the 19th Century. Genesis of Russian Consular Institution Network. In: Ulbert, Jörg/Prijac, Lukian (Hrsg.): Consuls et services consulaires au XIXe siècle. Die Welt der Konsulate im 19. Jahrhundert. Consulship in the 19th Century. Hamburg 2010, S. 275–289, hier S. 277–283. Markus Mößlang zeigt den Bedeutungs- und Einflussverlust britischer Diplomaten bei den Teilstaaten des Deutschen Reiches im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Vgl. Markus Mösslang: Gestaltungsraum und lokale Lebenswelt. Britische Diplomaten an ihren deutschen Standorten, 1815–1914. In: Hillard von Thiessen/Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln 2010, S. 199–215, hier S. 211–215.

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der Dienstbiographie hin, wie sie von Ulrich Schmid beschrieben worden sind. Ob Petrovskijs Selbstbeschreibung als qualifizierter und loyaler Staatsdiener und Regionalexperte von zuständigen Stellen nicht geglaubt wurde und er daher nicht versetzt beziehungsweise erst nach Jahren befördert worden ist, könnte nur durch ergänzende Archivrecherchen geklärt werden.93 Die Selbstbeschreibung Petrovskijs als wissenschaftlicher Beiträger zur Erforschung Zentralasiens schien dagegen deutlich häufiger mit seinen realen Handlungsspielräumen zu korrespondieren. Petrovskijs konkrete Beiträge in den wissenschaftlichen Teilbereichen waren deutlich häufiger erfolgreich als seine Karrierepläne als imperialer Beamter. Das betrifft sowohl eigene Veröffentlichungen oder Beiträge als Informant als auch Projekte wie die Wetterstation oder das Schlagintweit-Denkmal. Zudem beschrieb Petrovskij öfter die erhaltene Anerkennung für seine Beiträge. Darüber hinaus unterstreicht die fachliche Interaktion mit wissenschaftlichen Größen seiner Zeit Petrovskijs erfolgreiche Überwindung vorhandener Hierarchieebenen. Hieran zeigt sich auch der von Vera Tolz beschriebene Austausch zwischen Fachwissenschaft und „spezialisierten ‚Amateure[n]’“94, allerdings über institutionalisierte Foren hinaus. Ein solcher Amateurwissenschaftler ist Petrovskij trotz allem geblieben. Ob das aus dem von ihm selbst beklagten Mangel an Dankbarkeit der Forschungsreisenden zu schließen ist, die möglicherweise nur ihren Assistenten in ihm sahen, ist fraglich. Indiskutabel sind dagegen die mehrfach deutlich gewordenen, fachlichen Grenzen des „prost[ogo] kollektor[a]“95 (einfachen Sammlers), als welchen Petrovskij sich selbst beschrieben hat. Diese Befunde wären ein guter Ausgangspunkt für weiterführende Untersuchungen. Einerseits könnte das in den Briefen umfänglich niedergelegte China-Bild des Konsuls weiteren Aufschluss über den Austausch zwischen der St. Petersburger Orientalistik und den an der Expansion beteiligten Akteuren liefern. Andererseits könnte der Vergleich der vorliegenden Ergebnisse mit den Selbstbeschreibungen weiterer Teilnehmer der russischen Expansion nach Zentralasien vorhandene Aussagen über Handlungsspielräume und deren Ausgestaltung erweitern. Hierbei sollten nicht nur Amtsträger, wie die russischen Konsuln in Ili oder Tarbagata sowie Verwaltungsangehörige des Generalgouvernements in Taschkent in den Blick genommen werden. Interessant scheinen auch Selbstzeugnisse von Angehörigen einheimischer Funktionseliten, wie dem erwähnten Džura Bek, der als Offizier in 93 Vgl. Schmid: Ichentwürfe, 375–376. 94 Tolz: Russische Orientalisten, S. 128. 95 Petrovskij: Turkestanskie pis’ma [Turkestanische Briefe], Nr. 160, S. 269; vgl. Tolz: Russische Orientalisten, S. 127–128.

(Selbst)beschreibungen von den Grenzen des Imperiums 323

russischen Diensten gestanden hat. Schließlich wäre eine vergleichende Betrachtung der Selbstzeugnisse verschiedener Akteursgruppen in unterschiedlichen Randregionen des Russländischen Reiches für die Untersuchung des vielschichtigen Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie eine lohnenswerte Aufgabe.

Christian Marchetti

Ethnographie und Lebensbeschreibung Autobiographische Praktiken von Ethnographen im späten Habsburger Reich

Im Folgenden werden Fallbeispiele autobiographischer Texte präsentiert, deren Autoren im Habsburger Reich auf dem Gebiet der Ethnographie tätig waren. Dies geschieht als Teil eines größeren Forschungsvorhabens über deutschsprachige ethnographische Unternehmungen auf dem Gebiet des ehemaligen Königreich Ungarns, die Einblicke in spezifische imperiale Erfahrungen in der Habsburgermonarchie erlauben.1 Über eine vergleichende, historisch-ethnographische Betrachtung dieser Quellen soll ein akteurszentrierter Zugang zur wissenschaftlich-ethnographischen Praxis und speziell zu deren biographischer Dimension eröffnet werden. Die hier präsentierten Fälle autobiographischer Selbstdeutung stellen keine gezielte Auswahl dar. Vielmehr existiert nach meiner Kenntnis neben den hier betrachteten Texten keine bedeutend größere Anzahl ähnlicher Quellen.2 Bei der Analyse soll dargelegt werden, dass diese Selbstzeugnisse als aussagekräftige Typen differenter und damit vergleichbarer Positionierungen innerhalb des dynamischen Beziehungsfeldes zwischen einem sich wandelnden imperialen Raum und der sich entwickelnden, aber heterogenen wissenschaftlichen Disziplin der Ethnographie betrachtet werden können. 1 2

Die Forschung zu diesem Beitrag wurde gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Diese Einschätzung beschränkt sich auf deutschsprachige Texte. Michael Haberlandt, der Gründer des Museums für Österreichische Volkskunde in Wien veröffentlichte einen recht kurzen autobiographischen Text: ders., Meine Lebensarbeit. In: Wiener Zeitschrift für Volkskunde 45 (1940), S. 66–67; von seinem Sohn und Nachfolger Arthur Haberlandt existiert im Familienarchiv eine Privatschrift mit Kindheitserinnerungen, siehe: Friedrich Koger: Die Anfänge der Ethnologie in Wien. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Wien, Berlin, Münster 2008. Der Folklorist und Volkskundler Friedrich S. Krauss ließ autobiographische Äußerungen in viele seiner Publikationen einfließen, siehe: Raymond L. Burt: Friedrich Salomon Krauss (1859–1938). Selbstzeugnisse und Materialien zur Biobibliographie des Volkskundlers, Literaten und Sexualforschers mit einem Nachlassverzeichnis. Wien 1990.

Ethnographie und Lebensbeschreibung 325

Die Verwendung des Begriffs Ethnographie und damit auch die Bezeichnung einer Person als Ethnograph bedürfen einiger Erläuterungen, da diesen Bezeichnungen zumindest aus heutiger Sicht mehrere, recht unterschiedliche Bedeutungen zukommen. Etwa seit dem Ersten Weltkrieg bezeichnet Ethnographie die klassische Methode der ethnologischen Feldforschung, der idealerweise nahen, lokalen und langfristigen Erforschung (vornehmlich) kleiner sozialer Gruppen, die als kulturell „fremd“ gegenüber der Herkunftskultur des Forschenden betrachtet werden. Zuvor verband man den Begriff vor allem mit der Erfassung und Repräsentation der ethnischen Diversität eines bestimmten geographischen oder politischen Raumes, in erster Linie mittels statistischer Erhebung, schriftlicher Beschreibung und kartographischer Darstellung. In der Gegenwart werden zudem die qualitativen empirischen Methoden der Kulturanalyse als Ethnographie zusammengefasst. Den aus dem Altgriechischen abgeleiteten Begriffen Ethnographie und Ethnologie stehen zudem die deutschen Wortbildungen Volkskunde und Völkerkunde gegenüber. Alle vier verbindet eine gemeinsame, engverwobene Geschichte in der Entwicklung der deutschen Geistes- und Kulturwissenschaften.3 Im weitesten Sinne bezeichnet Ethnographie ein Set an Praktiken zur Repräsentation menschlicher Diversität in Zeit und Raum, wobei diese Vielfalt vornehmlich, aber nicht ausschließlich, kulturell verstanden wird. Die Frage „Wer wird Ethnograph?“ ist Teil der professionellen Folklore der Ethnographie selbst.4 Zwei Antworten auf diese Frage nach dem Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Orientierung und persönlicher Prägung stehen im Raum: Justin Stagl hat auf den großen Anteil von Emigranten, Bewohnern von Grenzregionen und ethnischen Mischgebieten und von Angehörigen ethnischer oder anderer Minderheiten unter Ethnographen hingewiesen.5 Rolf Lindner hat daneben vor allem das Aufwachsen in einer sozialen Gemeinschaft oder Umgebung, zu welcher sich der künftige Ethnograph selbst nicht zugehörig fühlte, hervorgehoben. 6 Beide biographischen Muster wurden dabei mit der Erfahrung einer sozial und kulturell marginalen Position verbunden. Ethnographen 3

Vgl. Justin Stagl: Ethnographie. Ethnologie. Volkskunde. Völkerkunde. Die Entstehung neuer Wissenschaftsdisziplinen aus deutsch-slawischen Kontakten im 18. Jahrhundert. In: Die Slawischen Sprachen 57 (1998), S. 103–130, hier 103–104. 4 Vgl. Michael H. Agar: The Professional Stranger. An Informal Introduction to Ethnography. San Diego 1980, S.3. 5 Justin Stagl: Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenschaftssoziologische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie. Berlin 1981, S. 65–96. 6 Rolf Lindner: Wer wird Ethnograph? Biographische Aspekte der Feldforschung. In: Ina-Maria Greverus (Hrsg.): Kulturkontakt, Kulturkonflikt: Zur Erfahrung des Fremden.

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erscheinen hier als Typen von marginal men, wie Exilanten, kritische Intellektuelle oder Angehörige kleiner wissenschaftlicher Fächer. Vergleichsweise früh lässt sich zudem eine bedeutende Beteiligung weiblicher Ethnographen an der Entwicklung der Disziplin beobachten. Auch im späten Habsburger Reich war der Begriff Ethnograph, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine konkrete Berufsbezeichnung. Erscheint die Bezeichnung etwa in offiziellen biographischen Kompendien, dann meist erst an zweiter oder dritter Stelle hinter etablierten wissenschaftlichen Berufen wie Historiker, Archäologe oder Linguist bzw. anderen „regulären“ Beschäftigungen wie Diplomat, Autor oder Reisender. Michael Haberlandt (1860–1940), ein studierter Indologe, erhielt 1892 als erster eine Lehrbefugnis für Allgemeine Ethnographie an der Wiener Universität, jedoch keine reguläre Professur. Als den ersten Wissenschaftler, der in Österreich-Ungarn seinen Lebensunterhalt ausschließlich mit Ethnographie verdiente, kann man wohl Franz Heger (1853–1931) bezeichnen, ein studierter Geologe, der 1882 Kustos der anthropologisch-ethnographischen Abteilung des Wiener Hofmuseums wurde. Bei dem hier betrachteten Personenkreis handelt es sich also um eine relativ kleine Gruppe, deren Grenzen zudem nicht eindeutig gezogen werden können. Es erscheint daher legitim, bei der Auswahl der zu untersuchenden Personen bzw. Selbstzeugnisse weite Kategorien und Definitionen anzuwenden und hier sowohl Personen einzuschließen, die nach damaliger Begrifflichkeit als Ethnographen bezeichnet wurden, als auch solche, für die dies aus heutiger Sicht auf Grund ihres wissenschaftlichen Interesses gerechtfertigt erscheint. Ebenso sind hier Personen eingeschlossen, für die Ethnographie eine von mehreren wissenschaftlichen Beschäftigungen war. Dies erscheint insbesondere deshalb gerechtfertigt, da die Ethnographie als wissenschaftliche Disziplinen in der Habsburgermonarchie als Teil eines größeren anthropologischen Projektes in Erscheinung trat. Neben der Ethnographie entwickelten sich noch andere wissenschaftliche Zugänge zu Fragen kultureller Diversität innerhalb wie außerhalb des imperialen Raumes. Manche konnten sich zu eigenständigen universitär etablierten Fächern entwickeln, andere gingen in größeren auf.7 Darüber hinaus entstanden in den 26. Dt. Volkskundekongress in Frankfurt vom 28. September – 2. Oktober 1987. Frankfurt a. M. 1988, S. 99–107. 7 Andre Gingrich: Liberalism in Imperial Anthropology: Notes on an Implicit Paradigm in Continental European Anthropology before World War I. In: Ab Imperio (2007), Nr. 1, S. 224–239; Karl Pusman: Die »Wissenschaft vom Menschen« auf Wiener Boden (1870– 1959). Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die anthropologischen Disziplinen im Fokus von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschafts- und Verdrängungspolitik. Wien, Berlin 2008.

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verschiedenen Zentren und Sub-Zentren der Habsburgermonarchie eine Anzahl größerer und kleinerer Ethnographien mit je eigenen linguistischen, ethnischen oder nationalen Ausrichtungen. 8 Im Sinne einer Anthropologie der Anthropologie haben Thomas Gerholm und Ulf Hannerz einen strukturellen Zugriff auf die Ausprägungsformen der Welt-Anthropologie entworfen. Dabei haben sie unterschiedliche nationale Stile der anthropologischen Praxis in ein Zentrums-Peripherie-Modell eingefügt.9 Dieses räumliche Strukturmuster ist verschiedentlich und meist produktiv auf die Habsburgermonarchie angewandt worden.10 Auch im vorliegenden Fall erscheint das Modell hilfreich. Es hilft, anhand der relativ geringen Anzahl von Fallbeispielen typische und aussagekräftige Positionierungen ethnographischer Akteure innerhalb eines imperialen Raumes zu identifizieren. Vor diesem Hintergrund lassen sich die im Folgenden untersuchten Ethnographen wie folgt klassifizieren: Als erstes Fallbeispiel dient Carl Freiherr von Czoernig (1804–1889), ein erfolgreicher Beamter und Verwaltungsexperte, der hochrangige Positionen an unterschiedlichen Dienstorten innerhalb der kaiserlichen Verwaltung des Imperiums innehatte. Als zweites Fallbeispiel wird der Historiker und Volkskundler Raimund Friedrich Kaindl (1866–1930) herangezogen. Bis zum Ende der Monarchie lebte und arbeitete Kaindl in der Grenzregion Bukowina, wo er sich politisch für die deutschsprachige Bevölkerung der östlichen Randgebiete der Monarchie engagierte. Das dritte Fallbeispiel wird von Franz Baron Nopcsa (1877–1933) vertreten, einem Paläontologen, Geologen und Albanologen. Nopcsa bereiste in den letzten beiden Jahrzehnten der Monarchie vornehmlich das nördliche Albanien, ein Gebiet, das als Teil der Grenzzone zum benachbarten Osmanischen Reich zwar außerhalb der territorialen Grenzen, jedoch innerhalb der engeren Einfluss- und Interessensphäre der Monarchie lag. Bei diesen drei Personen handelt es sich eindeutig um Experten. Alle hatten eine universitäre Ausbildung genossen und gingen einer darauf basierenden beruflichen 8 Bojan Baskar: Small National Ethnologies and Supranational Empires: The Case of the Habsburg Monarchy. In: Máiréad Nic Craith/Ulrich Kockel/Reinhard Johler (Hrsg.): Everyday Culture in Europe. Approaches and Methodologies. Aldershot, Burlington 2008, S. 65–80. 9 Tomas Gerholm/Ulf Hannerz: The Shaping of National Anthropologies. In: Ethnos 47 (1982), S. 5–35. 10 Katherine Verdery: Internal colonialism in Austria-Hungary. In: Ethnic and Racial Studies 2 (1979), S. 378–399; Andrea Komlosy: Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien? Zentrenbildung und Peripherisierung in der Habsburgermonarchie. In: Kakanien-revisited (2004) [http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/AKomlosy1.pdf] (Letzter Zugriff am 16.06.2015).

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Tätigkeit nach. Alle lassen sich zudem als imperiale Experten bezeichnen, da sie das spezialisierte Wissen, das sie produzierten, zu Zeiten in Wissensnetzwerke des Reiches einspeisten und die Absicht verfolgten, es für die Deutung imperialer Zusammenhänge nutzbar zu machen. Neben dieser Gemeinsamkeit bestanden zwischen den drei Personen jedoch einige signifikante Unterschiede: So war Czoernig der einzige, der sowohl in der Monarchie geboren wurde als auch vor deren Zerfall starb und der die revolutionären Herausforderungen, denen sich die Monarchie ab Mitte des 19. Jahrhunderts gegenübersah, ebenso selbst erlebte wie die daraus folgenden tiefgreifenden Strukturveränderungen. Kaindl begann seine wissenschaftliche Karriere Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der Monarchie und führte sie in der Zwischenkriegszeit in Zeiten der Ersten Republik fort. Er wurde maßgeblich von den zeitgenössischen nationalen Auseinandersetzungen und grundlegenden politischen Veränderungen geprägt. Nopcsas Biographie stand in vielerlei Hinsicht unter dem Zeichen der Südost-Expansion der Monarchie, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann und bis in den Weltkrieg reichte. Nopcsa und Kaindl überlebten beide den Zerfall Österreich-Ungarns und schrieben ihre autobiographischen Texte im Rückblick auf die Monarchie.

Autobiographische Lesarten Um diese Fallbeispiele für eine vergleichende Perspektive zu erschließen, werden sie im Folgenden einer möglichst einheitlichen analytischen Lesart und auch einer vereinheitlichenden Darstellungsweise unterzogen. In einem ersten Schritt wird die Person mit einem kurzen Lebenslauf vorgestellt, der auf biographischen Quellen basiert11, es folgt eine kurze Charakterisierung ihres ethnographischen Interesses und ihrer ethnographischen Arbeit. In einem zweiten Schritt (Das geschriebene Leben) der jeweilige autobiographische Text als materielles und textuelles Artefakt mit seiner Überlieferungs- bzw. Publikationsgeschichte vorgestellt und analysiert.12 Hier wird zudem versucht, die Schreibmotivation und die vom Autor avisierte Leserschaft zu rekonstruieren sowie den Schreibstil und Textaufbau zu charakterisieren. Schließlich wird in einem dritten Schritt (Das geschriebene Ich) die im Text kommunizierte Selbstdarstellung bzw. das Selbstbild nachgezeichnet. Dazu werden zum einen explizit 11 Dies sind vorliegende monographische Biographien und die biographischen Standard­ kompendien. 12 Für diese Untersuchung wurden durchweg digitalisierte Versionen der Texte verwendet, wie E-Books und Scans aus Archiven oder Bibliotheken.

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geäußerte Selbstdeutungen des Autors wiedergegeben. Zum anderen werden die impliziten symbolischen und emotionalen Ökonomien rekonstruiert, aus denen heraus sich das biographische Narrativ des Textes entwickelt. Ebenso sollen die Darstellung der beruflichen, wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten und die Wahrnehmung und Deutung historischer und politischer Ereignisse analysiert werden. Der jeweils letzte Abschnitt widmet sich den vom Autor hergestellten Verbindungen zwischen Erfahrungen und beruflicher bzw. wissenschaftlicher Karriere einerseits und den sich ändernden Formationen des imperialen Raumes andererseits. Nicht im direkten Fokus dieser Untersuchung steht die Frage nach dem Genre und den zeitgenössischen Diskursen, denen man die jeweiligen Texte zuordnen könnte. Vielmehr werden die hier behandelten autobiographischen Zeugnisse als Beispiele für differente Stile ethnographischer Praxis im Habsburgerreich analysiert, die Ethnographen vor dem Hintergrund eines sich wandelnden imperialen und postimperialen Rahmens entwickelten. Damit liegt das Augenmerk nicht allein auf den autobiographischen Praktiken einer bestimmten Gruppe von Akteuren, sondern darüber hinaus auf der Rolle der Autobiographie als einer spezifischen Praxis innerhalb des komplexen Zusammenhangs von Ethnographie, imperialem Raum und historischem Wandel im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Carl Freiherr von Czoernig Stationen der Biographie Carl Czoernig (auch Czörnig, ab 1852 Freiherr von Czoernig-Czernhausen) wurde am 5. Mai 1804 in Tschernhausen, Böhmen (Černohousy, heute Tschechien), als Sohn des örtlichen Burggrafen geboren. Seine frühe Jugend verbrachte Czoernig in der Industriestadt Reichenberg (Liberec, heute Tschechien), er besuchte das Gymnasium in Gitschin (Jičin, heute Tschechien), wo er Tschechisch lernte, und in Prag, wo er anschließend ein Jurastudium begann, das er in Wien beendete. 1828 trat er eine Verwaltungslaufbahn an. Seine Dienstorte waren Triest, Mailand, Venedig und wiederholt Wien, wo er unter anderem hohe Positionen im Handelsministerium bekleidete. Czoernig war in der Verwaltung des Hafen- und Schifffahrtswesens tätig und maßgeblich an der Entwicklung und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes der Monarchie beteiligt. Er wurde k. (u.) k. Sektionschef im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Bauten, zudem Präsident der Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale und Verwaltungsdirektor des Büros für administrative Statistik. 1848 wurde Czoernig als

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Abgeordneter der Böhmischen Länder in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. 1866 trat er aus gesundheitlichen Gründen und mit höchsten Auszeichnungen dekoriert in den Ruhestand und zog nach Görz (Gorizia/Gorica, heute Italien) wo er bis zu seinem Tod lebte. Czoernig hatte drei Kinder mit seiner ersten Ehefrau Clementine, geborene Hasenoerl, die 1857 verstarb. 1859 heiratete er Sophie von Strada, Witwe des Barons von Wohlgemuth, vormals Gouverneur von Siebenbürgen. Czoernig starb am 5. Oktober 1889 in Görz.13 Czoernigs Interesse an Statistik war bereits während des Studiums in Prag geweckt worden und sollte sich zu seiner wichtigsten intellektuellen und beruflichen Leidenschaft und Ressource entwickeln. Beruflich trieb er aktiv den Aufbau der statistisch-administrativen Institutionen der Monarchie voran. Durch seine organisatorischen Arbeiten und seine Beteiligung an den ersten internationalen Kongressen für Statistik trug er ab 1853 zudem entscheidend zur Entwicklung der wissenschaftlichen Statistik bei. Dass er als einer der Pioniere der Ethnographie in Österreich gilt14, verdankt sich vor allem seinem als monumental geltenden Werk Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie.15 Es umfasst drei Bände und eine großformatige, vierteilige ethnographische Karte. Mehrere Abschnitte dieses Buches wurden zudem, teils erweitert, einzeln publiziert. Das Zustandekommen des Werkes war direktes Ergebnis von Czoernigs statistischer Tätigkeit. Das von ihm geleitete Statistische Büro war über 14 Jahre mit der Sammlung, Verarbeitung und Publikation der zugrunde liegenden Daten beschäftigt. Czoernig selbst bezeichnete das ethnographische Werk als eine der wertvollsten Publikationen seiner Karriere. Adolf von Ficker, Co-Autor des Werkes, wurde sein Amtsnachfolger.

13 Alle Informationen stammen aus: Constatin von Wurzbach: „Czoernig Freiherr von Czernhausen, Carl“. In: ders.: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich Bd. 3. Wien 1858, S. 117–120; „Czoernig von Czernhausen, Karl Frh.“ In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 Bd. 1. Wien 1957, S. 164; Biographischen Datenbank der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849 (BIORAB-FRANKFURT) [http://zhsf.gesis.org/ParlamentarierPortal/fnv_db/fnvrecherche.php] (Letzter Zugriff 16.06.2015) oder aus Czoernigs Autobiographie. 14 Franz Grieshofer: Karl Freiherr von Czoernig (1804–1889). Ein Wegbereiter der Ethnographie in Österreich. In: ders./Margot Schindler (Hrsg.): Der Weg als Ziel. Ausgewählte Schriften zur Volkskunde (1975–2005). Wien 2006, S. 57–66. 15 Carl Freiherr von Czoernig: Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie. Wien 1855– 57 (3 Bände, Kartenteil mit vier Karten).

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Das geschriebene Leben Czoernig veröffentlichte den Hauptband seiner Biographischen Notizen 1879 im Selbstverlag, 1888 folgte ein kleinerer Ergänzungsband.16 Band eins ziert eine Portraitaufnahme Czoernigs, die ihn in einem Sessel sitzend zeigt. Er trägt einen weit geschnittenen Frack mit Fliege und einen Orden an der Brust, wahrscheinlich handelt es sich um den kaiserlichen Leopoldorden. Der Titelseite folgt ein Blatt mit Czoernigs vollem Namen und einer Auflistung seiner 25 offiziellen Amts- und Ehrentitel, der ihm verliehenen Orden und eines Hinweises auf seine Mitgliedschaft in zahlreichen Akademien und gelehrten Gesellschaften. Der eigentliche autobiographische Text deckt die Jahre bis 1879 ab und umfasst 50 Druckseiten. Es folgt eine 47-seitige Beilage mit abgedruckten Briefen zu seinen Arbeiten und Auszeichnungen, Rezensionen seiner Werke sowie einer detaillierten Publikationsliste und einer vollständigen Aufzählung seiner Mitgliedschaften in gelehrten, künstlerischen und gewerblichen Gesellschaften. Im zweiten Band folgen weitere sechs Seiten Lebensbericht für die Jahre 1880 bis 1887. Diese werden ergänzt mit 38 Seiten zitierter Ehrendiplome, Besprechungen und anderer Schriftbelege für das symbolische und kulturelle Kapital, das Czoernig in diesen Jahren des aktiven Ruhestandes ansammeln konnte. 17 Der autobiographische Text selbst folgt einer doppelten chronologischen Abfolge: Zuerst wird Czoernigs Berufsleben entlang seiner Dienstorte, -aufgaben und Beförderungen erzählt, dann noch einmal entlang seiner größeren Publikationen. Die Annahme liegt nahe, dass Czoernig diesen detaillierten, fast pedantischen Lebenslauf aus demselben Pflichtbewusstsein und mit derselben Akkuratesse schrieb, mit der er auch seine Dienstgeschäfte führte. Czoernig, so ließe sich folgern, behandelte sein Leben ebenso, wie er im Dienste des Kaisers die Flottenausbildung reorganisierte, das Eisenbahnnetz entwickelte oder internationale Finanzgeschäfte tätigte. Als Rechenschaftsbericht über seine Lebensarbeit würde der Text sich dementsprechend an einen imaginären Vorgesetzten richten. Czoernig verfolgte jedoch offenkundig eine wesentlich breitere repräsentative Absicht: Hinter diesem vordergründig allein an den objektiven Tatsachen orientierten Lebensbericht steht die erkennbare Absicht, ein exemplarisches Zeugnis zu

16 Carl Freiherr von Czoernig: Biographische Notizen. Wien 1879; ders.: Anhang zu den Biographischen Notizen für den Zeitraum 1880–1887. Wien 1888. Beide werden in Bibliotheken meist zusammen verzeichnet, es existieren offenbar nur wenige Exemplare. 17 Die letzte Beilage, ein kurzer Auszug aus einem Buch zur Geschichte Siebenbürgens im 19. Jahrhundert, gibt Auskunft über den liebreichen und wohltätigen Charakter von Czoernigs zweiter Frau Sophie von Strada.

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geben von der Eigentümlichkeit und damit von der Einzigartigkeit und letztlich der Größe der Habsburgermonarchie im Allgemeinen und ihrer bürokratischen Klasse im Besonderen.18 Das geschriebene Ich Explizit präsentiert sich Czoernig in seinen Biographischen Notizen als das lebende Ideal eines österreichischen Bürokraten: »Das Geschick fügte es, dass sich in mir das Bild eines österreichischen Beamten verkörperte, wie solches in diesem Reiche nicht selten, doch anderswo in gleicher Eigentümlichkeit nur ausnahmsweise vorkommen mag.“19 Seinen Eintritt in den k. (u.) k. Verwaltungsapparat beschreibt er als eine zweite Sozialisierung, ein Hineinwachsen in eine wohlgeordnete und effiziente Behördenstruktur, die bevölkert wird von freundlich gesonnen und warmherzigen Menschen. In diesem bürokratischen Apparat kooperieren kompetente und flexible Verwalter mit genialen technischen Experten und dankbaren gesellschaftlichen Gruppierungen und Korporationen. Czoernig spricht zwar von Neid, Missgunst und Verleumdungen, die der Beamte auf Grund seiner Stellung zu ertragen habe, diese kommen jedoch stets von außerhalb. Wiederholt betont er die hohe geistige Begabung, die große Erfahrung und den leutseligen Charakter seiner Vorgesetzten. Sollte er seine Karriere eben auch der klientelistischen Patronage namhafter Förderer – namentlich durch Graf Hartig sowie später Freiherr von Bruck – verdankt haben, so wird dieser Umstand von ihm selbst mit einer Sprache der Freundschaft bemäntelt.20 Innerhalb dieses so menschlich erscheinenden bürokratischen Apparates gibt es jedoch keine Stagnation, keine Fehler und keine Korruption. Czoernig lobt auch bereitwillig die Fähigkeiten und die Hingabe seiner eigenen Untergebenen und Mitarbeiter. In der Zusammenarbeit mit technischen Experten, wie dem bekannten Eisenbahningenieur Carl von Ghega, erscheint Czoernigs eigene Rolle als die eines fast unsichtbaren Wegbereiters, der es dem technischen Genie ermöglichte, sich in herausragenden Konstruktionen zu verwirklichen. Die üppige Verwendung von Adjektiven, die Stabilität und Totalität unterstreichen, wie ‚bleibend‘, ‚allgemein‘, oder ‚umfassend‘, gern

18 Zum Typus der Beamten-Autobiographie im Habsburgerreich vgl. auch den Aufsatz von Waltraud Heindl in diesem Band. 19 Czoernig: Biographische Notizen, S. 26. Zur Kultur- und Sozialgeschichte der habsburgischen Beamtenschaft siehe: Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich Bd. 1: 1780–1848. Wien, Köln, Graz 1990.; dies.: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich Bd. 2: 1848–1914. Wien, Köln, Weimar 2013. 20 Vgl. ebd., S. 7.

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auch als Superlative wie ‚bleibendste‘ und ‚umfassendste‘, gehört zu Czoernigs bevorzugten Stilmitteln. Vor allem zu Beginn seiner Karriere bestand Czoernigs bürokratische Praxis vor allem aus umfassender Planungsarbeit, die sich in der quasi kosmologischen Ordnung der jeweiligen Verwaltungsbereiche, mit denen er betraut war, niederschlug: „Es wurde […] ein neuer umfassender Plan des nautischen Unterrichtes (von allen damals bestandenen der vollständigste, da er vom Schiffsjungen bis zum Lehrer der nautischen Astronomie hinaufreicht) entworfen […]“21 Im Rückblick bezeichnet Czoernig seine Arbeit jedoch vor allem als eine schreibende. Mit seiner letzten amtlichen Publikation endete dementsprechend seine „amtliche schriftstellerische Tätigkeit“.22 Entsprechend reagierte Czoernig auf die meisten in seiner Autobiographie erwähnten historischen und politischen Ereignisse mit eigenen Publikationen. So legt er dar, dass er sein sehr populäres und weitverbreitetes Statistisches Handbüchlein 23 als Reaktion auf die vom Kaiser erlassene Verfassung von 1861 beziehungsweise das Zusammentreten des Reichsrates und die daraus resultierende „höhere und allgemein verbreitete Theilnahme an den staatlichen Verhältnissen“ verfasst habe.24 Czoernig begriff Statistik nicht als die Produktion arkanen Herrschaftswissens. Ihre eigentliche Funktion bestand für ihn in ihrer Veröffentlichung, der Darstellung und Verbreitung einer wissenschaftlichen und anwendbaren Wahrheit über die Entwicklung, die Gestaltung und das Wesen des Habsburgerreiches.25 In Czoernigs autobiographischer Erzählung entfaltet sich beispielhaft die symbolische Ökonomie der imperialen bürokratischen Herrschaft. Er selbst internalisierte und externalisierte deren Strukturen mit Hilfe emotionaler Praktiken.26 Der bürokratische Apparat begegnet hier den lokalen wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Problemen durch die Mobilisierung, Verortung und Aktivierung bürokratischer Akteure. Als solcher empfing Czoernig neue Dienstposten, -auf21 Czoernig: Biographische Notizen, S. 15. 22 Ebd., S. 46, der Titel dieser letzten Publikation lautete: Carl Freiherr von Czoernig: Darstellung der Einrichtungen über Budget, Staatsrechnung und Controlle in Oesterreich, Preussen, Bayern, Württemberg, Baden, Frankreich und Belgien. Wien 1866. 23 Carl Freiherr von Czoernig: Statistisches Handbüchlein für die österreichische Monarchie. Wien 1861. 24 Czoernig: Biographische Notizen, S. 42. 25 Czoernigs Wappen zierte die Devise: „Wissenschaft ist Macht“, siehe Wurzbach: Czoernig, S. 120. 26 Vgl. Monique Scheer: Are Emotions a Kind of Practice (and is that what makes them have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion. In: History and Theory 51 (2012), S. 193–220.

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gaben und -missionen als Gnadenakte („zwei Jahre war es mir vergönnt, die statistische Central-Commission zu leiten“27) und ging diese energisch und mit Freude an („Ich unterzog mich diesem Auftrage mit freudiger Energie“28). Die Führung seiner Untergebenen und die Anleitung ihrer Arbeiten bereitete Czoernig Vergnügen, die Effekte ihrer Maßnahmen zu sehen, tiefe Befriedigung. Die Schaffung neuer Institutionen innerhalb des bürokratischen Apparates war jedoch eine zeitraubende Angelegenheit, der oftmals die Trägheit und Hartnäckigkeit der örtlichen Akteure entgegenstand. Daher verlangten solche Aufgaben nach „zäher unerschütterlicher Ausdauer, gelassenem Muthe und energischem Impulse in der Leitung“.29 Allergrößte Anstrengung war notwendig, auch wenn der Erfolg sich nur langsam und schrittweise zeigte. 30 Die Gegenleistungen für diese Mühen waren die Dankbarkeit, die von gesellschaftlichen Gruppen artikuliert wurde, und letztlich die Ehrungen, die der Kaiser persönlich „seinem“ Beamten verlieh. Folgt man der Erzählung Czoernigs, dann erscheint die Entwicklung seiner eigenen Aktivitäten innerhalb der habsburgischen Bürokratie als ein von eben diesen emotionalen und symbolischen Transaktionen angetriebener Prozess der fortschreitenden Expansion seiner eigenen Handlungsmacht. Anlässlich der Übernahme eines neuen Amtes, wie der Central-Commission für den Erhalt historischer Denkmäler und Bauten beanspruchte er für sich die Rolle derjenigen zentralen Instanz, von der alle Initiative ausging und die sämtliche Zügel in der Hand hielt. Seine Führung übte er durch die persönliche Kontrolle aller Korrespondenzen, die Überwachung der Herausgabe aller Publikationen und den direkten persönlichen Kontakt mit allen mitarbeitenden Gelehrten und Künstlern aus. In der Folge trat die neu geschaffene Institution mit einer Vielzahl an Publikationen hervor und entfaltete „eine bis in die entferntesten Thäler des Reiches hin elektrisch wirkende Thätigkeit“.31 Das „Geschick“, als die vom Kaiser als dem gottgegebenen Herrscher verkörperte Schicksalsmacht setzte den österreichischen Beamten auf den ihm zukommenden

27 28 29 30

Czoernig: Biographische Notizen, S. 29. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Diese Anstrengungen konnten gesundheits-, wenn nicht gar lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. Czoernig selbst führte die Nervenkrankheit, die ihn zum frühen Ruhestand zwang, auf die Arbeit an seiner letzten amtlichen Publikation zurück. Im Vorwort seines Ethnographischen Werkes ehrte er das Andenken zweier Mitarbeiter namens Häuffler und Hain, deren frühen Tod er ebenfalls auf ihren übergroßen Arbeitseinsatz zurückführte. Czoernig 1857, p. XVIII. 31 Czoernig: Biographische Notizen, S. 18.

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Platz. Geformt zu seiner „Eigentümlichkeit“, wurde er jedoch vom Habsburgischen Imperium selbst. Der weite Umfang der Monarchie, die verschiedenen Einrichtungen der einzelnen Provinzen und die gewaltigen Abstufungen der Civilisation und der Nationalitäten in demselben bilden zu seinem Wirken eine grossartige Einfassung, wie sie weder in Frankreich, noch in Russland, noch weniger bei den kleineren Staaten und nur noch in Grossbritannien möglich ist. In der Regel muss der österreichische Beamte, welcher in den Centralstellen einst entsprechende Dienste leisten will, in verschiedenen Provinzen seine Verwendung gefunden und sich mit ihren Eigentümlichkeiten bekannt gemacht haben, er muss mindestens drei Sprachen sprechen, die deutsche, italienische und eine slavische oder die ungarische, er muss in grossen Städten und kleinen Verwaltungs-Mittelpunkten gelebt und meist auch in mehr als einem Zweige der Administration sich versucht haben.32

Die hohen Anforderungen, die das Imperium in seiner räumlichen und kulturellen Diversität, seiner lokal unterschiedlichen politischen Verfassung und wirtschaftlichen Entwicklung und seinen nationalen und ethnischen Differenzierungen an den Verwaltungsbeamten stellte, statteten diesen mit einer einzigartigen beruflichen und persönlichen Erfahrung aus. Czoernig zufolge bedingte diese Lebenserfahrung bestimmte typische Charakterzüge: Eine Hinneigung zum Praktischen, eine Scheu vor theoretischen, nicht durch die Erfahrung bewährten Versuchen in der Gesetzgebung und Verwaltung, endlich eine Milde und Unparteilichkeit der Gesinnung, die oft über das zulässige Mass hinausreicht, wo nicht angeborene Energie des Charakters entgegentritt.33

Gemäß dieser habituellen Handlungsmuster und Wahrnehmungsweisen entwickelte sich auch Czoernigs Lebensbericht. Von seiner Wahl zum Abgeordneten seines böhmischen Heimatkreises in der Frankfurter Nationalversammlung berichtet er in recht spröder Manier: Dort kam mir die Nachricht zu, dass meine Heimat mich ohne meine Bewerbung und ohne dass ich Kenntniss davon gehabt, zum Abgeordneten bei der Frankfurter National-Versammlung erwählt hatte. Nachdem Graf Hartig von seiner Mission zurückgetreten war, folgte ich jener Aufforderung und begab mich nach Frankfurt; dort wurde 32 Ebd., S. 26. 33 Ebd.

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ich zum Mitgliede des volkswirtschaftlichen und Finanzausschusses gewählt; doch gewährte die hochgehende politische Fluth mir, dem Manne der positiven Thatsachen, wenig Spielraum.34

Betont emotionslos berichtet Czoernig von seiner angeblich ungewollten und unwissentlichen Kandidatur und Wahl und auch von seiner Zeit als Abgeordneter. Offenbar konnte er seine Handlungsmacht in nicht hierarchischen parlamentarischen Strukturen, zumal in politisch bewegten Zeiten, nur schlecht entfalten: Selbst schrieb er: „Das Jahr 1848 war den statistischen und volkswirtschaftlichen Arbeiten nicht günstig“.35 Trotz dieser Widrigkeiten und der Angriffe politischer Gegner bewertete Czoernig seine Frankfurter Zeit positiv, da er Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten schließen konnte und sich sein eigener politischer Horizont durch Reisen in Westeuropa erweiterte. Trotzdem wird diese Frankfurt-Erfahrung in seiner Autobiographie auf weniger als einer Seite abgehandelt. Wie spröde diese Episode erzählt wird, wird vor allem im Kontrast zum darauffolgenden Abschnitt deutlich, in dem er seine erste Abordnung nach Wien ins neugeschaffene Handelsministerium beschreibt: […] welchem Rufe ich umso bereitwilliger folgte, als ich so glücklich war meinem Wunsche entsprechend das von mir herangebildete statistische Bureau, welches dem Handelsministerium einverleibt wurde, mit mir nehmen zu können. Nun folgte eine Periode angestrengtester Thätigkeit in dem seiner Organisirung entgegen gehenden Ministerium.36

Das nun folgende Jahrzehnt nach 1848 pries Czoernig als einen einzigartigen Umschwung in den Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung der Monarchie, eine Veränderung, die in alle Zweige des staatlichen Lebens eindrang und einen gewaltigen Einfluss auf die volkswirtschaftliche Entwicklung nahm.37 Die Denkmalschutzkommission war eine der Früchte dieser Zeit, die „ganz in dem Geiste des jugendlich aufstrebenden Neu-Oesterreich“ auftrat.38 Eine weitere Neuerung war Czoernigs eigene Ethnographie der Monarchie. 34 Ebd., S. 12–13. 35 Ebd., S. 12. Parlamentarisches Engagement war unter habsburgischen Beamten um 1848 nicht ungewöhnlich, allein im österreichischen Reichstag von 1848 waren 50 Beamte vertreten, siehe den Beitrag von Waltraud Heindl in diesem Band. 36 Ebd., S. 13. 37 Ebd., S. 25. 38 Ebd., S. 18.

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Das ethnographische Imperium Erste historisch-ethnographische Studien unternahm Czoernig bereits im Frühjahr 1831 anlässlich seiner Entsendung nach Mailand. Er traf auf ein Land in „fieberhafter Spannung“.39 Infolge der französischen Juli-Revolution waren in Mittelitalien Aufstände ausgebrochen, und fast die ganze Halbinsel wurde von geheimen Gesellschaften in Aufregung versetzt. An der Seite des Mailänder General-Polizeidirektors von Torresani studierte Czoernig diese Geheimgesellschaften als die oberflächlichen sozialen Gestaltungen historisch tiefliegender sozialer und familiärer Verhältnisse.40 Auf der Grundlage dieser Studien entstand eine nicht veröffentlichte Denkschrift, in der er für eine energische, aber kulturell und national sensible Bekämpfung der revolutionären Umtriebe wie auch ihrer Ursachen eintrat. Als Gegenstück zu diesem ethnographischen Beitrag zur Aufstandsbekämpfung können die Studien zur lombardischen Gemeindeverfassung betrachtet werden, an denen Czoernig anschließend während seines Dienstes für die lombardische Regierung unter dem Gouvernement des Grafen Hartig arbeitete. Zum einen verfolgte Czoernig hier die historischen Wurzeln der traditionellen Gemeindeverfassungen zum Teil bis in die römisch-antike Municipium-Ordnung zurück, zum anderen würdigte er die von der österreichischen Regierung eingeführten Gesetze als Versuch, solch traditionelle Ordnungen wiederherzustellen. Diese landestypische Gemeinde-Verfassung wertete er als „trefflichste bis in das letzte Detail durchgeführte Institution dieser Art“41 und als Grundlage des Reichtums und der Wohlfahrt der Lombardei. Für Czoernig stand sie damit als Symbol und Beleg für den wohltätigen Einfluss guter Gesetzgebung und Verwaltung auf das öffentliche und private Leben der Bevölkerung.42 Die dreibändige ethnographisch-statistische Beschreibung der Monarchie und die zugehörige ethnographische Karte stellen einen Höhepunkt in Czoernigs Karriere dar.43 So erlangte das Werk von all seinen statistischen Publikationen die weiteste Verbreitung, und es wurde nicht nur in der internationalen Presse und auf internationalen Ausstellungen und Messen mit großem Lob und hohen Auszeichnungen bedacht, sondern verschaffte auch dem Urheber selbst die höchsten Ehrungen und Dekorationen. Als es 1857 nach vierzehnjähriger Vorarbeit publiziert wurde, konnte Czoernig den Anspruch erheben, dass kein wissenschaftli39 40 41 42 43

Ebd., S. 6. Ebd., S. 6f. Ebd., S. 34. Ebd., S. 34–35. Czoernig: Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie.

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ches Werk bisher ein Gebiet dieser Größenordnung abgedeckt hatte. Er sah daher darin nicht nur die „umfassendste“ aller seiner statistischen Leistungen, sondern auch jene von „bleibendstem“ Interesse, zumal er in seiner Autobiographie rückblickend festhielt, dass eine solche Arbeit kurze Zeit später durch die nationalen Bewegungen schwer behindert, wenn nicht unausführbar geworden wäre.44 Seine italienischen Lokalstudien eröffneten Czoernig Einblicke in die historische Verwurzelung der regionalen, ethnischen und nationalen Eigenheiten der Monarchie. Sein ethnographisches Großwerk stattete die Monarchie selbst mit einer Darstellung ihrer eigenartigen und grundlegenden ethnographischen Zusammensetzung aus. Dies geschah in Zeiten, in denen sich die ethnographische Diversität zunehmend in Form verschiedener ethno-nationaler Bewegungen artikulierte. Czoernig stellte sich mit seiner Ethnographie ganz hinter die reaktionären und zentralisierenden Bestrebungen der Reichsregierung im Anschluss an die revolutionären Unruhen von 1848. Den dritten Band seines ethnographischen Werkes, der die Geschichte der öffentlichen Verwaltung bis in die neueste Zeit abdeckte, entwickelte er selbst zu einer eigenständigen Publikation fort, welche den grundlegenden Umschwung in diesem Gebiet darlegen sollte. Unter dem Titel Oesterreichs Neugestaltung 1848 bis 1858 legte Czoernig damit eine „innere Geschichte“ des Imperiums in Zeiten grundlegender struktureller Umgestaltung vor.45 Statistisch-ethnographisches Wissen und bürokratisches Management sollten dabei der imperialen Herrschaft als Handreichung dienen.46

Raimund Friedrich Kaindl Stationen der Biographie Raimund Friedrich Kaindl wurde am 31. August 1866 in Czernowitz, Bukowina (Chernivtsi, heute Ukraine) als Sohn eines Lehrers, Malers und Unternehmers geboren. Die Familie lebte seit zwei Generationen in der Bukowina, Kaindls Großväter waren aus Niederösterreich beziehungsweise Hessen eingewandert. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte Kaindl ab 1885 Geschichte, Geographie und Germanistik an der zehn Jahre zuvor gegründeten deutschsprachigen Franz-Josephs-Universität in Czernowitz. 1901 wurde er dort Professor für 44 Czoernig: Biographische Notizen, S. 24. 45 Carl Freiherr von Czoernig: Oesterreichs Neugestaltung 1848–1858. Stuttgart 1858. 46 Ebd., S. 25. Tatsächlich erhielt Czoernig für die Vorlage dieses Werkes vom Kaiser die Medaille für Wissenschaft und Kunst verliehen.

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Geschichte und 1912 Kanzler der Universität. Kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs floh Kaindl vor den russischen Truppen nach Wien. 1915 wurde er auf den Lehrstuhl für Österreichische Geschichte in Graz berufen, dort verbrachte er den Rest seines Lebens. Er starb am 14. März 1930.47 Kaindl trat vorrangig als Historiker in Erscheinung, Ethnographie stellte jedoch ein wichtiges Element seiner wissenschaftlichen Arbeit dar. So bewarb er die „neue Wissenschaft der Volkskunde“ als eine wichtige Hilfswissenschaft der Geschichtswissenschaft, vor allem für die Erforschung der deutschen Kultur in Osteuropa. Seine Publikation Die Volkskunde. Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methoden ist eines der ersten deutschsprachigen Handbücher für Volkskunde überhaupt.48 Die deutschsprachige Bevölkerung der Karpatenregion, für die er die Sammelbezeichnung Karpatendeutsche49 prägte, stand im Fokus sowohl seines wissenschaftlichen Interesses als auch seines politischen Engagements. Während seiner Zeit in Czernowitz unternahm Kaindl jedoch auch ethnographische Studien unter den anderen dort ansässigen ethno-kulturellen Gruppen, namentlich den Huzulen und Ruthenen.50 Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit trat Kaindl, wie bereits erwähnt, als ethno-nationaler Aktivist für die Belange der deutschsprachigen Bevölkerung in den östlichen Gebieten der Monarchie beziehungsweise ihren Nachfolgestaaten in Erscheinung. So engagierte er sich in deutschnationalen Schul- und Schutzvereinen und initiierte die 1910 erstmalig ausgerichteten Tagungen der Karpatendeutschen. 47 Zu Biographie Kaindls siehe: Alexander Blase: Raimund Friedrich Kaindl. Leben und Werk. Wiesbaden 1962; Hauke Focko Fooken: Raimund Friedrich Kaindl als Erforscher der Deutschen in den Karpatenländern und Repräsentant großdeutscher Geschichtsschreibung. Lüneburg 1996; bezüglich seines Einflusses auf die frühe Volkskunde und seiner Rezeption im Fach siehe: Helmut Eberhart: „Die Volkskunde nährt durchaus keinen Gegensatz gegen andere Völker, sie ist vielmehr im besten Sinn kosmopolitisch.“ Zur Rezeption der Werke Raimund Friedrich Kaindls. In: Siegfried Becker (Hrsg.): Volkskundliche Tableaus. Eine Festschrift für Martin Scharfe zum 65. Geburtstag von Weggefährten, Freunden und Schülern. Münster 2001, S. 357–374. 48 Raimund Friedrich Kaindl: Die Volkskunde. Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methode. Mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den historischen Wissenschaften. Leipzig, Wien 1903. 49 Raimund Friedrich Kaindl: Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern. Gotha 1907–11 (3 Bde.). Heute bezieht sich der Begriff Karpatendeutsche nur noch auf die deutschsprachige Bevölkerung, die (ehemalig) in der Slowakei und Teilen der West-Ukraine lebte. 50 Raimund Friedrich Kaindl: Die Huzulen. Ihr Leben, ihre Sitten und ihre Volksüberlieferungen. Wien 1893; ders.: Die Ruthenen in der Bukowina. Czernowitz 1889/90 (2 Bde.). Teile dieser Forschungen publizierte Kaindl auch in den Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Die Ethnographische Kommission der Anthropologischen Gesellschaft finanzierte seine Forschungen.

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In der Zwischenkriegszeit propagierte Kaindl ein föderalisiertes, deutsch-dominiertes Mitteleuropa. Kaindls Positionen und Äußerungen erscheinen in der Rückschau hochgradig ambivalent. Neben seinem Hauptinteresse an der deutschen Kultur und Geschichte im Osten zeigte er ebenso Interesse und Anerkennung für andere ethnische Gruppen und Nationalitäten und betonte den kosmopolitischen Charakter gerade der Volkskunde.51 Dieser Liberalismus wird vom oftmals aggressiven und expansionistischen Tonfall seiner national-politischen Schriften in Frage gestellt. Vor allem das Vokabular seiner Publikationen seit Beginn des Weltkriegs erinnert den heutigen Leser an die nationalsozialistische Rhetorik des „deutschen Volks- und Kulturbodens“ und des „Lebensraums im Osten“. 52 Das geschriebene Leben Ein von Kaindl verfasster autobiographischer Text erschien 1925 in einem Sammelband mit Selbstdarstellungen deutscher Historiker.53 Der Text umfasst 30 Druckseiten zuzüglich einer Publikationsliste des Autors. Zu Beginn ist ein ganzseitiges, von ihm signiertes Portraitfoto eingefügt. Kaindl trägt einen förmlichen Anzug und einen kurz geschnittenen Vollbart mit buschigem, spitz auslaufendem Schnauzbart. Der Text beginnt mit einem etwa sechsseitigen Bericht über die Kindheit und Jugend des Autors, dann sind zehn Seiten eines tagebuchartigen, in kleinerem Schriftgrad gedruckten Textes eingefügt. Kaindl selbst bezeichnet diese Aufzeichnungen als „Stimmungsbilder“54 und gibt an, sie nach seiner Erinnerung und älteren Bemerkungen zu einer Zeit niedergeschrieben zu haben, da die geschilderten Eindrücke noch lebhaft gegenwärtig waren.55 Die Notizen sind mehr oder weniger exakt datiert („Sommer 1885“, „Juni 1886“) und umfassen die Jahre 1885 bis 1890. Der darauf folgende Text enthält vornehmlich politische und historische Reflexionen über die in den Notizen geschilderten Nationalitätenkonflikte und über Kaindls eigenen Standpunkt darin. Ganz zum Schluss schildert Kaindl noch seinen akademischen Lebenslauf, gedenkt seiner Universitätslehrer

51 Siehe etwa das Zitat im Titel zu Eberhardt: Die Volkskunde. 52 Beispielweise: Raimund Friedrich Kaindl: Deutsche Siedlung im Osten. Stuttgart 1915 (Der Deutsche Krieg, 34). 53 Raimund Friedrich Kaindl: (Selbstdarstellung). In: Sigfrid Steinberg (Hrsg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig 1925, S. 171–205. Die einzelnen Beiträge des Bandes waren sowohl durchgehend als auch individuell paginiert. Die Zitation hier bezieht sich auf die individuelle Seitenzählung. 54 Kaindl: Selbstdarstellung, S. 17. 55 Ebd., S. 6.

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und verweist auch auf weitere wissenschaftliche Tätigkeiten, auf die er im Text nicht näher eingehen konnte.56 Der Herausgeber des Sammelbandes, Sigfrid Steinberg, schreibt in der Einleitung des Bandes, einer seiner leitenden Gedanken sei es gewesen, „Autoergographien“ führender zeitgenössischer Historiker zu versammeln und so die untrennbare Verknüpfung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und persönlicher biographischer Erfahrung darzustellen.57 Die deutsche Geschichtswissenschaft der Zeit seit Ende des Weltkrieges charakterisiert er als geprägt von einem Streben nach umfassenden synthetisierenden Betrachtungsweisen, einer Ausweitung des Blicks in prähistorische Perioden und der Gleichzeitigkeit von geschichtsphilosophischer Vertiefung und Versuchen, historische Erkenntnis in praktische Politik umzusetzen. Die versammelten Selbstdarstellungen sollten der Geschichtswissenschaft angesichts der „erschütternden Gegenwartserlebnisse“ als Orientierungshilfe dienen.58 Noch stärker betonte Kaindl in seinem autobiographischen Text die Verbindung zwischen Umwelt und historischer Situation, in der er aufgewachsen war, und seiner persönlichen und wissenschaftlichen Entwicklung: „Meine Entwicklung hängt so ganz mit meiner Umgebung, den Zeitverhältnissen und den von ihnen ausgehenden Einflüssen zusammen, daß ich mir gar nicht vorstellen kann, welche Bahnen ich unter anderen Umständen eingeschlagen hätte.“59 Der stark politisch gefärbte Text zielt auf das zeitgenössische Publikum der 1920er Jahre. Kaindl zieht seine Kindheit und sein eigenes jugendliches Selbst als Zeugen heran. Beide sollen seinen eigenen Anteil an der Entwicklung eines spezifischen, auf der biographischen Erfahrung der späten Habsburgermonarchie fußenden, völkischen Verständnisses des Deutschseins untermauern und sein immanent politisch-instrumentelles Verständnis historischen Wissens veranschaulichen. Während Kaindl ausgiebig und farbenfroh aus seiner frühen Kindheit erzählt und seine Studienzeit in recht länglichen Passagen eines angeblich zeitgenössischen 56 Für genauere Angaben zu seinem Lebenslauf verweist Kaindl hier auf eine von dem Bukowiner Schwaben Heinrich Kipper verfasste biographische Schrift: Heinrich Kipper: R.F.K. 1888 bis 1918. Dreißig Jahre karpathendeutscher Arbeit. Lemberg 1918. 57 Steinberg: Geschichtswissenschaft, S. VI–VIII. Die anderen Beiträge zum Band stammen von Georg von Below (konservativer deutscher Verfassungs- und Wirtschaftshistoriker), Alfons Dopsch (österreichischer Mediävist), Heinrich Finke (katholischer Kirchenhistoriker und Mediävist), Walter Goetz (deutscher Historiker und linksliberaler Politiker), Max Lehmann (konservativer deutscher Historiker) und Georg Steinhausen (deutscher Kulturhistoriker). Nach Angaben des Herausgebers hatten die Autoren freie Hand bei der Gestaltung ihrer Beiträge. 58 Steinberg: Geschichtswissenschaft, S. VII. 59 Kaindl: Selbstdarstellung 1925, S. 1.

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Tagebuchs wiederauferstehen lässt, finden die biographisch mindestens ebenso wichtigen Abschnitte seiner universitären Karriere in Czernowitz ab 1900 und vor allem die umwälzenden Veränderungen, die er während des Weltkriegs erfuhr, nur beiläufige oder gar keine Erwähnung. Das geschriebene Selbst „Mein Heimatort ist Czernowitz in der Bukowina. Umwelt und Verhältnisse übten auf mich den nachhaltigsten Eindruck.“60 – Seiner Kindheit verleiht Kaindl im ersten Abschnitt seiner autobiographischen Beschreibung romantische, fast zauberhafte Züge. Das Haus seines Vaters beschreibt er als Sammelsurium unterschiedlichster Gegenstände, „darunter solche mit rätselhafter Bedeutung“.61 In den Erzählungen des Vaters, der Mutter und älteren Geschwister erscheinen die Geschichten der Herkunft und Ansiedlung der Familie „wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht“.62 In den vielfältigen Beschäftigungen des Vaters als Lehrer, Maler, Musiker, Bauunternehmer, Betreiber einer Mühle und einer Kachelofenfabrik, spiegelt sich die „deutsche Kolonistenart […] im Neuland“.63 Außerhalb des deutschen Kolonisten-Hauses lockte das pralle Leben: „Wenn man aus dem Fenster des elterlichen Hauses hinausblickte, so sah man das anziehende Leben der einheimischen bunten Bevölkerung“.64 Durch die Straßen getriebene Rinderherden erfüllten die Luft mit Geschrei und Tosen, „wie in den Erzählungen Coopers“.65 Die huzulische Magd im Hause Kaindl erscheint als Verkörperung der bäuerlichen Welt. Sie bringt die Kinder mit deren Bräuchen und Märchen in Kontakt. Beim Spiel in alten Burgen und Klöstern stoßen sie auf Überreste und Zeugnisse einer wechselvollen und kriegerischen Vergangenheit. Und nicht zuletzt auf die ethnische Vielfalt der Bukowina: Und diese Dörfer der Rumänen und Ruthenen, der Ungarn und Lippowaner; ferner Polen und Slovaken, Armenier und Zigeuner, und in den von Urwald umrauschten Bergen das geheimnisvolle Reitervölkchen der Huzulen! Vor allem endlich die Ansiedlungen der Schwaben, Deutschböhmen und Zipser! Welche unendliche Fülle von Anregungen, Gestalten und Stoff!66 60 Ebd., S. 1. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 2. 64 Ebd. 65 Ebd. James Fenimore Cooper (1789 – 1851, USA), Autor der Lederstrumpf-Romane. 66 Ebd., S. 3.

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All dies, so resümiert Kaindl, blieb nicht ohne Wirkung auf die eigene kindliche Phantasie und den jugendlichen Geist. Von Jugend an setzte er seine geistige Erregung ins Schreiben um. Zuerst hielt er gehörte und selbstgesponnene Geschichten fest, dann als Schüler Volksbräuche und Volksüberlieferungen, bald auch die heimatliche Geschichte und Landeskunde und schließlich als Student die Geschichte der deutschen Einwanderung und Kulturarbeit mit ihren vielen Zusammenhängen und verdeckten Beziehungen.67 Diese produktive Selbstdisziplinierung wurde in der deutsch-nationalen Atmosphäre, die Kaindl an der Universität antraf, erneut aufgewühlt, was in seinem Emotionshaushalt eine tiefempfundene Zerrissenheit hervorrief. Sommer 1885. Ich war heute wieder auf der Bude der Deutschen Studenten. Wie gern wollte ich ihnen beitreten! Aber es geht nicht, nein es geht nicht, und das drückt mir das Herz ab. Seit Monaten habe ich mich gesehnt und gefreut – und jetzt kann ich’s nicht.68

Dieses Eingangszitat steht beispielhaft für den hochgradig emotional aufgeladenen Grundkonflikt, um den Kaindls eingefügte Tagebuchaufzeichnungen kreisen: Seinem sozialen Verlangen, der Gemeinschaft der deutsch-nationalen Verbindungsstudenten beizutreten, standen tiefe Loyalitätsgefühle gegenüber dem kaisertreuen Elternhaus entgegen. Dieser innere Konflikt führte Kaindl schließlich in eine selbstgewählte Außenseiterposition: „Nein dafür bin ich nicht zu haben! Ich werde einsam meine Wege gehen. Nicht als Liberaler, aber auch nicht als sogenannter Alldeutscher“.69 Zwischen der loyalen Verbindung zum Imperium und einer Faszination für den Heroen des deutschen Nationalismus, Otto von Bismarck, sowie einer interessierten, aber ambivalenten Haltung gegenüber der Person und der politischen Bewegung Georg von Schönerers70, entwickelte Kaindl sukzessive eine eigenständige politische Haltung und Perspektive auf Geschichte und Gegenwart. Die Haltung der Deutschen gegenüber dem Imperium wurde für Kaindl zur Schicksalsfrage der Monarchie. Ausgehend von seinem ausgedehnten und teils kosmopolitischen Interesse an der multikulturellen Lebenswelt seiner Kindheit, steuerte er recht geradlinig auf die Idealisierung einer historischen „Ostmission“ der deutschen Kultur innerhalb der Habsburgermonarchie zu.

67 Ebd. 68 Ebd., S. 7. 69 Ebd., S. 10. 70 Georg Heinrich Ritter von Schönerer (1842–1921), österreichischer Politiker in der Deutschnationalen Bewegung, ab 1891 Führer der irredentistischen Alldeutschen Vereinigung.

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Der junge Kaindl verfügte über ein klares Feindbild. Der Gegner der Monarchie stand jenseits der nahen Ostgrenze, er war orthodox im Glauben, sprach Russisch und wurde von französischem Kapital finanziert. Die inneren religiösen und nationalen Auseinandersetzungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mit ihren städtischen Unruhen und ihren Denkmals- und Symbolkonflikten, kommentierte er in seinem ‚Tagebuch‘ mit tiefer Geringschätzung: „Trostlos! Wohin steuern wir?“71 „Aber dann erkannte ich, daß das ganze Elend in Österreich auf dieselben Gründe zurückzuführen sei. All der unsagbare Zwiespalt während der Universitätsjahre, der uns erschütterte, war auf 1866 zurückzuführen.“72 – 1866, das Jahr der Niederlage Habsburgs im Österreichisch-Preußischen Krieg und Kaindls Geburtsjahr wurde zu einem obsessiven Bezugspunkt in dessen politischer Entwicklung. Seine Ablehnung der Kleindeutschen Lösung (und infolgedessen auch des Pan-Germanismus von Schönerers) wurzelte in seiner Überzeugung von der besonderen Bedeutung des „Ostens“ für die deutsche Geschichte („was der Osten den Deutschen in früheren Jahrhunderten bedeutet hatte“).73 Der Osten in der Deutschen Volkskunde Auch wenn er das Österreich-Ungarische Imperium als einen konfliktgeladenen Kampfplatz der Völker darstellte, sprach sich Kaindl auch im Rückblick für eine positive Haltung gegenüber der Monarchie aus. Sie allein stand für ihn als Garant der Sicherheit der Deutschen im Osten. Die Erfahrungen, die die Deutschen in den multiethnischen östlichen Grenzgebieten des Imperiums machten, beförderten nach Kaindls Sicht auf besondere Weise das völkische Erwachen des gesamten deutschen Volkes: „Deutsches Volk erwache! Das war die grundlegende Erkenntnis. […] Auf diese Entwicklung wirkten aber die Verhältnisse im Grenzland besonders günstig ein.“74 Dem Wissenschaftler eröffneten „der Osten“ und speziell die deutschen Siedlungen im Grenzland ein Forschungsfeld, in dem sich der neue Gegenstand seines Interesses wie unter einem Vergrößerungsglas darbot: „Hier sah man so klar die Größe und Bedeutung deutscher Arbeit; sie hob sich so scharf von der Nachbarschaft ab.“75

71 Kaindl: Selbstdarstellung, S. 12. Die Eintragung ist auf Juni 1886 datiert und bezieht sich auf »ärgste Ausschreitungen gegen die Deutschen« anlässlich einer Denkmalsenthüllung in Laibach. 72 Ebd., S. 21–22. 73 Ebd., S. 21. 74 Ebd., S. 17. 75 Ebd.

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Von diesen „östlichen Verhältnissen“ ging für Kaindl jedoch stets die Gefahr einer „Zersplitterung“ aus. Dies war zum einen die „Zersplitterung“ der deutschen Bevölkerungen innerhalb der imperialen Situation, zum anderen die Gefahr einer intellektuellen „Zersplitterung“ des Forschers selbst infolge des Reizüberflusses, mit dem die imperiale Diversität ihren Betrachter konfrontierte. In seiner biographischen Selbstdarstellung verwandelte Kaindl den Kosmos seiner Kindheitserfahrungen in eine Art romantisch-abenteuerlichen Stimulationsraum, der ihn mit einzigartigen intellektuellen Energien ausstattete. Die politischen Konflikte seiner Jugend erscheinen als eine Art Bewährungsfeld, auf dem er die gefühlte politische Zerrissenheit durch die Einnahme einer eigenständigen und gefestigten Außenseiterposition zu überwinden lernte. Damit erschloss er retrospektiv diese Lebensabschnitte als biographische Ressourcen, aus denen er für seine weitere Entwicklung schöpfen konnte. Der Überfluss an Diversität in diesem imperialen Grenzgebiet bot ihm unbegrenzte geistige Anregung, und die Erforschung desselben erlaubte ihm die Entwicklung seiner ihm eigenen intellektuellen Vielseitigkeit. Das Ergebnis dieser Begegnung war Kaindls disziplinäre Hinwendung zu einer „Volksforschung“ und „Volkskunde“ avant la lettre: Ohne daß ich etwas von dem Begriff der Volkskunde gewußt hatte, war ich in ihren Bann durch die Umwelt geraten. Die Geographie und vor allem die Geschichte bahnten mir den Weg zu meinen vielgestaltigen selbständigen Forschungen. Die merkwürdige Durchdringung und Wechselwirkung der verschiedenartigen Völkerschaften in meinem kleinen Heimatlande, von der Vorzeit mit ihren Funden bis zu den lebenden Resten der primitiven Kulturen und bis zur modernsten Entwicklung unter deutschem Einfluß, führte zur Verbindung von Volkskunde und Geschichte. Ich erkannte in der Volkskunde eine Hilfswissenschaft der Geschichte.76

Aus seiner eigenen „Grenzerfahrung“ extrahierte Kaindl eine sowohl wissenschaftliche als auch politische Agenda für die postimperiale Zeit: den Anschluss an die grassierenden Mitteleuropa-Konzepte der Zwischenkriegszeit, hier konkret als Amalgam wiederaufgelegter pangermanischer Ideen und einer grenzübergreifenden ethno-kulturellen Revitalisierung des deutschen Volkes als Ganzes. Die neuen Wissenschaftsdisziplinen der Volkskunde und der Volksgeschichte sollten dazu als Werkzeuge dienen und alternative Bezugspunkte zu den traumatischen Erfahrungen von 1866 und zur Oberflächlichkeit herkömmlicher Geschichtsschreibung bieten. „Und deshalb wird man auch der neuen Wissenschaft der Volkskunde,

76 Ebd., S. 4.

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vor allem der deutschen Volkskunde ihren Platz schaffen müssen“.77 Auf dieser Grundlage sollte sich eine öffentlichkeitswirksame und populäre „Deutschtumskunde“ begründen, über die ein neues völkisches Verständnis des Deutsch-Seins verbreitet werden sollte. Beim Rückblick auf seinen eigenen akademischen Werdegang betont Kaindl jene Aspekte seiner Biographie, die auf dieses Ziel hinführten. Seine früheren ethnographischen Arbeiten zu nicht deutschen ethnischen und nationalen Gruppen erscheinen als rein instrumentelle Vorstudien oder fallen gänzlich unter den Tisch. Trotz des Facettenreichtums seiner wissenschaftlichen Arbeit legt Kaindl Wert darauf, diese als ein Kontinuum darzustellen: „So bildeten meine Arbeiten eine lange, sich natürlich entwickelnde Reihe, beeinflusst von den örtlichen und zeitlichen Verhältnissen, trotz ihrer Mannigfaltigkeit ein zusammenhängendes Ganzes.“78 Die heftigen politischen Konflikte und tiefgreifenden Veränderungen, deren Zeuge er im Laufe seines Lebens wurde, werden so eingebettet in eine kohärente und sinnvolle Erzählung. Widersprüche und Brüche werden durch die Überführung in eine ethno-politische Agenda einerseits und in ein wissenschaftlich-innovatives „Oeuvre“ andererseits aufgelöst. Die Diversität eines imperialen Grenzraumes erscheint dabei in den Farben einer romantischen Kindheitserinnerung. Die emotionalen und politischen Konflikte der Jugend dienen zur Untermauerung der Eigenständigkeit einer politischen Position. Das Ergebnis einer persönlichen Berufsbiographie soll nichts Geringeres sein als die Quelle für die „Erneuerung“79 des deutschen Volkes als Ganzes.

Baron Franz Nopcsa Stationen der Biographie Franz (Ferenc) Baron Nopcsa von Felsö-Szilvas wurde am 3. Mai 1877 in Déva, Siebenbürgen (heute Rumänien) als Spross einer ungarischen Adelsfamilie geboren. Sein gleichnamiger Onkel und Taufpate war ein hochrangiger Höfling in Wien und diente von 1868 bis 1894 der Kaiserin Elisabeth als Oberhofmeister. Nopcsa wurde auf dem Familiengut Szacsal (Săcel) erzogen und besuchte später das Maria-Theresianium in Wien. Ein von seiner Schwester Ilona auf dem Grundbesitz der Familie gefundener fossiler Knochen führte ihn dazu, 1897 ein Studium 77 Ebd., S. 28. 78 Ebd., S. 25. 79 Ebd., S. 29.

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der Geologie und Paläontologie in Wien aufzunehmen. Bereits zu Studienzeiten unternahm Nopcsa Reisen durch die südöstlichen Grenzregionen der Monarchie. Studienreisen führten zudem nach Italien, Deutschland, England und Ägypten.80 Vor allem Nopcsas paläontologische und evolutionsbiologische Arbeiten waren innovativ und teils ihrer Zeit voraus. Sein ethnographisches Interesse galt vor allem den nordalbanischen Stammesgebieten, die er zwischen 1905 und 1910 intensiv bereiste.81 Er schrieb und publizierte über die Geologie, Geographie und Ethnologie des Landes sowie über dessen materielle Kultur und Gewohnheitsrecht.82 Mehrere zeitlebens unveröffentlichte Manuskripte aus seinem Nachlass wurden erst in jüngster Zeit publiziert.83 Im neu entstandenen albanischen Nationalstaat entwickelte Nopcsa zunehmend auch politische Ambitionen, auch wenn ihn dies mit der offiziellen und inoffiziellen österreich-ungarischen Außenpolitik in Konflikt brachte.84 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verlor Nopcsa seine Familiengüter 80 Zur Biographie siehe: Gert Robel: Franz Baron Nopcsa und Albanien. Ein Beitrag zu Nopcsas Biographie. Wiesbaden 1966. Robel benutzte Nopcsas Nachlass und fügte die für das Verständnis notwendigen historischen Informationen und Kontexte hinzu. Weitere relevante biographische Literatur in deutscher Sprache siehe: József Hála: Franz Baron von Nopcsa. Anmerkungen zu seiner Familie und seine Beziehungen zu Albanien. Eine Bibliographie. Wien 1993; „Nopcsa von Felsőszilvás, Franz Frh.“ In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 Bd. 7. Wien 1978, S. 148; eine große Anzahl von Nopcsas photographischen Aufnahmen sind im Internet zugänglich: http://nopcsa.albanianphotography.net/ (Letzter Zugriff am 16.06.2015). 81 Zur österreichischen Albanienforschung siehe: Kurt Gostentschnigg: Zwischen Wissenschaft und Politik: die österreichisch-ungarische Albanologie 1867 – 1918. Graz 1996; ders.: Die Verflechtung von Wissenschaft und Politik am Beispiel der österreichisch-ungarischen Albanologie. In: Südost-Forschungen 58 (1999), S. 221–245; Helmut Eberhart: Von Ami Boué zu Hugo Adolf Bernatzik. Skizze zur Geschichte der österreichischen Ethnographie in Albanien vor 1938. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 101 (1998), S. 9–34; Christian Marchetti: Balkanexpedition. Die Kriegserfahrung der österreichischen Volkskunde – eine historisch-ethnographische Erkundung. Tübingen 2013. 82 Siehe beispielsweise: Franz Baron Nopcsa: Beitrag zur Statistik der Morde in Nordalbanien. In: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Wien 50 (1907), S. 429–437; ders.: Haus und Hausrat im katholischen Nordalbanien. Sarajewo 1910; ders.: Beiträge zur Vorgeschichte und Ethnologie Nordalbaniens. In: Wissenschaftliche Mitteilungen aus Bosnien und Herzegovina 12 (1912), S. 168–253; ders.: Albanien. Bauten, Trachten und Geräte Nordalbaniens. Berlin, Leipzig 1925. 83 Fatos Baxhaku/Karl Kaser: Die Stammesgesellschaft Nordalbaniens. Berichte und Forschungen österreichischer Konsuln und Gelehrter (1861–1917). Wien, Köln, Weimar 1996. 84 Zur k.u.k. Albanienpolitik siehe: Günther Ramhardter: Propaganda und Außenpolitik. In: Adam Wandruszka (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen. Wien 1989, S. 496–536, hier S. 520–528; Hanns Dieter Schanderl: Die Albanienpolitik Österreich-Ungarns und Italiens 1877–1908. Wiesbaden 1971; Herbert Peter

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an den Rumänischen Staat und ging damit auch seiner ökonomischen Basis verlustig. Zwischen 1925 und 1928 amtierte er als Direktor des Königlich-Ungarischen Geologischen Institutes in Budapest. In den nachfolgenden Jahren lebte Nopcsa in finanziell wie gesundheitlich zunehmend prekären Verhältnissen in Wien. Dort erschoss er am 25. April 1933 seinen albanischen Sekretär, Lebensmenschen und Geliebten Bajazid Elmaz Doda und beging anschließend Selbstmord.85 Das geschriebene Leben Nopcsas Nachlass wurde nach seinem Tod an den Wiener Albanologen und Universitätsbibliothekar Norbert Jokl übergeben. Infolge der rassistischen Verfolgung Jokls nach 1939 gelangten die Schriften zusammen mit Jokls Unterlagen und Sammlungen in den Besitz der Wiener Hofbibliothek. Der Nachlass wird heute in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt. Neben anderen unveröffentlichten Materialien enthält er Nopcsas Tagebücher, einen autobiographischen Text von 456, teils maschinengeschrieben, teils handschriftlichen Seiten. 86 Der Text basiert auf Nopcsas privaten und wissenschaftlichen Notizbüchern, wurde jedoch offensichtlich seit der Zeit des Ersten Weltkrieges von Nopcsa zur Publikation vorbereitet und dabei teils neu geschrieben. Der Text ist in fünf Bände oder Kapitel unterteilt. Eine Publikation des Originaltextes in deutscher Sprache und eine Übersetzung ins Ungarische waren bereits vereinbart, der Verlag zog jedoch auf Grund von Nopcsas exzessiven Korrekturwünschen und Verzögerungen seine Zusage zurück. In seiner letzten Version von 1929 wurde der Text schließlich 2001 von Robert Elsie veröffentlicht. 87 Elsie fügte zudem eine umfassende Publikationsliste und eine einsichtige und treffende Beschreibung des Charakters Nopcsas und eine Kontextualisierung seiner Biographie hinzu. Schwanda: Das Protektorat Österreich-Ungarns über die Katholiken Albaniens (Unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1912–1914). Wien 1965; Helmut Schwanke: Zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Militärverwaltung in Albanien (1916–1918). Wien 1982; Wolfgang Etschmann/Erwin Schmidl: Albanien im ersten Weltkrieg. Spielball von Machtinteressen. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 35 (1997), S. 545–554. 85 »Das Drama des Forschers Baron Nopcsa. Den Sekretär und sich erschossen«. In: Neues Wiener Tagblatt 115 (26.4.1933), S. 7. In jüngster Zeit wurde ein aus Nopcsas Nachlass stammendes ethnographisches Manuskript über das Heimatdorf Dodas, das dieser zusammen mit Nopcsa geschrieben hatte, veröffentlicht: Bajazid Elmaz Doda/Franz Baron Nopcsa: Albanisches Bauernleben im oberen Rekatal bei Dibra (Makedonien). Wien, Berlin 2007. 86 Nopcsas Unterlagen befinden sich in der Handschriften-, Autographen- und Nachlass-Sammlung, das Tagebuch trägt die Signatur Cod. Ser. n. 9368. 87 Franz Baron Nopcsa: Reisen in den Balkan. Die Lebenserinnerungen des Franz Baron Nopcsa, hrsg. v. Robert Elsie. Peja 2001. Aus dieser Edition wird hier zitiert.

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Nopcsas Tagebücher umfassen die Jahre von 1897 bis 1917 und decken damit sein Leben von Anfang zwanzig bis Anfang vierzig ab, beziehungsweise die letzten zwanzig Jahre der Habsburgermonarchie. Das Eingangskapitel trägt den Titel „Studienzeit und erste Reisen“ und reicht von 1897 bis 1905. Es beginnt mit dem erwähnten Fund eines Saurierknochens, der für Nopcsa den Auftakt für eine frühe und rasche „Karriere“ als Forscher bedeutete. Nachdem er im Alter von 21 Jahren seinen ersten Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften in Wien gehalten hatte, brach Nopcsa zu seinem ersten Balkantrip auf. Er und sein „einziger Freund“ Louis Graf Drašković wollten per Pferd und ohne Wissen der Eltern die Grenzgebiete Bosniens und der Herzegowina erkunden. Die beiden trafen im Offizierskasino in Plevlja aufeinander. Drašković, der direkt von einer Reise durch Albanien kam, trat „vagabundenmäßig“88 auf, mit gebräunter Haut und unrasiertem Kinn, dazu trug er ein offenes Hemd, montenegrinische Schuhe und albanische Hosen. Nopcsa „war riesig über das Wiedersehen erfreut“89, welches ihm zudem einen ersten Blick auf das männliche Objekt seines Begehrens gewährte.90 Das zweite Kapitel umfasst hauptsächlich Nopcsas Expeditionen und Reisen nach Albanien zwischen 1905 und 1910. In diesen Jahren entwickelt sich sein Interesse an der heroischen Figur des nordalbanischen Stammeskämpfers (trim). Nopcsa umgab sich mit einer treuen Gefolgschaft einheimischer Bewaffneter, mit denen er die nordalbanischen Berge durchstreifte. Ihre Anerkennung und ihren Respekt verdiente er sich durch die Zurschaustellung seines Könnens als Jäger und Reiter. Nopcsa erlernte mehrere albanische Dialekte und trug auf seinen Reisen einheimische Kleidung und Haartracht. Für einige Zeit ließ er sich dauerhaft in der nordalbanischen Stadt Shkoder nieder, wo er einen reinen Männerhaushalt führte. Durch großzügige Geldgaben machte er sich einen Namen in der lokalen, von Stammeskonflikten geprägten Politik. Die Titel der letzten drei Kapitel entsprechen den zeitgenössischen politischen Großereignissen: „Zwischen der Annexion und dem Balkankrieg (1910–1912)“, „Zwischen Balkankrieg und Weltkrieg (1912–1914)“ sowie „Weltkrieg (1914–1917)“. Nach den Balkankriegen erlebte Nopcsa seine vielleicht größte Niederlage, als seine Versuche fehlschlugen, sich als möglicher Herrscher in Albanien ins Spiel 88 Ebd., S. 12. 89 Ebd., S. 13. 90 Während Robel äußerst dezent mit Nopcsas Homosexualität umgeht, verweist Elsie klar auf die zahlreichen Hinweise in den Tagebüchern. Nopcsa selbst äußerst sich nie explizit in diese Richtung, es erfolgt kein ‚coming out‘ in den Tagebüchern, vielmehr lässt sich seine Lebensgeschichte als ein ‚coming to terms‘ mit seiner sexuellen Orientierung lesen. Seine Liebesbeziehung zu Doda kann auch Zeitgenossen nicht verborgen geblieben sein. Siehe: Elsie: Einleitung, S. x.

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zu bringen. Nopcsa laviert in seinen Tagebüchern einige Absätze lang herum, um darzulegen, dass seine Thronaspirationen nicht seinen persönlichen Karrierewünschen entsprungen seien, sondern allein seinem Wunsch, dem jungen Land und der großen Monarchie zugleich einen Dienst zu erweisen.91 Nach dem Scheitern seiner Pläne verließ er Albanien düpiert und beleidigt, um für ein halbes Jahr unter rumänischen Hirten im Banat zu leben. Während des Weltkrieges kehrte Nopcsa nach Albanien zurück, wo er Stammeskrieger rekrutierte und mit ihrer Hilfe die Okkupation des Landes durch die k. (u.) k. Truppen unterstützte und absicherte. Nach der Errichtung einer Besatzungsverwaltung durch die Armee wurde er, wie andere „Albanienkenner“ auch, des Landes verwiesen. Die Militärführung war ihrer besserwisserischen und widersprüchlichen Ratschläge überdrüssig und unterstellte nicht zuletzt Nopcsa, weiterhin eigene politische Ambitionen im Land zu verfolgen. Nopcsa kehrte nie mehr nach Albanien zurück. Vor allem während der ersten Reisen beschreibt Nopcsa eine Vielzahl von Aspekten ausführlich und detailliert, egal ob es sich um die Architektur in der bosnischen Landeshauptstadt Sarajevo, Konflikte mit den osmanischen Behördenvertretern in Albanien, die Trachten der einheimischen Bevölkerung oder die Anatomie eines zum Verkauf stehenden Pferdes handelt. Die späteren Kapitel sind episodischer und weniger linear erzählt und enthalten neben einer weiterhin großen Vielfalt an niedergeschriebenen Eindrücken vermehrt auch erkennbar später eingefügte, oftmals polemische Bemerkungen und Überlegungen zu kulturellen, sozialen und politischen Angelegenheiten der Zeit. Der Text endet im Januar 1917 mit den Worten: „Weitere Kriegsereignisse hatte ich keine, und Ereignisse der folgenden Jahre waren so traurig, daß ich auf deren Aufzeichnung gern verzichte.“92 Das geschriebene Ich Zu Beginn seines Manuskripts stellt Nopcsa die Frage in den Raum, warum er überhaupt plante, seine Tagebücher zu veröffentlichen: Warum veröffentliche ich meine Tagebücher? Weil ich mehr als irgendeiner meiner Standesgenossen mit vielerlei Menschen zusammengekommen bin, und weil ich mich in der verschiedenartigsten Umwelt heimisch gefühlt habe. Allenthalben sah ich, wie der Mensch in voller Überzeugung verschiedenartig ringt, allenthalben sah ich, wie 91 Nopcsa: Reisen in den Balkan, S. 348f. 92 Ebd., S. 567. Nopcsa hatte, einem Brief an Jokl zufolge, sein Notizbuch für das Jahr 1918 verloren, was den recht abrupten Abbruch erklären würde. Robert Elsie: Einleitung des Herausgebers. In: Nopcsa: Reisen in den Balkan, S. i–xiv, hier S. vi.

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die Blätter sprießen und verwelken, und ich kam zum Resultate, daß wir umsonst von absoluten Werten faseln.93

In dieser Antwort nimmt Nopcsa für sich eine interessenlose und unparteiische Perspektive beim Rückblick auf die von ihm beschriebenen turbulenten und konfliktgeladenen Zeiten in Anspruch, die er vor allem aus seiner transkulturellen Erfahrung herleitet. Sein Rückblick ist relativistisch und desillusioniert zugleich. Nopcsa legt ausführlich dar, welche intellektuellen Fertigkeiten er im Zuge seines Studiums in Wien sich aneignen und entwickeln konnte. Dies waren eine große Eigenständigkeit bei der Erschließung neuer Wissensfelder, Präzision und Akkuratesse bei der Beschreibung wissenschaftlicher Gegenstände, systematisches Denken in der Analyse und couragiertes Vorgehen beim Vortrag und der Verteidigung eigener Erkenntnisse. Wer seine biographischen Schriften liest, dem entgeht jedoch nicht, dass ein starker Hang zu Arroganz und Wichtigtuerei, zu polemischem und aggressivem Verhalten sowie ein auffälliger Mangel an Empathie zur Kehrseite seines Charakters gehörten. Nopcsa begegnete dem Gegenstand seines Interesses mit großer Intuition und oftmals obsessiver Hingabe. Für die Perspektiven und Interessen Dritter war er blind. Nopcsa erklärte die physiologischen Effekte seiner Reisen mit Hilfe eines dynamischen und produktiven Energiemodells. Unter dem Eindruck des unabhängigen, „wilden Lebens“ konnte er die Akkumulation eines internen körperlichen Energieüberschusses spüren, den er als eine Art evolutionäre Notreserve interpretierte. In der gesicherten, zivilisierten Umgebung drückte sich dieser Überschuss als eine Art Lebenslust aus und wurde normalerweise durch Sport, Geschlechtsverkehr oder kreative Arbeit abgebaut oder durch abhängige und unfreie Arbeit oder Alkohol vernichtet. Insbesondere junge Menschen und junge Völker würden einen großen Energieüberschuss produzieren. Ob die Kultur, da sie das Leben erleichtert, bei einem freien Kulturmenschen (im Verhältnis zu einem freien Wilden) eine Vermehrung des Energieüberschusses nach sich zieht oder eine Verminderung eintritt, wage ich nicht leicht zu entscheiden, glaube aber, freie Kulturmenschen sind sehr selten.94

Seinen eigenen Energieumsatz sah Nopcsa durch sein fortwährendes Hinüberwechseln zwischen den Stätten der Gelehrsamkeit in den europäischen Metropolen und der freien „Wildnis“ des albanischen Hochlands kräftig angeregt. 93 Ebd., S. 16. 94 Ebd., S. 372.

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Offensichtlich betrachtete er sich selbst als die seltene und gelungene Synthese aus befreiender Natur und produktiver Kultur. Vom europäischen Reisenden im Osmanischen Reich zum einflussreichen Stadtbewohner in Albanien, dann Anführer bewaffneter Stammeskrieger, ein Albaner unter Albanern, vielleicht gar ihr König, für Nopcsa bedeuteten diese Transformationen, sein going native, auch eine Befreiung von als Einschränkung empfundenen normativen Erwartungen. Der Höhepunkt seines Eintauchens in die nordalbanische Stammeskultur stellten die ersten Monate des Weltkrieges dar. Gestützt auf seine lokalen sozialen Verbindungen und in jeweils wechselnder einheimischer Kleidung und Haartracht, konnte sich Nopcsa trotz großer Gefahr durch die Stammesgebiete bewegen und zwischen verschiedenen einheimischen Führern und der Habsburgischen Politik und Heeresleitung verhandeln. Der Krieg bedeutete jedoch letztlich das Ende seiner heroischen Gegenwelt. Im Zeichen moderner Kriegsführung und politischen Parteienstreits verloren die Heldengestalten der albanischen Berge vor Nopcsas Augen ihre ihnen eigene Autonomie und ihre Potenz: „Die Kriege der letzten Jahre scheinen nun auch dieses Element, das seine Kraft aus seinem Selbstgefühl zog, durch Ausrotten dieses Selbstgefühls vernichtet zu haben.“95 Die Adoption der bewaffneten Kinder Europas Nopcsa schrieb es sich selbst zugute, Wissen über das zuvor weitgehend unbekannte Albanien in Europa verbreitet zu haben. Die Albaner bezeichnete er dabei wiederholt als „die bewaffneten Kinder Europas“96. Obwohl er betonte, sein Interesse sei vornehmlich wissenschaftlich gewesen und nur aufgrund der Angriffe und der Intrigen anderer habe er sich überhaupt mit Politik befasst, zeichnete er von sich selbst das Bild eines einflussreichen, fast hyperaktiven Akteurs auf diesem Feld. Politisch und intellektuell war er jedenfalls willens, sich der ebenso „kindischen“ wie „edlen“ albanischen „Naturmenschen“ anzunehmen. Nopcsa beschrieb die Kultur Albaniens als eine Art lebendiges Volksmuseum, als ein Rückzugsgebiet indogermanischen primitiven Stammeslebens.97 In seinen Memoiren und auch in seinen ethnographischen Schriften zeigt sich jedoch, dass er nicht ausschließlich an diesem „alten Albanien“ interessiert war. Gleichzeitig nahm er auch die sich überschneidenden und konfligierenden imperialen und nationalen Interessen in diesem randständigen und umkämpften Raum wahr und 95 Ebd., S. 442. 96 Siehe etwa: Franz Baron Nopcsa: Die Albaner. In: Urania 1, 2 (1913), S. 1–16. 97 Siehe sein Vorwort zu: Doda/Nopcsa: Albanisches Bauernleben, S. 3.

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hatte ein aufmerksames Auge für die Einflüsse der modernen Kultur in dieser europäischen Peripherie. Nopcsa bereiste Albanien in Zeiten bewaffneter politischer Auseinandersetzungen. Er beschreibt wiederholt, wie die prohabsburgische Stimmung in der einheimischen Bevölkerung abnahm, wofür er einerseits die Trägheit und Indifferenz, andererseits die Inkompetenz und Korruption der österreichischen Diplomatie verantwortlich machte. In dieser Grenzregion zwischen dem Habsburgischen und dem Osmanischen Imperium waren die verschiedenen außenpolitischen Institutionen und Akteure der Monarchie in dubiose Machenschaften und neidvolle Intrigen verstrickt. Eisenbahnimperialismus und Waffenschmuggel, geopolitische Projekte und Phantasien, Religionspolitik, nationalistische Agitation und Stammeskonflikte durchdrangen und überlagerten einander. Die imperiale Politik warf ihren Schatten auf diesen Grenzraum in zutiefst inkonsistenter und widersprüchlicher Weise. In diesem spannungsreichen Feld präsentierte sich Nopcsa als weitgehend autonomer Akteur, der persönlich zwischen imperialen und lokalen Autoritäten vermitteln konnte. In Wien lieferte er geheimdienstlich relevante Informationen direkt an den Außenminister, er hielt sich jedoch auch nicht zurück, seine persönlichen Einschätzungen und Meinungen in anonym verfassten Artikeln in den führenden Zeitungen zu publizieren.98 In Albanien war Nopcsa durch sein öffentlich dargestelltes going native und die Aufwendung größerer Geldsummen zu einem Teil des sozialen Systems geworden, hatte sich loyale und enge Freunde erworben und auch erbitterte Feinde gemacht. Die Intrigen und Fehden in der außenpolitischen Bürokratie des k. (u.) k. Imperiums, der „Bande von Ballhausplatz“99, beschrieb er mit der gleichen Detailfreude und teils polemischen Häme wie die sozialen Konflikte und politischen Unruhen in Albanien. Der Rolle des Imperiums als eines Kulturbringers im Südosten brachte Nopcsa zu Beginn seiner Reisen noch große Wertschätzung entgegen. Im Kontrast dazu charakterisierte er Osmanische Beamte und die türkische Herrschaft allgemein als passiv und impotent. Die Osmanischen Reformbestrebungen und speziell die Bewegung der Jungtürken kommentierte er mit Herablassung und später offener Feindschaft. Die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 fand daher seine entschiedene Zustimmung. In ihr sah er ein Anzeichen für eine aktivere und energischere Politik der Monarchie in Richtung Südosten. Nopcsa erwartete, dass eine Expansion in diese Richtung den 98 Einige der Artikel sind in die Tagebücher eingefügt, wodurch Nopcsas Autorenschaft belegt wird. 99 Nopcsa: Reisen in den Balkan, S. 194.

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Interessen beider Reichshälften entspräche und so ihre fortwährenden internen Reibereien mindern würde: Das Vorhandensein gemeinsamer Interessen ist ja nicht nur für den Zusammenhalt eines jeden Staates sondern sogar für das Zusammenhalten einer Räuberbande nötig. In jedem Augenblicke, in dem der Führer einer beliebigen, realdenkenden Einheit den Mitgliedern keine gemeinsamen Vorteile sichern kann, fällt jede Einheit, sei sie ein Staat, eine Kompagnongesellschaft oder auch nur eine Bande, naturgemäß auseinander.100

Ab 1909 zählte sich Nopcsa zur „Kriegspartei“ in der Österreich-Ungarischen Politik. Schuld an der Niederlage der Monarchie gab er einer ‚Friedenspolitik‘ der Vorkriegsjahre, welche einen erfolgversprechenden früheren ‚Waffengang‘ gegen Serbien und Russland verhindert habe.101 Mit Blick auf die Habsburgermonarchie im Vorfeld des Weltkriegs zog er das Osmanische Imperium zum Vergleich heran und räsonierte über die Bedeutung von Kultur und Rasse als letztlich entscheidende Faktoren imperialen Zusammenhalts: Die Struktur der Monarchie gemahnte in der jüngsten Vergangenheit infolge ihrer vielen Nationalitäten einigermaßen an die Türkei, wobei den Deutschen die Rolle der Osmanen, den Ungarn jene der Albaner zufiel. Die Deutschen spielten wie die Osmanen die dominierende Rolle. Die Ungarn und die Albaner waren jedoch wiederum die einzigen Nationalitäten, die keinen außerhalb der betroffenen Reiche liegenden nationalen Schwerpunkt hatten. Als Folge ergab sich also für beide Reiche, daß sogar von zentralistischem Standpunkt die einzige richtige Politik die sein konnte, bei allen verschiedenen Nationalitäten eine von außen herbeigeführte Agitation zu erschweren und finanzielle Vorteile sowie politische und nationale Vorrechte den Ungarn und Albanern einzuräumen. Der Unterschied zwischen der zentralistisch aufgefaßten Monarchie und der Türkei war darin gelegen, daß die dominierende Rasse in der Türkei ein jeder Kultur unfähiges Element, in der Monarchie jedoch ein kulturfähiges Element war.102

Im Rückblick nahm er seine Erfahrungen im Gewand eines rumänischen Hirten, nahe an der Basis der ethno-sozialen Hierarchie der ungarischen Gesellschaft, zum Ausgangspunkt für Überlegungen über die internen sozialen und nationalen Konflikte der Monarchie und über deren möglichen Ausgleich im postimperialen Raum. Nopcsa argumentierte selbst antisozialistisch und antisemitisch und 100 Ebd., S. 157–158. 101 Ebd., S. 228. 102 Ebd., S. 228–229.

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plädierte für eine notfalls erzwungene „Klassenversöhnung“, die auf nationaler Basis und auf Kosten der „Volksfremden“ stattfinden müsse. Zukünftige politische Führer sollten nach seiner – wahrscheinlich kurz vor seinem Tod geschriebenen – Einschätzung über die Erfahrung sozialer Degradierung verfügen, als entsprechende Beispiele führte er Mussolini und Hitler an.103

Fazit Carl Freiherr von Czoernig-Czoernhausen schrieb sein Leben nach Art einer Statistik der von ihm geleisteten Dienste und empfangenen Ehrungen nieder, einer symbolischen Ökonomie folgend, die er selbst tief internalisiert hatte. Sich selbst erklärte er dabei zu nicht viel weniger als zur Verkörperung eines Ideal-Beamten des Habsburgerreiches. Czoernig erlebte die revolutionären Herausforderungen und reaktionären Umgestaltungen des Imperiums ab Mitte des 19. Jahrhunderts an zentraler Stelle mit, wobei er bestrebt war, vor allem seinen aktiven Anteil an letzteren herauszustellen. Die im Text erwähnten historischen Ereignisse dienten ihm entsprechend als Motive für eine noch effektivere und problemzentrierte Ausgestaltung des Verwaltungsapparates. Dieser sollte das Rückgrat eines Ideal-Imperiums sein, das Czoernig imaginierte. In seinen biographischen Notizen entwarf er dementsprechend eine statistisch-ethnographische Idealbiographie: Die eines bürokratischen Akteurs, der erfolgreich den imperialen Raum und die imperiale kulturelle Diversität erfasst, darstellt und dadurch verwaltet. Im Gegenzug für diese Arbeit erfährt er höchste Ehrungen von offizieller Seite ebenso wie persönlich empfundene emotionale Befriedigung. Die ethnographische Diversität des Imperiums war sowohl der Hintergrund der biographischen Erfahrung des Beamten als auch das Objekt seines beruflichen Tuns. Damit war sie es, was den imperialen Beamten zu dem machte, was er war. Czoernig teilte die Ansicht, dass Ordnung und Ausgleich mittels öffentlicher Darstellung einer wissenschaftlich erhobenen und gesicherten Wahrheit über die Natur des Imperiums und die imperiale Herrschaft herbeigeführt werden könnten.104 Im Zuge der eng miteinander verbundenen Praktiken der ethnographischen Erfassung und bürokratischen Administrierung wurde die imperiale Vielfalt zu 103 Ebd., S. 355–360. 104 Dieses Denken drückte sich auch in den vielbändigen illustrierten Darstellungswerken der Monarchie aus. Siehe: Reinhard Johler/Jurij Fikfak (Hrsg.): Ethnographie in Serie. Zu Produktion und Rezeption der »österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild«. Wien 2008.

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einer geformten und verwalteten Diversität. Die Repräsentation ethnischer Vielfalt war damit eine grundlegende Funktion der bürokratischen Herrschaft im multiethnischen Imperium. Kaindl zeichnete von sich das Bild eines innovativen Wissenschaftspioniers. Für diesen waren die in den östlichen Grenzregionen der Monarchie erlebten Verhältnisse und gewonnenen Erfahrungen prägend. Die ökonomische und zivilisatorische Rückständigkeit machten den Osten zu einem wissenschaftlichen Erschließungsraum, zu einem „Neuland“ sowohl für die materielle wie auch für die geistige Arbeit, so Kaindl.105 Diese „östlichen Verhältnisse“ waren es, die ihn „angeregt und vor allem sehend gemacht“106 hatten. Im Rückblick erscheinen ihm die Konfliktfelder der Monarchie als Übungs- und Bewährungsraum für ein neues, innovatives Verständnis des eigenen Deutschseins. Das persönliche Gefühl der Zerrissenheit und die Gefahr der intellektuellen Zersplitterung werden bei ihm so in eine neue kulturelle Ganzheit überführt. Auf diese Weise bedient sich Kaindl der autobiographischen Selbstdarstellung als Form der Übermittlung seines in der Monarchie akkumulierten wissenschaftlichen Kapitals in die postimperiale Ordnung. Aus der randständigen Position in der akademischen Provinz der Bukowina heraus konnte er sich so den Anspruch auf eine nun zentrale Position innerhalb einer neuen Wissenschaftsdisziplin, der Deutschen Volkskunde, zuschreiben. In seinen autobiographischen Tagebüchern tritt Franz Baron Nopcsa als interkultureller Experte und unabhängiger Akteur in einer interimperialen Grenzzone auf. Für seine kulturellen und sozialen Grenzüberschreitungen konnte er als Aristokrat vor allem anfangs auf sein habituelles Repertoire als reisender Abenteurer, gewandter Sportsmann und intellektuell wie finanziell unabhängiger Forscher zurückgreifen.107 Für seine Existenz als Grenzgänger scheint in der postimperialen Welt weniger Freiraum existiert zu haben. Jedenfalls gelang es Nopcsa nicht, seine in den imperialen Zwischenräumen gemachten Erfahrungen dauerhaft in die Nachkriegszeit zu transferieren. Nopcsas Tagebücher erscheinen als bricolage von Feldnotizen, Anekdoten, politischen Reflexionen, polemischen Ergüssen und rückblickender Selbstbestätigung. Und ebenso sprunghaft, brüchig und oft auch unverständlich wirkt das Leben, das hier erzählt wird. Es scheint, als hätte Nopcsa bei der nie abgeschlossenen Korrektur, Neuschrift und Ergänzung seines Lebensberichtes selbst nach einer kohärenten Interpretation seines Lebens gesucht. So wie er an dem Versuch scheiterte, sich in Albanien ein eigenes Reich zu schaffen, 105 Kaindl: Selbstdarstellung, S. 3. 106 Ebd., S. 25. 107 Zudem eröffnete sich ihm dabei die Möglichkeit, frei von familiären Erwartungen und gesellschaftlichen Konventionen seine Homosexualität auszuleben.

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ergab sein Leben auch für ihn selbst am Ende keinen schlüssigen Sinn mehr. Dem Leser bietet der Text trotzdem überraschende und interessante Einsichten in einen heftig bewegten imperialen Grenzraum und ebenso in das imaginäre Imperium, das Nopcsa in seinem Kopf formte. Eine primitive, ursprüngliche, persönliche Autonomie, eine auf gemeinsamen und geteilten Interessen geformte und von diesen vorangetriebene Gemeinschaft und eine kulturelle Führerschaft, die die sozialen Konflikte von oben herab ausgleicht, dies sind die Elemente, aus denen sich Nopcsas Imperium-im-Kopf zusammensetzte. Die hier ausgeführten Fallbeispiele haben verdeutlicht, dass eine große Bandbreite an Akteuren unter die Bezeichnung Ethnographen im späten Habsburger Imperium fallen kann. Diese lässt sich sowohl auf bürokratische Eliten anwenden, die zwischen den imperialen Zentren und Subzentren zirkulierten, wie auch auf aufstrebende Wissenschaftler und reisende Abenteurer, die die Peripherien, Ränder und Zwischenräume des imperialen Raumes erforschten. Während erstere aus einer zentralen Position heraus den gesamten imperialen Horizont in den Blick nahmen und am ehesten das lebten, was sich strukturell als imperiale Biographien bezeichnen lässt108, bedeutete für andere Ethnographie als Wissenschaft ein eigenes biographisches Projekt. Sie verfolgten dabei ihre oft hochgesteckten persönlichen Ambitionen, indem sie meist in akademischen Subzentren oder protoakademischen Institutionen, wie Museen oder wissenschaftlichen Gesellschaften, eigene hochspezialisierte Ansätze zur Erforschung menschlicher Diversität entwickelten, oder indem sie ein ethno-politisches Engagement für bestimmte Nationalitäten, sei es für die eigene oder für eine adoptierte kleinere Nation, einen primitiven Stamm oder eine ethnische Gruppe, entwickelten. Ihre Biographien erscheinen marginaler in dem Sinne, als sie oft mit einem hohen Einsatz spielten, der sich dann nach dem Ende der Monarchie in anderen Verhältnissen auszahlte oder auch nicht. So unterschiedlich die Lebensläufe, ausgeübten Berufe und wissenschaftlichen Orientierungen waren, so verschieden sind auch die hinterlassenen autobiographischen Texte hinsichtlich ihres Umfangs, Schreibstils, Genres und der Absichten der Autoren. Trotzdem haben sie Entscheidendes gemeinsam: Alle Verfasser traten als Akteure auf, die mit der Ethnographie als Produktion von Wissen über die menschliche Diversität in Raum und Zeit eine hochspezialisierte wissenschaftliche Praxis zur Anwendung brachten. Die unterschiedlichen Ausprägungen derselben hängen eng mit der zeitlichen und räumlichen Verortung der Akteure im imperialen Rahmen zusammen. Diese Erfahrungen als imperial subjects waren dabei 108 Malte Rolf: Einführung: Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Großund Kolonialreichen (1850–1918). In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 5–21.

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gerade auch für die entscheidend, die ihre Praxis über das Ende der imperialen Ordnung hinweg fortführen konnten. Alle hier angeführten Autoren beschrieben, erläuterten und interpretierten in ihren Schriften zumindest Abschnitte ihres Lebens und sie taten dies in enger symbolischer Verbindung mit ihren ethnographischen Praktiken und dem imperialen Raum, in dem sie lebten und agierten. Eine dichte Lesart und vergleichende Analyse dieser Texte bietet daher die Möglichkeit, den komplexen Zusammenhang von autobiographischem Schreiben als performativer Form der Bedeutungsgenerierung, Ethnographie als sozialer und kultureller Praxis und imperialen Räumen als Erfahrungshorizonten zu erkunden.

Alexis Hofmeister

Drei Imperien – ein jüdisches Selbstbild? Autobiographische Praxis und jüdische Identität im Russischen Reich, im Osmanischen Reich und in der Habsburgermonarchie

Als der Erste Weltkrieg das Ende der ancien régimes in Ostmittel- und Südosteuropa und dem Nahen Osten einläutete, befanden sich Europas Juden buchstäblich zwischen allen Fronten.1 Deportationen, Spionagevorwürfe sowie kollektive Entrechtung, denen etwa im Russischen Reich große Teile der jüdischen Bevölkerung ausgesetzt waren, legten nahe, dass Jüdinnen und Juden als unzuverlässig und defätistisch galten.2 Jüdische Gemeinschaften müssen allen Grund gehabt haben, das Ende der kontinentalen Vielvölkerreiche herbeizusehnen. Doch bejubelte die jüdische Bevölkerung den sich abzeichnenden Sieg des Nationalstaatsprinzips? Diese Frage soll hier nicht beantwortet werden. Der über die Grenzen der einzelnen Imperien hinaus wirkende epochale Untergang imperialer Staatlichkeit ist gleichwohl Anlass, um Erfahrungen, wie sie sich insbesondere in autobiographischen Texten spiegeln, zu bilanzieren.3 Dabei werden drei voneinander höchst 1 Victor Karady: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Frankfurt/M. 1999, S. 74–108; Frank M. Schuster: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919). Köln 2004; Simon Dubnow: Geschichte eines jüdischen Soldaten. Bekenntnis eines von vielen, hrsg. v. Stefan Schreiner/Vera Bischitzky. Göttingen 2012, S. 21–22. Für die Geschichte der sich überlagernden imperialen Anspruchszonen, in denen der zahlenmäßig bedeutendste Teil der jüdischen Bevölkerung Europas lebte, vgl. Alfred J. Rieber: The Comparative Ecology of Complex Frontiers. In: Alexei Miller/Alfred J. Rieber (Hrsg.): Imperial Rule. Budapest, New York 2004, S. 177–207, insbesondere S. 200. 2 Eric Lohr: The Russian Army and the Jews: Mass Deportation, Hostages, and Violence during World War I. In: Russian Review 60 (2001), S. 404–419; Alexander Victor Prusin: Nationalizing a Borderland. War, Ethnicity, and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914–1920. Tuscaloosa 2005, S. 24–62. 3 Ezra Mendelsohn: Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Das Ende der multinationalen Reiche in Ostmittel- und Südosteuropa aus jüdischer Perspektive. In: Dittmar Dahlmann/Anke Hilbrenner (Hrsg.): Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ostmittel- und Südosteuropa 1918–1945.

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verschiedene und innerlich sozial gespaltene Gruppen über imperiale Grenzen hinweg miteinander in Beziehung gesetzt. Am ehesten hätten wohl die Juden im Osmanischen Reich Grund gehabt, die rigiden Grenzziehungen des modernen Nationalstaats zu fürchten.4 Sie lebten überwiegend in multiethnischen Zentren wie Salonika [Thessaloniki] und Istanbul, Izmir [Smyrna] und Edirne [Adrianopel]; sie sprachen Ladino, das ins Osmanische Reich mitgebrachte Altkastilisch der Sephardim [Spaniolen], das man in hebräischer Rashi-Kursive (solitreo) notierte. Nicht zuletzt garantierte der osmanische Staat die innere Autonomie der Juden.5 Auch die Habsburgermonarchie durfte aus jüdischer Sicht als sicherer Hafen gelten. Hier erfreute sich die jüdische Bevölkerung unterschiedlicher Grade der Selbständigkeit. Die vor allem im östlichen Grenzsaum der Doppelmonarchie lebenden Juden erlangten – etwa in Galizien und der Bukowina – zwar nie den Status einer anerkannten nationalen Minderheit.6 Doch sie kamen dem Status einer konfessionell und sprachlich eigenständigen Volksgruppe nahe. Der Bukowina-Ausgleich von 1910 hätte auf Basis der Volkszählungsdaten zur Einrichtung einer jüdischen nationalen Kurie führen sollen. Letztlich entschied Wien anders, sich dabei freilich auf die Stimme der jüdischen Orthodoxie berufend. Man ordnete die Juden der Bukowina, die sich im Alltag zumeist des Deutschen bedienten, den ethnischen Deutschen zu.7 In der ungarischen Reichshälfte identifizierte sich Paderborn u. a. 2007, S. 13–30, hier S. 14–15; Dan Diner: Between Empire and Nation State. Outline for a European Contemporary History of the Jews, 1750–1950. In: Omer Bartov/ Eric D. Weitz (Hrsg.): Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands. Bloomington, Indianapolis 2013, S. 61–80. 4 Esther Benbassa/Aron Rodrigue: The Sephardim Confront the Nation-State. In: dies. (Hrsg.): Sephardi Jewry. A History of the Judeo-Spanish Community, 14th–20th Centuries. Berkeley, Los Angeles, London 2000, S. 89–105. Zum Übergang Salonikas in griechische Hand nach 1912 und den jüdischen Reaktionen darauf: Mark Mazower: Salonica, City of Ghosts: Christians, Muslims and Jews, 1430–1950. New York 2005, S. 280–282, 375–391. 5 Esther Benbassa/Aron Rodrigue: Community Structures and Autonomy. In: dies. (Hrsg.): Sephardi Jewry, S. 16–26. 6 Nur in Galizien und der Bukowina durften die Vertreter des jüdischen Nationalgedankens auf einen Sitz im Wiener Reichsrat hoffen. Als bei den Reichsratswahlen von 1907 erstmals das allgemeine Wahlrecht für Männer zur Anwendung kam, warb Nathan Birnbaum (1864–1937) um die Stimmen der ostgalizischen Wähler. Auf der Czernowitzer Konferenz wurde Jiddisch 1908 zu einer nationalen Sprache des Judentums erklärt. Jess Olson: Nathan Birnbaum and Jewish Modernity. Architect of Zionism, Yiddishism, and Orthodoxy. Stanford (Calif.) 2013, S. 158–208. 7 Albert Lichtblau/Michael John: Jewries in Galicia and Bukovina, in Lemberg and Czernowitz: Two Divergent Examples of Jewish Communities in the Far East of the Austro-Hungarian Monarchy. In: Sander Gilman/Milton Shain (Hrsg.): Jewries at the Frontier. Accomodation, Identity, Conflict. Urbana, Chicago 1999, S. 29–66, hier S. 44 und 54.

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vor allem die jüdische Besitz- und Bildungselite mit der Politik der Magyarisierung.8 Die fortschreitende Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung Galiziens, die sich in einer massenhaften Abwanderung etwa nach Budapest und Wien sowie gen Übersee niederschlug, ließ sich auch jenseits der Grenze im Russischen Reich beobachten.9 Nur schien die Lage der jüdischen Bevölkerung dort wegen ihrer Konzentration in den Kleinstädten der westlichen Grenzgebiete, ihrem demographischen Gewicht von etwa fünf Millionen Menschen, zunehmenden sozialen Konflikten sowie der wechselhaften Politik des Zarenreiches deutlich düsterer zu sein. Bereits wegen der gegen Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig auftretenden Pogrome ist nicht von einer unbedingten Kaisertreue der jüdischen Bevölkerung auszugehen.10 Im Russischen Reich galten die Juden einerseits als ethnisch und religiös „Fremde“, doch andererseits bemühte sich der zarische Staat um die selektive Integration der gebildeten und ökonomisch potenten jüdischen Elite. Jüdinnen und Juden wurden im Russischen Reich eher unfreiwillig zu Imperial Subjects.11 Die jüdische Bevölkerung der drei Imperien kann also in ganz unterschiedlichem Ausmaß als osmanisches, russländisches oder habsburgisches bzw. österreich-ungarisches Judentum bezeichnet werden. Identifikation mit dem Imperium und Prägung durch seine Instanzen hingen von sozialer Lage, regionaler Herkunft sowie persönlichem Zugang zur imperialen Administration ab. Wenn davon ausgegangen wird, dass die jüdischen Bevölkerungsgruppen im Russischen, Habsburger- und Osmanischen Reich beispielhaft unterschiedliche Fälle imperialer Judenheiten repräsentierten, so heißt das nicht, dass darüber die Unterschiede zwischen den Reichen sowie der modellhafte Charakter des Konzepts außer Acht gelassen würden. Es wird lediglich davon ausgegangen, dass die imperiale Erfahrung sich als wirkmächtig genug erwies, um in autobiographischen Selbstentwürfen auch 8 Viktor Karady: Demography and Social Mobility: Historical Problem Areas in the History of Contemporary Jewry in Central Europe (with special reference to Hungary). In: Yehuda Dov/Victor Karady (Hrsg.): A Social and Economic History of Central European Jewry. New Brunswick, London 1990, S. 83–117, hier S. 101; Karady: Gewalterfahrung und Utopie, S. 92–94. 9 Eli Lederhendler: Down and Out in Eastern Europe. In: ders. (Hrsg.): Jewish Immigrants and American Capitalism, 1880–1920. From Caste to Class. Cambridge 2009, S. 1–37. 10 John D. Klier: Why were Russian Jews not „kaisertreu“? In: ab imperio 4 (2003), S. 41–58; Kenneth Moss: At Home in Late Imperial Russian Modernity – Except When They Weren’t: New Histories of Russian and East European Jews, 1881–1914. In: Journal of Modern History 84 (2012), S. 401–452. 11 Zum Staatsbürgerschaftsverständnis und der damit verknüpften Namenspolitik: Eugene M. Avrutin: Jews and the Imperial State. Identification Politics in Tsarist Russia. Ithaca u. a. 2010.

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nach dem Epochenjahr 1917 eine Rolle zu spielen. Immerhin standen die Juden der Habsburgermonarchie sowie des Osmanischen und Russischen Reichs in den Staaten, in denen sie nach 1919 lebten, vor ähnlichen Herausforderungen.12 Sie schulterten imperiale Erbschaften, wenn auch von unterschiedlicher Ausprägung und historischer Bedeutung. Für den Literaturwissenschaftler Christoph Miething ist eine genuin jüdische Autobiographik im Sinne einer eigenständigen Tradition nicht denkbar; sie stellt für ihn geradezu eine contradictio in adiectio dar.13 Jüdische Autobiographen hätten sich vielmehr durchweg christlicher, wenigstens aber säkularisierter christlicher Vorbilder bedient. Entsprechenden Texten käme daher keine charakteristische Gattungseigenschaft zu. Darüber hinaus hätte es an interessierten jüdischen Lesern gefehlt. Die Existenz einer jüdischen Öffentlichkeit bezweifelt Miething; autobiographische Texte aus jüdischer Feder hätten sich stets auch an ein nichtjüdisches Publikum gerichtet. Sie wären ohne Rücksicht auf nichtjüdische Leser gar nicht entstanden. Mir scheint die Existenz jüdischer Autobiographik samt dem zweifellos vorhandenen Bezug auf nichtjüdische autobiographische Texte und Praktiken genügend historische Signifikanz zu besitzen, um nicht einfach vernachlässigt zu werden. Davon einmal abgesehen, kann die Untersuchung autobiographischer Praktiken nicht von vornherein allein der Religions- oder Literaturwissenschaft überlassen werden.14 Ungeachtet biographischer Erzählformen, wie sie bereits biblische Texte überliefern, setzt die Überlieferung autobiographischer Texte aus jüdischer Feder spätestens in der Frühen Neuzeit ein.15 Die Konstruktion 12 Ezra Mendelsohn: The Jews of East Central Europe Between the World Wars. Bloomington (Ind.) 1983, S. 1–8, S. 255–258; Predrag Bukovec: Ost- und Südosteuropäische Juden im 19. und 20. Jahrhundert. In: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG). Mainz 2011-07–13. URL:http://www.ieg-ego.eu/bukovep–2011-de URN: urn:nbn:de:0159–2011050965 (Letzter Zugriff 09.06.2015). 13 Christoph Miething: Gibt es jüdische Autobiographien? In: ders. (Hrsg.): Zeitgenössische jüdische Autobiographie. Tübingen 2003, S. 43–73. Dazu zuletzt kritisch: Constantin Sonkwé Tayim: Narrative der Emanzipation. Autobiographische Identitätsentwürfe deutschsprachiger Juden aus der Emanzipationszeit. Berlin u. a. 2013, S. 58–73. 14 Marcus Pyka: Jewish Studies. In: Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar 2009, S. 414–418. 15 David Kaufmann (Hrsg.): Die Memoiren der Glückel von Hameln 1645–1719. Frankfurt a. M. 1896; Matthias Morgenstern: Unterwegs in symbolischen Räumen. Mobilität in der späten jüdischen Vormoderne am Beispiel der Glückel von Hameln. In: Henning P. Jürgens/Thomas Weller (Hrsg.): Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa. Göttingen 2010, S. 59–74; David Kahana [Kohn] (Hrsg.): Megillat Sefer. Bücher der Geschichten und Erinnerungen […] Jacob Israel Emdens die er selbst geschrieben hat (hebräisch).

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des modernen jüdischen Selbst im 19. Jahrhundert bliebe ohne die Berücksichtigung Osteuropas unvollständig.16 Andererseits eröffnen sich neue Einsichten zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung im Russischen und Osmanischen Reich sowie in Österreich-Ungarn, wenn die Entstehungskontexte der autobiographischen Praktiken nicht aus dem Blick verloren werden.17 Hier werden die Begriffe Autobiographik sowie autobiographische Praxis benutzt, weil zeitgenössische Bezeichnungen wie Autobiographie, Memoiren oder Erinnerungen als Begriffe der Quellen selbst Teil autobiographischer Paratexte sind und an Distanz zu wünschen übrig lassen. Jochen Hellbeck – ein Kenner der Sowjetzeit – sprach in Bezug auf Texte des 20. Jahrhunderts von autobiographischen Praktiken. Der Begriff betont die aktive Gestaltung der Selbstwahrnehmung (notion of the self), die eng mit der Selbstrepräsentation von Autobiographinnen und Autobiographen zusammenhing. Zweitens verwies Hellbeck auf die Abhängigkeit autobiographischer Selbstbilder von anerkannten Institutionen und Möglichkeiten der Selbstrepräsentation sowie von den Grenzen des Sagbaren. Schließlich bedürfe die Forschung einer Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes und dürfe Formen und Medien öffentlichen Ausdrucks wie Reden, fotografische und gemalte Selbstporträts, öffentliche Auftritte und Filme nicht außen vor lassen.18 Auch außerhalb

Warschau 1896 [teilweise veröffentlicht in: Ha-Me’asef (Der Sammler) 9 (1810), S. 79–97]; Jacob J. Schacter: History and Memory of Self: The Autobiography of Rabbi Jacob Emden. In: Elisheva Carlebach/John M. Efron/David N. Myers (Hrsg.): Jewish History and Jewish Memory. Essays in Honor of Yosef Hayim Yerushalmi. Hanover, London 1998, S. 428–452; Jos. Seligmann (Hrsg.): Aron Isaks sjelfbiografi efter författarens handskrift (deutsch). Stockholm 1897; Bettina Simon: Einleitung. In: Marie und Heinrich Simon (Hrsg.): Aaron Isaak. Lebenserinnerungen. Berlin 1994, S.11–38; Abraham Kahana (Hrsg.): (Sefer) Hayyei Yehuda [(Buch vom) Leben des Jehuda]. Kiev 1911; Natalie Zemon Davis: Ruhm und Geheimnis. Leone Modenas »Lebens Jehudas« als frühneuzeitliche Autobiographie. In: dies.: Lebensgänge. Glikl, Zwi Hirsch, Leone Modena, Martin Guerre, Ad me ipsum. Berlin 1998, S. 41–56; Moses Ginsburger (Hrsg.): Die Memoiren des Ascher Levy aus Reichshofen im Elsass (1598–1635). Berlin 1913; Mark Wischnitzer (Hrsg.): Die Erinnerungen des Ber von Bolechow (1723–1805) (hebräisch). Berlin 1922 (zeitgleich jiddisch und englisch); Roman Marcinkowski: Jews in Eastern Galicia in the Light of the Memoirs of Dov Ber of Bolechow. In: Studia Judaica 5 (2002), S. 41–58. 16 Marcus Moseley: The „Children of Jean Jacques“ in Jewish Eastern Europe. In: ders. (Hrsg.): Being for Myself Alone: Origins of Jewish Autobiography. Stanford 2006, S. 13–17. 17 Beispielhaft: Aron Rodrigue/Sarah Abrevaya Stein: Editors’ Introduction. In: dies. (Hrsg.): A Jewish Voice from Ottoman Salonica. The Ladino Memoir of Sa’adi Besalel a-Levi. Stanford (Calif.) 2012, S. XIII–LX, insbesondere: S. XXI–XXXVIII. 18 Jochen Hellbeck: Introduction. In: ders./Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia / Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 12–13.

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der Grenzen der Zeitgeschichte bewährt sich der Begriff der autobiographischen Praktik, wie ihn Hellbeck als Arbeitsbegriff vorgeschlagen hat.

Erfahrene Welt – Erinnertes Leben Die frühesten modernen jüdischen Autobiographien entstanden im Russischen Reich sowie in der Habsburgermonarchie im Zuge der Auseinandersetzung um die jüdische Aufklärung (haskala). Sie erwiesen sich gerade wegen der Eignung autobiographischer Texte zum Bekenntnis als wirkmächtige Texte. Dabei bestand der entscheidende Schritt nicht in der passiven Lektüre. Die Reflexion über das eigene Ich eröffnete vielen jungen jüdischen Aufklärern einen Ausweg aus der krisenhaft empfundenen Situation der eigenen Generation. Mit dem Verfassen einer Lebensbeschreibung trat der Einzelne ganz bewusst in den Dialog der jüdischen république des lettres ein. Die Autobiographie versah die schmerzhaft empfundenen Brüche der eigenen Biographie mit Sinn. Neben das ausgeprägte Bewusstsein für individuelle wie kollektive Krisen trat die Orientierung am Lebensweg idealisierter Vorbilder. Die Lichtsymbolik der europäischen Aufklärung verband sich dabei mit einer religiös anmutenden Semantik, etwa wenn vom Licht die Rede war, das von Berlin ausgehe. Wer auf herausragende Biographien wie die Moses Mendelsohns (1729–1786) oder Salomon Maimons (1753–1800) Bezug nahm, signalisierte damit neben der Kenntnis weltlicher Wissenschaft die Bereitschaft, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.19 Die autobiographischen Texte der jüdischen Aufklärer Osteuropas zeichneten sich durch eine klare Akteursperspektive aus. Die Beschreibung der eigenen Bildungsbiographie wurde als praktische Anleitung zum Ausgang aus individueller wie kollektiver Unmündigkeit begriffen. Autobiographisches Schreiben setzte eine bestimmte Haltung voraus; es war eine Handlung mit sozialem Sinn. Nicht zuletzt wegen ihrer didaktischen Qualitäten wurde die Autobiographie zum aufklärerischen Genre par excellence. Jüdische Aufklärer benutzten sie zur Popularisierung biographischer Rollenbilder. Man hat sogar von einer Art kollektiver Autobiographie der osteuropäischen 19 Die deutschsprachige Autobiographie Salomon Maimons wurde im Gegensatz zu der hebräischen Mendelsohnbiographie Isaak Euchels (1756–1804) in Osteuropa erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrgenommen. Isaak Euchel: Die Geschichte des Lebens unseres weisen Lehrers Moses, Sohn des Menachem (hebräisch). Berlin 1788, ins Deutsche übers. v. Reuven Michael, in: Ismar Elbogen u. a. (Hrsg.): Moses Mendelsohn. Gesammelte Schriften – Jubiläumsausgabe Bd. 23. Stuttgart, Bad Cannstatt 1998, S. 102–257); Karl Philipp Moritz (Hrsg.): Salomon Maimons Lebensgeschichte, von ihm selbst geschrieben. Berlin 1793.

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jüdischen Aufklärung gesprochen, zu der sich die entsprechenden programmatischen Texte zusammenfügten.20 Innerhalb dieses Korpus stritten gemäßigte mit radikalen Lebensentwürfen um die Vorherrschaft. Der Lebensweg des jüdischen Aufklärers, wie er uns als idealtypischer Bildungsroman in vielen autobiographischen Texten entgegentritt, folgte den Stationen der Bildungskarriere. Die Orientierung an überindividuellen Mustern lässt wiederum Aussagen zum zeitgenössischen jüdischen Selbstbild zu. Die jüdische Kindheit wurde vor allem aus der Perspektive des über den verfrühten Besuch der Elementarschule (cheder) unglücklichen Knaben geschildert. Die säkulare Wissenschaft rief den jugendlichen Helden bald darauf zum Ausbruch aus der zu früh geschlossenen Ehe, die in der Regel keine Liebesheirat war. Dem von charismatischen Führern verkörperten Chassidismus entkam der Biographierte nur durch Flucht oder äußeres Eingreifen. Gleichaltrige oder väterliche Freunde spielten hierbei eine wichtige Rolle. Ein weiterer Topos war die Bildungsreise, von der der männliche Held mit neuen Kenntnissen und Erfahrungen zurückkehrte, die er nun an seine Glaubensbrüder weitergeben wollte. Steter Bezugspunkt blieb der Konflikt mit den feindlich gesonnenen Kräften in der eigenen Familie, im örtlichen Bethaus oder in der Gemeindeoligarchie. Sollten diese überhandnehmen, konnte nur ein Mäzen die intellektuelle Unabhängigkeit des jugendlichen Helden garantieren. Beispiele für die zentrale Bedeutung des Fortschrittsnarrativs in der jüdischen Autobiographik des 19. Jahrhunderts werden im Folgenden detailliert vorgestellt. Weitere autobiographische Texte aus dem Russischen Reich, dem Osmanischen Reich sowie der Habsburgermonarchie vervollständigen das Bild.

Ende einer Selbstzivilisierungsmission – Der erste jüdische Student im Russischen Reich Leon Iosipovič (Arje Löb) Mandel’štam (1819–1889) kam in Novy Žagory (lit. Žagarė), einem kleinen Ort an der Grenze zwischen den Gouvernements Vil’na und Kurland zur Welt.21 Die jüdische Bevölkerung beider Gouvernements wurde nach dem Untergang der Adelsrepublik Polen-Litauen 1795 zu russländischen Untertanen. Für kurländische Juden galt Ansiedlungsfreiheit im gesamten Reich, falls sie 1835 bereits registriert waren. Insofern gehörte Kurland nur mit Einschränkungen zum Ansiedlungsrayon. Mandel’štams Vater sorgte für traditionelle wie 20 Shmuel Werses: Portrait of the Maskil as a Young Man. In: Shmuel Feiner/David Sorkin (Hrsg.): New Perspectives on the Haskalah. Portland (Or.), London 2001, S. 128–143. 21 Seit 1842 lag Novy Žagory im neu errichteten Gouvernement Kovno (lit. Kaunas).

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zeitgemäße Lektüre bei der Ausbildung seines Sohnes. Neben dem Talmud studierte der Heranwachsende die Mendelssohnsche Bibelübersetzung sowie säkulare Literatur. Bereits mit 17 Jahren verließ er sein Vaterhaus, um wie üblich nach der Eheschließung im Haushalt der Schwiegereltern zu leben. Schnell trennte er sich jedoch von seiner Frau und konzentrierte sich auf seine philologischen Studien. Nach Fürsprache des Ministers für Volksbildung Sergej S. Uvarov (1786–1855) durfte Mandel’štam am Gymnasium in Vil’na als Externer die Aufnahmeprüfung für die Moskauer Universität ablegen. 1844 beendete Mandel’štam – inzwischen in St. Petersburg – sein Studium mit einer Dissertation zum Staat in der Bibel.22 Er trat in den Dienst des Volksbildungsministeriums und wirkte dort am Projekt der Reform der staatlichen jüdischen Schulen mit. Bereits 1843 nahm er an den Beratungen der Kommission zur Aufklärung der Juden teil. Mandel’štam wurde 1846 zum Jüdischen Experten ernannt und damit zum zentralen Verantwortlichen für die Vorhaben des Staates im Bereich der säkularen jüdischen Bildung. Bis zu seiner Abberufung von diesem Amt im Jahr 1857 beeinflusste er maßgeblich die Curricula der zehn Jahre zuvor eröffneten Rabbinerseminare in Vil’na und Žitomir.23 Von 1850 bis 1865 war die Mandel’štamsche Bibelausgabe mit Mendelsohns deutscher Pentateuch-Übersetzung in lateinischer Schrift obligatorisch für den dortigen Unterricht vorgesehen. Nach 1857 veröffentlichte Mandel’štam – zeitweise im Ausland lebend – Belletristik, Lyrik sowie politische Publizistik. Mandel’štam starb 1889 auf einer Petersburger Newafähre und wurde zunächst als Namenloser in einem christlichen Grab beigesetzt. Nachdem der Leichnam identifiziert werden konnte, wurde er auf den jüdischen Friedhof St. Petersburgs umgebettet. In seinen 1839–1840 verfassten Erinnerungen versah Mandel’štam die Grenzlage seines Geburtsortes mit Bedeutung für seine spätere Entwicklung: „Wenn das Štetl auch physisch zum Vil’naer Gouvernement gehören mag, so zeichnet es sich doch durch den Geist der kurländischen Aufklärung aus, so dass ich mich gewöhnlich für einen Kurländer halte und so nenne.“24 Damit stilisierte sich Mandel’štam zum Grenzgänger zwischen Ost und West.25 Doch dem Licht der 22 Programmatische Passagen der Dissertationsschrift wurden veröffentlicht als: Lev Mandel’štam: Biblejskoe gosudarstva [Der biblische Staat]. In: Evrejskaja Biblioteka [Die Jüdische Bibliothek] 1 (1871), S. 102–134. 23 Verena Dohrn: Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2008, S. 122, S. 223–228. 24 Lev Iosifovič Mandel’štam: Iz zapisok pervogo evreja-studenta v Rossii [Aus den Aufzeichnungen des ersten jüdischen Studenten in Rußland], hrsg. v. S. M. Ginzburg. In: Perežitoe [Erlebtes] 1 (1910), S. 1–50, hier S. 13. 25 Trude Maurer: Die Westjuden des Russischen Reiches? Überlegungen zur Akkulturation der Juden in Kurland. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 54 (2005),

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Aufklärung, das in Kurland hell geschienen habe, sei er von jeher näher gewesen. Er betonte, seiner „armen“ Nation dienen zu wollen. Das hieß für ihn, die jüdische Bevölkerung des Zarenreiches aus den ihm mittelalterlich anmutenden Verhältnissen mittels Aufklärung und Bildung in eine lichte Zukunft zu führen. Im Gegensatz zu Grigorij Bogrov – dem Verfasser einer bereits in den 1860er Jahren in russischer Sprache erschienenen Autobiographie – kam für Mandel’štam eine Konversion offensichtlich nicht in Frage.26 In seinem autobiographischen Text spielten familiäre Verhältnisse abgesehen von der Mitteilung der Trennung von seiner Frau keine Rolle. Das unbedingte Streben nach Bildung entfremdete den Biographierten einerseits von seinen Schwiegereltern und führte ihn andererseits an die Moskauer Universität. Im Lebenslauf, den er seiner Bitte um Zulassung zur universitären Aufnahmeprüfung beifügte, stellte er insbesondere seinen Bildungseifer heraus und betonte seinen festen Glauben an die Selbstzivilisierungsmission im Hinblick auf seine „unglücklichen jüdischen Glaubensgenossen und Brüder“. Um vom religiösen Textverständnis zur wissenschaftlichen Philologie zu gelangen, überschritt Mandel’štam zunächst topographische Grenzen. Doch im Gegensatz zu Salomon Maimon reiste er, um ins imperiale Zentrum zu gelangen, von West nach Ost. Auf seiner Reise nach Moskau passierte er die Grenze des jüdischen Ansiedlungsrayons. Dabei bekannte er: Vor mir liegt eine neue Tätigkeitssphäre, eine neue Lebensform, neue Menschen, neue Verhältnisse, neue Vergnügen. Hinter mir liegt die verflossene Kindheit, das zurückgelassene Heimatland, […] die gute Seele meines Volkes, die mir soviel Anteilnahme und Verdruss, soviel Verbundenheit und Zorn, soviel Mitgefühl und Empörung bereitet hat. Ich überschlage ihre Sünden und Strafen, ihre Mängel und Qualen – und mir wird so betrübt in der Seele, dass ich es fast bereue, dass ich sie so streng getadelt habe.27

Zwar gaben Mandel’štam die aufgeklärten Zeiten berechtigten Anlass zur Hoffnung. Doch die Großstadt Moskau stürzte ihn in eine Sinnkrise: Er fragte sich, wer er sei und was er hier fern der Heimat tue.28 Nach der Überwindung dieser ersten Zweifel konnte sich der Held der autobiographischen Erzählung jedoch seinen Studien widmen und nebenbei seine erste Gedichtsammlung herausgeben. S. 2–23. 26 G. I. Bogrow: Memoiren eines Juden, aus dem Russischen übersetzt von M. Ascharin. St. Petersburg 1880. Der Text wurde zunächst auf Russisch in Otečestvennye zapiski (Vaterländische Notizen), einem Sprachrohr der liberalen Öffentlichkeit zwischen 1871 und 1873, publiziert. 27 Mandel’štam: Iz zapisok pervogo evreja-studenta, S. 39–40. 28 Ebd., S. 44–48.

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Weil sich die Grenzen des Sagbaren verschoben hatten, konnte Mandel’štam 1910 als Kronzeuge einer Bildung im Sinne nationalkultureller Vervollkommnung angeführt werden. Die aus der ersten Jahrhunderthälfte stammenden Erinnerungen des ersten jüdischen Studenten in Russland, eine Schrift aufklärerischer Apologetik, wurde 1910 in einem Sammelband zum kulturellen Erbe des russländischen Judentums von Saul Ginzburg veröffentlicht. Auch der „radikalste jüdische Aufklärer seiner Zeit“, der sich dem Vorwurf des „Assimilationismus“ ausgesetzt gesehen hatte, sollte nun ins Pantheon der russisch-jüdischen Kultur einziehen.29 Weil er seine Liebe zum jüdischen Volk, von dem er als „Nation“ sprach, betonte, passte Mandel’štam in das Konzept des Herausgebers Saul Ginzburg. Das Ziel des neuen Journals Perežitoe [Erlebtes] bestand ausdrücklich darin, die umfangreichste Sammlung jüdischer Selbstzeugnisse zu sein, was nach Meinung der Herausgeber einem tiefempfundenen Bedürfnis des jüdischen Publikums entsprach.30 In der Vorrede zur Veröffentlichung von Mandel’štams Text nannte Saul Ginsburg seine Motive für die Publikation der Autobiographie. Den Wert der Schriftstücke aus dem Nachlass begründete er vor allem mit dem Zeugnischarakter der Aufzeichnungen sowie der Scharfsinnigkeit der Urteile des Verfassers. Ginzburg hob den kulturhistorischen Reichtum der Schilderungen sowie die starke Liebe Mandel’štams zum jüdischen Volk hervor. Die Lebensgeschichte Mandel’štams, des ersten jüdischen Studenten an einer hauptstädtischen Universität, demonstriere die besondere Bedeutung des Faktors Bildung. Ein aufschlussreicher Unterschied zwischen dem vergangenen und dem zeitgenössischen Jahrhundert bestehe in der Haltung des Staates gegenüber seinen bildungsbeflissenen jüdischen Untertanen. Während sich seinerzeit Volksbildungsminister Uvarov persönlich für Mandel’štam verwandt hätte, erschwerten nun rigorose Prozentnormen der russländischen Hochschulen, aber auch strikte Quotierungen bei der Zulassung zum Staatsdienst den Bildungsaufstieg vieler Juden. Indem Mandel’štams tragisches Ende sowohl in dem biographischen Eintrag der Evrejskaja Ėnciklopedija [Jüdischen Enzyklopädie], der maßgeblichen zeitgenössischen Wissenssammlung zum Judentum in russischer Sprache als auch vom Herausgeber seiner Erinnerungen herausgehoben wurde, erschien es nun, als habe Mandel’štam, der ausgezogen war, seinen Glaubensbrüdern das Licht der Aufklärung zu bringen, sich vergeblich auf den

29 Michael Stanislawski: Tsar Nicholas I. and the Jews. The Transformation of Jewish Society in Russia 1825–1855. Philadelphia (Penn.) 1983, S. 103. 30 [S. M. Ginsburg u. a.] Ot sostavitelej [Von den Herausgebern]. In: Perežitoe [Erlebtes] 1 (1910), S. I–IV, hier S. II.

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Weg nach Moskau gemacht.31 Während die Juden die Werte der europäischen Aufklärung hochhielten, bestand die nichtjüdische Welt auf ihrer Exklusion – so die Botschaft von 1910.

Chaim Aronsons Lebensuhr – Testament eines Selfmademans aus der Provinz Chaim Aronson (1825–1889) stammte aus Srednik (Seredžius), einer litauischen Kleinstadt nahe Kovno (Kaunas).32 Die seit dem späten 18. Jahrhundert in Srednik siedelnden Juden lebten vor allem vom Holzhandel.33 Gegen den erklärten Willen seines Vaters eignete sich Chaim säkulares Wissen an. Bereits sehr früh habe er hebräisch sprechen können – so behauptet er in seiner Lebensgeschichte, später brachte er sich selbst Russisch und Deutsch bei. Mit knapp 14 Jahren entfloh Aronson der Enge seines Heimatortes erstmals, kehrte aber erfolglos zurück. Bald darauf verließ er Srednik erneut, um für ein halbes Jahr an der yeshive (Talmudhochschule) von Keidan (Keidaniai) zu lernen.34 Der mit einer schönen Schrift begabte sowie einer guten räumlichen Vorstellungsgabe ausgestattete junge Mann, der darüber hinaus von technischen Apparaten fasziniert war, ging schließlich nach Vil’na (Vilnius), wo er seine Bildungskarriere fortsetzte.35 Doch er musste sich nach seinen Studien an der yeshive als Elementarschullehrer (melamed) durchschlagen. Erst 1848 erwarb er im kurländischen Mitau (Jelgava) Kenntnisse des Uhrmacherhandwerks. Aronson beschäftigte sich bereits vor seiner Übersiedlung nach Petersburg in den frühen 1870er mit dem Bau fotografischer Apparate. Er erdachte Fahrkartenautomaten und Korkenmaschinen und konstruierte ein

31 Leon Iosifovič Mandel’štam. In: Evrejskaja Ėnciklopedija [Jüdische Enzyklopädie] Bd. 10. St. Petersburg 1913, S. 592. 32 Der Titel toledot chaim (»Geschichte des Lebens«) ließ sich als »Geschichte Chaims« lesen. Chaim (hebräisch für »Leben«) starb nicht wie sieben seiner Geschwister im frühen Kindesalter. Chaim Aronson: A Jewish Life under the Tsars. The Autobiography of Chaim Aronson, 1825–1888, hrsg. v. Norman Marsden. Totowa 1983, S. 288 (Fußnote 1) und S. 12. 33 Berl Kagan: yidishe shtet, shtetlech un dorfishe yishuvim in lite [Jüdische Städte, Städtchen und dörfliche Siedlungen in Litauen]. New York 1990, S. 343–346. 34 Aronson: A Jewish Life, S.  61–68. Für die Wege jüdischen Schriftstudiums: Shaul Stampfer: »Heder« Study, Knowledge of Torah, and the Maintenance of Social Stratification in Traditional East European Jewish Society. In: Studies in Jewish Education 3 (1988) S. 271–289. 35 Aronson: A Jewish Life, S. 90.

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Mikrodiorama.36 Eine von ihm entwickelte Zigarettenmaschine konnte pro Stunde etwa 2500 Zigaretten produzieren und verpacken. Dies sorgte auf der Moskauer Industrieausstellung von 1882 für Aufsehen.37 Seinen Söhnen folgend, wanderte er schließlich nach Nordamerika aus. Noch 1888 meldete er in New York ein Uhrenpatent an. Seit Aronson 1872 seine ersten Erfahrungen mit der Geschäftswelt St. Petersburgs machte, hielt er seine Erinnerungen schriftlich fest.38 Das Manuskript der Autobiographie umfasst 439 eng beschriebene Seiten im Hebräisch des 19. Jahrhunderts. Aronsons Lebensgeschichte zerfällt im Wesentlichen in zwei Teile. Zunächst werden die Umstände seines Lebens und seiner Bildungsbiographie bis zur Erlangung wirtschaftlicher Selbständigkeit geschildert. Danach stehen seine technischen Projekte und ihre unternehmerische Umsetzung im Mittelpunkt. Erinnert sich Aronson an seine Kindheit, bleibt der Bericht chronologisch. Der Heranwachsende legte wichtige Schritte auf dem Weg zum Erwachsenen zurück. Aronson erwähnt den ersten Besuch in der Elementarschule (cheder), den Tod seines Großvaters sowie seiner Mutter und seine ersten Schreibversuche, die er mit sieben Jahren unternommen haben will.39 Die zum Alltagsleben im Štetl mitgeteilten Beobachtungen zeichnen sich durch große Detailtreue aus. Das betrifft etwa die mystische Frömmigkeit der Chassidim aber auch die innerhalb der eigenen Familie praktizierte Magie.40 Weil Aronson zu den jüdischen Feiertagen regelmäßig ins Elternhaus zurückkehrte, bestimmte der Festkreis des jüdischen Jahres sein Leben bzw. dessen Erzählung bis zur Übersiedlung nach Petersburg Anfang der 1870er Jahre. Den Unterschied zwischen dem armen jüdischen Städtchen, aus dem er stammte, und der imperialen Metropole, in der er inzwischen lebte, fasste er so zusammen: This is how these inhabitants of small towns and villages lived and carried on their lives – and so they will go on living for ever, like the primitive dwellers of Kamchatka and Samoyed. When, therefore, I returned from the big city of Vilna I realised how

36 Eines dieser Verwandten des Guckkastens und Vorläufer des Mikrofilms befand sich 1983 noch in Familienbesitz. Aronson: A Jewish Life, S. XI. 37 Aronson: A Jewish Life, S. 250–253; C.O. Cech: Russlands Industrie auf der nationalen Ausstellung in Moskau 1882. Kritische Betrachtungen über die wichtigsten Industriezweige Russlands. Moskau 1885, S. 380–382. Allerdings wird dort nicht Aronson, sondern „ein armer Jude aus Odessa“ als Erfinder erwähnt. 38 Aronson: A Jewish Life, S. 314–343, hier S. 321. 39 Ebd., S. 16, S. 27, S. 39, S. 48, S. 65–66, S. 103. 40 Aronson: A Jewish Life, S. 57.

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poorly we had lived – although before I had ever left my father’s home I had always considered it a veritable paradise.41

Nach einer Schilderung des sozialen Elends in seinem Heimatort und in seiner Familie schaute Aronson hier auf die eigene Jugend zurück. Räumliche Abgeschiedenheit setzte er mit den Augen des Städters mit kultureller und technischer Rückständigkeit gleich. Zeit dachte er als lineares Vorrücken menschlichen Wissens. Ihrem Fortschritt, dem Progress, kam eine befreiende Wirkung zu.42 Während die zirkuläre Zeit des Štetl – von den allgegenwärtigen Rhythmen der Natur und Religion bestimmt – höchstens von historischen Ereignissen wie etwa dem Polnischen Aufstand von 1863 in Frage gestellt wurde, erlebte Aronson in der Großstadt eine andere Zeitordnung. Er folgte einer von ihm selbst bestimmten Zeiteinteilung und setzte damit auf Individualität. Nicht das Kolorit der ethnischen Gruppen in der imperialen Metropole oder historische Persönlichkeiten der russländischen Öffentlichkeit bevölkerten die Bühne der Aronsonschen Selbstbiographie. Allein die Geschichte unermüdlichen Schaffens, die Entwicklung seiner Maschinen trieb den Verlauf der Lebenserzählung an. Als Uhrmacher und Techniker war Aronson selbst an der Vermittlung der Instrumente beteiligt, die den globalen Zeitvergleich und infolgedessen die globale Synchronisierung ermöglichten.43 Seine Lebensgeschichte verdankte sich allerdings nicht der Reflexion dieser Zusammenhänge; sie erfüllte eher die Funktion eines Testaments – in Form einer Familienchronik.44 Ausnahmslos schien ihm die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung im Ausland, die Aronson durch Lektüre, aber auch als importierte Massenware wahrnahm, seiner Zeit voraus. Aronson meinte, in seinem Leben wie auch in seinen Erfindungen seiner Zeit hinterherzuhinken.45 Hierin setzte er sich dem Zarenreich gleich: „I went around the shops in search of an article which was in common use but was not yet made by machine. I found nothing, for we 41 Ebd., S. 99. 42 Die jüdische Aufklärung konfrontierte die Zeitordnung des Judentums mit historischem Erfahrungswissen und erschütterte damit Glaubensgewissheiten. Vor Gott – so hatte noch Moses Mendelssohn erklärt – gebe es allein Gegenwart, nämlich die gezähmte Zeit der Ewigkeit. Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. In: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 8, hrsg. v. Alexander Altmann u. a. Stuttgart 1983, S. 157–162. 43 Arno Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Berlin 1999, S. 94–103. 44 Aronson: A Jewish Life, S. 332–334. 45 Hans Blumenberg: Verspätung der Aufklärung und Beschleunigung ihres Verfahrens. In: ders. (Hrsg.): Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986, S. 218–248.

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were behind the times, both Russia and I.“46 Aronson maß die Konjunkturen des eigenen Lebens am Bild des unaufhaltsam über Rückständigkeit und Aberglaube hinweggehenden Fortschritts. Jüdische Traditionen spielten trotz ethnographischer Genauigkeit der Mitteilungen und kulturhistorischer Mannigfaltigkeit keine tragende Rolle für das Narrativ Aronsons. Letztlich bestand der Sinn der eigenen Lebensgeschichte darin, zu zeigen, dass unerschütterliches Vertrauen in die eigene Vernunft sowie in die durch diese zugänglichen vernünftigen Gesetze der erforschbaren Welt auch einem Autodidakten zum sozialen Aufstieg verholfen hatten, der durch seine Herkunft aus der russländischen Peripherie gleich mehrfach benachteiligt war.

Bildung als Trost – Erkenntnis als Desillusion: Ein Lehrer ermahnt seine Kinder Auch in den autobiographischen Aufzeichnungen des Lehrers Gabriel Arié (1863– 1939) aus dem bulgarischen Samokov finden wir die Bindung der eigenen Lebensgeschichte an den Fortschritt der Menschheit. Als Arié seine Tätigkeit als Lehrer der Alliance Israélite Universelle (AIU )47 wegen Lungentuberkulose aufgab, suchte er in der Schweiz ärztlichen Rat. In einem Davoser Sanatorium schrieb er zwischen Februar 1905 und Oktober 1906 seine Autobiographie Ma vie nieder. In ihr ordnete er sein Leben chronologisch und bewertete es moralisch. Die für die Familie bestimmten Aufzeichnungen legitimierte Arié mit seinem bevorstehenden Tode. Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Autobiographie blickte er bereits auf langjährige Erfahrungen mit Schriftlichkeit zurück. Zu seinen beruflichen Aufgaben hatte etwa die Korrespondenz mit den Leitungsgremien der Alliance Israélite Universelle gehört. Aus Ariés Feder stammten eine Geschichte der AIU sowie eine Darstellung der jüdischen Geschichte.48 Auch biographische

46 Aronson: A Jewish Life, S. 187. 47 Aron Rodrigue: French Jews, Turkish Jews. The Alliance Israélite Universelle and the Politics of Jewish Schooling in Turkey, 1860–1925. Bloomington (Ind.) u. a. 1990; Eli Bar-Chen: Weder Asiaten noch Orientalen: Internationale jüdische Organisationen und die Europäisierung „rückständiger“ Juden. Würzburg 2005, S. 18–25, S. 59–65, S. 81–88, S. 103–115. 48 Narcisse Leven: Cinquante ans d’histoire. L’Alliance israélite universelle (1860–1919). 2 Bde. Paris 1911, 1920. Dieses Werk wurde im Wesentlichen von Gabriel Arié komponiert. Gabriel Arié: Histoire juive depuis les origines jusqu’à nos jours. Paris 1923, 21926. Dazu: Esther Benbassa/Aron Rodrigue: Introduction. In: dies. (Hrsg.): A Sephardi Life in

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und autobiographische Fiktion dürften ihm nicht fremd gewesen sein.49 In der Familie Arié wurden Familienchroniken geführt. Ein gewisser Stolz auf die eigene Herkunft äußerte sich auch in der Pflege und Weitergabe von Stammbäumen, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichten.50 Eine Deutung seines Schicksals lieferte Gabriel Arié bereits auf den ersten Seiten seiner Autobiographie. Er beklagte den kommerziellen Misserfolg seines verarmten Vaters Moïse Nissim Arié (1842–1894), der sich erst spät aus der Abhängigkeit von der vermögenden Familie seiner Schwiegereltern befreite. Verantwortung dafür trugen nach Arié vor allem die religiösen Studien seines Vaters sowie die in der Familie seiner Mutter verbreitete Charakterschwäche. Als Lichtblick seiner tristen Kindheit erschien ihm Juda Arié, sein Großvater mütterlicherseits. Selbstdisziplin und Bildungseifer hätten ihn über kurz oder lang gegen alle Widerstände zu den erwünschten beruflichen und privaten Erfolgen geführt. Jüdische Bräuche und religiöse Traditionen kritisierte er. Die Praxis, junge Eheleute in den Haushalt der Schwiegereltern des Mannes aufzunehmen, sorgte offenbar auch in seiner Ehe für Zündstoff.51 Arié berichtete von Schlägen für einen fehlerhaften Gebetsvortrag und vom Stumpfsinn der Elementarschule (meldar).52 Die Bedeutung des in der Elementarschule vermittelten Hebräisch, die dort angefertigten Talmudübersetzungen, aber auch autodidaktisch erworbene Türkisch-, Bulgarisch- und Deutschkenntnisse traten deutlich hinter Ariés Begeisterung für das in der AIU-Schule in Samokov erlernte Französisch zurück. Sein Leben lang führte Arié sein Tagebuch in Französisch. Er absolvierte die Lehrerausbildung der AIU in Paris und besaß seit der Mitte der 1880er Jahre einen französischen Reisepass. Ariés Gefühl der Verbundenheit mit der französischen Zivilisation überdauerte auch Phasen der kritischen Auseinandersetzung mit der Politik der AIU sowie den kurzzeitigen Austritt aus dem Schuldienst. Im Jahr 1906 auf sein bisheriges Leben zurückblickend, schien es Arié allerdings, er habe seine glücklichsten Jahre nicht in Paris, sondern in Southeastern Europe. The Autobiography and Journal of Gabriel Arié, 1863–1939. Seattle, London 1998, S. 3–55, hier S. 35–36. 49 Als frühe Lesefrüchte erwähnt Arié Robinson Crusoe, Paul et Virginie sowie Plutarchs Leben berühmter Griechen. Gabriel Arié: Autobiography and Correspondence (1863– October 1906). In: Benbassa/Rodrigue (Hrsg.): A Sephardi Life in Southeastern Europe, S. 59–180, hier S. 67. 50 Esther Benbassa: The History of Private Life and of Families: Objects and New Methodologies for the Study of Sephardi-Jewish History. In: Michel Abitbol/Yom-Tov Assis/Galit Hasan-Rokem (Hrsg.): Hispano-Jewish Civilization after 1492. Jerusalem 1997, S. 27–37, hier S. 29 (Fußnote 7). 51 Arié: Autobiography and Correspondence, S. 61–63. 52 Ebd., S. 64–65.

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Istanbul (1881–1883) verbracht. Arié hatte im Stadtteil Ortaköy eine kleine Knabenschule geleitet, in der er selbst in einem spartanisch eingerichteten Zimmer hauste. Zweimal in der Woche besuchte er den besseren Stadtteil Galata, um den Kindern seines Onkels Nachim Nachhilfe zu geben. Auch sein zukünftiger Schwiegervater lud ihn immer wieder ein. Daneben verkehrte Arié im Hause der Familie Koch, wo er Deutsch sprach. Er knüpfte Kontakte zum osmanischen Divisionskommandeur Nedjib Pascha sowie zum bulgarischen Exarchen Josef. Nach Ariés Darstellung herrschte unter den Kolleginnen und Kollegen der AIU-Schulen in Istanbul eine freundschaftliche Atmosphäre, die auch außerhalb des Schuldienstes zum Ausdruck kam. Ariés Glück der Istanbuler Jahre verging jedoch mit dem Bankrott des gastfreien Onkels. Er zog zu den Eltern ins bulgarische Sofia und wurde dort als Handelsvertreter tätig. 1887 trat Arié erneut als Schuldirektor in den Dienst der AIU . Dies erlaubte ihm, Heiratspläne zu schmieden. Dass Gabriel Arié Oberhaupt einer Familie wurde, deren Gründung auf einer traditionell angebahnten Eheschließung basierte, hielt er für eine Mischung aus Zufall und rationaler Überlegung. Immerhin schilderte er die Desillusionierung der jungen Ehefrau aus begütertem Istanbuler Elternhaus, die über die einfachen Verhältnisse im Hause des Sofioter Knabenschuldirektors nicht begeistert war. Konflikte zwischen Schwiegermutter und Ehefrau führten zum Auszug der jungen Familie Arié aus dem gemeinsamen Haus.53 Erst nach der Schließung der Sofioter AIUSchule durch die jüdische Gemeinde ging Arié nach Smyrna (Izmir), wo er sich erneut um den Posten eines Schuldirektors bewarb. Die Trennung vom geliebten Vater fiel Arié schwer. Arié gab in Ma vie seinen Widersachern in der Sofioter Gemeindeleitung die Schuld für den Tod seines Vaters. Die Trennung von Sofia bedeutete also in persönlicher Hinsicht einen tragischen Verlust für Arié. Doch auch das Osmanische Reich besaß für Arié gegenüber den Verhältnissen in Bulgarien unschätzbare Vorteile. Nach Paris schrieb er: What strikes a Bulgarian entering Turkey is above all the air of freedom one breathes here. Under a theoretically despotic government, one certainly enjoys more freedom than in any constitutional country. That difference is particularly obvious for someone coming from Sofia: there, everything is specified beforehand, regulated; one cannot come and go, attend to one’s affairs, or write a letter without running the risk of committing a thousand infactions of the laws and regulations; it is as if there is a policeman around every corner. Here, in contrast, one hardly feels there is a government; one of

53 Arié: Autobiography and Correspondence, S. 95–97.

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course sees its employees, more or less poor […] The affairs of the government must go very poorly, but those of individuals go very well indeed.54

Neben der Gewährung religiöser Toleranz hätten die Sultane die Verbreitung des Antisemitismus verhindert, den Arié in Bulgarien und Frankreich beobachtete.55 Den Juden im Osmanischen Reich warf Arié dagegen Müßiggang und Bildungsfaulheit vor. Vor diesem Hintergrund erwies sich Bulgarien als leuchtendes Vorbild der von Arié propagierten Verbreitung westlicher Werte unter den östlichen Glaubensbrüdern: „The atmosphere one breathes in Bulgaria is far more healthy and moral, and life far more active and honest; the progress and regeneration of our coreligionists are and continue to be far more rapid there.“56 Osmanisches Reich einerseits und französischer wie bulgarischer Nationalstaat andererseits verkörperten hier gegensätzliche Möglichkeiten historischer Entwicklung, die sich in komplementären zeitlichen wie geographischen Zuschreibungen ausdrückten. Die zyklische Welt des entwicklungsarmen Orients stand in Ariés Denken dem dynamischen Okzident gegenüber. In seinen Schreiben an das Zentralkomitee der AIU betonte Arié die Notwendigkeit der Hebung der moralischen und sozialen Verhältnisse der sephardischen Juden im Osmanischen Reich, denen gegenüber er sich selbst als behutsamer Erzieher darstellte. Während sich die AIU zugutehalten könne, dass sie die Grundkenntnisse der jüdischen Bevölkerung in Arithmetik, Geschichte und Geographie gemehrt hätte, müsse sie nun stärker in die moralische Bildung investieren. Die Lektüre historischer Darstellungen oder schöngeistiger Literatur trage zu diesem Ziel entscheidend bei. Als gegen Ende des Osmanischen Reiches in Bulgarien geborener Sohn einer traditionellen sephardischen Familie orientierte Arié sein Leben an dem von Paris aus verbreiteten Narrativ des sozialen und kulturellen Fortschritts durch säkulare instruction. Diese müsse allerdings durch education ergänzt werden.57 Arié nahm für sich in Anspruch, diese zivilisatorische Doppelmission an sich selbst vollzogen, wie auch seinen Schülern vorgelebt zu haben. Zu Traditionalisten und Zionisten bewahrte er Distanz. Während er die technisch fortgeschrittenen Länder des Westens bewunderte, vermisste er das imperiale laissez-faire der Osmanen. Er stilisierte sich als Bannerträger des Fortschritts und nahm gleichwohl den Traditionsschwund mit Wehmut wahr. 54 Ebd., S. 131–132. [Brief an die AIU vom 17. November 1893]. 55 Ebd., S. 132. [Brief an die AIU vom 17. November 1893]. 56 Arié: Autobiography and Correspondence, S. 132. [Brief an die AIU vom 17. November 1893]. 57 Ebd., S. 141–149, hier S. 143. [Brief an die AIU vom 17. Juli 1896].

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Mit Druckerschwärze gegen den „Fanatismus“ – Sa’adi Besalel a-Levis Selbstverteidigung Zentral für den Lebensrückblick des Druckers, Journalisten, Komponisten und leidenschaftlichen Sängers Sa’adi Besalel a-Levi (Ashkenazi) (1820–1903) war der rabbinische große Bann (cherem gadol), der von 1874 an auf ihm lag und der anderen Juden den Umgang mit ihm und seiner Familie verbot. Obwohl er de facto keineswegs vom jüdischen Leben seiner Heimatstadt Salonika (Thessaloniki) ausgeschlossen war, lastete diese Erfahrung schwer auf ihm, behauptet sein sieben Jahre später begonnener Lebensbericht: My heart aches and my body is crushed, my legs and my arms are paralyzed by this nonsense. As I write this biography that took nine years to finish, I still remember that dark and cursed day; would that the sun has not risen on that day, or at least, I had been sick rather than live through this anguish. I sure pray to God that none of my loved ones live through a similar experience; ‚perish the day on which I was born‘ [im Original Hebräisch (Hiob 3.3)]58

Diese Klage erhob a-Levi unter der Überschrift My Personal Story Starts here im 25. Kapitel seiner Lebensgeschichte, die er seinen Kindern ausdrücklich zum Druck empfahl. Er berichtet von den Vorgängen, die unmittelbar mit der Verhängung des Banns zusammenhingen. A-Levi und sein Sohn Chaim waren in den Augen des frommen Establishments durch einen modernen Lebenswandel aufgefallen. A-Levi, dessen große Leidenschaft der Gesang war, nutzte jede Gelegenheit, ob öffentlich oder privat, ob in der Synagoge oder auf Familienfeiern, sein Talent zu präsentieren. Er komponierte neue Lieder, etwa zu öffentlichen Anlässen wie dem Besuch Sultans Abdülmecid I. (1823–1861) in der Stadt.59 Dabei verband er jüdische und nichtjüdische Liedtraditionen, was ihn nach eigener Aussage beim Publikum beliebt gemacht hatte. Auch gehörte er einer Vereinigung an, die den „religiösen Fanatismus“ in der jüdischen Gemeinde bekämpfte und die soziale wie kulturelle Lage der jüdischen Bevölkerung Salonikas durch Wohltätigkeit und Bildung heben wollte.60 A-Levi verfügte über gute Beziehungen zu einigen vermögenden

58 Rodrigue/Stein (Hrsg.): A Jewish Voice from Ottoman Salonica, S. 97, S. 245. 59 Ebd., S. 68–76, S. 142–148, S. 216–223, S. 292–294. 60 Es handelte sich um einen Wohltätigkeitsfonds, der etwa Schulen unterstützte. Zu dieser „Society of Good Deeds“ sowie ihrem Vorläufer, der Kuppa de Hesed ’Olam, siehe Rodrigue/Stein (Hrsg.): A Jewish Voice from Ottoman Salonica, S. 59–66, S. 92–98, S. 206–213, S. 239–246.

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und daher von der Gemeinde unabhängigen Förderern dieser Vereinigung. Ohne Zweifel war die mehrheitlich eher konservative jüdische Bevölkerung Salonikas in der Frage einer Reform des jüdischen Lebens gespalten. Konflikte, die a-Levi in seiner Autobiographie aufzählte, waren die Bedeutung der nichtreligiösen Bildung, die Reform der Gemeindeinstitutionen, die Gründung säkularer Schulen und die Verteilung der aus der Koscherfleischabgabe (gabala61) stammenden Einnahmen – Streitpunkte, die auch im Russischen Reich und der Habsburgermonarchie bekannt waren. Zum offenen Konflikt kam es, als sich der Sohn sowie der Schwiegersohn des städtischen Oberrabbiners Asher Kovo (1849–1874) von a-Levi hintergangen fühlten. Sie glaubten, a-Levi habe hinter ihrem Rücken seinen Einfluss in Istanbul geltend gemacht, um ihnen zu schaden – so erzählt es wenigstens der Lebensbericht a-Levis. Darin wird ausführlich von der hinterlistig vorbereiteten Verhandlung vor dem Gemeindegericht berichtet, bei der manipulierte Zeugen gegen a-Levi und seinen Sohn ausgesagt hätten. Der Bann, der den Abbruch aller sozialen Beziehungen zur jüdischen Welt zur Folge gehabt hätte, traf a-Levi aber nicht so hart wie von seinen Feinden gewünscht. Es gelang ihm, mit Hilfe von Gönnern wie dem führenden Philantropen Moshe (Moïse) ben Eliezer Allatini (Alatini), neue Lettern für den Druck zu erwerben und mit Erlaubnis der osmanischen Behörden eine Zeitung herauszugeben. Er stieg für Jahrzehnte zum führenden Herausgeber der jüdischen Presse Salonikas auf. A-Levis Niederlage wandelte sich in einen Sieg – so berichteten es seine eigenen Erinnerungen. Seine Zeitungen La Epoka (1875–1911) und Le Journal de Salonique (1895–1911) erreichten über Jahrzehnte eine um die tausend Köpfe zählende Leserschaft.62 Als a-Levi im Januar 1903 starb, wurde er nicht nur von den örtlichen Vorstehern der Gendarmerie und osmanischen Verwaltung sowie den Geistlichen nichtjüdischer Glaubensrichtungen gewürdigt.63 An seinem Grab erschien der städtische Oberrabbiner Yakov Kovo (1887–1907), der damit ausdrücklich a-Levis Verdienste um die jüdische Gemeinde würdigte und den formal noch gültigen Bann missachtete. 61 Jeremiah J. Berman: Shehitah. A Study in the Cultural and Social Life of the Jewish People. New York 1941, S. 181. 62 Gad Nassi: Synoptic List of Ottoman-Turkish-Jewish and Other Sephardic Journals. In: ders. (Hrsg.): Jewish Journalism and Printing Houses in the Ottoman Empire and Modern Turkey. Istanbul 2001, S. 31–71, hier S. 46 und S. 50; Olga Borovaya: Bezalel Saadi Halevy Ashkenazi in Service to his Community and the Jewish Nation. In: dies. (Hrsg.): Modern Ladino Culture. Press, Belles Lettres, and Theatre in the Late Ottoman Empire. Bloomington, Indianapolis 2012, S. 81–89. Die Auflagenhöhe von La Epoka lag demnach bei etwa siebenhundert Exemplaren. Es ist davon auszugehen, dass das zunächst wöchentlich erscheinende Blatt durch die Hände mehrerer Personen ging. 63 Borovaya: Modern Ladino Culture, S. 88.

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Schließlich erschien 1907 eine von seinem Sohn Sam Lèvy (1870–1959) redigierte Fassung seiner Autobiographie in La Epoka in Auszügen. Vor dem Hintergrund des sozialen Aufstiegs des Autodidakten a-Levis zu einer einflussreichen Persönlichkeit, die einen über die Kreise der jüdischen Bevölkerung Salonikas herausreichenden Bekanntheitsgrad besaß, bietet die Apologie seines teilweise polemischen Lebensberichts umso mehr Stoff für die Deutung der Geschichte der Sephardim im Osmanischen Reich, insbesondere aber in Salonika.64 Dass a-Levis Bericht stark subjektiv gefärbt ist, verwundert kaum, selbst wenn seine Behauptung übertrieben sein mag, dass er einem wütenden religiösen Mob, der ihn wegen der mit dem Bann zusammenhängenden Vorwürfe verfolgte, nur knapp entkam. Die Redaktion seiner Lebensgeschichte, von der bekannt ist, dass er sie wegen fortschreitender Erblindung mit fremder Hilfe zu Papier brachte, sowie die Deutung seines Lebens über seinen Tod hinaus, wie sie sich etwa in den Nachrufen ausdrückte, lag in den Händen seiner Söhne, was zweifellos zur Glorifizierung des Biographierten beitrug.65 Trotz dieser problematischen Überlieferungssituation lassen sich einige für den transimperialen Vergleich wichtige Punkte festhalten. A-Levi besaß trotz einer abgebrochenen Elementarschulausbildung wegen seines Berufs eine besondere lebenslange Beziehung zur Schriftlichkeit. Im Laufe seines 65-jährigen Berufslebens (1833–1898) erschienen in seiner Druckerei sowohl religiöse wie weltliche Werke, darunter die erwähnten Zeitungen sowie ein Band eigener Gedichte. Ungeklärt ist wegen seiner mangelnden Französischkenntnisse, wer seine Vorbilder gewesen sein mögen und was der Autodidakt überhaupt las. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die in der Ladino-Presse in Fortsetzung abgedruckten Autobiographien jüdischer Persönlichkeiten auch a-Levi zugänglich gewesen sein dürften. Obwohl selbst keineswegs vermögend – er musste mit kaum 19 Jahren seine fünf Geschwister nach dem Tode von Vater und Mutter miternähren – identifizierte er sich mit der besitzenden jüdischen Mittelund Oberschicht. Die in Salonika unübersehbar große jüdische Arbeiterschaft erwähnte er kaum. Stattdessen berichtete a-Levi aus intimer Kenntnis über die Welt der sephardischen Familienbräuche und -feste; er notierte ethnographisch bedeutsame Details mit nostalgisch anmutender Akribie. Weil a-Levis Autobiographie in Ladino geschrieben und publiziert wurde, ist von einer Rezeption im Kreis der Leser von La Epoka auszugehen.66 64 Rodrigue/Stein: A Jewish Voice from Ottoman Salonica, S. XXI–XXVII, S. XXXVII–XLV. 65 Borovaya: Modern Ladino Culture, S. 82. 66 Zu den Lesern von La Epoka: Olga Borovaya: Bezalel Saadi Halevy Ashkenazi in Service to his Community and the Jewish Nation. In: dies. (Hrsg.): Modern Ladino Culture, S. 81–89.

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Vom Eisenhändler zum Bildungsbürger – der „erste jüdische Schlossermeister Österreichs“ Als der am Leopoldstädter Tempel in Wien tätige Rabbiner Max Grunwald (1871– 1953) die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen der mährisch-niederösterreichischen Familie König veröffentlichte, betonte er im Titel den sozialen Aufstieg, auf den Raphael König (1808–1894) zurückblicken durfte.67 Doch vor allem interessierten ihn die im Familienbesitz befindlichen Erinnerungen des Vaters von Raphael König, Josef König (1768–1854), der dramatisch von Hochwasser, Flucht und Plünderung des Familienbesitzes in den Wirren der Napoleonischen Kriege zu berichten wusste.68 Die 1852 begonnene Autobiographie Raphael Königs, eines Schlossers und Eisenwarenhändlers aus Znaim (Znojmo) diente jedoch weniger der Unterhaltung einer breiten Öffentlichkeit als der Ermahnung und Erbauung der Nachkommen. Sie richtete sich ausdrücklich an „Kinder, Enkel und Urenkel“, um diesen als charakterliches Vorbild und moralische Stütze zu dienen.69 Raphael König rief dazu zunächst die Geschicke seines Großvaters, des „Stammvaters“ Salomon König (1753–1820/21) sowie seines Vaters Josef König in Erinnerung. Neben den väterlichen Aufzeichnungen trugen weitere Dokumente dazu bei, die Geschichte der Familie König zu dokumentieren und illustrieren.70 Das Toleranzpatent Josephs  II. von 1782 hatte unter Auflagen den Juden der Habsburgermonarchie die Gewerbefreiheit gebracht und es Raphael König ermöglicht, das Schlosserhandwerk zu erlernen. Sein Weg als erster jüdischer Geselle Österreichs und schließlich selbständiger Schlossermeister nahm breiten Raum in der Lebenserzählung ein. Daneben spielten vor allem private Themen wie der Hausbau (1849), der Tod des Vaters (1859), die Hochzeiten (3. Eheschließung: 1881) sowie Raphael Königs Engagement für die jüdische Religionsgemeinde in Mislitz (Miroslav) eine wichtige Rolle. Es gelang Raphael König, führende Reformer 67 Max Grunwald: Rafael König, der erste jüdische Schlossermeister Österreichs. In: ders. (Hrsg.): Die Feldzüge Napoleons nach Aufzeichnungen jüdischer Teilnehmer und Augenzeugen. Wien, Leipzig 1913, S. 265–306. 68 Michael Mitterauer (Hrsg.): „Gelobt sei, der dem Schwachen Kraft verleiht.“ Zehn Generationen einer jüdischen Familie im alten und neuen Österreich. Wien, Graz, Köln 1987, S. 49–56. 69 Auch Raphael Königs Sohn, Jacob König (1841–1921) hinterließ autobiographische Aufzeichnungen: Mitterauer: Zehn Generationen einer jüdischen Familie, S. 159–196. 70 Es handelte sich um Dokumente wie etwa Schul-, Impf- und Sittenzeugnisse, Meister- und Gesellenbrief Raphael Königs, Einzel- und Familienporträts sowie (Abschriften der) Grabinschriften. Grunwald: Der erste jüdische Schlossermeister, S. 267–271; Mitterauer: Zehn Generationen einer jüdischen Familie, abgedruckt zwischen S. 160 und 161.

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seiner Zeit wie Isak Noah Mannheimer (1793–1865) und Salomon Sulzer (1804– 1890), die er in Wien kennenlernte, in seine Heimatstadt zu holen, wo er einen Tempelbau durchsetzen konnte. Im Zusammenhang mit seinem Engagement für die liberale jüdische Gemeinde klang bei König auch der Konflikt mit der jüdischen Orthodoxie an. Ebenso erhob König Klage über alltäglich öffentlich wie privat geäußerte antisemitische Anfeindungen. Imperiale Bezüge fanden sich am deutlichsten in Aussagen zum Auftreten des Monarchen und zum Herrscherhaus, etwa wenn es hieß: Ein schöner Tag meines Lebens ist der 3. Dezember 1888, als zum vierzigsten Regierungsjahr unseres vielgeliebten Landesvaters, Sr. Majestät unseres Kaisers Franz Joseph I., am Morgen ein Schulfest abgehalten wurde, welches im hiesigen Tempel auf Veranstaltung des derzeitigen Oberlehrers und Schulleiters, Herrn Markus Fessler, durch eine Ansprache eröffnet wurde, zu welchem auch der Rabbiner, Herr Simon Stern, den Schlusssatz an die anwesende Schuljugend dahin aussprach, dass dieselbe immer beflissen und bestrebt sein möge, ihrem Lehrer, ihren Eltern, wie auch jedem Menschen mit Ehrerbietung und Achtung zuvorkommen. Nach Schluss desselben wurde jedes schulfähige Kind ohne Unterschied mit einem Büchel beteilt, welches die Geschichte unseres vielgeliebten Monarchen enthält. Auf dem Titelblatt ist zum Andenken an diesen Tag das Porträt desselben. […] 1. Feber 1889: Eine tief erschütternde Nachricht, welche jeden patriotisch gesinnten österreichisch-ungarischen Einwohner ohne Unterschied zu Tränen rührte, ist, daß im Ratschluß des Allerhöchsten beschlossen wurde, unsern geliebten Kronprinzen, den Erzherzog Rudolf, welcher auf seinem Jagdschloss bei Baden verweilte, durch einen Herzschlag [sic!] aus der irdischen Hülle abzuberufen. […] Auch unsere Gemeinde hielt am 5. Feber 1889 nachmittags einen Trauergottesdienst mit Gesang und Gebet ab, welchem die hiesige jüdische und auch ein großer Teil der evangelischen Insassen beiwohnten.71

Eine persönliche Treue zur Dynastie scheint aus den Erinnerungen Raphael Königs zu sprechen, deren herausragenden Vertretern, wie etwa Joseph  II ., er seinen sozialen Aufstieg zu verdanken glaubte. Dabei waren die Erinnerungen nicht für eine reichsweite Öffentlichkeit verfasst worden. Auch die kürzlich publizierten Lebenserinnerungen des „jüdischen Privatdozenten“ Max Ungar (1850–1930) sind wie die des Raphael König für eine private Leserschaft verfasst und können als Beleg dafür dienen, dass an den engeren und weiteren Familienkreis adressierte

71 Mitterauer: Zehn Generationen einer jüdischen Familie, S. 147–148.

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Autobiographien unter österreichischen Juden nicht selten waren.72 Daneben ist der Typ der öffentlichen oder politischen Autobiographie bekannt, für die im Folgenden ein Beispiel angeführt wird.73

Der Stoff der Zeit – Credo und Apologie eines liberalen Patriarchen Der Wiener Textilgroßhändler und liberale Stadtverordnete Sigmund Mayer (1831–1920) verfasste zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Erinnerungswerke Ein jüdischer Kaufmann (1911) sowie Die Wiener Juden (1917), die bis heute als historische Quellen für die Geschichte seiner Zeit benutzt werden.74 Mayer, der aus 72 Bei Ungar kam freilich hinzu, dass er eine nichtjüdische Frau heiratete und dass die Absicht, nichtjüdischen Freunden und Familienmitgliedern Auskunft zu geben, möglicherweise ein Grund für die Niederschrift war. Mark Hengerer (Hrsg.): Tradition und Entfremdung. Die Lebenserinnerungen des jüdischen Privatdozenten Max Ungar (1850–1930). Innsbruck, Wien, Bozen 2011. Wegen der lokalhistorischen Informationsdichte ist ein Auszug ins Tschechische übertragen worden: Jaroslav Bránsky: Židé v Boskovích [Juden in Boskovice]. Boskovice 1999, S. 266–302. 73 Für den ungarischen Reichsteil sei zuerst einer der wenigen aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Texte in hebräischer Sprache genannt, der aus der Feder eines Kaufmanns stammte: Meir Ávrahám [Adolf] Munk: Életem történetei [(»Sipure korot hayyai«) Geschichten meines Lebens]. Budapest, Jerusalem 2002. Siehe auch die folgenden Autobiographien bekannter Konvertiten Ármin Vámbéry: His Life and Adventures Written by Himself. London 1884; Moritz Gottlieb Saphir: Meine Memoiren und anderes (Mit einer biographischen Einleitung). Leipzig 1887; Ármin Vámbéry: The Story of My Struggles. London 1904; Alexander Roda Roda: Roda Rodas Roman. München 1925. In deutscher Sprache liegen weiterhin vor: Ignaz Hirschler: Autobiographisches Fragment. Budapest 1891; Karl Goldmark: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien u. a. 1922; Arthur Hollitscher: Lebensgeschichte eines Rebellen. Meine Erinnerungen. 2 Bde. Berlin 1924, Potsdam 1928; Isaak Hirsch Weiss: Meine Lehrjahre. Aus den hebräischen Erinnerungen des Verfassers. Berlin 1936; Arthur Koestler: Als Zeuge der Zeit: Das Abenteuer meines Lebens. Bern, München 1982; Vilma Vukelić: Spuren der Vergangenheit. Erinnerungen aus der k.u.k. Provinz – Osijék um die Jahrhundertwende. München 1992; Berl Edelstein: Schabbatnachmittage im Obstgarten: Zerbrochene Welten meiner chassidischen Kindheit. Wien u. a. 1999. 74 Sigmund Mayer: Ein jüdischer Kaufmann, 1831 bis 1911. Lebenserinnerungen. Leipzig 1911, Berlin 21926; ders.: Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik 1700–1900. Wien, Berlin 1917. Zu Sigmund Mayer: Hannes Stekl: Sigmund Mayer. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1915–1950 Bd. 5. Wien 1972, S. 447; Steven Beller: Mayer, Sigmund (1831–1920). In: Glenda Abramson (Hrsg.): Encyclopedia of Jewish Culture Bd. 2. London 2005, S. 566. Mayer wird oft als Kronzeuge für die zeitgenössische liberale Bewertung antisemitischer Politiker wie Karl Lueger (1844–1910) herangezogen, da er dessen Aufstieg

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Pressburg (Pozsony, heute: Bratislava) stammte, besuchte das renommierte Schottengymnasium, eine katholische Privatschule, in Wien und studierte zunächst dort sowie in Prag Jura, bevor er in das Kleiderkonfektionsgeschäft seines Vaters einstieg. Er gründete 1854 eine Filiale in Wien. Zum Aufschwung des Geschäfts trugen maßgeblich die von Mayer betriebenen Geschäftsbeziehungen in den Nahen Osten, etwa durch Übernahme des Geschäftes seines Bruders Albert in Kairo bei. Im Wiener Gemeinderat saß er seit 1880; seit 1894 setzte er sich als Mitglied der Österreichischen Israelitischen Union für die Belange der jüdischen Bevölkerung ein. Seine Lebensgeschichte wurde von ihm als Beleg für den Erfolg der nach der Aufhebung der Ghettomauern in der Habsburgermonarchie einsetzenden jüdischen Akkulturation gedeutet. Dabei schilderte er das Leben des traditionellen Judentums durchaus mit Sympathie. Von säkularen Zionisten wie frommen Chassidim distanzierte er sich jedoch. Mayer sah weitsichtig, in welche soziale Isolierung der seit den 1880er Jahren spürbar zunehmende Antisemitismus die jüdische Bevölkerung Wiens sowie der Habsburgermonarchie führen musste. Diese Desillusionierung mag zu seinem öffentlichen Engagement wie auch zur Niederschrift seiner Erinnerungen beigetragen haben. Er setzte sich insbesondere mit einer zentralen Deutungsfigur des zeitgenössischen Antisemitismus auseinander. Dass die Juden Vorreiter des Kapitalismus seien und als Händlervolk galten, wusste er in seiner Auseinandersetzung mit Werner Sombarts (1863–1941) These von den jüdischen Ursprüngen des Kapitalismus geistreich zu widerlegen.75 Dabei argumentierte er historisch, indem er Entwicklungslinien langer Dauer verfolgte. Seiner Meinung nach verwandelten sich die Juden im Laufe ihrer über zweitausendjährigen Geschichte von einer biblischen Bauern- und Hirtengesellschaft in ein Handelsvolk und schließlich in eine industrielle Klasse. Das liberale Wiener Tagblatt würdigte den Verstorbenen in einer Notiz, in der es u. a. hieß: Artikel über gewerbliche Fragen, die er in Wiener Zeitungen veröffentlichte – auch das Neue Wiener Tagblatt hat manche in Fachkreisen voll gewürdigte Arbeit Mayers publiziert – , und seine gegen die Gewerbepolitik Oesterreichs in den achtziger Jahren aus nächster Nähe verfolgen konnte. Etwa: Eva Philippoff (Hrsg.): Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Ein politisches Lesebuch (1867–1918). Villeneuve-d’Ascq (Nord) 2001, S. 124–126, S. 134–135, S. 163–164, S. 167–169; Mayer: Ein jüdischer Kaufmann, S. 265, S. 294–295. 75 Sigmund Mayer: Die Juden als Handelsvolk in der Geschichte. In: ders.: Ein jüdischer Kaufmann, S. 360–400. Siehe auch Friedrich Lenger: Werner Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) – Inhalt, Kontext und zeitgenössische Rezeption. In: Nicolas Berg (Hrsg.): Kapitalismusdebatten um 1900: Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen. Leipzig 2011, S. 239–254.

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energisch Front machenden Schriften […] lenkten bald die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf den geistvollen und kenntnisreichen Mann, der im Gemeinderat durch mehrere Jahre eine hervorragende Stellung einnahm, der Minorität angehörig, aber auch von den politischen Gegnern geschätzt und geachtet, trotzdem der gewandte Debatier oft scharfe und witzige Aperçus in die Erörterung warf. In einer vor mehr als einem Jahrzehnt erschienenen Selbstbiographie („Ein jüdischer Kaufmann“), die eben jetzt zum zweitenmal aufgelegt wird, nachdem sie seit Jahren im Buchhandel vergriffen war, schildert Mayer in anziehender Weise die ganze Zeit, während welcher er in Wien gewirkt hat, mit ihrem politischen und sozialen Leben.76

In einer Selbstanzeige, mit der Mayer für seine Autobiographie warb, äußerte er u. a. die Überzeugung: „Eine Autobiographie hat nur dann ein inneres Recht auf die Publizirung, wenn der Autor sich als im Dienste der Kulturgeschichte stehend betrachtet.“77 Getreu diesem Motto begann seine Lebensgeschichte mit einer Darstellung der sozialen Welt des Pressburger Ghettos, dem er entstammte. Auch im Folgenden beschrieb er seinen Lebensweg entlang jener Entwicklungen, die er für kulturhistorisch bedeutsam hielt. Bemerkenswert ist, dass Mayer 1917 in seiner Darstellung der Geschichte der Juden Wiens auf seine Autobiographie zurückgriff und dabei bewusst in der ersten Person sprach. Gerade seine historische Zeugenschaft verschaffe seinem Werk kostbare Einblicke.78 Andererseits beschrieb Mayer bereits in seiner Autobiographie nicht nur seine eigene Geschichte, sondern an prominenter Stelle auch die der Pressburger und Wiener Juden. Die Darstellung des einstigen Ghettos in Pressburg gab sich als unpersönlicher Abriss seiner Soziologie und Geschichte; manchmal sprach der Verfasser die Leser jedoch direkt an, manchmal verfiel er ins Anekdotenhafte, wobei er sich für die Beglaubigung des Wahrheitsgehaltes der ersten Person bediente. Mayer war sich bewusst, dass er auch 76 Sigmund Mayer gestorben. In: Neues Wiener Tagblatt 300 (30. Oktober 1920), S. 5–6, hier S. 5. 77 Die Zukunft 80 (1912), S. 198. So zitiert bei: Gabriele von Glasenapp: Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1996, S. 283–284. 78 „Ich glaube nämlich zu dieser Darstellung etwas nicht Unwesentliches mitgebracht zu haben: Sie ist der Hauptsache nach nicht am Schreibtisch entstanden. Nahezu die Hälfte des Zeitraumes, den ich hier schildere, bin ich mit ‚sehenden Augen, mit kühlem Kopfe und warmem Herzen‘ selbst hindurchgeschritten. Durch Quellenstudien nur ergänzt und begründet, biete ich der Hauptsache nach, was ich selbst gesehen und gehört, gefunden und gelernt, erlebt und erfahren habe.“ Vgl. Sigmund Mayer: Die Wiener Juden, S.  VI. Die Kapitel 4 bis 7 dieses Werkes (S. 120–203) stimmen bis auf einen Absatz am Schluss wortwörtlich mit den Kapiteln 2 bis 5 der sechs Jahre zuvor veröffentlichten Autobiographie (S. 26–104) überein.

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von einem nichtjüdischen Publikum gelesen wurde. Im Text wandte er sich auch an seine „christlichen Leser“.79 Was und wie er seinen Lesern über das kulturelle und wirtschaftliche Leben im einstigen Pressburger Ghetto erzählte, entbehrte nicht der ethnographischen Perspektive auf eine zeitlich wie räumlich entfernt liegende Kultur. Gleichzeitig wurde seine Distanz zu streng religiöser Observanz deutlich. Dass er etwa Moses (Chatam) Sofer (1762–1839), den antireformerischen Oberrabbiner von Pressburg und Vorsteher der größten Talmudhochschule in Österreich-Ungarn lediglich als „schrecklichen Fanatiker“ vorstellte, verdeutlicht Mayers Selbstbild als Liberaler, zeigt aber auch seine Entfernung vom Judentum als religiöser Gemeinschaft.80 Seinen Lesern unterstellte Mayer, sich im Grunde genommen nicht für „die Synagoge im Ghetto“ zu interessieren.81 Stattdessen übte er Kritik an der Gemeindeverwaltung, die mehr auf die korrekte Ausübung des Kultus als auf die umfassende Bildung der jüdischen Bevölkerung geachtet habe. Angesichts der Dunkelheit, die über dem Ghettoleben gelegen habe, sprach sich Mayer für die Wertschätzung der bisher erreichten Emanzipationsschritte aus und plädierte gegen den Rückzug der Juden hinter selbst errichtete Ghettomauern.82

Schluss Die Verfasser der hier nacheinander kurz vorgestellten autobiographischen Texte wuchsen in Imperien auf, in denen im späten 19. Jahrhundert die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung der Welt lebte. Diese jüdischen Bevölkerungsgruppen stellten innerhalb der Imperien Minderheiten mit signifikanter Bedeutung für den Gesamtstaat dar. Es wurde jeweils ein für einen größeren Leserkreis bestimmter wie ein für den Familienkreis verfasster Text berücksichtigt. Ungeachtet der von der Überlieferung beeinflussten Textauswahl sollen einige übergreifende Gesichtspunkte festgehalten werden:83 Sämtliche Verfasser standen dem sozialen 79 Beispielsweise: Mayer: Ein jüdischer Kaufmann, S. 48. 80 Mayer: Ein jüdischer Kaufmann, S. 57. Später kommt er noch einmal kurz auf die Talmudhochschule zu sprechen: ebd., S. 65. 81 Mayer: Ein jüdischer Kaufmann, S. 61. 82 Ebd., S. 84. 83 Die Mehrzahl der vorliegenden jüdischen autobiographischen Texte aus dem 19. Jahrhundert wurde von Männern verfasst, was teilweise dem tatsächlichen Verhältnis zwischen der Anzahl der Verfasserinnen und Verfasser, teilweise der Überlieferung geschuldet sein dürfte. Die Herausgabe von Texten aus weiblicher Feder wurde von männlichen Publizisten gefördert. Etwa: Pauline Wengeroff: Memoiren einer Grossmutter: Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert. 2 Bde. Berlin 1908–1910. Dazu:

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Wandel, der die Imperien erfasste, nicht unbeteiligt gegenüber. Im Gegenteil: Sie gestalteten ihn bewusst mit. Zäsuren in ihrem Lebenslauf lösten selbstreflexive Phasen aus oder beförderten diese. Die besondere Beziehung der Verfasser zur Schriftlichkeit erleichterte die Niederschrift und den Umgang mit der biographischen Form. Bezeichnend für alle Texte ist die Vorstellung eines Publikums, das teilweise aus eigenem Erleben die vorgetragene Lebensgeschichte beglaubigte und damit legitimierte und an das sich andererseits der Autobiograph mit seiner Botschaft richtete. Die Übergänge zwischen der eher privaten Familienöffentlichkeit und der weiteren jüdischen bzw. auch nichtjüdischen Öffentlichkeit erwiesen sich dabei als fließend. Von der Vorstellung einer Vorbildfunktion der im autobiographischen Text dargestellten Person kann sowohl für den Fall der familiären wie der öffentlichen Autobiographien ausgegangen werden. Auch in eher privaten Textpassagen spielten Angelegenheiten von übergreifendem Interesse eine wichtige Rolle. Den zunehmenden Antisemitismus in ihrer Heimat etwa registrierten sowohl Raphael König wie auch Sigmund Mayer mit Sorge. Für die besondere Stellung der jüdischen Bevölkerung innerhalb der Imperien und ihre Abhängigkeit von politischen Entscheidungen innerhalb wie außerhalb der Vielvölkerreiche zeigten sich sowohl Gabriel Arié wie auch Sa’adi a-Levi sensibel. Ob der Fortschritt die professionelle und unternehmerische oder die öffentliche und universelle Entwicklung betraf, das Narrativ des Progress trieb die Lebensgeschichte Chaim Aronsons wie die Bildungsbiographie Leon Mandel’štams an. Als Moment des Vergleichs tritt die spezifische Situation der Verfasser von autobiographischen Texten für ein jüdisches wie ein nichtjüdisches Publikum hinzu. Die hier ausgewählten Texte sprachen gleichzeitig, wenn auch im Einzelfalle nicht gleichermaßen, jüdische wie nichtjüdische Leserinnen und Leser an. Hier war die Sprachwahl signifikant. Eine jüdische Sprache wie Ladino (bei a-Levi), Jiddisch oder Hebräisch (bei Aronson) legte selbstverständlich einen jüdischen Leserkreis nahe, was sich wiederum an der jeweiligen Adressierung ablesen lies. Doch Hebräisch und Jiddisch wie auch Ladino standen als Sprachen der innerjüdischen Verständigung erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Verfügung. Sie waren erst im Begriff, zu Literatursprachen zu werden.84 Nichtjüdische autobiographische Muster wurden daher „übersetzt“, auch wenn es genuin jüdische Vorbilder gab, wie etwa die Lebensbilanz oder die Familienautobiographie. Shulamit S. Magnus: How Does a Woman Write? Pauline Wengeroff ’s Room of Her Own. In: Marion A. Kaplan/Deborah Dash Moore (Hrsg.): Gender and Jewish History. Bloomington (Ind.), Indianapolis 2011, S. 13–26. 84 Benjamin Harshav: Theses on the Context of the Modern Jewish Revolution. In: ders. (Hrsg.): The Polyphony of Jewish Culture. Stanford (Calif.) 2007, S. 3–22.

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Imperiale Sprachen wie Deutsch (bei Sigmund Mayer und Raphael König), Russisch (bei Leon Mandel’štam) oder Französisch (bei Gabriel Arié) sprachen dagegen wenigstens potentiell eine reichsweite Öffentlichkeit an. Die mitgeteilten ethnographischen Details eröffneten nichtjüdischen Leserinnen und Lesern oft einen ersten Blick auf jüdisches Alltagsleben im Imperium, sie trugen jedoch andererseits auch zu dessen Exotisierung bei. In jedem Falle waren die autobiographischen Praktiken, die den hier vorgestellten Texten zu Grunde lagen, Teil der Auseinandersetzung mit dem sozialen Wandel der Imperien; sie kamen als Phänomene der Transformation der jüdischen Bevölkerungen in der Moderne im Ergebnis eines kulturellen Übersetzungsprozesses zu Stande. Sie verwiesen klar auf außerhalb der jüdischen Welt liegende Appellationsinstanzen, bezogen jedoch vor allem innerhalb der jüdischen Welt Position. Indem sie die Voraussetzungen des eigenen Bildungserwerbs ansprachen, reflektierten sie auch die jüdische autobiographische Praxis im jeweiligen Imperium. Bildung erwies sich dabei als dreifach kodierter Wert: im religiösen Sinne (jüdisch), im sozialen Sinne (bürgerlich) sowie im Sinne einer Zivilisierungsmission (imperial). Indem die vorliegenden jüdischen Autobiographien aus den Imperien der Romanovs, der Habsburger und Osmanen die Überlappungen wie das Auseinanderfallen dieser Kodierungen vor Augen führen, erweisen sie sich als aussagekräftige historische Quelle für die vergleichende Imperiengeschichte wie die Geschichte der jüdischen Selbstwahrnehmung in der Moderne.

Jens Herlth

„Verengung des Handlungsfelds“: Tadeusz Bobrowski, ein polnischer Adliger in der ukrainischen Provinz Als die Memoiren des Gutsbesitzers Tadeusz Bobrowski (1829–1894) sechs Jahre nach dem Tod ihres Autors in Lemberg erschienen, wurde dies von vielen Zeitgenossen als skandalös empfunden.1 Denn die gemäß dem Willen des Verstorbenen gegenüber dem Manuskript in keiner Hinsicht abgemilderte Druckfassung enthielt eine Vielzahl an delikaten Geschichten, Gerüchten und Mutmaßungen über das Milieu des polnischen Adels in der Ukraine. Man habe es, so urteilte ein Rezensent, im ersten Band der Erinnerungen Bobrowskis mit einer „Ansammlung von Klatschgeschichten“ zu tun, die von keinerlei Interesse für die polnische Allgemeinheit sein könne. Von umso größerer Relevanz wiederum sei der zweite Band, in dem Bobrowski seine Arbeit in den Adelskomitees schildert, die sich mit der Vorbereitung der Bauernbefreiung im russischen Teilungsgebiet befassten.2 Die Gutsbesitzer in den drei westlich des Dnepr gelegenen Gouvernements Kiev, Podolien und Wolhynien verstanden sich zumeist als Polen; die Bauernschaft wurde als „kleinrussisch“ bzw. ukrainisch wahrgenommen. Auch auf diesem eher politischen Gebiet provozierten die Memoiren erbitterte Gegenreaktionen. Denn der Autor lässt nie einen Zweifel an seiner auf Ausgleich mit der Zarenmacht ausgerichteten Grundüberzeugung und äußert sich vielfach sarkastisch über die politische Verblendung seiner von enthusiastischem Patriotismus beseelten Landsleute. Den Scheitelpunkt der Lebenserzählung Bobrowskis bilden die Ereignisse von 1863: Der Januaraufstand, so führte er aus, schwächte nachhaltig die liberalen Stimmen in der russischen Intelligenz und enttäuschte für immer die Hoffnung

1

2

Sigma [W. Przyborowski]: Bobrowski Tadeusz: Pamiętniki. Z przedmową Włodzimierza Spasowicza. Lwów. 1900 [Bobrowski Tadeusz: Memoiren. Mit einem Vorwort von Włodzimierz Spasowicz. Lwów. 1900]. In: Kwartalnik Historyczny [Historische Vierteljahresschrift] 15 (1901), S. 415–417, hier S. 415. Ebd., S. 416.

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auf eine „ruhige und arbeitsame Entwicklung“ („spokojnego i pracowitego rozwoju“) der polnischen Volksgruppe unter russischer Oberherrschaft.3 Das moralische Skandalon des Textes hofften die Herausgeber durch eine kurze Vorbemerkung zu entschärfen, in der sie alle Verantwortung für unstatthafte Passagen dem verstorbenen Autor zuschrieben.4 Dem polnischen Rechtsanwalt und Journalisten Włodzimierz Spasowicz (1829–1906) kam es zu, in einer „Information über Tadeusz Bobrowski“ die politische Problematik der Memoiren zu beleuchten und den Nutzen des Werks für die polnische Sache hervorzuheben.5 Spasowicz, der den gleichaltrigen Bobrowski vom Jura-Studium an der Petersburger Universität her kannte, war eine zentrale Figur der polnischen Kultur und Öffentlichkeit im russischen Teilungsgebiet der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ein prominenter Fürsprecher der Politik der ugoda, des Ausgleichs mit der Zarenherrschaft. Sohn eines Arztes, geboren in der Nähe von Minsk, hatte er das Gymnasium in Minsk absolviert, bevor er zum Studium in die Hauptstadt ging. Seit 1857 war er an der Petersburger Universität Privatdozent am Lehrstuhl für Zivilrecht des Königreichs Polen, dann Professor für Strafrecht, bevor er 1864 aus dem Staatsdienst entlassen wurde.6 Spasowicz wurde Anwalt und befasste sich gleichzeitig mit journalistischen und publizistischen Projekten. Er arbeitete mit dem Literarhistoriker Aleksandr Pypin zusammen, für dessen Obzor istorii slavjanskich literatur (Überblick über die Geschichte der slavischen Literaturen, 1865) und Istorija slavjanskich literatur (Geschichte der slavischen Literaturen, 1879–1881) er die Kapitel zur polnischen Literatur ausarbeitete.7 In den 1870er und 1880er Jahren war Spasowicz als einer der renommiertesten Strafverteidiger in Russland an vielen wichtigen politischen Prozessen beteiligt, so etwa am Verfahren gegen die Nečaev-Gruppe. Als Herausgeber der polnischen Zeitschriften Ateneum (Warschau 1876–1901) und Kraj (Petersburg, 1882–1909) prägte er maßgeblich die polnischen Debatten im russisch beherrschten Teilungsgebiet. 3 Tadeusz Bobrowski: Pamiętnik mojego życia [Memoiren], Bd. 1–2, hrsg. v. Stefan Kieniewicz. Warszawa 1979, Bd. 2, S. 442. – Im Weiteren erfolgen alle Zitate aus den Erinnerungen Bobrowskis nach dieser Ausgabe (unter Angabe von Band- und Seitenzahl in Klammern im Haupttext). 4 Vgl. Słowo od wydawców [Vorwort der Herausgeber]. In: Pamiętniki Tadeusza Bobrowskiego. Z przedmową Włodzimierza Spasowicza [Die Memoiren Tadeusz Bobrowskis. Mit einem Vorwort von Włodzimierz Spasowicz] Bd. 1–2. Lwów 1900, Bd. 1, S. 1. 5 Włodzimierz Spasowicz: Wiadomość o Tadeuszu Bobrowskim [Information über Tadeusz Bobrowski]. In: Tadeusz Bobrowski: Pamiętnik mojego życia, Bd. 1, S. 33–46. 6 Maciej Jankowski. Być liberałem w czasie trudnym. Rzecz o Włodzimierzu Spasowiczu [Ein Liberaler sein in schwieriger Zeit. Über Włodzimierz Spasowicz]. Łódź 1996, S. 40, 47. 7 Ebd., S. 96f.

Tadeusz Bobrowski, ein polnischer Adliger in der ukrainischen Provinz 391

Die Petersburger Nüchternheit, mit der Spasowicz in seiner Publizistik polnische nationale Anliegen im Hinblick auf die realen Kräfteverhältnisse und Handlungsspielräume im Zarenimperium modulierte, ließ ihn zum Feindbild für nationalistische Kreise werden. Er war ein Gegner der Idee des Nationalstaats. Zur genaueren Erläuterung seiner Positionen wich er auch schon einmal auf die galizische Presse aus, um der strengeren Zensur im Zarenreich zu entgehen.8 Die Öffentlichkeit, in der Spasowicz agierte und auf die sich auch der Memoirenschreiber Bobrowski immer wieder bezieht, war einerseits aufgesplittert und eingeengt – wie die polnische Öffentlichkeit im Zarenreich und schon gar die in den Gouvernements rechts des Dnepr. Sie war aber andererseits auch eine überstaatliche, transimperiale Öffentlichkeit, insofern als man sie als ein Ensemble von Presseerzeugnissen, Netzwerken und Diskussionsforen begreifen kann, das sowohl die Polen im Russischen, im Deutschen und Habsburgerreich als auch jene in der Emigration mit einschloss. Das einleitende Vorwort Spasowiczs und letztlich auch die Memoiren selbst beziehen sich dezidiert auf diesen übergreifenden Rahmen. Für beide markierte der Aufstand von 1863 das „vollkommene Verschwinden eines öffentlichen Lebens“ der Polen in den ukrainischen Gouvernements.9 In seinem offensichtlich nach der Abfassung der Memoiren entstandenen Vorwort verlieh der Witwer Bobrowski, dessen einzige Tochter nur 12 Jahre alt geworden war, seiner Hoffnung Ausdruck, dass sein Memoirenprojekt allen widrigen Umständen zum Trotz der polnischen Nation nutzen werde. Es ging ihm darum, der mit dem Wegfall der Öffentlichkeit verbundenen „Einengung des Handlungsfelds“ („zaciśnieni[e] pola działalności“) entgegenzuwirken und gerade auch solchen Landsleuten, die in weiter räumlicher Entfernung lebten, „Hinweise zur Geschichte und zum inneren Leben“ zu geben. Die Enge der Provinz und die Einschränkung auf den privaten Raum werden durch die übergreifende Geltung der eigenen historischen und biographischen Erfahrung durchbrochen – so die Grundannahme des Memoirenprojekts von Tadeusz Bobrowski (I, 46). Włodzimierz Spasowicz sah in den Lebenserinnerungen seines Freundes und Studienkollegen eine Quelle des Rats an künftige Generationen und dadurch eine Garantie für das Fortleben der polnischen Volksgruppe.10 In einem Brief an seinen Neffen fasste der 62-jährige Bobrowski seine Lebenseinstellung zusammen: Es gelte, nach der Maßgabe der eigenen „Kräfte und Fähigkeiten“ seinen Beitrag zur Sache der Menschheit zu leisten. Der Einzelne solle 8 9

Ebd., S. 153. Spasowicz: Wiadomość o Tadeuszu Bobrowskim, S. 41 („całkowity zanik życia publicznego“). 10 Vgl. ebd., S. 43f.

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sich dabei als eine „bescheidene Ameise“ begreifen, die ihre „bescheidene Pflicht“ gegenüber der Gemeinschaft erfülle.11 Der, dem Bobrowski so eindringlich ans Herz legte, nicht der polnischen Krankheit zu verfallen und sich als „Genie“ zu begreifen, war niemand anders als Joseph Conrad, der Sohn von Bobrowskis Schwester Ewelina (1833–1865). Nach dem Tod der Schwester und ihres Ehemanns Apollo Nałęcz Korzeniowski (1820–1869) war es Bobrowski gewesen, der die Vormundschaft seines Neffen und auch die finanzielle Verantwortung für dessen Ausbildung übernommen hatte. Nach der Auswanderung des späteren Romanciers standen Neffe und Onkel bis zum Tod des letzteren in brieflichem Austausch.12 Conrads erster Roman, Almayer’s Folly (1895), ist dem Andenken Tadeusz Bobrowskis gewidmet,13 und die Memoiren des Onkels dienten Conrad als Quelle und Referenz für die Arbeit an seinen eigenen autobiographischen Aufzeichnungen in A Personal Record (1912)14 sowie wohl auch für die Darstellung des Milieus der Petersburger Studenten in Under Western Eyes (1911).15

Der „Geschichtsschreiber des anders“ Bobrowskis Erinnerungen sind eine wertvolle Quelle für die Erforschung der sozialen und ökonomischen Situation der polnischen Adligen in den ukrainischen Gouvernements des Zarenreiches. Im Folgenden soll es aber vor allem darum gehen, wie Bobrowski in seinen Erinnerungen die eigene Rolle bewertet, wie er sich selbst als Akteur im Spannungsfeld von familiären, sozialen, nationalen und imperialen Zugehörigkeiten, Loyalitätsansprüchen und Zwängen verortet. 11 Listy Kazimierza i Tadeusza Bobrowskich do Konrada Korzeniowskiego [Die Briefe von Kazimierz und Tadeusz Bobrowski an Konrad Korzeniowski]. In: Zdzisław Najder/ Joanna Skolik (Hrsg.): Polskie zaplecze Josepha Conrada-Korzeniowskiego. Dokumenty rodzinne, listy, wspomnienia [Der polnische Hintergrund von Joseph Conrad-Korzeniowski. Familiendokumente, Briefe, Erinnerungen] Bd. 1–2. Lublin 2006, Bd. 1, S. 255–454, hier S. 430 (Brief v. 28.10./9.11. 1891). 12 Die Briefe Joseph Conrads an seinen Onkel sollen 1917 einem von „revolutionären Bauern“ gelegten Brand des Gutshauses in Kazimierówka zum Opfer gefallen sein. Vgl. Zdzisław Najder: Wstęp [Einleitung]. In: Polskie zaplecze Josepha Conrada-Korzeniowskiego, Bd. 1, S. 13–34, hier S. 15. 13 Zdzisław Najder: Joseph Conrad and Tadeusz Bobrowski. In: ders.: Conrad in Perspective. Essays on Art and Fidelity. Cambridge 1997, S. 44–67, hier S. 44. 14 Jean M. Szczepien. „A Personal Record“ and the Bobrowski „Memoirs“. In: The Conradian. Vol. 9, No. 2, S. 81–89; Vgl. Najder. Joseph Conrad and Tadeusz Bobrowski, S. 59–64. 15 Vgl. ebd., S. 46.

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Trotz seiner prononcierten Nüchternheit und seines bescheidenen Erzählgestus hat Bobrowski doch den Anspruch, durch die eigene Lebensgeschichte hindurch eine wichtige Epoche im Leben der polnischen Gemeinschaft auf ukrainischem Territorium lesbar zu machen. Die Leitproblematik stellt sich für ihn als eine Ambivalenz von Offenheit und Schließung dar: Der Raum des Imperialen bot potentiell auch der polnischen Volksgruppe ein gewisses Register an biographischen Optionen und Entwicklungsmöglichkeiten. Doch in der Wahrnehmung Bobrowskis vollzog sich in den Jahrzehnten seines Lebens eine fortschreitende Verengung und Einschränkung dieser Optionen – ein Prozess, den beide Seiten, die imperiale Hegemonialmacht und die polnische Minderheit, gleichermaßen zu verantworten haben. Für Włodzimierz Spasowicz liegt der besondere Wert von Bobrowskis Zeugnis darin, dass der Autor hier als ein „Geschichtsschreiber des anders“ auftrete. Aus Bobrowskis minutiöser Nachzeichnung der Debatten in den Adelskomitees lasse sich nachvollziehen, welche Optionen möglich und, so Spasowicz, für die betroffene Bauernschaft auch vorteilhafter gewesen wären als die letztlich von Moskau dekretierte Bürokratisierung.16 Spasowicz bezieht das anders konkret auf die Vorbereitung der Bauernbefreiung; doch der Blick für Optionalitäten, auf mögliche alternative Entwicklungen ist generell ein Charakteristikum von Bobrowskis Memoirenprojekt. Diese Feststellung mag überraschen, erzählen doch Autobiographien üblicherweise von Ereignissen, die so und nicht von solchen, die anders verlaufen sind. Bobrowski jedoch eruiert in seiner erinnernden Rekonstruktion von Ereignissen und Prozessen immer wieder frühere Handlungsspielräume, wenn auch nur, um sie im Nachhinein mit einigem Bedauern als verpasste Gelegenheiten zu verbuchen. Diese Spannung zwischen dem desillusioniert-geschlossenen Gestus des zurückblickenden Schreibers und der tendenziellen Offenheit der erinnerten Situationen in ihrer jeweiligen historischen Gegenwart lässt sich wohl aus der Textgeschichte des Memoirenwerks erklären: Bobrowski erwähnt ein Tagebuch, das er „unter dem Eindruck des Augenblicks geführt“ habe („pod wrażeniami chwili prowadzony“) und das er der Buchausgabe der Memoiren als „Anhang“ beizugeben plante (II, 103). Wo es Diskrepanzen zwischen der Darstellung des Tagebuchs und der der Memoiren gebe, so Bobrowski, dort solle sich der Leser an die Memoiren halten, denn „von meinen beiden Federstrichen ist der letztere 16 Vgl.: „Świadectwo Bobrowskiego dlatego szczególniej jest nam drogie, że jest on jedynym u nas dziejopisem tego ‚inaczej’, które może byłoby głębsze i dla ludności dogodniejsze, gdyby było połączone z początkami prawdziwej gminy i nie wyodrębniło włościan poddając ich całkiem rządom biurokratycznym.“ Spasowicz: Wiadomość o Tadeuszu Bobrowskim, S. 40.

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wahrhaftiger, weil er nach kalter Überlegung ausgesagt wurde“ (II, 103f.).17 Leider war das Tagebuch nicht Teil der 1900 erschienenen Ausgabe – und ist wohl auch nicht erhalten.18 Doch schon allein der Hinweis auf die hitzigere Nahperspektive des Tagebuchs hilft uns, einen Blick dafür zu gewinnen, was hier im Zuge nüchterner Reflexion herabgekühlt wurde. Bobrowskis anders erhebt Einspruch gegen die durch das Schema unterdrückte Nation – Imperium induzierte Freund-Feind-Dualität. In der historischen Gleichzeitigkeit gab es eine Vielzahl von Konzeptualisierungen „polnischen Interesses“. Nicht immer ist klar, ob materielle, psychologische oder nationalpolitische Motive ausschlaggebend für die Handlungen der Akteure waren. Ethnisch-nationale, soziale und konfessionelle Konstellationen und Frontstellungen überlappten einander; erst die Entwicklungen seit dem Aufstand von 1863 führten zu einem deutlichen Überhandnehmen der „chauvinistischen Strömungen“ (II, 518). Es ist nicht nur die Offenheit der historischen Entwicklungen, die Bobrowski mit seinen Memoiren in Erinnerung ruft. Im ersten Band, der „Über die Angelegenheiten und Menschen meiner Zeit“ („O sprawach i ludziach mego czasu“) betitelt ist, entfaltet er eine schier unüberschaubare Zahl an Lebensläufen, Kurzporträts und biographischen Episoden. Diese Vielfalt kontrastiert markant mit dem stets gradlinig gezeichneten Lebenslauf des Autors: In der Darstellung der eigenen Biographie blendet Bobrowski Zweifel, Entscheidungssituationen, persönliche Dilemmata weitgehend aus. Eine Ausnahme ist der Rückblick auf sein Liebäugeln mit einer Laufbahn an der Universität Kazan’ oder auch in Petersburg, wie sie ihm der Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät, Konstantin A. Nevolin, und der polnische Professor für internationales Recht, Ignacy Iwanowski, nahegelegt hätten. Er habe sich dem Verdikt des Vaters fügen müssen, der die akademische Tätigkeit als bloßen „Broterwerb“ geringschätzte: Eine „Karriere“ sei das nicht (I, 442). Der faktische Spielraum des Möglichen, wie ihn die imperiale Situation zugleich öffnete und einschränkte,19 wird eher anhand der Lebensläufe der Zeitgenossen durchexerziert. Für sich selbst spricht Bobrowski in seinem Vorwort programmatisch von der – im Alter von 50 Jahren – abgeschlossenen „Kristallisierung“ des eigenen Lebens „in Gedanken und Taten“ (I, 45). Dies ist nicht unbedingt unge17 „[…] zastrzegam, że z dwóch rzutów pióra mojego ostatni jest prawdziwszym, bo po zimnej rozwadze wypowiedziany.“ 18 Vgl. den Kommentar von Stefan Kieniwiecz (II, 548). 19 Jankowski merkt an, dass sich gerade für die Biographien des pogranicze in gesteigertem Maße die Frage nach der Möglichkeit eines „anderen Verlaufs der Ereignisse, nach der Möglichkeit einer alternativen Biographie“ stelle. Jankowski: Być liberałem w czasie trudnym, S. 13.

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wöhnlich für eine Autobiographie, die, wie im vorliegenden Fall, zwar stilistisch sorgsam durchkomponiert, aber doch ohne literarische Ambitionen abgefasst wurde: Im Vordergrund steht die Rechenschaft über die eigenen Handlungen und die eher nach außen als nach innen gerichtete Vergewisserung, stets auf der richtigen Seite gestanden zu haben.

Ethos der Nüchternheit und politisches Engagement Es ist kein Zufall, dass Bobrowski selbst seinen Erinnerungen, seiner charakterlichen Disposition und auch seinen politischen Überzeugungen das Attribut der „Kälte“ zuschreibt. Die kühle Temperatur drückt das Ethos der „Nüchternheit“ aus, das für die ugoda-orientierten Stimmen der polnischen Gesellschaft im russischen Herrschaftsgebiet charakteristisch war. Diese Nüchternheit begreift Spasowicz in seinem Vorwort zur Erstauflage der Pamiętniki als geradezu vorbildlich, und er bezeugt die Authentizität des in den Erinnerungen entworfenen Autorbilds: Bobrowski habe tatsächlich „nicht das kleinste Bisschen Poesie“ besessen; „emotionale Höhenflüge“ und „Sprünge der Fantasie“ seien ihm fremd gewesen. In seinen Aufzeichnungen regiere die „reine Prosa“, der „durchdringende Verstand“.20 Wohl wissend, dass „Kälte“ und „Nüchternheit“ in den polnischen Debatten der Zeit als Chiffren für fehlende nationale Begeisterung, wenn nicht Verrat an der Nation gelesen werden mussten, setzte Spasowicz gerade auf diese Attribute als Garanten für das Fortleben der polnischen Volksgruppe: Każda podupadła narodowość, ale jeszcze nie zamarła, nie przestaje żyć, póki jest w niej chociażby szczupła mniejszość ludzi trzeźwo i rozumnie zapatrujących się na przyszłość i stawiących wytrwały opór przeciwko nierozważnym masowym uniesie­ niom i ruchom.21 Jede Volksgruppe, die im Niedergang begriffen, aber noch nicht gestorben ist, hört nicht auf zu leben, solange es in ihr noch eine wenn auch noch so winzige Minderheit an Menschen gibt, die nüchtern und vernünftig in die Zukunft blicken und die unüberlegten massenhaften Erregungen und Bewegungen einen ausdauernden Widerstand entgegensetzen.

20 Spasowicz: Wiadomość o Tadeuszu Bobrowskim, S. 41 („[…] ani odrobiny poezji, żadnych uniesień uczucia, wyskoków wyobraźni […].“). 21 Ebd., S. 43 (Hervorh. J.H.).

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Der polnische Schriftsteller und Historiker Franciszek Rawita-Gawroński (1846– 1930), der selbst am Aufstand von 1863 teilgenommen hatte, publizierte 1901 in Form einer Broschüre eine vernichtende Rezension zu Tadeusz Bobrowski und seinen Memoiren. Zur Charakterisierung des Autors bedient er sich eines merkwürdigen Oxymorons: Bobrowski sei ein „Fanatiker der politischen Nüchternheit“ („maniakiem trzeźwości politycznej“) gewesen, der aus den „Experimenten des Mords an der polnischen Nation“ eine eigentümliche „Befriedigung“ gezogen habe.22 Sein Schreiben sei geprägt von „kalter Eigenliebe“; Stil und Geist Bobrowskis seien selbst ganz ugoda-haft, das heißt auf Versöhnung und Kollaboration mit der russischen Herrschaft ausgerichtet.23 Das semantische Feld von Nüchternheit und Kälte war also Ausdruck politischer Konfliktlagen. Bobrowski hat das in seinen Memoiren mit einer gewissen Überdeutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Auch der Anschluss an die Topik von Poesie und Prosa, den Spasowicz vornimmt, findet sich schon bei Bobrowski selbst. Ohne dass die Literatur als solche irgendeine Rolle spielte, wird der Komplex des Poetischen hier als Ausdruck von Schwärmerei und fataler Verantwortungslosigkeit verstanden. So äußert sich Bobrowski voller Sympathie über seinen Schwager, den Vater Joseph Conrads, lobt dessen literarische Gabe – und belächelt die politischen Aspirationen: „Dichter, Leute der Fantasie und der Ideale […] sind nicht fähig, klare, konkrete Lebenspostulate zu formulieren und tun besser daran, dies zu unterlassen“ (I, 427).24 Den ganzen Komplex privat-informellen Politisierens verbindet Bobrowski immer wieder mit dem Bildfeld überflüssiger und schädlicher Gefühlsaufwallung. Dieses Ethos der Nüchternheit bestimmt den Tonfall, in dem er von seinen Studienjahren in Kiev und Petersburg (1844–1850), von seiner Tätigkeit im Adelskomitee des Kiever Gouvernements (ab 1858) sowie als Delegierter dieses Komitees in der Kommission der drei Gouvernements25 (1859–1860)

22 „Maniakiem trzeźwości politycznej, określonej malutkiemi hasłami egoizmu, upatrującego w biernem spokojnem poddaniu się wszelkim eksperymentom mordowania narodu naszego, przez nich tylko zrozumiałą szczęśliwość był Tadeusz Bobrowski.“ Franciszek Gawroński: Tadeusz Bobrowski i jego pamiętniki [Tadeusz Bobrowski und seine Memoiren]. Lwów 1901, S. 6f. 23 Ebd., S. 52: „[…] często bardzo styl jego jak i duch bywał ugodowym – próba wytworzenia żargonu, zapewne ‚petersburgskiego‘.“ 24 „[…] konstatuję fakt, że w ogóle poeci, ludzie wyobraźni i ideałów nie są w możności sformułowania jasno konkretnych postulatów życia, i najlepiej też robią, jeżeli się do tego nie mieszają […].“ 25 Nämlich die drei Gouvernements der rechtsufrigen Ukraine: Das Podolische, das Wolhynische und das Kiever Gouvernement.

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und auch von seiner Aufgabe als Friedensrichter des Kreises Lipowiec im Gouvernement Kiev erzählt. Die Frage der Bauernbefreiung war für den polnischen Adel von zentraler Bedeutung. Es stand der politische Einfluss, aber natürlich auch die ökonomische Potenz der Gutsbesitzer in den drei Gouvernements der rechtsufrigen Ukraine auf dem Spiel. Man war sich bewusst, dass in den Adelskomitees Fragen von größter Tragweite und politischer Relevanz entschieden wurden. Bobrowski sieht die Arbeit der Komitees in der Rückschau als Möglichkeit für die Polen in der Ukraine („na Rusi“), eine „nicht immer ehrenhafte Vergangenheit“ zu „liquidieren“ und eine „bessere, hellere Zukunft im Verhältnis zum Volk“ (z ludnością) zu gründen, einem Volk, dem die Polen zwar in „Stamm, Sprache, Glauben und Zivilisation“ fremd, dessen „integraler Teil“ sie aber durch „jahrhundertelanges Zusammenleben“ geworden seien (II , 102). Bobrowskis politische Haltung im Adelskomitee war gemäßigt: Für ihn war die Voraussetzung der Bauernbefreiung eine „gerechte und gewissenhafte“ Pachtauflegung (II, 125). Er nahm somit eine Mittelposition ein zwischen den Verfechtern einer unbedingten und sofortigen Befreiung der Bauern und jenen, für die die Regelung der Pachtauflegung im Vordergrund stand (vgl. auch II, 151). Die Diskussionen um die Modalitäten der Bauernbefreiung werden von Bobrowski minutiös und bis in die finanziellen Einzelheiten nachvollzogen. Offensichtlich konnte er sich dabei auf Dokumente stützen, die er aus seiner aktiven Zeit als Mitglied der verschiedenen Kommissionen aufbewahrt hatte (II, 103). Aus Bobrowskis Schilderung wird deutlich, in welchem übergreifenden Spannungsfeld sich die Akteure bewegten: Der Generalgouverneur von Kiev intervenierte verschiedentlich in die Arbeit des Komitees, indem er den Rücktritt von Mitgliedern oktroyierte oder dem Komitee Untätigkeit vorwarf (II, 177). Allerdings gelang es wiederum dem Komitee in Teilen, den Gouverneur dazu zu bewegen, seine Entscheidungen zurückzunehmen. Gleichzeitig versuchte die Emigration, Einfluss auf die Arbeit des Komitees zu nehmen. Bobrowski erzählt, dass die Presse der Emigration, so die Wiadomości Polskie (Polnische Nachrichten), das Organ von Czartoryskis Hôtel Lambert, stets genauestens über den Verlauf der Arbeit des Komitees, ja sogar über die Positionen der einzelnen Mitglieder informiert gewesen sei (II, 182). Auf konspirativem Wege gelangte zur Jahreswende 1858/1859 ein „Aufruf des Fürsten A. Czartoryski an die Bürger Litauens und Rutheniens“ („Odezwa ks. Adama Czartoryskiego do obywateli Litwy i Rusi“) an die Mitglieder (II, 182). Diese, so Bobrowski, „in allzu weichem und sentimentalem Ton abgefasste“26 (II, 182) Verlautbarung sei zwar all26 „[…] za miękko i za sentymentalnie zredagowana […].“

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seits respektiert worden, sie habe jedoch keinerlei Einfluss auf die Entscheidungen des Komitees gehabt. Die Wirkungslosigkeit von Czartoryskis Sendung markiert für Bobrowski einen wichtigen Wendepunkt im Verhältnis von Emigration und „heimischer Meinung“ („opinia krajowa“), nämlich den heilsamen „ersten Schritt“ zur „Befreiung“ der Polen in den Teilungsgebieten von der „Dominanz der Meinungen und der Praktiken der Emigration“ (II, 183). Der bestimmende Einfluss des Hôtel Lambert, so Bobrowski, hätte zuvor ein Vierteljahrhundert lang dem „Land“ („kraj“) „großen Schaden“ zugefügt (ebd.). Bobrowski verschweigt nicht, dass die Erträge der Arbeit im Komitee und in der Kommission ernüchternd waren. Denn am Ende bestimmte Petersburg die Schlussfassung der Kommissionsberichte (vgl. II, 411). Der bekannte Slavophile Jurij Samarin (1819–1876), der als Experte die Arbeit der Kommission leitete, habe, so führt Bobrowski aus, in den Anliegen der Kommission nur „separatistische Bestrebungen“ gesehen (II, 354). In seinem „bürokratisch-slavophilen Eifer“ habe er die Besonderheiten der ukrainischen Provinzen „ignoriert und nivelliert“. Im Ergebnis seien „unserem Volk“ (das heißt: der Bauernschaft der rechtsufrigen Provinzen) die „großrussischen“ Regelungen „eingeimpft“ worden, was zu einer ökonomisch verheerenden und für beide beteiligten Gruppen – Bauern wie Gutsbesitzer – demoralisierenden Situation geführt habe (II, 354).27 Ganz offensichtlich ist Bobrowski in der erinnernden Rekonstruktion der eigenen Tätigkeit darum bemüht, herauszustellen, dass er stets im Dienste der polnischen Sache gehandelt habe. So möchte er seine Tätigkeit als Friedensrichter zuallererst als eine Strategie verstanden wissen, zu verhindern, dass Auseinandersetzungen zwischen polnischen Gutsbesitzern an die staatliche Gerichtsbarkeit gelangten.28 Es geht ihm darum zu zeigen, dass die imperiale Situation trotz aller Unwägbarkeiten und Hindernisse noch bis Anfang der 1860er Jahre Spielraum für propolnisches Engagement bot, sofern es sich um konkrete, auf den regionalen Rahmen bezogene Projekte handelte. So erwähnt Bobrowski eine 1860 verabschiedete Petition, in der beim Zaren darum ersucht wird, in den Schulen des Kiever Gouvernements und an der Kiever Universität den Unterricht in polnischer Sprache zu erlauben – „damit wir und unsere Kinder Deinen großen Namen in der eigenen Sprache rühmen können“ (II, 530).29 Im Text der Petition wird eigens 27 „W biurokraticzno-słowianofilskim zapale swoim ignorował i niwelował odrębności nasze, co mogło mu się wydawać […] i słusznym […], a było tylko […] bezowocnym przyszczepianiem porządków wielkorosyjskich ludowi naszemu zgoła obcych, destrukcyjnym dla nas ekonomicznie, a demoralizującym w przyszłości obie klasy reformujące się…“ 28 Vgl. Daniel Beavois: Le noble, le serf, et le révizor. La noblesse polonaise entre le tsarisme et les masses ukrainiennes (1831–1863). Paris 1985, S. 319. 29 „[…] abyśmy my i dzieci nasze mogli wychwalać wielkie imię twoje w języku ojczystym.“

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das Recht der Bewohner Finnlands, Georgiens und der baltischen Provinzen zum Gebrauch der „Muttersprache“ („ojczystego języka“) als Argument ins Feld geführt. Auch die Russen hätten dafür gestimmt; ja es habe, so erinnert sich Bobrowski, in der Adelsversammlung unter mehr als 300 Stimmen überhaupt nur eine Gegenstimme gegeben – die eines italienischstämmigen Architekturprofessors, der sein Stimmrecht durch den Besitz von Immobilien in der Stadt Kiev erlangt hatte (II, 359). Der Generalgouverneur unterstützte das Anliegen, so dass bereits zum Schuljahr 1860/61 an allen Gymnasien der Provinz Polnischlehrer eingestellt wurden (II, 360). Auch der Kurator des Kiever Bildungskreises habe der Angelegenheit aufgeschlossen gegenübergestanden.30 Es sei schließlich, so erläutert Bobrowski, eine Gruppe von Professorenkollegen an der Universität gewesen, die die Initiative so lange blockiert hätten, bis sie schließlich 1863 der verschärften Russifizierungspolitik Petersburgs zum Opfer gefallen sei. In solchen Episoden möchte Bobrowski aufzeigen, wie die „heiße“ und poetische Politik des Aufstands die Früchte des „kühlen“ und prosaischen Engagements der gemäßigten polnischen Adeligen der rechtsufrigen ukrainischen Provinzen zunichtegemacht und damit den antipolnischen Kräften im Zentrum in die Hände gespielt habe. Den Januaraufstand sieht Bobrowski als eine epochale Katastrophe, deren Folgen auch dreißig Jahre später, zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit an den Memoiren,31 noch nicht überwunden seien. Der erste Satz des Kapitels über den Aufstand zieht sich über elf Zeilen hin und ist syntaktisch extrem gespreizt konstruiert, als habe Bobrowski durch den gravitätischen Stil die schwerwiegenden Konsequenzen und die epische Tragweite des Geschehens illustrieren wollen.32 Er hält dem Aufstand als einem auf „Falschheit“, „Illusionen“ und „Fehleinschätzung“ basierenden, „politischen“ und „schnell“ sich entwickelnden Geschehen die auf reale Bedürfnisse und konkrete gesellschaftliche Zustände zielende, „durch die Natur der Sache langsam voranschreitende“ Arbeit in der Bauernfrage entgegen. Wie die „Hitze“, so ist auch das übereilte „Tempo“ der national gestimmten „Abenteurer“, die den Aufstand vom Zaun brachen, in seinen Folgen verhängnisvoll.33 30 Es handelte sich um den berühmten Chirurgen Nikolaj Pirogov, der sich seit der Mitte der 1850er Jahre in Bildungsdingen engagierte. 31 Die Arbeit dauerte von 1879–1892. Vgl. Stefan Kieniewicz: Przedmowa wydawcy [Vorwort des Herausgebers]. In: Bobrowski. Pamiętniki mojego życia, Bd. 1, S. 5–29, hier S. 22f. 32 Er stellt dem Kapitel ein Zitat aus Vergils Aeneis als Motto voran (II, 441). 33 „Współcześnie prawie z ruchem społecznym, kwestią włościańską wywołanym, a w innych faktach, na pozór drugorzędnych, objawiającym się poważnym, realnym, świadomym celów, a z natury rzeczy powolnie postępującym, wszakże postępowym dla społeczności dawno odwykłej od samodzielności i samopomocy, rozwijał się, i niestety daleko szybciej, drugi,

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Diese Einschätzung will Bobrowski schon zur Zeit des Aufstandsgeschehens den Verschwörern gegenüber, die ihn für ihre Sache gewinnen wollten,34 geltend gemacht haben. Er begründet sie nicht zuletzt mit taktischen Erwägungen: Es sei klar, dass die Bauern in der ukrainischen Provinz einen polnischen Aufstand sofort ersticken würden und man also damit der russischen Herrschaft nur den willkommenen Vorwand gäbe, einen Keil zwischen die polnischen Herren und ihre ukrainischen Bauern zu treiben (II, 479). In seiner Darstellung des Aufstands präsentiert sich Bobrowski als jemand, der „am Rande“ gestanden (II, 481) und gerade deshalb einen klareren Überblick gehabt habe. Der entscheidende auslösende Faktor sei insbesondere der erleichterte Reiseverkehr und Informationsaustausch mit Europa gewesen. Unter dem Einfluss polnischer und internationaler Revolutionäre aus Paris habe die Jugend „politische Fantasie“ entwickelt. Und selbst die Älteren seien von der Dynamik der Ereignisse überrollt worden: Habe man anfangs noch gehofft, die Entwicklung „beherrschen und lenken“ zu können, so habe alsbald der „Strom der Zeit und der Ereignisse“ die Überhand gewonnen (II, 444). Zur „Hitze“, zur „fehlenden Nüchternheit“ und zur „Poesie“ der Kombattanten kam somit der Aspekt des fehlenden Bezugs zur sozialen Wirklichkeit in den ukrainischen Provinzen: Es sei, so unterstreicht Bobrowski, die Bindung an das Land gewesen, die den Pariser Fantasten gefehlt habe. Gerade diese Bindung ist in seiner Sicht der Dinge die Crux, an der sich die historische und rechtliche Legitimation der sozialen Existenz der polnischen Gutsbesitzer zu messen lassen habe. Bobrowski räumt dabei ein, dass die Polen selbst einst den ukrainischen Provinzen eine fremde Zivilisation „eingeimpft“ hätten und dabei nicht ohne Gewalt vorgegangen seien, „wie das leider immer schon und seit Jahrhunderten in der Evolution der Zivilisationen vorkommt und vorkommen wird“ (II, 504).35 Doch er betont auch, dass dieser „fremde Grund“, dem „Moskauer“ Element genauso fremd sei wie dem polnischen (II, 504). Schon zu Beginn des Aufstands, vor allem aber in den Jahrzehnten, die folgten, war die Bindung der polnischen Gutsbesitzer an ihre Besitzungen in der ukrainischen Provinz einem grundlegenden Transformationsprozess unterworfen. Sozioökonomische (Schulden, Bankrotte) und politische Prozesse (Enteignungen,

polityczny, w fałszu poczęty, bo na iluzjach, a więc fałszywym ocenieniu rzeczy oparty, fał­ szem karmiony, szerzący i utrzymujący się, którego gorzkie owoce oto już rok trzydziesty spożywamy!“ (II, 441; Hervorh. J.H.) 34 Zahlreiche Verwandte Bobrowskis waren in den Aufstand involviert und wurden verhaftet oder verbannt (vgl. II, 472). 35 „[…] jak to niestety zawsze od wieków w cywilizacyjnej ewolucji bywało i będzie […].“

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Russifizierungspolitik) gefährdeten den Bezug der polnischen Gutsbesitzer zu ihren Landgütern. Bobrowski zeichnet diese Entwicklungen nach, und er bezeugt sie auch in den Briefen an seinen Neffen Joseph Conrad.36 Mit seiner von ihm selbst dezidiert als „nicht politisch“ verstandenen Politik des Ausgleichs und der besonnenen Differenzierung arbeitete Bobrowski gerade auf die Bewahrung und Festigung lokaler Strukturen in den Provinzen des Imperiums hin. Doch durch den Aufstand wurde das Zentrum dazu veranlasst, die Provinzen restriktiver unter seine Kontrolle zu nehmen. Das Ergebnis des Aufstands fiel so aus, wie es Bobrowski nach eigener Darstellung schon gegenüber den zeitgenössischen Akteuren immer wieder angekündigt hatte. Zumal aus der sicheren Perspektive der historischen Rückschau kann er das Jahr 1863 als den Beginn eines Prozesses ausmachen, in dessen Zuge die Spuren des Polentums in der Ukraine schrittweise ausgelöscht wurden.

Gemeinschaft, Gesellschaft, Identifikationsmodelle: Bobrowskis Studentenjahre in Kiev und St. Petersburg In den Kapiteln zum gesellschaftspolitischen Engagement und zum Verlauf des Januaraufstands sind die sozialen Rollen, die Zugehörigkeiten und Solidaritäten klar verteilt. Irritierende Momente sind allenfalls interne Auseinandersetzungen zwischen polnischen Adeligen über den Kurs gegenüber der zaristischen Administration, Interessenkonflikte zwischen Emigration und kraj sowie Abstufungen in der Polenfeindlichkeit auf Seiten der politischen Autoritäten und ihrer Repräsentanten. Komplexer ist das Feld in den Kapiteln, die den Studienjahren Bobrowskis in Kiev (ab 1844) und Petersburg (ab 1846), den „polnischen Kreisen in Kiev“ und der „polnischen Kolonie an der Neva“ gewidmet sind. Bobrowski nimmt hier Einblick in die Mechanismen der Exklusion und Inklusion, der Herausbildung von Kreisen, Gruppen und Netzwerken und lotet dabei implizit auch das Möglichkeitsfeld der eigenen Biographie aus. Der Grundton in der Darstellung der „polnischen Gesellschaft“ – und nur um diese geht es ihm – ist negativ: Bobrowski verwendet Metaphern der „Beengung“, „Bedrückung“ und „Einschränkung“, um zu erklären, warum eine „gesunde“ gesellschaftliche Entwicklung nicht möglich gewesen sei. Es habe keine echte Öffentlichkeit gegeben, jeder Austausch habe zwangsläufig in einem quasi-privaten Rahmen stattfinden müssen, was wesentlich zu einem „prekären öffentlichen

36 Vgl. Listy Kazimierza i Tadeusza Bobrowskich, S. 367f.

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Leben“37 (I, 299) geführt habe.38 In Bobrowskis Vorstellung verunmöglichte die „Enge“ des gesellschaftlichen Lebens die Herausbildung „gesunder Charaktere“. In Verbindung mit einer fehlgeleiteten Erziehung und gewissen problematischen Zügen des polnischen Nationalcharakters „[…] habe dies zwangsläufig zu chaotischen und unvorhersehbaren Entwicklungen führen müssen.“39 Mit dieser Analyse liefert Bobrowski implizit eine Erklärung dafür, warum insbesondere der erste Band seiner Erinnerungen so ausführlich Gerüchte und Schlüssellochgeschichten kolportiert. Mit an Selbstgerechtigkeit grenzender moralischer Festigkeit äußert er sich hier über Impotenz (I, 312), Spielleidenschaft und Denunziantentum (I, 315) seiner Zeitgenossen. Der Tonfall schwankt dabei zwischen Sarkasmus und Süffisanz. Bei den Protagonisten dieser anekdotenhaft eingestreuten Episoden handelt es sich zumeist um Mitglieder der Kommissionen, in denen Bobrowski tätig war, und deren Herkunft, Lebensumstände, Charakterzüge und politische Position er jeweils in einigen Sätzen umreißt. Mit solchen verschriftlichten Plaudereien zeigt Bobrowski plastisch auf, welche Gestalt die polnische Öffentlichkeit in den Kreisen des polnischen Adels der Ukraine notwendig annehmen musste: Er lehnt sich hier an die Form der gawęda an, eine im Milieu des polnischen Landadels verwurzelte Form der Erzählung, die zumeist Sittenszenen oder Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Berühmtheiten zum Inhalt hat. Włodzimierz Spasowicz unterstreicht im Vorwort zu den Memoiren, dass sein Freund, der kein Interesse an standestypischem Zeitvertreib wie Reiten, Schießen oder Kartenspiel gehabt habe, ein begnadeter gawędziarz gewesen sei. Viele der Episoden, die man nun in den Memoiren lesen könne, habe ihm 37 „Wieluż to ludzi widziałem wśród mizernego naszego życia społecznego […]“. 38 Vgl.: „W takich tylko drobnych, zacieśnionych, rodzinnych prawie kołkach można było jedynie jakąś szerszą myślą i rozmową odżywiać umysł wśród zaspanego, w drobiazgach codziennego życia zatopionego otoczenia“ (II, 31; Hervorh. J.H.). Vgl. ebd.: „Ruch umysłowy był prawie żaden.“ Vgl.: „Zaledwo w bardzo ciasnych i zamkniętych z koniecznej ostrożności kółkach literackich wolno było podejrzywać pewnych błysków ogólniejszej myśli społecznej i pewnego poczucia obywatelskiego“ (I, 448; Hervorh. J.H.). 39 Vgl.: „Jak każde ciało zbiorowe społeczność nie może zostawać w stanie spokoju – w stanie rozważnego zastanowienia – a musi falować, dochodząc choćby do ostateczności, bo w tym falowaniu i ścieraniu się różnych kierunków zamyka się jej własne życie. Dzieje się to wszędzie i zawsze, bo tak chce natura ludzi i stosunków ludzkich; lecz u nas skutkiem zacieśnienia naszego życia i gnębiących go okoliczności, przeszkadzających zdrowemu wyrabianiu się charakterów, a nie mniej skutkiem właściwych nam wad narodowych i przesądów podtrzymywanych fałszywie kierowanym wychowaniem, owe falowania odbywają się nieprzewidzianiej, gwałtowniej i bez żadnej logicznej racji, a często nawet wprost z nią sprzecznie, a krótszymi i o tyle silniejszymi falami ludzi unoszą, wznoszą i… miażdżą“ (I, 299–300).

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der Autor vor Jahrzehnten so pointiert erzählt, dass er sie bei der Lektüre sofort wiedererkannt habe.40 Bobrowski selbst problematisiert implizit das kommunikative Feld der polnischen Gemeinschaft in der ukrainischen Provinz, in Kiev und Petersburg, indem er darauf hinweist, wie bestimmte, höchst relevante Informationen nur über mündliche und informelle Kanäle weitergegeben werden konnten. Der Informationsstand der Akteure sei deshalb oft von zufälligen Faktoren abhängig gewesen. So gibt er an, zuerst als Student in Petersburg aus dem Mund eines Wohnungsnachbarn, eines bejahrten Gutsbesitzers aus Litauen, der in geschäftlichen Angelegenheiten in der Hauptstadt weilte, vom Konflikt Zygmunt Krasińskis mit seinen Mitstudenten im Jahre 1829 erfahren zu haben (I, 386). Krasiński hatte, um seinen Vater nicht zu beschämen, die Teilnahme an einer patriotischen Demonstration anlässlich des Begräbnisses des Senators Piotr Bieliński (1754–1829) abgelehnt, was zu Konflikten mit Kommilitonen führte. Er musste schließlich die Warschauer Universität verlassen und setzte sein Studium in Genf fort.41 Für das öffentliche Bild des seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem der polnischen Nationaldichter kanonisierten poète inconnu war diese Episode von zentraler Bedeutung. Doch wer dergleichen im russischen Teilungsgebiet erfahren wollte, war auf informelle Kanäle angewiesen. Und genau hier sieht Bobrowski in der Rückschau ein höchst gefährliches Element. Er erläutert dies anhand des Wirkens seines Kommilitonen an der Petersburger Universität, Zygmunt Sierakowskis (1826–1863), der als „Verfechter nicht immer nüchterner Gedanken“ („propagator nie zawsze trzeźwych poglądów“; I, 374) mit seinem Enthusiasmus und seinen organisatorischen Fähigkeiten seit der Ankunft in Petersburg 1845 in den Kreisen der polnischen Studenten eine führende Rolle spielte.42 Das Wirken Sierakowskis, so bemerkt Bobrowski, sei einerseits „heilsam“ gewesen, weil es in der Jugend den „nationalen Geist“ aufrechterhalten, sie von „primitiven Sinnesfreuden und vom Karrierismus“ entfernt habe. Doch es habe auch eine „schädliche“ Kehrseite gehabt, denn Sierakowski sei ein „glühender“ Idealist gewesen, der die Jugend auf von ihm organisierten „meetings“ mit der „grossen Politik“ in Berührung brachte, ohne dass er selbst von dieser viel verstanden habe (I, 409f.). Auf diesen „meetings“ las und kommentierte er Mickiewicz

40 Spasowicz: Wiadomość o Tadeuszu Bobrowskim, S. 35f. 41 Vgl. Alina Kowalczykowa: Warszawa romantyczna [Das Warschau der Romantik]. Warszawa 1987, S. 64. 42 Vgl. Franciszek Nowiński: Polacy na Uniwersytecie Petersburskim w latach 1832– 1884 [Die Polen an der Petersburger Universität in den Jahren 1832–1884]. Wrocław u. a. 1986, S. 90.

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und Krasiński, „auch dies ohne Studium, der eigenen Inspiration folgend“ (I, 410).43 Es war das unselige, kaum kontrollierbare Zusammenspiel zwischen der „großen Politik“ und einem durch heißen Enthusiasmus und Poesie gespeisten „Brodeln“ („wrzenie“; II, 409) in den Kreisen der polnischen Studenten, das sich – so Bobrowski – verhängnisvoll auf die Geister seiner Generation und auf das Schicksal Polens auswirken musste. Eines der von Sierakowski ausgerichteten Treffen beschreibt Włodzimierz Spasowicz in einer 1896 in der Petersburger Zeitschrift Kraj veröffentlichten Skizze: In suggestivem Stil schildert er die Atmosphäre einer Weihnachtsfeier im Jahr 1846, bei der sich „über hundert“ Studenten in der Garküche einer „pani Bohdanowiczowa“ versammelt hätten.44 Was bei Bobrowski ein Mangel von seriösem Studium im Umgang mit der Dichtung Krasińskis ist, erweist sich in der Erinnerung Spasowiczs als eine den Anliegen des poète inconnu kongeniale „Eucharistie-Feier […] im Geiste höchst erhabener Poesie“.45 Seine Bemühungen um Protektion und Netzwerkbildung in der Spätphase seines Petersburger Studiums zusammenfassend, stellt Bobrowski fest, dass die russische Gesellschaft jener Jahre (Ende der 1840er) „geschlossen“ gewesen sei. Als junger Mann „mit unbekanntem Namen“ habe man hier wenig Chancen gehabt, in die entscheidenden Häuser („domy“; I, 447) vorzudringen. Dabei stellte jedoch nicht in erster Linie die polnische Abstammung das Problem dar. Der eigene Bruder als Offizier der Garde hatte Zutritt zu diesen Häusern. Doch hätte er diese Karte gespielt, so wäre er, Tadeusz, nichts anderes gewesen als ein „Anhängsel der Uniform des Bruders“ („dodatek do braterskiego munduru“; I, 447). Auch die Universität war in der Erfahrung Bobrowskis durchzogen von mehr oder minder subtilen, imperial begründeten Ex- und Inklusionsmechanismen. Das mäßige Zeugnis der ersten beiden Studienjahre in Kiev hatte der Vater noch mit den Worten „Da hast Du aber ein recht tscherkessisches Zeugnis bekommen“ (I, 358) quittiert.46 In Petersburg ist ihm dann mehr Erfolg beschieden; er gewinnt sogar eine Silbermedaille, die er stolz an den Vater schickt. Seine schriftliche 43 „[…] i znowu bez studiów, a wedle natchnienia.“ 44 Włodzimierz Spasowicz: Z tematów wigilijnych. O dobrej woli [Aus weihnachtlichen Themen. Über den guten Willen]. In: ders.: Pisma [Werke], Bd. VII, St. Petersburg 1899, S. 365–372, hier S. 367f. – Bobrowski war am 30. August 1846 („w sam dzień Aleksandra Newskiego“) in Petersburg eingetroffen (I, 359). 45 Ebd., S.  367f. („Było to coś podobnego do chrztu albo do sakramentu eucharystji […] w duchu wzniosłej bardzo poezji: Przedświtu.“). Spasowicz bezieht sich auf das messianistische Poem Przedświt (Morgendämmerung) von Zygmunt Krasiński (1843 in Paris anonym veröffentlicht). 46 „Zasłużyłeś sobie dość czerkieskie świadectwo.“

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Arbeit, so räumt er ein, sei nicht frei von „nichtrussischen Wendungen und sogar Grammatikfehlern“ gewesen, doch nichtsdestotrotz habe er die Auszeichnung für deren „inneren Wert“ erhalten. „Heute“, so bemerkt der Memoirenschreiber, „würde so etwas nicht passieren, denn die Professoren achten nicht auf wissenschaftliche Ziele, sondern nur auf Politik und Russifizierung“47 (I, 372). Damals aber habe es noch keinen „Chauvinismus, wie man das heute nennt“ („jak dziś to się nazywa“; I, 383) gegeben. Lediglich ein Russe und ein Deutscher hätten Medaillen erhalten, der Rest der Ausgezeichneten seien sechs Polen gewesen. Die russischen Studenten, die dem Erb- oder Dienstadel entstammten, hätten sich ganz im Vertrauen auf ihre Kenntnis der „arcana imperii“ auf Protektion und Beziehungen verlassen (I, 373). Nach dem glänzenden Studienabschluss bemühte sich Bobrowski um eine Stelle in der Verwaltung. Im Wissen, dass entscheidende Schritte nur mit Hilfe von Protektion zu erreichen waren, besann er sich, dass der polnische Arzt Dr. Józef Mianowski (1804–1879) der Leibarzt des Ministers Uvarov war.48 Durch dessen Vermittlung bekam er zwei Empfehlungsbillette von der Tochter Uvarovs, der Fürstin Urusova (I, 439). Mit diesen höchst „effektiven“ (ebd.) Empfehlungsschreiben ausgestattet, gelangte er ohne Problem in eine Audienz beim Fürsten Širinskij-Šichmatov, der vorübergehend den erkrankten Bildungsminister Uvarov vertrat. Širinskij-Šichmatov, so erläutert Bobrowski, sei ein „grosser Feind der Polen und der Katholiken gewesen“ („wielki Polaków i katolików nieprzyjaciel“; I, 437), weshalb er ohne einschlägige Empfehlungen keinerlei Chancen gehabt hätte. Die Praxis eines informellen Managements nationaler Diversität, wie sie – nach Bobrowski – charakteristisch für die russische Verwaltung war, lässt sich an der Szene der Audienz ablesen: Z rozmowy i nazwiska snadź nie podejrzewał, bym był Polakiem (są bowiem w gub. kurskiej Bobrowscy Rosjanie), lecz niestety w drugim wierszu [dyplomu uniwersyteckiego] znalazł dowody, że nim jestem – doszedłszy do tego ustępu złożył dyplom, włożył mi go do kapelusza i nie powiedziawszy ani słowa odszedł do gabinetu. (I, 440)

47 „Dziś by się coś podobnego nie zdarzyło, bo profesorowie pilnują nie celów naukowych, a polityki i rusyfikacji.“ 48 Mianowski war später der Rektor der Szkoła Główna in Warschau. Ihm zu Ehren wurde die 1881 von ehemaligen Studenten der Szkoła Główna gegründete Stiftung zur Förderung der polnischen Wissenschaft „Kasa pomocy dla osób pracujących na polu naukowem im. dr. med. Józefa Mianowskiego“ benannt. Sie existiert bis heute.

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Aus dem Gespräch und vom Namen her vermutete er augenscheinlich nicht, dass ich Pole sei (es gibt schließlich ein Geschlecht Bobrowski im Gouvernement Kursk), doch leider fand er in der zweiten Zeile [des Diploms] Belege für meine polnische Herkunft. An dieser Stelle angekommen, faltete er das Diplom zusammen, legte es mir in meinen Hut und ging in sein Kabinett, ohne ein Wort zu sagen.

Bobrowski wartete, doch der Vertreter des Ministers kam nicht zurück. „Sieben Freitage und genauso viele Dienstage“ habe er daraufhin wartend in der Kanzlei verbracht, um zu erfahren, ob er die Stelle im Ministerium für Gerechtigkeit, um die er ersucht hatte, bekommen habe. Zufällig habe dann ein Bekannter eine Annonce im Amtsblatt Russkij invalid gesehen, aus der hervorging, dass drei Russen für die Stelle nominiert worden waren. „Ich erinnere mich bis heute an ihre Namen“, gibt Bobrowski an: „Szubin, Dorohobużyn und Terentiew von der Moskauer, der Char’kover und der Kazaner Universität“ (ebd.). Der erboste Bobrowski stellte gegenüber dem Direktor der Kanzlei klar, dass man keine Scherze mit ihm hätte treiben sollen: Und er erklärt seinen polnischen Lesern die recht deftige russische Wendung („duraczit menia“), die er dabei gebrauchte (I, 441). Damit kontrastiert eine andere, gleichfalls bleibende Erinnerung. Den Abend nach der Verkündigung seines glänzenden Abschlussergebnisses, den er im Gespräch mit dem ihm wohlgesonnenen polnischen Professor Iwanowski und den polnischen Studenten Włodzimierz Spasowicz und Jozafat Ohryzko verbrachte, zählt er „zu den glücklichsten Momenten“ seines Lebens (I, 441). Doch als 1850 sein Vater starb, sah er sich gezwungen, in die Provinz zurückzukehren, um die Familienangelegenheiten in die Hand zu nehmen. Den Landsleuten in der Heimat galt der diplomierte Jurist aus der Hauptstadt als „Petersburger Aufschneider“ („petersburski fanfaron“; I, 431).

Abweichler und Renegaten Die Enge der polnisch-adligen Gesellschaft zeigt sich in der Darstellung Bobrowsksis gerade auch dort, wo die Grenzen des allgemein Akzeptierten berührt oder sogar durchbrochen wurden. Ein Beispiel für die Auslotung der Enge und Weite des Spielraums im Lager der polnischen Adeligen der rechtsufrigen ukrainischen Provinzen ist der Fall des konservativen und ugoda-orientierten Schriftstellers und Publizisten Michał Grabowski (1804–1863). In der Diskussion der politischen Haltung und der Positionen Grabowskis arbeitet Bobrowski mit einem doppelten Referenzhorizont: Er zitiert die polnische „Gesellschaft“ bzw. „Allgemeinheit“ („ogół“) und unterstreicht die allzu pauschale und enge Sicht, mit der man

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Grabowskis Interventionen verurteilt habe. Denn dieser habe den Patriotismus „nur anders und nicht so rosarot wie die Allgemeinheit verstanden“ (II, 224).49 Er erwähnt in diesem Zusammenhang, dass Studenten „1857 oder 1858“ über der Kiever Wohnung Grabowskis ein Schild mit der Aufschrift „École panslaviste de M. Grabowski“ aufgehängt hätten (II, 223). Der andere Bezugspunkt ist die eigene moralisch-politische Urteilskraft. Grabowskis Fall dient Bobrowski nicht zuletzt zur subtilen Rechtfertigung der eigenen Position. Denn Grabowski habe die Politik der „ungebetenen ‚Retter des Vaterlandes‘“ einfach nur „nüchterner“ bewertet als die Allgemeinheit (II, 223). Und gerade durch seine kühle Distanz zu den heißen Rettern des Vaterlandes habe er sich im Umgang mit „den Russen“ eine Direktheit erlauben können, die sich „der hitzigste [najzagorzalszy] polnische Patriot“ nicht hätte herausnehmen können (II, 223). Zum Beleg bringt Bobrowski in einer Fußnote folgende Anekdote: Inną znowu razą u tegoż Józefowicza okazano i kazano admirować Grabowskiemu rysunek pomnika wznieść się mającego na uczczenie tysiącletniego istnienia Rosji:50 dzwon ogromny (Iwan Welikij w Moskwie), podtrzymywany na ramionach wielkich ludzi kraju, w liczbie których i ks. Konstantyn Ostrogski. ‚Nie widzę tu Prometeusza‘ – zauważył Grabowski. – ‚Cóż by miał tu znaczyć?‘ – ktoś odpowie. – ‚Wiadomo, że Prometeusz przykuty był na Kaukazie, a więc razem z nim, jak ks. Ostrogski z Rusią, zawojowany został przez was‘ – objaśnił Grabowski. Takich dosadnych odpowiedzi i uwag nie zliczyć. (II , 223) Ein anderes Mal beim selben Józefowicz wurde Grabowski die Zeichnung eines noch zu errichtenden Denkmals zu Ehren des tausendjährigen Bestehens Russlands zur obligatorischen Bewunderung vorgezeigt: eine riesige Glocke (Ivan der Große in Moskau), die auf den Schultern der grossen Menschen des Landes ruht, unter denen sich auch der Fürst Konstanty Ostrogski [Ostrožskij] befand. ‚Ich kann Prometheus hier nicht finden‘, bemerkte Grabowski. – ‚Was sollte er hier zu suchen haben?‘, antwortete jemand. – ‚Bekanntlich wurde Prometheus an den Kaukasus geschmiedet, also ist er auch, genauso wie der Fürst Ostrogski und Ruthenien, von euch erobert worden‘, erläuterte Grabowski. Er machte unzählige solcher bissiger Bemerkungen.

Ein weiterer Fall ist der des polnischen Adligen Włodzimierz Antonowicz/Volodymyr Antonovyč (1834–1908), der sich schon im Vorfeld des Aufstands von 1863, 49 „[…] zarzucano [mu] brak patriotyzmu, który inaczej tylko i nie tak różowo jak ogół rozumiał.“ 50 Das Denkmal wurde 1862 in Novgorod eingeweiht.

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vor allem aber danach, als Ukrainer definierte, zur Orthodoxie konvertierte51 (II, 238) und zu einem der Begründer der Bewegung des chlopomanstvo [wörtl. „Bauernmanie“; Hinwendung zu bäuerlichen Interessen und Traditionen in Kreisen der ukrainischen Intelligenz] wurde. Antonovyč hatte an der Kiever Universität zunächst Medizin studiert. Später immatrikulierte er sich an der historisch-philosophischen Fakultät; seit den 1850er Jahren arbeitete er als Historiker und war ab 1878 Professor an der Universität Kiev. Er kann als einer der Begründer der ukrainischen Historiographie gelten.52 Bobrowski behandelt Antonovyč als einen Vertreter des eigenen Stands; gerade daher scheint ihm dessen Fall so bemerkenswert. Er hält ihm zugute, dass er seinen Schwenk zum Ukrainertum nicht aus „gewöhnlichem Karrierismus“ vollzogen habe (II, 239), und spricht dessen Position eine gewisse historische Legitimität zu. Zumindest deutet er dies an, wenn er die geharnischten Reaktionen der Anhänger der „adligen Tradition“ (bei ihm in Anführungsstrichen!) auf das Abweichlertum Antonovyčs als naiv klassifiziert und auf die Lektüre tendenziöser dichterischer Texte zurückführt (II, 238). Wegen seines „gesellschaftlichen“ (und eben nicht: „politischen“) Engagements für die ukrainischen Bauern könne man Antonovyč keinen Vorwurf machen. Doch durch die Ereignisse des Jahres 1863 sei dieser mit einer gewissen Zwangsläufigkeit („może nawet logicznie“) zum Abtrünnigen geworden (II, 239). Mit dem Eifer des Konvertiten sei er danach gegen die Polen, ihre Sache und ihre historischen Rechte vorgegangen. Das sei ihm leichtgefallen, weil es eben kein Übertritt zum Lager der „Moskale“, sondern die Mitwirkung an der Begründung des Lagers der Ukrainer gewesen sei. Doch sei seine Position tragisch gewesen – denn für die Polen konnte er, „allen mildernden Umständen zum Trotz“, nichts anderes sein als ein Renegat (II, 240). Die Russen wiederum hätten, so stellt Bobrowski fest, obzwar sie offiziell unablässig zu solchen „salto mortale“-Manövern aufriefen, im Grunde für nationale Konvertiten nur Verachtung übrig (II, 240). 51 Antonovyč trat 1861 zum orthodoxen Glauben über. Vgl. Vasyl’ Ul’janovs’kyj: Syn Ukraïny (Volodymyr Antonovyč: hromadjanyn, učenyj, ljudyna) [Ein Sohn der Ukraine. Volodymyr Antonovyč: Bürger, Gelehrter, Mensch]. In: Volodymyr B. Antonovyč: Moja spovid’. Vybrani istoryčni ta publicystyčni tvory [Meine Beichte. Ausgewählte historische und publizistische Werke]. Kyïv 1995, S. 5–76, hier S. 25. 52 Vgl. Jan Mioduszewski: „Antonowicz Włodzimierz (1830[sic]–1908)“. In: Polski Słownik Biograficzny [Polnisches biographisches Wörterbuch], Bd. 1, Kraków 1935, S. 143–144; Oleksandr Ohloblyn: Antonovych, Volodymyr. In: Internet Encyclopedia of Ukraine (zuerst veröff. in: Encyclopedia of Ukraine, vol. 1 [1984]). http://www.encyclopediaofukraine.com/display.asp?linkpath=pages\A\N\Antonovych Volodymyr.htm (Letzter Zugriff: 18.12.2013).

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Liest man Antonovyčs eigene autobiographische Aufzeichnungen, die zuerst 1908 publiziert wurden,53 so erscheint die Geschichte seiner wundersamen Konversion vom Polen- zum Ukrainertum zumindest teilweise in einem anderen Licht. Gleich zu Beginn deklariert er programmatisch: Не належу до кляси володителів землі, мої родинні споминки не прив’язані до якогонебудь шматка території, котрий я міг би назвати своїм гніздом и у котрому заховались би спомини льокальні або документальні про діяльність таку або іншу моїх антенатів.54 Ich gehöre nicht zur Klasse der Landbewohner, meine Familienerinnerungen sind nicht an irgendein Stück Territorium gebunden, das ich mein Nest nennen könnte und in dem lokale Erinnerungen oder Dokumente über die Tätigkeit der einen oder anderen meiner Vorfahren aufbewahrt wurden.

Es soll hier nicht darum gehen, die Angaben Antonovyčs zu verifizieren, sondern sie in Beziehung zu setzen zu Bobrowskis Darstellung seines Lebenslaufs, um den tatsächlichen oder gedachten Spielraum zu rekonstruieren, der sich für die Akteure im Feld zwischen Polen- und Ukrainertum, zwischen Provinz und Zentrum ergab. Antonovyč gibt in seinen Erinnerungen an, der Sohn eines Hauslehrers ungarisch-ruthenischer Abstammung zu sein.55 Die Mutter stammte aus seiner verarmten Adelsfamilie,56 hatte eine standesgemäße Erziehung genossen und verdingte sich seit ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr als Gouvernante. Der Wertehorizont seiner Erziehung und die Erzählungen der Großmutter speisten sich aus der Identität der polnischen szlachta, die Mutter war eine „glühende polnische Patriotin“57, doch die Lebensumstände und literarische Einflüsse führten dazu, dass er schon in seiner Jugend begann, das historische Selbstbild seines Standes in Zweifel zu ziehen. Ob er nun tatsächlich väterlicherseits von dem demokratisch gestimmten ungarischen Pädagogen Janoš (Ivan) Džidaj abstammte, wie

53 Laut den Datierungen in der Ausgabe der Memoiren Antonovyčs entstanden diese 1897 und 1900. Vgl. Volodymyr Antonovyč: Memuary [Memoiren]. In: ders.: Tvory [Werke], Bd. 1, Kyïv 1932, S. 3–92, hier S. 3, 10. 54 Ebd., S. 4. 55 Ebd., S. 5. 56 Ihr Großvater mütterlicherseits, so schreibt Antonovyč, sei aber ein Graf aus dem Magnatengeschlecht der Lubomirski gewesen. Ebd., S. 6f. 57 Ebd., S. 27.

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er behauptet,58 sei dahingestellt. Für die Logik seiner Lebenserzählung ist dieser genealogische Bruch mit der szlachta ein wichtiges Element. Antonovyč gibt an, dass sich seine „Weltanschauung“ noch in den letzten Klassen des Gymnasiums unter dem Einfluss der Lektüre der französischen Aufklärer herausgebildet habe.59 Die Menschen und Maßstäbe der eigenen adligen Gesellschaft seien ihm unzeitgemäß vorgekommen; er habe nach einer Möglichkeit zur Anwendung für die Ideen seiner Lektüre gesucht und in den Bauern das natürliche „demokratische Element“ gefunden.60 Er und seine Gleichgesinnten hätten es als Schande empfunden, dass sie das Land, in dem sie lebten und die Menschen, die es bewohnten, nicht kannten. Daher sei man gemeinsam durch die ukrainische Provinz gereist und habe sich mit den Lebensbedingungen der Bauern befasst.61 Wie Bobrowski, so problematisiert und konstruiert auch Antonovyč die Legitimität der eigenen Lebensweise über die Beziehung zum Territorium und seinen Bewohnern. Seine Konversion deklarierte Antonovyč 1862 in einem Artikel unter dem Titel Moja ispoved’ (Meine Beichte) öffentlich.62 Er antwortete mit diesem in russischer Sprache geschriebenen Zeitschriftenbeitrag auf einen Angriff des polnischen Publizisten Zenon Fisz (Pseudonym: Tadeusz Padalica; 1820–1870), der ihm vorgeworfen hatte, ein Abtrünniger des Polentums zu sein.63 Auslöser der Debatte war ein Was soll man davon denken? überschriebener Brief Antonovyčs an die Redaktion der Zeitschrift Osnova (Die Grundlage) gewesen, in dem dieser sich als „Bewohner der Ukraine“ gegen die tendenziöse Berichterstattung der Biblioteka 58 Vgl. ebd., S. 10; Ul’janovs’kyj: Syn Ukraïny, S. 16. 59 Er nennt Montesquieu, Rousseau, Voltaire. Antonovyč: Memuary, S. 40. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 41. 62 Vladimir Antonovič: Moja ispoved’. Otvet Panu Padalice [Meine Beichte. Antwort an Herrn Padalica]. In: Osnova 1 (1862), S. 83–96. Die ukrainische Zeitschrift Osnova erschien von Januar 1861 bis Oktober 1862 in St. Petersburg (der Untertitel der Zeitschrift, in der auch Texte in ukrainischer Sprache erschienen, lautete: Južnorusskij literaturno-učenyj vestnik [Südrussischer literarisch-gelehrter Bote]). Vgl.: „Зазначимо, що і в польській, і в українській мемуарній літературі поява статті розцінювалася як повний розрив ученого з польським дворянством і остаточний перехід на українство.“ [Wir halten fest, dass sowohl in der polnischen wie auch in der ukrainischen Erinnerungsliteratur das Erscheinen des Artikels als ein völliger Bruch des Gelehrten mit dem polnischen Adel und als endgültiger Übertritt zum Ukrainertum gewertet wurde.] Vasyl’ Ul’janovs’kyj: Komentari [Kommentare]. In: Volodymyr B. Antonovyč. Moja spovid’, S. 744–772, hier S. 753. 63 Tadeuš Padalica [=  Zenon Fisz]: Pan Padalica. Do pana Vladymyra Antonovyča [Herr Padalica. An Herrn Vladymyr Antonovyč]. In: Osnova 10 (1861), S. 137–141.

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Warszawska (Warschauer Bibliothek) und der Gazeta Polska (Polnische Zeitung), zweier in Warschau erscheinender Presseerzeugnisse, in Bezug auf die „südrussische“ Region zur Wehr setzte. Insbesondere hatte er gegen die Darstellung der Gazeta Polska Einspruch erhoben, der zufolge eine Trauermesse anlässlich der Überführung der sterblichen Überreste Taras Ševčenkos, „unseres Nationaldichters“ („наш[его] народн[ого] поэт[а]“), nach Kaniv in Kiev in einer unierten Kirche stattgefunden habe.64 Zum Vorwurf des eigenen Renegatentums schrieb Antonovyč ganz offensiv: „Ja, Herr Padalica, Sie haben Recht! Ich bin wirklich ein Renegat […].“65 Für ihn, der einst selbst ein „шляхтич“ (Mitglied des polnischen Adels) gewesen sei, sei irgendwann klar geworden, dass es für einen Angehörigen der polnischen Oberschicht in den südrussischen Provinzen nur zwei Optionen gebe: Entweder er nähere sich der Bevölkerung wieder an, von der sich seine Vorfahren einst entfernt hätten – oder aber er siedele nach Polen um, denn nur so könne er sich vom Vorwurf befreien, „ebenfalls ein Kolonisator“, „ebenfalls ein Plantagenbesitzer“ zu sein.66 Die Argumentationsfigur der historischen Legitimität, mit der von Seiten des polnischen Adels operiert wurde, wird hier umgekehrt. Das älteste Recht ist das derer, die mit dem Boden verbunden sind. Ihrem Erleben fühlte sich Antonovyč nicht zuletzt durch seine Reisen und seine ethnographischen Studien unmittelbar verbunden, woraus er wiederum eine besondere Autorität für seine Positionen ableiten zu können glaubte. „Herrn Padalica“ forderte er auf, sich doch einfach hineinzuhören in das Idiom seiner ehemaligen Leibeigenen – dann werde er schon sehen, dass die polnische szlachta kein historisches Recht auf das von ihr reklamierte Territorium habe.67 Aufschlussreich ist, dass Antonovyč den in ukrainischer Sprache geschriebenen Artikel des polnischen Adligen Padalica68 in russischer Sprache beantwortete: Er bediente sich in diesem ukrainisch-polnischen Konflikt der Sprache der imperialen Hegemonialmacht, unter deren 64 Vladimir Antonovič: Čto ob ėtom dumat’? Pis’mo k redaktoru iz Kieva (7  ijulja 1861) [Was soll man davon halten? Leserbrief aus Kiev, 7. Juli 1861]. In: Osnova 7 (1961), S. 7–13, hier S. 11. 65 „Да – г. Падалица, вы правы! Я действительно ‚перевертень‘ […].“ Antonovyč: Moja ispoved’, S. 94. 66 „[…] избавиться самому перед собою от грустного упрека в том, что я тоже колонист, тоже плантатор […].“ Ebd. 67 Ebd., S. 89. 68 Padalica gibt an, er sei der „moskoviter“ Sprache nicht mächtig, und Artikel in polnischer Sprache würden in Osnova nicht gedruckt, daher müsse er sich des Ukrainischen bedienen. Pan Padalica: Do pana Vladymyra Antonovyča, S. 137. Antonovyč wiederum beherrschte nach eigenem Bekunden die russische Sprache besser als die ukrainische. Vladimir Antonovič: Moja ispoved’, S. 78.

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Herrschaft er die Interessen des „südrussischen“ Volkes besser aufgehoben sah als unter der des polnischen Adels. Mit seinem Engagement machte sich Antonovyč von Anfang an Feinde im Lager seiner polnischen Standesgenossen. Wie er erzählt, habe ihn zuerst der Kurator des Kiever Bildungskreises Nikolaj Pirogov69 darauf aufmerksam gemacht: „Was haben Sie nur den Gutsbesitzern des hiesigen Landes getan? Ich habe neulich den ganzen Kreis bereist, und es gab keinen Ort, an dem man sich nicht über Sie beklagt hätte.“70 Zwei Monate nach dem Gespräch mit Pirogov, so erzählt Antonovyč, sei er zu einem Prozess vor eine Adelsversammlung vorgeladen worden, wo er sich für seine „Propaganda“ habe rechtfertigen müssen. Dort war es niemand anders als Bobrowski – wie Antonovyč anmerkt: „der einzige im ganzen Gouvernement, der über ein Magisterdiplom der Rechtswissenschaften verfügte“71 –, der ihm zur Hilfe kam und erläuterte, dass man aus einigen theoretischen Überlegungen, wie sie in den als Beweismittel angeführten Schriften Antonovyčs und seiner Gefährten dargelegt seien, kaum auf eine konkrete Gefährdung der Ordnung schließen könne. Im Übrigen sei es besser, die Jugend befasse sich mit gesellschaftlichen Fragen, als ihre Zeit mit „Bummelei“ zu verlieren.72 Es ist bemerkenswert, dass Bobrowski in seinen Memoiren diese Episode mit keinem Wort erwähnt. Offensichtlich hegte er Verständnis und sogar Sympathie für die Motive Antonovyčs. Diese Haltung scheint selbst noch in jenen Passagen der Erinnerungen durch, die der nationalen Konversion des Historikers gewidmet sind. Wacław Lasocki (1837–1921), ein polnischer Arzt und Aktivist, der als Teilnehmer des Januaraufstands nach Sibirien verbannt wurde, spricht in seinen 1933 erschienenen Erinnerungen ebenfalls ausführlich über den Fall Antonovyč. Eben das Jahr 1858 – also der Zeitpunkt der Bildung der Adelskomitees zur Vorbereitung der Bauernbefreiung – sei durch eine allgemeine Verwirrung gekennzeichnet gewesen. Und Antonovyč sei ein zwar „edler“, aber auch „feuriger“ Vertreter der ukrainischen Sache gewesen. Sein Ziel sei es gewesen, „wie ich es mir aus seinem 69 Pirogov war seit Juli 1858 Kurator (попечитель) des Kiever Bildungskreises, im März 1861 trat er von diesem Posten zurück. A. O. Tolstichina: „Pirogov Nikolaj Ivanovič“. In: Russkie pisateli 1800–1917. Biografičeskij slovar’ [Russische Schriftsteller 1800–1917. Biographisches Lexikon] Bd. 4. Moskva 1999, S. 607–609, hier S. 608. Das Gespräch dürfte 1860 stattgefunden haben, denn in diesem Jahr schloss Antonovyč sein Studium an der historisch-philosophischen Fakultät ab und ersuchte bei Pirogov um eine Stelle als Lateinlehrer am Gymnasium (vgl. Mioduszewski: Antonowicz Włodzimierz, S. 143). 70 Antonovyč: Memuary, S.  46. „Что вы сделали помещикам здешнего края? Я недавно объезжал округ, и не было места, где бы на вас мне не приносили жалобы.“ 71 Ebd., S. 49. 72 Ebd., S. 50.

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Vorgehen erschließen kann und muss“,73 die „ganze Kameradschaft der polnischen Hitzköpfe, die ihre vaterländische Geschichte nicht besonders genau kannten, zu ruthenischen Patrioten umzuformen“, weil die ruthenische Völkerschaft selbst über ein derartiges Reservoir an national entflammbaren jungen Leuten nicht verfügt habe.74 Er habe die jungen Menschen gegen ihre eigenen Väter (nämlich polnische Gutsbesitzer auf ukrainischem Boden) aufwiegeln wollen, um diesen die Bedingungen in Fragen der Bauernbefreiung diktieren zu können. Es zeichnet sich hier also ein Konfliktfeld ab, das von den Linien der Generations-, der Standes- und der nationalen Zugehörigkeit durchzogen wird – wobei die letztere als bewegliches Element fungierte, das zur Durchsetzung sozialer und politischer Ziele verschoben werden konnte. Lasocki zufolge beriefen sich die chłopomani, die er auch einfach als universitäre Jugend bezeichnet, in ihren Forderungen gegenüber den polnischen Gutsbesitzern auf politische Ideen aus der Zeit des Vierjährigen Sejm von 1788 bis 1792 sowie der Verfassung vom 3. Mai 1791 und sahen sich also in der Tradition polnischen aufklärerisch-emanzipatorischen Denkens. Vergleicht man die Darstellungen Bobrowskis, Lasockis und Antonovyčs, so ergibt sich, dass die Anliegen des letzteren zunächst vor allem sozialer Ausrichtung waren. Die Nationalisierung trug Antonovyč schon durch die sprachessentialistischen Argumentationsfiguren seiner Interventionen der frühen 1860er Jahre in die Debatte hinein. Es waren dann sowohl das imperiale Setting mit der „demoralisierenden“ Politik des Generalgouverneurs Bibikov75 als auch der verschärft nationale Kurs des polnischen Lagers, die dazu führen, dass die sozialen Anliegen gegenüber den nationalen in den Hintergrund gerieten und – mit den Worten Bobrowskis – die Politik an die Stelle des gesellschaftlichen Engagements trat (vgl. II, 239). Bei allem Bemühen, die erinnerte Epoche wieder aufleben zu lassen: Die Urteile der Memoiristen Lasocki und Bobrowski über das Wirken Antonovyčs sind nur vor dem Hintergrund des Januaraufstands und seiner Rolle für die transimperiale polnische Öffentlichkeit im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu verstehen. Charakteristisch für die im Grunde essentialistische Topik der Verstellung, die den Diskurs der nationalen Zugehörigkeit in der polnischen 73 „[…] jak sądzić mogę i muszę z jego postępowania […].“ Wacław Lasocki: Wspomnienia z mojego życia [Erinnerungen], Bd. 1, hrsg. v. Michał Janik/Feliks Kopera, Kraków 1933, S. 230. 74 Ebd. („Zadaniem Antonowicza było już wówczas, jak sądzić mogę i muszę z jego postępowania, przeistoczenie całego zastępu młodych zapaleńców Polaków, znających nie dość dokładnie dzieje ojczyste, na patriotów Rusinów, na jakich się ówczesna narodowość rusińska zdobyć nie mogła dla zupełnego braku odpowiednich żywiołów.“). 75 Lasocki: Wspomnienia z mojego życia, S. 296.

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literarischen Imagination des 19. Jahrhunderts durchzieht, ist Wacław Lasockis Befund: Durch die Ereignisse von 1861 und 1863 sei Antonovyč dazu gezwungen worden, seine „Maske“ abzulegen und sich klar als nationaler „Abtrünniger“ (odstępca) zu erkennen zu geben.76

Bilanz: Bobrowski als Zeitgenosse Mehrfach betont Bobrowski in seinen Erinnerungen die Entlegenheit der eigenen provinziellen Welt und die relative Irrelevanz des von ihm geschilderten Geschehens.77 Er erwähnt es zwar nicht ohne Stolz, wenn eigene Projekte, wie etwa das der Befreiung der Bauern, das er schon zur Zeit des Krimkriegs entwickelt haben will, der Zeit voraus waren oder in sonstiger Hinsicht einen herausragenden Wert hatten. Doch fehlt seiner Selbstdarstellung weitgehend die Behauptung einer eigenen historischen Rolle. Es ist das Ethos der Nüchternheit, das ihn davon abhält, sich als historischen Helden zu präsentieren. Sein Selbstbild scheint unberührt von im weitesten Sinne hegelianischer Geschichtstheorie. Auch der „Imperativ der Zeitgenossenschaft“,78 der die Reflexion über Subjekt und Geschichte seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bestimmte, scheint ihm fremd zu sein. Die Metaphern, mit denen Bobrowski die Wirkung historischer Prozesse verbildlicht, wirken konventionell und sind offensichtlich nicht durch vertiefte Reflexion oder philosophische Lektüre geprägt. Die historiosophischen Modelle, die im polnischen Denken der Mitte des 19. Jahrhunderts breit und prominent vertreten waren (Karol Libelt, August Cieszkowski, Bronisław Trentowski, Józef-Maria Hoene-Wroński u. a.) spielen überhaupt keine Rolle. Die Geschichtsmetaphysik der polnischen romantischen Dichtung, die in den Kreisen der polnischen Eliten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerst wirkmächtig war, wird allenfalls nur am Rande gestreift. Die Dichtung überhaupt wird in ironisch-abfälligem Ton der Seite der verantwortungslosen Fantasten und Abenteurer zugeschlagen. Andererseits lässt sich doch eine theoretisch-konzeptionelle Erklärung für Bobrowskis Distanz gegenüber den Kategorien des Historischen aus seinem Text ablesen. Immer wieder bemüht er die Bildlichkeit der Enge und der provinziellen 76 Ebd., S. 231. 77 Vgl. etwa (eine Anspielung auf den beginnenden Krimkrieg): „Podczas kiedy nasz światek prowincjonalno-szlachecki więcej może namiętnie niż pracowicie krzątał się koło naprawy wewnętrznych spraw swoich, na wielkiej widowni spraw europejskich rozegrywała się orężnie daleko ważniejsza sprawa […]“ (II, 50). 78 Henning Ritter: Du sollst deiner eigenen Zeit angehören. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2004, S. 37.

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Abgelegenheit. Der maßgebliche Chronotopos dieser Autobiographie ist der einer eingezwängten Provinzialität, die durch die Beschränktheit ihres Handlungshorizonts zwischen dem Petersburger Zentrum auf der einen Seite und der auf verschiedene Staatsgebiete sowie die Emigration verteilten polnischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite nur zufällig in Berührung mit den übergreifenden historischen Prozessen kommen kann. Wo dies doch einmal passiert, da wird es in ironisch-distanziertem Tonfall zu Protokoll gegeben. Weil Bobrowski seinem Text kein kohärentes geschichtsphilosophisches Modell unterlegt, erscheinen die punktuell anklingenden Reflexionen über die Reibung zwischen Mikro- und Makrohistorie, zwischen den podolischen Immobilientransaktionen und Schuldstreitigkeiten und den übergeordneten Interessen der polnischen Nation79 als durch keine vorgefasste Konzeption systematisiert. Wo die Welthistorie aufscheint, da wirkt sie erratisch, irritierend und provoziert scheinbar spontan-intuitive Überlegungen, die dann doch Anleihe machen beim seit der Romantik geprägten polnischen Geschichtsbild. So heißt es über die Aufnahme der Nachricht vom plötzlichen Tod des italienischen Premierministers Camillo Benso Cavour (1810–1861): Trudno przedstawić osłupienie, w jakie mnie ta wiadomość wprawiła, osłupienie całego naszego ogółu! Jak gdyby nam coś zależało na życiu i dalszej działalności wielkiego męża stanu włoskiego! Ale taka już wrażliwość naszej narodowości, że się rozprasza na wszechludzkie bole, którym nieraz nieśliśmy w ofierze i krew, i życie, zapominając o własnych. Czy to ma być dowodem naszej lekkomyślności, czy też głębokiej wiary w solidarność ludów i w sprawiedliwość dziejową, czego dotąd w przebiegu historii nie widać? dość że tak jest, jesteśmy przesadnie wrażliwi na cudze cierpienia! (II , 409) Schwer sich den Schockzustand vorzustellen, in den mich diese Nachricht versetzte und der unsere ganze Allgemeinheit erfasste! Als hätten das Leben und die weitere Tätigkeit des großen italienischen Staatsmanns für uns irgendeine Bedeutung! Doch so ist nun einmal die Sensibilität unseres Volks; sie verteilt sich auf die Leiden der ganzen Menschheit, der wir mehr als einmal ohne Rücksicht auf das eigene Wohl Blut und Leben geopfert haben. Ist das ein Beleg für unseren Leichtsinn oder eher für den tiefen Glauben an die Solidarität der Völker und die historische Gerechtigkeit, von der bisher im Verlauf der Geschichte nichts zu sehen ist? Wie auch immer, wir sind allzu sensibel für fremdes Leiden!

79 Vgl. die Auseinandersetzung um den Verkauf eines Dorfes aus dem Besitz des Fürsten Adam Czartoryski, in die Bobrowski als Friedensrichter involviert war (II, 393–409).

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Für einen Moment scheint Bobrowski in mickiewiczianische Überlegungen zur Solidarität der Völker einzubiegen,80 doch dann folgt sogleich das nüchterne Verdikt eines schädlichen Affekts der polnischen Volksgruppe. In seinem Vertrauen auf die Kategorien von Vernunft und Humanität gibt sich Bobrowski als ein Mann des 18. Jahrhunderts zu erkennen. Die eigene Zeit des „rozbestwienie“ („Bestialisierung“), des nationalen Egoismus, begreift er als eine vorübergehende Phase in der „allgemeinen Evolution der Geschichte der Menschheit“ (II, 518). Es werde, so zeigt er sich im Schlusskapitel der Memoiren überzeugt, irgendwann eine „Epoche der Beruhigung und der Harmonie“ anbrechen, in der die Starken und Machtvollen zur „Besinnung“ kommen würden (II, 518). Włodzimierz Spasowicz, dem durch seine frühere Tätigkeit als Literarhistoriker eine Affinität zum Denken in Epochenteleologien nicht fremd war, sah in der ganz vom „Einfluss“ der Romantik freien Haltung Bobrowskis eine Nähe zu den „fortschrittlichen Leuten vom Anfang des [19.] Jahrhunderts, den sogenannten Klassikern“.81 Doch fraglich ist, ob man einem erkennbar nicht an Literatur, Philosophie oder politischen Debatten interessierten Geist wie Bobrowski mit solchen Zuordnungen überhaupt gerecht wird. Man kann sich nicht hineinversetzen in die Innenwelt des vom Vater mit 300 Rubeln pro Jahr ausgestatteten (I, 358) siebzehnjährigen Jünglings, der bei der polnischen Weihnachtsfeier in Petersburg 1846 Zeuge einer weihevollen Lektüre von Krasińskis Przedświt wurde: Was mag dieses Poem, das vom Gipfel der Alpen aus ein Polen der Vergangenheit wiederauferstehen lässt und dessen Autor sich zum Verbannten stilisierte, während er mit seinem russischen Pass ganz Europa durchreiste und auch regelmäßig das Familiengut im Königreich Polen besuchte, dem jungen Bobrowski gesagt haben? Bobrowski, wenn er denn überhaupt bei der Feier zugegen war (zumindest ähnliche Anlässe dürfte er miterlebt haben), äußert sich dazu nicht. Aus dem, was er erzählt, können wir schließen, dass es die von ihm selbst als beengend empfundene soziogeographische Situation des polnischen Adels in der ukrainischen 80 In einem Brief an den Neffen Konrad Korzeniowski (Joseph Conrad), den Bobrowski am 11. September 1881 aus Montreux-Vernet abschickte, findet sich eine bemerkenswert offene Einschätzung der politischen Verhältnisse im Zarenreich: Moskau verstehe den Pan­ slavismus vor allem als „Moskowitisierung aller anderen Völkerschaften“ („zmoskwiczenie wszystkich innych narodowości“). Irgendwann jedoch müsse sich, so ist er überzeugt, aus dem gegenwärtigen „Chaos irgendeine Wahrheit in Form einer Föderation herausbilden“. Doch: „[…] wenn das eintritt, werde ich schon lange im Grab sein, und Du vielleicht auch.“ Listy Kazimierza i Tadeusza Bobrowskich do Konrada Korzeniowskiego, S. 319. 81 Spasowicz: Wiadomość o Tadeuszu Bobrowskim, S. 41 („W umysłowej organizacji jego było sporo tego, co go wiązało z postępowymi ludźmi początków tego wieku, z tak zwanymi klasykami.“).

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Provinz war, die seine Identität, sein historisches Bewusstsein und sein autobiographisches Schreiben geprägt hat. Der Mangel an Institutionen, das Fehlen einer echten Öffentlichkeit, das Angewiesensein auf informelle Informationskanäle und Zusammenkünfte erzeugten, so die Lesart Bobrowskis, einen Nährboden für die polnischen Hasardeure und nationalen Hitzköpfe im In- und Ausland. Nach dem einfachen Schema von Aktion und Reaktion waren es die Agitatoren aus Westeuropa und den übrigen Teilungsgebieten, die den allmählichen Untergang der polnischen Gemeinschaft im Zarenreich auslösten. Bobrowskis Erinnerungen sind eine Art Abgesang auf eine Zeit, in der das Zarenimperium allen russischen Hegemonialbestrebungen zum Trotz noch ein Spektrum von Möglichkeiten anbot, das sich sowohl an die Vertreter der polnischen Elite wie an ihre Volksgruppe generell richtete. Doch diese Epoche war seit 1863 Vergangenheit. Bobrowski geht soweit, die Polen in der Ukraine als die „unschuldigen Opfer“ der „leichtsinnigen“ Politik der mittlerweile im Ausland weilenden Aufrührer darzustellen (II, 517). Und noch in seiner Zukunftsvision am Ende des zweiten Bandes, als er seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, die „Starken und Mächtigen“ müssten dereinst zur Besinnung kommen und den „Armen und Unterdrückten“ eine Möglichkeit zur Entfaltung geben (II, 518), klingt eher die Idee einer Einbettung in imperiale Strukturen an als die eines unabhängigen Nationalstaats.

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Westliche Interventionen und die Entstehung der jungtürkischen Geisteshaltung (1889–1914) Die Europäische Union ist ein christlicher Klub und eine neo-koloniale Macht, entschlossen zu einer Aufteilung der Türkei. General Tuncer Kılınç, the Secretary-General of the National Security Council, 2003.1

Einleitung2 Die Türkei ist seit mehr als fünfzig Jahren ein assoziiertes Mitglied der Europäischen Union (EU) und ihrer Vorläuferorganisationen; im Jahre 1999 wurde sie offiziell als Kandidatin für eine volle EU-Mitgliedschaft anerkannt. Es mag daher befremdlich anmuten, dass der Skeptizismus gegenüber Europa und dem Westen insgesamt nicht nur in islamistischen und nationalistischen, sondern auch in säkularen Kreisen der Türkei ein weitverbreitetes Phänomen darstellt.3 1 Gamze Avci: Turkey’s Slow EU Candidacy. Insurmountable Hurdles to Membership or Simple Euro-Skepticism? In: Turkish Studies 4 (2003), S. 149–170, hier S. 164. Eine weitere Stellungnahme, die klar den Standpunkt von Tuncer Kılınç unterstützt, stammt von General Yaşar Büyükanıt, dem damaligen Generalstabschef. In einer Pressekonferenz im April 2007 vertrat Büyükanıt die Ansicht, dass „die EU beabsichtige, die Türkei mittels der Durchsetzung von Reformen, die ‚Minderheiten‘ kreieren würde, aufzuteilen und ihr zugleich die EU-Mitgliedschaft zu versagen.“ Kemal Kirişçi: The Kurdish Issue in Turkey. Limits of European Union Reform. In: South European Society and Politics 6 (2011), S. 335–349, hier S. 341. 2 Ich bedanke mich bei Maurus Reinkowski, Martin Aust und Benjamin Schenk, den Organisatoren der Konferenz Autobiographische Praxis und Imperienforschung an der Universität Basel im Juni 2013, bei welcher dieser Artikel vorgetragen wurde. Mein Dank gilt auch dem Schweizerischen Nationalfonds, der die Recherche zu diesem Artikel finanziert hat. Zudem bedanke ich mich bei Alp Yenen (Universität Basel) und Ramazan Hakkı Öztan (Universität Utah) für ihre Kommentare und Kritik zu verschiedenen Entwürfen dieses Artikels. Für alle, noch bestehenden Irrtümer bin ich selbst verantwortlich. 3 Als Beispiel ist hier der prominente türkische Historiker Halil İnalcık anzuführen, der in einem Artikel über kulturelle Interaktion und Globalisierung die westliche Einstellung

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Eine 2006 in der Türkei durchgeführte nationale Meinungsumfrage, bei welcher die Meinungen der türkischen Bevölkerung zur EU untersucht wurden, bestätigt diese Annahme. Gemäß dieser Erhebung sind 57% der Befragten der Ansicht, dass die von der EU für einen Beitritt vorgegebenen Bedingungen „Ähnlichkeiten zu denjenigen im Vertrag von Sèvres aufweisen“.4 78% der Befragten stimmen gar der Aussage zu, dass „der Westen beabsichtige, die Türkei in Stücke zu zerlegen und aufzuteilen, wie es damals mit dem Osmanischen Reich geschehen ist.“5 Diese Ergebnisse führen den Umstand vor Augen, dass schmerzliche historische Erfahrungen – seien sie realer oder gefühlter Natur –, die zur Aufteilung des Osmanischen Reiches führten und schließlich zur Entstehung der modernen Türkei, in der kollektiven Erinnerung und dem Bewusstsein der türkischen Gesellschaft noch immer lebendig sind. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen oftmals als „Sèvres-Syndrom“6 beschrieben und im Kontext der frühen türkischen Republik

zum separatistischen kurdischen Nationalismus in der Türkei kritisiert und schreibt, dass „die Großmächte die gleiche Politik verfolgen wie bei der Orientalischen Frage im 19. Jahrhundert. Der Westen will die aufstrebende Türkei zerschlagen und die Region ausbeuten, alles in allem eine alte Geschichte. Die jungen Linken in Europa nehmen dieses alte Märchen gerne an, genau wie die Romantiker aus Lord Byrons Ära.“ Halil İnalcik: DoğuBatı. Makaleler I [Gesammelte Aufsätze aus der Zeitschrift Doğu-Batı I]. Ankara 2010, S. 316. Zur islamistischen Kritik des Westens in der Türkei, siehe Cemil Aydin: Between Occidentalism and the Global Left: Islamist Critiques of the West. In: Comparative Studies of South Asia, Africa and Middle East 26 (2006), S. 446–461. Eine Studie, welche die nationalistische Kritik des Westens in der Türkei untersucht: Nergis Canefe/Tanıl Bora: Intellectual Roots of Anti-European Sentiments in Turkish Politics. The Case of Radical Turkish Nationalism. Turkish Studies 4 (2003), S. 127–148. Zur kemalistischen Kritik des Westens, siehe Samuel J. Hirst: Anti-Westernism on the European Periphery. The Meaning of Soviet-Turkish Convergence in the 1930s. Slavic Review 72 (2013), S. 32–53. 4 Der Vertrag von Sèvres war ein Friedensvertrag, der am 10. August 1920 zwischen dem Osmanischen Reich und den Alliierten geschlossen wurde. Der Vertrag, der ein unabhängiges Armenien in Ostanatolien vorsah und durch die Schaffung verschiedener Einflusszonen die türkischen Gebiete in Anatolien radikal verkleinerte, wurde offiziell nie umgesetzt, weil ihn die Große Türkische Nationalversammlung in seiner Gesamtheit ablehnte. Im Anschluss an den erfolgreichen türkischen Unabhängigkeitskampf, der von Mustafa Kemal angeführt wurde, wurde der Vertrag von Sèvres durch den für die Türkei um einiges vorteilhafteren Vertrag von Lausanne im Jahre 1923 ersetzt. 5 Fatma Müge Göçek: The Transformation of Turkey. Redefining State and Society from the Ottoman Empire to the Modern Era. London 2011, S. 98. 6 Gemäß Göçeks Definition: „The Sèvres syndrome refers to those groups and institutions in Turkey who interpret all public interactions, domestic and foreign, through a framework of fear and anxiety over the possible annihilation, abandonment of betrayal of Turkish state by the West.“ ebd., S. 99.

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und ihrer offiziellen Wiederaneignung der Geschichte erklärt.7 Obschon sich der Kemalismus selbst als Zäsur verstand und den Bruch mit der osmanischen Vergangenheit herbeiführen wollte, sieht die Wissenschaft eine historische Kontinuität zwischen dem kemalistischen Regime in der türkischen Republik und der Jungtürken-Bewegung, welche im späten Osmanischen Reich von 1908 bis 1918 die Politik dominierte. Die kollektive Erinnerung und das Bewusstsein einer Gesellschaft können nicht von einem Tag auf den anderen geschaffen werden. Sie entstehen auf der Grundlage der historischen Erfahrungen einer Nation und sind abhängig von der jeweiligen Interpretation der Ereignisse. Das Hauptargument der hier vorgelegten Analyse ist demnach, dass die historischen Ursprünge des „Sèvres-Syndroms“ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert der osmanischen Geschichte und ihrer Aneignung durch die Jungtürken, aus welchen die späteren kemalistischen Kader hervorgingen, zu finden sind. In diesem Aufsatz wird argumentiert, dass dem „Sèvres-Syndrom“ eine tief verwurzelte „Belagerungsmentalität“ zugrunde liegt, welche sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert herausbildete und das Gedankengut der Jungtürken vom Ende des Osmanischen Reiches bis zur Gründung der Republik maßgeblich beeinflusste. Vom späten 17. und frühen 18. Jahrhundert an waren die Osmanen mit einem zunehmend expansionistischen Europa konfrontiert. Im späten 19. Jahrhundert, als die jungtürkische Bewegung entstand, wurde das Osmanische Reich zu einem Spielfeld der westlichen imperialen Mächte. Diese äußerten territoriale, rechtliche, ökonomische und politische Ansprüche sowohl gegenüber der Pforte als auch im gegenseitigen Wettkampf. Die Entstehung der jungtürkischen Bewegung und ihrer Weltanschauung war zu einem wesentlichen Teil eine Reaktion auf die territorialen Verluste, westlichen Interventionen und die westliche Expansion in Richtung des Osmanischen Reiches im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Es war die westliche Politik, die durch Unterminierung der territorialen und politischen Integrität des Reiches die Jungtürken dazu veranlasste, einen antiwestlichen Diskurs zu führen und eine Art „Belagerungsmentalität“ schaffte: die Ansicht, dass der Staat kurz vor einer Besetzung durch den Feind stünde und 7

Ebd., S. 100–111; Hakan Yılmaz: Euroscepticism in Turkey. Parties, Elites, and Public Opinion. In: South European Society and Politics 16 (2011), S. 1–24. Zusätzlich zu Göçeks detaillierter Studie, zu den historischen Gründen für antiwestliche Gefühle und Einstellungen in der Türkei, siehe Boğaç Erozan: Turkey and the West. A History of Ambivalence. In: Orient 50 (2009), S. 4–15; Hakan Yılmaz: Two Pillars of Nationalist Euro skepticism in Turkey. The Tanzimat and Sèvres Syndromes. In: Ingmar Karlsson/Annika Ström Melin (Hrsg.): Turkey, Sweden and the European Union. Experiences and Expectations. Stockholm 2006, S. 29–39.

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folglich einen Kampf ums nackte Überleben führe – einen Kampf, welchem sich die Jungtürken verpflichtet fühlten.8 Mithin wurden der antiwestliche Diskurs und die Belagerungsmentalität unter den Jungtürken zwei elementare Faktoren, die den aufkeimenden nationalistischen Diskurs und die türkische Identität formten, zum einen als organischer Prozess durch die Erfahrungen der Jungtürken, zum anderen als Erfindung, wie sie in den türkischen Schulbüchern der Republik exemplarisch auszumachen ist. Dieser Beitrag versucht, die Korrelation zwischen der Entstehung des jungtürkischen Gedankenguts und den westlichen Interventionen im Osmanischen Reich zu verstehen. Mit anderen Worten, es soll untersucht werden, wie die Jungtürken die westliche Politik gegenüber dem Osmanischen Reich wahrnahmen und interpretierten. Um diese Korrelation besser fassen zu können, beziehe ich mich nicht nur auf die umfassende Forschungsliteratur zu diesem Thema, sondern stütze mich auf die wichtigsten jungtürkischen Zeitschriften und Ego-Dokumente bzw. Selbstzeugnisse der Jungtürken.9 Diese jungtürkischen Autoren, die unterschiedlichen Berufsgruppen, wie Journalisten, Offizieren, Bürokraten und auch Schriftstellern, zugehörten, spielten eine entscheidende Rolle nicht nur im späten Osmanischen Reich, sondern auch in der jungen Türkischen Republik. Die jungtürkischen Zeitschriften spiegeln in den Jahren 1895–1914 unmittelbar die politischen Reaktionen der Jungtürken gegenüber den westlichen Interventionen im Osmanischen Reich wider. Die Selbstzeugnisse der Jungtürken jedoch, die in weit überwiegender Zahl erst in den Jahren nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches entstanden, sind für uns eine Informationsquelle für die hoch emotional gestimmte Interaktion zwischen der westlichen Interventionspolitik und der Formierung der jungtürkischen Weltanschauung. Da ein besseres Verständnis der Hauptbeweggründe der jungtürkischen Bewegung von großer Bedeutung ist, wird in dieser Untersuchung, welche aus drei Teilen besteht, in einem ersten Schritt die unstete politische und wirtschaftliche Lage des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert dargelegt. Im zweiten Teil werden die jungtürkische Bewegung und ihr antiwestlicher Diskurs behandelt. Der dritte Teil nimmt die Reaktion der Jungtürken auf westliche Interventionen nach der jungtürkischen Revolution und den Balkankriegen in den Blick. Eine 8 Der Terminus „Belagerungsmentalität“ („siege mentality“) stammt von George W. Gawrych: The Culture and Politics of Violence of Turkish Society, 1903–1914. In: Middle Eastern Studies 23 (1986), S. 307–330. 9 Den Begriff „Selbstzeugnis“ benutze ich in diesem Artikel, um alle Arten von Texten wie Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, persönliche Briefe etc. zu beschreiben, insofern der Autor hier persönliche Gefühle, Gedanken, Erfahrungen und Handlungen darlegt.

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Neubewertung der Wechselbeziehung zwischen der westlichen Politik gegenüber dem Osmanischen Reich und der Entstehung des jungtürkischen Gedankenguts findet sich im Fazit.

Der kranke Mann am Bosporus im Zeitalter des Imperialismus They [the Turks] are not the mild Mahometans of India, nor the chivalrous Saladins of Syria, nor the cultured Moors of Spain. They were, upon the whole, from the black day when they first entered Europe, the one great anti-human species of humanity. Wherever they went, a broad line of blood marked the track behind them; and, as far as their dominion reached, civilization vanished from view. William Ewart Gladstone (1809–1898), 1876.10

Das 19. Jahrhundert wird von Sozialwissenschaftlern vorwiegend als Jahrhundert der industriellen Revolution, der Wissenschaften, des Modernismus, des Imperialismus und Kolonialismus dargestellt und hauptsächlich durch den Entwicklungsbegriff charakterisiert. Während des 19. Jahrhunderts nahmen die westlichen Imperialmächte England, Frankreich, Deutschland, aber auch Russland weiterhin einen steilen Aufstieg. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde ein Großteil der Welt wirtschaftlich, militärisch und politisch von diesen Imperialmächten dominiert und die nichtwestliche Welt war im Wesentlichen von ihnen abhängig.11 Das Osmanische Reich, als letzte muslimische Weltmacht, die bis ins Zeitalter der Moderne und des Imperialismus überlebt hatte, stellte hier keine Ausnahme dar. Es wurde nicht länger zu den imperialen Mächten gezählt, die der damaligen Welt die Regeln vorgaben. Im 19. Jahrhundert war den osmanischen Eliten und Entscheidungsträgern, welche sich über die schwierige Position des Reiches 10 William Ewart Gladstone: Bulgarian Horrors and the Question of the East. London 1876, S. 10. Gladstone amtierte wiederholt als britischer Premierminister, insgesamt für einen Zeitraum von 12 Jahren. Von 1880 bis 1885 war er ununterbrochen Premierminister in Großbritannien. 11 Ende des 19. Jahrhunderts hatte die europäische Vorherrschaft in der Welt ein solches Ausmaß angenommen, dass mehr als 85% aller Territorien von europäischen Mächten kontrolliert wurden. Ussama Makdisi: Rethinking Ottoman Imperialism: Modernity, Violence and the Cultural Logic of Ottoman Reform. In: Jens Hanssen u. a. (Hrsg.): The Empire in the City. Arab Provincial Capitals in the Late Ottoman Empire. Würzburg 2002, S. 29–48, hier S. 32.

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auf internationaler Ebene sowie über die Überlegenheit des westlichen Militärs und der westlichen Technologie im Klaren waren, vielmehr daran gelegen, die territoriale und politische Integrität des Reiches zu schützen und zu bewahren. Tatsächlich war die politische Lage des Osmanischen Reiches gegenüber den westlichen Mächten im 19. Jahrhundert das Resultat eines schon länger andauernden historischen Prozesses. Seit dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert hatte das Osmanische Reich eine Serie von Rückschlägen und militärischen Niederlagen gegen die europäischen Mächte und das Russische Reich erlitten. Die nachfolgenden militärischen Niederlagen, der Verlust der ursprünglich muslimischen Halbinsel Krim 1774 an Russland, die Besetzung Ägyptens durch Napoleon 1798 und verschiedene separatistische Aufstände auf dem Balkan, welche entweder in der Unabhängigkeit oder Autonomie ehemals osmanischer Untertanen mündete, erweckte unter den osmanischen Eliten den Eindruck, dass das Osmanische Reich hinter den europäischen Staaten und dem Russischen Reich bezüglich militärischer, technologischer und wirtschaftlicher Fähigkeiten zurückzufallen begann. 12 Zusätzlich zu den territorialen Verlusten, den militärischen Niederlagen und den separatistischen Revolten gegen die Zentralregierung gefährdete ein weiteres Problem die Souveränität des Osmanischen Reiches: die Penetration der osmanischen Wirtschaft durch den Westen. Die zunehmende Ausnutzung der sogenannten Kapitulationen durch die westlichen Mächte machte erst recht die ökonomische Dominanz des Westens zu einem destabilisierenden Faktor. Kapitulationen waren in einem weiten Sinne juristische, gewerbliche, fiskalische und wirtschaftliche Privilegien und Konzessionen, die der Osmanische Sultan ausländischen Einwohnern im Reich gewährte. Gemäß diesen Privilegien waren die Besitzer solcher Kapitulationen nicht nur dem Gesetz ihres Herkunftslandes unterstellt, sondern waren zudem von bestimmten osmanischen Steuer- und Zollabgaben befreit.13 Waren die Kapitulationen, die die osmanischen Sultane gewährten, anfangs (also ab dem 16. Jahrhundert) ausschließlich den Kaufleuten aus befreundeten Staaten vorbehalten, so nahmen im 19. Jahrhundert auch untergeordnete Mächte nach und nach Rechte aus den Kapitulationen für sich in Anspruch.14 Dank ausländischer Konsuln, welche diese Rechte (berat) illegal an osmanische Kaufleute verkauften, kamen auch 12 Reneé Worringer: Sick Man of Europe or Japan of the Near East? Constructing Ottoman Modernity in the Hamidian and Young Turk Eras. In: International Journal of Middle East Studies 36 (2004), S. 207–230, hier S. 208–209. 13 Donald Quataert: The Ottoman Empire, 1700–1922. Cambridge 2000, S. 77–78. 14 Während des 19. Jahrhunderts unterzeichneten auch Staaten wie Sardinien, Schweden, Norwegen, Spanien, die Niederlande, Belgien, Preußen (und andere Signatarmächte des Zollvereins), Dänemark, die Toskana, die Hansestädte, Portugal, die zwei Sizilien, Griechenland und Brasilien, Mexiko, die Herzogtümer Mecklenburgs und Bayern ähnliche

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zahlreiche osmanische Staatsangehörige während des 19. Jahrhunderts in den Besitz solcher Privilegien.15 Die einheimischen osmanischen Staatsangehörigen, welche Kapitulationsrechte besaßen – zu einem Großteil waren es Nichtmuslime – stellten für die osmanische Regierung des 19. Jahrhunderts eine andauernde Irritation dar.16 Zum einen wurden sie aufgrund ihrer Kapitulationsrechte zu Schutzbefohlenen der Großmächte. Dies führte zu einem „Protégé-System“ im Osmanischen Reich, das die osmanische Souveränität und Legitimität erheblich unterminierte.17 Als Schutzbefohlene von westlichen Kaufleuten wurden diese einheimischen nichtmuslimischen Handelsleute, zusammen mit den ausländischen, die dominierende Kraft im osmanischen Handel und Gewerbe, insbesondere in den Hafenstädten, wo sie von besonderen Bedingungen hinsichtlich Steuern und gesetzlichen Vorgaben profitierten.18 Wie Feroz Ahmad feststellt, wurden Kapitulationen – das grundlegende Mittel westlicher Intervention – für die osmanischen Eliten daher Verträge mit dem Osmanischen Reich. Feroz Ahmad: Ottoman Perception of the Capitulations, 1800–1914. In: Journal of Islamic Studies 11 (2000), S. 1–20, hier S. 6. 15 Ebd., S. 3. 16 Die Zahl der einheimischen osmanischen Staatsangehörigen, die in den Schutz der Großmächte kamen, erhöhte sich beständig während des 19. Jahrhunderts. Die Österreicher hatten beispielsweise am Ende des 18. Jahrhunderts 200.000 Bürger des Osmanischen Reiches unter ihrem Schutz. Bruce McGowan: The Ages of Ayan, 1699–1812. In: Halil İnalcik/Donald Quataert (Hrsg.): An Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300–1914. London 1994, S. 696. Russland hatte bis 1808 ungefähr 120.000 Griechen als Schutzbefohlene übernommen; Ahmad: Ottoman Perception of the Capitulations, S. 5. Die Zahl der Schutzbefohlenen Großbritanniens lag 1856 bei ungefähr einer Million. Roderic H. Davison: Reform in the Ottoman Empire. Princeton 1963, S. 73, fn. 75. 17 Die europäische Einflussnahme, die von den Kapitulationen herrührte, konnte politischer, diplomatischer oder wirtschaftlicher Natur sein. Davison beschreibt die europäische Penetration der Politik im Osmanischen Reich mit folgenden Worten: „European ambassadors in Istanbul sometimes seemed to act like little sovereigns, and European consuls in the provinces like little lords.“ Roderic H. Davison: Ottoman Diplomacy and its Legacy. In: L. Carl Brown (Hrsg.): Imperial Legacy. The Ottoman Imprint on the Balkans and the Middle East. New York 1996, S. 174–199, hier S. 178. 18 Çağlar Keyder: State and Class in Turkey. A Study in Capitalist Development. London 1987, S. 20–21; Fatma Müge Göçek/Murat Özyüksel: The Ottoman Empire’s Negations of Western Liberal Imperialism. In: Mathew P. Fitzpatrick (Hrsg.): Liberal Imperialism in Europe. New York 2012, S. 193–218; Immanuel Wallerstein/Hale Decdeli/Reşat Kasaba: The Incorporation of the Ottoman Empire into the World-Economy. In: Huri-İslamoğlu İnan (Hrsg.): The Ottoman Empire and the World-Economy. Cambridge 1987, S. 88–97; Timur Kuran: The Economic Ascent of Middle East’s Religious Minorities. The Role of Islamic Legal Pluralism. In: Journal of Legal Studies 33 (2004), S. 475–515. Andererseits bestand die Mehrheit der Nichtmuslime, genau wie die der Muslime im Reich, aus Landarbeitern, die einen Überlebenskampf unter der harten Last der Agrarsteuern führten.

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zum Symbol der osmanischen Unterlegenheit gegenüber den westlichen Mächten.19 In diesem Kontext konnten die osmanischen Eliten in ihrem Bestreben, auf internationaler Ebene als gleichberechtigte Partner behandelt zu werden, zahlreiche Anläufe unternehmen, um die Kapitulationen zu kündigen – die Versuche erwiesen sich indes jedes Mal als fruchtlos.20 Die erste Reaktion der osmanischen Eliten auf die territoriale und wirtschaftliche Expansion des Westens war eine Modernisierung der Armee, um die territoriale Integrität des Reiches zu sichern. Die osmanischen Reformen, deren Ursprung in der militärischen Sphäre war, zogen im Verlauf des 19. Jahrhunderts weite Kreise. Unmittelbar vor den Tanzimat-Reformen (Reformen zur Neuorganisation des Reiches), deren Ära mit der Proklamation des Hatt-ı Hümayun von Gülhane im Jahr 1839 begann und bis ungefähr 1876 dauerte, gelangte ein Großteil der osmanischen Eilten und Bürokraten zur Einsicht, dass Reformen und eine Modernisierung des Reiches für sein Überleben unabdingbar seien. Obschon die Staatseinnahmen während der Tanzimat-Ära unzureichend waren, führten die osmanischen Zentralregierungen und die bürokratischen Eliten drastische Reformen in verschiedenen Bereichen ein. Diese reichten von Steuererhebungen, militärischer Rekrutierung, Gerichtsverfahren und dem Bildungssystem bis zur Provinzverwaltung im ganzen Reich. Die Reformen, welche auf westlichen Vorbildern beruhten, zielten auf eine Zentralisierung und Modernisierung der Verwaltung im Allgemeinen und der Provinzverwaltung im Besonderen ab. Sie sollten die territoriale Integrität gegenüber aufkommenden nationalistischen Bewegungen und den westlichen Mächten sichern und die verschiedenen ethnischen und religiösen Elemente der osmanischen Gesellschaft unter dem Banner der Osmanen vereinen. Daran ist ersichtlich, wie stark die Konfrontation mit 19 Ahmad: Ottoman Perception of the Capitulations, S. 6. 20 Wie die Selbstzeugnisse einiger führender jungtürkischer Intellektueller nahelegen, scheint es, dass die Kapitulationen einige signifikante Effekte auf die Bildung der türkischen Nationalidentität hatten. Eine Anekdote, die Yakup Kadri (1889–1974), ein berühmter Schriftsteller und Abgeordneter der republikanischen Periode, in einem seiner Werke erzählt, vermag zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses zwischen den Kapitulationen und einer türkischen nationalen Identität beizutragen. Der elfjährige Yakup Kadri sah, wie einige europäische Reisende brutal auf türkische Kinder einschlugen, und wollte dies der Polizei melden. Die bittere Antwort seines Vaters war: „Mein Sohn, was kann die Polizei schon gegen Ausländer unternehmen?“ Dies machte ihm die Aussichtslosigkeit seines Unterfanges klar. In seinen Worten: „Als ich diese Bemerkung hörte, alterte ich auf einen Schlag um zehn Jahre. Ein melancholischer Ernst befiel mich, und seit diesem Moment, glaube ich, begann die Wunde meines nationalen Stolzes zu bluten. Von diesem Zeitpunkt an, für die nächsten 25 Jahre, tropfte das Blut dieser Wunde auf mein Herz.“ Yakup Kadri Karaosmanğlu: Atatürk. Ankara 1961, S. 10.

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der westlichen Übermacht die Dynamik des politischen und sozialen Wandels im Osmanischen Reich bestimmte. Das Ziel des Staates war letztendlich, sich vor den zunehmenden Eingriffen des Westens zu schützen. Der Impetus zur Modernisierung und zu Reformen im Reich verstärkte sich während der Regierungszeit von Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876–1909). Abdülhamid setzte 1878 die osmanische Konstitution außer Kraft, er schloss das osmanische Parlament und griff auf deutlich autoritärere Regierungsformen zurück. Parallel zu den einschneidenden demographischen Veränderungen, die von der Niederlage gegen das Russische Reich 1878 herrührten,21 wurde der Islam vom neuen Sultan deutlicher als zuvor als vereinende Ideologie benutzt. Um die Solidarität zwischen den muslimischen Staatsangehörigen zu festigen und die ungleiche Beziehung zum Westen zu überwinden22, betonte die Zentralregierung der hamidischen Periode sowohl den islamischen Charakter des Reiches wie auch den Anspruch des osmanischen Kalifen, geistlicher Führer der Muslime weltweit zu sein.23 Aus diesen osmanischen Reformen des 19. Jahrhunderts resultierte, dass die zentralisierte osmanische Staatsstruktur mächtiger, rationaler, spezialisierter und potenter wurde, ihren Willen der Gesellschaft aufzuerlegen.24 Alle von den osmani21 Als der Russisch-Osmanische Krieg der Jahre 1877–1878 zu Ende ging, hatte das Osmanische Reich ungefähr 200.000 km2 seines einstigen Gebietes und 5.5 Millionen seiner Bevölkerung, davon die meisten Nichtmuslime, verloren. Der Krieg führte zudem zu einer enormen Flüchtlingswelle von Muslimen aus dem Balkan und dem Kaukasus nach Anatolien. Kemal H. Karpat: The Politicization of Islam. Reconstructing Identity, State, Faith, and Community in the Late Ottoman State. Oxford 2001, S. 183. Bedingt durch diese enormen demographischen Veränderungen hatte sich der muslimische Bevölkerungsanteil im Jahre 1880 auf 75% erhöht. Vgl. François Georgeon: Sultan Abdülhamid (trans. Ali Berktay), Istanbul 2003, S. 226. 22 Caeser E. Farah beschreibt die islamische Politik von Sultan Abdülhamid  II . wie folgt: „Abdülhamid preferred to use the sword of Islam, like the sword of Damocles, to frighten and intimidate his enemies more specifically to scare off the vultures of imperial Christendom […]“ Caeser E. Farah: Reassessing Sultan Abdülhamid  II’s Islamic Policy. In: Archivum Ottomanicum 14 (1995–1996), S. 191–212, hier S. 192. 23 Selim Deringil: Legitimacy Structure in the Ottoman State. In: International Journal of Middle East Studies 23 (1991), S. 345–359; Hasan Kayali: Arabs and Young Turks. Berkeley 1997, S. 30–31. So wurde zum Beispiel der Name des osmanischen Kalifen regelmäßig in allen Freitagspredigten der islamischen Welt mit erwähnt, mit dem Ziel natürlich, die religiöse Autorität des osmanischen Sultans über die Gesamtheit der Muslime in der islamischen Welt herauszustreichen. İlber Ortayli: 19. Yüzyılda Panislamizm ve Osmanlı Hilafeti [Panislamismus und das osmanische Kalifat im 19. Jahrhundert]. In: Türkiye Günlüğü 31 (1994), S. 25–31, hier S. 27. 24 Donald Quataert: The Age of Reforms, 1812–1914. In: Halil İnalcik/Donald Quataert (Hrsg.): An Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300–1914. London

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schen Regierungen und Staatsmännern während des 19. Jahrhunderts getroffenen Maßnahmen, um die politische und territoriale Integrität zu schützen, konnten weitere interne und externe Bedrohungen der osmanischen Souveränität nicht abwenden. Diese sah sich an verschiedenen Fronten mit Herausforderungen konfrontiert: Osmanische Gebiete wie Zypern, Tunesien und Ägypten wurden 1878, 1881 und 1882 von europäischen Mächten besetzt; separatistische Nationalbewegungen waren weiterhin aktiv; der finanzielle Bankrott des Osmanischen Reiches hatte zur Folge, dass 1881 eine öffentliche Schuldenverwaltung (Public Debt Administration; PDA) eingeführt wurde, welche die jährlichen osmanischen Staatseinnahmen kontrollierte, um die angehäuften Darlehensschulden auszugleichen.25 Die Kapitulationen, in ihren wirtschaftlichen und rechtlichen Aspekten, dienten den Europäern weiterhin als Instrumente für wirtschaftliche und politische Eingriffe. Infolgedessen war das Osmanische Reich nicht mehr wirklich Subjekt, sondern wurde zunehmend zum Objekt der internationalen Politik dieser Zeit. Um dem sich verändernden Machtgefüge etwas entgegenzusetzen, blieb den osmanischen Eliten nichts anderes übrig, als eine defensive Haltung auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen einzunehmen und aus den Rivalitäten zwischen den Großmächten einen möglichst großen Nutzen zu ziehen und dadurch den Handlungsspielraum des Osmanischen Reiches zu erweitern.26 1994, S. 762. 25 Die öffentliche Schuldenverwaltung (Public Debt Administration; PDA) wurde von einem siebenköpfigen Gremium geleitet, das die europäischen Gläubiger vertrat und einen gigantischen Beamtenapparat von mehr als 5000 Mitarbeitern führte. Sie war damit grösser als das osmanische Finanzministerium. Die PDA war weitgehend unabhängig von der osmanischen Regierung und hatte das Recht, verschiedene Steuereinnahmen wie die Tabaksteuer und Salzmonopole zu kontrollieren und bei der Erstellung der osmanischen Finanzbudgets zu intervenieren. An der Wende zum 20. Jahrhundert bezog die PDA zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Einkünfte des Reiches. Reşat Kasaba: The Ottoman Empire and the World Economy. The Nineteenth Century. New York 1988, S. 110–111. 26 Das Osmanische Reich war seit dem Pariser Vertrag von 1856 Mitglied des „Europäischen Konzerts der Großmächte.“ Gemäß dem siebten Artikel des Pariser Vertrages erklärten sich die Unterzeichner damit einverstanden, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Osmanischen Reiches zu respektieren. Darüber hinaus unterzeichneten Österreich, Frankreich und Großbritannien einen separaten Vertrag, in welchem sie weitere Garantien der Unabhängigkeit und Integrität des Osmanischen Reiches abgaben. Turan Kayaoğlu: Legal Imperialism: Sovereignty and Extraterritoriality in Japan, the Ottoman Empire, and China. Cambridge 2010, S. 109. Das Hauptmotiv Europas bei seiner Verpflichtung zur Gewährleistung der territorialen Integrität des Osmanischen Reiches war jedoch nicht kulturell motiviert, sondern das Resultat einer Strategie, welche der russischen Expansion nach Westen Einhalt gebieten sollte und die vorsah, das Osmanische Reich als „Pufferzone“ zu nutzen. So war laut den Notizen von Palmerston, dem britischen Premierminister während des

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Im späten 19. Jahrhundert war das Osmanische Reich formell ein unabhängiger und souveräner Staat; in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht befand es sich jedoch in einem raschen Abgleiten in die Abhängigkeit. Kurz vor der Entstehung der jungtürkischen Bewegung ergab sich – wie es Carter Findley, Maurus Reinkowski, Halil İnalcık und Doğu Ergil prägnant beschreiben – eine Art semikolonialer Status des Osmanischen Reiches im Vergleich zu den europäischen Großmächten.27 Diese osmanische Abhängigkeit beeinflusste die jungtürkische Bewegung und das Gedankengut der Jungtürken maßgeblich.

Antiwestliches Gedankengut und die Jungtürken Wann immer sich die Großmächte in unsere inneren Angelegenheiten einmischten, endete ihre Intervention damit, dass sie einen Teil [des Reiches] von uns abtrennten, oder dass sie neue Privilegien für Profiteure und Missionare erhielten; kurzum, immer schwächten sie die Stärke des Türken. Şura-yı Ümmet, jungtürkische Zeitung, 1902.28

Jungtürke ist ein politischer Ausdruck, der in Europa erfunden wurde, um die konstitutionelle osmanische Opposition gegen Sultan Abdülhamid II. zu beschreiben. Zu Beginn war die jungtürkische Bewegung ein Geheimbund, der von einer Krimkrieges, das grundlegende Ziel der Briten „to curb the aggressive ambition of Russia. We went to war not so much to keep the Sultan and his Mussulmans in Turkey as to keep the Russians out of Turkey.“ W. E. Mosse: The Rise and Fall of the Crimean System, 1855–1871. The Story of a Peace Settlement. London 1963, S. 1; zitiert in Şükrü Hanioğlu: A Brief History of the Late Ottoman Empire. Princeton 2008, S. 78. 27 Carter Vaughn Findley: An Ottoman Occidentalist in Europe. Ahmed Midhat Meets Madame Gülnar, 1889. In: The American Historical Review 103 (1998), S. 15–49, hier S. 19; Maurus Reinkowski: The Imperial Idea and Realpolitik: Reform Policy and Nationalism in the Ottoman Empire. In: Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen (Hrsg.): Comparing Empires: Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2011, S. 453–471; Maurus Reinkowski: Hapless Imperialists and Resentful Nationalists. Trajectories of Radicalization in the Late Ottoman Empire. In: ders./Gregor Thum (Hrsg.): Helpless Imperialist: Imperial Failure, Fear and Radicalization. Göttingen 2013, S. 47–67; Halil İnalcik: Turkey and Europe in History. Istanbul 2008, S. 117–118; Doğu Ergil: Development of Turkish Semi-Colonialism. In: Islamic Studies 18 (1979), S. 183–229. 28 „Müdahale-i Ecnebiye [Ausländische Intervention]“, Şura-yı Ümmet, no. 1 (1902), 1; zitiert in Şükrü Hanioğlu: Preparation for A Revolution: The Young Turks, 1902–908. Oxford 2001, S. 34.

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Gruppe von Studenten unter dem Namen İttihad-ı Osmani Cemiyeti (Gesellschaft der osmanischen Einheit) 1889 an der Medizinischen Militärakademie in Istanbul gegründet wurde. Anders als der Name Jungtürke vermuten lässt, war keiner der Gründungsmitglieder ein ethnischer Türke. Der Student İshak Sukuti (1868–1902) war ein Kurde; İbrahim Temo (1865–1939), der Gründer der Gruppe, ein Albaner; Mehmet Reşit (1873–1919) war ein Tscherkesse und Abdullah Cevdet (1869–1932) ein Kurde.29 Mit anderen Worten, die Gesellschaft spiegelte deutlich die multinationale Struktur des Reiches wider. Die Hauptziele der Gesellschaft waren die Beendigung des hamidischen Regimes, die erneute Inkraftsetzung der Konstitution von 1876 und die Wiedereröffnung des Parlaments, alles Maßnahmen, die zu dieser Zeit als Allheilmittel für die innen- und außenpolitischen Probleme des Landes angesehen wurden. Während der folgenden Jahre gewann die Gesellschaft nach und nach Anhänger aus anderen Hochschulen Istanbuls, insbesondere unter den Studenten der Militärschulen. Neue Ableger der Organisation entstanden dadurch.30 Die Gesellschaft stellte auch Kontakte zu politischen Emigranten in Europa her, welche seit der Aufhebung der Konstitution im Jahr 1878 eine kleine Diasporagruppe in Paris aufrechterhielten. Ahmet Rıza (1859–1930) war einer der namhafteren Kontaktpersonen der Organisation, da er zu den prominentesten osmanischen Intellektuellen zählte und zu dieser Zeit für seine positivistischen Ideen bekannt war. Die Gesellschaft für osmanische Einheit wurde 1894 in Osmanlı İttihad ve Terakki Cemiyeti (Osmanisches Komitee für Einheit und Fortschritt) umbenannt und nahm allmählich den Charakter einer Dachorganisation für die Gegner des hamidischen Regimes an.31 Da die Jungtürken hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres sozialen Hintergrunds, ihrer geographischen Herkunft und ihrer Berufe keine homogene Gruppierung darstellten, hatte die Gesellschaft keine monolithische ideologische oder weltanschauliche Einstellung. 32 Zu den 29 İbrahim Temo: İbrahim Temo’nun İttihad ve Terakki Anıları [Ibrahim Temos Memoiren zum Komitee für Einheit und Fortschritt]. Istanbul 2000, S. 13–15. Ahmet Bedevi Kuran zählt auch Hüseyinzade Ali (1864–1941) zu den Gründern der Gesellschaft. Ahmet Bedevi Kuran: Osmanlı İmparatorluğu’nda İnkılap Hareketleri ve Milli Mücadele [Revolutionäre Bewegungen im Osmanischen Reich und der Nationale Befreiungskrieg]. Istanbul 2012, S. 155. 30 Erik Jan Zürcher: The Unionist Factor. The Role of the Committee of Union and Progress in the Turkish National Movement, 1905–1926. Leiden 1984, S. 14; Ernest Edmondson Ramsaur: The Young Turks. Prelude to the Revolution of 1908. Princeton 1957, S. 14–16. 31 Şükrü Hanioğlu: Young Turks in Opposition. New York 1995, S. 74. 32 Zürcher hat einige gemeinsame Merkmale der Jungtürken bestimmt. Gemäß Zürchers Klassifizierung waren die Jungtürken vornehmlich männlich, Muslime, die in modernen Schulen nach westlichem Vorbild ausgebildet wurden, jung, urban, gebildet und Kinder

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Mitgliedern zählten unter anderen Ahmet Rıza und Dr. Nazım, die türkischer Herkunft waren, Albaner wie İsmail Kemal, christliche Araber wie Khalil Ghanem oder Juden wie Albert Fua. Sie alle waren zu Beginn der Bewegung maßgebliche Unterstützer der Gesellschaft.33 Es ist richtig, dass die sehr unterschiedlichen Mitglieder in vielen Punkten uneins waren, sie stimmten jedoch in ihrer Opposition gegen fremde Interventionen in die osmanische Innenpolitik und gegen die wirtschaftliche Penetration der Großmächte überein.34 Der westliche Imperialismus, der das Nichtwestliche mit Bezugnahme auf pseudowissenschaftliche Rassentheorien generell als unterlegen klassifizierte35 und die territoriale und politische Souveränität des Osmanischen Reiches gefährdete, war der gemeinsame Feind einer großen Mehrheit der Jungtürken.36 Eine antiwestliche Einstellung war daher einer der Hauptbestandteile des ideologischen Diskurses der Jungtürken-Bewegung und unter den zahlreichen jungtürkischen Publikationen finden sich viele Werke, die den westlichen Imperialismus kritisieren. Wie in den Schriften der Jungtürken zu lesen ist, sahen die Jungtürken in den Privilegien, die das Osmanische Reich europäischen Staaten gewährte, das grundlegende Instrument, um die osmanische Souveränität zu zerstören: Wie wir beobachten können, schert sich Europa in jedem Bereich nur um seine eigenen Interessen. Wenn es nicht ein großartiges Resultat im Sinne der eigenen Interessen erkennt, wird es uns niemals helfen […] Können wir nicht beobachten, dass sogar die kleinste Genehmigung und das kleinste Privileg, das ausländischen Regierungen zugestanden wurde – sei es auch nur Freundlichkeit und Respekt aus einem Gefühl der Gastfreundschaft heraus –, später als Prärogativ in den Abkommen und Kapitulationen erschien? Es ist unmöglich, ein Privileg zu widerrufen, das einst zugestanden

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von Staatsangestellten. Die geografischen Wurzeln vieler Jungtürken lagen in den Balkanprovinzen des Osmanischen Reiches. Erik Jan Zürcher: The Young Turks. Children of the Borderlands? In: International Journal of Turkish Studies 9 (2003), S. 275–285; Erik Jan Zürcher: The Young Turk Legacy and Nation Building. From the Ottoman Empire to Atatürk’s Turkey. London 2010, S. 95–109. Hanioğlu: Preparation, S. 2–7; Hanioğlu: Young Turks in Opposition, S. 168–169; Kayali: Arabs and Young Turks, S. 3–4. Hanioğlu: Preperation, S. 34. Genaueres zu den europäischen Rassentheorien, die nichtwestliche Menschen geringer schätzten siehe Worringer: Sick Man of Europe or Japan of the Near East, S. 216, 228. Demgegenüber betrachteten Prinz Sabahaddin (1878–1948) und seine Gruppe, wie Hanioğlu gezeigt hat, den westlichen Imperialismus nicht als ernst zu nehmende Gefahr. Das Magazin von Prinz Sabahaddin, Terakki [Der Fortschritt], publizierte daher keine Kritik am westlichen Imperialismus. Hanioğlu: Preparation, S. 304–305.

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wurde – wenn auch eigentlich nur zeitlich begrenzt. Wenn Europa unserer Einladung folgen würde, um uns zu retten, würde es als erstes versuchen, die Armenier und Mazedonier von uns abzutrennen.37

Die Jungtürken reagierten zudem äußerst empfindlich auf Behauptungen der westlichen Überlegenheit aufgrund der Rasse, da sie befürchteten, diese Behauptungen könnten als Vorwand dienen, die Türken nach Asien zurückzudrängen. Die demütigende Behandlung […] der dunklen, farbigen und schwarzen Rassen durch die Völker Westeuropas und insbesondere durch die Engländer und Amerikaner ist ein bekannter Fakt. Obwohl die meisten Türken zur Rasse der Europäer gehören, liegt es im Bedürfnis vieler Mächte zu beanspruchen, dass die Türken nicht zur weißen Rasse gehören würden, sondern in Gänze asiatisch seien, damit man später diese Behauptung als Argument nutzen kann, um uns vollständig aus Europa herauszudrängen und uns an unserer Herrschaft über christliche Nationen zu hindern.38

In den Augen der Jungtürken war, wie Hanioğlu feststellt, die europäische Politik gegenüber dem Osmanischen Reich einzig und allein Teil eines umfassenden europäischen Imperialismus, der moralischer Werte entbehrte.39 Diesbezüglich reflektieren die Worte Ahmet Rızas vielleicht am besten die vorherrschende Stimmung unter den Jungtürken gegenüber dem europäischen Imperialismus: „Die europäische Politik, welche das Osmanische Reich bedrohte, war ein moderner Kreuzzug.“40 Rıza fügt hinzu, dass „wenn europäische Staaten keinen logischen Grund zur Besetzung eines Landes und zur Beschlagnahmung des Eigentums der Einheimischen 37 „Müdahale-i Ecnebiye [Ausländische Intervention],“ Şura-yı Ümmet, no. 1 (1902), 1; zitiert in Hanioğlu: Preparation, S. 34. 38 „Londra’dan [Aus London],“ Şura-yı Ümmet, no.  50 (April  1, 1904),  3; zitiert in Hanioğlu: Preparation, S. 36. 39 Hanioğlu: Preparation, S. 302. 40 Ahmet Riza: Batının Doğu Politikasının Ahlaken İflası [Der moralische Zusammenbruch der Orientpolitik des Westens] (trans. Ziyad Ebüzziya). Istanbul 1982, S. 23–26. Dieses Buch wurde das erste Mal 1922 auf Französisch in Paris publiziert und trug den Titel „La faillite morale de la politique occidentale en Orient“. In seinen Memoiren stellt Ahmet Rıza den Islam als Hauptgrund für die europäische Feindseligkeit gegenüber dem Osmanischen Reich dar. Ahmet Riza: Meclis-i Mebusan ve Ayan Reisi Ahmet Rıza Bey’in Anıları [Memoiren des Parlaments- und Senatspräsidenten Ahmet Rıza Bey]. Istanbul 1988, S. 23, 58. Interessanterweise bezeichnet auch Sultan Abdülhamid II., der Erzfeind der Jungtürken, in seinen Memoiren die europäische Politik gegenüber dem Osmanischen Reich als „Kreuzzug“. Sultan Abdülhamid: Siyasi Hatıratım [Meine politischen Erinnerungen]. Istanbul 2010, S. 98–99.

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finden konnten, so beteuerten sie ihre Absicht, diesem Land die Errungenschaften der zivilisierten Welt bringen zu wollen, da die Bewohner zu einer unterlegenen Rasse gehören würden.“41 Von dieser Wahrnehmung des europäischen Imperialismus ausgehend, betonten die Jungtürken die Wichtigkeit der islamischen Einheit unter den muslimischen Staatsangehörigen des Reiches, um so den europäischen Mächten etwas entgegensetzen zu können. İshak Sukuti forderte, dass „die Albaner und Kurden, gemeinsam mit den anderen Muslimen des Reiches, sich mit den Türken gegen den Westen zusammenschließen müssten, um europäische Pläne, die zugunsten der Christen auf dem Balkan und in Anatolien auf eine Abspaltung ihrer Gebiete vom gemeinsamen Vaterland abzielen, zu zerschlagen.“42 In einem anderen in Şüra-yı Ümmet [islamische Ratsversammlung] erschienenen Artikel verurteilten die Jungtürken abermals den europäischen Imperialismus, da er zu einem Massaker der indigenen Bevölkerung Amerikas geführt und den gesamten afrikanischen Kontinent geplündert habe und jetzt das Osmanische Reich ins Visier nehme.43 Der Hauptgrund, welcher die Großmächte von einer Teilung des Osmanischen Reiches abhielt, war für die Jungtürken das Gleichgewicht der Kräfte in Europa: So wie die Großmächte sich das Prinzip der ‚territorialen Integrität des erhabenen Staates‘ erdachten, weil sie sich nicht über die Teilung unseres Landes einig wurden, so haben sie jetzt die Formel von der ‚Aufrechterhaltung seiner Unabhängigkeit‘ erfunden, um zu verhindern, dass eine Macht die Dominanz im Orient erlangt.44

Seinen Höhepunkt erreichte der antiwestliche Diskurs der Jungtürken zweifelsohne in der jungtürkischen Zeitschrift Türk [Der Türke], die in Ägypten herausgegeben wurde. Gemäß den Herausgebern der Zeitschrift waren alle westlichen Großmächte, ohne jede Ausnahme, imperialistisch und der türkischen Nation feindlich gesinnt.45 Der Sieg Japans über Russland im Jahr 1905, welcher der antikolonialen 41 Riza: Batının Doğu Politikasının Ahlaken İflası, S. 27. 42 İshak Sukuti, Arnavudlar ve Kürtler [Albaner und Kurden], in: Osmanlı, no.  51, (January 1, 1900), 1; zitiert in Sükrü Hanioğlu: Turkism and the Young Turks, 1889–1908. In: Hans-Lukas Kieser (Hrsg.): Turkey Beyond Nationalism. Towards Post-Nationalist Identities. London 2006, S. 3–19, hier S. 5. 43 „Şundan Bundan [Von Diesem und Jenem],“ Şura-yı Ümmet, no.  61 (October  10, 1904), 3; zitiert in Hanioğlu: Preparation, S. 302. 44 „Boğazlar [Die Meerengen],“ Şura-yı Ümmet, no. 13 (October 3, 1902), 1; zitiert in Hanioğlu: Preparation, S. 35. 45 „Memleketimizde Almanlar [Die Deutschen in unserer Heimat],“ Türk, no. 119 (February 22, 1906), S. 1; „Türkiye’de Almanlar [Die Deutschen in der Türkei],“ Türk, no. 124 (March 29, 1906), 1; zitiert in Hanioğlu: Preparation, S. 72.

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Bewegung in Asien starken Auftrieb verschaffte, bekräftigte die jungtürkischen Überzeugungen hinsichtlich des europäischen Imperialismus und seiner Modernisierungsmacht.46 In den Augen vieler Jungtürken war der japanische Sieg ein deutlicher Beweis für die Ungültigkeit der westlichen Rassentheorien, welche die Asiaten als Rasse von niederem Rang einstuften, und zerstörte die Vorstellung von der Unbesiegbarkeit des Westens durch nichtwestliche Staaten.47 Der japanische Sieg über Russland, über Jahrhunderte hinweg der Erzfeind des Osmanischen Reiches, steigerte die Faszination der Jungtürken so sehr, dass einige von ihnen sich für die Aufnahme in die japanische Armee bewarben.48 Halide Edip (Adıvar) (1884–1964), eine berühmte Autorin dieser Zeit, nannte ihren neugeborenen Sohn Hasan Hikmetullah Togo, nach dem großen japanischen Seehelden Admiral Togo Heihachir im russisch-japanischen Krieg.49 Ein anderer prominenter Jungtürke, Kazım Karabekir (1882–1948), der zu dieser Zeit an der Militärakademie studierte, beschreibt die Sympathie der jungen Studenten an der Militärakademie für die Japaner wie folgt: Die ganze Schule war in Freude. Für eine lange Zeit galt unsere Aufmerksamkeit dem Fernen Osten. Jeder machte Prognosen. Wir hatten keinen Zweifel, dass die Japaner siegen würden. Wir sahen die Erfolge der Japaner als unsere eigenen an. Wir jubilierten ‚Lang lebe Admiral Togo!‘, der Mann, der die Baltische Flotte zerstörte. Wir jubelten außerdem für Kommandeure wie Nojiyama, Kroki, Oku.50

46 Eine Anekdote des chinesischen Nationalisten Sun Yat-sen (1866–1925) illustriert, wie die Massen in der islamischen Welt den japanischen Sieg über Russland beurteilten. Bei seiner Rückkehr mit dem Schiff von London nach China Ende 1905 wurde Sun Yatsen von arabischen Hafenarbeitern gratuliert, die dachten, er sei ein Japaner. Pankaj Mishra: From the Ruins of Empire. The Intellectuals who Remade Asia. New York 2012, S. 2. Genaueres zu den Auswirkungen des japanischen Sieges über Russland in der islamischen Welt findet sich in Klaus Kreiser: Der japanische Sieg über Russland (1905) und sein Echo unter den Muslimen. In: Die Welt des Islams 21 (1981), S. 209–239. 47 Cemil Aydin: A Global Anti-Western Moment. The Russo-Japanese War and the Decolonization and Asian Modernity. In: Sebastian Conrad/Dominic Sachsenmaier (Hrsg.): Competing Visions of the World Order: Global Moments and Movements, 1880s–1930s. New York 2007, S. 213–236; Nader Sohrabi: Revolution and Constitutionalism in the Ottoman Empire and Iran. Cambridge 2011, S. 76. 48 Hanioğlu: Preparation, S. 304. 49 Halide Edip Adivar: House with Wisteria. Memoirs of Turkey Old and New. Charlottesville 2003, S. 179. 50 Kazım Karabekir: Hayatım [Mein Leben]. Istanbul 2008, S. 157, 170.

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In der Wahrnehmung der Jungtürken wurde Japan zum perfekten Vorbild für das schwächelnde Osmanische Reich.51 Abdullah Cevdet beschreibt treffend die zunehmende türkische Identifikation mit Japan: Japan has become more and more conscious of its high civilization mission in Asia […] We read in The Times newspaper an excerpt from the speech Japanese Parliament’s ex-president Okuma. We are pleased to reproduce the following passage from it: ‚It is incumbent upon us that we who hold the banner of Asian civilization have the sacred duty of tendering a helping hand to China, to India, to Korea, to all the nations of Asian civilization. They wish us, as their powerful friends, to free them of the yoke that Europe imposed upon them, and show the world that the Orient can have a confrontation with the West on the battlefield‘ […] One can hardly say it better and it is far from being a‚ yellow peril‘ […] Japan is therefore the carrier of the sword and the torch: the sword, for the oppressors, for the insolent invaders: the torch for the oppressed, for those that shine unto themselves and die for lack of light and liberty. An admirable example to follow!52

Die Faszination der Jungtürken für Japan begründete sich in den jüngsten militärischen und wirtschaftlichen Erfolgen Japans, vor allem aber auch in der Tatsache, dass sich Japan damit den Respekt der Großmächte erworben hatte. Aufgrund des japanischen Erfolgs gegen das zaristische Russland – der Erzfeind des Osmanischen Reiches – fiel es ihnen nicht schwer, sich mit Japan zu identifizieren und auf ähnliche Erfolge zu hoffen. In den Augen vieler Jungtürken war Japan ein asiatisches Reich, das ebenfalls über lange Zeit hinweg von westlichen

51 Cemil Aydın: The Question of Orientalism in the Pan-Islamic Thought. The Origins, Content and Legacy of Transnational Muslim Identity. In: Sucheta Mazumdar u. a. (Hrsg.): From Orientalism to Postcolonialism. Asia, Europe and Lineages of Difference. London 2009, S. 107–128; Handan Nezir Akmeşe: The Japanese Nation in Arms. A Role Model for Militarist Nationalism in the Ottoman Army, 1905–1914. In: Renée Worringer (Hrsg.): The Islamic Middle East and Japan. Princeton 2007, S. 63–89. Darüber hinaus nannten zwei prominente Jungtürken, Ahmet Rıza und Dr. Nazım, in einem Gespräch im November 1908 mit Sir Edward Grey, dem damaligen britischen Außenminister, das Osmanische Reich das „Japan des Nahen Ostens“. Feroz Ahmad: The Late Ottoman Empire. In: Marian Kent (Hrsg.): The Great Powers and the End of the Ottoman Empire. London 1984, S. 5–30, hier S. 12. 52 Abdullah Cevdet: Le Japonporteur de flambeau, İçtihat, 5 (April 1905), 77; zitiert in Renée Worringer: Pan-Asianism in the late Ottoman Empire, 1905–1912. In: Camron Michael Amin u. a. (Hrsg.): The Modern Middle East. A Sourcebook for History. Oxford 2006, S. 331–338, hier S. 333–334.

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Interventionen schikaniert worden war, sich nun aber stolz und erfolgreich der westlichen Aggression entgegenstellte. Wie die oben angeführten Beispiele zeigen, waren die Jungtürken sehr empfindlich, wenn es um fremde Interventionen im Osmanischen Reich ging, und hatten begonnen, eine antiwestliche Rhetorik zu entwickeln. Die jungtürkische Verwendung einer antiwestlichen Rhetorik sollte jedoch nicht als Resultat eines eindeutigen, dogmatischen Bekenntnisses zu antiwestlichen Überzeugungen verstanden werden. Ihr antiwestlicher Diskurs war ein Spiegelbild der ungleichen Machtverhältnisse zwischen dem Osmanischen Reich und den westlichen Mächten. Ihr antiwestlicher Diskurs erreichte nie die Dimension der totalen Ablehnung oder Ausgrenzung der westlichen Zivilisation. In den Worten von Abdullah Cevdet: „There is no second civilization, civilization means European civilization, and it must be imported with both its roses and thorns.“53 Darüber hinaus betrachteten viele Jungtürken die Verwestlichung nicht nur als Synonym für Modernisierung, sondern auch als einzige Lösung, die das Osmanische Reich vor dem Joch des westlichen Imperialismus bewahren könnte. In der Tat war ein Großteil der Jungtürken in Institutionen nach westlichem Vorbild ausgebildet worden und bewunderte den europäischen Lebensstil. Gleichzeitig sprachen sie sich auf politischer Ebene gegen imperiale und koloniale Praktiken des Westens aus. Sie hatten daher eine ambivalente Beziehung zum Westen. Einerseits sahen sie den Westen als Vorbild hinsichtlich möglicher sozialer, wirtschaftlicher, technologischer und wissenschaftlicher Fortschritte in ihrem eigenen Staat. Andererseits verurteilten sie den Westen als imperialistischen Akteur, der fortwährend die osmanische Souveränität unterminiere. Ziya Gökalp, der wichtigste Mentor der Jungtürken, kann zur Veranschaulichung dieser ambivalenten Einstellung herangezogen werden: There is only one road to salvation: To advance in order to reach that is, in order to be equal to Europeans in the sciences and industry as well as in military and judicial institutions. And there is only one means to achieve this: to adapt ourselves to Western civilization completely!54

Zugleich zögerte Gökalp nicht, die gleiche westliche Zivilisation in einem seiner Gedichte als „Feind“ zu bezeichnen:

53 Bernard Lewis: The Emergence of Modern Turkey. London 1961, S. 231. 54 Zitiert nach Niyazi Berkes (Hrsg.): Turkish Nationalism and Western Civilization. Selected Essays of Ziya Gökalp. London 1959, S. 276.

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We were defeated because we were backward To take revenge, we shall adopt the enemy’s science We shall learn his skill, still his methods On progress we set our heart.55

Die Jungtürken und das Balkantrauma Mein Herz blutet […] Die Spuren des Elends, die der letzte Kreuzzug [Die Balkan-Kriege] kreierte, sind überall sichtbar. Wenn ich dir von allen Gräueltaten erzählen könnte, die der Feind hier vor den Türen Istanbuls verübte, dann würdest du das Leiden der armen Muslime an ferneren Orten verstehen können. Aber unser Hass wird stärker: Rache, Rache, Rache; es gibt kein anderes Wort! Enver Pasha, 8. May 1913.56

Obschon die Jungtürken ihre Mitgliederzahl innerhalb und außerhalb des Reiches beträchtlich erhöht hatten, mussten sie ihre Aktivitäten auf das Verfassen von Flugblättern, das Abhalten von Versammlungen und das Verteilen von illegalen Zeitungen beschränken. Das hamidische Regime verwehrte ihnen mit rigider Kontrolle und Druck den Zugang zu allen offiziellen politischen Kanälen und Betätigungsmöglichkeiten innerhalb der osmanischen Staatsgrenzen. Die jungtürkische Bewegung kam daher nicht über ein Dasein als intellektuelle, in Opposition zum hamidischen Regime stehende Bewegung hinaus. Die Integration einer neuen Untergrundorganisation, der Osmanlı Hürriyet Cemiyeti (Osmanische

55 Zitiert nach Uriel Heyd: Foundations of Turkish Nationalism. The Life and Teachings of Ziya Gökalp. London 1950, S. 79. Tatsächlich kann diese ambivalente Einstellung gegenüber dem Westen auch unter den islamischen Denkern der Zeit festgestellt werden. Dies wird etwa durch einen der führenden islamischen Intellektuellen im spätosmanischen Reich, Filibeli Ahmed Hilmi (1865–1914), illustriert, der die europäische Zivilisation auf dem Gebiet der Moral und der gesellschaftlichen Organisation kritisierte, gleichzeitig aber argumentierte, dass die Muslime die europäische Mentalität und das Wissen sich aneignen müssten, um mit der fortgeschritteneren europäischen Zivilisation konkurrieren und so überleben zu können. Amit Bein: A Young Turk Islamic Intellectual. Filibeli Ahmet Hilmi and the Diverse Intellectual Legacies of the Late Ottoman Empire. In: International Journal of Middle Eastern Studies 39 (2007), S. 607–625, hier S. 614. 56 Şükrü Hanioğlu (Hrsg.): Kendi Mektuplarında Enver Paşa [Enver Pascha gemäß seinen eigenen Briefen]. Istanbul 1989, S. 242.

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Gesellschaft der Freiheit)57 verhalf der jungtürkischen Bewegung jedoch zu einem neuen revolutionären Auftrieb. Es gelang den Jungtürken schließlich, den Sultan im Juli 1908 zur Wiedereinsetzung des Parlaments und zum erneuten Inkrafttreten der Verfassung zu zwingen.58 Nachdem sie 1908 an die Macht gekommen waren59, versuchten die Jungtürken die Integrität des Osmanischen Reiches zu sichern, indem sie eine gemeinsame osmanische Identität betonten und sich die Modernisierung des Reiches als Ziel vorgaben. Sie hofften, dass die Schaffung einer verfassungsmäßigen Regierungsform und eines repräsentativen parlamentarischen Systems die separatistischen Tendenzen und Forderungen im Reich beseitigen und den Interventionen der Großmächte Einhalt gebieten würde.60 57 Die Osmanische Gesellschaft der Freiheit wurde von Talat Bey (1874–1921), später Pasha, in Saloniki im Jahr 1906 gegründet. Dank Talats Organisationstalent konnte sich die Gesellschaft innerhalb kurzer Zeit in der gesamten Region um Saloniki verbreiten, insbesondere unter den Offizieren. Bursalı Mehmet Tahir Bey, Enver Bey, Kazım Nami (Duru), Rahmi Bey (Arslan), Kazım Bey (Karabekir), Ömer Naci, İsmail Canbolat und Mithat Şükrü (Bleda) gehörten zu den führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft. Im Unterschied zur Osmanlı İttihad ve Terakki Cemiyeti, einer oppositionellen Bewegung, deren Träger Universitätsstudenten und Intellektuelle waren, bildete das Offizierskorps der unteren und mittleren Ebene in den europäischen Provinzen des Reiches das Fundament der Osmanischen Gesellschaft für Freiheit. So waren beispielsweise 319 der 505 Mitglieder der Gesellschaft in Saloniki Unteroffiziere, fast ausschließlich muslimischer Konfession und vorwiegend türkischer ethnischer Zugehörigkeit. Kazım Karabekir: İttihat ve Terakki Cemiyeti (1896–1909) [Das Komitee für Einheit und Fortschritt (1886–1909)]. Istanbul 1995, S. 180. 58 Erik Jan Zürcher: Young Turks, Ottoman Muslims and Turkish Nationalists: Identity Politics, 1908–1938. In: Kemal H. Karpat (Hrsg.): Ottoman Past and Today’s Turkey. Leiden 2000, S. 150–179, hier S. 151–152. In diesem Zusammenhang sollte festgehalten werden, dass einer der Hauptfaktoren, der die Jungtürken dazu bewog, im Juli 1908 gegen das hamidische Regime vorzugehen, das Treffen zwischen König Edward  VII . und Zar Nikolaus II. in Reval (heute Tallinn) war. Beunruhigt durch Gerüchte, dass sich Großbritannien und Russland auf die Teilung des osmanischen Balkans geeinigt hätten, sahen sich die Jungtürken zum Handeln veranlasst. Zürcher: The Young Turk Legacy and Nation Building, S. 26–40. 59 Hinsichtlich dieser Schlüsselperiode soll festgehalten werden, dass in der Zeit zwischen 1908 und 1913, obschon die Jungtürken die politische Sphäre dominierten, die Kabinettsmitglieder noch immer zu einem Großteil aus der traditionellen osmanischen Bürokratie rekrutiert wurden. Bis zum Januar 1913, als die Jungtürken gänzlich die Macht übernahmen, herrschten die traditionellen osmanischen Beamten indirekt mittels ihrer Kontrolle des Parlaments, des Militärs und der Minister, die sie mitunter im Kabinett stellten. Doğu Ergil: A Reassessment. The Young Turks, Their Politics and Anti-Colonial Struggle. In: Balkan Studies 16 (1975), S. 26–72, hier S. 27. 60 Cemil Aydin: The Politics of Anti-Westernism in Asia. New York 2007, S.  95–96. Es ist zu beachten, dass auch einige europäische Politiker dieser Zeit das konstitutionelle Regime im Osmanischen Reich als ernsthafte Gefahr für ihre koloniale Herrschaft im

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Ahmet Rızas Ansprache vom 28. September 1908 reflektiert deutlich die Ziele der Jungtürken: Die Interventionen der Großmächte hätten ihre Ursache in der Misswirtschaft des absolutistischen Regimes unter Abdülhamid  II ., ein Missstand, der nun niemals wieder eintreten würde, da die Jungtürken Gerechtigkeit und Freiheit gewährleisteten.61 Die Ereignisse verliefen jedoch nicht so, wie von den Jungtürken erhofft. Unmittelbar nach dieser allzu optimistischen Ansprache Ahmet Rızas sahen sich die Jungtürken mit etlichen, die Regierung gefährdenden Krisen konfrontiert. Bulgarien machte den Anfang, als es am 5. Oktober 1908 seine Unabhängigkeit erklärte. Vierundzwanzig Stunden später gab Österreich-Ungarn die Annexion Bosnien-Herzegowinas bekannt und am selben Tag verkündete Kreta seine Entscheidung, sich Griechenland anzuschließen.62 Diese Handlungen verstießen eindeutig gegen den Berliner Vertrag von 1878. Die Jungtürken übten gegenüber den Großmächten, die Garantiemächte des Vertrags waren, harsche Kritik und forderten, dass diese die Verstöße gegen das Abkommen ahnden sollten. Die Großmächte waren jedoch dazu nicht bereit und teilten der osmanischen Regierung mit, dass sie nicht im Namen des Osmanischen Reiches einschreiten würden.63 Zusätzlich zu derartigen Demütigungen, die das Prestige der Jungtürken in der osmanischen Öffentlichkeit verringerten, mussten die Jungtürken in den folgenden Jahren lokalen Aufständen im Yemen, in Mazedonien und Albanien entgegentreten. Viele prominente Jungtürken, unter ihnen Mustafa Kemal (1881–1938), İsmet (İnönü) (1884–1973), Ali Fethi (Okyar) (1880–1943), Ali Fuat Nahen Osten wahrnahmen, so zum Beispiel das bezeichnende Zitat von Sir Edward Grey, dem damaligen britischen Außenministers, vom 31. Juli 1908: „Turkey really establishes a Constitution, and keeps it on its feet, and becomes strong herself, the consequences will reach further than any of us can yet foresee. The effect in Egypt will be tremendous, and will make itself felt in India. Hitherto, wherever we have had Mahometan subjects, we have been able to tell them that the subjects in the countries ruled by the head of their religion were under despotism which was not a benevolent one; while our Mahometan subjects were under a despotism which was benevolent. But if Turkey now establishes a Parliament and improves her Government, the demand for a Constitution in Egypt will gain great force, and our power of resisting the demand will be very much diminished. If, when there is a Turkish Constitution in good working order and things are going well in Turkey, we are engaged in suppressing by force and shooting a rising in Egypt of people who demand a Constitution too, the position will be very awkward.“ Feroz Ahmad: Great Britain’s Relations with the Young Turks (1908–1914). In: Middle Eastern Studies 2 (1966), S. 302–329, hier S. 303. 61 Ahmet Riza: İkdam, (September 28, 1908); zitiert in Hanioğlu: Preparation, S. 497, fn. 4. 62 Erik Jan Zürcher: Turkey. A Modern History. London 1993, S. 108–109. 63 Feroz Ahmad: War and Society under the Young Turks, 1908–1918. In: Review 11 (1988), S. 265–286, hier S. 265–266.

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(Cebesoy) (1882–1968) und Kazım Karabekir (1882–1948), die Gründerväter der modernen Türkei, nahmen als osmanische Offiziere aktiv an der Verteidigung des Reiches gegen diese Aufstände teil. Während sich noch die Jungtürken in Libyen engagierten, das im September 1911 von Italien ohne casus belli64 besetzt wurde, attackierten die Balkanstaaten (also Bulgarien, Griechenland, Serbien und Montenegro) im Oktober 1912 das Osmanische Reich. Der Erste Balkankrieg sollte der Sargnagel des „Kranken Mannes am Bosporus“ sein, bevor schließlich der Erste Weltkrieg ausbrach.65 In Anbetracht der demographischen und politischen Konsequenzen und der tiefgreifenden Auswirkungen auf die osmanisch-türkischen Intellektuellen und auf die osmanische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit kann durchaus gesagt werden, dass der Balkankrieg der Wendepunkt war in der Auflösung des Osmanischen Reiches und der entscheidende Auslöser für das Emporflammen des türkischen Nationalismus, der bisher erst im Entstehen begriffen gewesen war. Zunächst einmal veränderte die Niederlage im Balkankrieg die demographische Struktur des Reiches grundlegend. Als der Krieg zu Ende war, hatten sich die osmanischen Territorien in Europa von 169.845 km2 auf 28.842 km2 verringert. Mit anderen Worten: Das Osmanische Reich hatte 83% seines Territoriums in Europa verloren.66 Zudem hatte das Reich 4.2 Millionen Bürger verloren, von denen die meisten Nichtmuslime waren.67 Nachdem schätzungsweise mehr als 400.000 muslimische Flüchtlinge, die vor Unterdrückung geflohen waren68, im osmanischen Kerngebiet Zuflucht suchten, war das Reich 1913 ethnisch und 64 Der verstorbene Diplomatie-Historiker Matthew S.  Anderson definierte den türkisch-italienischen Krieg von 1911 in seinem wegweisenden Werk The Eastern Question als „one of the most unjustified wars in European history“, Matthew S. Anderson: The Eastern Question (1774–1923). A Study in International Relations. London 1966, S. 288. 65 Unmittelbar vor Ausbruch des Balkankrieges waren verschiedene Teile des Osmanischen Reiches im Belagerungszustand; Libyen durch Italien, Rhodos und weitere Inseln durch Griechenland, Mazedonien durch Bulgarien und Serbien und Anatolien durch Russland. M. Hakan Yavuz: War and Nationalism. The Balkan War as a Catalyst of Homogenization. In: M. Hakan Yavuz/Isa Blumi (Hrsg.): War & Nationalism. The Balkan Wars, 1912–1913, and Their Socio political Implications. Utah 2013, S. 31–84, hier S. 55. 66 Zafer Toprak: Cihan Harbi’nin Provası Balkan Harbi [Der Balkankrieg als Testlauf für den Ersten Weltkrieg]. In: Toplumsal Tarih 104 (2002), S. 44–51, hier S. 51. 67 Erik Jan Zürcher: Demographic Engineering, State-Building and the Army. In: Jörn Leonard/Ulrike von Hirschhausen (Hrsg.): Comparing Empire. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2011, S. 530–544, hier S. 535. 68 Mustafa Aksakal: Ottoman Road to War in 1914. Cambridge 2008, S. 23; Justin Mccarthy: Death and Exile: Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims, 1821–1922. Princeton 1995, S. 339. Aufgrund des Kriegszustandes und der unzureichenden Materialversorgung im Osmanischen Reich stellte die Unterbringung der Flüchtlinge aus dem Balkan für die osmanische Regierung ein gewaltiges Problem dar. Um das Problem der Unterbringung heimatloser

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religiös homogener geworden zugunsten der Türken. Was die psychologischen Auswirkungen angeht, so war die Niederlage gegen die Balkanstaaten und der Verlust der Balkanprovinzen, welche zuvor Teil des Osmanischen Reiches gewesen waren, ein Schock für die osmanisch-türkischen Intellektuellen im Allgemeinen und die Jungtürken im Besonderen.69 Die Worte Mustafa Kemals illustrieren das Ausmaß des jungtürkischen Schocks, die der Verlust der Balkanprovinzen auslöste: One day when I was rushing from the field of operations in Cyrenacia to the fire of the Balkan [Wars], I observed that all the routes connecting […] the shores of Africa to my fatherland were blocked. One day I heard that Salonika, the land of my father had been ceded to the enemy to get her with my mother, sister, and all my relatives […]. One day I heard that a bell had been installed in the minaret of Hortacı Süleyman Mosque and that the remains of my father there had been trampled upon by the filthy boots of the Greeks.70

Parallel zu dieser politischen und psychologischen Verfassung zeigte sich bei den Jungtürken zunehmend nationalistisches Ideengut. Während damals Fuat Köprülü (1890–1966), ein in späteren Jahrzehnten international bekannter Historiker des Osmanischen Reiches, „die Schwäche des türkischen Herzstücks im Reich“ als bedeutendsten Grund für die Niederlage im Balkankrieg71 ausmachte, warnten Jungtürken wie İsmail Naci (Pelister) die türkischen Intellektuellen und die politische Elite, es sei nun unbedingt an der Zeit, eine türkische Nation in Anatolien zu schaffen.72 Ein tief empfundenes Gefühl des Schikaniert-Werdens, ausgelöst durch den Balkankrieg, hatte nationalistischen Überzeugungen unter den Jungtürken und Intellektuellen nun endgültig zum Aufstieg verholfen. Halide Edip schildert in ihren Memoiren die zunehmende Sympathie unter den osmanisch-türkischen Intellektuellen dieser Zeit für den türkischen Nationalismus:

Flüchtlinge zu lösen, wurden alle Moscheen in Istanbul, einschließlich der Hagia Sophia, in Flüchtlingsunterkünfte umfunktioniert. 69 Auch die Familien von bekannten Jungtürken wie Talat Pasha, Rahmi Bey (1874– 1847), der Statthalter von Izmir, und Mustafa Kemal gehörten zu den Flüchtlingen. Zürcher: Demographic Engineering, S. 536. 70 Mustafa Kemal: Subay ve Kumandan ile Konuşmalar [Gespräche mit Offizier und Kommandant]. In: Atatürk’ün Bütün Eserleri [Atatürks sämtliche Werke], vol. 1, 1903–1915. Istanbul 1998, S. 165; zitiert in Şükrü Hanioğlu: Atatürk. Princeton 2011, S. 27. 71 Köprülüzade Mehmet Fuat: Türklük, İslamlık, Osmanlılık [Turkismus, Islamismus, Osmanismus]. In: Türk Yurdu 44 (Juli 24, 1913), S. 373. 72 Aksakal: The Ottoman Road, S. 25.

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The vast numbers of the Balkan Turks, refugees who poured into Constantinople and Anatolia with their lurid and sinister tales of martyrdom and suffering at the hands of the Balkan Christians, the indifference and even the apparent joy of the so-called civilized outside world at their sorry state, aroused a curious sympathy for everything that was Turkish in those days.73

Die Politik der Großmächte gegenüber dem Osmanischen Reich während des Balkankriegs und in der Folgezeit potenzierte die antiwestlichen Überzeugungen und Einstellungen unter den Jungtürken. Zum einen verharrten die Großmächte in Schweigen und Untätigkeit, als während der Balkankriege Massaker gegen Muslime in den Balkanstaaten verübt wurden.74Andererseits hatten die Großmächte bei Ausbruch der Kampfhandlungen 1912 offiziell bekanntgegeben, sie würden den Vorkriegs-Status quo ungeachtet möglicher Landgewinne nach Kriegsende erhalten. Diese Deklaration basierte, wie Ahmad feststellte, auf der Annahme, dass das Osmanische Reich als Sieger aus dem Krieg hervorgehen würde.75 Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches erkannten die Großmächte auf der Londoner Friedenskonferenz 1913 jedoch umgehend die Expansion der Balkanstaaten auf Kosten des Osmanischen Reiches an. Cemal Pascha, konfrontiert mit einer solchen Doppelmoral, schildert in seinen Memoiren treffend Verbitterung und Misshandlung, die die Gefühle der Jungtürken bestimmten: The European powers, which are in the habit of manifesting their humane sentiments when it is a question of intervention against Turkey, had not a word to say against the abominations of the Greeks, Serbs, and Bulgarians who had slaughtered in the most bestial manner more than five hundred thousand Turks, most of them women, old people and children. When Carnegie’s Commission of Enquiry had published its special report upon these horrors there was not a single newspaper in the whole of Europe or America, with the exception of a few socialist journals, which had a word to say in favor of the poor Mohammedans who had been killed off like flies.76

73 Halide Edip Adivar: Turkey Faces West. New York 1973, S. 115. 74 Zu den Gräueltaten der Balkanstaaten gegen Muslime während des Balkan-Krieges, siehe Carnegie: Endowment for International Peace: International Commission to inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars. Washington 1914. 75 Ahmad: The Late Ottoman Empire, S. 14. 76 Djemal Pasha: Memories of a Turkish Statesman, 1913–1919. New York 1973, S. 72.

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In einer Rede, die sie auf einer Frauenversammlung am Darülfünun (Universität Istanbul) im Februar 1913 hielt, verurteilte Fehime Nüzhet (?–1925), eine führende Autorin dieser Zeit, Europa aufs das Schärfste: Ganz Europa hat sich zu einer einzigen Macht vereinigt und in ein bedrohliches Monster verwandelt, das mit seinem schmutzigen und verachtenswerten Schwanz das reine und unschuldige Leben des Ostens auspeitscht. Ich weiß nicht, wie man diese Kreaturen nennen soll, die mit dem Kreuz in der einen Hand und mit Schwert und Peitsche in der anderen in Rumelien vandalieren, die dortige Reinheit strapazieren, die Frauen strangulieren, die Kinder verletzen, das Land niederbrennen und das Geld stehlen. Das zivilisierte Europa bezeichnet sie als ‚Christenbrüder‘[…]. Und mit jedem siegreichen Schritt, den diese Feinde unternehmen, schlägt das Herz des Westens, der der Feind der Türken, des Islam und des Ostens ist, freudig höher […] Überall in der gesamten christlichen Welt ist freudiges Geschrei, ein Anlass für öffentliches Amüsement und Freude.77

In dieser ideologischen Atmosphäre gab sogar Celal Nuri (1877–1939), ein Intellektueller, der für seine prowestliche Gesinnung bekannt war, seinem Hass gegen den Westen Ausdruck: I am incapable of explaining our plight further. The whole world is our enemy […]. The whole word of infidels! Friendship for the West is the vilest of all crimes I can imagine. A nation incapable of hating the West is doomed to extinction.78

Ahmet İhsan (1868–1947), ein prominenter Journalist und Verleger dieser Zeit, kam in seinen Memoiren zu einem ähnlichen Schluss wie Celal Nuri, nachdem er die Scheinheiligkeit des Westens gegenüber des Osmanischen Reiches während der Balkankriege einer harschen Kritik unterzogen hatte: Türkische Intellektuelle waren zutiefst bekümmert. Die erstaunlichen Bilder vor unseren Augen ließen uns alle Tränen von Blut vergießen. Gegenüber meinem Verlag war die imperiale Akademie in ein Krankenhaus verwandelt worden. An dem Tag, als wir dorthin gingen, um einen Kanister Tee für die jammernden, verwundeten türkischen Helden zu bringen, entflammte ein fürchterlich aufrührerisches Feuer mein Herz gegen 77 Şefika Kurnaz: Balkan Savaşı’nda Kadınlarımız [Unsere Frauen im Balkankrieg]. Istanbul 2012, S. 62–63. 78 Zitiert nach Niyazi Berkes: The Development of Secularism in Turkey. Montreal 1964, S. 357.

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europäische Politik, europäischen Imperialismus und gegen Imperialismus an sich. Ich konnte das Feuer seitdem nicht löschen. Es brennt noch immer.79

In der Folge der Balkankriege leistete Alexander Helphand-Parvus, einer der führenden marxistischen Theoretiker dieser Zeit, einen weiteren maßgeblichen Beitrag zur antiwestlichen Rhetorik der Jungtürken.80 Helphand, der eine enge Beziehung zu den jungtürkischen Kreisen etablierte und zwischen 1910 und 1914 in Istanbul lebte, wurde während seines Aufenthalts in Istanbul zum Experten für die finanziellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten der Jungtürken und zu deren Mentor. Helphand zufolge war der Hauptgrund für den Niedergang des Osmanischen Reiches der Zerfall der osmanischen Wirtschaft und nicht jener der Kultur, Religion oder Politik. Zudem sei es die wirtschaftliche Stärke Europas, die das Schicksal des Reiches in Wahrheit entschied und nicht der osmanische Staat selbst, der zu einer bloßen Marionette des europäischen Finanzkapitals geworden war.81 Helphand, der das Osmanische Reich als Opfer des europäischen Imperialismus und Kapitalismus sah, warnte die Jungtürken in einem Artikel vom April 1913: The Balkan states and great powers, want to annihilate you like the native Indians who perished in America […]. They have closed all your roads and besieged you. If you cannot hold your positions and establish an economic force that meets modern demands, your death is certain.82

79 Ahmet İhsan Tokgöz: Matbuat Hatıralarım [Meine journalistischen Memoiren]. Istanbul 1993, S. 216. 80 Alexander Helphand (1867–1924), im Osmanischen Reich als „Parvus Efendi“ bekannt, spielte eine bedeutende Rolle bei der Entstehung einer nationalen Wirtschaftspolitik im Osmanischen Reich. Helphand, den einige türkische nationalistische Organisationen wie Türk Bilgi Derneği [Türkischer Wissenschaftsverein] zum Ehrenmitglied ernannten, wurde zu einer prominenten Figur in der jungtürkischen Presse und veröffentlichte in Magazinen und Zeitungen wie Türk Yurdu [Türkische Heimat], İçtihad [Islamische Rechtsfindung] und Jeune Turc zahlreiche Artikel, die sich eingehend mit ökonomischen Fragestellungen beschäftigten. Helphand publizierte zudem ein Buch über die Auslandsschulden des Osmanischen Reiches. M. Asım Karaömerlioğlu: Helphand-Parvus and his Impact on Turkish Intellectual Life. In: Middle Eastern Studies 40 (2004). S. 145–165, hier S. 151. 81 Karaömerlioğlu: ibid., S. 152. 82 „İş İşten Geçmeden Gözlerinizi Açınız [Macht die Augen auf, bevor es zu spät ist!],“ Türk Yurdu, 3 April 1913, 2: 200–3, hier S. 200–1; zitiert in Hans Lukas Kieser: World War and World Revolution: Alexander Helphand-Parvus in Germany and Turkey. In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 12 ( 2011), Nr. 2, S. 387–410, hier S. 400.

Westliche Interventionen und die Entstehung der jungtürkischen Geisteshaltung 447

Die von Helphand der jungtürkischen Führung vorgeschlagene Lösung war die Schaffung einer „Nationalökonomie“ mittels Aufhebung der Kapitulationen, Verstaatlichung der Eisenbahnlinien, Besteuerung der ausländischen Einwohner und Erhöhung der Zollabgaben.83 Wie Zafer Toprak zeigen konnte, setzten die Jungtürken zwischen 1914 und 1918 ausnahmslos die Vorschläge Helphands um und verstaatlichten die osmanische Wirtschaft.84 Die Balkankriege spielten nicht nur eine bedeutende Rolle bei der Entstehung eines tiefen Eindrucks der Betrogenheit und Verletztheit unter den Jungtürken, sondern manövrierten zudem das Osmanische Reich in eine international höchst unsichere Position, weil offensichtlich wurde, dass das internationale Recht nicht die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches vor unrechtmäßigen Invasionen und Angriffen schützen konnte. Diese Entwicklungen unmittelbar nach den Balkankriegen verstärkten den bereits existenten Skeptizismus gegenüber den westlichen Mächten und erzeugten eine Art „Belagerungsmentalität“ unter den Jungtürken. Das Buch von Filibeli Ahmed Hilmi, Türk Ruhu Nasıl Yapılıyor? Her Vatanperverden, Bu Eserciği Türklere Okumasını Ve Anlatmasını Niyaz Ederiz (Wie ist der türkische Geist zu formen? Wir bitten jeden Patrioten, dieses Buch zu lesen und es an Türken weiterzugeben) gibt die Belagerungsmentalität der jungtürkischen Generationen treffend wieder. In seiner unmittelbar nach den Balkankriegen publizierten Polemik führt Ahmed Hilmi aus:

83 Karaömerlioğlu: ibid., S. 157. 84 Zafer Toprak: Türkiye’de Milli İktisat (1908–1918) [Die nationale Wirtschaft in der Türkei (1908–1918)]. Ankara 1982. Um eine nationale Volkswirtschaft zu schaffen, wandten die Jungtürken nach dem Balkankrieg radikale Methoden an. Das Hauptziel war zweifellos, die Dominanz der nichtmuslimischen Kaufleute in Anatolien, insbesondere der osmanischen Griechen, zu brechen. Die erste Maßnahme war eine staatlich finanzierte Boykott-Kampagne gegen die osmanischen Griechen in der Ägäis. Während dieses Boykotts wurden die muslimischen Einwohner dazu angehalten, ausschließlich bei muslimischen Ladenbesitzern zu kaufen. Im Anschluss an die Boykott-Kampagne wandten die Jungtürken noch massiver Maßnahmen gegen die osmanischen Griechen an. Zafer Toprak: İslam ve İktisat. 1913–1914 Müslüman Boykotajı [Islam und Wirtschaft. Der muslimische Boykott von 1913–1914]. In: Toplum ve Bilim, 29/30 (1985), S. 179–199. So begann die jungtürkische Regierung zu Jahresbeginn 1914, die osmanischen Griechen von der ägäischen Küste und Thrakien nach Griechenland auszuweisen. Angesichts dieser aggressiven Politik, wie Halil Menteşe (1874–1948), einer der führenden Jungtürken und der Präsident des osmanischen Parlaments zwischen 1914 und 1918, in seinen Memoiren festhält, waren etwa 200.000 osmanische Griechen nach Griechenland geflohen. Halil Menteşe: Osmanlı Mebusan Meclisi Reisi Halil Menteşe’nin Anıları [Die Memoiren des Präsidenten des Osmanischen Abgeordnetenhauses, Halil Menteşe]. Istanbul 1986, S. 165–166.

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The Crimea, Rumania, Algeria, Tunisia, Egypt, Serbia, Bulgaria, the Caucasus all went one by one […]. Finally Tripoli [Libya] and three-fourths of the Balkans also were lost. These areas were all rich and valuable places; we gained them at the cost of our blood. But those territories, however rich they maybe, were not the heart and soul of our homeland. O Turk! Anatolia is the heart and soul of our homeland [yurdumuzunyüreği] […]. O Turk! If we continue in our old ways, if we face the enemy again in slumber, unprotected, then this time the enemy’s sword will come to our [homeland’s] heart and soul and kill each one of us.85

Zusätzlich zu der Illoyalität einiger nichtmuslimischer Soldaten im Balkan-Krieg trugen die neuen nationalistischen Tendenzen zahlreicher Staatsangehöriger im Reich zu dieser Belagerungsmentalität der Jungtürken bei.86 Dies zeigt sich beispielsweise bei Kazım Karabekir, der das aufkommende Bewusstsein der nichttürkischen osmanischen Bevölkerung in Mazedonien verfolgt hatte und nun schrieb: „Es besteht keine Notwendigkeit, dass wir uns selbst täuschen und diese Leute Osmanen nennen. Sie sind Bulgaren, Serben, Griechen und Walachen.“87 Ähnlich zu Karabekirs Einschätzung der vollständig fehlenden Loyalität der nichttürkischen Staatsangehörigen im Reich argumentierte Hüseyin Cahit (1875–1957), Abgeordneter aus Istanbul in dieser Zeit und später ein berühmter jungtürkischer Journalist, in seinen Memoiren: Das einzige ethnische Element, das sich selbst mit dem Vaterland im Land identifizierte und sich ergebenst für das Vaterland aufopferte, war das türkische […] Für einen Bulgaren bestand das Vaterland in der Vereinigung mit Sofia durch Aneignung Mazedoniens […] Für einen Griechen [Rum] war es Istanbul mit einigen Teilen Anatoliens. Die Armenier planten, durch die Teilung Anatoliens ihr eigenes Heimatland zu gründen.88 85 Filibeli Ahmed Hilmi: Türk Ruhu Nasıl Yapılıyor? Her Vatanperverden, Bu Eserciği Türklere Okumasını Ve Anlatmasını Niyaz Ederiz. Istanbul 1913, S. 6–7; zitiert in Aksakal: Ottoman Road, S. 30–31. 86 Auf der Basis der konstitutionellen Ordnung im Reich wurden Nichtmuslime, vor allem osmanische Bulgaren, Griechen und Armenier, eingezogen und an die Front gesandt. Während die Armenier loyal der osmanischen Armee dienten, desertierten zahlreiche bulgarische und griechische Soldaten, um mit ihren ethnischen und religiösen Brüdern gegen die osmanische Armee zu kämpfen. Fikret Adanır: Non-Muslims in the Ottoman Army and the Ottoman Defeat in the Balkan War of 1912–1913. In: Ronald Grigor Suny u. a. (Hrsg.): A Question of Genocide. Armenians and Turks at the End of the Ottoman Empire. Oxford, 2011, S. 113–125. 87 Karabekir: Hayatim, S. 217–218. 88 Hüseyin Cahit Yalçin: Siyasal Anılar [Politische Memoiren]. Istanbul 2000, S. 72–73.

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Diese Belagerungsmentalität, welche die Befürchtungen und Ängste unter den Jungtürken in Bezug auf die Zukunft ihres eigenen Staates erheblich steigerte, beeinträchtigte in starkem Maße nicht nur die Weltanschauung und die kollektive Erinnerung der Jungtürken, sondern auch in den Folgejahren die türkische Nationalidentität, die sich zu der Zeit in der formativen Phase befand.

Abschließende Bemerkungen Every time we raised our heads, we received a blow; every time we tried to stand erect, we received a kick. Such was the lot of the Turks… While in their countries king and coachman are equal before the law, here an Ottoman vizier was inferior to a foreigners’ servant.89 Hüseyin Cahit, 10. September 1914.

Die jungtürkische Bewegung entstand zu einer Zeit, als die westlichen Mächte stärker als je zuvor in den osmanischen Machtbereich eindrangen. Die Jungtürken gehörten einer Generation an, die Zeuge zahlreicher territorialer Verluste war, des Aufkommens nationalistischer Überzeugungen unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Reich, der Verbreitung eines rassistischen Diskurses gegen die Türken und die asiatischen Völker, des Missbrauchs von Kapitulationen, des wachsenden Erfolgs der nichtmuslimischen Bourgeoisie im osmanischen Handel, der zunehmenden Unfreiheit der osmanischen Regierungen unter dem Diktat der öffentlichen Schuldenverwaltung und, wohl als entscheidender Faktor, der immer größer werdenden Abhängigkeit des Reiches von den westlichen Mächten. Die jungtürkische Bewegung, die sich unter diesen sozio-politischen Bedingungen entwickelte, war daher nicht bloß eine Reaktion auf das autoritäre hamidische Regime, sondern auch auf die osmanische Abhängigkeit vom Westen und den westlichen Interventionismus. Dennoch waren die Jungtürken keine homogene, geschweige denn eine monolithische Gruppe. Das Hauptmotiv, welches diese Leute vereinte, mitsamt der Verschiedenheit ihrer Identitäten, ihrer ethnischen Herkunft und ihren ideologischen Neigungen, war der Erhalt der politischen und territorialen Integrität des Reiches und nicht in erster Linie ein glühendes Bekenntnis zu einer spezifischen oder klar definierten Ideologie.90 Andererseits war die jungtürkische 89 Hüseyin Cahit, Tanin, (10 September 1914); zitiert in Ahmad: Ottoman Perception, S. 19. 90 Şerif Mardin beispielsweise definiert die ideologische Gedankenwelt der Jungtürken als eklektische Vereinigung von Fragmenten verschiedener Ideologien. Şerif Mardin: Jön

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Bewegung zweifelsfrei ein zentrales Bindeglied in der Kette der osmanischen Verwestlichung, die ungefähr im späten 18. Jahrhundert einsetzte. Mit anderen Worten: Die Jungtürken waren auch ein Produkt der Jahrzehnte zurückreichenden Orientierung an europäischen Vorbildern. Wie aus den Selbstzeugnissen der Jungtürken ersichtlich ist, deuteten sie die westliche Politik gegenüber dem Osmanischen Reich als imperialistisch und nahmen sie als Gefahr für die osmanische Souveränität und territoriale Integrität wahr. Dementsprechend kultivierten und entwickelten die Jungtürken einen antiwestlichen Diskurs auf der Basis des Antiimperialismus. Der Hauptgrund für diese ambivalente Beziehung zum Westen liegt in den politischen Zielen der Jungtürken. In Anbetracht der politischen und sozio-ökonomischen Bedingungen des Osmanischen Reiches zu dieser Zeit und der politischen Ziele der Jungtürken ist es nicht überraschend, dass die Jungtürken nicht nur eine antiimperialistische, sondern generell eine antiwestliche Position einnahmen. Genauer gesagt, das Ziel der Jungtürken, die territoriale Integrität des Reiches zu schützen und den „kranken Mann am Bosporus“ in einen politisch und wirtschaftlich unabhängigen, modernen Staat zu transformieren, erforderte die Beseitigung des westlichen Interventionismus und Expansionismus im Osmanischen Reich. Diese politischen Ziele, zusammen mit dem Verlangen, von den westlichen Großmächten als gleichberechtigte Partner angesehen zu werden, waren die Hauptgründe, welche die Jungtürken zu antiwestlichen Überzeugungen bewegten. Die bittere Erfahrung, wie die westliche Intervention zu Abspaltungen vom Osmanischen Reich führte, war ein maßgeblicher Faktor, der die Kinder der osmanischen Verwestlichung zu selbsterklärten Gegnern des Westens machte. Die Wechselbeziehung zwischen dem jungtürkischen Gedankengut und westlichem Imperialismus sollte nicht übersehen und ignoriert werden, da letzterer einer der bedeutendsten Faktoren bei der Herausbildung des jungtürkischen Gedankenguts war. Er schuf eine Art Belagerungsmentalität unter den Jungtürken und nährte ihre Befürchtungen hinsichtlich der territorialen Sicherheit des Reiches. Während die Belagerungsmentalität unter den Jungtürken ihren Skeptizismus gegenüber dem Westen und seinen Protégés immer wieder wachrüttelte und antrieb, begünstigte die aus diesem Sicherheitsbedürfnis resultierende Politik oftmals Zentralisierung und Militarismus in der jungtürkischen Ära, weil die jungtürkische Führung ihren Glauben und ihre Zuversicht in die Aufrichtigkeit der Diplomatie und des internationalen Rechts verlor. Ahmet Rızas Worte demonstrieren die Bedeutung, die in der Ära der Jungtürken dem Militär beigemessen wurde:

Türklerin Siyasi Fikirleri (1895–1908) [Das politische Gedankengut der Jungtürken (1895– 1908)]. Istanbul 1996, S. 7–19.

Westliche Interventionen und die Entstehung der jungtürkischen Geisteshaltung 451

Die Rechte der Osmanen stehen unter konstantem Beschuss. Die Zukunft unseres Landes ist in großer Gefahr. Daher hat unser Bedürfnis nach einer regulären Armee und einer starken und mobilen Marine, die Schutz anbieten, höchste Priorität.91

Schließlich lässt sich festhalten, dass die Verflechtung von Belagerungsmentalität, übertriebenem Sicherheitskomplex, ausgeprägtem Skeptizismus gegenüber dem Westen zu einem Wesenskern der kollektiven Erinnerung der türkischen Elite wurde und in Form des eingangs erwähnten „Sèvres-Syndroms“ ein Merkmal des türkischen Nationalismus bis heute darstellt.

91 Ahmet Riza: Vazife ve Mesuliyet, 1, Mukaddime, Padişah ve Şehzadeler [Pflicht und Verantwortung, 1, Einleitung, Sultan und Prinzen], hrsg. v. Mustafa Gündüz/Musa Bardak. Ankara 2011, S. 63. Dieses Buch wurde ursprünglich im Jahr 1902 in Kairo publiziert. Zur Militarisierung der Gesellschaft in der jungtürkischen Ära, siehe Sanem Yamak Ateş: Asker Evlatlar Yetiştirmek: II. Meşrutiyet Dönemi’nde Beden Terbiyesi, Askeri Talim ve Paramiliter Gençlik Örgütleri [Die Erziehung des soldatischen Nachwuchses: Körpererziehung, militärische Übung und paramilitärische Jugendorganisationen in der zweiten konstitutionellen Periode]. Istanbul 2011.

Elke Hartmann

Osmanisch-Armenische Autobiographik zwischen Heimatland und Zerstreuung Zur Einführung Der nachfolgende Artikel umreißt in einem Überblick die verschiedenen Gattungen osmanisch-armenischen autobiographischen Schreibens von den Reiseberichten und ethnographischen Beschreibungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zu den Erinnerungsbüchern (houshamadyan) und Überlebendenberichten, die nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Völkermord an den Armeniern entstanden. Dabei wird die herausgehobene Bedeutung herausgearbeitet, die diese Katastrophe für die Produktion autobiographischer Texte hatte, in denen entsprechend vor allem die Aspekte des erinnernden Bewahrens der letzten Fragmente des Verlorenen sowie die Zeugenschaft im Mittelpunkt stehen. Im Anschluss wird der Frage nachgegangen, ob man die osmanisch-armenische Autobiographik in den Kategorien von national vs. imperial bzw. transnational vs. transimperial fassen kann. Es wird argumentiert, dass Heimatbegriff und identifikatorischer Bezugsrahmen der Armenier sich diesen letztlich territorial definierten Begrifflichkeiten entziehen. Schon vor dem Völkermord zeichnete sich die Lebenswelt der Armenier durch Pluralität, Uneindeutigkeit und beständige Grenzüberschreitung zwischen drei Reichen sowie zusätzlich außerhalb des Landes liegenden Referenzpunkten in den alten Diaspora-Kolonien aus. Nach dem Völkermord verstärkte sich diese Entterritorialisierung durch den Verlust des Heimatlandes und die weltweite Zerstreuung der Überlebenden. ***

Überleben und Zeugenschaft Unter dem Oberbegriff der osmanisch-armenischen Selbstzeugnisse lässt sich ein breites Spektrum von Texten zusammenfassen. Veröffentlichte und unveröffentlichte Texte, Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, Briefe oder auch autobiographische Romane. Gemeinsam ist allen diesen autobiographischen Erzählungen,

Osmanisch-Armenische Autobiographik zwischen Heimatland und Zerstreuung 453

dass sie fast ausnahmslos nach dem Ersten Weltkrieg erschienen sind und die meisten von ihnen auch erst nach dem Ersten Weltkrieg niedergeschrieben wurden. Wir wollen sie osmanisch-armenische Selbstzeugnisse nennen, weil der Berichtszeitraum und der geographische, kulturelle und politische Referenzrahmen dieser Texte im Osmanischen Reich liegen, weil sie also vom Osmanischen Reich und vom Leben der Armenier darin handeln und weil sie von Armeniern geschrieben wurden, die im Osmanischen Reich gelebt und gewirkt haben. Eine Ausnahme stellen die Reiseberichte von Klerikern dar, von denen einige schon im späten 19. Jahrhundert publiziert wurden.1 Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist eine Periode, in der offenbar allgemein, jedenfalls im Vorderen Orient (bzw. in Bezug auf ihn) die Autobiographik boomte, in der plötzlich viele Menschen unterschiedlicher Prägung, Herkunft und Ausbildung zur Feder griffen und ihr Leben aufschrieben. Bei den Armeniern jedoch gab es ein Ereignis, das wie kein anderes autobiographisches Schreiben ausgelöst hat und fast alle autobiographischen Texte maßgeblich bestimmt: der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs. Der Erste Weltkrieg gilt wohl in allen Ländern Europas als Urkatastrophe der modernen Zeit und als großer Epochenschnitt.2 Man kann leicht 1

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Siehe zum Beispiel Garabed Vartabed: Antsk Darono oukhdi [Wallfahrt nach Daron]. Istanbul 1878; Bedros Dz[ayrakuyn] Vartabed Galhogetsi: Asiagan djanabarhortoutiun i hayrenis [Asiatische Reise in meine Heimat]. Istanbul 1881; Parounag Bey Ferouhkhan: Djanabarhortoutiun i Papelon ent Hayasdan hami Dearn 1847 [Reise nach Babylon über Armenien im Jahre des Herrn 1847]. Armash 1876; Manuel G. Sirakhorian: Ngarakragan oughevoroutiun i hayapnag kavara arevelyan Dadjgasdani. Deghakroutiunk saren yev tsoren, hinen yev noren bidani kidnots [Beschreibende Reise in die armenisch besiedelten Provinzen der Osttürkei. Topographie der Berge und Täler, des notwendigen Wissens vom Alten und Neuen]. 3 Bde. Istanbul 1884–1885; H[agop] Kourken: Oughevoroutiun hAtens yev i Zmuirin hanterts tidoghoutiamp [Reise nach Athen und Smyrna trotz Bedenken]. Istanbul 1881. Das Wort der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts geht ursprünglich auf den amerikanischen Autor George F. Kennan zurück, der es in der Einleitung zu seiner Beschreibung der untergegangenen Welt des 19. Jahrhunderts verwendet (George F. Kennan: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890. Princeton 1979, S. 3). Es ist allerdings gerade im Kontext der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts so oft aufgegriffen worden, dass es sich nunmehr verselbständigt hat (prägend für die deutsche Auseinandersetzung sind sicher die Fischer-Kontroverse und Friedrich Meineckes Rede von der „deutschen Katastrophe“, vgl. aber auch Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Stuttgart 2002). Auf die Verengung der Perspektive, die mit dieser Formel verbunden sein kann, hat Aribert Reimann: Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 29–20 (2004), S. 30–38, zu Recht hingewiesen. Der Erste Weltkrieg bleibt jedoch, auch wenn man ihn im

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eine Korrelation herstellen zwischen der Vielzahl autobiographischer Publikationen nach dem Krieg und der Suche nach gültigen Orientierungen nach dem Bruch, der Erschütterung, der Zerstörung, der Verunsicherung, die der Krieg bedeutete.3 Der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich jedoch war keine Beschädigung, sondern eine Vernichtung, er bedeutete keinen Einschnitt, sondern das Ende. Die hamidischen Massaker der 1890er Jahre, die reichsweit mehrere Hunderttausend Opfer unter den osmanischen Armeniern gefordert hatten, hatten die armenische Gemeinschaft geschwächt, verwundet und verunsichert, aber das armenische Leben im Osmanischen Reich, in Armenien, bestand fort. Nach dem jungtürkischen Genozid gab es kein armenisches Leben mehr in Westarmenien. Übrig waren nur noch Fragmente des Verlorenen.4 Entsprechend größeren Kontext des 19. Jahrhunderts betrachtet, ganz unzweifelhaft ein Epochenbruch, der politische, soziale und kulturelle Neuorientierungen verlangte. Dies gilt insbesondere für die Länder, die nach 1918 aus der Zerfallsmasse der untergegangenen großen Imperien hervorgingen. 3 Für das zerfallene Osmanische Reich und den neu entstandenen türkischen Nationalstaat ist bezeichnend, wie viele seiner politischen und militärischen Protagonisten Memoiren geschrieben haben. Zur kanonischen Leiterzählung der Türkischen Republik in ihrer offiziellen Geschichtsschreibung wurden die Erinnerungen Mustafa Kemal Atatürks, wie er sie in seiner sechstägigen Parteitagsrede niedergelegt hat (Mustafa Kemal: Nutuk, zuerst auf Osmanisch 1927, seit 1938 in lateinschriftlichem Türkisch und seit 1963 in modernisierter und vereinfachter Sprache in zahlreichen Neuauflagen erschienen). Daneben haben aber auch Talat Pascha, Kazim Karabekir, Rauf Orbay und andere ihre Erinnerungen verfasst; vgl. Talat Paşa: Talat Paşa’nın Hatıraları [Talat Paşas Memoiren], hrsg. v. Hüseyin Cahit Yalçın. Istanbul 1946; Hüsyein Rauf Orbay: Cehennem Değirmeni – Siyasî Hatıralarım [Die Höllenmühle – Meine politischen Erinnerungen]. 2 Bde. Istanbul 1993; Djemal Pasha: Memories of a Turkish Statesman 1913–1919. New York 1922. Einige autobiographische Werke politischer Gegner Atatürks konnten erst mit teils erheblicher zeitlicher Verzögerung in der Türkei erscheinen. Das prominenteste Beispiel sind die dreibändigen Memoiren Rıza Nurs (1879–1942), die in der Türkei lange verboten waren und erst seit 1992 ungekürzt erscheinen, siehe Rıza Nur: Hayat ve Hatıratım [Mein Leben und meine Erinnerungen]. 3 Bde. Istanbul 11968, Frankfurt a. M. 21982, Istanbul 3 1992, seitdem Nachdrucke der ungekürzten Ausgabe. Halide Edibs (1884–1964) Memoiren wurden 1926 und 1928 zuerst in England und den USA auf Englisch herausgegeben, siehe Halide Edib Adıvar: Memoirs of Halidé Edib. New York 1926; Halide Edib Adıvar: The Turkish Ordeal: Being the Further Memoirs of Halidé Edib. New York 1928. 4 Die beste Gesamtdarstellung der historischen Ereignisse ist Raymond Kévorkian: The Armenian Genocide. A Complete History. London, New York 2011. Zu den verschiedenen Aspekten des armenischen Erinnerns nach der Katastrophe siehe die Einleitung der Herausgeber Kristin Platt/Mihran Dabag: Einleitung. Generation und Gedächtnis. In: Kristin Platt/Mihran Dabag (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995, S. 9–24, sowie die die Armenier betreffenden Beiträge:

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kreisen die meisten osmanisch-armenischen Selbstzeugnisse um diese Katastrophe – allerdings in unterschiedlicher Weise und Motivation. Bei vielen Texten steht die Zeugenschaft im Vordergrund. Gegen eine schon bald nach Kriegsende sich abzeichnende Genozidleugnung, noch mehr allerdings zunächst gegen die angenommene Ungläubigkeit angesichts der Monstrosität und Unvorstellbarkeit des Verbrechens legten die Überlebenden Zeugnis ab über das, was sie in den Jahren 1915/16 und danach gesehen, erlebt und erfahren hatten.5 Einen besonderen Stellenwert haben in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Aram Andonian. Andonian wurde 1879 (nach anderen Angaben 1876) in Istanbul geboren. Er starb 1951 in Paris.6 Der junge Andonian versuchte sich in verschiedenen Berufen, begann dann aber bald zu schreiben und machte sich bereits als Mittzwanziger einen Namen als Journalist und Herausgeber der Literaturzeitschrift Dzaghig [Blume]. Auf deren Seiten versammelte er nicht nur Texte der bedeutendsten osmanisch-armenischen Literaten der Zeit, sondern veröffentliche auch Beiträge namhafter Autoren aus dem russischen Teil Armeniens, was seine Istanbuler Leserschaft mit der zeitgenössischen ostarmenischen Literatur vertraut machte, Andonian aber mit den osmanischen Behörden in Konflikt brachte. In seinen eigenen kritischen Beiträgen für sein Literaturmagazin Luys (Licht) scheute er auch die Auseinandersetzung innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft und mit dem armenischen Patriarchat nicht. Am 24. April 1915 gehörte Aram Andonian zu den armenischen Intellektuellen, die in der Nacht verhaftet, ins Landesinnere nach Çankırı und Ayaş deportiert und dort später ermordet wurden. Diese

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Mihran Dabag: Traditionelles Erinnern und historische Verantwortung. In: ebd., S. 76–106; Krikor Beledian: Die Erfahrung der Katastrophe in der Literatur der Armenier. In: ebd., S. 186–254; Heinz Abels: Zeugnis der Vernichtung. Über strukturelle Erinnerungen und Erinnerung als Leitmotiv des Überlebens. In: ebd., S. 305–337; Kristin Platt: Gedächtniselemente in der Generationenübertragung. Zu biographischen Konstruktionen von Überlebenden des Genozids an den Armeniern. In: ebd., S. 338–376. Einen Überblick über die Etappen der Verleugnung, die verschiedenen Leugnungsstrategien und -diskurse bieten Richard G. Hovannisian: The Armenian Genocide and Patterns of Denial. In: ders. (Hrsg.): The Armenian Genocide in Perpective. New Brunswick, Oxford 1986, S. 111–134; Marc Nichanian: The Truth of the Facts. About the New Revisionism. In: Richard G. Hovannisian (Hrsg.): Remembrance and Denial. The Case of the Armenian Genocide. Detroit 1999, S. 249–270. Der folgende biographische Abriss basiert in erster Linie auf Rita Soulahian Kuyumjian: The Survivor: Biography of Aram Andonian. London 2010, die sich auch auf den Nachlass Andonians stützt; außerdem auf Hagop Oshagan: Hamabadger arevmdahay kraganoutyan [Panorama der westarmenischen Literatur] Bd. 9. Antelias 1980, S. 230–254; Hervé Georgelin: Introduction. Traduire En ces sombres jours. In: Aram Andonian: En ce sombres jours. Genf 2007, S. 9–21.

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Massenverhaftung bildete zwar nicht den realen Auftakt des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich. Bereits seit Februar desselben Jahres waren armenische Soldaten der osmanischen Armee an der Ostfront entwaffnet und getötet worden, in einigen Orten hatten auch die Massaker schon begonnen.7 Dennoch markiert die sichtbare Eliminierung der armenischen Elite in der osmanischen Hauptstadt symbolisch das Fanal für die Vernichtung der Armenier, weshalb dieses Datum nach dem Krieg zum Gedenktag für den Völkermord wurde. Aram Andonian gehörte zu den wenigen am 24. April und den Folgetagen Verhafteten, die überlebten. Durch einen Unfall entrann er seiner Exekution. Auf Umwegen, die ihn durch verschiedene Lager führten, konnte er sich schließlich nach Aleppo flüchten. Bereits auf diesem Weg, während der teils monatelangen Aufenthalte in den Durchgangslagern der Deportierten, begann Andonian, über die Zustände zu schreiben, die er sah. Er verfasste sechs Erzählungen über die Lebensbedingungen in den Lagern (speziell dem Sammellager in Meskene, das als Transitstation zu den Vernichtungslagern in der syrischen Wüste diente), die 1919 in Boston unter dem Titel In jenen schwarzen Tagen erschienen.8 Der Sammlung und Publikation von Zeugnissen verschrieb er sich vollends, nachdem er sich nach Aleppo gerettet hatte. Nach dem Waffenstillstand vom Oktober 1918 nahm Andonian, gemeinsam mit einigen anderen Armeniern, unter denen insbesondere die Brüder Mazloumian zu nennen sind, die in Aleppo das berühmte Hotel Baron betrieben, Kontakt zu einem ehemaligen osmanischen Beamten namens Naim Sepha auf, mit dessen Hilfe er während des Krieges die Flucht einiger armenischer wohlhabender Familien und Intellektueller von Meskene nach Aleppo erkauft hatte. Nun, nach dem Krieg, verkaufte Naim ihm Kopien von offiziellen osmanischen Dokumenten, Telegrammen mit Anweisungen zur Deportation und Ermordung der Armenier. Andonian publizierte dieses und weiteres Material, Zeugenaussagen, Daten, Zahlen, Fakten, unter dem Titel Das große Verbrechen 1921 wieder in Boston.9 Noch vor der armenischen Erstausgabe allerdings erschien eine englischsprachige Ausgabe und parallel dazu eine französische Fassung – Andonian und seine Mitstreiter waren sich allzu genau bewusst, dass sie auf internationalem diplomatischen Parkett die ungeheuerlichen und überdeutlich sichtbaren Verbrechen, die sie erlebt hatten, mit schriftlichen Dokumenten würden „beweisen“ müssen.10 In der Folge blieb angesichts der Leugnungspolitik des türkischen 7 Siehe hierzu Kévorkian: The Armenian Genocide, S. 225–259. 8 Aram Andonian: Ayn sev oreroun [In jenen schwarzen Tagen]. Boston 1919. 9 Aram Andonian: Medz vodjire [Das große Verbrechen]. Boston 1921. 10 Aram Andonian: The Memoirs of Naim Bey. Turkish Official Documents Relating to the Deportations and Massacres of Armenians. London 1920; Aram Andonian: Documents

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Staates über Jahrzehnte hinweg das fast verzweifelt anmutende Beweisenwollen durch immer neue Editionen von Archivdokumenten und Augenzeugenberichten eine Konstante und wesentliches Charakteristikum der armenischen historischen Beschäftigung mit dem Genozid.11 Umgekehrt ist es ein zentraler Baustein des türkischen Verleugnungsdiskurses, die Echtheit oder Aussagekraft einiger Dokumente abzustreiten, die von armenischer Seite besonders häufig angeführt wurden. Dies betrifft insbesondere auch die Naim-Andonian-Dokumente.12 officiels concernant les massacres arméniens. Paris 1920. Eine weitere frühe Dokumentensammlung stammt von Haygazn Ghazarian: Tseghasban Tourke [Türkische Völkermörder]. Beirut 1968. In diesem Band sind Aktenstücke der osmanischen Marine versammelt, die der Autor als Offizier in britischen Diensten 1920 in Istanbul einsehen und kopieren konnte; vgl. Soulahian Kuyumjian: The Survivor, S. 29. 11 Vgl. zum Beispiel – um zwei besonders umfangreiche Projekte und Publikationsreihen anzuführen – die Editionen von Artem Ohandjanian: Österreich-Ungarn und Armenien 1912–1918, Sammlung diplomatischer Aktenstücke. 4 Bde. Wien 1988 (Neuauflage Yerevan 2005); ders.: Österreich-Ungarn und Armenien 1872–1936, Sammlung diplomatischer Aktenstücke. 12 Bde. Wien 1995; ders.: 1915 – Irrefutable evidence, the Austrian documents on the Armenian Genocide. Yerevan 2004; ders.: Armenien 1915, österreichisch-ungarische Botschaftsberichte beweisen das Genozid. Wien 2007 (englische Version: Armenia 1915, Austro-Hungarian Diplomatic Reports Prove the Genocide. Wien 2011); sowie die Editionen des Londoner Gomidas Institute in seinen Buchreihen „Armenian Genocide Documentation“ und „Classics Revisited“ (Nachdrucke von in den 1910er und 1920er Jahren publizierten Augenzeugenberichten), z. B. Ara Sarafian: United States Official Records on the Armenian Genocide 1915–1917, comp., ed. and intro. Ara Sarafian. London 2004; Eric Avebury/Ara Sarafian: British Parliamentary Debates on the Armenian Genocide, 1915–1918. London 2003; James Bryce/Arnold Toynbee: The Treatment of Armenians in the Ottoman Empire, 1915–16: Documents Presented to Viscount Grey of Fallodon by Viscount Bryce [Uncensored Edition], edited and with an introduction by Ara Sarafian. London 22005; Hilmar Kaiser: Eberhard Count Wolffskeel Von Reichenberg, Zeitoun, Mousa Dagh, Ourfa: Letters on the Armenian Genocide, comp. ed. with introduction by Hilmar Kaiser. London 22004 etc.; Clarence Ussher: An American Physician in Turkey. London 2002 (zuerst 1917); Grace Knapp: The Tragedy of Bitlis. London 2002 (zuerst 1919); Harry Stuermer: Two War Years in Constantinople Sketches of German and Young Turkish Ethics and Politics [revised and complete edition], with a critical introduction to new edition by Hilmar Kaiser. London 2004 (zuerst 1917); Rafael de Nogales: Four Years beneath the Crescent. London 2003 (zuerst 1927) etc. 12 Siehe dazu die ausführliche Analyse von Vahakn N. Dadrian: The Naim-Andonian Documents on the World War. The Destruction of Ottoman Armenians: The Anatomy of a Genocide. In: International Journal of Middle East Studies 18 (1986), S. 311–360, als Reaktion auf Sinasi Orel/Süreyya Yuca: Ermenilere Talaat Paşa’ya Atfedilen Telğrafların Gerçek Yüzü [Das wahre Gesicht der Talaat Paşa zugeschriebenen Armenier-Telegramme]. Ankara 1983. Bereits 1965 war, allerdings auf Armenisch und deshalb weniger rezipiert, schon die detaillierte Diskussion um den Quellenwert der Naim-Andonian Dokumente erschienen:

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Noch bedeutender für den hier relevanten Kontext armenischer Selbstzeugnisse ist, dass Andonian nicht nur die Dokumente und persönlichen Erinnerungen eines osmanischen Zeitzeugen, Naim Beys, niederlegte, sondern unmittelbar nach Ende des Krieges auch systematisch Zeitzeugenberichte von armenischen Überlebenden sammelte und niederschrieb.13 Nur zögernd verfasste Aram Andonian schließlich sein eigenes Zeugnis. Beginnend mit dem 31. Juli 1919 erschien sein Text Aksori djampoun vra (Auf dem Weg der Verbannung) in Fortsetzungen in der in Paris erscheinenden Zeitschrift Ve­radznount (Renaissance). In diesem autobiographischen Werk beschreibt Andonian Etappe für Etappe den Weg der am 24. April 1915 (nach dem zu dieser Zeit gebräuchlichen, julianischen Kalender dem 11. April, weswegen es dieses Datum ist, welches sich durch den Text hindurchzieht) mit ihm zusammen verhafteten und deportierten Freunde und Kollegen. Mit der Folge vom 24. April 1920, die wie alle anderen mit den Worten „Fortsetzung folgt“ unterschrieben ist, bricht der Text ab und bleibt Fragment. Inhaltlich markiert dieses letzte Textstück den Moment, als Andonian von seinen Gefährten, die schließlich alle getötet werden, getrennt wird.14 Einen zweiten, ebenfalls Fragment gebliebenen autobiographischen Versuch unternahm Andonian gegen Ende seines Lebens. Der biographische Ausschnitt, den Andonian in diesem Text behandelt, ist wieder derselbe, die Zeit der Deportation 1915. Diesmal verschiebt Andonian den Blickwinkel und stellt den Geistlichen und Musiker Gomidas Vartabed in den Mittelpunkt seiner Schrift. Gomidas war ebenfalls am 24. April in Istanbul verhaftet und deportiert worden, durfte später aber auf Vermittlung führender Jungtürken zurückkehren. Er war jedoch von seinen Erlebnissen so traumatisiert, dass er den Rest seines Lebens bis zu seinem Tod 1935 in sich gekehrt in einer psychiatrischen Klinik in einem Pariser Vorort verbrachte. Andonian schaffte durch diesen Perspektivwechsel zwar

Krieger [Krikor Gergerian]: Houshamadyan Medz Yegherni [Erinnerungsbuch des Großen Massakers]. Beirut 1965, S. 221–258. Den aktuellen Forschungsstand der Auseinandersetzung um den Quellenwert osmanischer Archivdokumente generell fasst Taner Akçam: The Young Turks’ Crime Against Humanity. The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire. Princeton, Oxford 2012, S. 1–27, zusammen. 13 Eine Auswahl dieser Zeugnisse liegt inzwischen in einer mit einer analytisch einordnenden Einleitung versehenen, französischen Übersetzung vor: Raymond H. Kévorkian (Hrsg.): L’Extermination des déportés arméniens ottomans dans les camps de concentration de Syrie-Mésopotamie (1915–1916). La deuxième phase du génocide. Paris 1998 (= Revue d’histoire arménienne contemporaine Bd. 2). 14 Eine französische Übersetzung des Textes hat jüngst Hervé Georgelin vorgelegt: Aram Andonian: Sur la route de l’exil. Traduit de l’arménien occidental et annoté par Hervé Georgelin. Genf 2013.

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eine gewisse Distanz zu sich selbst, kam aber trotzdem auch in dieser autobiographischen Schrift inhaltlich nicht über sein früheres Fragment hinaus.15 Was Aram Andonian hier erfuhr, waren die spezifischen Schwierigkeiten und Grenzen, an die Schreiben als Zeugenschaft generell und im Besonderen autobiographisches Schreiben als Zeugenschaft stieß.16 Dieser Komplex, der die Topoi der Unermesslichkeit, Unvorstellbarkeit und deshalb der Unsagbarkeit, Unübersetzbarkeit und Unabschließbarkeit umkreist, ist nicht nur in Bezug auf die armenische Katastrophe, sondern vor allen Dingen im Hinblick auf die Literatur nach Auschwitz, auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Schreibens über Auschwitz und dann auf die Schwierigkeiten des Sprechens und Schreibens nach Auschwitz insgesamt breit diskutiert worden.17 In Bezug auf die armenische Literatur vollzog sich das Nachdenken über Literatur und Katastrophe, autobiographisches Schrei15 Der Text erschien in Paris in der Zeitschrift Arevmoudk [Okzident], wiederum in der Form periodischer Fortsetzungen, zwischen Dezember 1946 und Juni 1947. Er trägt den Titel „Gomidasi hed. Intch baymannerou dag aratchatsav Gomidasi mdki daknabe?“ [Mit Gomidas. Unter welchen Bedingungen entwickelte sich Gomidas’ geistige Krise?]. Eine englische Übersetzung liegt in Buchform vor: Rita Soulahian Kuyumjian: Exile, Trauma and Death. On the Road to Chankiri with Komitas Vartabed. London 2010. 16 Vgl. Hervé Georgelin: Témoigner de la destruction de son monde, autant que faire se peut. Aram Andonian aux limites de l’écriture testimoniale. In: Andonian: Sur la route de l’exil, S. 7–26; Janine Altounian: D’une traduction des témoignages d’Andonian aux effects de leur lecture. In: ebd., S. 185–192. 17 Exemplarisch für diese Auseinandersetzung steht das Werk von Autoren wie Imre Kertész, Jean Améry, Paul Celan, Primo Levi, Jorge Semprún oder Tadeusz Borowski. Ein Band, der Beiträge zu verschiedenen post-katastrophischen Literaturen in sich vereint, ist Catherine Coquio (Hrsg.): Parler des camps, penser les génocides. Paris 1999. Besonders wichtig für die armenische Literatur nach 1915 und die literarische Verarbeitung von existenziellen Katastrophen in der armenischen Geschichte insgesamt sind die Beiträge von Krikor Beledian: La Catastrophe et l’expérience des limites du langage dans la littérature de la langue arménienne. In: ebd., S. 361–381 und ders.: L’expérience de la catastrophe dans la littérature arménienne. In: Revue d’histoire arménienne contemporaine 1 (1995), S. 127–197. Zentral für die Diskussion um den Komplex von Schreiben, Autobiographie und Zeugenschaft in der armenischen Literatur nach 1915 ist die Studie von Marc Michanian: Entre l’art et le témoignage. Littératures arméniennes au XXe siècle Bd. 3: Le roman de la catastrophe. Genf 2008, insbesondere Kap. 1: Témoignage et autobiographie. Vgl. auch die Beiträge von Janine Altounian aus psychoanalytischer Sicht zum Sprechen bzw. Schreiben, um zu überleben, also Literatur als Bewältigungsstrategie: Janine Altounian: La survivance. Traduire le trauma collectif. Paris 2000; dies.: L’intraduisible. Deuil, mémoire, transmission. Paris 2005; dies.: De la cure à l’écriture. L’élaboration d’un héritage traumatique. Paris 2012, insbes. Kap. 1 und 7. Eine frühere Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Zeugenschaft und der Form des Zeugnisses stammt aus der Feder von Hagop Oshagan: Vgayoutiune [Das Zeugnis / Die Zeugenschaft]. Aleppo 1946.

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ben und Zeugenschaft insbesondere auch anhand des Werks der Schriftstellerin Zabel Yesayian, die schon 1911 mit ihrer hellsichtigen Beschreibung der Massaker von Kilikien im Frühjahr 1909 einen ersten Meilenstein gesetzt hatte.18 Zabel Yesayian stammte wie Andonian aus Istanbul, wo sie 1878 geboren wurde.19 Sie studierte mit siebzehn Jahren Literatur in Paris, wo sie auch heiratete. Später kehrte sie wieder nach Istanbul zurück. Früh hatte sie sich entschlossen, Schriftstellerin zu werden, früh hatte sie begonnen zu publizieren. Rasch entwickelte sie sich zu einer der angesehensten westarmenischen Autorinnen und war eine der wenigen, die von ihrer Kunst leben konnte. Als das armenische Patriarchat im Juli 1909, drei Monate nach den kilikischen Massakern20, eine Kommission zusammenstellte, die nach Adana gehen und dort Hilfe für die Überlebenden und vor allem die Waisen organisieren sollte, wurde auch Zabel Yesayian berufen. Wochenlang hörte sie bei ihrer Rundreise Überlebendenberichte. Es sollte noch zwei weitere Jahre dauern, bis sie eine sprachliche Form für die Bezeugung des erfahrenen Leids fand, eine literarische Form für „ein Buch der Trauer, angeschrieben gegen das Verbot zu trauern“.21 Ihr Bericht über die Massaker in Kilikien blieb nicht ihre letzte Beschäftigung mit Zeugenschaft und Zeugnissen und auch nicht ihre letzte autobiographische Schrift. Yesayian gehörte im April 1915 als einzige Frau zu den armenischen 18 Zabel Yesayian: Averagnerou metch [In den Trümmern]. Konstantinopel 1911. Zum Werk Zabel Yesayians und insbesondere zum Thema des Zeugnisses siehe Krikor Beledian: Mard [Kampf / März]. Antelias 1997, Teil 2 (S. 167–230); Marc Nichanian: Zabel Esayan: The End of Testimony and the Catastrophic Turnabout. In: ders.: Writers of Desaster. Armenian Literature in the Twentieth Century Bd. 1: The National Revolution. Princeton, London 2002, S. 187–242; Hagop Oshagan: Hamabadger arevmdahay kraganoutian [Panorama der westarmenischen Literatur] Bd. 6. Beirut 1968, S. 245–348; Rubina Peroomian: Literary Responses to Catastrophy: A Comparison of the Armenian and the Jewish Experiences. Atlanta (Georgia) 1993, S. 89–116. 19 Biographien Yesayians sind Sevag Arzoumanian: Zabel Yesayian. Gyanke, kordze [Zabel Yesayian. Leben und Werk]. Yerevan 1965; Shoushig Dasnabedian: Zabel Esayan ou l’univers lumineux de la littérature arménienne. Antelias 1988. 20 Im Frühjahr 1909 war es in Kilikien, der heutigen Regionen Çukurova im Südosten der Türkei, zu ausgedehnten Armeniermassakern gekommen. Diese ereigneten sich im Kontext eines letztlich gescheiterten gegenrevolutionären Umsturzversuchs gegen das jungtürkische, konstitutionelle Regime, das sich im Sommer 1908 an die Macht geputscht hatte. Die Massaker belasteten das Verhältnis zwischen den Armeniern und der jungtürkischen Regierung schwer, da Angehörige der osmanischen Armee sich an der Gewalt beteiligt hatten und die Regierung sich später kaum um eine wirkliche Aufklärung der Ereignisse und die Bestrafung der Täter bemühte. Siehe hierzu Raymond H. Kévorkian (Hrsg.): La Cilicie (1909–1921). Des massacres d‹Adana au mandat français. Paris 1999. 21 Nichanian: Writers of Disaster, S. 190. (Übersetzung E. H.)

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Intellektuellen, die deportiert und ermordet werden sollten, konnte aber ihrer Verhaftung entgehen und sich schließlich nach Bulgarien absetzen, von wo sie in den Kaukasus floh. Bereits 1916 begann sie fieberhaft, Zeugnisse von Überlebenden des Völkermordes zu sammeln und zu verschriftlichen und teilweise auch ins Französische zu übersetzen. Auf Armenisch publizierte sie im Februar und März 1917 zunächst die Aussage von Haig Toroyan in der in Baku erscheinenden Monatsschrift Kordz (Arbeit).22 Es folgten weitere Berichte, die sie zwar zeichnete, aber nicht aus ihrer Perspektive, sondern gewissermaßen als „Sekretärin ihrer Informanten“ schrieb – sie ermöglichte sich das Schreiben in der ersten Person durch die Einziehung einer Distanz. Eine Autobiographie verfasste Yesayian schließlich im Jahr 1935. Diesem Werk waren die Erfahrung von Krieg und Vernichtung und infolgedessen auch eine politische Wandlung vorausgegangen. Hatte sich Zabel Yesayian 1911 mit ihrem Bericht aus Adana noch an die türkischen (osmanischen) Landsleute gewandt, deren Anteilnahme sie im Kampf um eine gemeinsame menschlichere Zukunft zu gewinnen trachtete, so richteten sich ihre gesellschaftlich-politischen Hoffnungen nun, nach dem Völkermord im Osmanischen Reich und damit dem endgültigen Verlust dieser Lebenswelt, auf das kommunistische Regime im 1921 sowjetisierten Armenien, was ihr unter ihren Schriftstellerkollegen in der Diaspora heftige Kritik einbrachte.23 Sie siedelte 1933 nach Sowjetarmenien über und wurde dort zunächst freundlich aufgenommen, bevor sie wenige Jahre später, im Zuge der großen Säuberungswelle von 1937, schließlich zum Opfer des stalinistischen Regimes wurde und mit zahlreichen anderen ostarmenischen Schriftstellern und Intellektuellen verhaftet wurde. Sie starb unter ungeklärten Umständen wohl 1943. Als sie ihre Memoiren mit dem Titel Die Gärten von Silihdar schrieb, war sie bereits lange genug in Armenien, um ein gewisses Maß an Desillusionierung erfahren zu haben. In dieser Situation evozierte sie das Verlorene – das osmanische Istanbul ihrer Kindheit und Jugend – als Sehnsuchtsort.24

22 Siehe hierzu ausführlich Nichanian: Writers of Disaster, S. 217–229. 23 Oshagan: Hamabadger arevmdahay kraganoutian [Panorama der westarmenischen Literatur] Bd. 6, S. 250, 272, 275. 24 Zabel Yesayian: Silihdari bardeznere [Die Gärten von Silihdar]. Yerevan 1935.

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Verlust und Erinnerung Zeugenschaft und Erinnerung haben noch eine weitere Dimension. Viele Selbstzeugnisse richten ihr Augenmerk nicht in erster Linie auf die Deportation und Vernichtung der Armenier, sondern beschreiben das Leben davor. Sie bezeugen und bewahren das, was für immer verloren ist, bemühen sich, jedes Detail zu erinnern, alle Fragmente zusammenzukratzen und niederzulegen, die noch irgendwie erreichbar sind. Damit kommen diese Selbstzeugnisse den sogenannten Erinnerungsbüchern (houshamadyan) nahe. Die Erinnerungsbücher sind eine neue Literaturgattung, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg in den verschiedenen Städten der armenischen Diaspora entstand. In ihnen versuchten Überlebende, die verlorene Lebenswelt der Armenier des Osmanischen Reiches festzuhalten – von der Geographie und Geschichte eines Ortes über die Handwerke und lokalen Bräuche bis hin zum Dialekt, zu Liedern und Sprichwörtern und schließlich kurzen Biographien der namhaften Söhne der Stadt. Mehrere Hundert solcher Werke sind in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg kompiliert worden.25 Sie beschreiben manchmal eine ganze Region, meistens eine größere Stadt, gelegentlich aber auch nur ein einziges Dorf.26 Einige kommen akademischen Studien gleich. Hier sind etwa die Werke des Historikers Arshag Alboyadjian anzuführen. Seine 1937 in Kairo erschienene, zweibändige, insgesamt fast 2500 Seiten starke Geschichte des armenischen Caeseraea und seine nicht minder anspruchsvollen und dicken Bände über die Armenier von Malatya und von Tokad nehmen unter 25 Eine vorläufige, noch längst nicht vollständige, aber doch sehr umfangreiche Bibliographie dieser Texte ist inzwischen verfügbar: Mihran Minassian: Tracking Down the Past: The Memory Book (‚Houshamadyan‘) Genre. A Preliminary Bibliography. In: Vahé Tachjian (Hrsg.): Ottoman Armenians. Life, Culture, Society, Vol. 1. Berlin 2014, S. 234–264, bzw. auch online unter http://www.houshamadyan.org/en/themes/bibliography.html (zuletzt aufgerufen am 07.02.2014). Über das Genre der Houshamadyans siehe Vahé Tachjian: Reconstituer le terroir perdu. Les livres mémoiriaux sur les villes et villages arméniens de Cilicie. In: Raymond Kévorkian u. a. (Hrsg.): Les Arméniens de Cilicie. Habitat, mémoire et identité. Beirut 2012, S. 7–31. 26 Eine größere Region behandeln z. B. Armen Tarian/Antranig Yerganian: Badmakirk Yozgati yev shrtchagayits (Kamirk) hayots [Chronik des armenischen Yozgat und seiner Umgebung (Kamirk)]. Beirut 1988; Garo Sasouni: Badmoutiun Daroni ashkharhi [Geschichte des Landes Daron]. Beirut 1956. Einzelnen Dörfern gewidmet sind z. B. Parounag Topalian: Hayreni kiughs Okhou [Mein Heimatdorf Okhou]. Boston 1943; Aris Kalfayan: Tchomakhlou (Gesaria) [Tchomakhlou (Caeseraea)]. New York 1930, bzw. in der englischen Fassung Garabed Rev. Kalfayan: Chomaklou. The History of an Armenian Village, trans. Krikor Asadourian. New York 1982. Über das Dorf Havav (heute Habap) in der Region Elazığ gibt es sogar mehrere Erinnerungsbücher.

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den Houshamadyans auch in ihrer Rezeption eine herausgehobene Stelle ein.27 Besonders elaboriert und umfangreich sind auch Vahé Haigs Geschichte von Kharpert und seiner Ebene oder etwa die Erinnerungsbücher über die kilikischen Städte Adana, Sis, Urfa und Marash.28 Andere Bände umfassen nur wenige Seiten.29 Über einige Regionen wurde viel geschrieben, über andere, wie etwa Mersin oder Trabzon, kaum etwas. Einige Houshamadyans sind aufgrund ihrer detaillierten Beschreibung des Alltagslebens und der Alltagskultur, der Arbeitsabläufe und Werkzeuge, der Architektur der Häuser oder der Organisation und Durchführung der Steuererhebung in ihrem Dorf oder ihrer Stadt für uns heute Quellen von unschätzbarem Wert für die Geschichte des Osmanischen Reiches insgesamt.30 Eine ganze Reihe von Houshamadyans wurde bereits vor 1915 geschrieben und veröffentlicht.31 Ihre Entstehung ist wohl im Kontext einer Atmosphäre zu begrei27 Arshag Alboyadjian: Badmoutiun Hay Gesario [Geschichte des armenischen Gesaria (Caeseraea)]. 2 Bde. Kairo 1937; ders.: Badmoutiun Malatio hayots. Deghegakragan, badmagan yev azkakragan [Geschichte der Armenier von Malatya. Topographisch, historisch, ethnographisch]. Beirut 1961; ders.: Badmoutiun Yevdokio hayots. Deghakragan, badmagan yev azkakragan deghegoutiunnerov [Geschichte der Armenier von Yevdokia. Mit topographischen, historischen und ethnographischen Informationen]. Kairo 1952. Vgl. auch ders.: Houshamadyan Goudinahayerou [Erinnerungsbuch der Armenier von Goudina]. Beirut 1961, über die Armenier von Kütahya. 28 Vahé Haig: Kharpert yev anor vosgeghen tashde. Houshamadyan badmagan mshagoutayin yev azkakragan [Kharpert und seine goldene Ebene. Historisches, kulturelles und ethnographisches Erinnerungsbuch]. New York 1959; Piuzant Yeghiayan: Adanayi hayots badmoutiun. [Geschichte der Armenier von Adana]. Antelias 1970; Misak Keleshian: Sis-Madyan [Das Sis-Album]. Beirut 1949; Aram Sahagian: Tiutsaznagan Ourfan yev ir hayortinere [Das heldenhafte Urfa und seine armenischen Söhne]. Beirut 1955; Krikor H. Kalousdian: Marash gam Kermanig yev heros Zeytoun [Maraş oder Kermanig und das heroische Zeytoun]. New York 1934. 29 Siehe etwa Bedros Simonian: Houshamadyan. Haygagan Smyrnian [Erinnerungsbuch. Das armenische Smyrna]. Paris 1936, das mit 44 Seiten auskommt, oder das Erinnerungsbuch des Dorfes Fenese in der zentralanatolischen Provinz Everek (Fenesei houshamadyan [Erinnerungsbuch von Fenese]. Detroit 1935), das ein schmales Heft von 16 Seiten ist. 30 Zwei der herausragendsten Beispiele sind Manoug B. Dzeron: Partchandj kiugh. Hamaynabadoum (1600–1937) [Das Dorf Partchandj. Gesamtgeschichte]. Boston 1938, und P. Haroutiun Sarkisian (Alevor): Palou. Ir sovoruytnere, grtagan ou imatsagan vidjage yev parpare [Palu. Sitten, Bildung und Geistesleben sowie der Dialekt]. Kairo 1932. Vgl. auch Vahé Tachjian: Reconstructing Armenian Village Life. Manoog Dzeron and Alevor – Unique Authors of the ‘Houshamadyan’ Genre. In: ders. (Hrsg.): Ottoman Armenians, S. 203–233. 31 Z.B. Hapet M. Iskenderian: Svedio parkere [Die Sitten und Gebräuche von Suediye]. Kairo 1917; Hagop H. Allahverdian: Oulnian gam Zeytoun lernayin avan i Gilgia [Oulnia oder Zeytoun, Gebirgsort in Kilikien]. Konstantinopel 1884; Hampartsoum Arakelian:

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fen, die von verschiedenen Faktoren geprägt ist. Zum einen war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und spätestens seit den reichsweiten Armeniermassakern der Jahre 1895–1896 die Erfahrung der existenziellen Bedrohung und des Verlusts präsent, die 1915 endgültig werden sollte. Zum anderen kann das Zeitalter über Armenien hinaus allgemein als Epoche der Ethnographie32 und Musealisierung bezeichnet werden. Es war eine Zeit, die zwischen Tradition und Moderne stand, in der auch ohne Gewalt und Zerstörung der Prozess der Modernisierung und der damit einhergehende Bruch mit der eigenen Tradition eben auch eine Verlusterfahrung und Verlustangst in Bezug auf die überkommenen Traditionen und Gebräuche bedeuteten, die man dann, eben auf der Schwelle zum Verlust, im Museum bewahrte.33 Die meisten Houshamadyans erschienen in den ersten Jahrzehnten nach dem Völkermord. Die erste Generation lebte und erinnerte sich in und mit diesen Büchern. Sie waren eine Referenz, auf die man sich bezog, die man aufrufen konnte und zu der viele ihre persönlichen Erinnerungen und Erinnerungsstücke beigetragen hatten.34 Mit dem Verschwinden der Generation der Überlebenden erstarb in den nachfolgenden Generationen der Armenier in der Diaspora allmählich auch das Interesse am Alltagsleben in der verlorenen Heimat. Aber nicht nur das. Der Heimatbegriff und die Identifikationen änderten sich. Je mehr sich die Armenier in der Diaspora „armenisierten“, je mehr die moderne, homogene Nation zum Bezugsrahmen auch der armenischen Diasporagemeinschaften wurde,35 desto weniger passte die Lebenswelt der Überlebenden, die noch gezeichnet war vom Nebeneinander verschiedener Gemeinschaften, sprachlichen und kulturellen Melangen und Hybriditäten, noch ins eigene Bild. Der Verlust der alten Heimat wurde beklagt, das Leben im Osmanischen Reich war jedoch nicht das

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Zeytoun. Deghakragan, azkakragan yev vartchagan desoutiun [Zeytoun. Topographische, ethnographische und ökonomische Betrachtung]. Tiflis 1896. Zur armenischen Ethnographie, die insbesondere mit dem Namen von Karekin Srvantsdiants verknüpft ist, siehe unten. Vgl. hierzu die Essays von Pierre Nora in dem von ihm herausgegebenen Monumentalwerk „Les lieux de mémoire“, das eine französische Nationalgeschichte aus perzeptionsgeschichtlicher Sicht darstellt. Auf Deutsch sind die Texte zusammengefasst in Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990. Die Erstellung vieler Houshamadyans wurde begleitet von Zeitungsanzeigen, in denen die Überlebenden eines bestimmten Ortes aufgerufen wurden, sich an den Autor zu wenden und ihm ihre Erinnerungen an ihre Heimatstadt, ihr Wissen über einzelne Personen und Begebenheiten und ihre persönlichen Lebenserinnerungen und Photos zur Verfügung zu stellen. Zum armenischen Nationsbildungsprozess im Osmanischen Reich und später in der Diaspora siehe unten.

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Ideal, das man wieder zu erreichen hoffte. Unverändert hoch blieb dagegen das Interesse auch der Nachfolgegenerationen für autobiographische Literatur, die sich mit dem Völkermordgeschehen selbst beschäftigte. Viele der Memoirenschreiber gehörten vor 1915 und während des Krieges zur lokalen Elite, hatten in der einen oder anderen Weise ein Amt, eine Funktion und Verantwortung. Auf ihnen lastete ein besonderer Druck zur Rechtfertigung ihres Denkens und Tuns angesichts der großen Katastrophe, die über ihr Volk hereingebrochen war und die sie nicht hatten verhindern können. Solche Texte stammen vor allem aus der Feder von Politikern, Revolutionären und fedayis (Freischärlern).36 Dass nach dem Ersten Weltkrieg Memoiren und Autobiographien von Revolutionären in so großer Zahl erschienen, hat seinen Grund auch darin, dass die bedeutendste armenische revolutionäre Partei, die Armenische Revolutionäre Föderation (Hay Heghapokhagan Tashnagtsoutiun, oft auch einfach Föderation – Tashnagtsoutiun genannt), die Niederschrift dieser Texte förderte. Die Abfassung solcher Selbstzeugnisse geht insbesondere auf die Initiative des Herausgebers der Bostoner Zeitschrift Hayrenik Amsakir (Monatsschrift Die Heimat), Roupen Tarpinian (Ardashes Tchiligarian), zurück. Er forderte die Kämpfer und revolutionären Kader zum Schreiben auf und publizierte ihre Texte in seiner Zeitschrift.37 36 Wichtige und auch breit rezipierte Werke sind etwa Simon Vratsian: Gyanki oughinerov [Auf Lebenspfaden]. 6 Bde. Kairo 1955, Beirut 1967 (Vratsian, 1882 in Nor Nakhitchevan geboren und 1969 in Beirut gestorben, hatte in der ersten armenischen Republik, die 1918–1920 bestand, verschiedene Ministerämter bekleidet und schließlich als vierter Premierminister gedient. 1928 veröffentlichte er eine Geschichte dieser Ersten Republik, die bis heute als wichtiges Referenzwerk gilt); Vahan Papazian: Im houshere [Meine Erinnerungen]. 2 Bde. Boston 1950, Beirut 1952 (Papazian, der sich mit seinem Kampfnamen auch Goms nannte, stammte aus eine Familie aus Van, wurde aber 1876 in Tavriz (Täbris) im Nordwest-Iran geboren. Er starb 1973 in Beirut. Papazian agitierte als revolutionärer Kader im Kaukasus und in den osmanischen Ostprovinzen, 1908–1912 Abgeordneter im osmanischen Parlament, 1915 war er einer der verantwortlichen Tashnaken-Führer in Daron und wurde später für seine Entscheidungen, die er in dieser Situation gefällt hat, heftig angegriffen.); Ardag Tarpinian: Hay azadakragan sharjman oreren. Housher 1890en 1940 [Aus der Zeit der armenischen Befreiungsbewegung. Erinnerungen 1890–1940]. Paris 1947. Der Politiker und Schriftsteller Malkhas (Ardashes Hovsepian, 1877–1962) schrieb zunächst seine Memoiren (Malkhas: Abroumner [Erlebnisse]. In: Hayrenik Amsakir 4 (1925/26), H. 5, S. 100–103 und folgende Nummern, später auch als zweibändige Buchausgabe). Später legte er aber auch noch einen autobiographischen Roman in fünf Bänden vor (Malkhas: Zartonk [Erwachen]. Boston 1933.), der weitaus größere Verbreitung fand. 37 Siehe zum Beispiel Aram: Housher [Memoiren]. In: Hayrenik Amsakir 1 (1922/23), H. 2, S. 23–31 und folgende; Armen Karo: Abrvadz orer [Erlebte Tage]. In: ebd. 1 (1922/23), H. 7, S. 102–111 und folgende; Alexander Khadisian: Hayasdani Hanrabedoutian dzakoumn

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Den Auftakt und gewissermaßen die Blaupause dafür bildeten die Memoiren eines armenischen Revolutionärs von Roupen Der Minasian, die ab 1922 im Hayrenik Amsakir in regelmäßigen Fortsetzungen publiziert wurden. Der Autor führte die Arbeit an seinen Memoiren über Jahrzehnte hinweg bis zu seinem Tod fort, behandelte dabei aber fast ausschließlich jene wenigen Jahre, die er als Kämpfer im Osmanischen Reich verbracht hatte.38 Von diesem Text wird später noch ausführlicher die Rede sein. Einen ganz anderen Charakter haben die autobiographischen Schriften von Kirchenleuten. Auch sie erscheinen erst nach dem Ersten Weltkrieg, während vor dem Krieg auch für den gelehrten Klerus die autobiographische Erzählung kein Genre war, in dem sie sich hervortaten. Man kann also durchaus annehmen, dass auch für die Priester, Bischöfe und Patriarchen, die während des Krieges und nach dem Krieg ihre Erinnerungen niederschrieben, die Erfahrung des Genozids ein maßgeblicher Auslöser gewesen ist. Aber ihre Memoiren sind nicht in derselben Weise auf das Völkermordgeschehen fixiert wie die Texte der weltlichen Führer. Das mag zum einen daran liegen, dass sie auch vorher schon geschrieben haben – im Gegensatz zu vielen Laien, deren autobiographischen Berichte zu den Jahren des Genozids die einzige Schrift geblieben sind, die sie in ihrem Leben verfasst haben. Ein anderer Grund ist vielleicht auch darin zu suchen, dass die Vertreter der Kirche sich weitaus weniger unter Rechtfertigungsdruck gesehen haben mögen als gerade die revolutionären Führer, die sich bewaffnet und ihrem Volk die „Freiheit“ versprochen hatten. Allerdings müssen diese Aussagen dezidiert als vorläufige Bestandsaufnahme betrachtet werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stützt sich das Urteil auf die Texte, die bislang publiziert sind. Besonders breit rezipiert und seit seiner ersten Publikation mehrfach wieder aufgelegt und auch übersetzt ist das Selbstzeugnis des Bischofs Krikoris Balakian, dessen erster Teil

ou zarkatsoume [Die Entstehung und Entwicklung der Republik Armenien]. In: ebd. 2 (1923/24), H. 2, S. 76–88 und folgende; [Karekin] Njteh: Etcher Lernahayasdani koyamarden [Buchseiten des Existenzkampfes Bergarmeniens]. In: ebd. 2 (1923/24), H. 2, S.126–134 und folgende; N. Hankuyts [Nigol Aghpalian]: Samsoni houshere [Samsons Memoiren]. In: ebd. 2 (1923/24), H. 4, S. 130–144 und folgende; etc. 38 Roupen [Minas Der Minasian]: Hay heghapokhagani me hishadagnere [Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs]. In: Hayrenik Amsakir 1 (1922/23), H. 1, S. 32–40 und folgende. 1949–1952 erschien eine erste Buchausgabe der „Erinnerungen“ in Los Angeles in sieben Bänden. Die heute fortlaufend unverändert nachgedruckte, westarmenische Taschenbuchausgabe ist: Roupen: Hay heghapokhagani me hishadagnere. 7 Bde. 3Beirut 1980–1987. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert.

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bereits 1922 erschien. Dieser Text, der den Titel Das armenische Golgotha trägt, ist einer der bekanntesten Überlebendenberichte.39 Bekannt ist auch die posthum veröffentlichte Autobiographie des Erzbischofs Maghakia Ormanian.40 Ormanian, 1841 in Konstantinopel geboren, hatte im Laufe seines Lebens wichtige Kirchenämter bekleidet.41 1888–1896 stand er dem Priesterseminar von Armash vor, das eine der wichtigsten theologischen Ausbildungsstätten der armenischen Kirche war. 1896 wurde er der armenische Patriarch von Konstantinopel und damit zum Oberhaupt der Armenier im Osmanischen Reich. Der jungtürkische Umsturz von 1908 brachte auch den Sturz Ormanians: Die armenische Nationalversammlung, die über das Patriarchat mitentschied, attestierte Ormanian eine zu große Nähe und Kulanz gegenüber dem Regime Sultan Abdülhamids  II. Ormanian war dennoch unbestritten eine Autorität innerhalb der armenisch-apostolischen Kirche. Aus seiner Feder stammt eine Gesamtdarstellung der armenischen Kirche, die neben einem historischen Abriss auch einen Überblick über ihre Organisation und eine Einführung in ihre Lehre gibt und die schon früh auch in europäische Sprachen übersetzt wurde.42 Vor allem aber ist Ormanian der Autor der dreibändigen Nationalgeschichte.43 Dieses monumentale Werk, das Ormanian nach seinem Patriarchat schrieb, tritt mit dem Anspruch auf, eine Gesamtgeschichte der Armenier zu sein. Es ist aber nach den Amtszeiten der Kirchenoberhäupter (Katholikose und Patriarchen) gegliedert. Sein letzter Band, der erst nach Ormanians Tod im Jahr 1918 veröffentlicht wurde, kann durchaus auch als Selbstzeugnis gelesen werden, schreibt Ormanian darin doch ausführlich über seine eigene Amtszeit als Istanbuler Patriarch.

39 Krikoris Balakian: Hay Koghkotan [Das armenische Golgotha]. 2 Bde. Wien 1922, Paris 1959. Balakian wurde 1875 in Tokad geboren und wurde zunächst am berühmten Sanasarian College in Erzurum ausgebildet und studierte dann in Deutschland Architektur, bevor er Priester wurde. Er gehörte zu den am 24. April 1915 verhafteten armenischen Intellektuellen und Geistlichen, die die Deportation nach Ayaş und Çankırı antraten. 40 Maghakia Ormanian: Khohk yev khosk ir gyankin vertchin shrtchanin metch [Gedanken und Aussprüche in der letzten Phase seines Lebens]. Jerusalem 1929. 41 Eine Biographie Ormanians ist Vahram Parounian: Maghakia ark. Ormanian [Erzbischof Maghakia Ormanian]. Montreal 2001. 42 Maghakia Ormanian: Hayots yegeghetsin [Die armenische Kirche]. Paris 1909 (französische Übersetzung: Malachia Ormanian: L’église arménienne. Son histoire, sa doctrine, son régime, sa discipline, sa liturgie, sa litterature, son présent. Paris 1910; englische Übersetzung: Malachia Ormanian: The Church of Armenia. Her History, Doctrine, Rule, Discipline, Liturgy, Literature, and Existing Condition. Oxford 1912). 43 Maghakia Ormanian: Azkabadoum [Nationalgeschichte]. 3  Bde. Jerusalem 1913– 1927.

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Neben diesen hochrangigen Geistlichen haben auch einfache Priester autobiographische Schriften verfasst. Aber längst nicht alle sind einer breiteren Leserschaft bekannt oder vielleicht auch noch gar nicht publiziert. Zwei Beispiele sind die Tagebücher der Pfarrer Kirkor Bogharian und Der Nerses Avak Kahana Tavouk­ djian. Bogharian veröffentlichte sein Tagebuch über die Jahre von Völkermord und Überleben in einem Band, in dem er noch andere Zeugnisse von Überlebenden versammelte.44 Tavoukdjians Tagebuch, das dieselbe Zeit behandelt, wurde überhaupt erst 1991 als Buch gedruckt, wobei der Herausgeber allerdings Kürzungen und Eingriffe am Text vornahm, ohne sie kenntlich zu machen.45 Dem in den letzten Jahren neu erwachten Interesse an Selbstzeugnissen ist es zu verdanken, dass immer wieder noch unveröffentlichte Texte ans Licht gelangen. So sind zum Beispiel 2013 die Lebenserinnerungen des Priesters Der Ghevont aus Marash in einer hervorragenden Edition erschienen, eines der wenigen bislang verfügbaren Memoirenwerke jenseits der Houshamadyan-Literatur, das sich nicht primär auf den Völkermord von 1915/16 bezieht, sondern auf die Zeit davor.46 Es steht zu erwarten, dass in den nächsten Jahren weitere Selbstzeugnisse, insbesondere auch solche, die nicht von Vertretern der gebildeten Elite stammen, zugänglich werden und dass diese Veröffentlichungen auch unser Bild von den osmanisch-armenischen Selbstzeugnissen insgesamt möglicherweise revidieren werden.47 44 Krikor Bogharian: Orakroutiun darakri gyankis [Tagebuch meines Lebens als Vertriebener]. In: ders.: Tseghasban Tourke, vgayoutiunner kaghvadz’ hrashkov prgvadznerou zruytsneren [Türkische Völkermörder. Zeugnisse gesammelt von durch Wunder Überlebenden]. Beirut 1973. 45 Der Nerses Avak Kahana Tavoukdjian: Darabanki orakroutiun [Tagebuch der Qual], hrsg. v. Toros Toranian. Beirut 1991. 46 Vahan Der Ghevontian (Hrsg.): Marashi Der Ghevont Kahanayi houshere [Die Memoiren des Priesters Der Ghevont aus Maraş]. Yerevan 2013. 47 Allerdings gibt es selbst aus der Feder sehr bekannter Autoren noch überraschende Entdeckungen. So war über Jahrzehnte hinweg in Vergessenheit geraten, dass der Satiriker Yervant Odian (geb. 1869 in Istanbul, gest. 1926 in Kairo), dessen Werke, vor allem seine berühmte Satire Enger Pantchouni [Genosse Hatnichts] von 1911, bis heute vielfach nachgedruckt werden, nach seinem ersten autobiographischen Werk (Yervant Odian: Dasnyergou dari Bolsen tours [Zwölf Jahre außerhalb Istanbuls]. Istanbul 1912) noch ein zweites Selbstzeugnis verfasst hatte, welches seine Erlebnisse von 1915 thematisierte. Dieses Werk mit dem Titel Verfluchte Jahre [Anidzyal dariner] war zwischen Februar und September 1919 in der Istanbuler Tageszeitung Jamanag [Zeit] erschienen und danach nicht noch einmal in Buchform publiziert worden. Erst vor einigen Jahren wurde der Text wieder entdeckt und erregte großes Aufsehen, weil er unter allen Selbstzeugnissen, die sich mit dem Völkermord beschäftigen, aufgrund seiner literarischen Qualität wie seiner analytischen Schärfe eine herausgehobene Stellung einnimmt. In kurzer Folge erschienen hintereinander mehrere armenische Buchausgaben sowohl in Armenien als auch in der Diaspora und gleichzeitig

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Kategorien Vergleichende Forschung braucht Kategorien, und so soll es im Folgenden um mögliche analytische Kategorien gehen, mit denen sich die osmanisch-armenischen Selbstzeugnisse charakterisieren lassen. Im Kontext des Imperienvergleichs an der Schwelle zur Herausbildung der Nationalstaaten werden zumeist Kategorien in Anschlag gebracht, die sich auf Staaten beziehen, wenn auch auf die verschiedenen Staatsformen des Imperiums respektive Nation, die ja in der Regel auch als Staat oder zumindest mit dem Fernziel staatlicher Verwirklichung gedacht wurde und wird. Und auch wenn man von einer Überschreitung der staatlichen Grenzen ausgeht, bleibt doch der Staat die Bezugsgröße. Es sind also vorrangig politische bzw. administrative Grenzen, die Zugehörigkeit und Abgrenzung definieren.48 Kann man die oben aufgezeigten Texte im Spektrum der Begriffe von national, imperial oder transimperial bzw. transnational fassen? Zunächst einmal ist festzustellen: Einen armenischen Staat gab es bis zum Ersten Weltkrieg bereits seit mehr als einem halben Jahrtausend nicht mehr. Was existierte, war eine armenische Volksgruppe, die sich als ethnische Gruppe über ihre Sprache bzw. als Religionsgemeinschaft über ihre Konfession sowie schließlich über ein historisches Siedlungsgebiet als Referenz definierte. Ob sich diese auch Übersetzungen in verschiedene europäische Sprachen; vgl. die englische Fassung: Yervant Odian: Accursed Years: My Exile and Return from Der Zor, 1914–1919. London 2009; und die französische Ausgabe: Yervant Odian: Journal de déportation. Marseilles 2010. Für eine Biographie Odians siehe S. A. Manougian: Yervant Odian. Gyanke, hrabaragakhosoutiune, kegharvesdagan vasdage [Yervant Odian. Leben, öffentliches Wirken, literarische Bedeutung]. Yerevan 1997. 48 Vgl. die Beiträge zur Debatte um Nation und Nationalismustheorie u. a. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Berlin 21998; Miroslav Hroch: Nationales Bewußtsein zwischen Nationalismustheorie und der Realität der nationalen Bewegungen. In: Eva Schmidt-Hartmann (Hrsg.): Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. München 1994, S. 39–52; Eric Hobsbawm: Die Nation als neuartiges Phänomen: Von der Revolution zum Liberalismus. In: ders.: Nationen und Nationalstaat. Frankfurt a. M. 21992, S. 24–58; Heinrich A. Winkler: Der Nationalismus und seine Funktionen. In: ders. (Hrsg.): Nationalismus. Königstein (Taunus) 21985, S. 5–46; Ulrich Scheuner: Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Theodor Schieder (Hrsg.): Staatsgründungen und Nationalitätsprinzip. München, Wien 1974, S. 9–37. Siehe als einführenden Überblick auch Reinhart Kosellek: „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kosellek (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 141–151, 380–389; Elisabeth Fehrenbach: „Nation“. In: Rolf Reichardt/Eberhard Schmitt (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. München 1986, S. 75–107.

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Gemeinschaft bis zum Ersten Weltkrieg bereits als Nation entwickelt hatte, wird noch zu diskutieren sein. Das historische Siedlungsgebiet der Armenier war im späten 19. Jahrhundert auf drei Staaten aufgeteilt. Der größte Teil Armeniens lag im Osmanischen Reich. Der Osten war lange ein Teil Irans, bis im russisch-persischen Krieg 1828 der größere Nordteil dieses Gebiets unter russische Herrschaft geriet und nur der kleine Südosten Armeniens unter dem Regime des Schahs verblieb. Das Leben der Armenier in den drei Landesteilen war geprägt von den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen des jeweiligen Staates, zu dessen Territorium sie gehörten. Im Osmanischen Reich teilten sich die christlichen Armenier ihr Land vor allem mit Kurden, die in einigen Gebieten mehrheitlich sunnitische Muslime waren, in anderen Gegenden aber auch dem alevitischen Glauben anhingen, also eine vom Staat mal tolerierte, mal unterdrückte heterodoxe Version des Islam vertraten. Regional je unterschiedlich waren auch andere Bevölkerungsgruppen, Sprachen und Religionen bzw. Konfessionen vertreten.49 Entsprechend war das Alltagsleben der Armenier auch bestimmt von den Sprachen und Lebensweisen der sie umgebenden Gruppen. Die Mehrheit der osmanischen Armenier blieb zwar im jeweils regionalen Dialekt armenischsprachig und ihrer armenisch-apostolischen Konfession verhaftet. Regionale sprachliche Assimilationen waren aber keine Seltenheit. So gab es kurdisierte Armenier – etwa in Shadakh – und türkischsprachige Armenier – vor allem in Kilikien – wie umgekehrt etwa im Gebiet um Diyarbekir und Mardin zahlreiche Assyrer / Aramäer das Armenische angenommen hatten. In einigen Regionen kam es unter direktem oder indirektem Druck auch zu religiöser Anpassung durch Konversion.50 49 Einen Überblick über die ethnische, sprachliche und religiöse Vielfalt, wie sie in der Region etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts, also nach Jahrzehnten der gewaltsamen Homogenisierung, immer noch bestand, gibt Peter A. Andrews: Ethnic Groups in the Republic of Turkey. Wiesbaden 1989. Angaben zur Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung sind gerade für diese Region ungenau, siehe allgemein Kemal Karpat: Ottoman Population, 1830–1914. Demographic and Social Characteristics. Madison (Wisconsin) 1985; Justin McCarthy: The Arab World, Turkey and The Balkans (1878–1914). A Handbook of Historical Statistics. Ann Arbor (Michigan) 1982. Für eine kritische Diskussion der Bevölkerungsverhältnisse siehe Fuat Dündar: Modern Türkiye’nin Şifresi [Die Chiffre der modernen Türkei]. Istanbul 2008, S. 85–115. 50 Zur Türkischsprachigkeit insbesondere der kilikischen Armenier siehe zum Beispiel A. Khadents: Te intchou Giligetsin hayakhos tche yeghadz? [Warum sprachen die kilikischen Armenier kein Armenisch?] In: Yeprad [Euphrat] (Aleppo), 1. Jahrgang, Nr. 63 (15.02.1928); P. S.: Trkakhosoutiune mer metch [Die Türkischsprachigkeit unter uns]. In: Yeprad (Aleppo), 1. Jahrgang, Nr. 93 (30.05.1928). Zu den kurdisierten Armeniern im Gebiet

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Der osmanische Staat durchlief während des 19. Jahrhunderts einen Modernisierungsprozess, der auf Zentralisierung und direkte Kontrolle der Provinzen abzielte.51 Die tanzimat (Neuordnungen) genannten Reformen weckten bei den Armeniern große Hoffnungen, die sich nur zum Teil erfüllten.52 Die Veränderungen des 19. Jahrhunderts brachten aber auch neue Konflikte mit sich bzw. verschärften vorhandene Spannungen. Zwei Faktoren prägten das Leben der Armenier in den osmanischen Ostprovinzen im späten 19. Jahrhundert in besonderer Weise. Zum einen bekam der alte Menschheitskonflikt zwischen nomadisch oder halbnomadisch lebenden Viehzüchtern und sesshaften Ackerbauern in den armenischen Provinzen eine religiöse – und zu einem weitaus geringeren Maß auch ethnische – Grundierung, weil es muslimische, kurdische Stammesführer waren, die armenische, christliche Bauern überfielen. Hinter diesen Zuschreibungen gerät der Umstand aus dem Blickfeld, dass unter den Übergriffen der kurdischen Beys auch sesshafte Kurden zu leiden hatten. Zum anderen hatte die osmanische Armee während der 1840er Jahre in einer Serie von Feldzügen gegen die kurdischen Fürsten im Osten die traditionellen Herrschaftsstrukturen zerschlagen. Eine neue stabile Ordnung hatte die Zentralregierung aber nicht an deren Stelle gesetzt. Also wurden Machtpositionen zwischen den verschiedenen lokalen Akteuren – Stämmen, Notabeln, Vertretern der Zentral- und Provinzverwaltung, Militär und Milizen – südlich des Van-Sees siehe Vahé Tachjian: La France en Cilicie et en Haute-Mésopotamie. Aux confins de la Turquie, de la Syrie et de l’Irak (1919–1933). Paris 2004, S. 274–288; vgl. auch Roupen, Hay Heghapokhagani me Hishadagnere [Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs] Bd. 2, S. 183–184. In der Region Hamshen / Hemshin am Schwarzen Meer konvertierten ganze zusammenhängende Gemeinschaften zum Islam, eine Gruppe, die bis heute dort existiert und zum Teil auch immer noch ihren armenischen Dialekt spricht. Diese Gemeinschaft hat gerade in den letzten Jahren auch in der Wissenschaft einige Aufmerksamkeit gefunden, siehe u. a. Hovann H. Simonian (Hrsg.): The Hemshin. History, Society and Identity in the Highlands of Northeast Turkey. London 2007; Bert Vaux: Hemshinli. The Forgotten Black Sea Armenians. Cambridge 2001. Zu den islamisierten Armeniern von Malatya siehe Arshag Alboyadjian: Badmoutiun Malatyo Hayots [Geschichte der Armenier von Malatya]. Beirut 1961, S. 465, 491, 500–511. Allgemein zum Alltagsleben und der Alltagskultur der Armenier im Osmanischen Reich in den einzelnen Regionen siehe www.houshamadyan.org. 51 Für den folgenden Abschnitt vgl. ausführlicher Elke Hartmann: The Central State in the Borderlands: Ottoman Eastern Anatolia in the Late 19th Cetury. In: Omer Bartov/ Eric D. Weitz (Hrsg.): Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands. Bloomington, Indianapolis 2013, S. 172–190. 52 Gute einführende Überblicksdarstellungen der Epoche sind Erik J. Zürcher: Turkey. A Modern History. London, New York 1993; Donald Quataert: The Ottoman Empire, 1700–1922. Cambridge 2000; James J. Reid: Crisis of the Ottoman Empire. Prelude to Collapse 1839–1878. Stuttgart 2000.

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neu ausgefochten.53 Die Folge war eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausufernde Gewalt. Das Fehlen einer sanktionierenden Ordnungsmacht erleichterte die Übergriffe, deren Urheber selten Strafe befürchten mussten. Die osmanischen Armenier setzten in dieser Lage lange Zeit ihre Hoffnung auf ein Erstarken der osmanischen Zentralmacht.54 Erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten sich revolutionäre Gruppen, die auch auf Bewaffnung der Armenier setzten. Aber auch ihr Bezugsrahmen war der Osmanische Staat, ihr Ziel bis zuletzt Reformen, die der armenischen Bevölkerung Sicherheit bringen sollten, sowie ein Programm, das die Armenier in den Ostprovinzen soweit stärken sollte, dass sie in Abwesenheit eines effektiven staatlichen Schutzes den lokalen bewaffneten Akteuren etwas entgegensetzen konnten.55 Neben der Unsicherheit und Gewalt war 53 Die Forschungslage zur Geschichte der osmanischen Ostprovinzen im 19. Jahrhundert ist allgemein dünn. Umso wertvoller ist die Fallstudie zur Provinz Diyarbekir von Jost Jongerden/Jelle Verheij (Hrsg.): Social Relations in Ottoman Diyarbekir, 1870–1915. Leiden u. a. 2012. Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis dieser Prozesse der Austarierung lokaler Herrschaft ist nach wie vor Stephen Duguid: The Politics of Unity. Hamidian Policy in Eastern Anatolia. In: Middle Eastern Studies 9 (1973), S. 139–155. Zu den kurdischen Fürstentümern siehe knapp David McDowall: A Modern History of the Kurds. London, New York 1997, S. 38–48; zu ihrer Unterwerfung im Zuge der Etablierung moderner zentralstaatlicher Herrschaft: Metin Heper: Center and Periphery in the Ottoman Empire. In: International Political Science Review 1 (1980), S. 81–105; zur anarchischen Situation nach der Zerschlagung der Herrschaft der kurdischen Beys siehe auch Martin van Bruinessen: Agha, Sheykh and State. Utrecht 1978, S. 228–229. 54 Garo Sasouni: Kiurd azkayin sharjoumnere yev Hay-Krdagan haraperoutiunnere [Die kurdische Nationalbewegung und die armenisch-kurdischen Beziehungen]. Beirut 1969, S. 130–137, bietet ausführliche Zitate aus den zahllosen Petitionen des Armenischen Patriarchats. Zu den in den 1890er Jahren aufgestellten, irregulären, aus kurdischen sunnitischen Stämmen rekrutierten und nach Sultan Abdülhamid II. benannten Kavallerie-Regimentern, die am Ende des 19. Jahrhunderts noch zusätzlich zur Gewalteskalation beitrugen, siehe Janet Klein: The Margins of Empire. Kurdish Militias in the Ottoman Tribal Zone. Stanford (California) 2011. 55 Siehe ausführlicher Elke Hartmann: „The Turks and Kurds are Our Fate“: ARF Self-defense Concepts and Strategies as Reflected in Ruben Ter Minasian’s “Memoirs of an Armenian Revolutionary”. In: Armenian Review 54 (2014), H. 3–4, S. 1–44. Zur Geschichte der armenischen revolutionären Parteien siehe Louise Nalbandian: The Armenian Revolutionary Movement. The Development of Armenian Political Parties Through the Nineteenth Century. Berkeley, Los Angeles 1963; Mikayel Varantian: H[ay] H[eghapokhagan] Tashnagtsoutian Badmoutiun [Geschichte der Armenischen Revolutionären Föderation]. 2 Bde. Paris 1932, Kairo 1950; Armen Gidour: Badmoutiun S. T. Hntchagian Gousagtsoutian 1887–1962/63 [Geschichte der Sozialdemokratischen Glocken-Partei]. 2 Bde. Beirut 1962–1963; Dikran Mesrob Kaligian: Armenian Organization and Ideology under Ottoman Rule, 1908–1914. New Brunswick 2011.

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auch das Elend und die Verwüstung in den Dörfern, welche Krieg und Gewalt v.a. nach 1877 mit sich brachten, ein beherrschendes Element in vielen armenischen Regionen des osmanischen Ostens, jedenfalls auf dem Land.56 Im Vergleich zum Osmanischen Reich waren moderne staatliche Strukturen im Iran zur selben Zeit noch weniger entwickelt, der Arm der Zentralverwaltung reichte noch weniger in die entlegenen Provinzen. Die Armenier, die im Nordwestzipfel Irans lebten, hatten aber eben das, was ihnen im Osmanischen Reich verwehrt blieb: Sie konnten selbst für ihren Schutz sorgen, sie stellten eigene Einheiten im Militär, auf die der Staat als lokale Gendarmerie gelegentlich zurückgriff.57 Die wirtschaftlichen Bedingungen waren harsch, die Region insgesamt kaum entwickelt, aber die Unsicherheit und endemische Gewalt, die das Leben der osmanischen Armenier belastete, waren den Armeniern im Iran weitgehend fremd. Diese Gegebenheiten und die relative Freiheit, mit der die Armenier sich im Nordiran bewegen konnten, machten sich im frühen 20. Jahrhundert nicht zuletzt die armenischen Revolutionäre aus Russland und dem Osmanischen Reich zunutze, die die iranischen Grenzregionen als Rückzugsgebiete nutzten.58 Im russischen Teil Armeniens war die Bevölkerung homogener als im Iran und im Osmanischen Reich.59 Im Vergleich zu den armenischen Provinzen im Iran und im Osmanischen Reich lebte die Bevölkerung in Russisch-Armenien insgesamt in größerem Wohlstand, jedenfalls aber in sehr viel größerer Sicherheit. Signifikant war vor allem der Unterschied hinsichtlich der politischen Rahmenbedingungen. 56 So kam es in den 1880er Jahren immer wieder zu lokalen Hungersnöten, über die trotz der zunehmend strikter werdenden Zensur in den Zeitungen berichtet wurde; vgl. z. B. die Artikel in der Istanbuler Zeitung Masis. 57 Für einen Überblick über die Geschichte der Armenier im Iran bzw. Ostarmeniens unter iranischer Herrschaft siehe George Bournoutian: The Khanate of Erevan Under Qajar Rule, 1795–1828. Costa Mesa (California) 1992; ders.: Armenians in Nineteenth-Century Iran. In: Cosroe Chaqueri (Hrsg.): The Armenians of Iran: The Paradoxical Role of a Minority in a Dominant Culture. Cambridge 1998, S. 54–76; ders.: Eastern Armenia from the Seventeenth Century to the Russian Annexation. In: Richard Hovannisian (Hrsg.): The Armenian People from Ancient to Modern Times Bd. 2. New York, London 1997, S. 81–107. Zu den armenischen Gendarmerie- und Militäreinheiten siehe Stephanie Cronin: The Army and the Creation of the Pahlavi State in Iran, 1910–1926. London, New York 1997, S. 122–127. 58 Vgl. etwa Roupen: Hay Heghapokhagani me Hishadagnere [Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs] Bd. 1, S. 267–269, 315–326; Bd. 2, Kap. 1. 59 Zu den Armeniern unter russischer Herrschaft siehe die Überblicksdarstellungen von Ronald Grigor Suny: Eastern Armenians under Tsarist Rule. In: Richard Hovannisian (Hrsg.): The Armenian People from Ancient to Modern Times Bd. 2. New York, London 1997, S. 198–137; ders.: Looking Toward Ararat. Armenia in Modern History. Bloomington, Indianapolis 1993.

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Im deutlichen Gegensatz zur Situation im Iran und im Osmanischen Reich, wo die fehlende Reichweite der zentralstaatlichen Organe eine Leerstelle ließ, stand den Armeniern im Zarenreich ein autoritärer Staat gegenüber, dessen Kontrolle noch in die letzte armenische Hütte reichte. Wo die Armenier im Osmanischen Reich unter gewaltsamen Übergriffen litten, die dem Mangel an zentralstaatlicher Durchsetzungskraft geschuldet waren, erfuhren die Armenier im Russischen Reich Repressionen, die unmittelbar vom Staat ausgingen. Seit den 1880er Jahren war die armenische Gemeinschaft einer oppressiven Assimilationspolitik ausgesetzt, die bei den armenischen Institutionen ansetzte. Die zaristische Bürokratie enteignete 1903 die armenische Kirche und schloss armenische Schulen. Dagegen war im Osmanischen Reich die Gewaltdelegation an lokale Akteure, das Gewährenlassen und die straflose Duldung alltäglicher Gewalt kalkulierter Bestandteil der osmanischen Herrschaftspraxis in den Ostprovinzen. Ein gegen die armenischen Institutionen und die armenische Identität gerichtetes politisches Programm gab es im Osmanischen Reich jedoch nicht. Andererseits eröffnete die russische Politik den Armeniern im Zarenreich sowohl bürokratische als auch militärische Karrieren. Viele der späteren armenischen Revolutionäre, die auch im Osmanischen Reich aktiv waren, hatten zuvor in der russischen Armee eine Ausbildung als Offizier durchlaufen.60 Im Osmanischen Reich hatten sich zwar vor allem die unteren Ränge der zivilen Verwaltung im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich für die osmanischen Nichtmuslime geöffnet. Der Zugang zu den bewaffneten Organen des Staates blieb den Armeniern jedoch bis zur jungtürkischen Revolution versperrt.61 Auf dem Feld der Kultur und politischen Ideen war der russische Einfluss auf die russisch-armenischen Eliten spürbar. Im Osmanischen Reich dagegen bildeten die armenischen Intellektuellen und Künstler in vielen neu aufkommenden Bereichen eine Avantgarde, die auch die neuen muslimischen Eliten inspirierte.62 60 Vgl. die biographischen Skizzen in Hratch Dasnabedian: History of the Armenian Revolutionary Federation Dashnaktsutiun 1890/1924. Milano 1989/1990; Houshamadyan Hay Heghapokhagan Tashnagtsoutyan. Albom-Atlas [Erinnerungsbuch der Armenischen Revolutionären Föderation. Album-Atlas]. 2 Bde. Los Angeles 1992–2001. 61 Zu den Armeniern speziell siehe Mesrob K. Krikorian: Armenians in the Service of the Ottoman Empire 1860–1908. London u. a. 1977; zu den osmanischen Nichtmuslimen allgemein: Carter V. Findley: The Acid Test of Ottomanism: The Acceptance of Non-Muslims in the Late Ottoman Bureaucracy. In: Benjamin Braude/Bernard Lewis (Hrsg.): Christians and Jews in the Ottoman Empire Bd. 1. New York, London 1982, S. 339–368. 62 Suraiya Faroqhi: Geschichte des osmanischen Reiches. München 2000, S. 107–108, über die Bereiche von Presse, neuen literarischen Formen, Theater und Photographie. Auf dem politischen Feld stellt das Wirken Krikor Odians als Berater Midhat Paşas bei der Erarbeitung der osmanischen Verfassung ein besonders prominentes Beispiel dar; zu ihm siehe

Osmanisch-Armenische Autobiographik zwischen Heimatland und Zerstreuung 475

Nicht nur das Land Armenien als historische Landschaft war dreigeteilt. Die armenische Welt ging schon im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert weit über die Grenzen des historischen Siedlungsgebiets der Armenier hinaus. Sie umfasste eine weltweite Diaspora.63 Bemerkenswert ist an erster Stelle der Umstand, dass im 19. Jahrhundert die armenischen kulturellen, geistigen und politischen Zentren schon lange nicht mehr in Armenien lagen, sondern weit außerhalb. Zentren waren zum einen die Metropolen der Reiche, deren Teil Armenien war. An erster Stelle steht Konstantinopel, die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, aber auch die Hafenstadt Smyrna (Izmir) war bedeutsam. Im russischen Teil übernahm diese Rolle vor allem die Stadt Tiflis in Georgien, aber auch Baku in Aserbaidschan war ein wichtiges Zentrum für die Armenier. Daneben ist auch Moskau mit seinem berühmten Lazarian-Institut zu nennen. Jenseits dieser Metropolen in den Staaten, die Armenien umfassten, wiesen die kulturellen Zentren der Armenier, die in der weltweiten Zerstreuung lagen, auch noch weiter über die osmanischen und russischen Reichsgrenzen hinaus. So war die armenische kulturelle Renaissance des 19. Jahrhunderts ohne das Wirken der Mekhitaristenmönche in Venedig und später auch Wien undenkbar. Maßgebliche Impulse kamen auch aus den großen Armenierkolonien in Indien. Schließlich erlangten für die im 19. Jahrhundert neu aufkommenden armenischen Eliten – parallel zu den anderen Gruppen im Osmanischen Reich – Städte wie Paris, in die sie zum Studium entsandt wurden, große Bedeutung. Und auch die revolutionären Parteien hatten ihre Zentren in der Diaspora, etwa in Genf.64 Roderic H. Davison: Reform in the Ottoman Empire 1856–1876. New York 1973, S. 115, 289–290, 369; ders.: The Millets as Agents of Change in the Nineteenth Century Ottoman Empire. In: Benjamin Braude/Bernard Lewis (Hrsg.): Christians and Jews in the Ottoman Empire Bd. 1. New York, London 1982, S. 319–337, hier S. 330. 63 Das klassische Werk zur Geschichte der armenischen Diaspora ist Arshag Alboyadjians monumentale Studie: Arshag Alboyadjian: Badmoutiun hay kaghtaganoutian. Hayerou tsrvoume ashkharhi zanazan masere [Geschichte der armenischen Diaspora. Die Zerstreuung der Armenier in die verschiedenen Teile der Welt]. 3 Bde. Kairo 1941, 1955, 1961. Siehe auch die neuere Darstellung von Vartkes Alexandrovitch Mikaelian: Hay kaghtashkharhi badmoutiun (mitchnatarits mintchev 1920) [Geschichte der armenischen Diaspora (vom Mittelalter bis 1920)]. Yerevan 2003. 64 Vahe Oshagan: Modern Armenian Literature and Intellectual History from 1700 to 1915. In: Richard Hovannisian (Hrsg.): The Armenian People from Ancient to Modern Times Bd. 2. New York, London 1997, S. 139–174; Levon Boghos Zekiyan: Renaissance arménienne et mouvement de libération (XVIIe–XVIIIe siècle). In: Gérard Dédéyan (Hrsg.): Histoire des Arméniens. Toulouse 2007, S. 447–474; Hagop Oshagan: Hamabadger arevmdahay kraganoutian [Panorama der westarmenischen Literatur] Bd. 1: Zartonki serount [Generation der Renaissance]. Jerusalem 1945.

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Grenzgänger zwischen den Lebenswelten Für die Frage, inwieweit man die osmanisch-armenischen autobiographischen Texte als national, imperial oder transimperial beschreiben kann, ist nicht vorrangig die Beobachtung von Belang, dass es in den drei Teilen Armeniens Unterschiede in den Lebensbedingungen der Armenier gab und dass sich diese unterschiedlichen Lebenswelten durch die Berücksichtigung der armenischen Zentren in der Diaspora noch einmal vervielfachten. Relevant ist vielmehr der Umstand, dass es einen Austausch zwischen all diesen armenischen Lebenswelten gab, der sich auch in den autobiographischen Schriften spiegelt, und dass es in den Texten eine Wahrnehmung des eigenen Selbst, eine Selbstverortung gab, die über die geographischen und kulturellen Grenzen hinausreichte. Die intellektuellen, religiösen und politischen Eliten – und nur von ihnen, die fast allein als Autoren osmanisch-armenischer autobiographischer Texte auftreten, kann hier die Rede sein – zirkulierten im 19. und frühen 20. Jahrhundert innerhalb der armenischen Welt über alle Staatsgrenzen hinweg. Die Kirchenleute im Osmanischen Reich standen in steter Verbindung zum Zentrum der Armenisch-Apostolischen Kirche in Etchmiadzin, das sich in Russisch-Armenien befand. Das Istanbuler Patriarchat kommunizierte mit den weit verstreuten Prälaturen in seinem Jurisdiktionsbereich. Auch die frühen Reiseberichte, die Fremdheitserfahrungen in den doch eigentlich der eigenen Gemeinschaft, dem eigenen Volk zugehörigen, entfernten Gemeinden als erste ausführlich thematisieren, stammen aus der Feder von Geistlichen. Zu nennen sind beispielsweise die Berichte eines Vahan Der Minassian oder Devgants,65 vor allem aber das Werk Karekin Srvantsdiants’, dessen Lebensweg und Wirken auch die vielfältigen innerarmenischen Wechselbeziehungen und Vernetzungen veranschaulicht.66 Karekin Srvantsdiants wurde 1840 in Van geboren. Ausgebildet wurde er zunächst im Kloster Varak, wo Mgrditch Khrimian (1820–1907), der spätere Patriarch von Konstantinopel und Katholikos aller Armenier, eine der wichtigsten Figuren der kulturell-politischen Erneuerung der Armenier in der zweiten Hälfte 65 Vahan Vartabed Der-Minasian: Ankir tbroutiun yev aragk [Mündliche Überlieferungen und Parabeln]. Konstantinopel 1893; ders.: Ankir tbroutiun yev hin sovoroutiunner [Mündliche Überlieferungen und alte Traditionen]. Konstantinopel 1904. Yeremia Devgants: Djanabarhortoutiun Partsr Hayk yev Vasbouragan (1872–1873) [Reise durch das Armenische Hochland und Vasbouragan]. Yerevan 1991. 66 Emma A. Gosdantian: Karekin Srvantsdiants. Zweite, neu durchgesehene Auflage Yerevan 2008. Eine englische Kurzbiographie findet sich in Agop Jack Hacikyan u. a. (Hrsg.): The Heritage of Armenian Literature: From the Eighteenth Century to Modern Times. Detroit 2005, S. 372–374.

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des 19. Jahrhunderts, sein Lehrer und Mentor wurde. Khrimian setzte seinen Zögling früh, bereits 1862 in der Redaktion seiner Zeitschrift Ardzvi Vasbouragan67 ein, die in der Geschichte des armenischen Pressewesens als besonders frühe Publikation aus den Provinzen einen besonderen Stellenwert hat. Später unterrichtete Srvantsdiants im berühmten Kloster Sourp Garabed. Während dieser Zeit leitete er nicht nur die dort herausgegebene Zeitschrift Ardzvig Darono [Der kleine Adler Darons], sondern schrieb gleichzeitig auch für armenische Zeitungen in Istanbul (Masis), Smyrna (Arevelyan Mamoul [Östliche Presse]) und Tiflis (Meghou [Biene] und Groung [Kranich]), publizierte also sowohl in der armenisch-osmanischen Provinz als auch in den wichtigsten Metropolen des Reiches sowie im Zentrum des ostarmenischen Geisteslebens im Russischen Reich. Mehrmals unternahm Srvantsdiants ausgedehnte Reisen durch die armenischen Provinzen: zuerst 1860–61 in Begleitung Khrimians, 1867–69 erneut, diesmal in seiner Eigenschaft als Aufseher der armenischen Schulen der Provinz Erzurum, und schließlich, 1879, also unmittelbar nach dem verheerenden russisch-osmanischen Krieg. Diese letzte Rundreise durch alle armenischen Provinzen erfolgte im Auftrag des Patriarchen Nerses Varjabedian, der Srvantsdiants anwies, ein ethnographisches Panorama der Armenier in den Provinzen zu erstellen. Über seine Beobachtungen und Dokumentationen berichtete Srvantsdiants zum einen in einer Flut von Briefen, die bis heute unveröffentlicht sind. Zum anderen legte er mehrere Sammlungen von mündlichen Überlieferungen, regional verwurzelten Epen, Märchen, Liedern, Sprichwörtern, dialektalen Wendungen etc. vor68 und publizierte eine Reisebeschreibung in der Form eines persönlichen Erfahrungsberichts.69 Für die Darstellung der Eindrücke seiner letzten Reise wählte er schließlich anstelle eines klassischen Reiseberichts die Form einer poetischen Reflexion.70 Karekin Srvantsdiants’ Schriften begründeten einen ganzen Zweig ethnographischer Forschung und Sammlung, die doch immer innerarmenisch blieb.71 67 Wörtl. etwa „Vasbouragan, Land der Adler“. Vasbouragan ist eine historische Kernregion Armeniens, die Gegend um den Van-See. 68 Karekin Srvantsdiants: Krots ou prots yev Sasountsi Tavit gam Mheri tour [Von Schriften und Weisen sowie David von Sasoun und Mhers Säbel]. 1874; ders.: Hnots yev norots. Badmoutiun vasn Tavti yev Movsesi Khorenatsvo [Von Alten und Neuen. Die Geschichte von David und Moses von Khoren]. Konstantinopel 1874; ders.: Manana [Manana]. Konstantinopel 1876. 69 Karekin Srvantsdiants: Hamov, hodov [Mit Duft und Aroma]. Konstantinopel 1884. 70 Karekin Srvantsdiants: Toros Aghpar, Hayasdani djamport [Bruder Toros, Reisender durch Armenien]. 2 Bde. Konstantinopel 1879, 1884. 71 Emma A. Gosdantian: Arevmdyan Hayasdani hayapnag vayreri veraperyal K. Srvantsdiantsi gazmadz vidjagakroutiunnerits [Aus den Beschreibungen der armenisch

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Ein kultureller Austausch bestand insbesondere zwischen Konstantinopel und Tiflis. Bedros Atamians berühmte Theatergruppe reiste zu Aufführungen von der osmanischen Hauptstadt nach Tiflis, um von dort aus kleinere Städte in der gesamten Region, vor allem auch in Djavakhk, zu bespielen.72 Chöre gaben ihre Konzerte in den verschiedenen Teilen der armenischen Welt. Die Istanbuler Zeitungen wurden auch in Russisch-Armenien gelesen, ebenso wie die in Tiflis erscheinenden Blätter von den osmanischen Armeniern und in der Diaspora rezipiert wurden. Schriftsteller besuchten sich über die Landesgrenzen hinweg. Der Reisebericht von Alexander Shirvanzade etwa, der 1919 aus Russland nach Istanbul kam und mit viel Humor die lokalen Eigenarten beschrieb, nicht ohne auch über seine eigene Fremdheitserfahrung zu lachen, demonstriert beispielhaft das Spannungsfeld zwischen Vertrautheit und Fremdheit, in dem sich diese Eliten bewegten, das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu ganz unterschiedlichen Welten, die durch die armenischen Kolonien, auch wenn diese sich wieder beträchtlich voneinander unterschieden, dennoch verbunden waren.73 Auch die revolutionären Kämpfer bewegten sich innerhalb der armenischen Welt zwischen den Welten und beschrieben dieselben Erfahrungen von Fremdheit, Vertrautheit, Zugehörigkeitsgefühl und Abgrenzung, diesmal nicht allein in den armenischen urbanen Zentren von Moskau über Tiflis, Baku, Yerevan und Kars bis hin nach Erzurum, Van und Konstantinopel und weiter nach Paris und Genf, sondern vor allem in den Dörfern in den russischen, iranischen und osmanischen Teilen Armeniens, in denen sie agitierten. Die bereits zitierten, in ihrer Buchform schließlich siebenbändigen Memoiren des revolutionären Kämpfers und Parteikaders Roupen Der Minassian umfassen die ganze Bandbreite der Bezugnahmen und Referenzrahmen und zeigen damit besiedelten Orte Westarmeniens von K. Srvantsdiants]. In: Panper Hayasdani Arkhivneri [Bulletin der Archive Armeniens] 16 (1976), H. 2, S. 62–94; Anoushavan Bedrosian: Hay azkakroutian aratchin dzrakir-hartsarani khntri shourtch [Zur Frage der ersten sytematischen Erhebung in der armenischen Ethnographie]. In: Badma-Panasiragan Hantes [Historisch-Philologische Zeitschrift] 177 (2008), H. 2, S. 230–243. 72 Bereits zu seinen Lebzeiten erschienen sowohl in Istanbul als auch in Tiflis Monographien über Bedros Atamian (B. Donabedian: Ksan yev hink amya pemagan kordzouneoutian B. H. Atamiani [Zum 25-jährigen Bühnenjubiläum V. H. Atamians]. Konstantinopel 1888; Vruyr Aram: Bedros H. Atamian. Tbilissi 1891). Atamian und seinem Theater widmen sich die drei dicken Bände von R. Zarian: Atamiani arvesde [Atamians Kunst]. Yerevan 1960; ders.: Atamiani gyanke [Atamians Leben]. Yerevan 1961; ders.: Atamiani Shakespear-e [Atamians Shakespeare]. Yerevan 1965. Vgl. auch auf Englisch: Edward Alexander: Shakespeare’s Plays in Armenia. In: Shakespeare Quarterly 9 (1958), H. 3, S. 387–394. 73 Alexander Shirvanzade: Odar vayreroum [An fremden Stätten]. In: Hayrenik Amsakir 1 (1922/23), H. 7, S. 39–58.

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auch die Reichweite ebenso wie die Problematik der Adjektive national, imperial oder transimperial als analytische Kategorien. Als transimperial lassen sich diese Memoiren sicherlich insofern beschreiben, als dass der Autor und die übrigen Akteure, von denen der Text berichtet, in ihrem Denken, Fühlen und Handeln durchgehend die bestehenden staatlichen und kulturellen Grenzen transzendieren und Russland und das Osmanische Reich sowie auch den Iran miteinander verbinden und dabei auch die geistigen Einflüsse deutscher und französischer Provenienz im Sinn behalten. Roupen stammte aus Akhalkalak im heutigen Georgien, durchlief armenische Bildungseinrichtungen, absolvierte aber auch eine Ausbildung zum Artillerieoffizier in der russischen Armee. Später studierte er in Genf. Als Partisan lebte er im russisch-osmanischen Grenzgebiet, operierte im Iran und agierte als militärischer Führer armenischer Freischärler und Revolutionäre im Osmanischen Reich.74 In seinem Text sieht man ihm förmlich dabei zu, wie er sich performativ neue Handlungsräume und damit neue Identitäten erschließt, wie er vom Bürgersohn zum rauen Kämpfer wird, wie er lernt, mit den armenischen Bergbauern und Kurden in Daron umzugehen und wie schwer es ihm dann fällt, sich nach seinem Leben als „Bergbär“ wieder an die Umgangsformen der lokalen osmanischen Oberschicht, der bürgerlichen und westlichen Zivilisation zu gewöhnen.75 Transimperial ist die Perspektive des Textes jedoch nur mit Einschränkungen. Die transimperialen Transgressionen vollziehen sich nur innerhalb der armenischen Welt, die eben die imperialen Grenzen durchschneidet. Kann man Roupens Memoiren also als national verstehen? Dies setzte voraus, es gäbe bereits ein entwickeltes Bewusstsein der Nation, aus dem heraus die Autoren schreiben und in dem sie auch im Berichtszeitraum gelebt haben. Neuere Forschungen legen überzeugend dar, dass vor dem Ersten Weltkrieg ein armenischer Nationsbildungsprozess zwar schon begonnen hatte, aber noch längst nicht zum Abschluss gekommen 74 In jüngster Zeit sind gleich zwei Biographien Roupens erschienen: Ashod Nersisian: Roupen. Roupen Der Minasiani gyankn ou kordzouneoutiune [Roupen. Roupen Der Minasians Leben und Wirken]. Yerevan 2007; Khatchadour R. Sdepanian: Roupen Der-Minasian (Gyanke yev kordze) [Roupen Der-Minasian (Leben und Werk)]. Yerevan 2008. Beide sind jedoch in weiten Teilen auf das angewiesen, was Roupen selbst in seinen Memoiren aus seinem Leben mitteilt. Ergänzend stützen sich die Biographien auf eine Reihe von Nachrufen und Erinnerungen von Weggefährten, die sich aber im Wesentlichen auf die Zeit bis 1920 beziehen. Über Roupens Leben nach 1920 bis zu seinem Tod 1951 erfährt man weitaus weniger. 75 Siehe hierzu ausführlich Elke Hartmann: Shaping the Armenian Warrior: Clothing and Photographic Self-Portraits of Armenian fedayis in the Late 19th and Early 20th Century. In: Claudia Ulbrich/Richard Wittmann (Hrsg.): Fashioning the Self in Transcultural Settings: The Uses and Significance of Dress in Self-Narratives, Würzburg 2015, S. 117–148.

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war. Die osmanischen Armenier bildeten eine religiös definierte konfessionelle Gemeinschaft, das armenische millet, zu dem im Laufe des 19. Jahrhunderts noch ein armenisch-katholisches millet hinzutrat sowie ein protestantisches millet, dessen Angehörige ebenfalls zu einem großen Teil Armenier waren. Das armenische millet wird häufig als Protonation bezeichnet, aus dem sich die moderne armenische Nation dann entwickelte. Von einer tatsächlich bestehenden modernen armenischen Nation kann jedoch für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht die Rede sein, und dies spiegelt sich gerade auch in den Selbstzeugnissen, die nicht zuletzt um das Problem der armenischen Nationsbildung kreisen.76

Nation, Reich, Diaspora Nach dem Ersten Weltkrieg vollzog sich die armenische Nationsbildung dann unter ganz neuen Umständen, einerseits im kleinen Ostarmenien, das nach 1921 zu einer Sowjetrepublik wurde, andererseits in der Diaspora, wo die überwältigende Mehrzahl der diskutierten Selbstzeugnisse entstand. Diese Texte waren Teil des armenischen Nationsbildungsprozesses, gerade Roupen Der Minassian war sich dessen auch bewusst und schrieb seine Memoiren nicht zuletzt mit dem erkennbaren Anliegen, mit seiner Schrift einen Beitrag zur Schaffung der armenischen Nation zu leisten. Die politische Vision, die er in seinen „Erinnerungen“ entwirft, ist aber nicht der Nationalstaat. Es ist vielmehr – selbst nach der Erfahrung von Genozid und Nationalstaatsbildungen in der Folge des Zusammenbruchs der Imperien nach dem Ersten Weltkrieg – immer noch die Vision einer Nation, die sich in einem pluralen Imperium verwirklicht, wie es ein dezentral verwaltetes Osmanisches Reich hätte sein können. Der Bezugsrahmen – und dies teilt

76 Vahé Tachjian: Azkaynaganoutiunn ou serayin khdroutiune’ tseghasbanoutian verabradz ginerou ou aghtchignerou verahamargman kordzenatsin metch [Nationalismus und Gender-Unterschied bei der Wiedereingliederung der Frauen und Mädchen unter den Völkermord-Überlebenden]. In: Pazmaveb 165 (2007), S. 229–258, insbes. S. 229–235; Ronald G. Suny: Religion, Ethnicity, and Nationalism. Armenians, Turks, and the End of the Ottoman Empire. In: Omer Bartov/Phyllis Mack (Hrsg.): In God’s Name: Genocide and Religion in the Twentieth Century. New York u. a. 2001, S. 24–61, hier 32–38, 40, 42; Elke Hartmann: Geschichtsschreibung als Nationsbildung: Die armenischen Kolonien Ostmitteleuropas in der armenischen Geschichtsschreibung und Erinnerung nach 1915. In: Tamara Ganjalyan/Bálint Kovács/Stefan Troebst (Hrsg.): Armenier im östlichen Europa. Eine Anthologie. Wien u. a. (im Erscheinen).

Osmanisch-Armenische Autobiographik zwischen Heimatland und Zerstreuung 481

Roupens Text mit vielen anderen osmanisch-armenischen Selbstzeugnissen – ist in diesem Sinne imperial.77 Die imperiale Perspektive beinhaltet dabei zweierlei. Zum einen eine Sehnsucht nach einer Möglichkeit, in der Moderne mit – oder auch trotz – der Verwirklichung von Nationen Pluralität auch politisch zu organisieren. Zum anderen das Bewusstsein der eigenen Identität als plural. Dies lässt sich vielleicht eher mit dem Begriff der diasporalen Perspektive fassen. Das Leben in oder mit der Diaspora bedeutet immer, das umgebende Andere mit zu reflektieren und sich auch anzueignen. Die diasporale Perspektive beinhaltet so immer eine Pluralität, die in dieser Form weder dem Nationalen noch dem Imperialen inhärent ist. Die diasporale Perspektive mag insoweit als transnational oder transimperial erscheinen, als jede Transgression Pluralität mit sich bringt. Sie findet dabei ihre Beschränkung im Bezug auf die Nation – eine Nation jedoch, die einen entterritorialisierten Nationenbegriff zugrunde legt und gleichzeitig plurale Identitäten impliziert. In diesem Sinne ist es wohl kein Zufall, dass im Imperienvergleich die Fallbeispiele von Selbstzeugnissen, welche Staats- und Nationengrenzen transzendieren, häufig autobiographische Schriften jüdischer und armenischer Autoren sind, also von Vertretern jener beiden Gruppen stammen, die als die klassischen Diasporagemeinschaften gelten.

77 Vgl. Roupen, Hay heghapokhagani me hishadagnere [Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs] Bd. 5, S. 54–58; Bd. 7, S. 14–23. Vgl. auch die Programme der revolutionären Parteien, in denen, vor allem in jenem der Tashnagtsoutiun, gerade keine konkreten Forderungen nach politischer Sezession festgeschrieben sind, sondern vielmehr Forderungen nach lokaler Autonomie, dezentraler Verwaltung und armenischer Teilhabe innerhalb der bestehende Strukturen. Das Programm der Hntchag Partei ist abgedruckt in Arsen Gidour: Badmoutiun S. T. Hntchagian Gousagtsoutian 1887–1962/63 [Geschichte der Sozialdemokratischen Glocken-Partei 1887–1962/63] Bd. 1, S. 32–37, das Programm der Tashnagtsoutiun in Troshag [Fahne] 10 und 11 (1894).

Franziska Thun-Hohenstein

„Der Petrinische Ehrenspiegel lag zertrümmert …“ Autobiographie und Epochenbruch1 (Oleg Volkov, Kirill Golicyn, Evfrosinija Kersnovskaja)

Biographiebruch – Epochenbruch – Autobiographie Es gehört zu den Gemeinplätzen literaturwissenschaftlicher Autobiographieforschung, dass Menschen sich durch eine historische oder lebensgeschichtliche (positive oder negative) Zäsur oftmals veranlasst fühlen, ihr bisheriges Leben zu überdenken und aufzuschreiben. Eine Engführung von Biographie- bzw. Epochenbruch und Autobiographie vermag insofern kaum zu überraschen. Wie unterschiedlich der unmittelbare Schreibanlass dabei auch sein mag, der Schreibende einer Autobiographie2 hegt den Wunsch, einen Sinnzusammenhang im gelebten Leben zu erkennen, ein Wunsch, der ihm selber zwar durchaus auch unbewusst bleiben kann, seinem Text jedoch eingeschrieben sein wird. Literarische Autobiographien sind „personale Sinn- und Wertmodelle“.3 In der Sinngebung, die individuelles Leben in einer solchen Darstellung erfährt, finden – selbst bei beabsichtigter Distanzierung – die in einer bestimmten Epoche gängigen kollektiven Individualitätsmuster ihren Niederschlag. Für soziale In­­ stitutionen, die in der Gesellschaft (auto-)biographische Thematisierungen (sei es öffentlich oder geheim, freiwillig oder erzwungen) zulassen oder dem Einzelnen 1

Der Beitrag stützt sich auf Ausführungen in meiner Monographie: Franziska Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation. Berlin 2007 (2. verb. Aufl. 2014). 2 Autobiographie wird nachfolgend zwar nicht im Sinne eines klar definierbaren literarischen Genres (mit feststehenden poetologischen Merkmalen) verstanden, sondern als eine Form autobiographischer Praxis, bei der es sich allerdings – im Unterschied etwa zum Tagebuch oder zum Brief – meist um eine im Rückblick verfasste Rekonstruktion des eigenen Lebens handelt. 3 Helmut Scheuer: „Biographie“. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 2. Tübingen 1994, S. 30.

Autobiographie und Epochenbruch 483

gar abverlangen, prägte der Soziologe Alois Hahn den Begriff Biographiegeneratoren4 und nannte etwa die Beichte, das Tagebuch, Memoiren oder bestimmte Formen des Geständnisses vor Gericht. Diese Diskursformen bestimmten die Modi des Sagens und Schreibens, in denen (auto-)biographische Kommunikation in der Gesellschaft möglich sei, und zwar durchaus auch in Fällen, in denen eine Unabhängigkeit von jener Funktionszuweisung angestrebt werde, die mit dem jeweiligen Modus verbunden sei. In Arbeiten über die literarische Autobiographik des 20. Jahrhunderts wird die deutliche Tendenz zur Ablösung einer eher kontinuierlich, d. h. in der Tradition des europäischen Bildungs- und Entwicklungsromans, erzählten Lebensgeschichte durch eine mehr fragmentarische Darstellungsweise konstatiert.5 In der Forschung wird diese Veränderung der narrativen Strukturen vielfach an die Zäsur des Ersten Weltkriegs gebunden, der europaweit eine wachsende Skepsis gegenüber der Möglichkeit selbstbestimmten Handelns und selbstbewusster Sinnsetzung auslöste. Aus russischer Perspektive war es der Dichter Osip Mandel‹štam, der 1922 einen direkten Zusammenhang zwischen Epochenbruch und dem Schicksal des Romans als biographiezentrierter Erzählform zog. Die Europäer, konstatierte er, seien aus ihren Biographien herausgeschleudert worden, „wie Billardkugeln“.6 Mandel’štam verband mit dieser Diagnose die These vom Niedergang des Romans als literarischer Gattung, denn „das Maß des Romans“ sei die „Biographie eines Menschen oder ein System von Biographien“7: „Das weitere Schicksal des Romans wird nichts anderes sein als die Geschichte der Zerpulverung der Biographie als einer der persönlichen Existenz, sogar mehr als eine Zerpulverung: ein katastrophaler Untergang der Biographie.“8 Mandel’štams Überlegungen gelten ausschließlich der Gattung des Romans, lassen sich aber – bis zu einem gewissen Grade – auch auf (auto-)biographische Schreibformen übertragen, die sich ebenfalls an der Biographie als „kompositionellem Maß“9 orientieren. 4 Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung. In: ders./Volker Kapp (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt a. M. 1987, S. 12. 5 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart u. a. 2005; Carola Hilmes: Individuum est ineffabile. Selbstdeutungen des Ich und der Stellenwert der Autobiographie. In: Gerhard von Graevenitz (Hrsg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart u. a. 1999, S. 284–302. 6 Ossip Mandelstam: Das Ende des Romans. In: ders.: Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays I. 1913–1924, übers. u. hrsg. v. Ralph Dutli. Zürich 1991, S. 159–163, hier S. 162. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 162. 9 Ebd.

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Aufschlussreich für die nachfolgende Fragestellung ist auch Mandel’štams Unterscheidung zwischen Biographie und menschlichem Leben. Obgleich er diese nicht ausführlicher begründet, spricht aus der gesamten Argumentationslogik die Überzeugung, dass die angebrochene Epoche das „Zeitgefühl, mit dem der Mensch ausgestattet ist, um zu handeln, zu siegen, unterzugehen oder zu lieben“,10 außer Kraft setzt und so das Entstehen einer Biographie – im Sinne einer Lebensgestaltung, die sich auf vorherige psychologische Erfahrungen stützen kann – verhindert. Jahrzehnte später formulierte die bekannte russische Literaturwissenschaftlerin Lidija Ginzburg bezogen auf die Sowjetepoche ihre eigenen Zweifel als Frage: „Entsteht denn Biographie im Auf und Ab leidvollen Ertragens unermesslicher historischer Zwänge und halbillusorischer Aktivität? Eine doch höchst ungewollte Biographie.“11 Ähnlich wie Mandel’štam gebrauchte auch sie den Begriff Biographie als wertende Kategorie, als Ergebnis einer vita activa des Menschen in der Geschichte (ganz in der Denktradition von Hegel bzw., für die russische Kultur, von Alexander Herzen) und stellte angesichts der Realität die Möglichkeit einer solchen überhaupt in Frage. Lidija Ginzburg sprach für ihre Generation, für jene, die innerhalb der Sowjet­ union Revolution, Kriege, Terror, GUL ag oder Verbannung zwar überlebt hatten, in deren Wahrnehmung das eigene Leben aber in einzelne Stücke zerfiel, die sich kaum noch zu einem sinnerfüllten Lebensweg zusammenfügen ließen. Aus Selbstzeugnissen von Vertretern der politischen, administrativen, militärischen wie auch der kulturellen Eliten des Russischen Imperiums geht hervor, dass sich bei ihnen schon zu Beginn der 1920er Jahre – nach dem Ende des Russischen Reiches, nach Revolution, Bürgerkrieg und der Spaltung der russischen Kultur in Mutterland und Diaspora – das Empfinden für einen unumkehrbaren Biographieverlust geschärft hatte. Der Einschnitt nach 1917 erschien nicht nur als unüberbrückbares Auseinanderbrechen der Zeiten, sondern als Verlust der vielfach – vor dem Hintergrund der eigenen Familientradition – gleichsam als ererbt und stabil erachteten Biographiemuster. Verwendet man in diesem Kontext das Stichwort der imperialen Biographie, so geht es im engeren Sinne, wie von Frithjof Benjamin Schenk vorgeschlagen, um Menschen, die qua Geburt

10 Ebd. 11 „Из чередования страдательного переживания непомерных исторических давлений и полуиллюзорной активности – получается ли биография? Уж очень не по своей воле биография.“ Lidija Ginzburg: I zaodno s pravoporjadkom [Und eins mit der Gesetzesordnung] (1980). In: dies.: Čelovek za pis’mennym stolom [Der Mensch am Schreibtisch]. Leningrad 1989, S. 305–319, hier S. 319.

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„zu geographisch mobilen Gruppen“ der Bevölkerung gehörten und daher im Verlaufe ihres Lebens das russische Vielvölkerreich in ihrer geographischen und kulturellen Vielfalt wahrnahmen.12 Nachfolgend soll anhand von drei autobiographischen Texten der Frage nachgegangen werden, wie Angehörige jener Generation, deren Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine solche imperiale Biographie als Teil der aristokratischen Elite potentiell zu garantieren schien, deren weiteres Leben in der Sowjetunion jedoch im Zeichen von Verlust, Terror und Gewalt stand, im Rückblick ihr Leben konzeptualisierten. Von besonderem Interesse ist dabei die Art und Weise, wie sie in ihren Texten den Zusammenhang von Epochen- und Biographiebruch sprachlich inszenieren. Zuvor seien jedoch noch einige Anmerkungen zu autobiographischen Schreibpraktiken in der Sowjetunion gemacht. Der soziokulturelle Umbruch zur sowjetrussischen Gesellschaft ging, um Hahns Begriff aufzugreifen, mit einer grundlegenden Neuordnung solcher Biographiegeneratoren einher.13 In der Sowjetkultur wurden vielfältige Lebens- und Erfahrungsbereiche, die für die Konstruktion unverwechselbarer autobiographischer Selbstentwürfe unentbehrlich sind (wie etwa nichtproletarische Kindheitsmuster, Wertvorstellungen und kulturelle Traditionen der alten Eliten, religiöse Rituale und Bräuche) tabuisiert und aus dem offiziell propagierten kulturellen Gedächtnis eliminiert. Kehrseite des abgebrochenen bzw. durch Intervention von außen unterbundenen Sprechens über das eigene Leben, d. h. des verordneten Schweigens – in den späteren Jahren vor allem über das unter Terror und Gewalt Erlebte – war ein allen auferlegter permanenter ritualisierter Zwang zu autobiographischen Selbstaussagen. Evfrosinija Kersnovskaja, auf deren Autobiographie ich noch zu sprechen komme, erinnert daran, wie Menschen aus Angst vor Repressionen oder aus purem Opportunismus ihre Lebensgeschichte neu erfanden, um in das geforderte Biographiemuster eines Plebejers hineinzupassen. Obgleich sie sich konkret auf die von ihr erlebte Situation nach der sowjetischen Besetzung Bessarabiens im August 1940 bezieht, verallgemeinert sie im Rückblick ihre Beobachtungen. Sie charakterisiert diesen aufgezwungenen Autobiographismus als kulturelle Praktik,

12 Frithjof Benjamin Schenk: „Ich bin des Daseins eines Zugvogels müde“. Imperialer Raum und imperiale Herrschaft in der Autobiographie einer russischen Adeligen. In: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 23 (2012), H. 2, S. 49–64, hier S. 51. 13 Zu den extremsten der praktizierten Formen von Selbstthematisierung in der Sowjet­union unter Stalin gehörten die öffentlichen Schuldbekenntnisse während der öffentlichen Schauprozesse der 1930er Jahre.

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die den Menschen in ein entindividualisiertes Wesen verwandelt, das hinter einer lebenslang getragenen stereotypen Maske sein eigenes Gesicht vergisst: Autobiographie, Selbstportrait … Mir schien, das hat keine Beziehung zum normalen Durchschnittsbürger. Ein Selbstportrait – das ist, wenn ein Künstler sich selbst malt, eine Autobiographie schreibt ein Schriftsteller, ein Dichter über sich selbst … Aber dass alle, buchstäblich alle Autobiographien schreiben? Welch ein Unsinn! Womöglich auch noch Selbstporträts? Aber nein, das ist kein Unsinn. Und nicht einmal Neugier. Das ist ein Verfahren, um den Menschen zu zwingen, sich von seinem ‚Ich‘ loszusagen und eine standardisierte Maske aufzusetzen, eine möglichst zuverlässige und unterwürfige, diese Maske ein Leben lang zu tragen und völlig zu vergessen, wer man in Wirklichkeit ist.14

Kersnovskaja wertet das ritualisierte Sprechen über sich selbst als eine absurde, nur schwer erträgliche Operation, bei der auch die Autobiographie, ein eher der privaten Gewissenserforschung dienendes literarisches Genre, zu einem Instrument zur Disziplinierung des Menschen umfunktionalisiert wurde. Die Suche nach einem Sinnzusammenhang des eigenen Lebensweges gehört aber zu den existentiellen Grundbedürfnissen des Menschen. Selbst angesichts drohender Repressionen und des Redeverbots wurden auch unter Stalin Autobiographien geschrieben sowie andere Formen autobiographischer Kommunikation wie Tagebücher oder Briefe für bisweilen erstaunlich offene Reflexionen über das eigene Leben genutzt. Allerdings entstanden die Mehrzahl der innerhalb der Sowjetunion verfassten und heute zum Kanon der russischen Autobiographien des 20. Jahrhunderts gehörenden Texte erst nach Stalins Tod, als die Angst vor physischer Vernichtung nicht mehr so allgegenwärtig war. Für die Rezeptionsgeschichten dieser autobiographischen Texte ist wesentlich, dass einige von ihnen zwar in den Tamizdat gelangten, sie in der Sowjetunion jedoch jahrzehntelang ausschließlich in den informellen Kommunikationskreisen des Samizdat kursierten, und erst Jahre gar oder Jahrzehnte später, meist in den Jahren der Perestrojka erscheinen konnten.15

14 Evfrosinija Kersnovskaja: Skol’ko stoit čelovek [Was ein Mensch wert ist] Bd.  1. Moskva 2000, S. 173f. 15 Die Rezeptionsgeschichten dieser autobiographischen Texte sind bislang kaum detailliert erforscht. Dabei vermitteln sie einen Einblick in die Transformation der spätsowjetischen zur postsowjetischen Gesellschaft. Die zeitliche Kluft zwischen Entstehungs- und Rezeptionszeit hatte nicht nur zur Folge, dass ihnen ihre Adressaten abhandengekommen waren, sondern dass sie ideologisch anders in Anspruch genommen werden konnten. So gerieten

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Es waren oftmals Überlebende der Terror- und Gewaltexzesse, die bei ihrer literarischen Auseinandersetzung mit dem Erlebten zugleich die Folgen der offiziell gesetzten Grenzen des Kommunizierbaren für den sprachlichen Gestus und die Funktion literarischer Autobiographik in der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts thematisierten. Sie entwickeln verschiedene narrative Strategien, um ihre Lebenslinien über den Epochenbruch hinweg neu zu ziehen. Nicht selten konstatieren sie jedoch, daß es ihnen kaum möglich sei, die gekappten Fäden ihres Lebens wieder zu knüpfen. Eine solche Lebensbilanz führt allerdings nicht in jedem Fall zu einer Beschäftigung mit den ästhetischen Erfahrungen der Moderne und zu radikalen literarischen Distanz- bzw. Fragmentierungstechniken. Im Gegenteil, selbst wenn Epochen- wie Biographiebruch als unhintergehbar gedeutet werden, kann auf der narrativen Ebene das Bestreben erkennbar sein, eine durchgehende – entwicklungsgeschichtlich deutbare – Lebenslinie zu ziehen, die über den Bruch hinweg einen inneren Sinnzusammenhang erkennen lässt.16 Meine früheren Studien zu unterschiedlichen autobiographischen Erinnerungsstrategien, die sich in einem (sogar explizit benannten) polemischen Spannungsverhältnis zueinander befinden konnten, haben eine Gemeinsamkeit erkennen lassen: Das Individuum erscheint nicht mehr in der Position eines souveränen Subjekts, das sein eigenes Leben nach dem klassischen Muster einer „gelingenden Identität des Ichs als Telos autonomer Persönlichkeitsentfaltung“17 gestaltet, sondern als Kristallisationspunkt kultureller und gesellschaftlicher Brüche. Für diesen Befund steht das titelgebende Stichwort meiner Überlegungen – Oleg Volkovs Bild vom „zertrümmerten petrinischen Ehrenspiegel“, das er bei seiner Schilderung des ersten Verhörs in der Ljubjanka einführt. Von „Rechtsprechung“, heißt es, könne überhaupt keine Rede sein: „Der petrinische Ehrenspiegel lag zertrümmert am Boden dieser Verwaltung – der Haupthüterin der neuen Klassengerechtigkeit!“18 In dieser Metapher kulminiert das von Volkov gezeichnete Bild der Fragilität des Lebens und der russischen Zivilisation. Verschiebt man den Focus und fragt nach Spuren des radikalen Bruchs mit dem imperialen Russland, so tritt eine semantische Dimension des Bildes vom etwa Autobiographien von Vertretern der russischen Aristokratie in den 1990er Jahren vielfach in den Sog des neuen mystifizierenden Adelsdiskurses. 16 Vgl. das Kapitel über Evgenija Ginzburg in: Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien, S. 87–137. 17 Oliver Sill: Zerbrochene Spiegel. Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens. Berlin u. a. 1991, S. 15. 18 „[…] правосудием тут и не пахнет. Петрово зерцало лежало, разбитое вдребезги, у порога этого управления – главного блюстителя новой классовой справедливости!“ Oleg Volkov: Pogruženie vo t’mu. [Versinken in Finsternis]. Moskva 2000, S. 18.

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zertrümmerten Petrinischen Ehrenspiegel besonders ins Blickfeld – der explizite Bezug auf das Selbstverständnis des sich seiner Rolle als staatstragender Elite bewussten und sich zugleich als weltläufig und kosmopolitisch verstehenden russischen Adels. Die Leitfrage, der ich mich eher tentativ nähern werde, ließe sich wie folgt formulieren: Gibt es eine Art Nachleben des Imperiums in den Autobiographien von Nachkommen alter Adelsfamilien, die als Kinder bzw. Jugendliche die letzten Jahre des Zarenreiches erlebten, in der Sowjetunion geblieben waren bzw. bleiben mussten und die ihre Erinnerungen erst Jahrzehnte später aufschrieben? Dabei soll nicht nur nach dem von ihnen entworfenen Bild des russischen Imperiums gefragt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass der Leser in diesen Erinnerungen vielfach auf eine melancholisch geprägte Grundhaltung gegenüber der verlorengegangenen behüteten Kindheit trifft. Zu fragen ist auch danach, welche anderen – abgesehen von solchen Bildern einer ‚imperialen Kindheit‘ – textkonstitutiven Aspekte dieser autobiographischen Selbstentwürfe als Spuren imperialer Vergangenheit lesbar sind. Ein wesentliches Moment ist die sprachliche Verfasstheit der Texte. In meiner monographischen Studie zu autobiographischem Schreiben und Lagerzivilisation interessierte mich, inwieweit dem jeweiligen Autobiographen die diskursive Gewalt der ideologischen Rede (von der allgegenwärtigen politischen Propaganda bis in die Literatur und in die Alltagssprache hinein) bewusst war und welche sprachlichen Instrumente ihm zur Verfügung standen, um sich gegen ein Gefühl der diskursiven Ohnmacht zu wehren. Im Kontext des Zusammenhangs von autobiographischer Praxis und Imperienforschung – d. h. bezogen auf das russische Imperium – ist es m.E. produktiv, den Focus auf das Zusammenspiel verschiedener Textelemente (Themenfelder, Argumentationslinien, rhetorische Figuren) zu richten und zu untersuchen, welche Spuren imperialen Denkens den Texten eingeschrieben sind. Die nachfolgende Lektüre ist ein Versuch, die Autobiographien meiner drei Protagonisten aus adeligen Familien auch als sprachliches Symptom einer verlorengegangenen imperialen Epoche und in diesem Sinne als imperiale Erbschaft zu lesen. Ihre Verfasser – Oleg Volkov, Kirill Golicyn und Evfrosinija Kersnovskaja – wurden alle drei im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren.

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Oleg Volkov (1900–1996) Oleg Volkov und sein Zwillingsbruder Vsevolod19 wurden als zweites und drittes von sieben Kindern einer nicht sehr wohlhabenden Adelsfamilie in St. Petersburg geboren (der Vater leitete zu diesem Zeitpunkt eine große Fabrik). Er wuchs in der damaligen Hauptstadt auf, ging in die gleiche Schulklasse wie Vladimir Nabokov. Die Sommermonate verbrachte die Familie auf ihrem Gut im Gouvernement Tver’. Oleg Volkovs Leidenschaft für die Jagd sollte ihm später in sibirischer Lagerhaft und Verbannung nützlich sein. In der Familie, berichtet Volkov, seien bei aller Sympathie für die Monarchie, die Traditionen der liberalen Intelligenzija gepflegt worden. Der Vater lehnte nach 1917 eine Flucht aus Russland mit dem Argument ab, man verlasse sein Land nicht, wenn es in Not sei. Er schickte seine Frau mit den jüngeren Kindern aufs Land, während Oleg und Vsevolod mit dem Vater in der Stadt blieben, um das Gymnasium zu beenden. Im Sommer folgten sie ebenfalls aufs Land. Als die Unruhen der Revolution die dortige Region erfassten, floh der Vater. Die Familie erfuhr erst später, dass er im Februar 1919 plötzlich nach einem Herzanfall gestorben war. Das Landleben dauerte knapp vier Jahre, dann wurden sie vertrieben. Die Mutter kehrte mit den jüngeren Kindern nach Petrograd zurück, Vsevolod heuerte bei einer Expedition nach Sibirien an, während Oleg nach Moskau ging. Dank seiner Sprachkenntnisse schlug er sich mit Übersetzungen und Unterrichtsstunden durch. Dass er in diesen Jahren Sof ’ja Mamontova, die Enkeltochter des bekannten Unternehmers und Kunstmäzens Savva Mamontov, heiratete, wird im Text erst sehr spät erwähnt.20 Zum Zeitpunkt der erstmaligen Verhaftung im Februar 1928 arbeitete Volkov als Übersetzer an der Griechischen Botschaft. Diese erste Verhaftung stellt für ihn die eigentliche Zäsur dar, einen Bruch mit dem bisherigen Leben. Nach einer 19 Vsevolod Volkov (1900–1942) arbeitete in den 1920er Jahren als Übersetzer in den Han­ dels­vertretungen der Sowjetunion in Schanghai und Teheran. Er wurde 1929 zeitgleich mit seinem Bruder verhaftet, aber wieder freigelassen. Auch die zweite gemeinsame Verhaftung beider Brüder (1931 in Tula) endete für Vsevolod, im Gegensatz zu Oleg, mit einer Freilassung. Bei einer erneuten Verhaftung 1936 wurde er zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Wenige Monate vor Kriegsbeginn aus der Haft entlassen, meldete sich Vsevolod Volkov freiwillig an die Front und fiel im Sommer 1942. 20 Auf sein Familienleben, auch auf die beiden Kinder aus erster Ehe, kommt Volkov nur an einer Stelle kurz zu sprechen. Er bleibt diesbezüglich mit Informationen sehr zurückhaltend, versucht, seine Emotionen zu verbergen. Seine Frau hielt die ganzen Jahre über zu ihm, war selbst fünf Jahre im Lager inhaftiert. Die Ehe hielt jedoch nicht. Im Epilog erfährt der Leser, dass Volkov Anfang der 60er Jahren ein zweites Mal heiratete und erneut Vater wurde. Seine zweite Frau war es auch, die ihn darin bestärkte, seine Erinnerungen aufzuschreiben.

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längeren Gefängnishaft wurde er ins erste Konzentrationslager der Sowjetunion auf den Solovecki-Inseln (kurz Solovki genannt) deportiert. Ende April 1929 wurde die Lagerhaft (dank der Hilfe seines Zwillingsbruders Vsevolod) in Verbannung umgewandelt. Über Moskau, wo ihm der Aufenthalt untersagt war, begab sich Volkov zunächst nach Jasnaja Poljana, das Familiengut von Lev Tolstoj,21 und dann nach Tula, wo er seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen technischer Literatur verdiente. Dort erfolgte im März 1931 die zweite Verhaftung. Das Urteil – fünf Jahre „Besserungsarbeitslager“ (er kam erneut ins Lager auf den Solovecki-Inseln) – wurde im Sommer 1933 in Verbannung nach Archangel‹sk umgewandelt. Volkovs dritte Haftzeit im GULag begann am 8. Juni 1936 mit seiner Verhaftung und der Verurteilung im Juni 1937 als „sozial-gefährliches Element“ zu fünf Jahren Zwangsarbeitslager (er kam in ein Lager in der Komi-Region). Im Frühjahr 1941, nach Ablauf der fünf Jahre, wurde er entlassen. Es gelang ihm, in einer geologischen Expedition in die Taiga unterzukommen. Im März des darauffolgenden Jahres wurde er jedoch erneut verhaftet und zum vierten Mal verurteilt, diesmal zu vier Jahren Lagerhaft. Im Lager erkrankte er schwer und wurde im April 1944 als Sterbender (als dochodjaga) aus dem Lager entlassen. Über Moskau, wo er für zwei Tage bei Verwandten unterkam, ging er nach Aserbaidschan, nach Kirovobad,22 wo er Arbeit als Fremdsprachenlehrer fand. Nachdem man bei ihm Tuberkulose diagnostiziert hatte, erhielt er im Sommer 1946 die Genehmigung, sich in der Region um Moskau anzusiedeln. Er zog nach Kaluga und finanzierte seinen Lebensunterhalt durch Übersetzungen. Die Ruhephase sollte jedoch nur kurz dauern. Im Frühjahr 1950 wurde Volkov zum fünften Mal verhaftet und zu zehn Jahren sibirischer Verbannung in „entfernte Regionen der UdSSR“ verurteilt. Wie bereits während der Lagerhaftzeiten kam ihm auch hier die Naturverbundenheit des passionierten Jägers zugute. Dort erreichte ihn die Nachricht vom Tod Stalins. Im Frühjahr 1955 erfolgte die vollständige Rehabilitierung. Er durfte nach Moskau zurückkehren, wo er fortan lebte und sich abgesehen von Übersetzungen auch dem literarischen Schreiben widmete. Oleg Volkov war darauf bedacht, eine Möglichkeit zu finden, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und ein möglichst unauffälliges Leben zu führen. Das gelang ihm nicht. Allein schon seine soziale Herkunft aus dem Adel machte ihn

21 In Jasnaja Poljana wohnte eine Schwester Oleg Volkovs, deren Mann, Fürst Kirill Golicyn, nach seiner fünfjährigen Haftzeit ebenfalls nicht mehr in Moskau leben durfte und im Umfeld von Lev Tolstojs Tochter Aleksandra L’vovna Tolstaja Unterschlupf gefunden hatte. 22 Die heutige Stadt Gǝncǝ (Gjandscha) in Aserbaidschan trug 1935–1989 den Namen Kirovobad (benannt nach dem Parteifunktionär Sergej Kirov).

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verdächtig. Eine Verhaftung folgte der anderen; insgesamt war er nahezu 30 Jahre im Lager oder in der Verbannung. Mit dem Bild vom zertrümmerten „petrinischen Ehrenspiegel“, dem kulturellen Symbol für die nach westlichem Muster erfolgte Zivilisierung und Modernisierung Russlands,23 setzt Oleg Volkov ein deutliches Zeichen seiner Wertung der Geschehnisse im russischen 20. Jahrhundert. Bereits der Titel seiner Autobiographie Pogruženie vo t’mu (Versinken in Finsternis, 1977–1979; Erstpublikation in russischer Sprache 1987 in Paris) suggeriert eine unaufhaltsame Bewegung in ein undurchschaubares Dunkel. Das autobiographische Ich markiert seine Sprecherposition als die eines Christen und Vertreters der vorrevolutionären Elite, aus dessen Sicht das Ende des Imperiums zu einer zivilisatorischen Regression führte, die selbst in der nachträglichen Rekonstruktion des Schreibenden nichts an Bedrohlichkeit eingebüßt hat. Dabei äußert sich Volkov explizit kaum über das russische Imperium. Er habe zwar, schreibt er zu Beginn seiner Erinnerungen, den Gesprächen jener Erwachsenen zugehört, die 1917 für einen demokratischen Umbau der russischen Gesellschaft gewesen seien, aber all seine Sympathien hätten „der Idee des imperialen Russlands“24 gehört. Das deutsche Adjektiv „imperial“ entspricht eigentlich nicht korrekt dem russischen Original, denn Volkov verwendet nicht das Adjektiv „imperskaja“ (imperial), sondern „imperatorskaja“ (idee imperatorskoj Rossii), wörtlich – das Russland des Imperators für das „kaiserliche Russland“. Der zertrümmerte „petrinische Ehrenspiegel“ steht hier metonymisch für das zusammengebrochene Russische Imperium. Das Bild des imperialen Russlands wird im Text nicht weiter konkretisiert. Volkov, der den Umbruch vom Russischen zum Sowjetischen Imperium erlebte und in einigen peripheren Randregionen des neuen Sowjetimperiums deportiert war, äußert sich nicht explizit zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie im Vielvölkerreich. Er spitzt sein Bild auf das russische, aber zivilisierte, weltoffene Russland zu, oder, präziser formuliert, er reduziert es darauf. An einer Stelle zumindest scheint ein komplexeres Bild auf. Der Ich-Erzähler berichtet über die schreckliche Lage der aserbaidschanischen Mitgefangenen auf 23 Der explizite Verweis auf den „Ehrenspiegel der Jugend“ (Junosti čestnoe zercalo), ein auf Initiative Peters I. im Jahre 1717 erstmals erschienenes Verhaltenslehrbuch, ist signifikant. Die vorwiegend aus deutschen Quellen übersetzten Verhaltensregeln dienten dem Ziel, die Jugend in westeuropäischer Etikette zu unterweisen und nach westeuropäischem Vorbild eine eigene (aristokratische) Elite zu erziehen. Volkov hat diese Regeln bereits als eigene (russische) verinnerlicht und wirft die Frage nach Eigenem bzw. Fremdem in diesem Zusammenhang überhaupt nicht auf. 24 Volkov: Pogruženie, S. 34.

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Solovki, die unter den für sie harten Bedingungen des hohen Norden extrem zu leiden hatten, und hebt besonders hervor, wie respektvoll und fürsorglich die Aserbaidschaner mit ihren älteren Gefangenen umgegangen sind. Diese Beobachtung nimmt er zum Anlass, um zu vermerken, wie weit doch die „Verwilderung der russischen Gesellschaft“25 bereits vorangeschritten sei, wenn die alten russischen Mitgefangenen einfach ihrem Schicksal überlassen würden. Gegen Ende dieser Stelle kommt er in einem Nebensatz auf die keinesfalls konfliktfreien Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern im Russischen Reich zu sprechen. Er erinnere sich an Situationen, da er sich als Russe schuldig gefühlt habe, sei er doch Angehöriger eines „mächtigen Volkes“, eines „Unterdrückers und Eroberers“,26 dem das jeweils eigene Nationale untergeordnet wurde. Angesichts des tragischen Schicksals der Aserbaidschaner habe er sich gefühlt, als sei er selbst an Gewalt gegenüber dem Schwächsten beteiligt. Das stilisierte – russisch-orthodoxe und zugleich westlich aufgeklärte – Russische Imperium dient Volkov als Folie für seine wertende Sicht auf die sowjetische Gesellschaft. Der grundlegende „Bruch und Umbau“27 (lomka i perestrojka) der russischen Gesellschaft hatte aus seiner Sicht in moralischer Hinsicht einen Sittenverfall zur Folge, den er mit Begriffen wie „Verwilderung“ (odičanie) oder „Ehrlosigkeit“ (bezčestie) bezeichnet. Der Ich-Erzähler registriert mit Befremden, dass er Spuren eines Werteverfalls selbst bei jenen ausmacht, mit denen er sich qua Herkunft und Bildung verbunden fühlte. Nach der ersten Lagerhaft, berichtet er, sei ihm das Wiedersehen mit jenen Verwandten und Freunden besonders schwergefallen, die zwar (zumindest zu diesem Zeitpunkt) von einer Lagerhaft verschont geblieben seien, sich aber auf die eine oder andere Weise angepasst hätten, um im Sowjetsystem zu überleben. Der Riss sei durch die eigene Familie gegangen: Wollte das gerade aus dem Lager entlassene handelnde Ich an Vorrevolutionäres anknüpfen, so wäre diese Vergangenheit für die anderen eher etwas Anstößiges, das es unter den neuen Lebensumständen mit allen Mitteln zu verschweigen, zu verdrängen, zu vergessen galt: Mit meinen Beichtgängern von Solovki und meinen Gedanken über eine Reinigung Russlands bin ich im besten Falle ein bloßer Träumer, oder gar jemand, der Unannehmlichkeiten heraufbeschwören kann als „Mitbeteiligter“ an einer Vergangenheit,

25 Ebd., S. 52. 26 Ebd., S. 89. 27 Ebd., S. 123.

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die man auf unterschiedliche Weise zu begraben sucht. Für die meisten von ihnen ist sie eine Störung. Tote Last. Für mich – eine Stütze.28

Für den Lagerhäftling (wie später für den Verbannten), gibt er zu erkennen, sei das vorrevolutionäre Leben der Familie ein in mentaler Hinsicht unentbehrliches Instrument des Überlebens gewesen. Für diejenigen jedoch, die sich ihr Leben in einer nunmehr sowjetisch geprägten Wirklichkeit einrichten mussten, gehörte die Ausblendung der Vergangenheit zur Technik einer kulturellen Mimikry, die dem Einzelnen helfen sollte, das Überleben zu sichern. Inwieweit die Anpassung auf äußere Momente beschränkt blieb oder ob bestimmte Verhaltensmuster verinnerlicht wurden, ist eine Frage, die zwar unterschwellig anklingt, aber unbeantwortet bleibt. Versinken in Finsternis wird von der Überzeugung des Ich-Erzählers getragen, jemand wie er, der als „sozial gefährliches Element“ aus der neuen, der sowjetischen Gesellschaft ausgeschlossen wurde, könne die Verbindung zur Vergangenheit leichter wiederherstellen als jemand, der sich allen Ausgrenzungen zum Trotz auf die eine oder andere Weise in die sowjetische Gesellschaft zu integrieren versuchte. Autobiographisches Schreiben ist für Volkov vor diesem Hintergrund ein doppelter Akt des Bewahrens: Einerseits will er an die postrevolutionären Gewaltexzesse erinnern, die tabuisiert waren, und, andererseits, die Erinnerung an die eigenen biographischen Wurzeln wachhalten, denen er – jenseits des Privaten – eine kulturelle Repräsentanz für das alte vorrevolutionäre Russland zugeschreibt. Volkov entwirft ein ausschließlich negatives Bild der sowjetrussischen Gesellschaft, die nur auf Denunziation, Verrat, Missgunst und Gewalt beruhte und in der die Fronten klar abgesteckt waren – entweder war man Mittäter oder Opfer, ein Dazwischen gab es nicht. In seinem eigenen Leben hatte sich jeglicher Versuch als Illusion erwiesen, einen vom Sowjetsystem gleichsam exterritorialen Raum zu finden, in dem weiterhin die alten Werte und Umgangsformen (auf die er großen Wert legte und die er in seiner Autobiographie oft thematisiert) weiterhin galten. Bezogen auf die 1920er Jahre, in denen er sich nahezu unbehelligt in Moskau in einem Kreis von Verwandten und Freunden bewegte, heißt es, er habe damals „in einem exterritorialen Haus“29 (v ėksterritorial’nom dome) gelebt. Allerdings, fügt er hinzu, habe er nicht geahnt, dass einige seiner Freunde bereits als Informanten angeworben waren und willfährig ihre Spitzeldienste leisteten. Die Hoffnung, er könne sich auf Dauer von der unmittelbaren Umgebung abkapseln und in die schützende Hülle einer sicheren Heimstatt bzw. eines festen Freun28 Ebd., S. 108. 29 Ebd., S. 16.

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deskreises zurückziehen, sollte sich als trügerisch erweisen. Die „Exterritorialität“ markiert für den Autor auf der symbolischen Ebene – im Sinne seines stilisierten orthodoxen und zugleich westlich zivilisierten Russland-Bildes – eine Art ‚russischer‘ Enklave im ‚Sowjetraum‘. Volkov geht es nicht (nur) um das Ende der russischen Adelskultur. Den eigenen familiären Hintergrund spielt er herunter, koppelt an anderer Stelle die Privilegiertheit seiner Herkunft vor allem an Bildung und Kultur, seinen einzigen Reichtum.30 Vor diesem Hintergrund legt er sein autobiographisches Erzähler-Ich als Trägerfigur einer traditionell gedachten russischen Kultur an. Aufgewachsen in der Geborgenheit einer Familie, in der Wert gelegt wurde auf klassische Bildungs- und Erziehungsstandards des westlich orientierten russischen Adels, sah er sich nach 1917 mit dem Fehlen jeglicher privater wie beruflicher Perspektiven konfrontiert. Dem psychologischen Bedürfnis, den Bruch im Leben zu kitten, stand das Wissen von der prinzipiellen Uneinlösbarkeit dieser Sehnsucht entgegen. Allein im Medium des autobiographischen Schreibens schienen – zumindest im Rückblick – Strategien für einen zumindest virtuell zugänglichen Ausweg aus dieser Lage offen zu stehen. Die Familie, auch wenn ihr im gesamten Buch vergleichsweise nur wenige Seiten gewidmet sind, bildet die Sphäre, in der das axiologische Fundament der gesamten Narration verortet ist. Das wichtigste poetologische Instrument, um diese Sprecherposition literarisch wirksam in Szene zu setzen, ist für Volkov die Sprache selbst. Er gibt seine Ablehnung des Sowjetsystems zu erkennen, indem er bestrebt ist, den drastischen Kulturbruch zumindest auf sprachlicher Ebene zu überwinden. Er kultiviert einen Sprachgestus, der wie eine künstliche Rekonstruktion der russischen Literatursprache des 19. Jahrhunderts anmutet. Volkov verwendet oft Archaismen, Kirchenslawismen und bedient sich generell einer christlich kodierten Beschreibungssprache. Auffallend ist darüber hinaus sein Gebrauch von grammatikalischen Formen, syntaktischen Wendungen und Redefiguren, die schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als veraltet galten bzw. die in der Literatur mit einem ironischen Unterton der Charakterisierung einer eher bäuerlich eingefärbten (und daher der Moderne fernstehenden) russischen Umgangssprache dienen. In der nachfolgenden Textpassage über die Mechanismen der Zwangskollektivierung kommt solchen Begriffen und Wendungen (in der deutschen Übersetzung in eckigen Klammern transliteriert) die Funktion zu, die Radikalität des

30 Schließlich, so Volkov, sage die Zugehörigkeit zu einem alten Adelsgeschlecht auch nichts aus über die jeweiligen menschlichen Qualitäten. Vgl. Oleg Volkov im Gespräch mit Andrej Bitov, in: Moskovskie novosti, Nr. 36, 3. September 1989, S. 20.

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gewaltsamen Bruches mit der alten, tief verwurzelten Lebenswelt der russischen Bauern zu versinnbildlichen: Die Vergesellschaftung des bäuerlichen Viehs und des Hausrats [mužickich životin i požitkov] fiel wie himmlisches Manna in gierige, aber untätige und ungelenke Hände – die Hände von mehrheitlich zugezogenem Volk, das es während der großen Zerrüttung der ersten nachrevolutionären Jahre ins Dorf verschlagen hatte und das jetzt aufgerufen war, zum „Vertreter“ der Interessen der ärmsten, anfänglich unterstützten und verwöhnten Dorfschichten zu werden. […] Damals wurde erst begonnen mit dem massenhaften Abtransport der bestohlenen Bauern in die Abgründe der leeren Weiten des Nordens. Einstweilen wurden einzelne herausgegriffen: Man belegt dich mit einer „individuellen“ unbezahlbaren Steuer, wartet ein Weilchen ab [vyždut malen’ko] – und erklärt dich zum Saboteur. Dann aber kann man sich’s einfach machen: Konfiszier’ das Eigentum und wirf ins Gefängnis! […] Die Willkür, die über die Ackerbauern hereinbrach, die Ungewissheit des kommenden Tages und die Gewalt führten zu täglichen Dramen, zogen über dem Dorf herauf wie eine schwere, unheilvolle Wolke [tjažkoj, sulivšej bedy tučej] und lasteten auf dem Leben. So gelitten hatten die Vorfahren [praščuram] der heutigen Bauern vielleicht bloß zu Hochzeiten des Tatarensturms […]31

Sprache wird in Versinken in Finsternis zu einem ebenso stilisierten wie affektiv aufgeladenen Erinnerungsort. Diese Arbeit mit Sprache intendiert darüber hinaus eine Kulturprogrammatik: Wortwahl und stilistische Sorgfalt zielen darauf ab, ein sprachliches Gleichmaß zu erreichen, das einen gegenüber dem Raum der Sowjetkultur scheinbar exterritorialen, d. h. von Terror, Gewalt und zivilisatorischer Regression unberührten, letztlich imaginär bleibenden Raum erschafft. Er bezieht sich zwar nicht explizit auf die bekannten innerrussischen Debatten zum Verhältnis von Kultur und Zivilisation in Russland, operiert jedoch mit Elementen des russischen Zivilisationsdiskurses – wie etwa in seinen Hinweisen auf die kulturellen Prägungen der „guten“ Erziehung in der Kindheit, auf die Verhaltensmanieren der „Ehemaligen“ im Lager und im Bild vom zertrümmerten „petrinischen Ehrenspiegel“. In seiner schriftlichen Rekonstruktion will er diese gebrochene Kultur wieder zusammenzufügen. In der realen Welt, die für ihn zu einem „einzigen Schlachthof “32 geworden war, sah er für sich keinen „geregelten und guten“ Lebensweg mehr. Auch er selber konnte physisch diesem Schlachthof nicht entrinnen. Vor dem Hintergrund 31 Volkov: Pogruženie, S. 123f. 32 Ebd., S. 329.

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dieser Wahrnehmung seines Lebens entwirft Volkov in der Natur und in der Sprache einen Raum, in dem er sich der zerstörerischen Gewalt durch ein Aufgehobensein in einem höheren Lebenszusammenhang entziehen konnte. Nicht zuletzt durch die gewählte Erzählsprache lässt er keine Zweifel daran, dass er selbst – als Nachkomme der alten Adelselite des russischen Imperiums, d. h. als jemand, der allein schon genealogisch exterritorial zur sowjetrussischen Kultur steht – prädestiniert sei, als Träger einer solchen, zumindest imaginär zusammengefügten Kultur zu gelten.

Kirill Golicyn (1903–1990) Die melancholische Grundhaltung des Abschiednehmens von einer Familientradition, die von den Belangen des russischen Imperiums nicht zu trennen war, prägt auch die Erinnerungen des Fürsten Kirill Golicyn. Die unvollständig datierten, wohl in den 1970er–1980er Jahren verfassten Erinnerungen erschienen unter dem Titel Aufzeichnungen des Fürsten Kirill Nikolaevič Golicyn (Zapiski knjazja Kirilla Nikolaeviča Golicyna). Kirill Golicyn wurde 1903 in St. Petersburg geboren. Der Vater war Philologe, arbeitete im Staatsarchiv, später als Chef der Kanzlei der Staatsduma, bevor er 1915 zum Direktor des Staatsarchivs ernannt wurde (die Ernennung ging mit einer höheren Einstufung in der Rangtabelle einher). Nach dem Schulabschluss 1922 legte er 1923 die Aufnahmeprüfung am Architekturinstitut ab, wurde jedoch verhaftet und zu fünf Jahren Konzentrationslager verurteilt. Im Frühjahr 1928 wurde er vorfristig entlassen, durfte jedoch nicht mehr in seine Heimatstadt zurückkehren. Er zog nach Tula. Im Herbst 1928 nahm er in Jasnaja Poljana an Ausgestaltungsarbeiten zur Vorbereitung des 100. Geburtstages von Lev Tolstoj teil, wurde ab Januar 1929 dort auch angestellt. Im Jahr danach heiratete er und siedelte 1932 mit seiner Frau nach Moskau über, wo er als Maler und Graphiker für Museen und Verlage arbeitete. Im Juli 1941 wurde Kirill Golicyn erneut verhaftet und zu zehn Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt. Nach der Entlassung wurde ihm die Rückkehr nach Moskau verwehrt. Daraufhin zog er in die Autonome Republik der Komi (nach Uchta) und arbeitete dort als Architekt. 1955 wurde er rehabilitiert, durfte zur Familie nach Moskau zurückkehren und arbeitete bis zu seiner Pensionierung (1966) als Maler und Graphiker. Golicyn beginnt seine autobiographischen Aufzeichnungen mit einem Kapitel über die Familie und vermerkt sogleich im ersten Satz, dass ihn das Vorhandensein einer umfangreichen genealogischen Literatur von der Pflicht entbinde, über die Ursprünge des Geschlechts der Golicyns zu berichten. Wie wichtig ihm

Autobiographie und Epochenbruch 497

diese genealogische Einbettung der eigenen Lebensgeschichte ist, unterstreicht der Vergleich des genealogischen Gesamtbildes mit einem Baumstamm ohne Zweige, aber mit einer vollen Baumkrone.33 In seiner Generation gäbe es kaum Cousins und Cousinen dritten und vierten Grades, heißt es mit einem bedauernden Ton (von den vier Söhnen des Urgroßvaters habe nur sein Großvater eine große Nachkommenschaft). Golicyn hebt hervor, dass die Familie nicht sehr reich gewesen sei, sondern vom Gehalt des Vaters gelebt habe. Den Rahmen für das Bild der eigenen Familie bildet das Wirken beider Eltern zum Wohle Russlands. Allerdings legt er Wert darauf, dass bereits sein Großvater (der 1897 erstmals von der Moskauer Duma zum Stadtoberhaupt gewählt worden sei) und vor allem dann seine Söhne zu jener Generation von Adeligen gehörten, die den Interessen des Hofes gleichgültig gegenübergestanden und ihre Bestimmung darin gesehen hätte, „der Gesellschaft und nicht der Macht zu dienen“.34 Es gibt eine Szene, die gleichsam als eine Art Initiation des Knaben in diese Wahrnehmung des eigenen Verhältnisses zum imperialen Herrschaftssystem gelesen werden kann, obgleich die Familie durchaus eine Nähe zum Zarenhof hatte. Seine Mutter war in den letzten Jahren des Imperiums Hofdame der Zarin Aleksandra Fedorovna, wobei der Sohn unterstreicht, dass ihre Verpflichtungen bei Hofe wohl nicht sehr belastend gewesen sein dürften, da sie nicht häufig dort gewesen sei: Und dennoch, von Zeit zu Zeit tauchte vor dem Eingang unseres Hauses eine Hofkutsche auf und meine Mutter begab sich in den Palast. Einmal nahm sie mich mit, wohl, um mich Aleksandra Fedorovna zu zeigen. Die Erinnerung bewahrte viele Treppen, Zimmer, das schöne , von Leiden gezeichnete Gesicht der Kaiserin. Sie legte die Hand auf meinen Kopf und sagte: „Ein guter Junge.“ Den Zaren sah ich im Palast nicht.35

Die Abwesenheit des Zaren ist symbolisch – sie markiert für das Kind (wie für den Ich-Erzähler) das leer bleibende imperiale Machtzentrum. Im Rückblick konstatiert Golicyn dennoch, die Weltsicht der Erwachsenen um ihn herum 33 Zapiski knjazja Kirilla Nikolaeviča Golicyna [Aufzeichnungen des Fürsten Kirill Nikolaevič Golicyn]. Moskva 1997, S. 17. 34 Ebd., S. 24. 35 „Думаю, что ее обязанности при дворе не были обременительными, она бывала там нечасто. И все же, время от времени у подъезда нашего дома появлялась придворная карета, и мать отправлялась во дворец. Однажды она взяла меня с собой и меня, видимо, чтобы показать Александре Федоровне. Память сохранила много лестниц, комнат, красивое со следами страданий лицо Императрицы. Она положила руку на мою голову и сказала: ‚Хороший мальчик‘. Государя во дворце я не видел.“ Ebd., S. 35.

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habe ihn in stärkerem Maße geprägt, als er das seinerzeit wahrgenommen habe. Möglicherweise widmet er ihr daher in seinem autobiographischen Bericht mehr Raum als der drei Jahre ältere Oleg Volkov. Es falle ihm schwer, notiert Golicyn an einer Stelle, in seinen Erinnerungen von Petersburg bzw. Petrograd seiner Kindheit und Jugend Abschied zu nehmen, daher wolle er im Geiste einen Spaziergang unternehmen und den Nevskij Prospekt mit seinen angrenzenden Straßen aus der Zeit vor 1917 rekonstruieren.36 Die mit vielen Details entworfene mentale Topographie wird zu einer retrospektiven Beschwörung Petersburgs in seiner einstigen Schönheit, seiner Internationalität (etwa durch die Aufzählung unterschiedlichster Namen von Läden, Restaurants oder Hotels) und dadurch letztlich in seiner imperialen Größe. Sie mündet in einen Vergleich zwischen Moskau und Petersburg in den frühen 1920er Jahren, bei dem Golicyn den aus vielen literarischen Texten bekannten Topos der sterbenden Stadt Petersburg aufgreift: „Unser Petrograd“,37 jene Stadt, die sich auf den Kreis von Verwandten, Freunden und Vertrauten beschränkte, sei leer geworden, während der durch die Neue Ökonomische Politik (NÖP) möglich gewordene Wechsel in der Lebensweise sowie die neu aufkommenden Zerstreuungen das Leben in Moskau vitaler, lebendiger werden ließ. Seiner Generation sei das Schicksal widerfahren, in den Jahren einer kurzzeitigen Wiederbelebung „zu debütieren“,38 heißt es in ironisch-sarkastischer Anspielung an das traditionelle Ritual der Einführung junger Mädchen in die Gesellschaft. Golicyn zeichnet ein Bild seiner Generation junger Adeliger in den ersten Jahren nach 1917, der jede Entscheidungsfreiheit über die eigene Zukunft genommen war. Im Unterschied zu den nur wenige Jahre älteren „adeligen Abkömmlingen“ (dvorjanskich otpryskov) hätten sie sich automatisch „in Sowjetbürger verwandelt“, vor allem durch die Ausgabe von Lebensmittelkarten und Personaldokumenten.39 Mit diesem Hinweis wird die Rede von der Verwandlung ironisch ad absurdum geführt, handelte es sich doch um einen rein bürokratischen Verwaltungsakt. Allerdings habe die NÖP, notiert Golicyn rückblickend, ihren Handlungsspielraum etwas erweitert: Es sei möglich geworden, eine Ausbildung abzuschließen, auch wäre vor allem in Moskau das Spektrum an Vergnügungen – nach der sich die Jugend immer sehne – größer geworden. Auf der Suche nach einem Betätigungsfeld, das ihnen eine relative Sicherheit bot, hätten viele aus der traditionellen musischen Erziehung in Adelsfamilien Nutzen ziehen können und sich der 36 37 38 39

Ebd., S. 103. Ebd., S. 156. Ebd., S. 148. Ebd., 148–149.

Autobiographie und Epochenbruch 499

Kunst oder auch der Wissenschaft zugewandt: „Beide Felder – die Wissenschaft und die Kunst – erlauben es, sich auf gewissem Abstand von ‚gefährlichen‘ Zonen zu halten, wo man entweder seine ideologischen Sympathien und Antipathien verbergen, oder – was am schlimmsten ist – als seinesgleichen unter Fremden ausgeben muss.“40 Ein wirklicher politischer Widerstand, eine Gefahr für die politische Ordnung sei von seiner Generation nicht ausgegangen, bilanziert Golicyn.41 Bald nach dem Ende der NÖP setzten in Moskau wie Petrograd Massenverhaftungen ein; viele Adelige wurden allein aufgrund ihres Namens, der sie als Ehemalige (byvšie) auswies, verhaftet. Golicyns Aufzeichnungen sind im Folgenden weitgehend dem in den Gefängnissen und Lagern Erlebten gewidmet. Er berichtet von den Schicksalen jener, die nicht überlebt hatten und an die, seiner Ansicht nach, die Erinnerung bewahrt werden sollte. In sprachlicher Hinsicht sind Golicyns Aufzeichnungen nicht im gleichen Maße literarisch durchgeformt wie Oleg Volkovs Versinken in Finsternis. Sie bilden aber eine interessante Quelle für weitere Untersuchungen zum Bild des imperialen Russland, das im Rückblick auf die eigene Lebens- bzw. Familiengeschichte von Menschen adeliger Herkunft in der Sowjetunion gezeichnet wird. Das wirft im Falle von Kirill Golicyn auch die Frage nach den kulturellen Prägungen, den (auch sprachlichen) Umgangsformen und Verhaltensweisen auf, die bewahrt und an die nachfolgende Generation weitergegeben wurden und Eingang in das kulturelle Gedächtnis fanden.42

40 Ebd., S. 134. Golicyns Wahrnehmung der wenigen Möglichkeiten, die den „Ehemaligen“ adeliger Herkunft in der sowjetischen Gesellschaft blieben, trifft sich mit Befunden in der neueren Forschung über Mechanismen ihrer Anpassung an die neue politische Ordnung in den 1920er–1930er Jahren. Sof ’ja Čujkina untersuchte anhand autobiographischer Texte von Adeligen in Leningrad, auf welche Weise solche sozialen Adaptionspraktiken das kollektive Gedächtnis prägten. Sof ’ja Čujkina: Dvorjanskaja pamjat’: „byvšie“ v sovetskom gorode (Leningrad, 1920–30-e gody) [Das Adelsgedächtnis: „die Ehemaligen“ in der sowjetischen Stadt (Leningrad, 1920–30er Jahre)]. St. Peterburg 2006. 41 Zapiski knjazja Kirilla Golicyna, S. 160. 42 Dieser Fragestellung ist auch im Hinblick auf das transgenerationelle Gedächtnis zu stellen, war doch sein Sohn Andrej Golicyn Initiator der 1990 erfolgten Neugründung der Russischen Adelsversammlung.

500 Franziska Thun-Hohenstein

Evfrosinija Kersnovskaja (1907–1994) Im Unterschied zu Oleg Volkov und Kirill Golicyn thematisiert Evfrosinija Kersnovskaja das russische Imperium in ihren autobiographischen Aufzeichnungen nicht explizit. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre schrieb und zeichnete sie in zwölf Schulheften ihre Lebensgeschichte, die unter dem Titel Was ein Mensch wert ist (Skol’ko stoit čelovek) publiziert und auch im Internet zugänglich ist.43 Sie interessiert sich rückblickend vor allem für das Alltagsleben der Menschen in ihrer Familie wie in ihrem Umfeld und dafür, mit welcher Verzweiflung, aber auch mit welchem Mut Menschen versuchen, allen Katastrophen zum Trotz (Enteignungen, Vertreibungen, Hunger, Terror und Gewalt) zu überleben. Dabei erscheinen die europäischen Vielvölkerreiche – das Habsburger und das Russische – durchaus am Horizont. In ihrer Rhetorik aber ist meist die Rede von Russland, Rumänien und vor allem von Bessarabien, wenngleich sie die Weltoffenheit und kulturelle Vielfalt des damaligen Lebens immer wieder hervorhebt. Dieses – auch idealisierte – Bild dient ihr als Folie, auf die sie ihre Erfahrungen mit der Sowjetzivilisation projizierte. Evfrosinija Kersnovskaja entstammt einer Familie mit internationalen (rumänischen, polnischen, griechischen, österreichischen) Wurzeln und wuchs mehrsprachig auf. In Odessa als Tochter eines Juristen geboren, hatte sie eine russische Schulbildung genossen. Vor dem roten Terror floh die Familie 1919 über das Schwarze Meer nach Bessarabien auf das Landgut des Vaters (er starb 1936), das zu dieser Zeit zu Rumänien gehörte. Während der ältere Bruder 1920 ins Ausland zum Studium ging,44 blieb sie dort, schloss das Gymnasium ab, besuchte anschließend veterinärmedizinische Kurse und richtete auf dem Gut eine Farm ein. Folgt man ihren Erinnerungen, so verstand sie sich als Oberhaupt der Familie, das für die Mutter zu sorgen hatte. Über die frühen Jahre in Odessa wird in den Erinnerungen kaum berichtet, zentral ist für sie ihr praktisches Geschick beim Aufbau einer gut funktionierenden landwirtschaftlichen Farm auf dem väterlichen Gut. Am 28. Juni 1940 besetzte die Sowjetunion Bessarabien und gliederte es in die Moldauische Sowjetrepublik ein. Tausende männliche Einwohner wurden als aktive Konterrevolutionäre verhaftet und in Lager des GULag-Systems abtransportiert, 43 Im Internet zu finden unter: www.gulag.su. Die Zeichnungen der Hefte stehen fortlaufend in der Reihenfolge der Hefte unter der Adresse: www.gulag.su/images/index. phb?eng=&page=0&list=1&foto=1 [letzter Zugriff: 23.06.2015.]Ausführlicher zu Kersnovskaja vgl. auch das entsprechende Kapitel in: Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien, S. 181–223. 44 Der ältere Bruder Anton Kersnovskij (1905–1944) studierte in Wien und Paris und publizierte später militärhistorische Arbeiten.

Autobiographie und Epochenbruch 501

ihre Familienangehörigen nach Sibirien deportiert. Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee wurden Kersnovskaja und ihre Mutter aus dem Haus vertrieben, ihre gesamte Habe beschlagnahmt. Es gelang ihr, die Mutter über die Grenze nach Rumänien zu schleusen und sich selbst mit physischer Arbeit (in den Weinbergen, als Waldarbeiterin) durchzuschlagen. Im Juni 1941, noch vor Kriegsbeginn, wurde sie mit Tausenden ihrer Landsleute in die ‚ewige Verbannung‘ nach Sibirien deportiert (nach Sujga, eine Siedlung östlich von Tomsk). Dort begehrte sie gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf, floh und ‚wanderte‘ von März bis August 1942 durch Sibirien, wobei sie etwa 1500 km zurücklegte. Sie wurde entdeckt, denunziert, verhaftet und als angebliche Spionin zunächst zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde dann in zehn Jahre Haft in den ‚Arbeitsbesserungslagern‘ des GULag umgewandelt. 1947 ließ sie sich auf eigenen Wunsch im Lager für die Arbeit unter Tage einteilen. Nach der 1952 erfolgten Entlassung aus dem Lager besuchte sie eine Bergwerksschule und arbeitete als Sprengmeisterin. Ihren Urlaub im Sommer 1957 nutzte sie für eine ausgedehnte Wanderung zu Fuß durch den Kaukasus. Bei einem Besuch des Heimatortes Cepilovo erfuhr sie, dass die Mutter in Rumänien den Krieg überlebt hatte. Zum Wiedersehen beider kam es erst im Sommer des darauffolgenden Jahres in Odessa. Nach der Berentung (1960) zog sie in das am nördlichen Rand des Kaukasus (Stavropoler Kreis) gelegene Essentuki und holte ihre Mutter aus Rumänien zu sich. Im vierten Heft ihrer autobiographischen Aufzeichnungen summiert sie mit beißendem Sarkasmus ihren Lernprozess in Sachen Sowjetzivilisation unter Bezug auf die Bibel: Ich weiß nicht, wann und auf welchem Berg die neuen Gebote entgegengenommen wurden. Ich bezweifle, dass sie auch diesmal in Stein eingraviert wurden. Der Text dieser Gebote ist aber bekannt. Mehr noch, sie werden bereitwilliger befolgt als jene, die auf den Steintafeln waren. Hier sind sie: I. Du sollst nicht denken. II. Und wenn du denkst, so sprich nicht. III. Und wenn du sprichst, so schreib’ nicht. IV. Und wenn du schreibst, so unterschreib’ nicht […] auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden, in der UdSSR …45 45 „Не знаю, когда и на какой горе получены были новые заповеди. Сомневаюсь, что и на этот раз их выгравировали на камне. Но текст этих заповедей известен. Больше того, соблюдают их куда охотнее, чем те, что были на каменных скрижалях. Вот они:

502 Franziska Thun-Hohenstein

Es seien nur vier Gebote, fügt sie hinzu, und dennoch habe sie – im Unterschied zu jenen Zehn Geboten – von diesen Geboten der „zweiten Auflage“ nicht ein einziges eingehalten. Diese Szene, in der sie bei der Formulierung der neuen ‚Gebote‘ bewusst Kirchenslawismen aufgreift, lässt sich für die gesamte Narration insofern symptomatisch lesen, als sie eine Verschränkung mehrerer Narrative andeutet – des Beichtnarrativs, des Märtyrernarrativs und einer Schelmengeschichte, in der das erinnerte Ich (Kersnovskaja) zu einer Trickster-Figur wird, die alle Hindernisse des Schicksals mit Bravour meistert. Der retrospektive Blick auf das eigene Leben wird hier zu einer Art Lebensbeichte vor Gott und vor der Mutter. Am Ende konstatiert sie, sie habe – gemessen an den Lebensmaximen und moralischen Wertmaßstäben der Familie – die Prüfung des Lebens bestanden. Die biblischen Vergleiche und Assoziationen deuten ihren Lebensweg innerhalb der Sowjetunion als „Stationen des Leidenswegs“ (ėtapy krestnogo puti).46 Die Deportation, den wochenlangen Transport nach Sibirien in Viehwagons bezeichnet sie als „Auszug“ (ischod).47 Der Exodus aus dem gleichsam als ‚Gelobtem Land‘ kodierten Bessarabien meint den realen Verlust der Freiheit ebenso wie den Verlust des Gefühls eines geregelten Lebens in Freiheit und einer westlich orientierten Weltoffenheit, das für sie an das einstige Leben im vorrevolutionären Odessa und vor allem im Familiengut in Bessarabien gebunden bleibt.48 Die beiden „Wissenschaften“ Schweigen und Lügen, die dem Einzelnen in der Sowjetunion das Überleben sicherten, aber habe sie, wie es weiter heißt, bis zum Ende ihrer Tage nicht erlernt. Die erste Begegnung mit der Sowjetordnung wurde für sie zur Konfrontation mit der Realität von Gewalt im Alltag. Mit dem Kennenlernen der ideologisch überfrachteten Sprachregelungen tat sich für sie zugleich der Abgrund auf zwischen dem offiziellen Bild der neuen sowjetischen Welt und einem auf Gewalt, Angst und Lüge basierenden Leben. Ihre Schreibstrategie zielt darauf ab, die diskursive Gewalt der aufgezwungenen Rede über sich selbst zu brechen: Das Gesehene – und, nach eigener Aussage, bisweilen auch I. Не думай. II. А если думаешь – не говори. III. А если говоришь – не пиши. IV: А если пишешь – не подписывайся… И благо ти будет, и долголетен будеши на земли, в СССР […]“ Kersnovskaj: Skol’ko stoit čelovek, IV, 7, S. 16f. (Im letzten Satz werden kirchenslawische Formulierungen aus der Bibel aufgegriffen.) 46 Ebd., S. 148. 47 Ebd., S. 144. 48 Zur Auseinandersetzung mit (Zwangs-)Mobilität im Sowjetimperium und kultureller bzw. ethnischer Vielfalt im Sowjetimperium vgl. Franziska Thun-Hohenstein: ‚Wanderer‘ wider Willen im Sowjetimperium. Evfrosinija Kersnovskaja. In: Thomas Grob/Boris Previšić/Andrea Zink (Hrsg.): Erzählte Mobilität im östlichen Europa. (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination. Tübingen 2014, S. 261–285.

Autobiographie und Epochenbruch 503

das Gehörte – soll beim Namen genannt und den Phänomenen die Maske ideologischer Verschleierung heruntergerissen werden. An einer Stelle nennt sie das sowjetische System, in dem sie lebte (leben musste), bereits ironisch als „unser System“49 (naša sistema) und präzisiert ihre Sprachkritik: Aber bei uns hat jedes Wort außer einem offiziellen auch noch einen inoffiziellen Sinn. Versuche doch einmal mit eigenen Worten die Bedeutung solcher Worte wie „Freiheit“, „Glück“, „Liebe zur Heimat“ zu erklären. Ach, was soll’s! Jedes von Kindheit an bekannte Wort erscheint gleichsam maskiert. Was aber ist unter der Maske? Das errät man nicht so leicht.50

Es geht ihr darum, den scheinbar vertrauten, ideologisch aber missbrauchten und daher von ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdeten, Worten „die Maske“ herunterzureißen. Das Gefühl von Fremdheit in der Sowjetunion bedeutete für das erinnerte Ich, im doppelten Sinne fremd zu sein – im Sowjetsystem mit seinen Alltagslogiken und in der ideologisch aufgeladenen und daher entfremdeten russischen Sprache. Sie hatte eine russische Bildung erhalten und fühlte sich in der russischen klassischen Literatur ebenso zu Hause wie in der rumänisch geprägten Alltagskultur Bessarabiens, in der sich über Jahrhunderte verschiedene Einflüsse aus dem Osmanischen, dem Habsburger und dem Russischen Reich kreuzten. In die in russischer Sprache verfassten Erinnerungen fließen immer wieder deutsche, französische, rumänische (moldauische)51 oder auch lateinische Redewendungen und Sätze ein. Im Rückblick spricht sie dezidiert von Russland als ihrer Heimat (rodina)52 und setzt sich im Text mit dem Charakter des Sowjetsystems auseinander:

49 Kersnovskaja: Skol’ko stoit čelovek, S. 308. 50 Ebd., S. 335. 51 Nach der Besetzung Bessarabiens wurde für die dort gesprochene rumänische Sprache in Abgrenzung zu Rumänien die Bezeichnung „moldauische Sprache“ eingeführt. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist die Existenz einer eigenständigen moldauischen Sprache umstritten. Der Terminus wird heute als offizielle Bezeichnung für die Amtssprache Moldawiens, verwendet. 52 Das weibliche russische Wort rodina (Heimat) ist abgeleitet von rod (Stamm) und impliziert somit den Hinweis auf eine genealogische Abstammung. Durch ein Plakat des Georgiers Irakli Toije „Mutter-Heimat ruft!“ wurde die Wortverbindung „Mutter-Heimat“ (rodina-mat’) zu einem festen Topos der Sowjetideologie.

504 Franziska Thun-Hohenstein

Warum verstehe ich das Wesen dieses Regimes immer noch so schlecht? Warum stellt sich die Frage: Wofür? […] Vielleicht deswegen, weil die UdSSR Russland ist, Russland aber – das ist meine Heimat, die Heimat aber – das ist die Mutter […] Jeder möchte seine Mutter als gütig, klug, gerecht sehen. Man möchte vertrauensvoll dorthin gehen, wohin Deine Mutter Dich führt. Plötzlich aber wird sie zum Vampir [vurdalakom] und führt Dich ins Moor!53

Der Verrat der Mutter-Heimat (rodina-mat’) wird von ihr auch als Verrat an der russischen Kultur und Sprache gewertet. Daher ist sie stets bestrebt, zwischen dem sowjetischen System und der russischen Kultur zu unterscheiden. Gegen die Sowjetrhetorik setzt sie allerdings nicht auf eine stilisierte, mit Archaismen und Kirchenslawismen angereicherte russische Sprache (wie etwa Oleg Volkov), sondern, im Gegenteil, auf im Sprachfluss gleichsam genuin eingebettete Elemente der in der Kindheit erworbenen Mehrsprachigkeit. Sie signalisieren die in der Sowjetepoche verloren gegangene Weltoffenheit und Freiheit. Ihr umfangreiches autobiographisches Wort-Bild-Projekt ist auch in dieser Hinsicht als Intervention gegen das staatlich verordnete sowjetische Geschichtsbild zu verstehen.

Fazit Versucht man ein erstes Resümee, so lässt sich festhalten, dass alle drei Autobiographen die Kraft des jeweils individuellen Widerstands gegen den aufgezwungenen Verlust der eigenen – gleichsam genealogisch verbürgten – Identität, auch die differenten Strategien ihrer Anpassung an das Leben im Sowjetsystem aus dem alten imperialen Russland schöpfen, genauer gesagt, aus den familiären Prägungen der Adelseliten. Drei Punkte seien kurz skizziert: 1) Alle drei Autobiographen sind bestrebt, das in der sowjetischen Propaganda transportierte negative Bild der „Ehemaligen“ zu korrigieren. Sie legen in ihren Darstellungen der eigenen Lebens- und Familiengeschichte Wert darauf, dass die Sorge ihrer Vorfahren (insbesondere der Generation der Väter und Großväter) um das private Wohl der Familie immer mit einem aktiven Dienst (als Jurist, Diplomat oder als hoher Verwaltungsbeamter) zum Wohl der Gesellschaft, des Staates bzw. des „Vaterlandes“ (otečestvo) verbunden gewesen sei. 2) Der Verlust dieser, ihnen gleichsam „genealogisch“ zustehenden und von ihnen angestrebten Rolle als Akteur, als Handelnder markiert für alle drei einen dramatischen Einschnitt. Auf unterschiedliche Weise haben Sprecherposition, 53 Kersnovskaja: Skol’ko stoit čelovek [Anm. 20], S. 137.

Autobiographie und Epochenbruch 505

bestimmte narrative Strategien sowie Gesten der Adressierung die Funktion, den Leser davon zu überzeugen, dass dieser Verlust nicht nur als ein persönlicher Bruch, ein Biographieverlust für jeden von ihnen zu werten ist, sondern dass dies einen Verlust an menschlichem und kulturellem Potential für das gesamte Land bedeutet. 3) Eingeschrieben in dieses positive Bild der kulturstiftenden und staatstragenden Rolle des Adels (ob bei Hofe oder in der Funktionselite) als einer im imperialen Maßstab – russisch wie kosmopolitisch zugleich – agierenden sozialen Schicht ist besonders bei Oleg Volkov, z.T. auch bei Kirill Golicyn ein positives Bild des Russischen Imperiums, das russisch-orthodox (bisweilen auch russisch-national) gefärbt ist und die Frage nach dem Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Völkern und Ethnien eher ausblendet. Es ist kein Zufall, dass Evfrosinija Kersnovskaja durch ihre Herkunft und ihre Verwurzelung im ländlichen Leben in Bessarabien in dieser Hinsicht offener zu sein scheint, aber auch bei ihr spielt diese Frage im Rückblick auf das imperiale Russland kaum eine Rolle. Dass dieses imperiale Russland im autobiographischen Rückblick bei Volkov, Golicyn und Kersnovskaja zugleich verklärt und idealisiert wird, findet keinen Niederschlag (etwa in einer selbstkritischen Reflexion der eigenen Schreibposition). Für alle drei wurde das autobiographische Schreiben zur Möglichkeit, sich in eine familiäre und kulturelle Genealogie einzuschreiben, die es im sowjetischen Alltagsleben nicht mehr gab, nicht mehr geben durfte. Daher kann man diese Autobiographien m.E. im doppelten Sinne als imperiale Erbschaften lesen – im Sinne der transportierten Erinnerungen an das Russische Imperium und im Sinne des Erzählgestus, einer sprachlichen Verwurzelung, der Verortung in der einst in der Kindheit vertrauten Welt.

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ISBN 978-3-412-22459-2

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VISUELLE GESCHICHTSKULTUR HERAUSGEGEBEN VON STEFAN TROEBST IN VERBINDUNG MIT ARNOLD BARTETZKY, STEVEN A. MANSBACH UND MAŁGORZATA OMILANOWSK A

EINE AUSWAHL

BD. 12 | ARNOLD BARTETZKY, CHRISTIAN DIETZ, JÖRG HASPEL (HG.) VON DER ABLEHNUNG ZUR ANEIGNUNG? DAS ARCHITEKTONISCHE ERBE DES SOZIALISMUS IN MITTEL- UND OSTEUROPA FROM REJECTION TO APPROPRIATION? THE ARCHITECTURAL HERITAGE OF SOCIALISM IN CENTRAL AND EASTERN

BD. 9 | ARNOLD BARTETZKY NATION – STAAT – STADT ARCHITEKTUR, DENKMALPFLEGE UND VISUELLE GESCHICHTSKULTUR VOM 19. BIS ZUM 21. JAHRHUNDERT 2012. 276 S. 69 S/W- UND 177 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-20819-6 BD. 10 | AGNIESZKA GASIOR (HG.) MARIA IN DER KRISE KULTPRAXIS ZWISCHEN KONFESSION UND POLITIK IN OSTMITTELEUROPA 2014. 388 S. 81 S/W- UND 47 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-21077-9 BD. 11 | ARNOLD BARTETZKY, RUDOLF JAWORSKI (HG.) GESCHICHTE IM RUNDUMBLICK PANORAMABILDER IM ÖSTLICHEN EUROPA

EUROPE 2014. 297 S. 43 S/W- UND 175 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22148-5 BD. 13 | AGNIESZKA GASIOR, AGNIESZKA HALEMBA, STEFAN TROEBST (HG.) GEBROCHENE KONTINUITÄTEN TRANSNATIONALITÄT IN DEN ERINNERUNGSKULTUREN OSTMITTELEUROPAS IM 20. JAHRHUNDERT 2014. 352 S. 51 S/W- UND 12 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22256-7 BD. 14 | STEFAN ROHDEWALD GÖTTER DER NATIONEN RELIGIÖSE ERINNERUNGSFIGUREN IN SERBIEN, BULGARIEN UND MAKEDONIEN BIS 1944 2014. 905 S. 18 S/W- UND 10 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22244-4

2014. 213 S. 24 S/W- UND 70 FARB. ABB.

TT166

GB. | ISBN 978-3-412-22147-8

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BEITR ÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS HERAUSGEGEBEN VON

JÖRG BABEROWSKI, KLAUS GESTWA, MANFRED HILDERMEIER UND JOACHIM VON PUTTKAMER

EINE AUSWAHL

BD. 46 | JÖRG GANZENMÜLLER RUSSISCHE STAATSGEWALT UND

BD. 42 | KATHARINA KUCHER

POLNISCHER ADEL

DER GORKI-PARK

ELITENINTEGRATION UND STAATSAUS­

FREIZEITKULTUR IM STALINISMUS

BAU IM WESTEN DES ZAREN REICHES

1928–1941

(1772–1850)

2007. VI, 330 S. 42 S/W-ABB. AUF 32 TAF.

2013. 425 S. 2 S/W-KT. GB.

2 KT. ALS VOR- UND NACHSATZ. GB. MIT

ISBN 978-3-412-20944-5

SU. LEINEN | ISBN 978-3-412-10906-6 BD. 47 | KATJA BRUISCH BD. 43 | FRANK GRÜNER

ALS DAS DORF NOCH ZUKUNFT WAR

PATRIOTEN UND KOSMOPOLITEN

AGRARISMUS UND EXPERTISE

JUDEN IM SOWJETSTAAT 1941–1953

ZWISCHEN ZARENREICH UND

2008. XV, 559 S. GB.

SOWJETUNION

ISBN 978-3-412-14606-1

2014. 394 S. 16 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-22385-4

BD. 44 | VERENA DOHRN JÜDISCHE ELITEN IM RUSSISCHEN

BD. 48 | DARIA SAMBUK

REICH

WÄCHTER DER GESUNDHEIT

AUFKLÄRUNG UND INTEGRATION

STAAT UND LOKALE GESELLSCHAFTEN

IM 19. JAHRHUNDERT

BEIM AUFBAU DES MEDIZINALWESENS

2008. 482 S. 17 S/W-ABB. AUF 12 TAF. GB.

IM RUSSISCHEN REICH 1762–1831

LEINEN | ISBN 978-3-412-20233-0

2015. 442 S. 3 S/W-ABB. UND 4 S/W-KT. GB.

BD. 45 | KIRSTEN BÖNKER

ISBN 978-3-412-22461-5

JENSEITS DER METROPOLEN ÖFFENTLICHKEIT UND LOKALPOLITIK IM

BD. 49 | JERONIM PEROVIĆ

GOUVERNEMENT SARATOV (1890–1914)

DER NORDKAUKASUS UNTER

2010. XII, 508 S. 5 S/W-ABB. GB.

RUSSISCHER HERRSCHAFT

ISBN 978-3-412-20487-7

GESCHICHTE EINER VIELVÖLKER­ REGION ZWISCHEN REBELLION UND ANPASSUNG 2015. 544 S. 31 S/W- UND 13 FARB. ABB.

RB060

GB. | ISBN 978-3-412-22482-0

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BIANKA PIETROW-ENNKER (HG.)

RUSSLANDS IMPERIALE MACHT INTEGRATIONSSTRATEGIEN UND IHRE REICHWEITE IN TRANSNATIONALER PERSPEKTIVE

Der Band schließt an die aktuelle Imperiumsforschung an und widmet sich dem neuzeitlichen Russland bis in die Gegenwart. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive werden an prägnanten Beispielen Integrationsstrategien untersucht, die die Macht des russischen Imperiums an dessen labilen Peripherien und auf internationaler Ebene sichern sollten. Im Fokus der Studien stehen dabei Symbolpolitiken, Kommunikations- und Erinnerungskulturen. Gleichzeitig wird gezeigt, inwiefern die russische/sowjetische Machtpolitik an ihre Grenzen stieß und welche Formen von Widerständigkeit sich herausbildeten. 2012. 398 S. 10 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20949-0

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KARSTEN BRÜGGEMANN BRADLEY D. WOODWORTH (HG.)

RUSSLAND AN DER OSTSEE RUSSIA ON THE BALTIC IMPERIALE STRATEGIEN DER MACHT UND KULTURELLE WAHRNEHMUNGSMUSTER (16. BIS 20. JAHRHUNDERT) IMPERIAL STRATEGIES OF POWER AND CULTURAL PATTERNS OF PERCEPTION (16TH–20TH CENTURIES) (QUELLEN UND STUDIEN ZUR BALTISCHEN GESCHICHTE, BAND 22)

Die jahrhundertelange Beziehung zwischen Russland und dem Baltikum bietet mehr als die immer noch verbreitete Konzentration auf die Konfliktgeschichte erwarten lässt. In diesem Band analysieren Autorinnen und Autoren aus sechs Ländern die spezifisch russisch-baltischen Erfahrungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Aus ihren Beiträgen ergibt sich ein differenziertes Bild dieser Verflechtungsgeschichte, das neue Impulse für die Erforschung dieser historischen Nachbarschaft in all ihren Facetten liefert. The centuries-long relationship between Russia and the lands and peoples of the eastern coast of the Baltic Sea is marked by deeper currents than can be accounted for in still widely held views of this past which stress inevitable conflict. In this book, scholars from six countries analyze the Russian-Baltic experience from the 16th to the 20th century. The more complex picture of this entangled history which emerges from this volume points to new avenues of research on the past of the shared RussianBaltic neighbourhood. 2012. XIV, 423 S. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20671-0

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WILLIAM M. JOHNSTON

ZUR KULTURGESCHICHTE ÖSTERREICHS UND UNGARNS 1890–1938 AUF DER SUCHE NACH VERBORGENEN GEMEINSAMKEITEN AUS DEM ENGLISCHEN VON OTMAR BINDER (STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG, BAND 110)

Österreich und Ungarn generierten nicht nur nationale Kulturen, sondern auch eine bisher unterbewertete „Reichskultur“, die ihren Niederschlag in Literatur, Operette, Architektur, Design und Psychoanalyse fand. William M. Johnston bietet anhand seiner profunden Recherche literarischer Quellen eine neue Sichtweise auf die Zeit der Doppelmonarchie und deren Nachfolgestaaten. Auf bauend auf seinen Standardwerken Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte und Der österreichische Mensch untersucht William M. Johnston in seinem neuen Werk Denkmodelle, die die kulturelle Konkurrenz zwischen Wien und Budapest in der Spätphase der Doppelmonarchie beleuchten. Er bedient sich dazu neuer Leitbegriffe, die entweder noch weitgehend unbekannt sind (Virgil Nemoianus „mitteleuropäische Lernethik“, Peter Weibels „dritte Kultur der Wissenschaft als Kunst“) oder die, wie das „Unklassifi zierbare“, neu konzipiert wurden. Gemeinplätze wie „Wien 1900“ oder „Budapest 1905“ werden aus drei Blickwinkeln untersucht: dem österreichischen, dem ungarischen und jenem der Doppelmonarchie. 2015. 328 S. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-79541-4

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