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German Pages 212 Year 2019
Katharina Kretzschmar Identitäten im Konflikt
Histoire | Band 154
Katharina Kretzschmar, Historikerin und Philologin, arbeitet in den Museen Tempelhof-Schöneberg Berlin. Sie promovierte in Geschichte bei Wolfgang Benz und Nina Baur an der TU Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Erinnerungsformen und -prozesse, Biografieforschung und methodisch die Oral History mit einem Fokus auf die deutsche Zeitgeschichte und den Nahen Osten.
Katharina Kretzschmar
Identitäten im Konflikt Palästinensische Erinnerung an die Nakba 1948 und deren Wirkung auf die dritte Generation Vorwort von Wolfgang Benz
Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2018
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Vorderseite: Katharina Kretzschmar, Nablus, Palästinensische Autonomiegebiete, 2016; Rückseite: Katharina Bolle, Nablus, Palästinensische Autonomiegebiete, 2012 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4787-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4787-1 https://doi.org/10.14361/9783839447871 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 7 Vorwort von Wolfgang Benz | 11 Die Nakba und ihr Gegenwartsbezug | 17
Einleitung | 17 Al Nakba 1948 | 19 Debatten der Geschichtswissenschaft in Israel | 30 Forschungsstand | 37 Erinnerung und Identität | 45
Oral History | 45 Gedächtniskategorien | 50 Identitätsbegriffe | 55 Biografische Identität | 60 Palästinensische Identität | 62 Das problemzentrierte Interview zur Rekonstruktion individueller Erfahrungsräume | 65 Beschreibung der Interviews | 65
Methodisches Vorgehen | 69 Die Nakba und ihr Einfluss auf die dritte Generation | 75
Einleitung | 75 Bedrohte Identität | 82 Umgang mit der Vergangenheit/Bedeutung der Orte | 103
Pflichtgefühl und Zerrissenheit | 122 Persönliche Veränderungen und Konflikte | 132 Diskriminierung und Ohnmachtserfahrungen | 136 Leid und Leiden | 144 Palästinensische Identitätskonstruktion | 164 „Wenn du nicht brav bist, dann erleben wir eine zweite Nakba“ | 181 Anhang | 197 Literatur | 203
Danksagung
Bei der Promotion habe ich Unterstützung aus meinem beruflichen und persönlichen Umfeld erhalten. Diesen Personen möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen: Herzlich danke ich zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Benz. Wolfgang Benz kannte ich bis zum Besuch seiner Sprechstunde im Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin aus der Fachlektüre und den Medien. Ich erinnere mich noch gut an das erste Gespräch über mein Forschungsvorhaben, wie interessiert er dem Thema begegnete, mir die Betreuung der Dissertation anbot und damit auch den entscheidenden Impuls gab, das Vorhaben zu realisieren. In den vielen folgenden ausführlichen Gesprächen, für die er immer die nötige Zeit fand, konnte ich auf sein inhaltliches Interesse, sein umfassendes Wissen und auf seine Unterstützung zählen. Auch Fernreisen hielten ihn nicht davon ab, mir die vereinbarte Rückmeldung zukommen zu lassen. Seine Art der Vortragsweise und damit Geschichte(n) zu vermitteln, beeindruckt mich. Wolfgang Benz gehört meines Erachtens zu jenen Vertretern der Wissenschaft, die trotz ihres Erfolgs und ihrer Popularität ohne Dünkel auftreten, dem wissenschaftlichen Nachwuchs mit ehrlichem Interesse begegnen und deren fachliche Neugierde unvermindert scheint. Diese Eigenschaften sind nicht selbstverständlich und mir ein Vorbild.
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Ebenfalls herzlich bedanke ich mich bei meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Nina Baur. Aufgrund einer Empfehlung besuchte ich das von ihr veranstaltete Forschungs-Colloquium am Institut für Soziologie der TU Berlin und war beeindruckt, in welch konstruktiver und respektvoller Atmosphäre hier die jeweiligen Forschungsvorhaben vorgestellt und diskutiert wurden. Für das interdisziplinäre Dissertationsvorhaben war ihre Zweitbetreuung ein Geschenk, und die regelmäßigen intensiven Gespräche bestärkten und förderten mein methodisches Vorgehen. Ihre Begeisterung für die Forschung ist so anhaltend wie mitreißend, nach den Gesprächen kehrte ich immer motiviert an den Schreibtisch zurück. Danken möchte ich Frau Dr. Elke Scherstjanoi vom Institut für Zeitgeschichte, die von Beginn an interessiert die Entwicklung meiner Arbeit begleitete und mich auch in schwierigen Phasen immer wieder in der Entscheidung für dieses Thema bestärkte. Ebenfalls gilt mein Dank Prof. Dr. Andreas Kaplony von der Ludwig-Maximilian-Universität in München, der mir den Kontakt zum Institut für den Nahen und Mittleren Osten und damit einen willkommenen Austausch bot. Außerdem bedanke ich mich bei Dr. Peter Widmann, der sich kurzfristig als Drittgutachter zur Verfügung stellte und die wissenschaftliche Aussprache mit seiner politikwissenschaftlichen Perspektive bereicherte. Frau Prof. Dr. Kirsten Lehmkuhl vom Institut für Erziehungswissenschaft der TU Berlin gilt mein Dank auch dafür, dass sie in ihrer Rolle als Prüfungsvorsitzende das Disputationsverfahren mit ihrer Freundlichkeit und die Diskussion mit wiederum ihrer spezifischen Fachkenntnis bereicherte. Mein umfassender Dank gilt auch meinem persönlichen Umfeld für die Unterstützung und Präsenz in den manchmal zähen Phasen der Dissertation: Julie Baumann und Kirsten Bahr vor allem für das regelmäßige Kopfgeraderücken, Judith Lanzke, Anina Engelhardt und Philipp Marx u.a. für die interessierten Gespräche und offenen Ohren, Katharina Bolle auch für die Reisebegleitungen und Yousef Shehada für ausführliche Diskussionen auch über sprachliche Rätsel. Ihsan Salem Dawoud und Khaled Hamadi danke ich vor allem für ihre Offenheit
Danksagung | 9
und das Vertrauen, dass sie mir in unseren Gesprächen entgegenbringen. Malte Noß und Sinah Marx danke ich auch für Lektorat, Korrektorat und den unermüdlichen Einsatz am Format. Abschließend danke ich herzlich Renate Kretzschmar und Helmut Brenner für den unerschütterlichen Glauben in die Fähigkeiten ihrer Tochter, ihr Verständnis für die Höhen und auch Tiefen der Dissertationsphase und nicht zuletzt auch für das anhaltende inhaltliche Interesse. Die Gespräche mit ihnen haben mir auch aufgrund ihrer Lebensund Berufserfahrung immer wieder gutgetan. Ihre Sicht auf den Menschen, die Bedeutung, die sie Erfahrung und Biografie beimessen und auch der Relevanz des Zuhörens, haben mich in meiner Sicht- und Arbeitsweise geprägt. Ihnen beiden widme ich die Arbeit.
Vorwort von Wolfgang Benz
In den Konversationslexika, die bis zur Jahrtausendwende das zentrale Informationsmedium des gebildeten Bürgers bildeten, sucht man den Begriff Nakba vergebens. Das arabische Wort ist aber auch im digitalen Zeitalter, mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Ereignis, nur wenigen geläufig. Es bedeutet Katastrophe oder Unglück und bezeichnet die Entwurzelung von etwa 700000 arabischen Bewohnern Palästinas, die 1947/48 durch Flucht und Vertreibung Heimat und Besitz verloren. Palästina war durch den Zerfall des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg vom Völkerbund unter britisches Mandat gestellt worden. Die UNO, 1945 als Nachfolgeorganisation des Völkerbunds gegründet, beschloss im November 1947 die Teilung des Territoriums in einen jüdischen und einen palästinensisch-arabischen Staat. Die arabische Seite verwarf diese Möglichkeit. Unmittelbare Folge war ein jüdisch-arabischer Bürgerkrieg, dem nach der Unabhängigkeitserklärung Israels der Krieg der arabischen Nachbarn Ägypten, Irak, Syrien, Libanon, Jordanien gegen den neuen Staat folgte. Die Araber waren nicht bereit, die Zweistaatenlösung und damit Israel zu akzeptieren, Israel war nach seinem Sieg nicht mehr besonders interessiert, blieb aber gegenüber dem arabischen Anspruch auf ganz Palästina in Abwehr, das Sicherheitsinteresse des jungen Staates wurde Staatsräson.
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Dem israelischen Nationalfeiertag, mit dem am 14. Mai die Unabhängigkeit zelebriert wird, ist das Gedenken der Palästinenser an die Nakba am 15. Mai entgegengestellt. Seit 2002 versucht der Verein Zochrot („Erinnern“) der jüdischen Bevölkerung Israels die Bedeutung der Nakba zu vermitteln, andererseits verbot das Ministerium für Kultur den Gebrauch des Wortes Nakba in arabischsprachigen Schulbüchern Israels. Im März 2011 verabschiedete die Knesset ein umstrittenes Gesetz, das zwar nicht Gedenkveranstaltungen an die Nakba untersagt, aber die Möglichkeit bietet, deren Organisation zu bestrafen. Der „Marsch der Rückkehr“ wird alljährlich zur Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser veranstaltet. Ende März 2018 demonstrierten sie anlässlich der Vertreibung aus ihren Siedlungen vor 70 Jahren. Die israelische Armee versuchte mit ihrem Vorgehen, die Erinnerung an die Nakba, an das Leid der Palästinenser anlässlich der Gründung des Staates Israel 1948, zu unterbinden. Sie bewirkte damit eher das Gegenteil. Die Konfrontation der Erinnerungskollektive, des jüdischen, das mit der Staatsgründung triumphiert und des arabischen, das generationsübergreifend das Leid der Entwurzelung, des Exils oder der Diskriminierung kultiviert, sind der Welt Ostern 2018 drastisch vor Augen geführt worden. Viele Tote und Verletzte sind zu beklagen. Das arabische Wort Nakba bedeutet „Katastrophe“ und korrespondiert mit dem hebräischen Terminus „Shoah“ für die Tragödie des Völkermords an den Juden; beide Termini stehen für individuelle und kollektive Traumata, wobei das palästinensische Unglück im Gegensatz zum jüdischen aber erstens nicht im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit präsent ist und zweitens nur als kollektive Leidensgeschichte erinnert werden kann, die ausschließlich für Heimatverlust, Diaspora und PariaExistenz steht, während das Leid der Juden in der Staatsgründung wenigstens ein (auch von Nichtbetroffenen erkanntes und überwiegend begrüßtes) politisches Bewusstsein zu Gunsten der Juden bewirkt hat. Eine Ausstellung, von jüdischer, israelischer, palästinensischer Seite, von kirchlichen Würdenträgern, prominenten Wissenschaftlern, Menschenrechtsaktivisten und Politikern unterstützt, die ohne Anklage
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das historische Ereignis und seine humanitären Folgen thematisiert, muss gegen den Vorwurf der Parteinahme contra Israel (die gern mit dem Verdikt Antisemitismus gleichgesetzt wird) verteidigt werden. Der Philosoph Ernst Tugendhat nannte zur Eröffnung 2010 die noch heute diskutierte Wanderausstellung „Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“ einen mutigen Beitrag „zur Entkrampfung im Verhältnis der Deutschen zu Israel und damit zu uns Juden überhaupt“. Israel sei in seiner international isolierten Lage wirklicher Freunde bedürftig, „nicht solcher, die ihm aus Philosemitismus nach dem Munde reden“. Das Zitat beleuchtet die Tabuzonen, die man oder frau betreten, wenn sie sich mit dem Nahostkonflikt, dessen Ursachen und Wirkungen im menschlichen Alltag und den Perspektiven einer friedlichen Lösung beschäftigen, ohne Partei zu ergreifen und sich bedingungsloser Parteinahme durch Anklage und Schuldzuweisung zu unterwerfen. Katharina Kretzschmar will Identitätskonflikte junger Palästinenser ergründen helfen, die, im Ausland studierend, als zukünftige Elite den erinnerungsstiftenden Delegationsauftrag der Väter und Großväter vor dem Hintergrund eigener Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrung reflektieren. Es geht um das Selbstverständnis junger Palästinenser, die sich aus der Spannung zwischen ihrer Herkunft und der Abwesenheit von der Heimat im Blick auf die politischen Konflikte in der Heimatregion und die persönlichen Perspektiven nach der Rückkehr ergeben. Die Problematik als Ergebnis von Herkunft, Generationenauftrag, Wahrnehmung der Realität, Karrierewünschen und Zukunftsperspektiven sowie daraus resultierendem Rechtfertigungsdruck gegenüber Eltern und Großeltern kommt in Gesprächen mit der Autorin dieses Buches deutlich zum Ausdruck. Die gesellschaftliche Relevanz der Arbeit ist ebenso hoch zu bewerten wie ihre wissenschaftliche Validität als Fallstudie zur intellektuellen Problematik von Vertreibung, Zuwanderung und Integration. Die Studie öffnet den Blick auf die Situation einer schwierigen Personengruppe und gleichzeitig auf das Gast- bzw. Aufnahmeland und ist
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deshalb auch aus Sicht der Vorurteilsforschung notwendig und willkommen. Mit 14 Personen aus Palästina im Alter zwischen 24 und 42 Jahren, die in Deutschland studiert haben, wurden Interviews geführt, die eine dichte Materialgrundlage zum Studium der Identitätsprobleme der dritten Generation nach der Nakba bieten. Nach Herkunft und Mentalität unterschieden sind Palästinenser israelischer Staatsangehörigkeit, Bewohner des Gazastreifens und der Westbank. In sieben Kapiteln werden Erfahrung, Lebensgefühl, Zerrissenheit, Pflichtbewusstsein, Leid und Stolz als Bestandteile palästinensischer Identitätskonstruktionen ebenso einfühlsam wie analytisch präzise dargestellt. Der Verfasserin gelingt es, die Probanden in ausführlicher Erzählung zu Wort kommen zu lassen, ihre Aussagen analysierend zu kommentieren und daraus ein eindringliches Bild zu zeichnen, das jenseits des starren Imperativs vom kulturellen und kommunikativen Gedächtnis die alltägliche Wirkung von katastrophaler Historie und deren Konsequenzen für die emotionale Befindlichkeit dreier Generationen von Menschen prägt: Das Leid der Vertreibung aus der Heimat, des Verlustes von Besitz und Status, der Tilgung aller Spuren arabischen Lebens und die erzwungene Paria-Existenz als Bürger zweiter Klasse in Israel, als Flüchtling im Exil und in ewiger und bedrohter Lagerexistenz im Gazastreifen und auf der Westbank bestimmen, von der Weltöffentlichkeit weithin ignoriert, das Lebensgefühl der Palästinenser. Das Plädoyer des deutschen jüdischen Gelehrten Tugendhat, mit dem er die vorurteilslose Beschäftigung mit der Nakba anmahnt, wird noch lange gültig bleiben: „Frieden, wirklicher Frieden, wäre nicht schon durch die Zweistaatenlösung zu erreichen, sondern nur durch die gegenseitige Anerkennung der beiden Bevölkerungen in ihren Rechten und als Gleiche: die Grundlage von Moral und Recht und so auch des Friedens. Bisher gibt es nur sehr vereinzelt Verständigungsversuche in kleinen Gruppen, die jedoch zeigen, was wir auch sonst wissen, dass, wenn Menschen sich wechselseitig in ihrer Gleichheit als Menschen erfahren, dies zu einem Gefühl von Glück führen kann, und sie zeigen auch, dass beide Bevölkerungen durchaus die Fähigkeit haben, aufei-
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nander zuzugehen. So schwer vorstellbar also eine Verständigung im Ganzen erscheinen mag, sie ist nicht undenkbar, man kann und muss auf sie setzen, eine andere sinnvolle Option gibt es nicht.“ Dieses Buch leistet dazu einen notwendigen wissenschaftlichen Beitrag.
Die Nakba und ihr Gegenwartsbezug
EINLEITUNG „Auf etwas, das ist, hat die Erinnerung kein Anrecht. […] Die neuen Gegenwarten entscheiden, richten über die Vergangenheit, die niemals identisch sein kann mit der einstigen Gegenwart. Solange die Vergangenheit noch Gegenwart war, war sie durchwirkt von Zukunftserwartungen. Diese Zukunft der vergangenen Gegenwart aber ist das erste, das vergeht.“1
Diese Definition des Verhältnisses von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, die Aleida Assmann in der Einleitung zu ihrem Buch Geschichte im Gedächtnis formuliert, setzt klare Zeitkategorien und deren Abgrenzung voneinander anhand ihrer jeweiligen Abgeschlossenheit voraus. Die eine Zeiteinheit endet mit dem Beginn der nächsten, und dem Wechsel der Zeiten passen sich auch die menschlichen Bewusstseinswelten an: Die Einschätzung der Gegenwart, die Erwartungen an die Zukunft, das tatsächlich Gegenwärtige und der Blick auf die Vergangenheit.
1
Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 7.
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Was aber, wenn wie im Falle der palästinensischen Nakba2 diese Definition nicht mehr adäquat erscheint? Innerhalb der arabischen Gesellschaften fest etabliert, umfasst der Begriff, „der nicht nur das unmittelbare Kriegsgeschehen [1948] konnotiert, sondern auch dessen Auswirkungen auf Individuen und Kollektiv“,3 die Geschehnisse 1948 aber auch die aktuelle Situation der Palästinenser ausgehend von dieser Stunde Null bis in die Gegenwart. Was also, wenn die Gegenwart der Katastrophe im Bewusstsein der Menschen nicht endet, die Vergangenheit ihren kognitiven gegenwärtigen Status nicht aufzugeben bereit ist? Dann bleiben auch die einstigen Zukunftserwartungen bestehen, sie werden unerfüllt und konserviert von einer Generation an die nächste – gleich einem FamilienErbstück – weitergereicht. Aus diesen Gründen sollte eher von Zeitebenen ausgegangen werden, die sich variabel überlagern, ineinandergreifen und aufeinander wirken können, deren Grenzen beweglich sind und die nicht nur neben- bzw. nacheinander bestehen können. Denn wird die Nakba als unabgeschlossen empfunden, kann sie nicht enden und vergangen sein, vergehen die mit ihr verknüpften Erfahrungen so wenig wie die einstigen Zukunftserwartungen. Vielmehr werden sie weitergegeben, durch die gegenwärtigen Zustände aktualisiert und mit mächtigem, wenn auch nicht immer klar definiertem Auftrag an die folgenden Generationen verbunden. Die Nakba ist, als andauernde Katastrophe, integraler Bestandteil des kollektiven palästinensischen Gedächtnisses und damit auch der palästinensischen Identität. Der Terminus Al Nakba fungiert darüber hinaus „auch als demografische Klassifikation, indem Generationen als Nak-
2
Das Wort Nakba bedeutet auf Arabisch „Katastrophe“ und verkörpert die palästinensische/arabische Sicht auf die Situation der Palästinenser im Jahr 1948 aufgrund des arabisch-israelischen Konflikts.
3
Damir-Geilsdorf, Sabine: Die Nakba erinnern. Palästinensische Narrative des ersten arabisch-israelischen Krieges, Wiesbaden 2008, S. 4.
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ba-Generation bzw. als Nach-Nakba-Generation bezeichnet werden.“4 Die Nakba „verbindet sämtliche Palästinenser an einem bestimmten Punkt in der Zeit, der in ihren Augen zur ‚nicht verschwindenden Gegenwart‘ wurde“.5 Die Unrechtserfahrung, der Verlust und die unerfüllten Forderungen nach Anerkennung, Entschädigung, Rückgabe und Rückkehrrecht sind im palästinensischen Bewusstsein verankert, und die Unendlichkeit dieses Status Quo überdauert die Generationen, wie diese Untersuchung zeigen wird. Sie widmet sich der sogenannten dritten Generation, das meint die erste Generation, die die Nakba und die unmittelbaren Jahre danach nicht selbst erlebt hat. Die Interviewpartner der Studie gehören allesamt dieser Generation an, die meisten von ihnen kamen in jungen Jahren nach Deutschland, um hier zu studieren. Der Großteil absolvierte ein Medizinstudium, und die Altersspanne der Interviewpartner umfasste bei der Erhebung das Alter von 25-42 Jahre. Welchen Einfluss das intergenerationelle Erzählen über die Nakba auf das Identitätskonstrukt und die Selbstverortung der Nachkommen hat, welchen Einfluss die geerbten Erinnerungen und manchmal auch traumatischen Erfahrungen auf die Lebensplanung und das Selbstbild der sogenannten dritten Generation haben, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. Die aus diesem Erbe entstehenden Konflikte vor dem Hintergrund des Auslandsaufenthalts und des andauernden Nahostkonflikts sowie die individuellen Lösungsstrategien sind Gegenstand der Untersuchung.
AL NAKBA 1948 Auch wenn sich das kollektive palästinensische Gedächtnis auf die Nakba im Jahr 1948 als Schlüsselereignis fokussiert, war sie nicht der
4
Ebd.
5
Sa’di, Ahmad H. zitiert von Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 5.
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eigentliche Anfangspunkt des andauernden Konflikts zwischen Palästinensern und Juden in Palästina bzw. Israel. Bereits unter britischem Mandat (1920-1948) begannen die zunehmend gewaltsamen Auseinandersetzungen um das Land, das mit einer Größe vergleichbar mit dem Bundesland Hessen und einer Einwohnerzahl (Israel, Westbank und Gazastreifen) von rund 12 Mio. Menschen deutlich kleiner ist, als es seine vielfältige Natur, seine Klimazonen, seine heterogene Gesellschaft und auch die Intensität und Dauer seines Konflikts vermuten ließen. Die jüdische Einwanderung nach Palästina begann bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund des sich vor allem im östlichen Europa in zunehmenden und in offeneren Übergriffen äußernden Antisemitismus entstand der Wunsch nach einem jüdischen Staat anstelle weiterer forcierter Assimilierungsbemühungen im damaligen Europa.6 Theodor Herzl, der wohl bekannteste Vertreter der Idee eines jüdischen Staates, verfasste 1896 seine Schrift Der Judenstaat7. In Palästina lebten im Jahr 1882 rund 450000 Araber und 15000 Juden.8 Auch aufgrund der osmanischen Unterstützung Deutschlands im Ersten Weltkrieg lag dessen alliierten Kriegsgegnern daran, das Osmanische Reich zu schwächen, und sie forcierten das auch über seine Gebiete im Nahen Osten. Deshalb ermunterten die Alliierten zum einen die Araber zu einem Aufstand gegen das Osmanische Reich und versprachen dafür Unterstützung für ein unabhängiges arabisches Königreich, zum anderen wurde aber in der Balfour-Erklärung von 1917 auch den Zionisten eine „nationale Heimstätte“ in Palästina versprochen.9
6
Asseburg, Muriel/Busse, Jan: Der Nahostkonflikt, Geschichte, Positionen,
7
Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Ju-
Perspektiven, München 2016, S. 16. denfrage, Wien, Leipzig 1896. 8
Asseburg/Busse: Nahostkonflikt, S. 17.
9
Ebd.
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Im Jahre 1920 wurde Palästina britisches Mandatsgebiet. Die Konflikte sowohl zwischen den Bewohnern des Landes und der britischen Verwaltung als auch zwischen ansässiger arabischer und migrierender jüdischer Bevölkerung nahmen vor diesem Erwartungshintergrund weiter zu, bis sie im ersten arabisch-israelischen Krieg ihren ersten Höhepunkt fanden. Die Geschehnisse von 1948, als im Zuge des Krieges und der daran anschließenden Staatsgründung Israels um die 750000 Palästinenser10 aus ihren Dörfern vertrieben wurden oder vor der Gewalt flüchteten, markieren bis heute den Konfliktpunkt zwischen Juden und Palästinensern im palästinensischen kollektiven Bewusstsein. Bereits die unterschiedlichen Bewertungen, ob von geflüchteten oder vertriebenen Palästinensern zu sprechen ist und die divergierenden Angaben zu den Zahlen verdeutlichen die konträren Interpretationen und Positionen im Konflikt. Die Vertreibung oder die notwendig anmutende Flucht aus den Dörfern, mit der die Menschen nicht gerechnet hatten, der damit einhergehende plötzliche Verlust der Heimat, die Gewalt, mit der vorgegangen wurde, und die für viele Palästinenser bis heute unmögliche Rückkehr, produzierten ein kollektives Trauma, das bis heute seine Bedeutung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft(en)11 kaum eingebüßt hat. Viele Betroffene rechneten zunächst damit, nach ein paar Wochen in ihre Häuser zurückkehren zu können, aber nur einem
10 Die Zahlen zu den 1948 vertriebenen bzw. geflüchteten Palästinensern divergieren je nach Partei des Konflikts zwischen 400000 und 1,2 Mio., wie Sabine Damir-Geilsdorf untersucht und nebeneinandergestellt hat. Die UNO geht von 750000 aus. Nachzulesen in: Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 79 und S. 169. 11 Von der einen palästinensischen Gesellschaft zu sprechen mutet aufgrund der Fragmentierung der Palästinenser und ihren zum Teil gänzlich unterschiedlichen Lebenssituationen schwierig an. Dennoch umfasst und verbindet der Diskurs über die Nakba die Palästinenser innerhalb Israels, der Westbank und des Gazastreifens und im Exil und so wird auch hier der Begriff der palästinensischen Gesellschaft verwendet.
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Bruchteil gelang die heimliche Rückkehr. So leben heute im Ausland in den Flüchtlingslagern, die längst zu Stadtvierteln oder Städten in den umliegenden arabischen Ländern geworden sind, um die 4,5 Mio. Palästinenser.12 Auch die ausbleibende und unzureichende Unterstützung durch die anderen arabischen Länder hat sich im kollektiven palästinensischen Bewusstsein nachhaltig festgesetzt. Der Sechstagekrieg im Jahr 1967, bei dem Israel für die arabische Welt überraschend in kurzer Zeit den Kampf gegen Ägypten, Syrien und Jordanien gewann und Gebiete im Sinai, das Westjordanland, den Gazastreifen und die Golanhöhen eroberte, ging als An Naksa (arabisch = der Rückschlag) und für die Palästinenser als tiefsitzende Enttäuschung in die Geschichte ein. Eine Redewendung, die man innerhalb der palästinensischen Gesellschaft ob utopischer Ideen oder absurder Hoffnungen noch heute anwendet, lautet deshalb: „Dann warte/setz doch gleich auf die arabischen Armeen!“ (! ا ا )اund veranschaulicht, wie sehr das Gefühl, von den arabischen Ländern im Stich gelassen worden zu sein, im kollektiven palästinensischen Bewusstsein verankert ist. Die Frage nach dem Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge ist nach wie vor ein wesentlicher Streitpunkt im palästinensischisraelischen Konflikt, Hürde eines jeden Lösungsansatzes und verbindet im palästinensischen Bewusstsein die Nakba mit der gegenwärtigen Situation. Für die Palästinenser ist sie eine Kernfrage und Voraussetzung für mögliche Lösungsmodelle im Konflikt. Für die israelische Regierung ist die Vorstellung, die heutige Anzahl der Nachkommen der Flüchtlinge von 1948 aufzunehmen, undenkbar. Das palästinensisch-israelische Kräfteverhältnis anhand der Bevölkerungszahl spielt bei dieser Problematik sicher eine wesentliche Rolle: Israel hat derzeit 8,5 Mio. Einwohner, davon sind ca. 20 Prozent palästinensisch-stämmig oder auch arabische Israelis. Die Interviewteilnehmer aus Israel definieren sich selbst als Palästinenser, aus diesem Grund werden sie in
12 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 3.
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der Arbeit auch als Palästinenser bezeichnet. Geht man von dieser Haltung aus, würde sich auch der Großteil der arabischen Israelis als Palästinenser definieren. Im Falle einer möglichen Wahl für oder gegen eine palästinensische Nationalität innerhalb Israels wäre von einer starken Entscheidung für diese auszugehen, was das Bevölkerungsverhältnis maßgeblich beeinflussen würde. Mit der Zahl der potentiellen Heimkehrer aus den umliegenden Ländern wäre die Anzahl der Palästinenser innerhalb Israels bei fast 4,5 Mio. Nähme man dann – im Hinblick auf eine mögliche Einstaatenlösung – die Bewohner des Gazastreifens und der Westbank in die grobe Rechnung auf, käme man auf ein Verhältnis von rund 6,1 Mio. Palästinensern (inkl. der palästinensischen Israelis) zu 6,8 Mio. jüdischen Israelis. Das würde das Kräfteverhältnis massiv verändern, und das hätte entscheidenden Einfluss auf die innenpolitische Situation in dem möglichen zukünftigen Staat. Der Palästinenser Zidane, der in Israel geboren wurde, beschreibt in seinem Interview seine Einschätzung einer starken Motivation potentieller Rückkehrer, auch wenn von diesen schon nunmehr drei Generationen im Ausland geboren sind: „Ich kann dir sagen, ich kenn mindestens 20-30 Familien, die Milliarden ablehnen würden. Sie wollen einfach zurückkommen, sie wollen einfach.“ Ein weiteres problematisches Feld des Konflikts sind die Ansprüche, die palästinensische Familien anhand von Dokumenten aus osmanischer- oder Mandatszeit auf ihren ursprünglichen Besitz nach wie vor geltend machen wollen. Die israelische Regierung erkennt diese Urkunden häufig nur im Falle der Bereitschaft zum Verkauf des Grundstücks an, wie oft in den Interviews berichtet wurde. Da viele ehemalige palästinensische Dörfer außerdem nicht mehr existieren, die Ruinen beseitigt wurden, und das Land inzwischen neu bebaut oder bepflanzt wurde, oder noch bestehende Häuser in Städten wie Jerusalem oder Jaffa an jüdische Besitzer verkauft wurden, ist auch diese Frage nach Besitz oder Entschädigung ein wunder Punkt, der einem Abschluss, einer Ver- oder Aufarbeitung der Nakba massiv entgegenwirkt. Die alten
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Schlüssel der ehemaligen Häuser sind eines der wirkmächtigsten Symbole des palästinensischen Widerstands. Sucht man über Google den Begriff Nakba und klickt auf Bilder, so erscheinen viele Darstellungen und Fotos von den aufbewahrten Hausschlüsseln, oft kombiniert mit alten Palästinensern mit Kufiya, die die alte Zeit und das Nicht-Vergessen repräsentieren. Auch das Motiv einer alten verwitterten Hand und einer kleinen Kinderhand, die beide den großen Schlüssel umfasst halten, portraitiert emotional die Erinnerung an das erlittene Unrecht und gleichzeitig auch die Weitergabe dieser Erfahrung von der Nakba-Generation an die dritte, vierte oder fünfte nachfolgende Generation. Diese Symbolik ist bereits Hinweis auf die Bedeutung der Tradierung und Konservierung der Erinnerungen in der palästinensischen Gesellschaft und deren Einfluss und Wirkung auf die nachfolgende Generation. „Die Katastrophe ist lebendig. Auch wenn man es objektiv betrachtet, sie hat so viele Konsequenzen bis heute“, sagt Zidane aus dem Norden Israels, einer der Interviewpartner. Und auch Yassin aus dem Gazastreifen, dessen Familie selbst nicht vertrieben wurde, aufgrund der Situation im Gazastreifen aber stark von den Konsequenzen aus dem Konflikt betroffen ist, betont die Aktualität der Nakba und auch gleichzeitig das kollektive Moment dieser Erfahrung: „Obwohl man [selbst] nicht vertrieben wurde, […] ist es auch ein Teil deiner persönlichen Geschichte, weil du triffst den, weil der auch vertrieben wurde, seine Familie vertrieben wurde und ich bin hier weil… ne?“ Das Narrativ Nakba bezeichnet also nicht nur das konkrete Geschehen aus dem Jahr 1948, sondern umfasst die Konsequenzen aus der „Katastrophe“, die bis heute andauern und damit auch die Nakba lebendig halten. Dieses Andauern der Nakba resultiert zum einen aus den tatsächlich offenen Fragen und ungelösten Konflikten, zum anderen ist diese Unabgeschlossenheit oder auch „eternal present“13 von den Be-
13 Sa’di, Ahmad H. zitiert von Masalha, Nur: The Palestine Nakba. Decolonizing History, Narrating the Subaltern, Reclaiming Memory, London 2012, S. 206.
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troffenen forciert, da sie als Element des Widerstands gegen den Status Quo zu verstehen ist. Darüber hinaus verbindet die Erinnerung an die Nakba auch die Palästinenser über die Grenzen Israels, Palästinas hinaus, „the Nakba remains a key site of Palestinian collective consciousness and the single most event that connects all Palestinians to a specific point in time.“14 Das Nicht-Akzeptieren des Ist-Zustands ist Teil einer Haltung die mit Summud umschrieben wird. Summud (د ) bedeutet auf Arabisch Standhalten, Ausharren und verkörpert die Haltung der Palästinenser nach 1948 im Sinne eines anhaltenden passiven Widerstands gegen das Vorgehen israelischer Politik seit der Staatsgründung.15 Für die sogenannten 48er, das meint die Palästinenser, die während der Nakba (1948) nicht aus dem heutigen Israel vertrieben wurden oder denen es gelang, in ihre Dörfer zurückzukehren und die heute israelische Staatsbürger sind16, ist die Haltung des Summud oft problematisch. Das Prinzip des Summud bedingt auch eine Nicht-Partizipation an den Prozessen, die Israel als demokratischen Staat kennzeichnen und legitimieren, wie zum Beispiel die Wahlen der Knesset-Abgeordneten und der Regierung. Die Frage, ob die 48er als Staatsbürger Israels von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, auf diesem Wege versuchen, die Politik mitzugestalten, damit gleichzeitig aber auch Israel als Demokratie und staatlich existent annehmen, kann zu Konflikten innerhalb von Familien oder innerhalb der Generationen führen. Die Wahlen zu verweigern, bedeutet im Gegenzug, die für die 48er einzige Möglichkeit aufzugeben, der alltäglichen Diskriminierung und der Un-
14 Masalha: Palestine Nakba, London 2012, S. 208. 15 د
= Summud, näher definiert unter dem Begriff: steadfastness in:
Masalha: Palestine Nakba, S. 210. 16 Sie gelten offiziell als Israelis, werden auch Israeli Arabs oder arabische Israelis genannt. Da sich die Interviewpartner der vorliegenden Arbeit selbst aber ganz klar als Palästinenser bezeichneten, wird im Folgenden von 48ern oder Palästinensern in Israel gesprochen.
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gleichheit im Land zu begegnen oder auch Einfluss auf die israelische Politik in Gaza und der Westbank zu nehmen. Den 48ern wurde vom arabischen Ausland und auch von den Palästinensern außerhalb Israels lange mit Misstrauen begegnet. Sie galten als Verräter der Kadya filastin ( ا )ا,17 damit der kollektiven palästinensischen Interessen und als kollaborierende Nutznießer des israelischen Staates. Diese Vorurteile konnten sich lange halten, was auch darin begründet liegt, dass israelische Staatsbürger und somit auch die 48er bereits seit 1948 in 16 arabische Länder nicht einreisen dürfen18 und von 1948 bis zum Sechstagekrieg im Jahre 1967 kein Kontakt zwischen Israelis (auch den 48ern) und den Bewohnern der Westbank und des Gazastreifens bestand19 und so kein persönlicher Austausch möglich war. Durch die Eroberung der Westbank und des Gazastreifens wurde es den 48ern und den übrigen Palästinensern möglich, sich zu besuchen und auch zu solidarisieren, was sich an der Unterstützung der Intifada 1987 durch die 48er deutlich zeigte. Durch das Aufkommen und die Entwicklung der digitalen sozialen Netzwerke und der Kommunikationstechnik insgesamt sind seitdem zusätzlich andere Kontaktmöglichkeiten entstanden. Die Interviewpartner aus Israel
17 Al Kadya filastin bedeutet auf Arabisch „die palästinensische Angelegenheit“ oder „der Fall Palästina“ und meint damit die Geschichte Palästinas nach der Nakba 1948. Der Begriff wird vor allem von Palästinensern und Arabern verwendet und hat im Gegensatz zum Begriff der Nakba eher sachlichen Charakter. Gleichzeitig transportiert er aber auch alle Facetten des Konflikts und der daraus entstehenden Verpflichtungen und Belange der Palästinenser. 18 Die 16 Länder, die keinen israelischen Pass akzeptieren, sind Algerien, Bangladesch, Brunei, Iran, Irak, Kuwait, Libanon, Libyen, Malaysia, Oman, Pakistan, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Vereinigte Arabische Emirate und Jemen. 19 Kehlman, Herbert C.: The interdependence of Israeli and Palestinian national identities: The role of the other in existential conflicts, Journal of Social Issues, 55 (1999), 3, S. 584.
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betonten darüber hinaus in den Interviews aber die willkommene Möglichkeit, durch das Auslandsstudium andere arabische Studierende kennenlernen, sich mit ihnen austauschen und so die Vorurteile abbauen zu können, was zeigt wie lange sich die Vorurteile halten, wenn auch innerhalb der dritten Generation noch Aufklärungsbedarf besteht. Sohel, ein Interviewpartner aus dem Norden Israels schildert, wie ein palästinensischer Freund aus Israel sich erst das Vertrauen seiner syrischen Nachbarn im Studentenwohnheim erarbeiten musste, sie schließlich in Gesprächen aber von seiner Redlichkeit überzeugen konnte. Und er betont auch an anderer Stelle im Interview die Bedeutung der Möglichkeit, im Ausland das Ansehen der 48er aufzupolieren: „[Es] ist ein Vorteil. Ja. Wir haben sehr gute Freunde auch aus Jemen, das finden wir auch gut. Dass wir auch [ein gutes Bild] zur Welt geben. Wir Palästinenser hier, wenn wir hier mit diesen Leuten zu tun haben. Dass wir auch das erklären, damit es Verständnis so gibt.“ Kritik an den 48ern wurde auch von den Palästinensern aus der Westbank und aus Gaza geübt. Die Konkurrenz um das größte Leid und das vermeintlich wahre Palästinensisch-Sein ist ebenfalls Gegenstand der Untersuchung. Ist die Haltung des Summud vorrangig die der ersten und zweiten Generation, so ist es die dritte Generation, die die empfundene oder tatsächliche Passivität der Vorfahren auch kritisiert. Die Distanzierung von dem Verhalten und auch den Erwartungen der Vorfahren ist mitunter äußerst schwierig, da dieses Bedürfnis nach anderem Vorgehen oder Abgrenzen von dem kollektiven Selbstbild mit einem hohen Maß an Loyalität und verinnerlichter Wertschätzung gegenüber den älteren Verwandten kollidiert. Die älteren Angehörigen der Nakba-Generation und der zweiten Generation setzen das Engagement der nachfolgenden Generationen oft voraus. Dina Matar zitiert eine Angehörige der zweiten Generation, die sich auf das bekannte Zitat von Golda Meir bezieht und kontrastierend dazu das Engagement der nachfolgendenden Generationen entschieden betont: „Golda Meir was once quoted as saying: The old will die and the young will forget. She is absolutely wrong.
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The old will die and the young will not forget.“20 Dieser Ausspruch verdeutlicht die klaren Erwartungen der älteren Generationen an die Übernahme des Erbes durch die nachfolgenden Generationen. Zusätzliche Bedeutung bekommen die Erinnerung an die Nakba und das Vergegenwärtigen der Vergangenheit durch die Tatsache, dass innerhalb Israels nicht öffentlich an die Nakba erinnert werden kann. Zudem ist die palästinensische Katastrophe – repräsentiert durch den Nakba Day am 15. Mai – doch explosiv verknüpft mit dem Feiertag der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948. „The geography of Israel cradles two conflicting histories of 1948, one of a world that ended and one of a state that was born. Two entirely separate collective memories grow out of this landscape, one visible, one erased, and while this imbalance continues it is hard to imagine peace in the land.“21
Eine öffentlich etablierte Gedenk- oder Mahnmalkultur an die Nakba ist in Israel bis heute nicht möglich, Demonstrationen am Nakba-Tag enden oft in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär, unter diesen Umständen scheint eine Verarbeitung der Erlebnisse kaum möglich, verstärkt doch gerade die gewaltsame Reaktion Israels die Haltbarkeit des Nakba-Traumas. Im Jahr 2018 eskalierte die Situation anlässlich der Jahrestage zum 70-jährigen Bestehen Israels und der Erinnerung an die Nakba aufgrund der damit einhergehenden Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem in besonderem Umfang, als es während der Proteste im Gazastreifen am Grenzzaun zu Israel zwischen Protestierenden und israelischen Soldaten zu mehrwöchigen gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Die Zahl der Toten und Verletzten ist die höchste seit dem Gazakrieg 2014 und verdeutlicht die Dimension des Konflikts.
20 Samira Salah zitiert von: Matar, Dina: What it means to be Palestinian. Stories of Palestinian Peoplehood, New York 2011, S. 106. 21 Roberts, Jo: Contested Land, Contested Memory. Israel’s Jews and Arabs and the Ghost of Catastrophe, Toronto 2013, S. 245.
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Die Wirkung der Nakba-Erfahrung greift wegen der beschriebenen Bedingungen viel weiter, als es ihr aufgrund ihrer Beschaffenheit als erinnertes historisches Ereignis und ihres Alters zustände. Das Narrativ prägt die Gegenwart, konserviert die Vergangenheit, begründet den IstZustand, konstituiert ein umfassendes Exil-Gefühl, verbindet die palästinensische Gesellschaft und stiftet kollektive Identität. Das passiert zum einen auf kollektiver/öffentlicher Ebene sowie zum anderen auf der privaten/familiären Ebene. Die tradierten Erfahrungen haben Einfluss auf das palästinensische Selbstbild, als fester und integraler Bestandteil kollektiver Selbstwahrnehmung, aber auch die Identität des Einzelnen ist geprägt von den Schilderungen und Erinnerungen und auch den Erwartungen, die diesem Erbe immanent sind. An diesen einleitenden Sätzen lässt sich bereits erkennen, welche gewaltige Bedeutung und Wirkung der Nakba und vor allem ihrer Erinnerung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zukommen und welche Rolle die Erforschung ihres Einflusses auch für ein Verständnis des Nahostkonflikts hat. Der Einfluss, den dieses Erbe auf die dritte Generation hat, auf ihre persönliche Lebensplanung aber auch auf ihre Entscheidung über Engagement und Loyalität gegenüber der Kadya filastin ist bislang nicht untersucht worden. Der Forschungsgegenstand ist aber von großer Relevanz, ist es doch diese Generation, die die Zukunft des Nahostkonflikts und damit auch des Nahen Ostens mitgestalten wird. Den Anspruch an eine Lösungsfindung kann man ob der aktuellen Situation nur schwer stellen, aber um sich dem Verstehen der Komplexität und Explosivität des andauernden Konflikts zu nähern, ist es sinnvoll, sogar unerlässlich, auch die Bewusstseinsprozesse und Bewegungen zu untersuchen, die die Nakba und ihre immanenten Einflussfaktoren im kollektiven Gedächtnis und Identitätskonstrukt der palästinensischen Gesellschaft haben.
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DEBATTEN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT IN ISRAEL Ein grundlegender Bestandteil des Konflikts ist der Streit um das Recht auf das Land, der über die ursprüngliche Herkunft der Bewohner und damit die Geschichte ausgetragen wird. Deshalb kommt der Erforschung und Interpretation der Vergangenheit und damit auch der Geschichtswissenschaft in Israel eine hohe politische Bedeutung zu. Der Geschichtsunterricht in den Schulen, das allgemeine Bildungsangebot und auch archäologische Studien im Land sind geprägt von dem steten Ringen um die richtige Geschichte, die die Existenz des jeweiligen Konfliktpartners seit Jahrtausenden bezeugt und rechtfertigt, denn der „Nahostkonflikt ist in vielfacher Hinsicht ein Streit um Raum: nicht nur um aktuelle Grenzziehungen und die vergangener Kriege, sondern auch um historische Ansprüche, wem dieser Raum gebührt.“22 Diese Konzentration auf die Ursprünge und Wurzeln steht parallel zu dem Umgang mit der jüngeren Geschichte des Landes bzw. des Staates, bei dem der arabisch-israelische Krieg 1948 im Fokus steht und divergierende Darstellungen der Geschichte provoziert. Anhand unterschiedlicher Zahlen und Schätzungen sollen Verantwortlichkeiten und Ansprüche über den Krieg 1948 geregelt werden: „Die Zahlen [über die Nakba], die in den Geschichtsbüchern angegeben werden, variieren oft gravierend. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass es zur Zeit des Krieges teilweise keine professionellen Zählungen gab, sondern nur verschiedene Schätzungen und nicht wenige palästinensische Historiographien, die die Verlässlichkeit (britischer oder israelischer) Angaben anzweifeln. Solche Differenzen […] zeigen sich vor allem in den Angaben zur Stärke der arabischen Armeen, sowie zur Anzahl der Flüchtlinge und der im Krieg zerstörten palästinensischen Städte und Dörfer.“23
22 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 205. 23 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 78.
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Die Arbeiten der sogenannten neuen Historiker, die die nach 30 Jahren zugänglichen Akten des Israelischen Außenministeriums und des Innenministeriums einsehen konnten,24 zogen deshalb in den 1980er Jahren mit ihren progressiven Ansätzen und Forschungen die konservativen Historiker und deren Darstellung der jüngeren Geschichte in Zweifel. Sie stellten mit ihrer Forschung zum ersten Mal auch die etablierten israelischen Gründungsmythen in Frage: „Up until then, there had been no critical historical analysis in Israel of the 1948 war.“25 Das Infragestellen der bis dahin etablierten Geschichtsforschung durch die jüngere Historikergeneration war deshalb immer auch gesellschaftspolitisch von Bedeutung, und die Debatten fanden einen breiten Niederschlag in den Medien und der Öffentlichkeit. Die neuen Historiker, zu ihren bekanntesten Vertretern gehören Benny Morris und Ilan Pappe, bezogen zum Teil auch palästinensische Perspektiven in ihre Forschung ein und ebenso fanden mündliche Überlieferungen zu dem Kriegsgeschehen 1948 und den Folgen aus der Nakba ihre Aufmerksamkeit. Es folgten nicht nur akademische Debatten. Veröffentlichungen wie Die ethnische Säuberung Palästinas von Ilan Pappe erfuhren allgemeine öffentliche Aufmerksamkeit. Der Großteil der Interviewpartner, unabhängig von grundsätzlichem Leseverhalten, sprach in den Interviews über diese Arbeit, in der Ilan Pappe das Vorgehen der jüdischen Milizen – und nach der Staatsgründung der israelischen Armee – gegen die palästinensische Bevölkerung als geplant, durchstrukturiert und – konfrontativ – als „ethnische Säuberung“ an den Palästinensern deklariert. Neben viel Aufmerksamkeit, Zuspruch oder Kritik, die den neuen Historikern entgegengebracht wurde, kam es auch innerhalb dieser Gruppierung zu Konflikten aufgrund der divergierenden Forschungen und Bewertungen. Ein bekanntes Beispiel des akademischen Konflikts ist der Historikerstreit zwischen Ilan Pappe und Benny Morris, die sich als zwei der prominentesten Vertreter einen medialen Schlagabtausch
24 Roberts: Contested Land, S. 216. 25 Roberts: Contested Land, S. 217.
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lieferten, der die hohe Bedeutung dieser Themen innerhalb der israelischen Gesellschaft verdeutlicht.26 Eine grundsätzliche Frage auch der akademischen Debatten ist die nach der Vertreibung oder der Flucht der Palästinenser 1948 und damit nach der Verantwortung für die bis heute andauernde Flüchtlings- und Rückkehrrechtsdebatte. Das Recht auf Rückkehr ist wesentlicher Bestandteil des Konflikts. Bei einem prinzipiellen Recht auf Rückkehr wäre diese bei einer Mehrheit von Palästinensern in den Lagern Syriens, des Libanons oder Jordaniens langfristig realistisch, und das wäre für die israelische Regierung undenkbar. Benny Morris unterscheidet deshalb zwischen einem individuellen Anspruch auf Rückkehr, das er jeder vertriebenen Familie zubilligt, und einem politischen Anspruch auf Rückkehr, den er den palästinensischen Familien und ihren Nachkommen aufgrund der Bevölkerungszahlen und der politischen Lage in Israel abspricht: „Individually they may be right; politically, there is no justice in them returning.“27 Ilan Pappe macht wiederum die bedingungslose Anerkennung des Rechts auf Rückkehr zur Voraussetzung für jeden Friedensprozess: „It’s an essential part of any prospective solution. […] In one of the scenarios, which I think is the only positive one, the right of return plays a very crucial role. […] If the Israelis don’t change their mind about the right to return, there will be no peace and reconciliation.“28 Wird von jüdisch-israelischer Seite die Verantwortung der arabischen Führer betont, die die Palästinenser zur Flucht ins temporäre Exil auf-
26 Die Emotionalität wird auch in den Titeln der Zeitungsartikel bereits deutlich. Hier zum Beispiel der Artikel von Benny Morris über Ilan Pappe und seine Forschung: The Liar as a Hero: http://www.ee.bgu.ac.il/~censor/katzdirectory/11-03-17the-liar-as-a-hero-about-pappe-by-benny-morris.pdf vom 10.05.2018. 27 Benny Morris zitiert in: Roberts: Contested Land, S. 235. 28 Ilan Pappe zitiert in: Roberts: Contested Land, S. 236.
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gefordert und den Exodus damit zu verantworten hätten, so ist die palästinensische Seite und mit ihr einige Mitglieder der neuen Historiker überzeugt von einer gezielten Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Armee und die Untergrundarmeen. Jo Roberts zitiert Benny Morris aus einem gemeinsamen Gespräch über seine Sicht auf die Ereignisse 1948, in dem er seine Einschätzung der Verantwortlichkeit deutlich vertritt: „Here [in Israel] it was accepted that the Arab leaders had asked everybody to leave, and this was clearly a lie, in light of the documentation.“29 Den Arbeiten der neuen Historiker wurde viel Beachtung geschenkt, was nicht nur an dem Inhalt, sondern vor allem auch an ihren Verfassern als jüdisch-israelische Wissenschaftler lag. Die Brisanz, dass sie diese kritischen Standpunkte vertraten, die vorher vornehmlich palästinensischen oder anderen arabischen Wissenschaftlern zugeschrieben werden konnten, verdeutlicht einmal mehr, welch hohe politische Aktualität die Erforschung der Vergangenheit in Israel hat. Die Arbeiten sind in ihrer Darstellung beeinflusst von dem andauernden Konflikt und der aktuellen Bedeutung dieser Themen. Viele Beiträge erscheinen geprägt von der Unmittelbarkeit zum Konflikt und berichten so „als die Stimme der Betroffenen, nicht die der distanzierten und resümierenden Berichterstattung“,30 die man eigentlich von Historikern erwarten würde. Aus diesen Gründen erscheint es manchmal schwierig, sich ihrer Arbeiten zu bedienen, deren Prägung zu bemerken und gleichzeitig bei der Verwendung die erforderliche wissenschaftliche Sachlichkeit und Neutralität bezeugen zu können. Mit den Debatten über eine angeordnete Flucht durch die palästinensischen Führer oder eine gezielte Vertreibung der Palästinenser durch die jüdischen Kämpfer geht auch die Frage nach einem möglichen israelischen Transfer-Plan einher, der als systematische Vorberei-
29 Benny Morris zitiert in: Roberts: Contested Land, S. 218. 30 Schäfer, Barbara (Hrsg.): Historikerstreit in Israel. Die neuen Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 2000, S .9.
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tung einer Vertreibung der Palästinenser hätte wirken können.31 Der sogenannte Plan Dalet, der als mögliche organisatorische Grundlage eines Transfer-Plans diskutiert wird, wird in der israelischen Forschung unterschiedlich eingeordnet. Israelische Historiker wie Anita Shapira oder Shabtai Teveth werden aufgrund ihrer Darstellung der Transferthematik, in der sie diese in einen internationalen Diskurs integrieren und ihn damit zu einem zeitgenössischen Phänomen ohne konkreten Bezug zu dem Konflikt mit den Palästinensern machen, von Benny Morris scharf kritisiert.32 Er unterstellt diesen Historikern einerseits ideologische Motive für diese Darstellung als auch „eine mangelhafte Untersuchungsmethode“33 und Morris’ Kritik ist explizit wenn er ausführt: „Diese Historiker haben die Grundvoraussetzungen der Historiographie völlig vergessen – daß offiziellen Verlautbarungen zu mißtrauen ist und daß man immer danach streben muss, zur Quelle vorzudringen. Das gilt umso mehr, wenn man von einer ideologischen Nationalbewegung spricht, die in einen Existenzkonflikt mit ihren Nachbarn verstrickt ist, und deren Hauptbestrebungen Überleben und Sieg sind, nicht universale Werte von Moral und Gerechtigkeit.“34
Morris verneint aber gleichermaßen die tatsächliche Umsetzung eines Transfer-Plans und betont einen planlosen und eher zufälligen Umgang mit der Möglichkeit des gezielten Transfers der Palästinenser durch die
31 Roberts: Contested Land, S. 220f. Und Ilan Pappe widmet sich eingehend dieser Frage in seinem Buch: Die ethnische Säuberung Palästinas. 32 „Der nicht vorgebildete Leser wird aus dem Buch von Shapira entnehmen, daß die zionistischen Führer sich in den dreißiger wie in den vierziger Jahren nicht freiwillig mit dem Transfergedanken auseinandersetzten, sich nicht mit ihm beschäftigten und in ihm eine vorübergehende unrealistische Randerscheinung sahen.“ Benny Morris zitiert in: Schäfer: Historikerstreit, S. 48. 33 Morris zitiert in: Schäfer: Historikerstreit, S. 49f. 34 Morris zitiert in: Schäfer: Historikerstreit, S. 50.
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damaligen Verantwortlichen der jüdischen Milizen und der israelischen Armee: „Was 1948 in Israel geschah, war kein direktes Ereignis und nicht die Umsetzung einer systematischen Planung der Transfer-Bestrebungen der Führer des Yishuvs35 in den dreißiger und vierziger Jahren. […] Der Weg bis hin zur Massenflucht von 1948 war verschlungener, mehr Ereignissen unterworfen und stärker vom Zufall bestimmt.“36
„Der Transfer, der vollzogen wurde, war nicht – wie arabische Sprecher im Nachhinein behaupteten – Ergebnis vorheriger Überlegungen oder Umsetzung eines von vorneherein vorbereiteten Planes“, er räumt aber ein, dass ein Transfergedanke „im Hintergrund des Denkens der Yishuv-Führung (mit Ben Gurion an der Spitze) und der Befehlshaber der Armee existierte. […] Als es 1947-1948 zur Krise kam, die sich zum Bürgerkrieg mit den Arabern Israels ausweitete, gaben diese Führer und Befehlshaber der Transfer-Idee Ausdruck, indem sie sie unter dem Druck der Ereignisse vorsätzlich und wissentlich in die Realität umsetzten.“37
Die Annahme eines von Israel initiierten Transfervorhabens wird in den Interviews immer wieder behandelt und auch auf die gegenwärtige Behandlung und Politik gegenüber den Palästinensern übertragen. Solche Bezüge werden hergestellt, wenn Besuche in den Gazastreifen behindert oder unfreundliche und willkürliche Kontrollen am Flughafen beschrieben werden, die es den Palästinensern, so die Deutung der Interviewpartner, verleiden sollen, in ihr Heimatland zurückzukehren. So werden diese Restriktionen als eine moderne Variante der Vertreibung
35 Yishuv bezeichnet die jüdischen Bewohner Palästinas vor der Staatsgründung Israels. 36 Morris zitiert in: Schäfer: Historikerstreit, S. 62. 37 Morris zitiert in: Schäfer: Historikerstreit in Israel, S. 45.
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interpretiert und als eine Weiterführung des viel diskutierten TransferPlans eingeordnet. Der Historiker Ilan Pappe spricht im Gegensatz zu seinem Kollegen Morris von gezielten Vertreibungen und Massakern an der palästinensischen Bevölkerung und bezeichnet das Vorgehen als ethnische Säuberungen.38 Spätestens bei diesem Thema gehen die Einschätzungen der beiden Historiker auseinander, die ursprünglich der gleichen Gruppe zugeordnet wurden. Benny Morris widmete Ilan Pappe seinen Artikel mit dem Titel One Man’s history is another Man’s lie39 und betonte an anderer Stelle, dass die Gruppe der sogenannten neuen Historiker gar nicht als solche zu verstehen wäre, da die vermeintlichen Mitglieder einander zum Teil kaum kannten, nicht gemeinsam arbeiteten oder gar einer Schule angehörten: „This group, contrary to the conspiratorial image projected by our critics, was never a close-knit or monolithic school of intellectuals who plotted together around the table at Friday-night meals. Some of us barely knew one another. […] But we had all written histories focusing on Israel and Palestine in the 1940s, and they had all appeared, mostly in English, in the late 1980s, and taken together they had shaken the Zionist historiographic establishment and permanently undermined the traditional Zionist narrative of the Israeli-Arab conflict.“40
Pappe wiederum kritisiert Morris als einen „positivistischen“ und deshalb eigentlich nicht „neuen Historiker“, da ihm zu Folge der lange Zeit etablierte konservative Forschungsansatz in Israel nicht nur durch
38 Pappe: Ethnische Säuberung. 39 One Man’s history is another Man’s lie: www.haaretz.com/1.4829292 vom 10.05.2018. 40 Morris, Benny: Politics by Other Means. The New Republic Online, 2004, S. 1: www.ee.bgu.ac.il/~censor/katz-directory/04-03-22benny-morris-The %20New%20Republic-1.pdf vom 10.05.2018.
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„neue Dokumente“, sondern mit Hilfe „neuer Historiker“ und anhand neuer Methoden verändert werden könne.41 Diese Debatten an dieser Stelle erschöpfend zu behandeln, wäre ein Vorhaben, das an dem Ziel dieser Untersuchung vorbei ginge. Doch anhand dieses Beispiels der Diskrepanzen zwischen Benny Morris und Ilan Pappe wird deutlich, wie sehr auch Angehörige der sogenannten neuen Historiker inhaltlich und methodologisch voneinander entfernt sind. Daniel Gutwein spricht ihnen aus diesem Grund auch ab, eine neue Schule zu sein, da deren Mitglieder über gemeinsame Nenner in den Feldern „Ideologie, Politik, Theorie oder Methode“ verfügen müssten.42 Letztlich ist es aber dennoch Verdienst der Vertreter der sogenannten neuen Historiker, dass, auch aufgrund ihrer starken Medienpräsenz, Debatten innerhalb Israels über den Umgang mit der Vergangenheit, das kollektive Gedächtnis, den israelischen Gründungsmythos und das jüdisch-israelische Selbstverständnis ausgelöst wurden.
FORSCHUNGSSTAND Während in englischer Sprache einige Arbeiten vorliegen,43 ist in der deutschen Forschungslandschaft die Präsenz von Studien, die sich mit palästinensischer Identität und Selbstwahrnehmung befassen, gering. Das liegt zum Teil sicher auch im deutsch-israelischen Verhältnis und 41 Gutwein, Daniel: „Neue Historiographie“ oder die Privatisierung des Gedächtnisses, in: Schäfer: Historikerstreit, S. 228. 42 Gutwein: „Neue Historiographie“, in: Schäfer: Historikerstreit, S. 229. 43 Khalidi, Rashid I.: Palestinian Identity. The construction of modern national consciousness, New York 2010. Ġanāyim, Maḥmūd: The quest for a lost identity. Palestinian fiction in Israel, Wiesbaden 2008. Kohen, Ra’anan: Strangers in their homeland. A critical study of Israel’s Arab citizens, Brighton 2009. Wallach, Janet/Wallach, John: The new Palestinians. The emerging generation of leaders, Rocklin California 1994.
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einem daraus resultierenden Fokus auf jüdisch-israelische Themen begründet. Seit der Gaza-Offensive zum Jahreswechsel 2009/10 scheint sich aber in der deutschen Öffentlichkeit und auch in den Medien eine andere Haltung zu den beiden Konfliktparteien zu entwickeln. Dieser Eindruck festigte sich auch im Zusammenhang mit der Offensive des Jahres 2014 oder der Enthaltung Deutschlands bei der Abstimmung über den Status Palästinas in der UN. Mit Vorsicht muss aber mitunter die deutsche Kritik an israelischer Politik betrachtet werden, macht sie doch nicht selten den Eindruck, als resultiere sie mehr aus dem Bedürfnis, als Deutscher „endlich einmal“ Israel allgemein und damit letztlich pauschal „die Juden“ kritisieren und sie damit aus dem unterstellten Opferstatus zwingen zu können. Dieser oft unbewusste Wunsch fiel auch in den Diskussionen über das Forschungsprojekt auf, kam es doch manchmal, wegen des Fokus auf die palästinensischen Themen, zu Reaktionen wie: „Da sieht man mal, dass die Juden nicht immer die Opfer sind, sondern auch Täter.“ Aus dieser Haltung kann von deutscher Seite in Bezug auf die palästinensische Konfliktpartei eine Form von positivem Rassismus entstehen, der zwar herkömmlichen muslimischen Feindbildern entgegenwirkt aber gleichzeitig neue Stereotype schafft, welche vornehmlich dem deutschen Bedürfnis nach historisch-moralischer Entlastung dienen. In der internationalen Forschung sind vor allem Werke entstanden, die sich der palästinensischen Identität im Zusammenhang mit Gruppenphänomenen, wie der politischen Radikalisierung, der (Re-)Islamisierung, der Entstehung von palästinensischen NGOs, Graswurzelinitiativen oder politischen Parteien widmen.44 Hier wird Identität demnach
44 Hermann, Katja: Palästina in Israel. Selbstorganisation und politische Partizipation der palästinensischen Minderheit in Israel, Berlin 2008. Lybarger, Loren D.: Identity and religion in Palestine. The struggle between Islamism and secularism in the occupied territories, Princeton, NJ 2007. Rebenstorf, Hilke: Palästinensische Jugendliche und politische Sozialisation – Bildung, Religion und Region in der Entwicklung demokratischer po-
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in Bezug auf ihren kollektiven Charakter untersucht, als Massenphänomen, das sich auf Politisierung, Religiosität, Radikalisierung oder Abgrenzung von einer anderen Gruppe bezieht.45 Oder aber es wird versucht, den abstrakten Begriff der Palästinensischen Identität historisch aufzuarbeiten und über seine Genese zu definieren,46 was wiederum auch vor dem Hintergrund der beschriebenen palästinensischen und jüdisch-israelischen Forschungsbestrebungen um historische Ursprünglichkeit zu betrachten ist. Nur wenige ausführliche Arbeiten basieren auf empirischen Studien, die Zahl der qualitativen Untersuchungen ist noch geringer. Die Arbeiten, die sich anhand qualitativer Untersuchungen mit dem Selbstverständnis der Palästinenser beschäftigen, sind vornehmlich Vergleichsstudien, die sich mit palästinensischer, immer in Zusammenhang mit oder in Kontrast zu der israelischen Perspektive auseinandersetzen.47
litischer Identität, in: Hunner-Kreisel, Christine/Andresen, Sabine (Hrsg.): Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten. Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive, Wiesbaden 2010, S. 271-287. 45 Kehlman: The Interdependence of Israeli and Palestinian National Identities: The Role of the Other in Existential Conflicts, Journal of Social Issues, 55 (1999), 3, S. 581-600. 46 Ortlieb, Silvia: Palästinensische Identität und Ethnizität. Genese und Entwicklung des Selbstverständnisses der Palästinenser, Köln 1995. Khalidi, Rashid I.: Palestinian Identity. The construction of modern national consciousness, New York 2010. Sharaf, Shamil: Die Palästinenser. Geschichte und Entstehung eines nationalen Bewußtseins, Wien 1983. 47 Philipps-Heck, Ulla: „Rassisten“ gegen „Terroristen“. Jüdische und palästinensische Identität im Konflikt um Israel/Palästina, Frankfurt am Main 1992. Joggerst, Katrin: Getrennte Welten – Getrennte Geschichte(n)? Zur politischen Bedeutung von Erinnerungskultur im israelisch-palästinensischen Konflikt, Münster 2002. Bar-Ôn, Dān: Die „Anderen“ in uns. Dia-
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Hier wird der Schwerpunkt dementsprechend immer auf das Neben-, Mit- und Gegeneinander und damit auf das Selbstbild bzw. die Identität in Abgrenzung zum Anderen gelegt. Als interessant und wertvoll sind die Arbeiten des im Jahr 2008 verstorbenen Therapeuten, Holocaust- und Friedensforschers Dān Bar-Ôn zu nennen, der sich u.a. auf den Erfahrungsaustausch und das gegenseitige Kennenlernen von palästinensischer und israelischer Seite konzentrierte und langfristige Begegnungs-Workshops organisierte, die Treffen begleitete und die Gespräche und Auseinandersetzungen aufnahm und auswertete.48 Die britische Professorin Dina Matar hat 2007 mit ihrem Buch What it means to be Palestinian49 einen interessanten Beitrag über das palästinensische Selbstverständnis der ersten und zweiten Generation vorgelegt. Anhand von biografischen Interviews, gegliedert nach Alters- und Erfahrungsgruppen, präsentiert sie individuelle Perspektiven auf die Nakba und den Nahostkonflikt, die für die vorliegende Untersuchung der dritten Generation einen vielfältigen und erkenntnisreichen Kontext boten. Ein Ungleichgewicht in der Forschung besteht in dem Fokus auf die jeweilige palästinensische Gruppe, zum Beispiel auf die Palästinenser, die heute in Israel leben, deren Lebensbedingungen in Israel einige eigene Arbeiten hervorgebracht haben.50 Die Menschen in Gaza wer-
log als Modell der interkulturellen Konfliktbewältigung, Sozialpsychologische Analysen zur kollektiven israelischen Identität, Beer-Sheva 2000. 48 Bar-Ôn, Dān: Die „Anderen“ in uns. Dialog als Modell der interkulturellen Konfliktbewältigung. Sozialpsychologische Analysen zur kollektiven israelischen Identität. Beer-Sheva 2000. 49 Matar, Dina: What it means to be Palestinian. Stories of Palestinian Peoplehood, New York 2011. 50 Ashkenasi, Abraham: Palestinian Identities and Preferences. Israel’s and Jerusalem’s Arabs, New York 1992. Bligh, Alexander (Hrsg.): The Israeli Palestinians. An Arab Minority in the Jewish State, Oxon 2003. Cohen, Hillel: Good Arabs. The Israeli Security Agencies and the Israeli Arabs
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den zumeist in eher populärwissenschaftlichen Arbeiten oder aber in Reportagen, autobiographischen Berichten oder Erzählbänden prominenter Persönlichkeiten behandelt.51 Und auch die Westbank wird gern innerhalb von Reportagen beleuchtet. Kürzlich erschien aber die Arbeit von dem Forscherteam um Gabriele Rosenthal, die sich in der Studie Etablierte und Außenseiter zugleich den Palästinensern in der Westbank und in Israel in einer vergleichenden Weise widmet.52 Jo Roberts hat sich in dem Buch Contested Land, Contested Memory mit den palästinensischen und jüdischen Erinnerungsdiskursen auseinandergesetzt und u.a. interessante Interviews mit Angehörigen der sogenannten neuen Historiker geführt.53 Susanne Enderwitz hat in ihrem Band Palästinensische Autobiographien. Unsere Situation schuf unsere Erinnerungen,54 die palästinensische Literatur untersucht, deren prominente Vertreter Mahmoud Darwisch, Emilie Habibi, Tawfik Zayyed, Gnassan Kenafani und Edward Said mit ihren Werken das Selbstverständnis der palästinensischen Gesellschaft nachhaltig geprägt haben. Nicht nur, aber auch einen guten Überblick über die palästinensische Forschungsliteratur bietet die Studie von Sabine Damir-Geilsdorf. Sie untersucht in ihrer Arbeit Die Nakba erinnern die Dynamiken,
1948-1967, Berkeley, Los Angeles, London 2010. Hermann, Katja: Palästina in Israel, Berlin 2008. 51 Ghazy, Randa: Palästina. Träume zwischen den Fronten, Ravensburg 2002. Langer, Felicia: Quo vadis Israel? Die neue Intifada, Göttingen 2001. Langer, Felicia: Brandherd Nahost oder: die geduldete Heuchelei, Göttingen 2004. Hass, Amira: Morgen wird alles schlimmer, München 2006. Abu Saif, Atef: Frühstück mit der Drohne: Tagebuch aus Gaza, Zürich 2015. 52 Rosenthal, Gabriele (Hrsg.): Etablierte und Außenseiter zugleich, Frankfurt am Main 2015. 53 Roberts, Jo: Contested Land, Contested Memory. Israel’s Jews and Arabs and the Ghost of Catastrophe, Toronto 2013. 54 Enderwitz, Susanne: Palästinensische Autobiografien. Unsere Situation schuf unsere Erinnerungen, Wiesbaden 2002.
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Formen und Funktionen der palästinensischen Nakba-Erinnerungen anhand von Interviews, die sie in palästinensischen Flüchtlingslagern in Jordanien durchführte und durch die Auswertung schriftlicher Quellen ergänzte.55 Der Rolle und der Bedeutung der Märtyrer und des Leidens hat sich Laleh Khalili in ihrem Buch Heroes and Martyrs of Palestine56 gewidmet. Sie untersucht die palästinensischen Erinnerungsformen des Summud, des Heldentums und des Leides in verschiedenen Erinnerungsepochen anhand von Interviews, die sie im Libanon führte. Eine Einführung in die palästinensische Oral History und die Bedeutung der Erinnerungsdiskurse gibt der palästinensisch-israelische Historiker und Schriftsteller Nur Masalha in Catastrophe remembered,57 er behandelt auch als einer der palästinensischen Wissenschaftler in seinem Buch die neuen Historiker Israels. Von ihm erschien außerdem The Palestine Nakba. Decolonising History, Narrating the Subaltern, Reclaiming Memory,58 was unter anderem eine Einführung in die palästinensische Oral History bietet. Ilan Pappe und Jamil Hilal haben gemeinsam mit Across the wall, Narratives of IsraeliPalestinian History59 einen Beitrag zur gemeinsamen jüdischen und palästinensischen Forschungsperspektive verfasst. Der Sammelband umfasst Beiträge von jüdischen und palästinensischen Autoren. Der speziellen Rolle der Beduinen im Negev widmet sich Ismael Abu Sa’ad mit seinem Text Forced Sedentarisation, Land Rights and
55 Damir-Geilsdorf, Sabine: Die Nakba erinnern. Palästinensische Narrative des ersten arabisch-israelischen Krieges, Wiesbaden 2008. 56 Khalili, Laleh: Heroes and Martyrs of Palestine. The politics of national commemoration, New York 2007. 57 Masalha, Nur: Catastrophe Remembered. Palestine, Israel and the internal Refugees, Essays in Memory of Edward Said, New York 2005. 58 Masalha, Nur: The Palestine Nakba. Decolonizing History, Narrating the Subaltern, Reclaiming Memory, London 2012. 59 Pappe, Ilan/Hilal, Jamil: Across the wall. Narratives of Israeli-Palestinian History, New York 2010.
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Indigenous Resistance: The Palestinian Bedouin in the Negev in dem Band Catastrophe Remembered. Palestine, Israel and the internal Refugees von Nur Masalha.60 Das Phänomen der sogenannten Israelization der Palästinenser innerhalb Israels behandelt Muhammad Amara in seinem Text The collective Identity of the Arabs in Israel in an Era of Peace in dem Sammelband von Alexander Bligh The Israeli Palestinians.61
60 Abu Sa’ad, Ismael: Forced Sedentarisation, Land Rights and Indigenous Resistance: The Palestinian Bedouin in the Negev, S. 113-141 In: Masalha: Catastrophe Remembered. 61 Amara, Muhammad: The collective Identity of the Arabs in Israel in an Era of Peace, in: Bligh: The Israeli Palestinians, S. 249-262.
Erinnerung und Identität
ORAL HISTORY Häufig beginnen Texte zur Oral History den inhaltlichen Einstieg über die Vorwürfe, die dieser in Deutschland noch vergleichsweise jungen Disziplin gemacht werden. Der Fokus auf die Kritik oder die Zweifel an dem geschichtswissenschaftlichen Gewinn durch die Erforschung von Zeitzeugendarstellungen mag darin begründet liegen, dass diese ebenfalls vor allem von Historikern vorgebracht wurden und werden. Bekannt ist das Zitat „Der Zeitzeuge ist der Feind des Historikers“, und er scheint trotz seiner allgemeinen Popularität diesen Titel in der Geschichtswissenschaft auch noch weiter tragen zu dürfen. In Deutschland hat sich die Oral History erst in den 1980er Jahren und damit mit einiger Verzögerung etabliert, wenn man die Forschungslandschaft Amerikas oder Englands zum Vergleich heranzieht. Rebekka Göpfert vermutet, die verzögerte Etablierung der Oral History sei in Deutschland sicherlich zurecht auch „in den Schwierigkeiten der deutschen Nachkriegshistoriker mit den Brüchen in ihren eigenen Biographien sowie in der deutschen Geschichte“1 zu begründen, wirkt dieser Zugang zur Vergangenheit doch jeder Form von Verdrängung per-
1
Göpfert, Rebekka: Oral History. Über die Zusammensetzung individueller Erinnerung im Interview, in: Wischermann, Clemens: Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, S. 102.
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sönlicher Erinnerung oder der Abgrenzung von individueller Verantwortung entgegen. Vielleicht hängt dieser anhaltende kritische oder auch kritisierende Umgang, neben der grundsätzlichen Schwierigkeit, diese Art der „weichen Quelle“ in den allgemein fakten- und objekt-orientierten Kontext der klassischen Geschichtswissenschaft zu integrieren, auch mit dem Aufkommen medialer Aufbereitungen der letzten Jahrzehnte zusammen, in denen Zeitzeugen illustrierend in Fernsehbeiträgen, wie denen von Guido Knopp, wirkungsvoll und mitunter hilflos wirkend (nicht selten in Tränen ausbrechend), eingesetzt und instrumentalisiert werden. Dieser Trend, geschichtliche Themen durch die persönlichen oft fragmentarischen Berichte alter Menschen dekoriert aufzubereiten, hat dem Ansehen der Zeitzeugenforschung nicht zu wissenschaftlichem Respekt verholfen. Dennoch ist auch in dieser medialen Präsentation der Zeitzeugen und auch der Annahme durch das Publikum eine der Stärken der erfahrungsgeschichtlichen Orientierung bei der Vermittlung von Zeitgeschichte zu erkennen. Die persönliche Erzählung ermöglicht Identifikation in hohem Maße, wie es ein bloßer Bericht über eine unpersonifizierte Gruppe nicht bieten könnte. Die individuelle Schilderung und Perspektive vermitteln ein Gefühl der Unmittelbarkeit, das keine alternative Quelle ebenso könnte. Gleichzeitig birgt dieser vereinnahmende Faktor natürlich die Gefahr von unbewussten Sympathieimpulsen und der Stimulation von Verständnis für oder Anteilnahme an Sicht und Handeln des Erzählenden. Im Wissen um die subjektive Wahrheit des Einzelnen, die Veränderung und Transformation von Erinnerungen und das bewusste oder unbewusste Ausblenden von schmerzhaften oder unbequemen Erfahrungen ermöglichen die Erzählungen aber einen Einblick in die jeweilige Perspektive des Zeitzeugen, dessen Sicht auf die Geschichte auch vor dem Hintergrund später gemachter Erfahrungen. Und es gilt sie als eine solche subjektive Sichtweise und darüber hinaus als die individuelle
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Präsentation von erlebter Geschichte zu verstehen, ohne dass dieser Kontext ihren Wert schmälern sollte oder müsste. Ein Anspruch an Objektivität oder Repräsentativität wäre an dieser Stelle auch unrealistisch und falsch, selbstverständlich divergieren die Schilderungen einzelner Individuen auch zur selben Erfahrungssituation. Wenn beispielsweise in Interviews mit ehemaligen Wehrmachtssoldaten die tägliche Brotration in der russischen Kriegsgefangenschaft erforscht werden soll, so kann man sicher sein, dass auch unter Mitgefangenen die erinnerte Menge variiert und die jeweilige Erinnerung geprägt ist von der Freundlichkeit oder Bedrohlichkeit der austeilenden Aufseher, von der Jahreszeit, sprich den Bedingungen im Lager und auch der jeweiligen Gesamtsituation der Schildernden. Interviews liefern keine „Tatsachen, sondern die Erinnerung an Tatsachen“ schreibt Rebekka Göpfert,2 man könnte hier noch die Erinnerung an empfundene Wirklichkeiten ergänzen, die im Einzelnen nicht als repräsentativ verstanden werden können. Aber darin liegt dennoch oder gerade eben die Stärke und das Potential dieser Forschungsrichtung, denn weniger die Suche nach der Wahrheit oder Fakten, wie der genauen Grammzahl der Brotration in russischer Kriegsgefangenschaft, als vielmehr der Versuch, durch subjektive Erfahrungsschilderung Einblick in die individuelle Geschichtserfahrung im wörtlichen Sinne und deren Interpretation zu erhalten, ist der Gewinn dieser Vorgehensweise. Die Kritik „verkennt [somit] den Gegenstand ihrer Forschungsperspektive und übersieht darüber hinaus, dass es sich hierbei nicht um eine Neuformulierung von Gegenstand und Quelle der Zeitgeschichtsforschung, sondern vielmehr um dessen individuelle Erweiterung [und Ergänzung] handelt.“3 Zumal die Menge der individuellen Gedächtnisse darüber hinaus kollektive Gedächtnisse ergeben, und somit anhand
2
Göpfert: Oral History, in: Wischermann, Legitimität, S. 102.
3
Heinze, Carsten: Identität Und Geschichte In Autobiographischen Lebenskonstruktionen: Jüdische und nicht-jüdische Vergangenheitsbearbeitungen in Ost- und Westdeutschland. Wiesbaden 2009, S. 13.
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der Erfahrungen vieler Einzelner das Entstehen historischer Massenphänomene rekonstruiert werden kann. Dem Vorwurf der Subjektivität der Darstellung des Erzählenden folgt der der Beliebigkeit der Interpretation durch den Forscher. Doch absolute Objektivität – angestrebt und gleichermaßen unerreicht – kann, sowohl in der Darstellung als auch in der Interpretation, nicht das Ziel dieses Forschungsfeldes sein. Rebekka Göpfert mahnt zu diesem Punkt zu Recht an, dass auch der Historiker im Archiv in der klassischen Quellenarbeit nicht gänzlich objektiv arbeiten kann, trifft er doch auch immer eine Auswahl, Ordnung oder Kategorisierung.4 Dennoch sollte die Macht der Gestaltung und Deutung im Bewusstsein des Interviewenden sowohl während der Erhebungsphase als auch bei der Auswertung der Quellen präsent sein, um so, in Reflexion, den eigenen Anteil an der Ausrichtung und Auswertung zumindest zu erkennen und somit so gut wie möglich zu minimieren. Dass die Oral History und damit auch die Methode der narrativen Interviews eine Interaktion zwischen Interviewendem und Interviewpartner darstellt, dass das, was berichtet wird, sich auch an den Interviewenden, unter Berücksichtigung von Geschlecht, Alter, Herkunft im Kontrast oder in der Parallelität zum Interviewpartner orientiert, sollte nicht den Erkenntniswert reduzieren, sondern lediglich den Deutungskontext rahmen und dazu ermahnen, auch die Forscherposition und die Vorannahmen an die Empirie kritisch zu hinterfragen, und damit, wie Alexander von Plato sagt, „die Entscheidungen und Weichenstellungen in den Berichten von Zeitzeugen fast [oder sogar: weitestgehend] zum Ausgangspunkt unserer Interpretation zu machen.“5 Denn anders als im Fall von klassischen Autobiografien sind die in den Interviews geschilderten biografischen Erinnerungen nicht schon
4
Vergleiche hierzu: Göpfert: Oral History, in: Wischermann: Legitimität,
5
Plato, Alexander von: Geschichte und Psychologie – Oral History und Psy-
S. 102. choanalyse: Problemaufriss und Literaturüberblick, in: Historical Social Research, 55, (2004), S. 101.
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lange auf einen Bezugspunkt vorbereitet oder auf eine im Vorfeld angestrebte Eigendarstellung ausgerichtet. Insofern kann ein erfolgreiches induktives Vorgehen auch der unbewussten Beeinflussung der erhobenen Daten durch den Forscher und auch der möglichen Eigenzensur des Interviewpartners entgegenwirken. Auch für diese Untersuchung war das induktive Vorgehen von Vorteil, da die so aufkommenden Themen über die Erwartung der Forscherin hinausgingen, und es auf diese Weise gelang, sich den individuellen bewussten und unbewussten Themen der Interviewpartner zu widmen und damit einhergehend auch zu hinterfragen, ob die, automatisch in der Vorbereitung eines Forschungsprojekts entstehenden, Vorannahmen überhaupt dem Erlebnishorizont und dem Fokus der Gesprächspartner entsprachen und wenn ja, welche Priorität diesen zukommt. Der Oral History als Forschungsrichtung aber auch der oralen Tradition innerhalb von Gesellschaften kommt in der palästinensischen Gesellschaft eine bedeutende Funktion zu. Neben der aktuellen Situation innerhalb Israels, in der palästinensische Israelis nur bedingt die Nakba und Palästina vor 1948 erinnern können, ist auch ein anderer Grund für die Bedeutung der oralen Weitergabe und damit auch der Oral History zu nennen. Ein Großteil der Bevölkerung Palästinas bestand traditionell aus Fellachin (Bauern), und innerhalb dieser Gruppe war Analphabetismus weit verbreitet. Nur Masalha beziffert für das Jahr 1944 den Anteil der landwirtschaftlichen Bewohner mit 66 Prozent der Gesamtgesellschaft, von denen nur 15 Prozent alphabetisiert waren.6 Aus diesen Gründen ist die schriftliche Quellenlage begrenzt und die Form der mündlichen Weitergabe auch traditionell in der palästinensischen Gesellschaft verankert. Das intergenerationelle Erzählen ist gleichermaßen Teil des Summud und somit auch „key genre of Palestinian historiography“7 und die Sammlung von mündlichen Erfahrungsberichten der sogenannten Nakba-Generation aber auch der 2.
6
Masalha: Palestine Nakba, S. 213.
7
Masalha: Palestine Nakba, S. 218.
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und der 3. Generation sinnvoll. Mahmoud Issa betont noch im Jahr 2005 die ausstehende Erforschung der Erfahrungen der Nakba-Generation und benutzt den von der israelischen Politik geprägten Begriff der „present absentees“8 für die undokumentierten oralen Quellen der bäuerlichen Generationen innerhalb der palästinensischen Historiographie. Autobiographische Schilderungen sind immer eine Mischung aus erlebter und gehörter oder vermittelter Geschichte, „Geschichte wird also in unterschiedlichen Formen als erlebte und kommentierte Geschichte in der Lebensgeschichte wirksam“,9 und so sind auch die verschiedenen Gedächtniskategorien, zumindest ein Teil des mannigfaltigen Angebots, für diese Arbeit von Bedeutung.
GEDÄCHTNISKATEGORIEN In den wissenschaftlichen Disziplinen existieren verschiedene Gedächtniskategorien, die zum Teil klar trennbar sind, zum Teil auch ineinandergreifen oder mitunter das Selbe meinen. Für diese Untersuchung sind es Termini wie kommunikatives, kollektives und biografisches Gedächtnis, Familiengedächtnis oder Generationengedächtnis, die von Bedeutung sind. Damit verbunden sind Handlungen wie die Tradierung von Erfahrungen, das intergenerationelle Erzählen und auch das Zeigen von Räumen und Spuren im Sinne des Spatial Turn und deren Wirkung. Auch die innerfamiliäre, kommunizierte Weitergabe von Traumata ist in der Untersuchung von Interesse. Das kommunikative Gedächtnis gilt neben dem kulturellen Gedächtnis als eine Unterform des kollektiven Gedächtnisses.10 Es bezeichnet die mündliche Weitergabe von Erfahrungen und Erinnerun-
8
Issa, Mahmoud: Oral History and the Palestinian Peasantry. The Case of Lubya, in: Masalha: Catastrophe Remembered, S. 178-196.
9
Heinze: Identität und Geschichte, S. 15.
10 Harald Welzer zitiert in: Assmann, Jan: Kultur und Gedächtnis. Frankfurt 1988, S. 10.
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gen, oft innerhalb von Familien beziehungsweise Generationen, denn „durch mündliche Erzählungen haben auch diejenigen am Gedächtnis teil, die das Erinnerte nicht selbst erlebt haben.“11 Findet die mündliche Tradierung innerhalb der Generationen statt, dient sie häufig dem Zweck der Bewahrung von Erinnerungen älterer Generationenmitglieder durch die Weitergabe an jüngere. Oder aber die Schilderungen entspringen der Nachfrage durch die nachfolgenden Generationen, um auf diese Weise mehr über die Geschichte der Familie zu erfahren oder auch Kenntnis über Positionen oder Verhalten in bedeutenden gesellschaftlichen, politischen oder auch privaten Lebensabschnitten zu erlangen und so Zusammenhänge rekonstruieren zu können. Versteht man wie Halbwachs Erinnerung auch als eine jeweilige „Rekonstruktion der Vergangenheit“,12 ist davon auszugehen, dass bei der intergenerationellen Tradierung jede Generation die bzw. ihre spezifische Erinnerung rekonstruiert und diese aktualisierte Version an die nächste weiterreicht. So sind in den geschilderten Erinnerungen immer auch gegenwärtige Bezugspunkte und Relevanzen verankert, da die jeweilige Gegenwart die Deutung und Rekonstruktion des Vergangenen beeinflusst. Die intergenerationellen Schilderungen schaffen eine gemeinsame Erinnerungsbasis und damit eine Verbindung innerhalb der Generation oder der erinnernden Gruppe. Sie sind Verbindungsglied der kollektiven, aber auch Bestandteil der individuellen Identitätskonstruktion, „in jeder Biografie finden sich mehr oder weniger große Partikel einer Familiengeschichte als Rahmung, Hintergrund oder Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte.“13
11 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2017, S. 16. 12 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main 1991, S. 55. 13 Völter, Bettina: Generationenforschung und „transgenerationelle Weitergabe“ aus biografietheoretischer Perspektive, in: Radebold, Hartmut/Bohleber, Werner/Zinnecker, Jürgen: Transgenerationale Weitergabe kriegsbe-
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Die familiären Erinnerungen und Erfahrungen werden, gerade wenn sie bedeutend sind, gleich einem Erbe an die nächste Generation weitergeben, über das kommunikative Gedächtnis entsteht also ein Familien- oder Generationengedächtnis. Resultieren die Erinnerungen aus einer traumatischen Erfahrung, kann diese auch für die nachfolgenden Generationen Konsequenzen haben. Das kann sich in Abgrenzung oder Konfrontation zwischen den Generationen äußern, es kann aber auch dazu führen, dass das Trauma sozusagen unbewusst von den Nachkommen übernommen bzw. an sie weitergegeben oder auch in angepasster oder aktualisierter Form auf die gegenwärtige Lebenssituation übertragen wird. Zu den Folgen weitergegebener Traumata und deren Wirkung wurde intensiv bei Holocaustüberlebenden und ihren Nachkommen geforscht.14 Auch das Hamburger Feuersturm-Projekt hat sich bei der Erforschung der Erinnerungen an den Luftangriff auf Hamburg im Familiengedächtnis mit den psychologischen Folgen dieser Erinnerungen beschäftigt.15 Das Historikerteam hat sich gemeinsam mit Psychologen
lasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen, Weinheim, München 2008, S. 95f. 14 Vgl.: Hirsch, Marianne: „Projected Memory: Holocaust Photographs in Personal and Public Fantasy”, in Bartholomae, David/Petrosky, Tony (Hrsg.): Ways of Reading Words and Images, Boston 2003. Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York 2012. 15 Lamparter, Ulrich/Apel, Linde/Thießen, Malte/Wierling, Dorothee/Holstein, Christa/Wiegand-Grefe, Silke (Hrsg.): Zeitzeugen des Hamburger „Feuersturms“ und ihre Familien. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur transgenerationalen Weitergabe traumatischer Kriegserfahrungen, in: Radebold, Hartmut/Bohleber, Werner/Zinnecker, Jürgen (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen, Weinheim und München 2008, S. 215-256. Thießen, Malte: Der Luftkrieg
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dem Forschungsgegenstand genähert und auf diese Weise den interdisziplinären Zugang gesucht, um die Wirkung und Bedeutung der Weitergabe dieser traumatischen Erfahrungen zu untersuchen.16 Die Nachkommen der Zweiten-Weltkriegsgeneration und ihr Umgang mit der Mittäterschaft der Familienmitglieder wurden auch populärwissenschaftlich in den diversen Büchern über Kriegskinder und Kriegsenkel aufbereitet.17 Im Falle der palästinensischen Interviewpartner ist die Nakba im kollektiven Bewusstsein noch aktuell, bzw. wird die Erinnerung wachgehalten, um Unrechtsbewusstsein und Widerstand aufrecht zu erhalten. Dieses Andauern und forcierte Konservieren des Traumas durch die Nakba macht die Abgrenzung oder Loslösung auch für die Angehörigen der dritten Generation sehr schwer. Auch lässt sich innerhalb der palästinensischen Gesellschaften das kommunikative Gedächtnis nicht so klar von dem kulturellen trennen, wie es die Definition von Aleida und Jan Assmann vorgibt. Vielmehr sind die Grenzen fließend, und die vorgegebene Lebensdauer von 80 Jahren bzw. drei oder vier Generationen könnte im palästinensischen Fall aufgrund der hohen Bedeutung der Erzählungen überschritten werden, da die Erinnerungen der Nakba-Generation den nachfolgenden Generationen bewusst zur Konservierung und als Auftrag vermittelt werden. Dem kommunikativen Gedächtnis, welches im Vergleich zum
als Lebens- und Familiengeschichte. Medien und Rahmen der Erinnerung an den „Feuersturm“, in: Lamparter, Ulrich/Wierling, Dorothee/WiegandGrefe, Silke (Hrsg.): Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre Familien, Göttingen 2013, S. 104-123. 16 Möller, Birgit/Thießen, Malte: Familiäre Tradierung des „Feuersturms“ in psychologischer und historischer Perspektive: Drei Generationen berichten, Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin. 8 (2010), 1. 17 Bode, Sabine: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart 2009. Bode, Sabine: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2004.
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kulturellen auch als „Kurzzeitgedächtnis“18 bezeichnet wird, kommt hier in Bezug auf die oben genannte, strenge Definition eine spezielle Bedeutung zu, da das palästinensische kommunikative Gedächtnis Merkmale wie auf „Dauer und Wiederholung“ angelegte „historische Bezugspunkte“19 aufweist, die per Definition dem kulturellen Gedächtnis zuzuschreiben wären. Im Falle der palästinensischen Erinnerungskultur verschwimmen die definitorischen Grenzen zwischen dem sogenannten alltagsnahen kommunikativen Gedächtnis und dem alltagsfernen kulturellen Gedächtnis. Der Anspruch, dass sich nur das kollektive Gedächtnis auf wichtige, schicksalhafte Ereignisse konzentriere, während sich das kommunikative Gedächtnis ausschließlich der Alltagskultur widme, ist aber generell schwer zu vertreten. Auch Sabine Damir-Geilsdorf hinterfragt die Trennung der Kategorien in ihrer Untersuchung kritisch, und ihr Fazit bezogen auf die kulturwissenschaftliche Forschung kann man in diesem Punkt sicherlich auf das Feld der Oral History übertragen: „In der kulturwissenschaftlichen Forschung wurde an der Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis daher auch vielfach kritisiert, dass diese beiden Gedächtnismodi als analytische Kategorien nur ungenügende Trennschärfe aufweisen, da weder das kommunikative Gedächtnis ohne Formen der Kulturalisierung auskommt noch das kulturelle Gedächtnis ohne kommunikative Akte.“20
Ich schließe mich an diese Darstellung insofern an, als gerade wichtige historische Ereignisse, wie in diesem Falle die Nakba, immer wieder neu kommuniziert und verbal thematisiert werden müssen, damit sie ihre Relevanz und Bedeutung sowohl für das Kollektiv als auch für den
18 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, zitiert in: Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis, Hamburg 2001, S. 13. 19 Assmann, Aleida: Religion und kulturelles Gedächtnis, zitiert in: DamirGeilsdorf: Nakba erinnern, S. 48. 20 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 51.
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Einzelnen behalten können. Insofern greifen das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis ineinander, die Kategorien wären alleinstehend auch weniger anwendbar und sind damit nicht so klar zu trennen, wie es ihre ursprüngliche Definition voraussetzt. Die Nakba als Narrativ, traumatischer Bezugspunkt und Begründung des Konflikts hat ihre Relevanz als historisches Ereignis keinesfalls eingebüßt, ist Gegenstand sowohl des öffentlichen als auch des privaten Diskurses (innerhalb der Westbank, des Gazastreifens aber auch in Israel) und Bestandteil des palästinensischen Identitätskonstrukts geworden.
IDENTITÄTSBEGRIFFE Der Begriff der Identität wird in den Humanwissenschaften zwar erst seit den 1940er Jahren, dafür seit den 1990er Jahren aber umso häufiger in unterschiedlichen Disziplinen und mit unterschiedlicher Interpretation verwendet. Im Bewusstsein um die Schwierigkeit des Identitätsbegriffs aufgrund seiner vielfältigen Interpretationen werden hier nur diejenigen Identitätsdefinitionen und jeweiligen spezifischen Untergruppen behandelt, die für die Untersuchung relevant sind. Identität wird aufgrund ihres Prozesscharakters als wandel- und beeinflussbares Konstrukt verstanden, welches sich einerseits durch die individuelle Interpretation des Individuums von der Außenwelt (Erfahrungen) und andererseits durch die Reaktionen der Außenwelt auf das Individuum (Rückmeldungen) speist.21 Von dem Moment an, in dem der Mensch sich seiner selbst und seines Umfelds bewusst wird, formt und gestaltet sich seine Identitätskonstruktion. Mit dem Wechsel des Umfelds, der Lebensbedingungen, des Wohnorts etc. wird auch seine Identität und Selbstwahrnehmung in Frage gestellt und neu definiert.
21 Kraus, Wolfgang: Identitäten zum Reden bringen. Erfahrungen mit qualitativen Ansätzen in einer Längsschnittstudie, Forum Qualitative Sozialforschung, 1 (2000), 2, S. 4.
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Für die Untersuchung ist der Prozesscharakter der Identitätskonstruktion von Bedeutung, da die Interviewpartner mit dem Beginn des Auslandsaufenthalts und dem damit einhergehenden geografischen Wechsel nach Deutschland zum einen ihr altes und bekanntes Umfeld verlassen und sich zum anderen im Ausland einleben und neu orientieren müssen. Mit der räumlichen Neuordnung und Selbstverortung geht auch eine Neuverortung der Identität im Spiegel des neuen Umfelds einher. Je länger der Auslandsaufenthalt dauert, desto nachhaltiger sind seine Spuren, zumal er in einer Altersphase stattfindet, die die Entwicklungspsychologie als eine prägende, als den Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter benennt, der die Persönlichkeit festigt. Alfred Schütz betont in seinem Artikel „Der Heimkehrer“ die anhaltende Wirkung des ursprünglichen Umfelds für das Individuum, das seine Bedeutung auch nach jahrelanger Abwesenheit nicht verliert: „Was er ist, was er wurde. Was er sein wird, ist durch diese Teilhabe an den mannigfaltigen aktuellen oder potentiellen primären Beziehungen, die innerhalb der Heimatgruppe vorherrschen, mitbestimmt.“22 Das ursprüngliche Umfeld und die „primären Beziehungen“ verlieren ihren Einfluss nie gänzlich, noch weniger, wenn die Migration nur temporär angelegt ist. Selbst- und Fremdzuschreibungen bringen Identitäten hervor, aber auch die Zugehörigkeit zu Wir-Gruppen sowie die Abgrenzung von anderen Gruppen sind bestimmende Faktoren für die kollektive Identitätsbildung. In der Untersuchung wird damit einhergehend der Schwerpunkt neben der personalen auf die soziale Identität gelegt, die es dem Individuum ermöglicht, sich beispielsweise einer Gruppe, Ethnie oder Nation zugehörig zu fühlen oder aber auch, sich von ihr abzugrenzen.23 Diese Selbstbestimmung durch die Abgrenzung vom Anderen prägt die palästinensische Eigendefinition in starkem Maße, der andauernde
22 Schütz, Alfred: Der Heimkehrer, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 76. 23 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 11f.
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Konflikt „produziert [...] auf beiden Seiten Abgrenzungen und Hass und [trägt] damit wesentlich zur wechselseitigen Feindbildperzeption und Identitätsbildung bei“.24 Die Untersuchung geht allerdings über diese Eigendefinition in Abgrenzung zum Gegenpart hinaus. Indem die ausgewählten Interviewpartner, bis auf zwei Teilnehmer, alle einen mehrjährigen Auslandsaufenthalt erleben, findet mit der räumlichen Distanz auch eine mittelbarere Auseinandersetzung mit dem Konflikt in der Heimat und dem ursprünglichen Umfeld statt. Und auch das „gewohnte Feindbild“ rückt etwas in Distanz, so dass die neu zu verortende Identitätskonstruktion auch weniger von der negativen Abhängigkeit der Konfliktparteien in der Heimat geprägt sein kann. Von Bedeutung für die Untersuchung ist auch das Verhältnis von Vergangenheit und Identität, und in welchem Maße erlebte Ereignisse, aber auch tradierte Erfahrungen das Selbstbild beeinflussen. Zu der Entwicklung personaler Identität wird die von Heinz Abels formulierte Definition genutzt. Diese impliziert eine vom Individuum zu schaffende bzw. zu erhaltende sinnvolle Ordnung in Bezug auf seine Vergangenheit und Gegenwart, gleichzeitig betont sie auch die Notwendigkeit, die Zukunft strukturiert anzugehen: „Identität ist das Bewußtsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben. In Hinsicht auf die Entwicklung des Individuums heißt Identität, die Vergangenheit mit der Gegenwart in einer sinnvollen Ordnung zu halten und die Zukunft planvoll anzugehen.“25
24 Ortlieb, Silvia: Palästinensische Identität und Ethnizität, Karlsruhe 1996, S. 70. 25 Abels, Heinz: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch
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Diese Bedingungen sind für die Interviewpartner aufgrund der Umbrüche in ihrem Leben oft nicht leicht zu erfüllen. Durch den langen Aufenthalt im Ausland wird das Identitätskonstrukt der Studierenden vielen unterschiedlichen oder auch sich konträr zu Bekanntem verhaltenden Einflüssen ausgesetzt, und die daraus resultierenden Identitätsfragen und Neuverortungen können als notwendige „Begleiterscheinungen des kulturellen und sozialen Wandels, oder auch als Folgen einer Flexibilisierung von Lebensformen“ verstanden werden.26 Abels betont weiterhin die Notwendigkeit des Individuums, eine „Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen“ zu finden, und auch dies gestaltet sich für die Interviewpartner der Untersuchung im Zusammenhang mit ihrem ursprünglichen Umfeld nicht leicht.27 Denn der durch die temporäre Migration bedingte veränderte Lebensmittelpunkt der Probanden erfordert wiederum auch eine Neuorientierung des Handelns und des „Habitus des gesellschaftlich geprägten Akteurs“,28 der eine Rückkehr in die alten Muster erschwert. Der Aspekt der temporären Migration wird nach den Ausführungen von Petrus Han betrachtet, der sich auch mit der studentischen Migration beschäftigt. Die temporäre Migration geht ihm zufolge zwangsläufig mit einem Prozess einher, der es von den Studierenden verlangt,
auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden 2001, S. 196. 26 „Und die moderne Identität erscheint gerade dort als besonders differenzierte, reflexive und individuelle Identität, wo die Möglichkeiten von divergierenden Normen- und Wertesystemen, von unterschiedlichen Formen der Zugehörigkeit und Verbindlichkeit und von Inkonsistenzen in Rollenmustern und Interaktionsformen etc. vorhanden sind.“ Zirfas, Jörg: Identität in der Moderne. Eine Einleitung, in: Jörissen, Benjamin/Zirfas, Jörg (Hrsg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung, Wiesbaden 2010, S. 14f. 27 Abels: Identität, S. 196. 28 Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Die Dispositionen des Habitus und die Dialektik von Habitus und Feld, Hamburg 1995, S. 60f.
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sich auf das gewählte Studienland einzulassen und für diesen Zeitraum ihren Lebensmittelpunkt neu zu verorten.29 Damit verbundene Erfahrungen bewirken und beeinflussen Identitätsprozesse, provozieren auch das Infragestellen ursprünglicher Normen und Werte und damit auch des Selbstbilds, denn der Aufenthalt in einem fremden Land ist „zwangsläufig mit einem Akkulturationsprozeß verbunden“ und „je länger der Auslandsaufenthalt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Studierenden sich ihren heimatlichen Verhältnissen entfremdet haben.“30 Das Thema des Fremden und des Heimkehrenden wird in den gleichnamigen Arbeiten von Alfred Schütz untersucht, der sich in den beiden Artikeln sowohl mit den Integrationserfordernissen der Migrierenden als auch den Reintegrationsumständen der Zurückkehrenden beschäftigt. Schütz behandelt den Prozess der Anpassung des Einzelnen in der Fremde bei gleichzeitiger Ausgrenzung durch das neue Umfeld. In dem Text zum Heimkehrenden beschreibt er das Spannungsfeld zwischen Erlebtem sowie den Erwartungen des Heimkehrers und den Erwartungen der Zurückgebliebenen31. Problematisch für die Interviewpartner wird die erforderliche „Übereinstimmung zwischen individueller Bedürfnisdisposition und den normativ formulierten Rollenerwartungen des [zumal in diesen Biografien wechselnden relevanten] Sozialsystems“, da die Studierenden versuchen müssen, „beide Pole in Übereinstimmung [zu] bringen, um konform zu [jeweils] kulturell vorgegebenen und über das Sozialsystem vermittelten Erwartungen handeln zu können.“32 Michael Jungert hält der Forderung Abels entgegen, dass in der heutigen Zeit der Anspruch an einheitliche biografische Identitäten vor
29 Han, Petrus: Soziologie der Migration. Stuttgart 2000, S. 94. 30 Ebd. 31 Siehe: Schütz, Alfred: Der Fremde. Der Heimkehrer, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze, S. 53-84. 32 Junge, Matthias: Die Persönlichkeitstheorie von Talcott Parsons, in: Jörissen/Zirfas: Schlüsselwerke der Identitätsforschung, S. 113f.
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dem Hintergrund einer immer komplexeren und segmentierten Außenwelt nicht mehr zeitgemäß sei.33 Der Einwand ist sicherlich berechtigt, dennoch ist dem Individuum an einem stimmigen und harmonischen Identitätskonstrukt gelegen, welches sowohl den eigenen Ansprüchen als auch denen des jeweiligen Umfelds entspricht. Und mit Albrecht Lehmann soll ergänzt werden, dass „in vielen Fällen die Entwicklung nicht bruchlos [verläuft]. Dann sieht sich der Einzelne genötigt, sein Leben neu zu interpretieren und nun Vergangenheit und Gegenwart in ein stimmiges Ganzes zu bringen. Er will das tun, um seine Selbstachtung aufrechterhalten zu können.“34 Aber welche Erfahrungen und welche Bezugspunkte für diese Neuordnung geeignet sind, und wie diese unterschiedlichen Einflüsse in ein Gleichgewicht gebracht werden können, das ist mitunter schwer zu entscheiden. Nach dem langen Auslandsaufenthalt befinden sich die Interviewpartner oft zwischen den Stühlen. Im Extremfall geht dem Betroffenen das klare Gefühl für seine eigenen Bedürfnisse verloren, er kann kaum noch differenzieren zwischen den Erwartungen des ursprünglichen Umfelds und den eigenen Bedürfnissen, oder im Falle der Frage nach dem zukünftigen Wohnort zwischen den Vor- und Nachteilen des ursprünglichen und des aktuellen Heimatlands.
BIOGRAFISCHE IDENTITÄT Für diese notwendige Neuinterpretation, auf Basis einer Balance von Vergangenheit und Gegenwart, ist die biografische Identität von großer Bedeutung. Jungert beschreibt deren Charakterisierungsmerkmale
33 Jungert, Michael: Personen und ihre Vergangenheit. Gedächtnis, Erinnerung und personale Identität, Berlin 2013, S. 70. 34 Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf, Frankfurt am Main 1997, S. 29.
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„als die Fähigkeit von Personen, sich über die Zeit hinweg als Individuen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und einer (mehr oder weniger) kohärenten biografischen Geschichte zu erfahren und auf dieser Grundlage die personale Gegenwart und Zukunft gestalten zu können.“35
Hier kommen also die persönliche Lebensgeschichte und die Vergangenheit von Personen oder Gruppen als Element der Identitätsfindung und -konstruktion hinzu. Jungert versteht Erinnerung nicht nur als indikatives, sondern darüber hinaus als konstitutives Kriterium personaler Identität36 und räumt der Bedeutung und Wirkung von Erinnerung und Gedächtnis für die Bildung und Formierung eines Selbstbilds hohe Bedeutung ein: „Biografische Identität entsteht, manifestiert und verändert sich auch durch die ,Erzählung‘ wichtiger Ereignisse, Handlungen, Begegnungen, Gedanken [und] Wünsche“. 37 Jungert betont außerdem die Entscheidung für den Begriff der biografischen statt der autobiografischen Identität, da ersterer definitorisch auch die Möglichkeit der Einflussnahme vom Umfeld beinhaltet.38 Und da in dieser Arbeit Identität sowohl als Produkt der Selbstwahrnehmung als auch aber der Spiegelung und Einflussnahme durch die Gruppe und die Gruppenselbstwahrnehmung verstanden wird, erscheint der Begriff der biografischen Identität passend, denn „[d]ie Ausbildung eines evaluativen Selbstverständnisses, als welches wir die biographische Identität von Personen charakterisiert haben, lässt sich nur unter Berücksichtigung sozialer Interaktionen und Kontexte angemessen beschreiben. Dies gilt sowohl für die Entstehung biographischer Identität in der frühen Ontogenese als auch für ihre spätere Entwicklung.“39
35 Jungert: Personen und ihre Vergangenheit, S. 178. 36 Jungert: Personen und ihre Vergangenheit, S. 207. 37 Jungert: Personen und ihre Vergangenheit, S. 77. 38 Jungert: Personen und ihre Vergangenheit, S. 63. 39 Jungert: Personen und ihre Vergangenheit, S. 160f.
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Die weiteren äußeren Einflüsse, welche auf die biografische Identität mit einwirken, beinhalten das soziale Umfeld, Erziehung, Religion, gesellschaftliche und kulturelle Werte und Gesetzmäßigkeiten, um nur einige zu nennen. Die Interviewpartner sind durch die temporäre Migration in mancher Hinsicht extremen Gegensätzen ausgesetzt, nur ein Beispiel ist der gegenwärtige Individualismusauftrag in der europäischen Gesellschaft, der der geforderten Unterordnung unter die Bedürfnisse des Kollektivs oder auch den bestehenden Hierarchien in arabischen, hier palästinensischen, Gesellschaften gegenübersteht. Die zum Teil konträren Rückmeldungen aus altem und neuem Umfeld müssen von den Interviewpartnern, wie Abels fordert, in Balance gebracht werden, um einen Identitätskonflikt oder Konflikte mit dem jeweiligen Umfeld zu vermeiden. Vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts und den damit einhergehenden Existenzfragen und -streitigkeiten hat die Identitätsbestimmung des Einzelnen aber auch des Kollektivs größere Bedeutung als in Gesellschaften, in denen die Identität und Herkunft und die damit einhergehende Existenzberechtigung nicht wiederholt in Frage gestellt oder als bedroht empfunden wird. Deswegen kommt dem Narrativ der palästinensischen Identität innerhalb der palästinensischen Gesellschaft und auch innerhalb der Interviews eine große Bedeutung zu.
PALÄSTINENSISCHE IDENTITÄT Der Begriff der kollektiven palästinensischen Identität birgt aufgrund der unterschiedlichen Lebensbereiche der Palästinenser in Gaza, der Westbank, in Israel und in den Flüchtlingslagern der arabischen Nachbarländer begriffliche Schwierigkeiten. Gilt kollektive Identität generell schon als fragwürdiges Konstrukt, fehlen im palästinensischen Fall noch der nationale und der einheitliche geografische Faktor für das Kollektiv. Die Bevölkerung von Gaza und der Westbank, die 48er und die Palästinenser in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer haben aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen außer ihrem kultu-
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rellen Gedächtnis, ihrem Wunsch nach einem palästinensischen Staat und einem Identitätsgefühl – zu großen Teilen basierend auf der Abgrenzung zum Feindbild Israel – heute wenig gemein. Hinzu kommt die forcierte Negierung der palästinensischen Identität als Indiz für die Zugehörigkeit zum Land durch die israelische Politik, die „Palästinenser [wurden] als ein Kollektiv dargestellt, das keine tiefe und dauerhafte Identität zum Land entwickelt hatte“.40 Diese Zuschreibungen scheinen aber die Existenz der palästinensischen Identität eher zu stärken als zu dekonstruieren. Denn gerade die fehlende nationale Anerkennung scheint in Kombination mit den Herkunfts- und Existenzdebatten innerhalb Israels der sogenannten palästinensischen Identität eine über die bloße soziale Zugehörigkeit und Verortung hinausgehende Bedeutung zu verleihen. Es gilt daher, den Fokus mehr auf verbindende Elemente und Gemeinsamkeiten zu richten, als sich auf ein einheitliches Konstrukt zu konzentrieren. Einer Studie von Mahmoud Mi’ari von der Birzeit Universität aus dem Jahr 2009 zufolge definieren sich die Palästinenser in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten vor anderen relevanten identitätsstiftenden Kategorien wie der Religion oder der Idee des Panarabismus zunächst über ihre palästinensische Identität.41 Und auch die Interviewpartner der Untersuchung betonen alle ihren Status als Palästinenser, unabhängig davon ob sie staatenlos sind oder einen israelischen Pass besitzen. Sowohl das Konstrukt der kollektiven als auch das der individuellen palästinensischen Identität hat somit eine große Bedeutung für das palästinensische Selbstverständnis. Häufig wird in den Interviews das „Palästinensisch-Sein“ und die „palästinensische Identität“ angespro-
40 Sa’di, Ahmad H.: Die nationale Identität der palästinensischen Bevölkerung in Israel. Eine kritische Analyse, in: Klein, Uta (Hrsg.): Die Anderen im Inneren. Die arabisch-palästinensische Bevölkerung in Israel, Schwalbach/Ts. 2003, S. 49. 41 Mi’ari, Mahmoud: Transformation of Collective Identity in Palestine. Journal of Asian and African Studies, 44 (2009), S. 589f.
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chen, und es folgen stilistische Sprünge vom „Ich“ in das kollektive „Wir“. Aus diesen Gründen wird trotz der grundsätzlichen definitorischen Schwierigkeiten der Begriff der palästinensischen Identität für die Arbeit verwendet.
Das problemzentrierte Interview zur Rekonstruktion individueller Erfahrungsräume
BESCHREIBUNG DER INTERVIEWS Die Idee zu dieser Untersuchung entstand durch den Kontakt zu palästinensischen Studierenden, die ich in der Bibliothek der Freien Universität kennenlernte. In den Gesprächen mit ihnen stellte ich zum einen fest, wie rudimentär mein Wissen über ihre Situation in ihrer Heimat war, und zum anderen bemerkte ich bei ihnen ein starkes Bedürfnis, von ihrem Leben zu erzählen und über die Situation der Palästinenser aufzuklären. Oft hatte ich den Eindruck, sie verspürten das Bedürfnis, die Rolle der Palästinenser im Nahostkonflikt zu rechtfertigen und Verständnis für diese Seite im Konflikt zu erreichen. Ihr Aufenthalt in Deutschland hatte ihnen andere Perspektiven auf den Konflikt in ihrer Heimat aufgezeigt, aber sie auch in Diskussionen mit vielen deutschen Vorurteilen ihnen gegenüber konfrontiert. Dieser von ihnen empfundenen Schieflage und der als einseitig empfundenen Berichterstattung der deutschen Medien über den Nahostkonflikt schienen sie mit ihren Schilderungen begegnen zu wollen, und bereits an dieser Stelle entstand der Eindruck, dass die Studierenden vielen Konflikten ausgesetzt waren. Bei den ersten Recherchen fiel auf, wie wenig Literatur und Information zu ihrer Lebenssituation zu finden war, so dass ich mich
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schließlich entschied, die gängigen Altersgrenzen der Zeitzeugenforschung zu ignorieren und diese Gruppe zum Gegenstand meiner Untersuchung zu machen. Nachdem ich die ersten Interviews mit meinen Bekannten aus der Universität durchführen konnte, stieß ich bei der Suche nach Gesprächspartnern außerhalb dieses Netzwerks zunächst auf Schwierigkeiten, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Um aber auch Interviewpartner zu finden, die außerhalb dieser gut vernetzten Berliner UniGruppe stehen und so einer eventuellen Eigenzensur aufgrund von Wiedererkennungsbefürchtungen zu begegnen, versuchte ich, auch über andere Wege Interviewpartner zu gewinnen. Als ich mich ohne persönliche Empfehlung an Institutionen wie den palästinensischen Studierendenverein in Berlin wandte, wurde mir zunächst mit grundsätzlichem Misstrauen begegnet, da man dort befürchtete, ich könnte vom israelischen Geheimdienst Mossad beauftragt worden sein, die Studierenden im Ausland zu überprüfen. Ein Testinterview mit einem in Deutschland geborenen Palästinenser und damit ungefährdetem Mitglied des Vereins wurde vereinbart. Von Vorteil war, dass ich ohne Kenntnis dieser Vorsichtsmaßnahmen in das Gespräch ging, man berichtete mir erst danach davon, sonst hätte ich mich im besonderen Bemühen um Normalität sicher auffällig unauffällig verhalten. Mir wurden danach viele Erfahrungen aus zweiter oder dritter Hand geschildert, in denen ahnungslose palästinensische Studierende von Mitarbeitern des Geheimdienstes in Fallen gelockt und im Anschluss erpresst wurden. Es wurde beispielsweise von jüdischisraelischen Agentinnen berichtet, die Inhaftierte verführten, um sie danach mit belastendem Videomaterial zu erpressen. Das ist nur eine der kolportierten Geschichten, die manchmal sehr nach James-BondFilmen aus den 1980er Jahren klangen. Die beschriebene Unsicherheit und ein oft damit einhergehendes Misstrauen gegenüber der „Neugierde“ der Interviewerin liegen in der Herkunft der Probanden begründet. In den Berichten über den israelischen Geheimdienst zeigte sich eine große Sorge vor Überwachung, man berichtete von israelischen Grenzbeamten, die bei der Abreise ins Ausland die palästinensischen Studie-
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renden mit den Worten verabschiedeten „Sei dir sicher, ich weiß alles, was du machst, ich weiß sogar, wann du pinkelst.“ Diese weitererzählten Geschichten bedurften für die Studierenden keinerlei Überprüfung, die Sorge vor Überwachung und die Angst vor möglichen Konsequenzen begleiteten sie. Erzählungen über israelische Grenzbeamte, die ihnen bei der Ausreise nahelegten, doch gleich im Ausland zu bleiben, ergänzten die Befürchtungen, vielleicht nicht wieder einreisen zu können. Im Zusammenhang mit diesem Kontakt entstanden dann dennoch Interviews unter anderem aber auch mit deutschen Studierenden palästinensischer Abstammung, die mir Einblick in ihre Arbeit im Verein gaben und die ich deshalb als zusätzliche Experteninterviews führte. Mit dieser längeren Anlaufphase hatte ich vorher nicht gerechnet, das Misstrauen und auch die Ängste der Studierenden unterschätzt. Naiv erscheinen mir im Nachhinein meine Aushänge, in denen ich mit 20 Euro Prämie für ein Interview zu überzeugen versuchte. Zumal diese Zettel auch des Öfteren schnell wieder verschwanden und mir von einem Kontakt rückgemeldet wurde, dass die angebotene Bezahlung den Verdacht, der Mossad hätte mich beauftragt, noch verstärken würde. Obwohl der israelische Geheimdienst sicherlich mehr zahlen könnte als meine überschaubaren 20 Euro, entschied ich mich gegen diese erfolglose Art der Akquise und konzentrierte mich fortan nur noch darauf, mich durch Empfehlung vermitteln zu lassen. Nach dieser ersten enervierenden Durststrecke, in der mir Interviews spontan abgesagt wurden, vermeintlich vorbereitete vermittelte Kontakte nicht erfreut darauf reagierten, dass mir ihre Nummer ausgehändigt worden war, oder ich plötzlich 150 Euro für ein Interview zahlen sollte, funktionierte das Schneeballsystem, und von da an hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, über persönliche Empfehlungen an die gesuchten Gesprächspartner zu gelangen. Für die Untersuchung wurden 14 Interviews mit männlichen Studierenden und Absolventen aus Israel, der Westbank und dem Gazastreifen durchgeführt und ausgewertet.
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Neben den Experteninterviews mit Mitgliedern des palästinensischen Studentenvereins mit palästinensischem Hintergrund durch beide Eltern, habe ich außerdem ein weiteres Experteninterview mit dem damaligen Generaldelegierten Palästinas Salah Abdel Schafi und als Ergänzung Interviews mit einigen weiteren Deutschen mit jeweils einem palästinensischen und einem deutschen Elternteil durchgeführt. Außerdem führte ich zunächst auch mehrere Interviews mit weiblichen Interviewpartnern durch. Es zeigte sich aber in den ersten vier Interviews bereits, dass die Erfahrungen und Schilderungen, aber auch die Voraussetzungen und Erwartungen von und an die männlichen und weiblichen Studierenden so unterschiedlich waren, dass dieser Ansatz einen Vergleich gefordert hätte und Gegenstand einer eigenen Untersuchung hätte werden müssen. Die Zahl der männlichen Studierenden schien zudem deutlich höher, was mit dem häufigeren Entsenden männlicher Familienmitglieder ins Auslandsstudium zusammenhängen wird. Auch sind die Problematiken von familiärer Erwartung an die Rückkehr, Verantwortungs- und Pflichterfüllung bei den männlichen Studierenden in der Regel stärker. Die vier durchgeführten Interviews mit weiblichen Studierenden legten auch die Vermutung nahe, dass das Gros der weiblichen palästinensischen Studierenden aus liberaleren Familien stammt, die nicht unbedingt als repräsentativ zu werten sind. Wohingegen bei den männlichen Teilnehmern unterschiedlichste familiäre Hintergründe zu finden sind. Allein die Bandbreite des familiären Bildungsgrads verdeutlicht das, sowohl die Söhne von studierten Lehrerpaaren als auch die von Handwerkern mit nur fünfjähriger Schulbildung oder Analphabetentum sind in der Gruppe vertreten. Aus diesen Gründen fiel die Entscheidung auf eine Untersuchung der männlichen Studierenden. Nach Einwilligung der Interviewpartner vereinbarte ich den Termin an einem Ort ihrer Wahl, um so eine Umgebung garantiert zu wissen, in der sich die Gesprächspartner wohl und sicher fühlten. Eventuelle Störungen, Hintergrundgeräusche oder andere Unterbrechungen wurden bewusst in Kauf genommen, da das Wohlbefinden der Interview-
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partner für das Gelingen eines guten Interviews höher bewertetet wurde. Vor Beginn der Interviews erhielt jeder Teilnehmer ein Dokument, das meinen vertraulichen Umgang mit den Informationen, die Anonymisierung ihrer Schilderungen und die ausschließliche Nutzung der Daten für die Dissertation garantierte. Gleichzeitig wurde ein Teilnehmerbogen ausgefüllt, der Basisinformationen über die Interviewpartner und Kontaktdaten ihrer Wahl beinhaltete. Auszufüllen waren neben Namen, Geburtsdatum und -ort freiwillige zusätzliche Informationen, darunter auch die Berufe der Eltern, das Datum ihrer Ankunft in Deutschland und für den individuellen Fall das Datum einer geplanten Rückkehr. Diese letzte Frage konnten nur die wenigsten beantworten. Eine Übersicht über die ausgefüllten Bögen enthält der Anhang.
METHODISCHES VORGEHEN Zu überdenken galt es die anfängliche Erwartung an das idealtypische biographische Interview. Ohne jegliche Einschränkung durch Redebeiträge der Interviewenden sollten gänzlich offene Interviews erreicht werden, denn „während die konventionelle sozialwissenschaftliche Methodenauffassung vom Bild eines ,neutralen‘ Forschers ausging, wurde in den letzten Jahren zunehmend erkannt, dass gegenseitige Erwartungshaltungen, Reaktions- und Interaktionszusammenhänge zwischen der interviewten Person und der Person des Interviewers stets Auswirkungen auf die Äußerungen im Interview haben“,1
und dieses Einflusspotential sollte verhindert werden. Nachdem ich aber in meinem ersten Interview mit einem guten Bekannten, das auch als Testlauf galt, versucht hatte, mich als Interviewende nach der Impulsfrage zu Beginn des Interviews gänzlich zu-
1
Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 38.
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rückzunehmen, konfrontierte mich nach kurzer Zeit der Gesprächspartner humorvoll mit der expliziten Aufforderung zur Gesprächsbeteiligung. Er begründete dies mit der Erklärung, dass ja kein Verhör stattfinden würde. Da eine solche Empfindung keinesfalls dem Ideal eines gelungenen biografischen Interviews entspricht, verwarf ich das Vorhaben der bloßen stillen Teilnahme an dieser Stelle und verließ mich fortan in den Interviews auf mein Empathie-Vermögen und reagierte individuell auf das Kommunikationsverhalten oder -bedürfnis des jeweiligen Gesprächspartners. Natürlich könnte man einwenden, dass auf diese Weise automatisch Einfluss durch den Interviewenden auf den Verlauf des Interviews und damit auch die Auswahl der erinnerten Erfahrungen genommen wird. Dennoch ist der Gewinn, durch eine aktive Zuhörerrolle dem Interviewpartner eine angenehme Erzähl-Atmosphäre zu schaffen, für die erfolgreiche Datenerhebung größer als durch den Versuch, eine gänzlich einseitige Interviewsituation zu gestalten, die es dem Interviewpartner unmöglich macht, die Interviewsituation zu vergessen und sich entspannt auf die biografische Erzählung einzulassen. Im Idealfall eines gelungenen offenen biografischen Interviews autonomisiert sich die Erzählung der Interviewten nach kurzer Zeit, so dass die grundsätzliche Interviewatmosphäre letztlich ausschlaggebender ist als der Grad der Beteiligung durch den Interviewer. Der grundsätzliche Einfluss der Rahmenbedingungen auf die Erzählsituation, wie zum Beispiel des Ortes, des Geschlechts der Gesprächspartner, des Bekanntheitsgrads, des Alters oder der Sprache, lässt sich ebenfalls nicht gänzlich vermeiden, doch die jeweiligen spezifischen Umstände verringern nicht automatisch die Qualität der erhobenen Daten. Eher sollte man sich dieser Einflussfaktoren bewusst sein und die Interviewsituation als eine „intersubjektive Produktion von Daten“ und als „Teil eines sozialen Prozesses“2 verstehen. In dem Fall dieser Untersuchung waren die Grundbedingungen (weibliche deutsche Interviewende ohne arabischen Hintergrund inter-
2
Ebd.
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viewt männlichen palästinensischen Gesprächspartner in deutscher oder englischer Sprache) in jedem Interview dieselben. Eine Untersuchung durch einen männlichen Interviewenden, einen Interviewer aus dem gleichen Herkunftsland, in einer gemeinsamen Muttersprache oder auch ein gleiches Berufsfeld hätten jeweils andere Kommunikationsebenen oder auch Ausdrucksweisen der Interviewpartner produziert. Problematisch und gesondert zu berücksichtigen wären solche Divergenzen aber nur im Falle einer breiter angelegten Erhebung mit verschiedenen Interviewenden, doch das war in dieser Untersuchung nicht der Fall. Im Sinne der Grounded Theory war es Ausgangspunkt des methodischen Vorgehens, den erhobenen Daten „die Priorität gegenüber theoretischen Annahmen“3 einzuräumen und deshalb inhaltliche Vorannahmen zu vermeiden und so auf die im Interview auftretenden Themen zu reagieren. Der individuelle Diskursrahmen der Interviewpartner mit ihren Tabus und ihren Relevanzen sollte immer Ausgangspunkt der Datenerhebung sein und Berücksichtigung finden. Eine kurze inhaltliche Einleitung vorab erwies sich als hilfreich, denn es kam bei den Interviewpartnern häufig zu einer anfänglichen Unsicherheit gegenüber der Situation und dem – wenn nicht näher erklärten – vagen Interesse an ihrer individuellen Lebensgeschichte. Das betraf vor allem die Probanden, die über Kontakte vermittelt wurden und zu denen vorher kein persönlicher Kontakt bestand. Aus diesen Gründen entschied ich mich für die problemzentrierte Interview-Methode von Andreas Witzel,4 die nach einer einführenden Problemzentrierung in Form einer kurzen Einführung in die Thematik weitestgehend offene biografische Interview ermöglicht. Das „induk-
3
Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Keupp, Heiner/von Rosenstiel, Lutz/Wolff, Stephan (Hrsg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, Weinheim 1995, S. 151 und S. 180f.
4
Witzel, Andreas/Reiter, Herwig: The problem-centred Interview, London/Thousand Oaks, Ca./New Delhi/Singapore 2012.
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tiv-deduktive Wechselverhältnis“5 bietet sowohl die Möglichkeit eines offenen Erfahrungsberichts durch die Interviewpartner, als auch den Raum für mögliche Nachfragen durch die Interviewenden. Für die Problemzentrierung verfasste ich einen kurzen Informationstext, den ich den Gesprächspartnern im Vorfeld aushändigte und sie auch ermunterte, mir mögliche Fragen über Vorgang und Ablauf der Interviews zu stellen. Dieser Text stellte das Dissertationsprojekt und meine Person kurz vor, beinhaltete außerdem Angaben und Kontaktdaten zu meiner Person und grenzte das Themenfeld aber nur insofern ein, dass ich das Forschungsinteresse an ihrer Generation und Gruppe erklärte. Der Einsatz des Informationsbogens erleichterte die Erhebungsphase, da sich die Interviewpartner auf diese Weise auf das dann folgende offene Interview besser einlassen konnten. Manchmal fielen zunächst auch eine selbstreflektierte Erzählweise und der Fokus auf die persönliche Wahrnehmung zunächst nicht so leicht. Oder Interviewpartner hatten etwas vorbereitet, sich einleitende Worte oder vortragsähnliche Texte überlegt oder sich im Vorfeld ein Leitfadeninterview vorgestellt. Diese anfänglichen Unsicherheiten verflogen aber jedes Mal schnell und die Impulsfrage „Wann bist du nach Deutschland gekommen und warum?“ erleichterte den Einstieg in den Erzählfluss. Es folgten dann oft zunächst unterschiedlich lange oder detaillierte chronologische Schilderungen der Ankunftssituation oder der ersten Studienjahre. Im Verlauf des jeweiligen Interviews wurden die Erzählungen dann spontaner, individueller und reflektierender. Und so funktionierte dann auch das induktive Vorgehen, da sich aus dem meist chronologischen biografischen Beginn die individuellen Folgethemen von selbst entwickelten. Der absolute Großteil der Interviewpartner fand sich schnell in die Interviewsituation ein, oft wurde die freie Erzählung über die eigenen Erfahrungen, Sorgen und Pläne als angenehm empfunden. So entstanden mindestens einstündige, in der Regel zwei-
5
Witzel, Andreas: Das problemzentrierte Interview. Forum Qualitative Sozialforschung, Social Research, 1 (2000), 1, S. 2.
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bis dreistündige Interviews. Mehrfach wurden Folgetermine vereinbart, um die Erzählungen in Ruhe beenden zu können. Bei diesen Terminen konnte ich dann auch am Ende Fragen stellen, die ich mir während des ersten Interviews oder im Nachhinein notiert hatte. Die lange Dauer der Interviews war erwünscht, weil auf diese Weise Themen aufkamen, die in der ersten Stunde keinen Platz gefunden hätten. Nach dem Gespräch schrieb ich immer noch eine Mail, in der ich mich für das Interview bedankte, auch vor dem Hintergrund, dass dieses manchmal von dem Teilnehmer selbst als überraschend emotional empfunden wurde. So sollte der Eindruck vermieden werden, ich wäre mit ihren persönlichen Geschichten im Gepäck nun verschwunden oder nicht mehr ansprechbar. So sollte auch im Falle einer möglichen Verunsicherung, ob der oft spontanen Offenheit im Interview, das Vertrauen in den sorgsamen Umgang mit den Daten bestärkt werden. Nur in einem Fall schien ein Interviewpartner das Gespräch in gewisser Weise tatsächlich zu bereuen, da die Themen der Dissertation ihn trotz des Vorgesprächs gewissermaßen überraschten oder emotional zu belasten schienen. Diesen Eindruck hatte ich bereits während des Interviews, da sich seine Haltung von sehr selbstbewusst und mir erklärend sukzessive zu einer nachdenklicheren Haltung veränderte. Der Interviewpartner berichtete am Ende unsicherer und wirkte etwas erschöpft. Er schien sich während des Interviews mit seiner Situation und den Themen auseinanderzusetzen, wie es auch die anderen Interviewpartner taten. Dennoch machte es in seinem Fall den Eindruck, als schiene er mit Unbehagen zu realisieren, dass er nicht so viel über die Geschichte seiner Familie zu berichten wusste und sich dem Thema der Nakba nicht ausführlicher gewidmet hatte. In dieser Situation trat bei ihm wohl der Konflikt zwischen seinem gut funktionierenden Leben in Deutschland und dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber seiner palästinensischen Herkunft in Erscheinung. Als ich ihn im Nachhinein noch einmal wegen einer Unklarheit bei seinen Kontaktangaben anschrieb, antwortete er entschuldigend, dass es ihm lieber wäre, die Angaben zu seiner Person unvollständig lassen,
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da er den Eindruck habe, in seinem Interview bereits viel preisgegeben zu haben. Um seiner Unsicherheit oder einem möglichem Unbehagen entgegenzuwirken, beschrieb ich ihm noch einmal die Art der Auswertung, die Anonymisierung seiner Daten und die fragmentierte Verwendung der Interviews. Da die Interviews größtenteils in der Arbeit nur in Auszügen zitiert und nicht als voneinander abgetrennte Portraits verwendet werden, waren seine möglichen Sorgen wegen seiner Offenheit unbegründet. Die Interviews wurden dann in einem ersten Schritt beim Anhören der Aufnahmen und in einem zweiten Schritt bei der Durchsicht der Transkripte ausgewertet. Die in den Interviews auftauchenden Schlüsselbegriffe und Themen wurden zunächst markiert und gesammelt und auch in den eigenen Wissensbestand eingeordnet und dieser somit ergänzt und erweitert. Die jeweilige Auswahl der Schwerpunkte wurde dann mit den anderen Interviews verglichen und kategorisiert. Anhand der Häufigkeit, der erzählerischen Priorität dieser Ergebnisse oder dem Raum, den diese Themen in den Interviews einnahmen, wurden anschließend die noch folgenden Interviews ausgewertet und die inhaltlichen Schwerpunkte der Untersuchung entwickelt. Alle in der Arbeit behandelten Interviewpartner sind anonymisiert worden, indem sie fiktive Namen erhielten. Die Interviews wurden im Zeitraum von 2011-2017 geführt und mit einem Diktiergerät aufgenommen. Eine Übersicht über die Interviewpartner findet sich im Anhang. Die Daten zu den vier palästinensischen Interviewpartnerinnen, die aus dem Kriterienkatalog ausgeschlossen wurden, werden hier nicht vorgestellt. Auch die Daten zu den acht Experteninterviews mit Deutschen mit palästinensischem Hintergrund und dem damaligen Generaldelegierten von Palästina werden hier nicht veröffentlicht, da sie in der Arbeit nicht zitiert werden.
Die Nakba und ihr Einfluss auf die dritte Generation
EINLEITUNG Der transgenerationalen Tradierung von Geschichte, der Weitergabe von Familienerinnerungen und damit auch dem kommunikativen Gedächtnis kommen in der palästinensischen Gesellschaft zentrale Bedeutung zu. Die mündliche Überlieferung von selbsterfahrener und kolportierter oder auch ausgetauschter und damit kollektiv verhandelter Geschichte erscheint vor dem Hintergrund einer mangelnden offiziellen Gedenkkultur in Israel und im Hinblick auf die ausstehende Anerkennung der Geschehnisse um die Nakba aufgrund der andauernden Konfliktsituation überaus wichtig. Geht man von einer offiziellen öffentlichen Gedenkkultur als notwendigem Referenzrahmen für das Funktionieren des Familiengedächtnisses aus,1 so wird innerhalb der palästinensischen Gesellschaft in Israel diese Leerstelle durch eine ritualisierte private und semiöffentliche, weil nicht institutionalisierte Gedenkkultur gefüllt, deren Inhalte in die Gegenwart und in verschiedenste Bereiche des alltäglichen Lebens und der Selbstwahrnehmung der Akteure wirken. 1
Zur Bedeutung des Referenzrahmens für die Einordnung individueller Erinnerungen: Thießen, Malte: Gedächtnisgeschichte. Neue Forschungen zur Entstehung und Tradierung von Erinnerungen, Archiv für Sozialgeschichte 48, (2008), S. 21ff.
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Da außerdem wenige schriftliche Quellen aus der Zeit vor 1948 existieren und aufgrund der oralen Tradition innerhalb der zum Großteil bäuerlichen palästinensischen Gesellschaft kommt der Nutzung von Oral History, Interviews und oralen Überlieferungen überhaupt diese große Bedeutung zu. Nur Masalha beschreibt in seiner Arbeit The Palestine Nakba die Relevanz des Aufkommens der Oral History als Methode für die Forschung zur palästinensischen Geschichte: „Oral History revolutionised historical methodology by bringing to light hidden, suppressed or marginalised narratives.“2 Aus diesem Grund wird in der Arbeit auch das Verhältnis von kollektivem und kommunikativem palästinensischen Gedächtnis betrachtet, speist sich Ersteres bezogen auf die jüngere Vergangenheit doch vor allem aus Letzterem. Nach Harald Welzer müssten dann eine „dauerhafte Fixierung der Inhalte dieses Gedächtnisses“ und damit ein Übergang zum kulturellen Gedächtnis durch eine „organisierte und zeremonialisierte Kommunikation“ gewährleistet sein, damit die Erinnerungen nach dieser Zeitspanne nicht in Vergessenheit geraten.3 Diese strenge Definition für die Form, Dauer und Transformation des kommunikativen Gedächtnisses funktioniert generell aber nur bedingt und nicht, wenn man sie auf Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis anwendet, welches als nicht abgeschlossen empfunden wird, dessen Auswirkungen anhalten und/oder nicht aufgearbeitet werden konnten. In diesem Fall – so die These – ist die klar begrenzte definitorische Lebensdauer des kommunikativen Gedächtnisses außer Kraft gesetzt. Wenn die Bedeutung des Erinnerns, des Aufrechterhaltens des Diskurses über das Erfahrene und des Wachhaltens der Vergangenheit nicht abnehmen oder enden, dann nimmt auch die Bedeutung und Funktion des Tradierens und der intergenerationellen Weitergabe und damit des kommunikativen Gedächtnisses nicht ab. Welzer räumt ein, dass die Kategorien „kulturelles und kommunikatives Gedächtnis […] nur analytisch zu trennen sind; in der
2
Masalha: Palestine Nakba, S. 211.
3
Welzer: Gedächtnis, S. 13.
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Erinnerungspraxis“ seien „ihre Formen und Praktiken interdependent.“4 Wenn zusätzlich das Erinnern innerhalb der Gesellschaft in ritualisierter öffentlicher Form keinen Raum und keine Legitimierung, keinen Referenzrahmen und vor allem keine Anerkennung findet, verstärkt dies die Bedeutung des kommunikativen Gedächtnisses umso mehr. Die einschneidenden Ereignisse der Nakba und deren Konsequenzen können in Israel nicht frei erinnert werden, schließt der sogenannte Tag der Katastrophe doch direkt an den Feiertag der Staatsgründung Israels an. Eitan Bronstein widmet diesen beiden Schlüsseldaten nähere Aufmerksamkeit und geht von den unterschiedlichen Begriffen Tashakh (das jüdische Kalenderjahr 1948) und Nakba aus und erläutert, wie diese Termini, das gleiche Datum betreffend, dennoch gänzlich unterschiedliche Bezugspunkte darstellen, wenn beispielsweise an Orten in Israel sowohl der jüdische Unabhängigkeitstag als auch die Nakba getrennt erinnert werden. „The gap between tashakh and the 1948 Nakba is made visible through terms we use when relating to that period in time: the ,war of Independence‘, on the one hand, and the Nakba, on the other hand. In historical writing, the writer chooses whether to use terms from one discourse or the other; the two are not mixed together.“5
Die jährlich aufeinanderfolgenden Tage der Staatsgründung und der Nakba bieten aufgrund dieser Doppelbedeutung regelmäßig Konfliktstoff,6 und diese Konflikte verstärken die Bedeutung der Erinnerungen
4
Welzer: Gedächtnis, S. 15.
5
Bronstein, Eitan: The Nakba in Hebrew: Israeli-Jewish Awareness of the Palestinian Catastrophe and Internal Refugees, in: Masalha: Catastrophe Remembered, S. 226f.
6
Im Jahr 2017 wurde beispielsweise den Palästinensern in Israel der sogenannte March of Return im Norden des Landes untersagt, dessen Route jährlich zu unterschiedlichen zerstörten ehemaligen arabischen Orten führt,
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noch, das Nicht-Vergessen und aktive Erinnern wird zum Widerstand. Um sowohl gegen das offizielle als auch ein mögliches generational bedingtes Vergessen zu arbeiten, gilt es im palästinensischen Verständnis, anhand mündlicher Tradierung die Vergangenheit wachzuhalten und die nachfolgenden Generationen aufzuklären. Damit soll auch weiterhin ein Zustand der Nähe zum erfahrenen Unrecht aufrecht erhalten werden, die durch die Nakba 1948 entstandene Situation nicht als gegeben genommen werden, denn „die politische Dimension oder, wie man fast sagen könnte, der politische Auftrag, der sich mit dem Bewahren und der Weitergabe von Erinnerungen in mündlicher oder schriftlicher Form verbindet, ist die Weigerung, Palästina auch symbolisch zu räumen. Es gilt, gegenzuhalten gegen ein jüdisch/zionistisches/national-religiöses Gedächtnis, das Palästina religiös, historisch und politisch in Besitz genommen hat und Archäologie, Theologie und Geschichtswissenschaft mit dem Auftrag bedenkt, diesen Anspruch zu untermauern“,
konstatiert Susanne Enderwitz.7 Archäologische Ausgrabungen, die zum einen durch die religiöse Bedeutung des Landes begründet werden und gleichzeitig auch jüdische Präsenz in der Vergangenheit geografisch bekräftigen können, sind vielerorts in Israel zu bemerken.8
und der das Recht auf Rückkehr der Palästinenser fordert. Das Verbot ist das erste seit 18 Jahren. Die Demonstration findet in der Regel am israelischen Unabhängigkeitstag Jom haAtzma‘ut statt. 7
Enderwitz: Palästinensische Autobiographien, S. 169.
8
Sabine Damir-Geilsdorf behandelt einige konkrete Beispiele und zeigt beispielsweise an historischen Themenparks oder der Werbung für neue Siedlungen in der Westbank, wie historische Bezüge hergestellt oder auch konstruiert werden. Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 229f.
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„Die Verbindung zwischen Territorium, Geschichte und ‚authentischer Identität‘ hat in der Archäologie ihren stärksten Ausdruck gefunden. In Israel wurde die Archäologie mehr als jede andere Wissenschaft für die Geschichtsschreibung und die Erfindung der Tradition zu Rate gezogen“,
betont Ahmad Sa’di und beschreibt auch einen unterschiedlichen Umgang mit palästinensischen und jüdischen Funden innerhalb Israels, bei denen den jüdischen Entdeckungen wohl deutlich mehr Anerkennung und öffentliche Beachtung zugedacht würde.9 Gleichzeitig wurden und werden Standorte mit arabischen Spuren als Bauland genutzt und auch ehemals arabische Orte neu bebaut oder bepflanzt, so dass entstehende Wälder langfristig die ursprüngliche Existenz palästinensischer Spuren überdecken, um nur einige Beispiele in diesem Ringen um historische Bezüge zu nennen.10 Auch die palästinensische Geschichtsschreibung reagiert auf diese hohe Bedeutung historischer Interpretation, „palästinensische historiographische Darstellungen sind durch zahlreiche Spiegel- und Gegennarrative zu israelischen Geschichtsdarstellungen geformt, die auf einer Metaebene als Gegengedächtnis die Auswahl und Inhalte der durchaus heterogenen palästinensischen Geschichtsschreibung beeinflussen.“11
Auch der Begriff Nakba erinnert in seiner Bedeutung als Katastrophe, die menschliche Verantwortung wenn nicht ausschließt, zumindest ungeklärt lässt, an den hebräischen Begriff der Shoah. Im Hinblick auf die palästinensische Begriffswahl wird die Nähe zur jüdischen Bezeichnung des Holocaust höher eingeordnet als die Betonung der Verantwortlichen und Beteiligten des Krieges von 1948. Ilan Pappe ver-
9
Sa’di, Ahmad H.: Die nationale Identität der palästinensischen Bevölkerung in Israel, in: Klein: Die Anderen im Inneren, S.49f.
10 Auf der Fläche des muslimischen Mamilla-Friedhofs in Jerusalem entsteht nach jahrelangem Rechtsstreit das israelische Museum for Tolerance. 11 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 31.
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mutet auch in der Begriffswahl, die keine Verantwortlichen einschließt, eine Ursache dafür, dass die Nakba innerhalb Israels so lange ignoriert werden konnte.12 Um Erinnerungen langfristig verlieren oder aussortieren zu können, muss das erinnerte Ereignis einen Abschluss gefunden haben. Die Folgen aus der Nakba dauern im palästinensischen Verständnis aber an, und die Vergangenheit ist konserviert in „Zukunftshoffnungen, die früheren Epochen entstammen, aber als unabgegoltene, nie eingelöste, sich weiter am Leben halten.“13 Deshalb kommt dem Summud14 diese große Bedeutung zu, er ist längst Terminus des palästinensischen Widerstands geworden. Die Pflicht zum Summud scheint mit den traumatischen Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben zu werden. Die Haltung findet sich auch in dem Aufbewahren der alten Schlüssel von den ehemaligen Häusern, die oft nicht mehr existieren, wieder. Die alten Schlüssel wurden damit zum Symbol palästinensischer Erinnerungskultur. Aufgehoben und bewahrt, auch wenn das passende Schloss längst zerstört oder ausgetauscht wurde, scheinen die alten Schlüssel die Zeit anzuhalten, die Vertreibung aus dem Zuhause ins Exil zu verbildlichen und den Anspruch auf eine Rückkehr aufrecht zu erhalten. Das Motiv der alten Schlüssel ist somit sehr populär, sie werden als Schmuck oder politisches Zeichen getragen, und u.a. sind sie auch als Souvenir in Läden der Jerusalemer Altstadt zu erstehen.
12 „Da [der Begriff Al Nakba] aber die Täter ausspart, mag er in gewisser Weise dazu beigetragen haben, dass die Welt die ethnische Säuberung Palästinas 1948 und danach fortwährend leugnete.“ Pappe: Ethnische Säuberung, S. 16. 13 Welzer, Harald: Erinnern und Weitergeben. Überlegungen zur kommunikativen Tradierung von Geschichte, in: BIOS, 11, (1998), H.2, S. 155-170, S. 158. 14 د
= Standhaftigkeit, Standhalten. Langenscheidt Taschenwörterbuch
Arabisch, Berlin, München 2010, S. 235.
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Detaillierter noch erinnern auch die selbstgemalten Landkarten, Stadtpläne und Erinnerungsbücher, die von Exilanten aus der Erinnerung gezeichnet wurden, an die Verhältnisse vor 1948, das sogenannte Prä-Palästina.15 Die Karten beinhalten die Herkunftsorte mit den Einträgen der alten arabischen Straßennamen und der Namen der ehemaligen Bewohner der Häuser, um diese und die alte Ordnung zu erinnern und nicht zu vergessen. Das Sammeln und Konservieren bedeutet einen Protest gegen das israelische Bemühen, palästinensische Spuren als mögliche Anspruchsbasis im heutigen Israel zu reduzieren, und dient der Stärkung der als bedroht empfundenen palästinensischen Identität. Ahmad Sa’di spricht von einem „Konzept des kulturellen Widerstands“, das sich auch darin zeigt, dass sich das Wissen um die alten arabischen Namen und Orte „kontinuierlich auf lokaler Ebene reproduziere und von einer Generation auf die nächste übergehe durch informelle Erziehung, Geschichtsschreibung“ und die Überlieferung von Begriffen, Namen und Sprichwörtern. Im Exil werden den Kindern die Namen Haifa, Jaffo oder Bezeichnungen anderer Orte gegeben aus denen die jeweiligen Familien ursprünglich stammen. Aber nicht nur im Exil in den umliegenden arabischen Ländern ist die Bindung an die alte Ordnung stark, auch innerhalb Israels, der Westbank und des Gazastreifens werden die ursprünglichen Ortsnamen weiter erinnert oder verwendet, und man definiert sich auch dort noch über den ursprünglichen Heimatort, ebenso wie es die Palästinenser im Ausland tun.16
15 „Understanding how Palestinians represent pre-1948 spaces and places relates directly to the identities that Palestinians are actively creating in the present.“ Davis, Rochelle: Mapping the Past, Re-creating the Homeland: Memories of Village Places in pre-1948 Palestine, S. 55. In: Sa’di, Ahmad H./Abu-Lughod, Lila: Nakba. Palestine, 1948, and the claims of memory, New York 2007. 16 Sa’di: Die nationale Identität der palästinensischen Bevölkerung in Israel, in: Klein: Die Anderen im Inneren, S. 51.
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BEDROHTE IDENTITÄT Das Thema des Verschwindens der Spuren der eigenen Herkunft und Identität hat den palästinensischen Regisseur Kamal Aljafari inspiriert, sich in seinen Filmen wie the roof und port of memory mit seiner palästinensischen Familiengeschichte in Israel auseinanderzusetzen.17 Die Absurdität dieser doppelten Deutungen oder Bezugnahmen, die in Israel an historische Orte geknüpft sind oder werden, verdeutlicht er unter anderem in surrealen Fiktionen, in denen er den Darsteller seines Films aus Szenen des gegenwärtigen Jaffa in Filmszenen aus dem alten arabischen Jaffo montiert, so dass der palästinensische Protagonist des Films in die Vergangenheit zu reisen scheint und die Stadt mit der arabischen Prägung kennenlernt, aus der seine Familie ursprünglich stammt, die sich inzwischen aber sehr verändert hat. Die Interviewpartner dieser Untersuchung berichteten von Veränderungen in ursprünglich arabischen Städten. Sie schildern wie neben Jaffa/Tel Aviv, auch in Akkon/Akka oder in der Altstadt Jerusalems Straßen umbenannt, Häuser aufgekauft oder zerstört und überbaut werden und damit die ehemals arabische Prägung dieser Orte zu verschwinden droht. Sie interpretieren dieses Vorgehen als gezielte Löschung der ursprünglichen (palästinensischen) Spuren und damit auch der rechtmäßigen Besitz- und Existenzrechte. Interviewpartner Adel, aus dem Negev, beobachtet diese Vorgänge und interpretiert das ebenfalls als Strategie israelischer Innenpolitik: „It’s part of deleting the identity of us. That we are just different people, who are in Israel. Without the history of us as Palestinians, without the identity of us. […] Just in the last year, there was a decision of the Knesset that there won’t be names in Arabic for the cities. Like Akko, it will be Akkon not Akka!“
17 Aljafari, Kamal: The Roof 2006, Port of Memory 2010.
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Akka ist der arabische Name der Küstenstadt im Norden Israels, die lange Zeit für ein funktionierendes Miteinander zwischen muslimischen und jüdischen Einwohnern bekannt war, im Jahr 2008 aber beispielhaft für den andauernden offenen und latenten Konflikt im Land wurde, als innerhalb kürzester Zeit ein kleiner Konflikt in viertägige Krawalle eskalierte, bei denen arabische Häuser und jüdische Geschäfte zerstört wurden. Adel führt weiter aus: „The same at Jaffa, Jerusalem, it will be just Jerusalem or Jeruschaleim. It won’t be Al Quds. And it’s the same thing to start, not to start, to finish with our identity!“ Bei dem letzten Satz lacht er bitter auf. Mit dem Auslöschen der palästinensischen Spuren durch die israelische Politik verbinden viele der Interviewpartner ein forciertes Verschwinden-Lassen ihrer palästinensischen Identität und damit auch ihrer gegenwärtigen Existenz und Existenzberechtigung. So beschreibt auch Sohel aus dem Norden Israels diese Vorgänge: „In Akko bis vor fünf, sechs Jahren wusste man, ich bin in einer arabischen Stadt. Aber heutzutage verschwindet das langsam. Zum Beispiel, die Juden, die in der Nähe von Gaza gewohnt haben, die wurden von der israelischen Regierung einfach wieder woanders hin transportiert. Und die Juden, die meisten sind Haredin also orthodoxe Juden, viele wurden Richtung Akka, äh Akko, wir sagen Akka transportiert. Und wenn man heutzutage in Akko läuft, dann sieht man sie überall, und die Namen von Straßen haben sie geändert. Namen von Häusern, von wichtigen Lokalen. Sie versuchen für diese wichtigen Städte so eine jüdische Prägung [zu schaffen], also sie wollen sagen, das war eine hebräische Stadt. Also nicht eine arabische. Das ist in Akko ausgeprägt, in Haifa und Jaffa. Und in Jerusalem, klar.“
Sohel betont hier den Zweck der Umbenennung und damit Umprägung ursprünglich arabischer Städte. Er versteht den Vorgang als Versuch, einen historischen Besitzanspruch zu konstruieren bzw. den palästinensischen zu löschen. Es scheinen sich hier die persönliche Erfahrung in seiner Heimatgegend Akko mit Wissen über Jaffa und Jerusalem zu mischen. Ilan Pappe beschreibt die Arbeit einer Namensfindungskom-
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mission, die bereits 1920 geschaffen wurde und in Palästina hebräische Namen und Spuren recherchieren sollte. Sie wurde 1949 eine Unterabteilung des Jüdischen Nationalfonds.18 Auch Sohel hat verinnerlicht, dass mit dem Verschwinden der palästinensischen Spuren der Anspruch auf Land, Stadt, Straße und Haus und damit auf Existenzrechte verfällt. Er schildert an anderer Stelle des Interviews, wie noch heute innerhalb der palästinensischen Gesellschaft der ursprüngliche Herkunftsort abgefragt und zur räumlichen Bestimmung in einer Kennlernsituation dient und gilt. So wird auch einem Kind der nachfolgenden Generationen bereits nicht nur der tatsächliche Geburtsort, sondern immer auch der Herkunftsort beigebracht. Ein weiterer Konfliktpunkt sind die Lehrpläne der Schulen in Israel, gerade der Geschichtsunterricht und das dort vermittelte Wissen werden von den Interviewpartnern als einseitig und ideologisch beschrieben. Die Schulpläne für arabische und jüdische Schulen unterscheiden sich seit 1948, die Unterrichtssprache ist auch unterschiedlich, aber alle Schulen in Israel unterstehen dem Ministerium für Erziehung, und somit wird auch der Lehrplan der arabischen Schulen von dem Ministerium vorgegeben.19 Der Erziehungswissenschaftler Ismael Abu Sa’ad beschreibt eine gezielte Gestaltung des Lehrplans mit dem Ziel, auch den palästinensisch-israelischen Schülern ein bestimmtes Geschichtsbild zu vermitteln und den Fokus weg von ihrer palästinensischen Herkunft zu leiten: „The Arab school curriculum in Israel is designed to
18 Pappe: Ethnische Säuberung Palästinas, S. 294. 19 „Since 1948 the Jewish and Arab school systems inside Israel have had separate curricula (each with its own language: Hebrew and Arabic), but both systems are determined by the Ministry of Education. Arab students are required to learn Hebrew and English; Israeli students are required to learn English but not Arabic. The Israeli internal security service, Shin Bet, also plays a crucial role in maintaining state control over the Arab educational system.“ Masalha: Palestine Nakba, S. 233.
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,de-educate‘, or dispossess, indigenous Palestinian pupils of the knowledge of their own people and history.“20 Diese Gestaltung der Lehrpläne verstärkt ebenfalls die Bedeutung des intergenerationellen Erzählens innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Gleichwohl wie eine solche Vermittlung der Geschichte im Bildungssystem Israels eine private palästinensische Gegenbewegung initiiert, führt sie auch dazu, dass jüdische Kinder keine Kenntnis der Nakba oder aller Umstände der Entstehung ihres Staates haben. Auch Interviewpartner Adel aus dem Süden Israels empfindet die palästinensische Existenz auf vielen Ebenen als bedroht, und auch er kritisiert, dass in den arabischen Schulen die palästinensischen Themen im Lehrplan nicht ausreichend behandelt werden. Er betont aber auch den eingeschränkten Handlungsspielraum, den die Lehrkräfte der arabischen Schulen im israelischen Schulsystem haben und beschreibt Einstellungsgespräche, in denen vor Antritt und Zusage der Stellung die Gesinnung und die Loyalität der potentiellen, arabischen Lehrkräfte überprüft werden: „The Arab schools have no chance to do any Palestinian event. No way. One of the parts to become a manager of a school, you need to go for an interview. And the ministry won’t give you to be a manager if you have anything to do with the Palestinian Identity. You have to be, it’s like the maximum of to be quiet.“
Ismael Abu Sa’ad ergänzt Adels Ausführungen gewissermaßen, wenn er die Verantwortung der palästinensischen Gesellschaft beschreibt: „Yet the Palestinian community [inside Israel] must play a crucial role in remembering, discussing and retelling its own history.“21 Er attestiert den palästinensisch-israelischen Schülern in Israel ein Gefühl von „present-absentees in their own homeland as they learn about the
20 Ismael Abu Sa’ad zitiert in Masalha: Palestine Nakba, S. 234. 21 Ebd.
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history of ‚the land of Israel‘.“22 Jo Roberts zitiert ein drastisches Beispiel für die Unkenntnis einer palästinensisch-israelischen Schülerin, die in den 1980er Jahren geboren wurde und von ihrem Geschichtsunterricht berichtet: „The other book was about Hitler and the Shoah, the Second World War, and then suddenly there is a Jewish State. Nothing about what happened in between. Nothing. I asked my teacher ‚Where did the Arabs come from? Did we come from Germany as well?‘“23 Sohel aus dem Norden Israels beschreibt die restriktive Schulpolitik am Beispiel des populären palästinensischen Schriftstellers Mahmud Darwisch, dessen Werk nicht auf dem Lehrplan stand – und das trotz seiner Bekanntheit und der Tatsache, dass der Bruder des Schriftstellers, Ahmed Darwisch sogar der Direktor der Schule Sohels war: „Siehst du? Obwohl sein Bruder bei uns in der Schule war, durften wir nicht mal die Gedichte von Mahmud Darwisch lernen.“ Literatur und vor allem die Werke der bekannten palästinensischen Schriftsteller wie Mahmoud Darwisch, Ghassan Kenafani, Emile Habibi oder des Literaturtheoretikers Edward Said, um einige zu nennen, haben eine große Bedeutung innerhalb der palästinensischen Erinnerungskultur und werden häufig in Interviews erwähnt. Diese Schriftsteller haben in ihren Werken viel über die Nakba und deren Folgen geschrieben, so dass sie Teil des kollektiven und auch des kommunikativen palästinensischen Gedächtnisses wurden und zwischenzeitlich sogar als dessen Träger fungierten.24
22 Ismael Abu Sa’ad zitiert in Masalha: Palestine Nakba, S. 240. 23 Roberts: Contested Land, S. 202f. 24 Vergleiche zum Beispiel: Darwisch, Mahmoud: Tagebuch der alltäglichen Traurigkeit. Berlin 1978. Kanafani, Ghassan: Bis wir zurückkehren, Basel 1984. Ders.: Das Land der traurigen Orangen, Basel 1983. Umm Saad: Rückkehr nach Haifa, Basel 1986. Habibi, Emile: Der Peptimist. Oder von den seltsamen Vorfällen um das Verschwinden Saids des Glücklosen, Basel 1992.
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Außerdem werden sie mit Stolz erwähnt, da sie prominente Künstler waren, die die Interviewpartner mit der arabischen Literatentradition und palästinensischer Hochkultur aber auch mit politischem Engagement verknüpfen. Lyrik konnte außerdem vorgetragen und auf diese Weise weitergegeben werden, so dass sie vielen auch nicht gebildeten Rezipienten zugänglich gemacht werden konnte. Zusätzlich wurden die restriktiven publizistischen Zensurbestimmungen, die innerhalb Israels bis in die 1960er Jahre galten, auf diese Weise umgangen.25 Jo Roberts hat in ihrer Untersuchung Auszüge aus Interviews mit palästinensischen Lehrern in Israel präsentiert, die deren Frustration über den restriktiven Lehrplan verdeutlichen. Sie zitiert die Lehrerin einer Oberschule, die beschreibt, dass ihre Kollegen sich nicht trauen, mit den Schülern die Nakba im Unterricht zu behandeln: „They are afraid. When I officially requested in the general teachers’ meeting that the school hold ceremonies or special activities on the Nakba, someone said ironically: Do you want us all in Jail? […] None of the teachers responded out loud, but they talked secretly in the teachers room about their frustration.“26
Der Großteil der Schulen in Israel ist in jüdische und in arabische oder christlich-arabische Schulen unterteilt, die meisten arabischen und jüdischen Schüler erleben so eine getrennte Schulzeit. Ausgenommen sind einzelne Projekte mit gezielt gemischten Schulen, wie zum Beispiel die Hand-in-Hand-Schulen,27 von denen die eine KoexistenzSchule in Jerusalem im Zusammenhang mit dem Gazakrieg 2014 von Mitgliedern der jüdischen ultrarechten Lehava Organisation angegriffen und demoliert wurde. Die Mittel zur Ausstattung und damit einhergehend das Unterrichtsniveau der arabischen und jüdischen Schulen divergieren, so dass es auf der arabischen Seite innerhalb Israels im di-
25 Zur Geschichte und Bedeutung palästinensischer Dichtung: Enderwitz: Palästinensische Autobiografien, S. 47ff. 26 Roberts: Contested Land, S. 203. 27 www.handinhandk12.org/inform/schools/jerusalem vom 10.05.2018.
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rekten Vergleich zum Teil erhebliche Bildungsdefizite gibt. Dieses Ungleichgewicht wird im Zusammenhang mit den Pflichtprüfungen, den psychometrischen Tests für den Zugang zum Studium in Israel von palästinensischer Seite als äußerst schwierig beschrieben, da deren Anspruch sich am Niveau der jüdischen Schulen orientiert und damit als eine Form der Diskriminierung kritisiert wird.28 Diese ungleichen Bedingungen führen auch dazu, dass muslimische Familien ihre Kinder, wenn möglich, auf die christlich-arabischen Schulen schicken, da diese einen höheren Standard haben, was die Chance der Kinder auf eine akademische Ausbildung erheblich verbessert. Sohel gibt diesen Themen in seinem langen Interview viel Raum und beschreibt neben den Tests auch andere Hürden für Palästinenser, die in Israel studieren wollen: „Es ist nicht einfach zu schaffen, auch wenn man ein Abitur von 1,0 hat. Wenn du die Prüfung bestehst, das bedeutet nicht, dass du die Zulassung bekommst für das Fach, das du willst. […] Und am Ende ist das so, wenn du Abitur 1,0 und die Prüfung sehr gut bestanden hast, kann es sein, dass du dieses Interview nicht schaffst, dann darfst du nicht Medizin studieren und ein anderer Idiot, der in die Armee gegangen ist, der Abitur 2,5 oder 7 oder 8 hat, kriegt eine Zulassung, muss keine Studiengebühren zahlen und so weiter. Sie machen das bei uns schwieriger und bei den anderen, die [er betont das Folgende ironisch] das Land lieben, einfacher.“
Adel aus dem Negev, der bereits in Israel studiert hat, beschreibt die ungleichen Bedingungen an seinem eigenen Beispiel: „I studied eco-
28 Eine Studie aus dem Jahr 2013 von Hirak, Center for Advancement of Higher Education in the Arab Society ( &ـــ 'ـــ
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)اin Nazareth widmet sich der Chancen-Ungleichheit in der
Bildungslandschaft. Raja Zaatry & Muhammad Khalaileh: Via Dolorosa, 14 Obstacles to the access of the Arab-Palestinian society to higher education in Israel and 10 Recommendations for their removal: http://arabeducation.org/?p=773 am 24.05.2018.
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nomics and we were four Arabs from 250 students. And I need to be the most successful boy in my family to come into the university and when I look for my Jewish colleagues, they will be the regular of their families.“ Und Khamis aus der Mitte Israels resümiert bezogen auf seine früheren Freunde, die nicht ins Ausland gegangen sind und ihre Berufsausbildung in Israel gemacht haben: „Die meisten, die dort geblieben sind, haben sich nicht wirklich weiter entwickelt. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass das Land oder der Staat, wo sie leben, also Israel, erlaubt das nicht. Die meisten Leute aus meiner Schulzeit, die irgendwas aus ihrem Leben gemacht haben, sie haben das im Ausland gemacht.“
Auch aufgrund dieser ungleichen Bedingungen wird innerhalb der palästinensischen Gesellschaft der akademischen Ausbildung ein hoher Stellenwert zugesprochen. Ein erfolgreiches Studium und ein angesehener Beruf versprechen die Möglichkeit, dem Gefühl der Unterlegenheit und der Diskriminierung etwas entgegensetzen zu können. Es ist daher nicht ungewöhnlich, dass Familien, deren Elternteile nur die ersten Grundschuljahre absolviert haben oder noch Analphabeten sind, einen Sohn haben, der Herzchirurg wird. Bilal aus dem Norden Israels beschrieb, dass in seinem Heimatdorf keine Familie lebe, die nicht wenigstens ein Kind habe, das studiert. So kommt es, dass in manchen arabischen Dörfern bei der Rückkehr der Absolventen auf jeden Bewohner mehrere Ärzte kommen, da dieser Berufsstand nach wie vor großes Ansehen genießt und mit einem guten Lebensstandard verbunden wird. Jaber, selbst Arzt, erwähnt zynisch die arabische Redewendung „Ärzte, die Fliegen fangen“ um den Überschuss an Ärzten in seinem Heimatland mit diesem Bild des Nichtstuns zu verdeutlichen. Das Auslandsstudium ist eine willkommene Alternative zu dem als diskriminierend beschriebenen israelischen Hochschulsystem. Gleichzeitig wird in einigen Interviews die Vermutung geäußert, dass es im Interesse der israelischen Politik läge, möglichst viele palästinensische Studierende ins Ausland zu schicken, in der Hoffnung, dass diese dann
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nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehrten: „Und sie wollen angeblich, dass wir ins Ausland fahren und da studieren und auch da bleiben, so eine Transferpolitik.“ Sohel unterstellt der israelischen Regierung, dass die erschwerten Zugangsbedingungen zur Universität Teil eines „Transferplans“ sind, um möglichst viele Palästinenser zum langfristigen Weggang aus Israel zu bewegen. Den Topos des Transferplans, den er heranzieht und auf eine aktuelle Situation seiner Generation anwendet, entlehnt er den eingangs geschilderten Kontroversen über ein mögliches Transfervorhaben des Yishuvs vor und der israelischen Armeen nach der Staatsgründung Israels, mit dem Ziel möglichst viele Palästinenser auszusiedeln. An dem Beispiel des Transferplan-Narrativs im Interview Sohels erkennt man deutlich, wie die Nakba im palästinensischen Bewusstsein andauert, auch bei der dritten Generation bis in die Gegenwart reicht, und wie auch die historischen Narrative übernommen und auf die gegenwärtige Situation übertragen werden. Die Schikane durch einen Sicherheitsmann am Flughafen, der einem anderen Interviewpartner empfiehlt, doch nach dem Auslandsstudium gleich im Ausland zu bleiben, wird automatisch mit den Erfahrungen der Nakba-Generation und dem diskutierten Transferplan 1948 verknüpft. Gleichzeitig wird die Idee eines Transfers der Palästinenser auch innerhalb der israelischen Politik immer mal wieder aufgegriffen, wie Sabine Damir-Geilsdorf an einigen Beispielen rechter Parteien erläutert.29 So scheint der Begriff seine Aktualität im palästinensischen, aber auch im israelischen Diskurs keinesfalls verloren zu haben. Sohel spricht auch ausführlich über das Mindestalter für den Hochschulzugang, das sich, wie er schildert, an dem Alter der Bewerber orientiert, die den dreijährigen israelischen Armeedienst absolviert haben. Da dieser für das Gros der palästinensischen Israelis nicht in Frage kommt, empfinden sie dieses Mindestalter ebenfalls als eine gezielte
29 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 181.
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Diskriminierung.30 Auch hier vermutet Sohel, dass dem Bildungssystem in Israel der Plan einer Diskriminierung und ein forcierter Ausschluss der Palästinenser zugrunde liegen. Die Nachfrage, ob dieser Eindruck auch ein Grund für seine absolute Entschlossenheit, nach dem Studium zurückzukehren sei, bejaht Sohel mit Nachdruck und erklärt seine Motive: „Ja, klar. Auf jeden Fall! Also, wenn jeder ins Ausland geht und da bleibt... wer soll dann bei uns bleiben? Bauarbeiter? Bauer? Die können NIX machen, also mit allem Respekt für die, aber an der Politik können sie nichts ändern. Ich finde, unsere Gesellschaft braucht uns da. Ok, das bedeutet nicht, dass zum Beispiel, wenn man im Knesset ist, dass man auch was ändern kann. Aber man kann viele Sachen schlechter machen, positiv für uns, zum Beispiel. Verstehst du, was ich meine? Also man kann nicht viel ändern, aber man kann Sachen beeinflussen. Und deshalb finde ich, das ist wichtig, dass jeder von uns nach Hause fliegt.“
Es ist der Auftrag der akademisch gebildeten Angehörigen der dritten Generation, nach dem Studienabschluss in die Heimat zurückzukehren und vor Ort die gestalterischen Möglichkeiten, auch die des passiven Widerstands innerhalb der Politik, auszuschöpfen. Damit einher geht die Notwendigkeit, informiert zu sein, um die beschriebenen Vorgänge auf den verschiedenen Ebenen zu erkennen und ihnen begegnen zu können. Adel beschreibt besorgt die Unkenntnis seiner jüngeren Geschwister, die sich zunehmend in die israelische Gesellschaft integrieren und denen seines Erachtens das Gefühl für ihre Herkunft und ihre palästinensische Identität verloren zu gehen droht. Er schildert eine Situation, anlässlich einer Veranstaltung der Schule seiner kleinen Schwester, in deren Rahmen die Heranwachsenden den israelischen
30 „Wenn man Medizin studieren will, dann sollte man mindestens 21 Jahre alt sein. Die Israelis gehen normalerweise mit 18 in die Armee, für drei Jahre. Und das bedeutet indirekt: Geh in die Armee. Und keiner von uns will das machen.“ Interview mit Sohel, 2012.
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Pass überreicht bekamen. Jeder Bewohner Israels muss ab dem Alter von 16 Jahren einen israelischen Personalausweis besitzen, so dass viele Palästinenser in Israel den Pass erst in diesem Alter annehmen. „Their class was in a place, that is called ‚The Bedouin Soldier‘. And to see that my sister was there, with her class to take the Israeli ID, in that place. I don’t know if you know the name Avi Dichter? Avi Dichter is someone from the right, of the politics in Israel. He was the head of the Army for several of years. And to see that my sister is just hand in hand, and taking with the second hand the blue ID from him in that place! And the manager of the school, that smile! You know for me it was: What is going on?“
Adel schildert die Situation der Passübergabe mit großer Bewegung. Im Falle von Adels Schwester, deren Familie den Beduinen im Negev angehört, wurde die Passübergabe als feierlicher Akt vor einem Denkmal für die beduinischen Soldaten, die für Israel kämpften, durchgeführt. Dieser Akt, der die Zugehörigkeit und Loyalität der Beduinen zu Israel betonen sollte, erscheint Adel als ein weiterer Versuch israelischer Politik, das palästinensische Selbstverständnis zu reduzieren. Avi Dichter, der unter anderem Direktor des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet war, ist auch bekannt für sein Zitat über die palästinensische Erinnerungskultur bezüglich der Nakba: „Whoever cries of the Nakba year after year, shouldn’t be surprised if they actually have a Nakba eventually.“31 Vor dem Hintergrund dieser Haltung bekommt die Passübergabe an seine kleine Schwester für Adel zusätzliche Bedeutung. Hillel Cohen, Professor am Institut für Islamforschung und Middle East Studies in Israel, spricht von dem Versuch der israelischen Politik, der palästinensischen Minderheit im Land eine neue Identität zu kreieren: „It has tried to change the consciousness of the Palestinian
31 Roberts: Contested Land, S. 180, vgl auch: www. ynetnews. com/artic les/0,7340,L-3483436,00.html vom 10.05.2018: „Anyone crying over the Nakba year after year can’t be surprised if they end up with one“.
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minority through the influence of schoolteachers, village mukhtars [Dorfvorstehern], collaborators and local sheikhs with the aim of creating a ‚new Israeli Ara identity‘.“32 Adel alarmiert darüber hinaus, dass seine Schwester weder wusste, welcher Art die Veranstaltung sein würde, noch welche Bedeutung sie in seinen Augen hatte: „I was just asking: ‚what is that?‘ And she: ‚we don’t know, the manager told us and the teachers to go there, that we have a party.‘“ Und Adel bilanziert bitter: „Even their school will delete their identity!“ Die Rolle der Beduinen in Israel ist zusätzlich komplex, da viele 1948 in den Negev umgesiedelt wurden und dort über längere Zeit unbeachtet lebten und sich einrichteten.33 Sie sind im Negev aber aufgrund der undokumentierten Besitzverhältnisse den Räumungen durch die israelischen Behörden ausgeliefert. Sie lebten lange unter äußerst schlechten Bedingungen, viele tun es noch immer. Die in den 1970er Jahren gegründete Stadt Rahat bewohnen überwiegend Beduinen, auch Adel lebt in ihr, und der Lebensstandard ist weit unter dem Durchschnitt Israels. Einige der Beduinen verpflichteten sich zum Einsatz in der israelischen Armee, und auch heute treten noch einige von ihnen den Wehrdienst an, oft auch um ihre desolaten Lebensverhältnisse zu verbessern. Das ist ein äußerst empfindliches Thema – nicht nur für Adel, da dieser
32 Cohen, Hillel: Good Arabs. The Israeli Security Agencies and the Israeli Arabs 1948-1967, zitiert in: Masalha: Palestine Nakba, S. 234. 33 „Subsequent to their transfer to the Restricted Area, the Negev Bedouin were largely neglected by planning authorities for twenty years. No settlements, agricultural or industrial plans were prepared for this region. As a result over the course of twenty years, dozens of ‚spontaneous‘ Palestinian Bedouin settlements evolved.[…] These ‚spontaneous‘ (from the perspective of the state planning authorities) settlements were denied recognition by the government, and as a consequence were also denied basic infrastructure and services, such as electricity, running water and roads.“ Abu Sa’ad: Forced Sedentarisation, in: Masalha: Catastrophe Remembered, S. 119.
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Dienst vor allem auch den militärischen Einsatz im Konflikt mit den Palästinensern oder anderen Arabern bedeutet. Seine Schwester bei diesem Festakt an dem Denkmal für die in der israelischen Armee gefallenen Beduinen zu wissen, war äußerst alarmierend für Adel, noch verstärkt durch die Anwesenheit von Avi Dichter, Politiker des Likud34, der die israelischen Pässe an die Schüler verteilte. Eine weitere Erfahrung, die seine Sorge um das Wissen und die Haltung seiner Geschwister verstärkte, die Adel schilderte, machte er im Zusammenhang mit seinem kleinen Bruder. Dieser nahm – auch aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Negev – eine Tätigkeit als Freiwilliger im Sherut Leumi, dem israelischen Ersatzdienst auf. Der Sherut Leumi, vergleichbar mit dem ehemaligen deutschen Ersatzdienst, bietet für die Israelis, die sich dem Armeedienst verweigern wollen, eine alternative Tätigkeit, mit der ebenfalls Vergünstigungen verknüpft sind. Sie kann zum Beispiel die Chancen auf einen Studienplatz erhöhen.35 Adels Bruder berichtete ihm begeistert von seiner Tätigkeit im Sanitätsdienst, ohne zu bemerken oder sich daran zu stören, dass auf seinem Arbeitsausweis das Logo der israelischen Armee die Zugehörigkeit seiner sanitären Einheit zum militärischen Apparat kennzeichnet. Adel berichtete erschüttert von dem Gespräch mit seinem kleinen Bruder: „My brother was asking my parents and also me to give him [the permission] to be part of the people who is in the ambulance and stuff like that. And for me, it was a volunteer job, I’m a volunteer in the academic union so he will be in the ambulance or something like that. But after that I was seeing a card, it’s very regular card and there is the picture of the Israeli Army! And here it’s the picture of my brother!“
34 Likud ist die aktuelle Regierungspartei Israels bzw. ein konservatives Parteienbündnis, dessen Parteivorsitz Benjamin Netanjahu innehat. Seit 2009 führt er die Regierungskoalition in Israel. 35 www.sherut-leumi.co.il/indexeng.aspx vom 10.05.2018.
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Auf Adels Konfrontation hin betonte der Bruder, dass ihm das nicht bewusst gewesen wäre: „And I asked him ‚What is that card?‘ And he told me ‚It’s from the ambulance.‘ ‚Yeah, but what does that mean here, that you are in the Army?‘ ‚No, it’s not the Army‘ and stuff like that and he was a part of that project. Without even he knows!“ Ob der kleine Bruder tatsächlich, wie von Adel betont, aus bloßer Unkenntnis die Entscheidung für die Tätigkeit im Sherut Leumi aufnahm oder auch eine pragmatische Haltung vor dem Hintergrund der finanziellen Situation in Adels Familie auschlaggebend war, sei dahingestellt. Adel berichtete aber an anderer Stelle im Interview von der harten Arbeit seines Vaters und dem Druck der auf ihm laste, da er als einziges Kind ein Studium ermöglicht bekommen habe. Adel stöhnte während dieser Schilderungen auf, es bewegt ihn noch immer, dass sein kleiner Bruder, ohne es zu realisieren, der Sanitätseinheit dient, die der israelischen Armee angegliedert ist. Er sieht es – auch als Angehöriger der sogenannten dritten Generation – als seine Aufgabe an, gegen das Vergessen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu arbeiten, zu erinnern und zu sensibilisieren und so die palästinensische Identität und damit verknüpft die Existenz der Palästinenser zu verteidigen. Er beschreibt eine schleichende Assimilation unter Angehörigen der jüngeren Generationen in seinem Umfeld. Diese besorgt ihn, denn diese Anpassung geht für ihn mit dem Aufgehen in der jüdisch-israelischen Gesellschaft einher, die ein Bewusstsein um die eigene Herkunft und ein Engagement für die palästinensischen Interessen auszuschließen droht. Adels Engagement bezieht er deutlich auf seine palästinensische Identität, er behandelt kaum seine Zugehörigkeit zu den Beduinen innerhalb Israels, obwohl deren Lebensbedingungen bei der Einordnung seiner Schilderungen über das Assimilationsbedürfnis der jüngeren Generation sicherlich zu berücksichtigen sind. Obwohl Adel aus Rahat stammt, dorthin auch zurückkehrte, betont er vor allem die kollektivierende palästinensische Identität, die es ihm auch ermöglicht, Teil des palästinensischen Kollektivs zu sein.
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Der Negev hat Abu Sa’ad zufolge eine spezifische Bedeutung für die zionistische Bewegung, er zitiert David Ben-Gurion mit den Worten: „The people of Israel will be tested by the Negev only by settling and developing the Negev can Israel, as a modern, independent and freedom-seeking nation, rise to challenge that history put before us.“ Und aus einer weiteren Quelle: „We have to remove the Arabic names for political reasons; as much we do not recognise the political ownership of the Arabs over the land we also do not recognise their spiritual ownership [of the land] and their names.“36 Vor diesem Hintergrund wird die doppelte Bedeutung der Bewahrung der eigenen Identität und der empfundenen Bedrohung durch Israel für Adel deutlich – und auch die Beklommenheit, wenn er den Wunsch nach Anpassung oder einen weniger bewussten Umgang mit diesen Themen seiner Geschwister und insgesamt der jüngeren Generationen bemerkt. Auch Zidane aus dem Norden Israels beschreibt die Zerrissenheit zwischen Widerstand und Assimilationsbedürfnis bei den jüngeren Generationen und sieht in diesem Verhalten sowohl eine Handlungshilflosigkeit im Hinblick auf den andauernden Konflikt gespiegelt als auch ein Konzept israelischer Politik: „Viele von den Jüngeren tendieren einfach dazu, entweder extreme Schritte nach hinten zu gehen und wirklich dieses Ausharren im engeren Sinne zu präsentieren, oder sich komplett auszuliefern. Also [sich] Israel auszuliefern, dann sagen sie plötzlich, ja, wir wollen auch in die Armee, wir wollen auch Zivildienst leisten. Völlige Assimilation.“
Zidane schildert auch die Frustration der jüngeren Generation gegenüber der Ausweglosigkeit des Konflikts und deren Wunsch, ein besseres Leben ohne Diskriminierung oder den aussichtslos anmutenden Widerstand der Eltern- und Großelterngeneration zu führen. Dieses Bestreben wurzelt sicher auch in der tagtäglichen Konfrontation der in
36 David Ben-Gurion zitiert nach: Abu Sa’ad: Forced Sedentarisation, in: Masalha: Catastrophe Remembered, S. 121.
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Israel lebenden Palästinenser mit den Nachteilen, die das Engagement im aktiven oder passiven Widerstand, das manchmal bereits mit der bloßen Haltung, sich als Palästinenser zu definieren, einhergehen. Momen, ebenfalls ein 48er, beschreibt eine Situation, in der er während eines Besuchs in seiner Heimatgegend mit palästinensischen und jüdischen Freunden in eine Autokontrolle gerät und von dem jüdisch-israelischen Beamten sehr unfreundlich behandelt wird. Die Situation löst sich ungewohnt schnell auf, als eine jüdische Freundin ihren Vater, einen ranghohen Beamten anruft und das Telefon an den Beamten weiterreicht. Solche Erfahrungen machen den palästinensischen Israelis immer wieder deutlich, dass sie als Palästinenser in Israel keinen gleichberechtigten Status haben. Da ihnen aber signalisiert wird, dass sie sich als Teil der israelischen Gesellschaft fühlen können, wenn sie sich von den palästinensischen Interessen distanzieren, verspüren manche, gerade Angehörige der jüngeren Generation, diesen Assimilationswunsch. Gibt man aber diesem Bedürfnis nach, indem man sich aktiv für die Teilnahme an oder in der jüdisch-israelischen Gesellschaft entscheidet, bringt das einen wiederum leicht in den Ruf, ein Verräter der palästinensischen Interessen zu sein und seine palästinensischen Wurzeln zu vergessen. Auch Adel kennt diesen schwierigen Balance-Akt, auch ihm ist bewusst, wie schwer es möglich ist, innerhalb Israels zu leben, ohne auch an dem israelischen Staats- und Gesellschaftssystem zu partizipieren. Er beschreibt die Schwierigkeiten, als Palästinenser palästinensisch in Israel zu leben und die palästinensischen Traditionen weiterzugeben: „For me it is even hard to marry in Palestine and to live in a Jewish city in Israel. […] I cannot make a traditional family in the Jewish city. It’s very hard because your children will speak in Hebrew and they will wake up and open the window and they won’t see a mosque. They won’t see a woman with a hijab. It’s a difference.“
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Adel sieht es auch aus diesen Gründen für seine und die nachfolgenden Generationen als so wichtig an, sich der palästinensischen Identität und Wurzeln bewusst zu sein. Er betont immer wieder im Interview die Notwendigkeit, das Wissen zu konservieren und weiterzugeben. Und er versucht wiederholt, seinen Großvater zu interviewen, der kritischen Fragen über die Nakba aber ausweicht, da er die journalistische Arbeit seines Enkels kennt und scheinbar die Veröffentlichung fürchtet. Dennoch gibt es private offenere Gespräche zwischen den beiden, vor allem wenn sie das ehemalige Land der Familie besuchen. Dann schildert der Großvater vor Ort seine Erinnerungen an das damalige Leben, und diese scheinen umfangreich und genau, obwohl auf dem ehemaligen Heimatort heute ein Einkaufscenter und ein Kibbuz stehen: „My grandfather until now just knows it by meter. We go in that shopping center and he tells me, ‚you see that shop? Just here, there is the water.‘ And also we go out to the other side where is that kibbuz and he tells me ‚ok, we will go here right and left there is a tree‘ and oh, there is the big tree! Until now! But he does not like to go there. He does not like to see it. Of course he has a lot of memories there. Cause it’s after the Nakba.“
Manchmal nimmt Adel eine Kamera mit, um die Schilderungen anhand von Aufnahmen mit den Orten zu verknüpfen. Da die NakbaGeneration inzwischen sehr alt ist, bekommt das Sammeln ihrer Erfahrungsberichte eine immer größere Bedeutung innerhalb der letzten Jahre. Da die Nakba-Generation selbst die Erfahrungen machte, und auch die zweite Generation die Nakba oder die ersten Jahre danach in ihrer Kindheit oft selbst erlebt hat, hat vor allem die dritte Generation das Bewusstsein für die Dokumentation und das Sammeln der Augenzeugenberichte entwickelt, da sie die ersten sind, die auf die Erlebnisbe-
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richte und Beschreibungen der älteren Generationen angewiesen sind, die zunehmend versterben.37 Die Furcht vor Repression sitzt aber tief bei Adels Großvater, er möchte keine Kritik an Israel vor laufender Kamera äußern, auch wenn es die seines Enkels ist. Sobald diese läuft und auf ihn gerichtet ist, ändert sich seine Erzählweise: „If he sees my camera is working, he will say ‚we had a good life.‘ It is just a big problem. It is because of that he is afraid.“ Seinen Eltern und Großeltern, Vertretern der Nakba-Generation und der ersten Nachkommen, attestiert er anhaltende tiefsitzende Angst aufgrund der traumatisierenden Erfahrungen. Seine Mutter, die die Nakba nicht selbst erlebt hat, da sie in den Jahren nach der Nakba geboren wurde, will wohl aus Angst nicht über die Erfahrungen ihrer Kindheit sprechen oder hat die noch unmittelbareren Ängste der Eltern unbewusst übernommen. Adel beschreibt eine Situation, als an seiner Universität von ihm und anderen Studierenden ein politischer Filmabend zur Nakba veranstaltet wurde, der bereits im Vorfeld die Polizei interessierte und auch Proteste jüdischer Studierender hervorrief. Sobald darüber im Radio berichtet wurde, versuchte seine Mutter ihn zu kontaktieren, weil sie ihn dort vermutete und bat ihn eindringlich und ängstlich, die friedliche Veranstaltung zu verlassen. Und als sie via Skype während seines Auslandsaufenthalts ein Solidaritätsarmband für die Protestierenden in Syrien an seinem Handgelenk entdeckte, ließ sie nicht nach, bis er es vor ihren Augen abnahm.
37 „Palestinian memories of 1948 must serve as evidence of what happened in the mounting of political claims about injustice, there is a special urgency to remembering the details over the time. The passing of the generation of the Nakba those who experienced the events of almost sixty years ago, is now being felt as a growing anxiety that the sources of memory will be lost before they have offered up their deep and irrecoverable memories to the public.“ Sa’di/Abu-Lughod: Nakba, S. 17.
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Auch Jo Roberts beschreibt in ihrer Untersuchung einen Unterschied innerhalb der Generationen im Umgang mit der Nakba und erwähnt die Tendenz der ersten und zweiten Generation, sich öffentlich nicht zu positionieren bzw. keine Aufarbeitung einzufordern: „While many younger Palestinian Israelis commemorate the Nakba as a founding aspect of national identity, others, especially those of the first and the second generation, remain silent.“38 Sie zitiert einen ihrer Gesprächspartner, der seine langjährige Unkenntnis über die Nakba beschreibt, da in seiner Familie nicht viel über die Geschehnisse gesprochen wurde. Es wurden Ausflüge zu den Ruinen des ehemaligen Dorfs unternommen und dort Picknicks veranstaltet, aber es wurde nicht offen über die Nakba gesprochen und er realisierte erst Jahre später, zwischen welchen Steinmauern er als Kind gespielt hatte. Unter meinen Interviewpartnern war nur einer, der die Geschichte seiner Familie während der Nakba nicht kannte, obwohl auch sie heute noch in der Nähe des ursprünglichen Dorfes lebt und die Familienangehörigen regelmäßig auf dem Weg zum Meer an dem ursprünglichen Ort vorbei fahren. Der Großteil der Interviewpartner berichtet von den ausführlichen und wiederholten Schilderungen der älteren Verwandten und deren Bestreben, ihnen die Erinnerungen zu vermitteln und die Spuren zu zeigen. Es sind aber vor allem Geschichten über das, was war, was verloren wurde und betrauert wird. Über die tatsächlichen Gewalterfahrungen und das genaue Vorgehen während des Konflikts wurde in den Interviews weniger berichtet als über die Zeit vor 1948 und den tiefen Einschnitt durch die Nakba. Jo Roberts Beispiele sind in diesem Fall die von palästinensischen Israelis, auch scheint es plausibel, dass die Angst oder Eigenzensur der palästinensischen Israelis größer ist als die der Bewohner des Gazastreifens oder der Westbank. Ähnliches wurde aber auch in Interviews aus dem Gazastreifen berichtet. Auch Wael aus dem Gazastreifen beschrieb die ausführlichen Schilderungen seiner Großmutter von ihrem Leben auf dem ursprünglichen Land, der Landarbeit und ihrem Alltag. Die Erzählungen der
38 Roberts: Contested Land, S. 200.
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ersten Generation scheinen sich sehr auf die persönlichen Erfahrungen und den plötzlichen Verlust alles Gewohnten zu konzentrieren. Dan Bar-On hat in einer Studie jüdischen und palästinensischen Jugendlichen verschiedene Bilder von jüdischen und arabischen Einheiten und Zivilisten aus der Zeit der Nakba gezeigt, und es stellte sich heraus, dass viele der Beteiligten die Personen auf den Bildern nicht eindeutig zuordnen konnten, da sich das Wissen über diese Zeit sehr aus persönlichen Erfahrungen und wenig aus Fakten oder konkreten Bildern speist. Auch aus diesen Gründen finden Veröffentlichungen wie die von Ilan Pappe großen Anklang. Zidane erklärt die Ängste der ersten und zweiten Generation mit dem Vorgehen des israelischen Sicherheitsapparats gegen den palästinensischen Protest oder Widerstand der 1960er und 1970er Jahre, das er als sehr brutal beschreibt. Diesen Erfahrungen schreibt er auch die – des Öfteren von der dritten Generation attestierte und kritisierte – Passivität der ersten und zweiten Generation zu. Er äußert aber Verständnis für diese Haltung denn „alle die damals aktiv waren, saßen auch im Gefängnis. Viele auch für banale Sachen. Also damals ging es [von palästinensischer Seite] nicht so aggressiv zu wie heute, es ging eher darum, den Konflikt auf die Tagesordnung zu bringen. ‚Wir wollen unsere Dörfer zurück, die Flüchtlinge sollen zurück‘, aber keine direkte Gewalt, und trotzdem, das war wirklich absolut verboten.“
Adel liegt sehr viel daran, die Erinnerungen seines Großvaters und auch anderer Zeitzeugen an die Nakba und die Zeit vor 1948 zu dokumentieren, für die nachkommenden Generationen festzuhalten und damit wiederum in seinem Verständnis die palästinensische Identität zu sichern. An seinem Beispiel wird der Zusammenhang zwischen Vergangenheit, sowohl der Zeit vor 1948 als auch der Nakba, und Identität im palästinensischen Selbstverständnis deutlich und auch die damit einhergehende Verantwortung der folgenden Generationen, die Sa’adi und Abu-Lughod in ihrem Buch deutlich formulieren: „It is the next [3rd] generation that has been making the film, organizing the col-
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lection of testimonials, trying to grasp the meaning of the Nakba, while fighting forgetfulness and making public claims on behalf their parents ‚and grandparents‘ suffering.“39 Adel hat seine Aufgabe verinnerlicht, und es scheint fester Bestandteil seiner Identität geworden zu sein, sie auf diese Weise gegen den israelischen Einfluss oder das forcierte Verschwinden der Erinnerungen an die Nakba zu verteidigen: „It’s just that people, young especially, need to speak about that. If they are not speaking about that, it will be just deleted“. Adel war nicht sehr lange im Ausland, sein Platz und Lebensmittelpunkt in Israel ist für ihn klar, aber auch die Interviewpartner, die länger im Ausland waren, sehen das Bewahren der Erinnerungen als bedeutsam für den Schutz der palästinensischen Identität an. Zidane aus dem Norden Israels wünscht sich, dass eine breite Transformation von der persönlichen Erfahrung bzw. Erinnerung in das kollektive Bewusstsein stattfände, da diese dann als verbindendes Element wirken könnte. Darin sieht er die Möglichkeit, eine kollektive Basis für ein friedliches gemeinsames Vorgehen zu schaffen, um innerhalb Israels Einfluss nehmen zu können und die Rechte der Palästinenser zu stärken. Nur Masalha sieht dieses überzeugte Engagement der jüngeren Generation von Palästinensern in Israel in der langjährigen Innenpolitik Israels begründet: „It is the failure of decades of Israeli efforts to eliminate Palestinian Identity within the Green Line – as evidenced by the recent reassertion of Palestinian Identity and growing solidarity with the Palestinians in the occupied territories“,40 und viele der Interviewpartner begründen ihr Engagement oder ihren Wunsch, nach dem Studium zurückzukehren, vor allem mit dem politischen Auftrag.
39 Sa’di/Abu-Lughod: Nakba, S. 21. 40 Masalha: Palestine Nakba, S. 244.
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UMGANG MIT DER VERGANGENHEIT UND BEDEUTUNG DER ORTE Neben den Erzählungen über die Vergangenheit kommt auch dem Zeigen und Begehen der alten Orte hohe Bedeutung zu, „for Palestinians, the places of the pre-Nakba past and the land of Palestine itself have an extraordinary charge. They are not simply sites of memory but symbols of all that has been lost and sites of longing to which return is barred. Palestinian attachments to places are both physical and imaginative.“41
Bei dem gemeinsamen Besuch der ehemaligen Dörfer und Häuser innerhalb der Familien und ehemaliger Dorfgemeinschaften wird ein Erbe an Erinnerung und oft das schmerzhafte Verlustgefühl weitergegeben. Gleichzeitig wird auf diese Weise auch die Bindung an den ursprünglichen Ort hochgehalten und dieser mitunter zum paradiesischen Sehnsuchtsort stilisiert. Jo Roberts betont neben den persönlichen Erinnerungen, die auf diese Weise konserviert werden, auch den gemeinschaftlichen Akt zur Stärkung der kollektiven Bindung an das Prä-Nakba Palästina: „Going back to one’s lost village is both a personal act of remembrance and the commemoration of a collective loss. […] Going back is a stark reminder that the village is gone […] but it is also an opportunity for renewing a relationship with the land.“42 Die alten Orte dokumentieren die jeweilige Familien- oder Dorfgeschichte, und die intergenerationellen Erzählungen stellen die nötige bindende „Kontinuität zwischen damals und heute her“,43 die es ermöglicht, den Erinnerungen und der Verbundenheit zum Land einen ständigen Aktualitätsbezug zu verleihen.
41 Sa’adi/Abu-Lughod: Nakba, S. 13 42 Roberts: Contested Land, S. 178. 43 Welzer: Erinnern und Weitergeben, S. 158.
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Khaled beschreibt in seinem sehr persönlichen Interview, wie sein Großvater sich nach der Nakba – wie so viele der sogenannten 48er – in der direkten Umgebung des ehemaligen Dorfes niederließ, auf Wiedergutmachung und Rückkehr hoffend, und noch heute lebt die Familie von Khaled in nächster Nähe zum ursprünglichen Besitz. Immer wieder zeigte der Großvater zu Lebzeiten seinem Enkel die Spuren aus der alten Zeit und erinnerte ihn daran, was einmal Familienbesitz war: „Die Stadt gibt es noch, also, die haben eine Siedlung drauf gebaut. […] Die Häuser, also die Grenzen, man sieht, dass hier Leute gelebt haben. Die Trümmer der Häuser, die sind immer noch da, Brunnen, Bäume.“ Während der gemeinsamen Besuche illustrierte der Großvater den neu bebauten Landstrich mit bildreichen Schilderungen des ursprünglichen Dorfes. Diese auch visuelle Verknüpfung mit den Erinnerungen stellt für Khaled eine Art Vermächtnis dar: „Ich kenne einfach jede Spur, weil mein Opa uns alles gezeigt hat. Die Grenzen sind immer zu sehen, alles was ihm gehört hat. Mein Opa hat nur geweint. Es ist einfach in der Nähe von dir, du kannst es sehen.“ Das Gefühl der Ohnmacht und der anhaltenden Ungerechtigkeit in der täglichen Auseinandersetzung mit dem ehemaligen und eigentlichen Besitz scheint vom Großvater direkt an seine Nachkommen weitergegeben worden zu sein, und die tradierten Erfahrungen seines Großvaters gepaart mit dem Zeigen der Orte und der ständigen Trauer des Großvaters haben auf Khaled eine starke Wirkung. Die wiederholte Konfrontation mit dem ehemaligen Besitz hält die Geschichte der Familie lebendig, lässt das erfahrene Leid seiner Vorfahren auch seines werden. In der internationalen Forschung wurde einiges über die „internal maps“44 der Bewohner der Flüchtlingslager im Libanon, in Syrien und Jordanien berichtet, mit denen das verlorene Palästina in selbstge-
44 Khalidi, Rashid: in Matar, Dina: What it means to be Palestinian. Stories of Palestinian Peoplehood, New York 2011, S. 60.
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zeichneten Landkarten konserviert wird.45 Aber auch die sogenannten 48er innerhalb Israels halten oftmals intensiv an den ursprünglichen Strukturen fest und besuchen aus diesen Gründen die Orte oder deren Überreste und geben die Erinnerungen an die nächsten Generationen weiter, so dass deren Gegenwartsbezug gewährleistet ist. Der palästinensisch-israelische Historiker Mahmoud Issa, der zu dem Heimatdorf seiner Familie Lubya geforscht hat, berichtet von dem überraschenden Aktualitätsanschein der Schilderungen der Zeitzeugen: „I was surprised to discover how fresh memories of the Nakba memory still were among the old people, even after more than fifty years.“46 Das Ungerechtigkeitsgefühl ist von Bestand, der ehemalige Besitz ist für die 48er nah und sichtbar, aber dennoch unerreichbar. Denn der Anspruch auf den ehemaligen Besitz wird nur im Falle der Bereitschaft zum Verkauf akzeptiert, dieses Vorgehen wird in vielen Beispielen beschrieben, und auch Khaled schildert mit Nachdruck: „Vor deinen Augen, du siehst es einfach. Es ist ALLES enteignet worden. Die rufen nur an, wenn du es verkaufen sollst. Willst du es verkaufen – für nix Geld – dann ist das deins. Anders, nee, also das bleibt jetzt enteignet. Deswegen, obwohl wir Papiere haben, schon seit türkischen Zeiten. […] Wir haben es natürlich nicht verkauft. Aber die rufen immer an, und du kannst es verkaufen. Für sehr, sehr billiges Geld. Andersrum, du darfst gar nichts, du darfst einfach sehen und vorbei laufen und das war’s.“
Zidane beschreibt ebenfalls die regelmäßigen Familienausflüge in das ehemalige Dorf, wo den Kindern während eines Picknicks auch von der Vergangenheit und dem Leben in dem Dorf erzählt wurde:
45 Vergleiche zum Beispiel: Matar: What it means to be Palestinian und Khalili Laleh: Heroes and Martyrs of Palestine. The politics of national commemoration, New York 2007. 46 Issa: Oral History and the Palestinian Peasantry, in: Masalha: Catastrophe Remembered, S. 192.
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„Ich kenne das, ich war oft da. Mit den Alten halt. Es ist wirklich eine komische Veranstaltung, man fährt hin, mit einem Grill und so. Man guckt sich das Dorf an, das Haus. Ein schönes Haus. Fenster und alles war aber offen. Mein Onkel, der etwas älter ist, er ist auch gestorben mittlerweile, er erzählte so übers Haus. Ich glaube er war zehn oder so damals.“
Das Dorf, aus dem Zidanes Familie stammt, wurde erst peu à peu zerstört, er selbst hat das Haus seiner Familie noch gesehen, inzwischen sieht man nicht mehr viel: „Rechts und links kann man so ein paar Ruinen betrachten, aber wirklich, mit viel Phantasie kann man erahnen, dass da was war, man muss halt das erzählt bekommen, um das wirklich nachzuvollziehen.“ Zidane betont den engen Zusammenhang zwischen Ort und Erzählung. Die Überreste der insgesamt knapp 500 zerstörten palästinensischen Dörfer sind häufig kaum zu bemerken, wenn nicht die Erzählungen über die Vergangenheit die Orte illustrieren würden, da viele inzwischen nur noch aus losen Steinen und Mauerresten bestehen. „Es gibt auch Sitzmöglichkeiten, so Bänke. Das macht diese Organisation, KKL, die verwaltet das Land von den Palästinensern. Das Land, was weggenommen wurde, was nicht in privater Hand ist, so als Zwischenlager. Und sie gibt ab und zu so ein bisschen Landfläche frei, um einen Muschaf47 zu gründen oder einen Kibbuz oder eine Straße oder was auch immer. Sie haben überall Land. Das Dorf an sich liegt eigentlich ganz schön so auf einem Hügel und überall, wo sie das Land verwalten, wo es schön ist, stehen so ein paar Bänke, da kann man picknicken.“
Zidane erzählt, dass der Keren Kayemeth LeIsrael die Bänke errichtet hat, der Jüdische Nationalfonds, der für die Begrünung und Wasserver-
47 Moschaf ist die Bezeichnung für genossenschaftliche jüdische Siedlungen in Israel, die sich ähnlich dem Kibbuz der Landwirtschaft widmen, aber im Gegensatz auch Privatbesitz erlauben und auch als Alternative zu dem auf das Kollektiv ausgerichteten Kibbuz fungieren.
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sorgung Israels zuständig ist und als Nichtregierungsorganisation agiert. Der Keren geriet aber auch verschiedentlich in Kritik aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit den staatlichen Instanzen Israels. Die palästinensische Seite macht ihn auch für die planmäßige Bepflanzung von ehemaligen arabischen Dörfern verantwortlich.48 Durch das Pflanzen der Bäume verschwinden die Spuren des palästinensischen Besitzes in den entstehenden Wäldern, und von Kritikern wird diesem Vorgehen ein dahinter stehendes Bemühen unterstellt, „die Nakba zu negieren und die enorme Größe der palästinensischen Tragödie zu verbergen.“49 Dem Geografen Oren Yiftachel zufolge sind es rund 80 Prozent des Landes, die aufgrund der Verstaatlichung durch den KKL nicht mehr von palästinensischen Israelis genutzt werden können.50 Auch die Reste des Dorfes von Zidanes Familie sind heute von einem kleinen Wald bedeckt: „Sie haben viele Bäume gepflanzt. Und das sieht man, so viele arabische Dörfer oder wo die Dörfer waren, da ist ein Wald, also von oben siehst du ja gar nichts, da ist ja ein Wald. Du musst diese Ortschaften gut kennen, um diese Dörfer dann zu finden.“ Zidane ist deshalb froh, dass er die Gelegenheit hatte, mit seinen inzwischen verstorbenen Verwandten die ehemaligen Orte zu besuchen, und er möchte sie auch seinen zukünftigen Kindern zeigen. Auch Jaber beschreibt die Besuche des ehemaligen Heimatdorfes Safuriyya seiner Familie väterlicherseits im Norden Israels als eine Art Spurensuche:
48 KKL, Keren Kayemeth LeIsrael, heißt übersetzt: Ewiger Fonds für Israel oder auch Jüdischer Nationalfonds. 49 Ilan Pappe widmet der Begrünung der ehemaligen arabischen Dörfer ein ausführliches Kapitel, in dem er verschiedene Parks und deren Vermarktung auf den Ruinen und Resten der ehemaligen palästinensischen Dörfer vorstellt. Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas, S. 294ff. 50 Oren Yiftachel zitiert von Abu Sa‘ad: Forced Sedentarisation, in: Masalha: Catastrophe Remembered, S. 123.
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„Wenn ich mich nicht täusche, ist da noch eine Moschee, die wurde zu einer Disko umgewandelt. […] das war die Politik damals, also die Strategie von den Israelis, die haben die Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und auf die dann gebaut, dass man es nicht wiedererkennt. […] Den Ort habe ich oft mit meinem Vater besucht, da ist eine Siedlung, man kann nicht so einfach rein.“
Jaber interpretiert die Bebauung der ehemaligen arabischen Dörfer ebenfalls als gezieltes Vorgehen der israelischen Politik, um die Erinnerungen an deren eigentliche Besitzer zu erschweren. Auch er erinnert sich an die Picknicks in seiner Kindheit, er beschreibt Granatapfelbäume und Wasserquellen, zu denen die Ausflüge stattfanden. Der Widerstand gegen das Verschwinden dieser Spuren durch die Besuche dieser Orte findet sich in jedem Interview. Auch wenn die eigene Familie nicht persönlich vertrieben wurde, hat man Nachbarn, die ursprünglich aus Dörfern stammen, auch hier wirkt die jeweilige Zuordnung über den Ursprungsort, und so partizipieren auch die nicht direkt Betroffenen an dem Verlustgefühl. Tarek aus der Nähe von Haifa schildert diese Erfahrung: „Wir waren nicht direkt betroffen. […] Aber wie das ganze Volk darunter gelitten hat. Jeder dort kriegt was mit, man kriegt alles mit und die Geschichte ist auch nicht so lange her. Man kennt alle diese Kriege und die Nachbardörfer, die zerstört sind, man kann auch immer noch die Steine und das Holz da sehen.“
Die Erzählungen der älteren Verwandten an den Orten sind in der Regel private Geschichten. Sie handeln weniger von großen politischen Entscheidungen als vielmehr vom alltäglichen Leben in der alten Zeit und dem plötzlichen Verlust der alten Ordnung. Zidane berichtet von seiner Großmutter: „Einmal waren wir mit meiner Oma da, sie war damals 80 Jahre alt, aber gut in Schuss. Sie konnte viel erzählen, aber politisch hat sie wenig erzählt. Nur wie das Leben im Dorf war, es war sehr interessant. Sie war schon betroffen, das
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muss man sagen. Ich finde das sehr gut, dass wir das mitbekommen haben. Mit meinen Geschwistern habe ich auch drüber geredet.“
Er betont auch den Vorteil dieser Art der Zeitzeugenberichte, da sie für ihn den Bezug zum tatsächlichen damaligen Leben herstellen und den Bruch durch die Nakba für die Individuen intensiver veranschaulichen, „Ich glaub, das zeigt auch das Menschliche mehr, dass da wirklich was passiert ist. Da existierten glückliche Gestalten, und ihr habt einfach den Lebensraum von denen zerstört.“ Die Besuche der ehemaligen Dörfer und Häuser haben eine hohe Bedeutung für die Palästinenser in Israel, sie können als Annäherung an eine Art Mikrokosmos des verlorenen Palästinas vor 1948 verstanden werden, wie auch Wakim Wakim beschreibt,51 der Generalsekretär von ADRID (Association for the Defense of the Rights of the Internally Displaced Persons in Israel).52 Auch Adel aus dem Negev berichtete von der persönlichen Perspektive der Geschichten seines Großvaters: „Most of the time he is speaking as a history of a private person, not as a part of the Nakba or a part of a big society, he is telling his story.“ Und auch er betont wie Zidane und auch andere Interviewpartner die Notwendigkeit, diese Geschichten zu bündeln, um die Bedeutung der palästinensischen Katastrophe zu verdeutlichen: „If you will take all the stories together, you will see the real Nakba, the real history.“ Adels starke Betonung der wahren Geschichte, der wahren Nakba bezieht sich zum einen auf das große Misstrauen gegenüber der jüdisch-israelischen Geschichtsschreibung, die lange Zeit die Nakba und deren Dimension für die Palästinenser vernachlässigte und nicht anerkannte, und es bis heute nicht gänzlich tut. Sie nimmt zum anderen Be-
51 Wakim, Wakim zitiert durch Masalha: Palestine Nakba, S. 248. 52 www.ngo-monitor.org/ ngos/association_for_the_defence_of_the_rights_of_the_internally_displaced_adrid vom 10.05.2018 und www.divestmentwatch.com/NewsStories/BodyShop-ADRID-001.pdf vom 10.05.2018.
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zug auf die palästinensische orale Tradition, bei der es das kommunikative Gedächtnis und das intergenerationelle Erzählen sind, die das Wissen über die Vergangenheit aus erster Hand vermitteln. Der Appell, die Vergangenheit nicht zu vergessen und sich weiter zu erinnern, geht von einer Generation an die nächste Generation über. So berichtet auch Sohel von dem selbstverständlichen Prozess der Weitergabe: „Ja, also der Großvater hat meinem Vater das erzählt und mein Vater erzählt das uns, damit man nicht vergisst. […] Und wir reden oft über solche Themen so, damit man nicht vergisst.“ Das Wissen um den eigentlichen Besitz und das erfahrene Unrecht der Vorfahren hat auch Sohel schmerzvoll verinnerlicht. Auch wenn er einräumt, dort nie selbst gelebt zu haben, ist das Gefühl des Verlusts und der Ungerechtigkeit auf ihn übergegangen, damit auch seine persönliche Empfindung und Teil seiner Identität: „Ja, obwohl ich da nicht geboren bin, da nie gewohnt habe, weiß ich aber, es gehört uns. Das ist nicht einfach.“ Mit den oft emotionalen Erinnerungen wird neben der betonten Notwendigkeit der Bewahrung der Erinnerungen gleichzeitig auch die Last der andauernden Nakba weitergegeben. Die Bindung der jüngeren Generationen an die Vergangenheit und das erfahrene Leid scheint das einzige Mittel, um im Sinne des Summud die Ungerechtigkeit weiterhin anzumahnen und sich nicht mit dem Status Quo endgültig zu arrangieren: „These resurrected memories carry a strong political charge: enacting return, however fleetingly, solidifies the next generation’s commitment to that collective aspiration.“53 In diesem Sinne handeln auch die organisierten palästinensischen Sommer-Camps für Kinder, in denen Jugendliche und Ältere die Kinder über die Vergangenheit aufklären, ihnen die palästinensische Geschichte vermitteln, sie auch politisch erziehen und damit aktiv dem Vergessen entgegen arbeiten.54
53 Roberts: Contested Land, S. 179. 54 Zur Geschichte und Bedeutung der Camps: Sorek, Tamir: Political Summer Camps, in: Palestinian Commemoration in Israel. Calendars, Monuments & Martyrs, Stanford, California 2015, S. 181ff.
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Der Besuch dieser Camps ist sehr verbreitet, und auch die spätere Übernahme der Rolle eines Betreuers. Auch ADRID veranstaltet Camps dieser Art innerhalb Israels und sucht als Orte für die Zeltlager die Ruinen ehemaliger arabischer Dörfer, so dass die Kinder und Jugendlichen für den Aufenthalt auf dem Land ihrer Vorfahren leben und auf diese Weise auch eine räumliche Bindung an die Orte entwickeln. Das Engagement durch Camps und andere Gedenkveranstaltungen auf den Ruinen der ehemaligen arabischen Dörfer ist als ein Versuch des Gegen-Erinnerns zu verstehen: „Die Landschaft wird hier zur Gedächtnislandschaft, zur verräumlichten Geschichte. Es gilt die Geschichte des Kollektivs, die in der aktuellen Topographie von der Geschichte der ‚Anderen‘ überschrieben wurde, zu dekodieren.“55 Diese Camps sind sicherlich auch als eine Reaktion auf den kritisierten Lehrplan der Schulen zu verstehen. Zidane kommentiert zynisch die mangelnde Aufklärung in der Schule: „Bis zum Zweiten Weltkrieg stimmt alles einigermaßen. Bis dahin gab es [hier] auch wenig Konflikte. Und diese ganze Moderne oder Gegenwart, das ist ja ‚erst 60 Jahre her‘, das ist ja noch keine Geschichte. Das erfährt man durch Familie, Freunde, Partei und so.“ Yassin berichtet von seiner Kindheit und Jugend im Gazastreifen: „Der Gazastreifen besteht hauptsächlich aus Flüchtlingen, die dann ihren Kindern, und die dann ihren Kindern davon erzählen. Also man spricht darüber jeden Tag. […] Das geht an einem nicht vorbei, das ist Teil deines kulturellen Erbes.“ Er berichtet aus dem Schulunterricht in Gaza, dass die sogenannte deutsche Stunde Null ein großes Thema war, und die Deutschen für den schnellen Wiederaufbau der zerstörten Städte bewundert werden. Die beschriebene Faszination für den Mythos vom schnellen Wiederaufbau Deutschlands liegt in dem desolaten gegenwärtigen Zustand des wiederholt bombardierten und von wirtschaftlichen Sanktionen geprägten Gazastreifen begründet. Auch Interviewpartner Khaled aus der Gegend um Nazareth war als Kind in den Camps und als Jugendlicher selbst als Betreuer tätig. Er
55 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 230.
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hat die Bedeutung der nachfolgenden Generationen und des Wissens um die Vergangenheit verinnerlicht: „Die Kinder, sie werden das Gedächtnis unserer Völker, und das [das Erinnerte] dürfen wir einfach nicht vergessen – zum Beispiel Al Nakba.“ Hier werden die nachfolgenden Generationen als Gedächtnis des palästinensischen Volkes bezeichnet. Ein starkes Bild, das sowohl Pathos als auch Pflichtgefühl transportiert und damit auch die nicht zu hinterfragende Bedeutung des Erinnerns und der Weitergabe durch intergenerationelles Erzählen impliziert. Die Camps sollen die Palästinenser innerhalb Israels darin fördern, sich mit ihrer Herkunft und Situation (innerhalb Israels anhand der authentischen Orte) auseinanderzusetzen, und in den nachfolgenden Generationen das Bewusstsein um den ehemaligen Besitz und die Nakba stärken aber auch wie Nur Masalha betont, die Möglichkeit bieten, sich selbst wiederzufinden, die kollektive Erinnerung, das Zugehörigkeitsgefühl und die Identität zu stärken.56 Khaled geht an dieser Stelle seines Interviews rhetorisch fast in eine Art Rede über, vergisst die Interviewsituation und wendet sich scheinbar an ein größeres Publikum, ob nun palästinensischer, jüdischer, deutscher oder panarabischer Zugehörigkeit. Oftmals hat man während seiner Ausführungen den Eindruck, als müsste er sich erklären, und es wird deutlich, wie sehr er die Notwendigkeit sieht, in Deutschland über die Lage der Palästinenser aufzuklären. Gleichzeitig merkt man seinen Schilderungen an, wie sehr auch er die Verpflichtung gegenüber der Kadya filastin verinnerlicht hat. Khaled kritisiert weiterhin das Verbot, in Israel an das palästinensische Trauma der Nakba zu erinnern. „Auch wenn das in der Schule nicht gelehrt wird, das ist ein Thema! Du kannst einem Menschen nicht
56 „These activities aim to encourage displaced people [in Israel] to ‚rediscover‘ themselves, and to empower their memory, sense of belonging and identity. […] in recent years the local campaigns of internal refugees have reflected a strong relationship between memory accounts, identity and the desire to return to the place of origin.“ Masalha: Palestine Nakba, S. 246f.
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verbieten, traurig zu sein. Und ein Denkmal, dass man sich daran erinnert! Aber sie verbieten das. Aber es ist so, es bleibt so, es wird nicht einfach weggehen.“ Er argumentiert mit der Unmöglichkeit eines Verbotes der Trauer und betont sogleich, dass die Trauer und damit auch die Erinnerung von Bestand sind, auch wenn die öffentliche Erinnerung untersagt ist, und die Anerkennung ausbleibt. Eine offizielle Erinnerungskultur ermöglicht gemeinsames Gedenken, ein Denkmal oder Ort des Erinnerns betont die Bedeutung des Ereignisses, erkennt es an und hat somit gerade für die Betroffenen große Bedeutung. Im Falle des Konflikts innerhalb Israels um die Erinnerung an die Nakba wird aber auch deutlich, wie sehr das Verbot und die Verweigerung der Anerkennung des Anspruchs auf Gedenken auch ein Erstarken der Bedeutung des Verbotenen bedeutet. Zumal bei öffentlichen Nakba-Veranstaltungen, die vor allem in der Westbank stattfinden können, aber auch beim jährlichen March of Return57 innerhalb Israels fast immer die deutliche Verknüpfung zur gegenwärtigen Situation aufgezeigt wird, und insgesamt in den Interviews deutlich wird, wie viele gegenwärtige Situationen und Erfahrungen von der dritten Generation mit der Nakba in Bezug gesetzt werden. Die Nakba als Bezugspunkt hätte nicht die gleiche heutige Brisanz und Relevanz, wäre sie von israelischer Seite anerkannt und öffentlich erinnert worden. So aber wird sie zum Knotenpunkt des Konflikts, an dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsperspektiven treffen und auf den die aktuelle politische Situation und oftmals auch individuelle Schicksale und deren Scheitern bezogen werden. Mit der bewussten familiären Weitergabe von Erinnerung geht auch die unbewusste Weitergabe von Traumata einher. Anhand der Bedeu-
57 Der seit rund 20 Jahren stattfindende March of Return ist eine jährliche Demonstration von Palästinensern und jüdischen Unterstützern wie zum Beispiel der Organisation Zochrot in Israel, die immer ein anderes ehemaliges Dorf als Ziel nehmend an die Nakba erinnern und die Forderung nach dem Rückkehrrecht bekräftigen soll.
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tung und der scheinbar selbstverständlichen Verinnerlichung der Nakbaerfahrungen soll im Folgenden auch der Begriff des inherited trauma, des geerbten Traumas verdeutlicht werden. Die Kategorie der kollektiven Weitergabe kollektiver Traumata wird unterschiedlich bewertet, da die Kategorie des Kollektivtraumas im Kontrast zur individuellen Traumaerfahrung schon diskutiert wird.58 Sabine DamirGeilsdorf schlägt die Definition eines kulturellen und damit kollektiven Traumas von Jeffrey C. Alexander vor, die für den Forschungsgegenstand passend erscheint. „Cultural Trauma occurs when members of a collectivity feel they have been subjected to a horrendous event that leaves indelible marks upon their group consciousness, marking their memories forever and changing their future identity in fundamental and irrevocable ways.“59 Ausgegangen werden muss davon, dass Traumata nicht verschwiegen oder tabuisiert werden müssen, um als solche klassifiziert und an folgende Generationen weitergegeben zu werden. Im Gegenteil soll von einer kommunikativen intergenerationellen Weitergabe der traumatisierenden Erfahrungen und somit im übertragenen Sinne von einer verbalen Vererbung ausgegangen werden, ohne damit die Möglichkeit der stillen Weitergabe in Zweifel zu ziehen. Diese Weitergabe von traumatischen Erfahrungen kann am Beispiel des Exils und des Exilgefühls gezeigt werden. Neben dem tatsächlichen erlebten Exil der ersten und zweiten Generation, vor allem in den Flüchtlingslagern der umliegenden arabischen Länder, existiert innerhalb der palästinensischen Gesellschaft in Israel, Gaza oder der Westbank auch das Gefühl des Exils im eigenen Land, und auch bei allen Interviewpartnern der dritten Generation ist ein Moment des Provisoriums oder des Temporären zu bemerken. Exil und Exilempfinden sind wiederkehrende Topoi in den Werken palästinensischer Autoren, so zum Beispiel in den Werken von Mahmud Darwisch oder Ghassan Kanafani. Ein bekanntes Zitat aus dem
58 Vgl. Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 6f. 59 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 7.
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Werk von Darwisch lautet: „Vor meinem ersten freiwilligen Weggang aus Palästina war ich ein Fremder in meiner Heimat, ein Exilierter in meiner Heimat. Ein Gefangener in meiner Heimat.“60 Khamis beschreibt ein ganz ähnliches Gefühl bezüglich seiner Jugendjahre in Israel. Es kann gut sein, dass er Darwischs Beschreibung gelesen hat, palästinensische Autoren wie er haben eine hohe Bedeutung für das palästinensische Selbstverständnis und werden häufig erwähnt oder zitiert. Khamis beschreibt auch für sich das Gefühl der Fremdheit in Israel und dieses als einen Grund für seinen Weggang: „Auf jeden Fall, man fühlt sich halt fremd in seiner eigenen Heimat. Und das wollte ich nicht mehr! Von daher, es ist besser für mich, irgendwo fremd zu sein, wo das klar ist, das ist nicht meine Heimat.“ Khamis, der selbst keine Vertreibung erlebt hat und als 48er der dritten Generation in Israel geboren wurde und aufwuchs, beschreibt ein Fremdheitsgefühl, das streng genommen keines sein dürfte, da das derzeitige Israel die Heimat ist, in die er hineingeboren wurde. Er verknüpft sein Leiden in der Rolle des palästinensischen Israelis mit den (geerbten Erinnerungen) der ersten und zweiten Generation an eine ursprüngliche Heimat, aus der auch er, entsprechend dem Kollektivempfinden der Palästinenser, vertrieben wurde, so dass er in der gegenwärtigen „Fremde“, seines Heimatlandes, das nur geografisch dem beschriebenen Palästina ähnelt, nicht leben möchte und das tatsächliche Exil im Ausland vorzieht, wo ein gewisses Fremdheitsgefühl für ihn stimmig scheint und gut zu ertragen ist. Dieses Exil-Gefühl muss also nicht mit einem faktischen Exil einhergehen, es ist „auch denkbar und möglich als Geistesverfassung, ohne daß ihr jemals ein reales Exil vorausgegangen wäre.“61 Es ist starker Bestandteil des palästinensischen Selbstverständnisses, die traumatische Erfahrung der Vertreibung verbunden mit der Verweigerung des Rechts auf Rückkehr und dem erzwungenen Exil, sei es im Ausland
60 Darwisch, Mahmud: Palästina als Metapher, zitiert in: Enderwitz: Palästinensische Autobiographien, S. 94. 61 Enderwitz: Palästinensische Autobiografien, S. 95.
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oder in direkter Nachbarschaft zum ehemaligen Heim der Vorfahren. Khamis betont seinen Wunsch, dieses Gefühl hinter sich lassen zu können: „Ich wollte das Land verlassen damals, aus diesen Gründen. Um mich sozusagen zu befreien aus diesem Status. Als Palästinenser in Israel.“ Der Zustand der Palästinenser in Israel, der Westbank und dem Gazastreifen wird auch als „diasporic conditions“ beschrieben, was einen Exilzustand im eigentlichen Heimatland beschreibt, „denn auch wenn sie nicht im Ausland ansässig seien, würden sie in verschiedener Weise Entfremdung von Land, Territorium und Raum wahrnehmen: im Gazastreifen oder in der Westbank lebende Palästinenser durch ihre Vertreibung dorthin 1948 oder 1967 oder durch die Konfiszierung ihres Landes und die Palästinenser in Israel durch ihren Status als Minorität in einem neuen Staat.“62
Das Exilgefühl und dessen mögliche Aufrechterhaltung bedingen sich auch durch den Wartezustand bzw. die Verweigerung der Annahme des Status Quo, damit einher geht für die älteren Generationen die Haltung des Summud. Das palästinensische Exilmotiv beinhaltet damit aber auch eine mentale oder tatsächliche temporäre Sesshaftigkeit, ein konserviertes Provisorium, das in den meisten Fällen schon lange keines mehr ist, um die Umstände nicht als gegeben und endgültig anzuerkennen. Würde man den Status Quo akzeptieren, im Hier und Jetzt ankommen, bedeutete dies eine Absage an die Forderung nach der Rückkehr zur alten Ordnung und dem Idealbild des erinnerten Palästinas. Tarek, dessen Familie in Israel selbst nicht vertrieben wurde, erzählt fasziniert von dem Beispiel der Familie eines Freundes. Noch heute bemühen sich die ehemaligen Bewohner um das Recht auf eine Rückkehr in ihr Dorf. Sie haben einen positiven Gerichtsentscheid erhalten, dennoch verhindert die israelische Regierung eine Wiederbe-
62 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 186.
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siedlung des Dorfes, was die Bewohner aber nicht davon abhält, weiter an ihrem Vorhaben festzuhalten, wie Tarek beeindruckt schildert: „Diese Leute sind hartnäckige, kluge Leute, sie wohnen heute verteilt in Israel. Sie haben den Gerichtsentscheid, dass sie zurückkommen können. Aber die Regierung lässt das nicht zu. Aber diese Leute gehen alle dort hin, sie heiraten alle dort in der Kirche. Die Kirche ist das einzige, was überlebt hat. Sie machen immer mit den Kindern viele Aktivitäten dort. Auch in den Sommerferien und sind eben sehr aktiv. Immer noch kämpfen sie, dass sie zurückkommen und die Enkel, die wollen alle hin. Die wollen alle zurück. Ja, sie hoffen aber mit realistischen [Erwartungen], also nicht nur einfach hoffen, sie sind sehr engagiert. Die Juden oder die Regierung wollen das nicht erlauben, weil sie denken, wenn wir das jetzt machen, müssen wir das auch mit allen anderen machen.“
Tarek beeindruckt diese Gemeinschaft ehemaliger Dorfbewohner bzw. deren Nachkommen, die konsequent und mit Hilfe der rechtlichen Mittel an dem Traum von der Rückkehr in das ehemalige Dorf festhalten. Die Dorfbewohner warten nicht nur im Sinne des Summud, sie handeln auch aktiv, indem sie rechtliche Schritte einleiten und positive Gerichtsentscheide bewirken. Das Bild, das er schildert, vermittelt ein mögliches Modell eines effektiven palästinensischen Widerstands der dritten Generation, der die kritisierte Passivität des Summud hinter sich lässt, nicht aber dessen Durchhaltewillen, und diese Haltung mit der Inanspruchnahme des israelischen Rechtssystems verbindet. Der von Tarek begeistert beschriebene Zusammenhalt der ursprünglichen Dorfgesellschaft, die heute verstreut in Israel lebt, dennoch die Solidarität nicht verliert und die kollektiven Ziele erfolgreich an die jüngeren Generationen weitergibt, klingt wie das Idealbild der palästinensischen Gesellschaft, die in der Literatur, der Musik, den Geschichten und Parolen beschrieben wird, in der Realität aber nicht immer diesem Bild entspricht. Zidane sieht wie viele der Interviewpartner großen Aufklärungsbedarf innerhalb der palästinensischen sowie der jüdischen Gesellschaft und auch in der Weltgemeinschaft. Für die palästinensische Gesell-
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schaft betont auch er die Bedeutung der kollektiven Erinnerungen, um gemeinsam für die Interessen eintreten zu können. Er kritisiert in diesem Zusammenhang auch die palästinensische Gesellschaft in der Westbank dafür, dass sie zu sehr mit ihrer Unzufriedenheit oder dem Klagen über die Umstände beschäftigt wäre, anstatt in den autonomen Gebieten aktiv staatliche Strukturen aufzubauen und zu verbessern, um so den Ansprüchen an einen demokratischen Staat im Sinne der Weltgemeinschaft entsprechen zu können und dann auch an die Unterstützung und Anerkennung der anderen Länder appellieren zu können. Er erwähnt in diesem Zusammenhang immer wieder den Aufbau des israelischen Staates und spricht mit Anerkennung davon, dass in Israel der Staat mit der Errichtung von Universitäten und anderen Einrichtungen vorbereitet wurde. „Diese Elite, die damals in Israel angekommen ist, als erstes haben sie diese wissenschaftlichen Institute, die Universitäten aufgebaut, diese ganze Infrastruktur, das ist alles deutsch. […] Israel hat ja Fakten geschaffen. […] Die [Israelis] sind dageblieben, weil die einfach kräftig genug waren, in jeder Hinsicht.“
Die Kraft, die Zidane anspricht, steht für den erfolgreichen planvollen Aufbau des israelischen Staates, dessen staatlicher Strukturen und Infrastruktur. Der palästinensischen Autonomiebehörde wird immer wieder Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Auch viele Interviewpartner kritisieren das und verbinden den erfolgreichen Weg zu einem palästinensischen Staat mit dem systematischen Aufbau dessen Strukturen. Die Hamas des Gazastreifens wird in diesen Zusammenhängen und überhaupt in den Interviews kaum erwähnt, sie scheint keiner der Beteiligten als eine politische Option zu verstehen. Yassin aus dem Gazastreifen bringt seine Haltung zu den palästinensischen Vertretungen in Gaza und der Westbank drastisch auf den Punkt: „In Gaza, da sind die Idioten von Vorgestern, die Hamas, und in der Westbank sind es die Korrupten, die die ganze Zeit da waren und Gaza in einen Zoo verwandelt haben.“
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Der jüdischen Öffentlichkeit will Zidane die Möglichkeit nehmen, sich hinter den gängigen Positionen des Konflikts zu verstecken, indem er menschliche Schicksale und Geschichten zeigen und so die Folgen der Nakba veranschaulichen möchte. „Ich glaube, bestimmt 40 Prozent der Juden in Israel glauben, dass da [zu Beginn der zionistischen Ankunft] keine Leute waren. Wirklich. Guck mal, das erste Buch überhaupt über diese Dörfer, die bis 1948 zerstört wurden, erschien in den 80ern. Also wirklich, das ist einfach zu spät.“ Auch er bezieht sich auf die Forschungen der sogenannten neuen Historiker, die in den 1980er Jahren ihre Arbeit aufnahmen. Khaled sieht auch die Notwendigkeit, aufzuklären und zu informieren, er betrachtet das als Pflicht eines jedes Palästinensers: „Jeder muss was tun! Weil eine Person alleine, egal wer die Person ist, schafft das nicht!“ Er sieht es auch als Aufgabe der arabischen Parteien, der Politik und auch der Gemeinden, Aufklärungsarbeit zu leisten, um die Rechte der Palästinenser zu stärken „dass man die Menschen aufklärt, dass sie ihre Rechte kennen, um friedlich zu kämpfen.“ Ähnlich wie Tarek glaubt auch Khaled an die Nutzung des israelischen Rechtssystems für die Interessen der 48er. Jaber ist von der innerpalästinensischen Aufklärungsarbeit weniger überzeugt, er scheint resigniert und erklärt: „Am Anfang hab ich immer gedacht, das Land und das Volk, wir müssen und wir tun! Aber wenn ich da die Leute sehe, die kümmert das gar nicht. Viele wissen leider gar nicht viel über die Geschichte, Israel, Palästina, 1948, die leben einfach nur, ja? Und akzeptieren das, Unterdrückung und alles andere. […] Weil die [palästinensische] Gesellschaft ist sehr stark von anderen Dingen abgelenkt, die sind halt die ganze Zeit wie in einem Hamsterrad, die laufen und laufen, um ihre Familien zu ernähren und alles andere blenden sie aus.“
Er bezweifelt die Existenz einer wirkungsvollen palästinensischen Solidarität und kritisiert außerdem den mangelnden arabischen Zusammenhalt, „weil der Hass zwischen den Palästinensern und den Arabern selbst so groß ist, die beschäftigen sich mit ganz anderen Sachen“. Er
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berichtet auch, dass er früher engagierter, aber auch deutlich radikaler war: „Ich habe gedacht, was mit Kraft genommen wurde, wird auch mit Kraft zurückgenommen“, erklärt er seine damalige Haltung als eine Reaktion auf das jüdische Vorgehen während der Nakba und stellt auch hier den direkten Bezug zur Vergangenheit her. Heute sieht er die einzige Möglichkeit, die Gesellschaft vielleicht langfristig beeinflussen zu können, indem er seine zukünftigen Kinder anders erzieht, ihnen den Weg zu höherer Bildung ermöglicht, und so irgendwann eine andere Generation heranwächst, die „vielleicht doch etwas bewegen und durch legale Art und Weise was erreichen kann. Das kann ich machen, aber die [jetzige] Gesellschaft zu verändern, ich glaube, das ist ziemlich schwierig.“ Zidane sieht auch im Ausland Informationsbedarf. Die im Ausland lebenden Palästinenser [wie auch er] sollen versuchen, dort aufzuklären und zu vermitteln, so dass außerhalb von Israel Verständnis und Unterstützung für die Belange der Palästinenser gefördert werden. „Klar, so im Alltag kann man vieles machen, egal, was man macht, und wo man lebt halt. So als Palästinenser im Libanon oder als Palästinenser in Deutschland oder was auch immer, man kann schon für diesen Konflikt was leisten. Zum Beispiel ein Palästinenser, der in Frankreich lebt, dass er einfach die Leute aufklärt. Das ist wirklich das Minimalste, was man machen könnte.“
Die Aufklärung des Auslands wird immer wieder in den Interviews erwähnt und ihre Bedeutung steht in Zusammenhang mit der als einseitig und ungerecht empfundenen medialen Berichterstattung und auch der Haltung der Menschen, in diesem Fall vor allem Deutschlands, zum Nahostkonflikt. Im Gegensatz zu dem Informationsauftrag steht aber der Überdruss gegenüber politischen Diskussionen mit deutschen Bekannten, die ebenfalls oftmals als einseitig oder geprägt von Unkenntnis der realen Zustände beschrieben werden. Tarek aus dem Norden Israels beschreibt bezüglich dieser Aufklärungsgespräche eine Veränderung, die er an sich bemerkt:
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„Wenn ich über solche Themen diskutiere, bin ich so oder war ich emotional und manchmal war ich wütend, weil die Leute so denken, aber heutzutage gehe ich nicht mehr in solche Diskussionen. Es gibt wirklich Leute, es lohnt sich nicht, sich mit ihnen darüber zu unterhalten. Das ist nicht, weil ich arrogant oder eingebildet bin, sondern weil diese Leute wirklich null Ahnung davon haben. Null! Und wozu soll ich mit denen diskutieren? Ich habe schnell gelernt, ich lasse diese Leute.“
Yassin aus dem Gazastreifen beschreibt seine Haltung zu solchen Gesprächen noch drastischer: „Also man hört: ‚Ah dieser Konflikt, ihr müsst euch mit denen verständigen‘ ‚Ihr müsst!‘ und ‚Ihr müsst!‘ ‚Was heißt hier müssen? Und was heißt Ihr und wer ist der Aggressor und wer ist der Angegriffene? Wer ist der ursprüngliche Einwohner?‘ ‚Ja so gut kenn ich mich in der Materie nicht aus.‘ ‚Dann halt die Fresse und sag einfach nichts. Nicht einfach den Moralapostel spielen!‘“
Und auch die Haltung der deutschen Politik im Nahostkonflikt provoziert ihn wie auch das Gros der Interviewpartner. Tarek kann die deutsche Haltung zu Israel nicht nachvollziehen, „Das ist alles einseitig. […] Auf der einen Seite will Deutschland Frieden und so weiter, aber sie verkaufen Waffen. […] Es reicht, dass man immer sagt: Ja, wir haben Mist gebaut und jetzt müssen wir alles gut machen. Aber wenn du was gut machen willst, dann verkaufst du keine U-Boote an Israel.“
Bei Khamis führte die Frustration dazu, dass er sich nicht mehr politisch engagiert. Er besucht keine Demonstrationen mehr, sieht nur noch eingeschränkt Nachrichten und versucht sich von Diskussionen aber auch insgesamt vom Nahostkonflikt abzugrenzen. Im Interview tut er die Zeit, in der er sich politisch engagierte, als eine abgeschlossene Phase seiner jugendlichen Studentenzeit ab, der er entwachsen ist. Dennoch behandelt das Gros seiner Filme den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern.
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PFLICHTGEFÜHL UND ZERRISSENHEIT Es gelingt den in Deutschland studierenden Palästinensern nur schwer, sich dem anhaltenden Konflikt zu entziehen, auch wenn der Auslandsaufenthalt eine zumindest räumliche Distanz zum Geschehen schafft. Dieser räumliche Abstand begünstigt oder provoziert aber das Infragestellen des Gewohnten und kann so mit der Dauer des Aufenthalts zu Entfremdung mit dem ursprünglichen Umfeld führen. So beschreibt Jaber seine Zerrissenheit bei der Frage der persönlichen Zukunftsplanung: „Ich bin nicht richtig frei. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, als ich in Deutschland bleiben wollte, nicht direkt wegen der Nakba, aber wegen meiner Familie und das hängt zusammen.“ Jaber erzählt auch davon, dass er den Abstand zu dem allgegenwärtigen Konflikt in der Heimat genossen hat, er beschreibt eindrücklich, wie sehr ihn sonst dort diese Themen jeden Tag begleiten: „Das habe ich auch genossen hier zehn Jahre lang, dass ich das nicht ständig in den Medien höre, ,da ist jemand gestorben, hier hat das israelische Militär ein Haus bombardiert und hier ein Palästinenser einen Siedler erstochen‘. Du nimmst das halt auf in deinem alltäglichen Leben, morgens und das ist anstrengend, ein Stressfaktor, den du den ganzen Tag mitträgst. Ich meine, du beschäftigst dich nicht weiter damit, aber irgendwie im Unterbewusstsein.“
Jaber, der gerne in Deutschland bleiben wollte, berichtet, dass sein Vater als Reaktion auf diesen geäußerten Wunsch seines ältesten Sohnes ein Jahr lang nicht mehr mit ihm gesprochen habe. Auch Khaled beschreibt den Unterschied in der Lebensqualität zwischen Heimat und Studienland: „Die Menschen sind hier weniger gestresst, sie sind frei, sie tun, was sie im Kopf haben. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die Leute hier [in Deutschland] Frieden haben, dass sie einfach gar nicht so große Sorgen haben wie bei uns. Und das zeigt sich einfach, das Ganze hier ist einfach stabil, also auch die politische Lage, wirtschaftlich, und das äußert sich auch bei den Menschen.“
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Er betont aber immer wieder deutlich, dass es für ihn klar wäre, zurückzukehren: „Auch wenn es nicht so ideal ist, trotzdem will ich nach Hause. Aus Prinzip will ich nach Hause.“ Zum Zeitpunkt des Interviews steht Khaled kurz vor seinem Studienabschluss, die Frage der Planung danach beschäftigt ihn sehr, in seinem Interview wird der Konflikt über die Zukunftsplanung, seine individuellen Bedürfnisse und die Verinnerlichung seiner Verantwortung gegenüber dem Kollektiv in der Heimat sehr deutlich. Vor diesem Hintergrund fällt die Abgrenzung von den Erwartungen der Familie, die häufig direkt an die vorherrschenden Erwartungen der palästinensischen Gesellschaft geknüpft und dementsprechend von denen des Kollektivs kaum zu trennen sind, nicht leicht. Auf der persönlichen Ebene ist es ein oft schmerzhafter Prozess, der mit Vorwürfen, Druck und Enttäuschungen einhergeht. Der Erwartungsdruck an eine Rückkehr aus dem Ausland ist im Falle der Palästinenser aus Israel größer als in dem der Interviewpartner aus Gaza. Aufgrund der Umstände erwarten die Familien dort seltener eine Rückkehr in das von Krieg und Mangel gezeichnete Küstengebiet. Aber auch in diesen Fällen scheint eine emotionale Abgrenzung nicht leicht, in Kriegszeiten umso schwerer, wenn die Studierenden ihre Angehörigen unter Bombardement wissen. So beschreibt Yassin, aus dem Gazastreifen stammend, bezogen auf die Frage nach einer möglichen Abgrenzung von den Erfahrungen seiner Vorfahren, die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens: „Also ich würde schon differenzieren wollen. Ich wurde persönlich nicht vertrieben, aber ich habe die Tragödie selber gelebt. Die Tragödie des VertriebenSeins. Das habe ich auch persönlich gelebt, obwohl ich nie aus meinem Haus rausgeschmissen wurde, weil man so vieles trifft, auf so viel Leiden, auf so viele Konsequenzen... und deswegen ist es auch persönlich. Obwohl man nicht selbst vertrieben wurde. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es auch ein Teil deiner persönlichen Geschichte, weil du triffst den, weil der auch vertrieben wurde, seine Familie vertrieben wurde und ich bin hier, weil... Also es ist alles
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eins, was du nicht trennen kannst. Du kannst differenzieren, aber nicht trennen.“
Auch Zidane beschreibt die andauernden Auswirkungen in der Familiengeschichte, die jeder Palästinenser kennt: „Ja, also wenn ich das jetzt so auf die persönliche Ebene reduziere, wenn ich jetzt so zurückdenke, auf das, was passiert ist mit dem Dorf und meiner Familie, wie die überall verteilt ist, dann kommen immer diese Gedanken, das ist immer aktuell und immer so präsent bei den Palästinensern, ich hätte [eigentlich] eine ganz andere Biografie gehabt. Das sind wirklich so Schnitte von außen, die einfach zugefügt wurden.“
Mit dem Hinweis auf seine eigene Biografie, die einen anderen Verlauf genommen hätte, hätte die Nakba nicht stattgefunden, sieht und zieht er einen klaren Zusammenhang zwischen den Konsequenzen, die an die Nakba geknüpft sind, und der aktuellen Lebenssituation der dritten Generation. Auf die Nachfrage, wie seine Biografie denn sonst ausgesehen haben könnte, antwortet er, dass das schwer konkret vorzustellen wäre. Er betont aber seine Überzeugung, dass sein Leben nicht schlechter wäre als sein heutiges. Diese sachliche Aussage steht in Kontrast zu der nostalgischen Beschreibung Palästinas vor 1948 der NakbaGeneration. Er bezieht sich dann auf die Modernität Israels und beschreibt, dass den 48ern wiederholt vorgehalten würde, sie sollten dankbar sein, dass sie als israelische Bürger von diesem modernen Staat profitieren dürften, und dass die Palästinenser einen solchen Standard sonst nicht erreicht hätten. Er erkennt die Modernität Israels an, betont aber auch den Einfluss, den der Konflikt auf die Entwicklung der palästinensischen Gesellschaft und des arabischen Raums insgesamt gehabt habe und hat und ergänzt: „Ich glaube, wenn man Länder in Ruhe lässt, sie nicht kolonialisiert oder anders einschränkt, dann entwickeln die sich von ganz alleine und normal.“
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Er betont darüber hinaus, dass die Israelis im Zuge der Staatsgründung die vorgefundene palästinensische Gesellschaft und Kultur ignoriert hätten und zeichnet hier die übergreifenden Konsequenzen aus diesem Vorgehen auf: „In diesen familiären Strukturen sowieso, aber im Ganzen, also das was die Israelis verleugnen, 20 Prozent sagen: ‚Da waren keine Leute, da war ein leeres Land.‘ 40 Prozent sagen: ‚Da waren Leute aber nur Bauern. Ein Haufen Bauern ohne Kultur, ohne alles.‘ Aber das stimmt eben nicht. Diese ganzen Schnitte, damit haben sie nicht nur die familiären Strukturen kaputt gemacht, sondern alles andere, die ganze Kultur und so. So im Großen.“
Die palästinensische Mittel- und Oberschicht in den Städten ging 1948 überwiegend ins Exil, häufig in dem Glauben, der Aufenthalt wäre nur temporär, und insofern verließ ein Großteil der palästinensischen Intelligenz das Land, die einfachen Leute blieben zunächst, so dass sich der Eindruck einer rein bäuerlichen Gesellschaft verfestigen konnte, was Zidane ärgert. Jo Roberts sieht in dieser Entwicklung einen doppelten Verlust: „Palestinian Arabs lost their cities too, and with them the political and cultural life that helps build a distinct national identity.“63 Auch Zidane betont die kulturellen Zentren in den Städten vor der Nakba. Tarek beschreibt die im wörtlichen Sinne alle Palästinenser umfassende Wirkung der Nakba: „Ich habe total viele Emotionen, wenn ich die Nachbardörfer sehe. […] Wir sind da, wir leben da und wir sehen alles. Und man lebt immer noch in der Geschichte.“ Seine Familie gehört zu den wenigen, die selbst von der Vertreibung nicht betroffen waren; doch das bedeutet nicht, dass ihn die Erinnerungen an die Nakba nicht betroffen macht, und er sagt an dieser Stelle ganz explizit: „Wir leben immer noch in der Geschichte.“ Auch Zidane betont entschieden: „Man kann das einfach nicht vergessen, weil das noch lebendig ist. Wirklich in jeder Hinsicht. Du hast
63 Roberts: Contested Land, S. 180.
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Familie, die da lebt, du kennst auch viele Leute, mein Onkel zum Beispiel: Die Familie lebt in Syrien. Das ist ja alles hochaktuell.“ Hier klingt zum einen das umfassende Zusammengehörigkeitsgefühl an, gleichermaßen aber auch die Unmöglichkeit einer Loslösung von den Erfahrungen und Erinnerungen der ersten und zweiten Generation. Die Konsequenzen, von denen Yassin aus Gaza sowie Zidane und Tarek aus dem nördlichen Israel sprechen, werden auch in den anderen Interviews deutlich, sie betreffen alle Palästinenser, auch wenn sie die Erfahrung des Verlusts der Heimat nicht persönlich gemacht, die Nakba nicht selbst erlebt haben. Eine Abgrenzung scheint kaum möglich, da so viele Entwicklungen ihrer Leben mit den Konsequenzen aus der Nakba zusammenhängen, aus ihr resultieren, und diese somit auch die Gegenwart und Zukunft beeinflusst. Yassin betont, dass er differenzieren kann, unterscheiden in den jeweiligen Ausprägungen der Nakba, aber einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, scheint auch ihm unmöglich. Er distanzierte sich insofern, als er während der Gaza-Offensive 2008/09 keine Nachrichten mehr gesehen hat und erst bei Anbruch des sogenannten arabischen Frühlings wieder Interesse an medialer Information gewann. Diese Abgrenzung resultierte aber mehr aus der Verzweiflung gegenüber der Situation in seiner Heimat, der deutschen Berichterstattung, der Sorge um seine Angehörigen und der Ohnmacht, aus der Ferne zusehen zu müssen. Yassin reagierte an dieser Stelle des Interviews für seine sonst sehr souveräne Haltung emotional, und auch sein vorher sehr hohes Sprachniveau geriet bei diesem Thema ins Stocken. Er kommentierte das von sich aus und erklärte zu seinem Galgenhumor zurückfindend: „Tut mir leid, dass ich etwas emotionaler wurde, aber angesichts der Bilder von 2008 war ich kurz davor, Amok zu laufen. Es war wirklich, dann hörst du auf, an alles zu glauben, woran du vorher geglaubt hast. Das ist ein Moment des Umbruchs, und das ist wirklich, entweder höre ich keine Nachrichten mehr, oder ich geh auf die Straße und bring die Leute um. So war das, und ich habe
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mich für die [nach einer betonten Pause, schmunzelnd] menschlichere Variante entschieden.“
Yassin ist nicht der Einzige, der aufgrund der Ohnmacht in der Distanz zur Heimat die Nachrichten meidet. Auch Khamis und Jaber beschreiben diese Abkehr von der Berichterstattung durch die Medien. Denn, wenn das Ohnmachtsgefühl auch in den Schilderungen über den Alltag in der Heimat beschrieben wird, so scheint es aus der Distanz in Deutschland doch noch schwerer auszuhalten, vor allem wenn sich der Heimatort und die Familie im Gazastreifen befinden. Khamis, einer der etwas älteren Interviewpartner, hat sich vergleichsweise radikal für ein Leben in Deutschland beziehungsweise Europa entschieden. Es ist weniger eine Entscheidung für Deutschland als eine gegen Israel. Er kam erst in seinen späten Zwanzigern nach Deutschland und nahm in Deutschland ein zweites Studium im Fach Regie auf. Den Alltag an der Kunst-Uni beschreibt er als offen und tolerant, viele seiner Kommilitonen kamen ebenfalls aus dem Ausland, er fühlte sich nicht als Ausländer und fremd, wie es viele der Medizinstudierenden gerade vom Beginn ihrer Studienzeit in Deutschland beschrieben. Seine Eltern respektieren seine Entscheidung, im Ausland zu leben, sicherlich als eine, die ein Erwachsener traf, anders als im Falle des Gros der Interviewpartner, die die Heimat in der Regel mit 19 oder 20 Jahren mit temporärer Absicht verließen, und deren Entwicklung zum Erwachsenen dann in der Distanz zum ursprünglichen Umfeld stattfindet. In diesen Fällen fällt es den Eltern oft schwerer, den für sie, wenn auch vielleicht gefürchteten, dann doch anscheinend überraschenden Wunsch nach einem Leben im Ausland zu respektieren. Vielen Eltern scheint vorher nicht bewusst zu sein, dass ein so langer Aufenthalt im Ausland in einer so prägenden Altersphase seine Spuren bei ihren Kindern hinterlässt und diese mitunter aufgrund der Erwartungshaltung in der Heimat in einen schweren Identitätskonflikt stürzt. Im Falle Kamals scheint das Verhältnis zu seiner Familie nicht unter seiner Entscheidung für das Leben fern der Heimat zu leiden.
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Dennoch wurde in seinem Interview deutlich, dass die Entscheidung zur räumlichen Distanz auch die Abgrenzung von den Themen der Untersuchung beinhaltete. „Man ist betroffen, wenn da ein Krieg passiert oder eine Intifada. Man fühlt sich betroffen, man fühlt sich auch angegriffen, obwohl man dort nicht mehr lebt, aber du bist auch ein Beobachter. Klar, man ist gebrochen, weil man da herkommt, aber trotzdem, man ist nicht mehr ganz dort.“ Eine Abgrenzung von der aktuellen Gegenwart scheint also manchmal möglich, wie im Falle Kamals. Die Abgrenzung von der gegenwärtigen Vergangenheit aber gelingt auch ihm nicht. Als Regisseur behandelt er in seinen Filmen Themen, die aus der Nakba resultieren. Indem er die Geschichte seiner Familie zum Ausgangspunkt seiner Filme macht, beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit dem Verlust von Heimat und Besitz, dem Verschwinden palästinensischer Spuren und auch den Ohnmachtsgefühlen gegenüber dem Vorgehen der israelischen Regierung. Die Erfahrungen von 1948 werden an die nächsten Generationen weitergegeben, und damit einhergeht neben dem beschriebenen latenten Exilgefühl bei den Studierenden auch das Pflichtgefühl zur Rückkehr in die Heimat. Die meisten Interviewpartner empfinden eine Verpflichtung zur Rückkehr, und daraus resultiert, oft weniger bewusst, auch eine Verpflichtung zu temporären Lebensbedingungen und -planungen im Studienland und oftmals ein andauernder Konflikt, da sie sich in Deutschland eingelebt und ihren Lebensmittelpunkt dort verortet haben. Auf die Frage nach einem möglichen langfristigen Weggang aus Israel reagiert Khaled sehr emotional: „Auf gar keinen Fall! Das wird das aller-, allerletzte sein. Warum denn? Unser Land? Es gibt viele Menschen, auch natürlich die Jugend sogar, die weg wollen. Und das kommt im Laufe der Zeit, dass die Menschen keine andere Perspektive haben. Und es gibt Jugendliche, die wollen nicht zurück, weil es nichts zu Hause gibt. Aber das finde ich falsch! Man muss friedlich kämpfen, bis es Gleichberechtigung gibt.“
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An die akademische Ausbildung im Ausland ist gerade im Falle der 48er automatisch die Erwartung an eine Rückkehr und das Engagement in der Heimat geknüpft. Das schwierige Thema der Rückkehr am Ende des Auslandsstudiums wurde Gegenstand fast jedes Interviews, und auch, mit welchen Spannungen es häufig verbunden ist. Auch wenn in der Regel (vorrangig bei den Interviewpartnern aus Israel) zunächst die Rückkehr fest eingeplant war, so ändern sich mit der Dauer des Aufenthalts oft die Bedürfnisse, die Wünsche und die Studierenden selbst allemal. Sie haben inzwischen ihren Freundeskreis in Deutschland, möglicherweise eine Partnerschaft, vieles was sie nicht mehr missen möchten. Die lange Zeit im Ausland hinterlässt Spuren, die Interviewpartner verändern sich, entfremden sich ihrem ursprünglichen Umfeld zum Teil, woraus kleinere oder größere Konflikte resultieren, die die ursprünglich fest geplante Rückkehr erschweren oder sogar in Frage stellen. Neben der familiären Erwartung einer Rückkehr der Kinder lastet auf den Interviewpartnern oft auch die empfundene Verpflichtung dem heimatlichen Kollektiv gegenüber, die ihnen die Möglichkeit einer individuellen Bedürfnisorientierung nimmt, da das Wohl des Kollektivs höher als das des Einzelnen einzuordnen ist. Die Pflicht, sich für die Kadya filastin zu engagieren und nicht vermeintlich egoistisch die Vorteile eines Lebens im Ausland zu genießen, wiegt für einen Großteil der Interviewpartner schwer. Khaled aus dem Norden Israels, der die Pflicht zur Rückkehr so vehement verteidigte, beschreibt an anderer Stelle im Interview dann auch den Konflikt, der für ihn aus dieser Verpflichtung gegenüber dem palästinensischen Kollektiv entsteht: „Keiner traut sich, oder kann so frei sein zu sagen: ‚Ich bleibe in Deutschland, einfach weil es mir hier gefällt.‘ Aber bei mir, das macht mir manchmal Angst. Ich habe immer gesagt, bis vor zwei Jahren: Sofort nach dem Studium, einen Tag darauf fliege ich nach Hause. Aber im Laufe der Zeit, wenn du hier länger bist, du lebst dich einfach ein. Was bleibt mir einfach, so geschlagen, es sind einfach verschiedene Welten.“
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Khaled reagiert hier sehr betrübt, die Formulierung, „geschlagen zu sein“, meint an dieser Stelle, dass er sich vom Schicksal gebeutelt fühlt und mit dieser Zerrissenheit belastet. Im Spannungsfeld individueller Bedürfnisse und den Erwartungen des Kollektivs, das hier sowohl Familie als auch Dorfgemeinschaft bzw. palästinensische Gesellschaft insgesamt meint, plant Khaled immer nur im Zweijahresrhythmus. In den Worten Georg Simmels erscheint er nicht „als der Wandernde, der heut kommt und morgen geht, sondern als der, der heut kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.“64 Nach Ablauf der Zeitspannen ist die Rückkehr geplant, zumindest angedacht, aber sie kann jeweils neu verhandelt werden. Viele der Interviewpartner berichten, dass sie nach abgeschlossenem Studium zunächst noch berufspraktische Erfahrungen in Deutschland sammeln wollen, um dann in ein paar Jahren nach Hause zurückzukehren. Zum einen liegt es wohl in den hohen Erwartungen begründet, die das ursprüngliche Umfeld an die studierten Heimkehrer hat, zum anderen bietet die weitere Spezialisierung auch die willkommene Begründung, die geplante und erwartete Rückkehr zu verschieben, die nach dem langen Auslandsaufenthalt mit widersprüchlichen Gefühlen verbunden ist. Khaled hat die Verpflichtung gegenüber der Kadya filastin sehr verinnerlicht, aber auch anderen, emotional weniger gebundenen Gesprächspartnern scheint es nicht so einfach möglich zu sein, vor diesem Erwartungshintergrund, in Deutschland langfristig zu planen, sich festzulegen und sich mit dieser Entscheidung wohl zu fühlen. Jaber beschreibt das Dilemma und seine chronische Unfähigkeit anzukommen: „Ich bin nie glücklich. Immer fange ich etwas an, und dann breche ich es irgendwann wieder ab, weil ich damit nicht zufrieden bin. Immer habe ich diese Brüche.“ Auch Jaber steht im Spannungsfeld zwischen individuellem Bedürfnis und familiären beziehungsweise gesellschaft-
64 Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden. In: Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 59.
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lichen Erwartungen. Und auch wenn er sich diesen zeitweise bewusst widersetzt, sich davon emotional distanziert, schwankt er doch sehr in seinen Planungen und verwirft sie regelmäßig. Er versucht immer wieder, ein emotionales Gleichgewicht zu finden, indem er bemüht ist, beiden Erwartungsräumen zu entsprechen; dieses Schwanken zwischen den Extremen bringt ihn aber wiederholt in Konflikte mit dem aktuellen oder dem ursprünglichen Umfeld. Das ständige Wechseln in der Planung belastet ihn zudem selbst sehr und macht es ihm schwer, Beziehungen aufzubauen. Er stellt sich immer wieder Sinnfragen, die auch den Kontrast zwischen den jeweiligen deutschen und arabischen Vorstellungen einer sinnvollen Zukunftsplanung verdeutlichen. Und er scheint diesen Zwiespalt mit der Zeit so sehr verinnerlicht zu haben, dass, sogar wenn seine Familie ihm inzwischen zumindest vordergründig die freie Entscheidung über seine Zukunftsplanung überlässt, er dennoch das Ringen der gegensätzlichen Vorstellungen so sehr übernommen hat, dass er das Spannungsfeld allein mit seinen eigenen gegensätzlichen Bedürfnissen aktiv hält. Er benötigt dafür keinen echten fordernden Gegenpart mehr. Jaber beschreibt auch selbst, wie er sich über einen langen Zeitraum mit dem periodischen Zweijahres-Planen selbst ausgetrickst hat, indem er sich nach dem Studium zunächst sagte, er müsse nun erst einmal zwei Jahre Berufserfahrung sammeln, bevor er nach Israel zurückkehre. Nach Ablauf dieser Zeit überlegte er sich, nun doch die vorher einmal abgebrochene Spezialisierung wieder aufzunehmen, da es doch sinnvoller wäre, diese zu beenden, bevor er dann endgültig nach Hause zurückkehrte und sesshaft würde. Er sieht diesen Zwiespalt auch in der langen Zeit in Deutschland und in seinen persönlichen Veränderungen begründet, er sagt über sich: „Ich bin für Israel zu deutsch und für Deutschland zu arabisch oder zu israelisch.“ Ihm gelingen die von Abels formulierten Anforderungen an die Identitätskonstruktion nicht mehr, nicht „in seinem Handeln [die] Konsequenz zu zeigen, und
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in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen“65 zu finden.
PERSÖNLICHE VERÄNDERUNGEN UND KONFLIKTE Die persönlichen Veränderungen, die mit dem langen Auslandsaufenthalt einhergehen, werden in allen Interviews thematisiert. Die Veränderungen der in Deutschland studierenden Palästinenser werden ihnen zum einen vom ursprünglichen Umfeld rückgemeldet und zum anderen stellen sie selbst spätestens bei Besuchen in der Heimat fest, in welcher Weise sie sich verändert haben. Es sind alltägliche Dinge, die bei Besuchen im ursprünglichen Umfeld auffallen, das Bedürfnis nach mehr Privatsphäre oder Anonymität, der Mangel an Gesprächsthemen mit den früheren Freunden oder spontane Erfahrungen, wie das plötzliche Unverständnis gegenüber auf die Straße geworfenem Müll, die in den Interviews berichtet werden. Auch eine größere Besonnenheit wird häufiger erwähnt, viele der Interviewpartner betonen, dass sie ruhiger geworden sind und in Konflikten die Konsequenzen bedenken, bevor sie handeln. Muhammed beschreibt diese Veränderung, die er an sich wahrnimmt, belustigt: „Vielleicht habe ich hier [in Deutschland] gelernt, einfach zuzuhören, ein braves Kind zu sein, obwohl ich das nie gewesen bin. Regeln waren mir scheißegal. Ich machte alles, was ich wollte, Punkt. Aber hier muss man immer denken, wenn ich das mache, welche Nachteile hat das? Und wenn ich das jetzt so und so sage, dann... Ich habe gelernt, immer nachzudenken, tausendmal nachzudenken, bevor ich irgendwas mache.“
65 Abels: Identität, S. 196.
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Der Gedanke, was ein Scheitern in Deutschland bedeuten würde, ist immer präsent. Entschieden sagt Khaled: „Der Hauptpunkt ist das Studium. Das muss klappen, du bist deswegen nach Deutschland gekommen. Scheitern darf man nicht.“ Ihm bereitete dieser Druck auch Angst, aber er versucht, ihn als produktiv motivierend umzudeuten. Immer wieder wechselt er innerhalb von Sätzen von der Beschreibung eines persönlichen Gefühls der Sorge oder der Verunsicherung in einen allgemeineren Ton über die wertvollen Erfahrungen des Auslandsaufenthalts und den Sinn dahinter. Neben dem persönlichen Unglück des Versagens würde ein Scheitern auch bedeuten, dass der Ruf des Betroffenen als der eines Gescheiterten in einem großen Umfeld haften bleibt. Zu sehr sind die Beziehungen in der Heimat verwoben, kennt man die Leute als Sohn, Schwester, Neffe oder Nichte. Oft leben auch größere Familien- oder Verwandtschaftszusammenhänge in der Nähe zueinander, was ein heimliches Scheitern unmöglich macht. Es wird berichtet, dass unter den 48ern viele der ehemaligen Dorfgemeinschaften sich nach dem Verlust ihrer Häuser an einem anderen Ort wieder zusammenfanden, so dass ursprüngliche Gemeinschaften und Verbindungen auch über die Nakba hinaus bis heute räumlich bestehen. Im Gazastreifen bietet die räumliche Begrenztheit von 365 km² und knapp 1,8 Millionen Einwohnern schon wenig Raum für Anonymität oder Distanz. Yassin berichtet von dem Schicksal eines ehemaligen Schulkameraden, dem es im Ausland so schlecht ging, dass er das Studium dort abbrach und zunächst in seinen Heimatort im Gazastreifen zurückkehrte. „Er hat das Studium abgebrochen, ist zurück nach Palästina. Und der hat es gehasst, in dieser Stadt zu leben, weil alle diesen Blick dann hatten, ‚das ist der, der gescheitert ist‘. Und jetzt lebt er in Ramallah und will mit dieser Stadt, mit diesen Leuten gar nichts mehr zu tun haben. Sogar seine Mutter, die ich vor zwei Jahren getroffen habe, meinte zu mir: ‚Ach komm, für mich ist er gescheitert, für dich ist er gescheitert, für alle anderen auch.‘ Ich sagte: ‚Nein, das stimmt nicht. Für mich ist er es nicht, bitte sprich nur für dich allein.‘ Das ist
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ein Trauma. Also in dieser Gesellschaft, die reden und reden und reden und kauen und reden und reden und hören nicht auf zu reden.“
Von einem anderen Interviewpartner wurde ebenfalls die Geschichte eines Bekannten geschildert. Dieser war zum Studium nach Deutschland gekommen, fühlte sich im Medizinstudium aber nicht wohl, fiel durch Prüfungen und wollte lieber Informatik studieren. Als er das Studienfach wechselte, und seine Eltern davon erfuhren, ließ sich sein Vater in eine Klinik einliefern und drohte seinem Sohn, diese erst wieder zu verlassen, wenn der das Medizinstudium wieder aufnähme. Der Beruf des Arztes ist nach wie vor sehr angesehen und wie Adel beschreibt, verbindet man mit diesem Beruf neben dem hohen Ansehen auch eine berufliche Selbstständigkeit und damit die weitestgehende Unabhängigkeit von israelischen Arbeitgebern und Behörden. Er erklärt mit diesem Gedanken an Unabhängigkeit den Wunsch seiner Eltern, dass der älteste Sohn, dem als einzigen der akademische Weg ermöglicht werden konnte, lieber Arzt werden sollte als ein Journalist. Dennoch haben sie seine Entscheidung akzeptiert, was für ihn aber den Druck, beruflich erfolgreich zu sein, noch erhöht. Da er aber keine Spritzen und kein Blut sehen kann, steht er dennoch hinter seiner Entscheidung. Die mehrjährige Distanz zur Heimat, die bis auf Adel und Radi alle Interviewpartner erleben, beschreiben fast alle als kompliziert. Das autonome und anonymere Leben gerade in größeren Städten in Deutschland hinterlässt, nachdem es anfangs als sehr hart und einsam beschrieben wurde, seine Spuren und wird mit der Zeit in gewisser Weise auch geschätzt. Bei den Besuchen in der Heimat wird der Kontrast zum alten Leben deutlich, und Sohel beschreibt sein Gefühl während eines längeren Aufenthalt in seinem Heimatdorf deutlich: „Wenn ich zu Hause bin, dann hab ich das Gefühl, im Gefängnis zu sein. Wie soll ich das sagen, dass man die ganze Zeit beobachtet wird. Egal, was du machst, was du sagst.“
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Und auch Yassin kritisiert das enge Beziehungsgeflecht und die damit einhergehende soziale Kontrolle im Gazastreifen: „Jeder kennt jeden. Du bist der Sohn von Blabla, ja dann schöne Grüße an deinen Onkel. Also es gibt keine Privatsphäre. Für mich war es in Ordnung, bis zu meinem 18. Lebensjahr fand ich es super, dort zu sein. Aber jetzt könnte ich es mir nicht vorstellen. Man wächst damit auf, es fiel mir nie auf, dass ich jetzt eingeschränkt war in irgendeiner Art und Weise. Aber wenn du außerhalb gelebt hast, wenn du ein Leben hier jetzt in Berlin so führst...“
Khaled aus dem Norden Israels beschreibt auch den Kontrast, den er wahrnimmt, wenn er sein Umfeld an der Uni mit dem seines Heimatortes vergleicht. Er vermisst dort „die normalgewordenen Diskussionen an der Uni mit Studenten aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Das gibt es nicht mehr, das ist alles gewöhnungsbedürftig, das ist dann einfach so, als ob jetzt alles sinnlos wäre.“ Gegenstand der Interviews war auch, wie sich die eigene Rolle aufgrund des Arztberufes in der ursprünglichen Gesellschaft verändert. Der Umgang und die Erwartungen an den zurückgekehrten Arzt sind andere als die an den Jugendlichen, der zehn Jahre früher ins Ausland ging. Yassin beschreibt diese veränderte Haltung und begründet mit ihr auch seinen Wunsch, nicht mehr in das ursprüngliche Umfeld zurückzukehren: „Besonders als Arzt, du bist eine öffentliche Persönlichkeit. Du bist nicht mehr Yassin, du bist der Doktor. Es baut einfach eine Mauer. Für die bin ich der Doktor, und ich werde nie mehr mit meinem Vornamen angesprochen. Es sind natürlich Privilegien, würde man sagen, aber ich will die nicht haben, ich verzichte gern darauf, ich möchte mich normal fühlen, ganz einfach.“
Zu den Verunsicherungen im Kontakt mit dem ursprünglichen Umfeld aufgrund der persönlichen Veränderungen kommt der neue Status als Arzt hinzu, der es den Heimkehrern zusätzlich erschwert, ihre ur-
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sprüngliche Rolle in der Gemeinschaft wiederzufinden oder sie zu gestalten.
DISKRIMINIERUNG UND OHNMACHTSERFAHRUNGEN Neben dem neuen Status, alltäglichen Konfliktthemen, wie dem Tragen kurzer Hosen, der erwarteten Flexibilität für spontane Besuche der Verwandtschaft ist es nach längerem Auslandsaufenthalt auch nicht einfach, sich mit den Konsequenzen aus dem andauernden politischen Konflikt und dessen spürbaren Auswirkungen zu arrangieren. Häufig wird in den Interviews betont, wie sehr der Alltag im Ausland ohne die regelmäßigen unmittelbaren Konflikt- und Diskriminierungserfahrungen genossen wurde. Adnan aus dem Gazastreifen berichtet im Interview nach rund 20 Jahren das erste Mal von seinen Erfahrungen; die Gesprächssituation hat auf ihn starke Wirkung. Adnan kam als junger Mann noch ins damalige Westberlin und ist heute ein erfolgreicher Chirurg. An seinem Beispiel und seinen Schilderungen wird deutlich, wie sehr man sich der alltäglichen angespannten Atmosphäre in Gaza entwöhnen kann, zudem die Situation im Gazastreifen bei seinem Weggang auch noch eine andere war. Seine Frau lernte er in Deutschland kennen, sie hat keinen Bezug zur arabischen Welt, er hat nur noch wenige arabische Freunde, seine Kinder sprechen kaum arabisch, und er bezeichnet Berlin als seine Heimat. Als er nach vielen Jahren den Gazastreifen und seine Familie das erste Mal besucht, wird ihm erst bewusst, wie sehr er sich der Situation dort entfremdet hat: „Wenn man aus Berlin oder aus Deutschland kommt und nach Gaza geht, schon alleine, dass der Gazastreifen nur 25 km lang ist oder 34, dass man weiß, ich bin jetzt da, ich kann jetzt nirgendwohin. Dieses Gefühl, wie damals in
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Westberlin, du kommst auch nicht raus. Du kannst nicht nach Tel Aviv gehen, du kannst nicht nach Jerusalem, du kannst nirgendwohin gehen. Also du würdest es vielleicht, wenn die Grenze offen wäre wie früher, gar nicht oft machen – aber du könntest es!“
Adnan beschreibt das Gefühl des Eingesperrt-Seins, dem er sich mit der zeitlichen und räumlichen Distanz komplett entwöhnt hat, so dass es ihm inzwischen als nur schwer zu ertragen erscheint. Er erzählt auch von der Angst, von seinem Heimatort nach Gaza-Stadt zu fahren, da er Bomben in der Ferne hörte. Und wie es ihn irritierte, wie routiniert seine Familie damit umging, wie sie die Lage souverän als für ihren Standort ungefährlich einstufen konnte. In der einen Woche seines Besuchs blieb er fast nur in der Straße, in der seine Eltern und seine Verwandten wohnen, eingeschüchtert von den Zuständen. Als er Gaza mit 19 Jahren verließ war die Hamas noch nicht an der Regierung. In seiner Abwesenheit hatte sich die Situation stark verändert. Die Tristesse in dem von der Hamas kontrollierten Gebiet frustrierte ihn sehr: „Und dann gab es so eine Wasseranlage, so ein Wasserpark, wo die Kinder mal irgendwas zum Spielen haben, wo Familien hingehen, und in diesem Wasserpark ist auch eine Moschee. Über Nacht wurde alles kaputt gemacht. Vierzig bewaffnete Leute haben das kaputt gemacht im Gazastreifen. Also was bleibt dann? Dann hat zum Beispiel die UNO so Ferienanlagen, Sommercamps, am Strand mit Essen und Trinken. Haben die auch kaputt geschlagen. Weil die Hamas hat ihre Sommercamps und die wollen nicht, dass die anderen auch was machen. Sag mal, wie willst du da leben? Ich meine, wenn ich so was sehe, auch wenn meine Frau Palästinenserin wäre, die Kinder auch arabisch sprechen würden und alles, das ist doch kein Leben, da könnten sie mir zahlen, was sie wollen.“
Der Besuch zu Hause nach so langer Zeit konfrontiert Adnan neben der desolaten Lage im Gazastreifen auch mit seinen Veränderungen und seiner Entfremdung. Er selbst schien diese vorher unterschätzt zu haben und auch die Tatsache, wie ihn die Zustände im Gazastreifen be-
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ängstigen. Er schildert ausführlich seine Angst am Tag des Abschieds, dass Grenzkontrollen, Staus oder andere Hindernisse die Rückkehr nach Berlin verhindern könnten. Erst als er in Kairo im Flugzeug saß, konnte er sich entspannen, und er beschreibt seine Erschöpfung als extrem: „Ja, und dann war ich am Flughafen und habe aufgeatmet! Und ich saß im Flugzeug, ich habe den Start nicht mitbekommen, ich habe die Augen zugemacht und die Augen aufgemacht, als die Maschine in Frankfurt gelandet ist. Ich habe nichts mitbekommen! Nichts getrunken, nichts gegessen, NICHTS! Normalerweise esse ich gern im Flugzeug, trinke ich was, lese die Zeitung, aber ich habe mich hingesetzt und war weg.“
Für die 48er ist es trotz objektiv besserer Lebensbedingungen als im Gazastreifen und auch der Westbank schwierig, sich in Israel wieder mit dem Status der palästinensischen Israelis zu arrangieren. Khaled zieht in seinem Interview bilanzierenden Vergleich zwischen dem Leben in Deutschland und dem in Israel: „Wenn ich das vergleiche mit zu Hause, dann ist das hier angenehmer. Zu Hause sind wir Palästinenser, also 20 Prozent der Bevölkerung von Israel. Wir sind ursprünglich. Wir sind Palästinenser und nur deswegen werden wir vom Staat diskriminiert, unterdrückt in jeder Hinsicht. Wenn man vergleicht, wie die Menschen hier leben […], wie es läuft in einem demokratischen Land, was wirklich Gesetz heißt, was Menschenrechte heißt, und wie die Menschen leben, wenn du es mit zu Hause vergleichst, dein Status als Zweite-Klasse-Bürger. Das macht traurig, also man sieht [im Ausland], wie es sein sollte.“
In fast jedem Interview taucht der Begriff des Zweite-Klasse-Bürgers in verschiedener Abstufung in Bezug auf die Rolle der Palästinenser in der Wahrnehmung der Israelis auf. Diese deutsche Formulierung von Hierarchisierungskategorien scheint in den Wortschatz der Studierenden übernommen worden zu sein und wird vielfach variiert angewendet. Tarek geht noch weiter in seiner Kategorisierung: „Wir sind zwei-
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te, dritte oder vierte oder gar keine Menschen. Für sie sind wir, es tut mir leid, aber ich sage das so, wir sind vielleicht Tiere für sie.“ Auch Jaber teilt diese Sicht, seiner Meinung nach hält man innerhalb der jüdischen Gesellschaft die Palästinenser per se für dümmer. Diese Thematik taucht in den Interviews immer wieder auf. Es wird beschrieben, dass jüdische Israelis auf die Palästinenser herabsähen und wie sie diese nicht respektieren würden. Yassin führt dieses Bild noch expliziter aus: „Mir ist aufgefallen, dass es den Israeli nicht gibt, der einen Palästinenser als ebenbürtigen Menschen ansieht, den gibt es nicht. Es gibt nur eine extreme Minderheit, so um die tausend Menschen, die sich mit einem Palästinenser auf eine Ebene stellen und sagen: ‚Wir sind alle Palästinenser‘ oder ‚Wir sind alle Bürger dieses Landes‘.“
Khaled betont den Vorteil der Rechtstaatlichkeit, auf die man sich in Deutschland beziehen könne, und kritisiert in seinem Heimatland den Status und die durch Gesetze legitimierte Diskriminierung von Palästinensern. Er sieht auch Rassismus-Probleme in Deutschland, betont aber deutlich die Möglichkeit, sich in Deutschland auf Rechte zu beziehen und durch Gesetze geschützt zu sein. Wie viele Palästinenser sieht auch er die Lage der Araber in Israel als die einer diskriminierten Minderheit in einem Apartheid-Regime: „Das ist Apartheid. Diese Trennung, nur weil du Araber, Palästinenser bist. Es gibt keinen anderen Grund.“ Wie Khaled berichtet fast jeder Interviewpartner irgendwann in seinem Interview von diskriminierenden Situationen in Israel, an den Checkpoints und Grenzen, im alltäglichen Leben und vor allem an den Flughäfen. Der Flughafen, an dem das Bodenpersonal die Passagiere beim Einchecken bei Bedarf überprüfen kann, erscheint in den Interviews als eine Art Mikrokosmos für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Bei den Flughafenkontrollen fühlen sich die Palästinenser der
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Macht und auch der potentiellen Schikane durch das Personal, das häufig durch junge Israelis in ihrem Wehrdienst gestellt wird, ausgeliefert. Die Studierenden der Untersuchung befinden sich durch ihren langen Auslandsaufenthalt und die Besuche zu Hause regelmäßig in diesen Grenzsituationen, und in jedem der Interviews sind die dortigen Erfahrungen Thema und können mit ihren Koordinaten von Macht und Ohnmacht, Willkür und Abhängigkeit als Parabeln des Konflikts verstanden werden. Sohel formuliert die Flughafenkontrollen als realen Gegensatz zu dem bekannten Zitat Benjamin Netanjahus über die israelische Demokratie: „Netanjahu hat einmal gesagt: ‚Es gibt bei uns in Israel ungefähr eine Million Araber. Und diese sind die einzigen Araber, die eine Demokratie genießen. Keine anderen Araber in der arabischen Welt genießen diese Demokratie.‘ Ich habe es geguckt, ich war so sauer! Wenn du zum Flughafen gehst, wo die israelischen Airlines sind, dann kannst du da merken, was Demokratie ist!“
Er beschreibt die Situation der Befragung als umständlich und unnötig bürokratisch: „Es ist wie bei der Polizei. Sie halten deinen Ausweis in der Hand und fragen: ‚Wie heißt du?‘ oder ‚Was machst du hier?‘ – ‚Du hast meinen Studentenausweis und mein Studentenvisum in der Hand und da steht drauf, was ich mache!‘ Er sagt: ‚Wie lang bist du in Deutschland?‘ – ‚Mann, schau mal auf den Ausweis!‘“
Anhand der jeweiligen Beschreibungen lässt sich auch der unterschiedliche Umgang mit diesen Konfliktsituationen erkennen, die für die Palästinenser in der Regel mit Diskriminierungs- und Ohnmachtsempfinden einhergehen. Alle Interviewpartner berichten aber auch von Strategien, die sie mit der Zeit entwickelt haben, um sich im Rahmen ihres Handlungsspielraums zu wehren und der Macht des Sicherheitspersonals etwas entgegen zu setzen.
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Sohel schildert, wie er immer erst spät zum Flughafen fährt, anstatt mehrere Stunden vorher: „Ich mache das mit Absicht. Damit sie unter Zeitdruck sind, dann sind sie gezwungen, alles mit mir so schnell wie möglich zu machen, damit ich meinen Flug nicht verpasse.“ Außerdem beschreibt er, dass er mit der Zeit weniger angespannt wegen der Kontrollen geworden ist und schildert eine Situation, in der er die Befragung in Berlin durch eine gleichaltrige Angestellte der israelischen Fluggesellschaft ad absurdum führte, indem er sie zurück befragte: „Dann hab ich gesagt: ‚Du fragst und fragst, was machst du eigentlich hier?‘“ Die Angestellte war Studierende an der gleichen Universität wie er und machte die Arbeit am Flughafen als Nebenjob. „Dann wollte ich sie ärgern und habe gefragt: ‚Braucht ihr noch jemanden hier zum arbeiten? Also ich suche Arbeit.‘“ Auch Zidane erzählt, wie er mit der Zeit souveräner in die Flughafenkontrollen ging, die ihn früher anstrengten: „Jetzt mittlerweile gehe ich echt so gelassen hin, ich gucke sogar einfach ein bisschen abwertend da, bei den Leuten, die das machen. Ich kann das besser akzeptieren jetzt.“ Jaber und Momen aus dem Norden Israels berichten ebenfalls von den Situationen am Flughafen und schildern, wie sie auf die Aufforderung, sich in den Körperscanner zu begeben, selbstbewusst reagierten. Beide bezogen sich auf ihren Status als Arzt und ihr Wissen, dass jeder ihrer Patienten darüber entscheiden darf, ob er sich Röntgenstrahlen aussetzen möchte. Die Alternative der persönlichen Körperuntersuchung durch einen Angestellten des Flughafens nahmen sie in Kauf, um nicht der Aufforderung Folge leisten zu müssen und es dem Gegenüber möglichst unbequem zu machen. Momen kommentiert die Situation martialisch: „Mann gegen Mann. Soll er mich angucken, wenn er Freude daran hat.“ Er schildert einen Machtkampf mit den Mitarbeitern der israelischen Fluggesellschaft El Al am Flughafen in Deutschland ausführlicher: „Ich weiß, dieser Flieger fliegt nicht ohne mich. Ich sage: ‚Wir sind hier in Deutschland und nicht in Israel. In Israel habt ihr eure Regeln, da muss ich die befolgen, aber hier gibt es keine solche Regel. Wenn du mir schwarz auf weiß diese Regel zeigst, mache ich es sofort.‘“ Ihm
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scheint der Aufenthalt in Deutschland und der Status als Arzt Selbstbewusstsein und Vertrauen in den Anspruch auf seine Rechte und deren Gültigkeit gegeben zu haben. Momen beschreibt in seinem Interview aber auch das ermüdende Gefühl, diese Machtkämpfe immer wieder ausfechten zu müssen. Bei einer Begebenheit sollte er seinen Laptop als Gepäckstück aufgeben und durfte ihn nicht in den Passagierraum mitnehmen. Nach langen Diskussionen bekommt er zumindest eine schriftliche Garantie eines Ersatzes, für den Fall, dass das Gerät im Gepäckraum beschädigt wird. Als er mit diesem Teilerfolg schließlich im Flugzeug sitzt, sieht er seinen nicht arabischen Sitznachbarn seinen Laptop auspacken, den dieser ohne Probleme als Handgepäckstück mitnehmen durfte. In seinen Ausführungen wird das Schwanken deutlich zwischen einer erarbeiteten Überlegenheit oder vermeintlichen Gleichgültigkeit und der Frustration darüber, sich immer wieder mit diesen Situationen auseinandersetzen zu müssen, in denen er aus der Rolle des erfolgreichen und beliebten Arztes in die Rolle des Verdächtigen gerät. Hinund hergerissen zwischen Wut und Überdruss erklärt er: „Man merkt, man kann manchmal nicht gegen die Wand gehen, das macht dich kaputt. […] Wenn man immer wieder diesen Stress und hoch und runter und immer diskutieren – das bringt nicht viel außer ein paar grauen Haaren oder weniger Haaren auf der Glatze. Man muss auch Schlucken lernen, dieses Drüberstehen erfordert viel Geduld. […] Die können einem das Leben schwermachen. […] Manchmal denke ich so: ‚Ach, ich habe jetzt keine Energie dafür.‘“
Yassin aus dem Gazastreifen wiederum schildert eine prägende Situation an der israelischen Grenze zum Gazastreifen, als er sich im Alter von 19 Jahren vor seinem Aufbruch nach Deutschland nicht von seinen Eltern verabschieden konnte. Er hatte den Sommer über in Israel gearbeitet, um Geld für Deutschland anzusparen und wollte vor dem Aufbruch ins Ausland ein paar Tage zurück in seinen Heimatort im Gazastreifen, um zu packen und sich von seiner Familie zu verabschieden.
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Dieser Besuch wurde ihm nicht gestattet, so dass er ohne seine Sachen und ohne die Möglichkeit des Abschieds ins Auslandsstudium aufbrechen musste. Er beschreibt eindringlich das Gefühl der Ohnmacht, als er die israelische Grenzangestellte darum bat, nur für ein paar Stunden einreisen zu dürfen, sie ihm das aber nicht erlaubte. Ein paar Jahre später, in denen er nicht nach Hause fuhr, versucht Yassin erneut, seine Familie zu besuchen, diesmal möchte er von Ägypten aus in den Gazastreifen einreisen. Nach drei Wochen Wartezeit auf die Bearbeitung seines Einreisegesuchs in Ägypten reichten seine finanziellen Mittel nicht mehr, um länger auf die nötigen Papiere zu warten. Als er wieder in Berlin angekommen war, erhielt er das Schreiben, dass sein Antrag auf Einreise abgelehnt worden sei, da er nicht vor Ort wäre. Die beiden Erlebnisse sind für ihn miteinander verknüpft. „Sie haben mich nicht rein gelassen. Und das war eins der großen Traumata, das ich hatte, das ist ein Scheißgefühl. Und nach sechs Jahren nach diesem Ereignis oder sieben Jahren, bin ich hingeflogen, habe versucht nach Gaza zu kommen. Nach 25 Tagen, wo ich keine Erlaubnis bekommen habe, muss ich zurück nach Deutschland. Und das war genau dasselbe Gefühl der Machtlosigkeit.“
Die Erfahrung der Ohnmacht und die Wut, die aus dieser Hilflosigkeit entspringt, wird aber auch, wie in dem Statement von Zidane deutlich wird, umgedeutet und als Ansporn und Motivation für den Erfolg der Palästinenser bewertet. Zidane beschreibt diese Motivation, deren Ursache die Diskriminierungserfahrung ist: „Wir werden diskriminiert. Wir können schreien, wir können uns in die Luft jagen, aber wir können auch was anderes daraus machen. Und die meisten versuchen halt, das Beste daraus zu machen. Abgesehen von den Leuten, die sich in die Luft jagen… und dazwischen gibt es viel.“ Zidane sieht in der Aggression, die aus den Erfahrungen resultiert, auch eine Kraft, die die Palästinenser für sich nutzen können: „Deswegen sind viele Palästinenser erfolgreich, verglichen mit anderen arabischen Völkern, die seit
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Ewigkeiten diese Unabhängigkeit leben und einen souveränen Staat haben. Durch die Gewalt, durch diese Diskriminierung entstehen sehr große Kräfte.“ Nur Masalha beschreibt ebenfalls diese Wirkung der Diskriminierungserfahrung, die die palästinensischen Israelis ihm zufolge motiviert statt bremst: „Despite the deprivation and discrimination in education and social services many of its members recorded impressive achievements.“66 Auch Yassin aus dem Gazastreifen verfolgt eine Strategie, die darauf basiert, aus der Diskriminierungserfahrung Kraft zu schöpfen: „Das, was die wollen, ist, mich zu brechen, und ich betrachte mich nicht als eine Person, die gebrochen werden kann. […] Weil die genau das erreichen wollen, versuche ich alles dagegen zu tun. […] Das, wie sie glauben, mich umbringen zu können, ist der eigentliche Grund, warum ich weitermache, warum ich nicht zweifle und warum ich einen Sinn im Leben sehe. Es ist sinnstiftend!“
LEID UND LEIDEN Die Auswertung der Interviews zeigte, dass den Schilderungen der Nakba und ihrer Konsequenzen die Beschreibungen vergangener palästinensischer Hochzeiten der Kunst, Poesie, Sprache oder anderer schöner Themen gegenüberstehen. Wäre nicht eingangs bereits die klare definitorische Trennung der Kategorien des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses als zu starr verworfen worden, könnte man an dieser Stelle behaupten, während das kulturelle Gedächtnis mit Stolz verknüpft ist, ist das kommunikative Gedächtnis sehr den Erfahrungen von Vertreibung, anhaltender Ungerechtigkeit und Leid verpflichtet. Während erstere Erinnerungen auch der Betonung des palästinensischen Ursprungs im Land und der Spurensicherung dienen, kann das Bild des geknechteten, unterdrückten, aber dennoch ungebroche-
66 Masalha: Palestine Nakba, S. 244f.
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nen palästinensischen Volkes zu einem positiven verbindenden Element für die Gemeinschaft werden. „Das gemeinsame Leiden verbindet mehr als die Freude. In den gemeinsamen Erinnerungen wiegt die Trauer mehr als die Triumphe, denn sie erlegt Pflichten auf, sie gebietet gesellschaftliche Anstrengungen“,67 formuliert Ernest Renan den aktiven oder aktivierenden Charakter gemeinsamen Leidens für ein Kollektiv. Das Motiv des palästinensischen Leides hat verbindenden Charakter, sind von der Geschichte der Vertreibung und des Verlusts doch alle Palästinenser betroffen. Das kollektive Opfergefühl umfasst die Bewohner der Flüchtlingslager in den umliegenden Ländern, die palästinensischen Israelis und auch die Bewohner des Gazastreifens und des Westjordanlands. Damit haben die wiederholt geäußerten Verweise auf das allen gemeinsame Leid „in Anbetracht der geografischen (und politischen) Fragmentierung der Palästinenser […] eine homogenisierende Wirkung für die Formierung nationaler Identität.“68 Somit erscheint das kollektive Leid als ein bedeutendes Element der kollektiven palästinensischen Identitätskonstruktion und auch des individuellen Selbstverständnisses. Für die meisten der Interviewpartner hat das Thema des kollektiven Leides oder Leidens einen großen Raum in ihren Schilderungen. Das Thema des palästinensischen Leides hat in der verbalisierten Form der Interviews häufig appellierenden Charakter oder macht einen anklagenden und oft auch gleichzeitig rechtfertigenden Eindruck. Appelliert wird an das Verständnis für die eigene Partei des andauernden Konflikts im Nahen Osten. Das Gefühl, Ungerechtigkeit zu erleiden, ob der unterschiedlichen internationalen Berichterstattung, der damit einhergehenden medialen Bewertung und somit der Bildung der öffentlichen Meinung, wird oft beklagt. Angeklagt wird die Welt wegen der empfundenen Untätigkeit und Zurückhaltung gegenüber israelischer Poli-
67 Renan, Ernest zitiert in Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 65. 68 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 241.
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tik. Während dieser Themen agierten die Interviewpartner in der Regel emotionaler als bei anderen Themenfeldern, und auch meine Reaktion auf ihre Ausführungen wurde genauer beobachtet. In diesem Zusammenhang wird auch die spezielle Bedeutung Deutschlands für die Interviewpartner deutlich. Der Aufenthalt in Deutschland konfrontiert die Studierenden auch mit der – ihnen oft als ungerecht und unangemessen erscheinenden – deutschen Haltung gegenüber der israelischen Politik. Khamis sieht die Schwierigkeit der Palästinenser innerhalb des deutschen Diskurses in dem deutschisraelischen Verhältnis begründet: „Für die meisten Palästinenser, das ist ganz schwierig, in Deutschland irgendwie die Situation zu erklären, dass sie eigentlich jetzt die Opfer sind und nicht mehr die Juden. Die meisten Deutschen sehen immer noch die Juden als die Opfer. In diesem Fall die Israelis. Aber für uns sind sie die Täter jetzt. Also das ist total absurd […] und wenn du das erklärst, die meisten [deutschen] Leute wollen das nicht verstehen.“
Das bekannte Zitat Angela Merkels über die „israelische Sicherheit als Teil deutscher Staatsräson“ aus dem Jahr 2008 wurde in den Interviews immer wieder kritisch erwähnt und insgesamt aber vor allem im Hinblick auf das israelische Vorgehen im Gazastreifen 2008/2009 und 2014 als unangemessen befunden. Diese unterschiedliche Wahrnehmung der israelischen Politik und der Macht oder Schutzbedürftigkeit des Staates wird in allen Interviews thematisiert. Für die Interviewpartner, die die israelische Politik im Konflikt als eine übermächtige erleben, erscheint die deutsche Israelpolitik aus diesen Gründen fehl am Platz. Das palästinensische Leid wird in den Interviews in Relation zum Holocaust gesetzt. Aufgrund der erlebten Nichtanerkennung der Nakba und einer nicht vorhandenen angemessenen öffentlichen Erinnerungskultur in Israel wird über den versuchten Vergleich mit der Shoah angestrebt, das palästinensische Leid am jüdischen mess- und damit sichtbar zu machen. Anhand der Relation soll so ein Anspruch auf An-
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erkennung des Leides erreicht werden. Die offizielle Anerkennung des jüdischen Leides aufgrund der Shoah ist im kollektiven palästinensischen Bewusstsein an die Entstehung Israels und damit an ein Recht auf Staatsgründung und Existenz geknüpft. Aus diesem Grund wird der Vergleich des Leidens gesucht und versucht. Yassin aus dem Gazastreifen beschreibt sich selbst wie folgt: „Ich bin der Jude des 21. Jahrhunderts. So fühle ich mich. Also, der Jude während des Zweiten Weltkriegs, das ist der Palästinenser von heute. Diskriminiert und allein gelassen.“ Das Gefühl von der Weltgemeinschaft alleingelassen zu werden, ist wiederkehrendes Motiv im palästinensischen Diskurs. Während die Welt schlief lautet auch der Titel des Romans der palästinensischamerikanischen Schriftstellerin Susan Abulhawa aus dem Jahr 2012, der die Geschichte einer palästinensischen Familie ausgehend von der Nakba zum Thema hat, und deren Protagonisten aus mehreren Generationen von den Konsequenzen bis in die Gegenwart betroffen sind. Der Bezug auf die Situation der Juden im Nationalsozialismus rührt aus dem Bemühen um Anerkennung des palästinensischen Leides. Die empfundene Negierung oder ausstehende Anerkennung der Nakba führt zu einer Übernahme jüdischer Motive oder Figuren, wie der des verfolgten Juden im Nationalsozialismus. Auf die Frage, wieso es so wichtig wäre, das palästinensische Leid am Holocaust zu messen und es mit diesem in Vergleich zu setzen, ohne es als eigenständig bewerten und anerkennen zu können, reagiert Yassin für seine sonst souveräne Erzählweise wiederum emotional: „Aber weil man ja unser Leid verleugnet! Und unser Leid durch die Juden überhaupt kommt. Und da würde vielleicht ein Jude sich in die Lage hinein versetzen können, wenn er diesen Vergleich hört!“ Ziel ist es also, eine Verbindung zwischen jüdischem Leid durch den Holocaust und dem daraus resultierenden palästinensischen Leid aufgrund der Nakba herzustellen, um damit den Anspruch auf Anerkennung des palästinensischen Traumas geltend machen zu können. Weniger geht es daher um eine vermeintliche und oft unterstellte Relativierung des Holocausts aus antisemitischen Motiven, als vielmehr um
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die Anerkennung oder Aufwertung des palästinensischen Leides durch die angestrebte Vergleichbarkeit mit der jüdischen Shoah. Auch hier passt die von Sabine Damir-Geilsdorf beschriebene Tendenz, „durch zahlreiche Spiegel- und Gegennarrative zu israelischen Geschichtsdarstellungen“ die palästinensischen historiographischen Darstellungen zu beeinflussen und damit oftmals eine Art „Gegengedächtnis“ zu stellen, was im Falle Yassins an die Erwartung geknüpft ist, über diese Narrative Verständnis und Anerkennung für die palästinensische Situation zu erreichen.69 Alle Interviewpartner betonen in den Gesprächen ihre Abgrenzung von nationalsozialistischen Ideen oder einer möglichen Leugnung des Holocausts. Auch bei diesen Passagen scheint das Bedürfnis, sich zu erklären groß, um keinesfalls missverstanden zu werden. Khaled formuliert klar seine Haltung zum Holocaust: „Das ist einfach eine Schande für die Menschheit. Jeder Mensch sollte sich schämen, dass so etwas passieren durfte, egal ob ich Palästinenser bin, und was Israel heute mit den Palästinensern macht. […] Es geht um Werte.“ Khaled betont seine Haltung zur nationalsozialistischen Judenvernichtung, grenzt sich ab, betont aber auch, dass er das tut, obgleich er unter der israelischen Politik zu leiden habe. Und er schließt direkt die Frage an, die häufig in den Interviews gestellt wurde: „Wie kann ich dann einfach erlauben, dass andere Menschen das auch erleben?“ Der Bogen zum Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wird in den wenigen Sätzen bereits geschlagen. Wiederholt betonen Interviewpartner ihr Unverständnis gegenüber aktueller und vergangener israelischer Politik vor dem Hintergrund des jüdischen Leids durch den Holocaust. Auch in den anderen Interviews scheint die Verurteilung des Holocausts immer an den heutigen Konflikt geknüpft, und die Bereitschaft, die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung anzuerkennen, fällt vor dem Hintergrund der Wahrnehmung des palästinen-
69 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 31.
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sischen Leidens durch die Nakba und die gegenwärtige Konfliktsituation nicht leicht. Immer wieder wird auch auf andere Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hingewiesen, insofern wird der Holocaust nicht in Zweifel gezogen aber versucht, den jüdischen Opfern ihren Status als Hauptgruppe nationalsozialistischer Verfolgung abzusprechen. Das rührt weniger aus dem Bedürfnis, die anderen angesprochenen Opfer der Nachbarländer, die Roma und Sinti oder auch die gefallenen Soldaten zu erinnern, sondern vielmehr ist es als eine Reaktion auf das Kräfteverhältnis im Nahostkonflikt zu verstehen. Das Anrecht auf die Staatsgründung Israels ist im Bewusstsein eng mit der Judenverfolgung verknüpft, so dass im palästinensischen Diskurs verankert scheint, das jüdische Leid, verstanden als Voraussetzung für die Staatsgründung, zu relativieren und die Anerkennung des palästinensischen Leids zu erreichen, um auf diese Weise ebenfalls Anspruch auf Staat und gesicherte Existenz zu erlangen. Sohel aus Nord-Israel äußert sich zu dem Thema des Verhältnisses von Holocaust und Nakba wie folgt: „Ich finde sie beide gleich. Hier wurden Leute vernichtet, weil sie Juden sind und hier, weil sie Palästinenser sind. Ein Jude ist nicht besser als ein Palästinenser. […] Vergiss nicht, es gibt auch palästinensische Juden.“ Sohel argumentiert, dass in beiden Fällen allein aufgrund des Jüdisch- oder Palästinensisch-Seins getötet wurde, ihm liegt an der Vergleichbarkeit. Darauffolgend betont er die Gleichwertigkeit von Juden und Palästinensern. In den Diskursen der Palästinenser sind Werthierarchien von großer Bedeutung, immer wieder wird von Menschen zweiter, dritter oder noch geringerer Klassen gesprochen. Die Erfahrung der alltäglichen und willkürlichen Diskriminierung kommt in diesen Begrifflichkeiten zum Ausdruck, aber auch die Verinnerlichung von Hierarchien und Klassifizierungen. Innerhalb dieser Werteskala scheint für Sohel dann sogar der Hinweis auf die Existenz palästinensischer Juden nötig, um die Gleichwertigkeit von palästinensischem und jüdischem Leid zu bezeugen. Der Topos Jude erscheint als Maß allen Leides, und Sohel scheint diese wenig selbstbewusste Maß- und Werteskala selbst verinnerlicht zu ha-
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ben, geht damit doch die implizite Abwertung des eigenen Volkes einher, wenn es nicht dem jüdischen Glauben folgt. Herbert Kehlman sieht diese Abhängigkeit des Vergleichs in dem Konflikt begründet, der es beiden Seiten nicht erlaube eine unabhängige Identität zu entwickeln: „The nature of the conflict, however, impedes the development of a transcendent identity by creating a state of negative interdependence between the two identities such that asserting one groups identity requires negating the identity of the other.“70 In Sohels Beispiel geht seine Bewertung aber darüber hinaus, indem er die eigene Gruppe anhand des Vergleichs und des In-Beziehung-Setzens („es gibt auch palästinensische Juden“) versucht aufzuwerten, beziehungsweise ihre Wertigkeit zu verdeutlichen. Ob er diese Werteskala tatsächlich auch innerhalb palästinensischer Debatten heranziehen würde oder sie in diesem Fall mit der deutschen Interviewerin und mit der deutschen Haltung zu Israel verknüpft ist, ist nicht eindeutig zu klären. Er hat aber dieses Wertesystem parat, das heißt, es existiert in seinem Bewusstsein. Khaled wiederum möchte unbedingt deutlich machen, dass seine Kritik an der israelischen Politik nicht als Antisemitismus verstanden werden soll: „Ich hab mit dir ja kein Problem, weil du Christ oder Jude bist. Es geht nicht um Religion. Es geht [mir] um Tätigkeiten, um Politik, Erlebnisse, Ereignisse, was da [in Israel] passiert.“ Ein Phänomen der Leidensthematik im palästinensischen Kontext ist auch eine Art Konkurrenz um das größte Leid unter den Palästinensern aus der Westbank, Gaza, den Flüchtlingslagern der umliegenden Länder und aus Israel. Über diese Thematik wird intensiv von den sogenannten 48ern berichtet, da ihnen häufig ihr Lebensstandard in Israel und damit vermeintliches Opportunistentum vorgehalten wird. Jaber beschreibt die Problematik sehr klar:
70 Kehlman: The interdependence of Israeli and Palestinian National Identities, S. 581.
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„Ja, wenn man als Palästinenser in Israel lebt, man ist weder Israeli noch Palästinenser. Bei den Palästinensern oder bei den Ägyptern ist es extrem zu sehen, wir sind quasi sozusagen Verräter ja? Weil wir in Israel leben und Israeli sind und für Israelis sind wir eigentlich Palästinenser, die Menschen zweiter Klasse sind. […] Und da bist du im Zwiespalt, du bist dann genau in der Mitte und wirst weder von den Palästinensern noch von den Juden dann akzeptiert.“
Der Zwiespalt durch die Zuschreibung der „Israelization“ oder „Palestinization“,71 in dem sich die Palästinenser innerhalb Israels befinden, bedingt sich sowohl durch die aktuelle Politik Israels und der palästinensischen Autonomiebehörde als auch durch die Vorurteile, die seit der Nakba und der Entstehung Israels den 48ern entgegengebracht wurden und zum Teil noch werden. „Den politischen [palästinensischen] Diskurs dominierte […] lange die Vorstellung, dass die Palästinenser im Exil [und auch die in der Westbank und dem Gazastreifen] nationalbewusster und ,palästinensischer‘ seien, als die Palästinenser in Israel, denen häufig Apathie, Anpassung an die Israelis oder gar Kollaboration vorgeworfen wurde.“72
Khaled gibt die Existenz dieser Problematik anfangs widerwillig zu, widerspricht sie doch dem oft betonten Gedanken eines solidarischen palästinensischen Volkes, welches sich gerade durch die Leiderfahrung im Kollektiv zu definieren und behaupten vermag. Er spricht dann aber dennoch ausführlicher darüber: „Klar, wenn man leidet, dann versucht jeder sein Leiden so zu manipulieren. ‚Ich leide mehr als du!‘ Aber alle leiden! Die Leute, bis vor zehn Jahren, dachten die immer von uns: ‚Ach, die sind in Israel geblieben, diese Leute sind Israelis‘. Aber jetzt, alle, die was im Kopf haben sagen: ‚Wir sind ein Volk‘, die sind einfach vernünftig, und die sind weise.“
71 Amara: The collective Identity, in: Bligh: The Israeli Palestinians, S. 253. 72 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 133.
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In Khaleds Schilderung wird der Ärger über diese Vorurteile deutlich, und er erklärt rechtfertigend: „Ja, das Thema gibt es, aber es ist nicht so, dass ich als Palästinenser aus Haifa kein Palästinenser bin. Ich brauche auch keine Anerkennung von einem, weil Palästina ist halt Palästina. Und der Palästinenser, egal wo er ist, ist Palästinenser! Und die Leute, die hell im Kopf sind, wie gesagt, die denken alle auch so.“ Es erscheint hier das Leid als Auszeichnung für den unbeugsamen Palästinenser, wenn Khaled über die Bewohner des Gazastreifens berichtet: „Die Gazastreifenleute behaupten immer, dass sie so die einzigen [sind,] die leiden. Aber das ist einfach Dummheit, und ‚wir haben mehr Tote als ihr‘ und so was. Aber ich meine, egal ob ich als Vater einen Märtyrer als Sohn habe oder zwei, das Leiden ist einfach... Derjenige, der im Libanon lebt, ihm geht es auch schlecht. Ich, mir geht es auch schlecht, dass ich einfach jeden Tag beleidigt oder schlecht behandelt wurde. Jeder hat sein Leiden. Leider.“
Khaled stellt die verschiedenen Leidensbereiche vor, den der Bewohner von Gaza, die ihre Söhne als Märtyrer verlieren, und den der Bewohner der Flüchtlingslager, denen die Möglichkeit in ihr Ursprungsland zurückzukehren verwehrt bleibt und die in den umliegenden arabischen Ländern oftmals über Generationen einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben auch aus politischem Kalkül der jeweiligen Regierungen, um die Konsequenzen von 1948 nicht zu akzeptieren. Und er betont auch das Leid der sogenannten 48er bezogen auf die ständige Konfrontation mit dem ehemaligen und unerreichbaren Besitz: „Es ist auch eine Art von Leiden, die Leute im Libanon, die leben so hart und schwierig, das Land haben sie ewig nicht gesehen. Wir sind drinnen, es geht uns besser, aber du siehst einfach das – vor deinen Augen – jeden Tag. Das ist deins. Aber du kannst nix tun. Das ist auch hart.“ Lange wurde den Palästinensern in Israel ihr höherer Lebensstandard vorgeworfen, und sie wurden als „ein Gegenbild zu den leidenden ech-
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ten Palästinensern“73 wahrgenommen, und in diesem Kontext ist die Betonung des Leidens Khaleds zu verstehen. Tamim aus dem Gazastreifen berichtet von den Vorurteilen, die lange Zeit gegenüber den Palästinensern in Israel bestanden und zum Teil noch bestehen. Ihnen wurde neben der grundsätzlichen Bezeichnung als Verräter der palästinensischen Frage auch ein schlechter, weil westlicherer, Lebenswandel, der Genuss von Alkohol und Drogen aufgrund ihres Lebens in der israelischen Gesellschaft nachgesagt. Der Vorwurf, sich als palästinensischer Israeli zu sehr in die israelische Gesellschaft zu integrieren, ist den 48ern gut bekannt. Sohel, selbst dem Pass nach Israeli, kritisiert vehement die palästinensischen Israeli, die sich seines Erachtens zu sehr anpassen: „Und viele, meiner Meinung nach sind sie verrückt, laufen auch mit diesem Stern von den Juden herum. Es gibt diesen Teil von Palästinensern in Israel, die wissen, wer sie sind und machen das, was sie machen sollten, und andere, die versuchen, so locker zu wirken. Ich gucke manchmal ein Programm auf Hebräisch, da hat man Jugendliche interviewt. Die haben sie gefragt: ‚Hast du das Gefühl, dass du zu Israel, dass du zu dieser Gesellschaft gehörst?‘ Und manche sagten – vielleicht aus Angst auch – ‚Ja, ich gehöre dazu. Ja, Israel ist ein demokratisches Land‘ Und andere sagten: ‚Nee, ich bin Palästinenser.‘ Obwohl sie in Israel wohnen. Und sie sagten: ‚Demokratie gibt es hier – aber nur für die Juden, nicht für uns.‘“
Sohel empfindet die Jugendlichen, die sich Israel zugehörig und das politische System als Demokratie bezeichnen, als Verräter, er schildert noch viele Situationen auch in Deutschland, in denen es ihm leichter ergangen wäre, hätte er sich als Israeli vorgestellt. Auch beschreibt er viele selbst erfahrene Situationen, in denen den palästinensischen Israelis mit Vorurteilen begegnet wird. Den 48ern wurde Kooperation mit dem Feind oder auch die Kollaboration unterstellt, das Vergessen
73 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 192.
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oder Vernachlässigen der eigentlichen Herkunft bzw. die Zugehörigkeit und auch das assimilierte (bessere) Leben in Israel vorgeworfen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Bevölkerung Israels in vielerlei Hinsicht bessere Lebensbedingungen genießt als die Bewohner der Westbank oder des Gazastreifens, seien es eine funktionierende oder unbegrenzte Wasserversorgung, gute Bildung, der Zugang zu ärztlicher Versorgung und vieles mehr. Dabei wird aber innerhalb der palästinensischen Gesellschaft manchmal vergessen, welcher Art die Folgen der Erfahrung von einem andauernden Apartheid-Gefühl und der Ohnmacht gegenüber einem mitunter willkürlichen mächtigen Staatsystem sind, dem man angehört, aber in dem man Alltagsdiskriminierung erlebt. Der Konflikt aus alltäglicher Diskriminierung und dem Wissen um den eigenen deutlich besseren Lebensstandard schafft ein Spannungsfeld, das für die Gesprächspartner aus Israel schwierig ist. Noch schwerer wiegt dieser Konflikt in Zeiten militärischer Aktionen gegen Gaza, wie im Sommer 2014. Zumal die Armut der Bewohner des Gazastreifens sich auch in den Zahlen illegaler Arbeiter aus dem Gazastreifen in Israel zeigt, die den Sommer über Arbeit auf Baustellen in Israel suchen. Jaber berichtet von Jugendlichen aus Gaza, die jedes Jahr illegal nach Israel kommen, um den Sommer über etwas Geld zu verdienen. In seinem Heimatort im Norden Israels arbeiten sie unter schlechten Bedingungen für palästinensische Israelis, wohnen behelfsweise in Zelten in den Hügeln über der Stadt und sind auf die Spenden von Ortsansässigen angewiesen. Er berichtet auch von Bettlern, die an den Haustüren klingeln, sie stammen aus Gaza. Sohel berichtet ebenfalls von armen Bewohnern des Gazastreifens, die zum Teil durch die Orte im Norden Israels ziehen, um Dinge zu verkaufen. Er äußert Misstrauen gegenüber diesen Personen, da er ihnen wiederum Kollaboration mit den israelischen Behörden unterstellt, um nach Israel zu gelangen: „Wenn ich so einen Mann sehe, wenn es 40 Grad bei uns ist, und der läuft in der Straße um irgendwas zu verkaufen. Von mir aus kann ich ihn rufen und was zum Trinken anbieten,
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was zum Essen anbieten, aber ich frage mich, wie er hergekommen ist.“ Sohel erklärt aber auch die Schwierigkeiten der Menschen, die in den Verdacht der Kollaboration geraten sind, sich aus diesem wieder zu befreien: „Also ich glaub nicht, dass man das freiwillig macht. Sie können jemand bedrohen, du sollst jetzt eins und zwei und drei machen.“ Und er ergänzt leise: „Ja, also wenn man damit anfängt, dann kommt man nie wieder raus.“ Er erzählt in diesem Zusammenhang auch von dem Kinofilm Paradise Now, in dem ein junger Palästinenser so sehr unter dem schlechten Ruf seines Vaters und damit seiner ganzen Familie leidet, dass er versucht, dessen Kollaborationsvorwurf zu begegnen, indem er sich als Attentäter zum Selbstmordanschlag verpflichtet. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Lebensstandards und Nöte erklärt sich zu Teilen auch die Haltbarkeit dieser Divergenzen zwischen den Palästinensern in der Westbank und Gaza und den 48ern, die eigentlich in den demografischen Veränderungen durch die Nakba und den anschließenden Konflikten begründet liegen. Auch Zidane hat als palästinensischer Israeli Erfahrungen mit Vorurteilen gegenüber den 48ern gemacht und den Eindruck, dass die jeweiligen Lebenssituationen eine große Rolle bei der Beurteilung der 48er spielen: „Ja, klar, ich hab auch heftige Gespräche geführt so mit Gleichaltrigen aus der Westbank. Ich hab aber auch viele Leute getroffen, die sagen: ‚Wir leiden hier und es gibt zwischen meinem Haus und meines Großvaters Haus drei Checkpoints, die ich überqueren muss, aber ihr habt auch da ausgeharrt, in Israel.‘ Und klar, dass man dann hebräisch lernt und eine hebräische Universität besucht, das sind Sachen, die man einfach machen muss, um zu überleben. Aber ich glaub, das sind Stimmen, die einfach so aus Neid entstanden sind.“
Khaled unterstellt sogar Israel, dass es gezielt die entstandene Konkurrenz unter den Palästinensern steigern würde, ohne ein derartiges Vorgehen näher zu erläutern: „Das hat Israel auch ausgenutzt und versucht
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[zu erreichen], schlauerweise, dass das ganze Volk sich auch gedanklich zerstreut, dass einfach die anderen auf die anderen sauer sind.“ Mit der Formulierung der gedanklichen Zerstreuung beschreibt Khaled seine Vermutung, dass die Regierung Israels einen Prozess der Auflösung der palästinensischen Gesellschaft fördern würde, damit der viel beschworene Zusammenhalt des palästinensischen Kollektivs über die Grenzen von Israel, Gaza, der Westbank und der umliegenden Länder verloren geht. Die Interviewpartner aus Israel, die sich trotz ihrer israelischen Staatsbürgerschaft als Palästinenser definieren, müssen sich auch im Ausland oft rechtfertigen. Auch von Arabern der anderen Länder wird ihnen unterstellt, dass sie Israel unterstützen und von dem Staat profitieren, wohingegen die „Palästinenser in den Flüchtlingslagern, die in Reinform das Exil als Schicksal aller Palästinenser erlebten […] die echten Palästinenser“74 sind. Auch hier dient das größte Leid als Maßstab für die palästinensischste Identität, „suffering comes to be a certificate of membership“75 innerhalb des palästinensischen Identitätsdiskurses und ermöglicht gerade in Fällen eingeschränkter Handlungsmöglichkeit den Beleg der Zugehörigkeit zur Kadya filastin. Khaled scheint unter diesen Vorurteilen gelitten zu haben, so dass er gegenhält, indem er über palästinensische Israelis, zu denen er selbst gehört, sagt: „Diese Leute haben sich nicht geändert, sie sind einfach der Ursprung des Landes. Diese Leute, die nicht einfach abgehauen sind... Die trotz aller Schwierigkeiten geblieben sind.“ Er deutet die Rolle der in Israel verbliebenen Palästinenser um, macht ihre Rückkehr und ihr Leben in dem Staat zu dem Sinnbild des Summud und interpretiert ihre Rückkehr oder ihr Verbleiben in Israel als Heldengeschichten. Dina Matar hat in ihrem Buch „What it means to be Palestinian“ mehrere Palästinenser der älteren Generation interviewt, die ihr Leben im
74 Enderwitz: Palästinensische Autobiografien, S. 91. 75 Khalili, Laleh: Heroes and Martyrs of Palestine, New York 2007, S. 223.
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Exil als die Strafe für ihre Flucht 1948 deuten, da sie ihre Heimat im Stich gelassen hätten.76 Das Bild der 48er wandelte sich von dem der Verräter und Nutznießer des israelischen Staates durch den Sechstagekrieg und den dadurch möglichen Kontakt zwischen den 48ern und den Bewohnern der Westbank. Auch wenn der Vorwurf des Verrats bestehen blieb, entwickelte sich parallel die Deutung von den Helden, die das Land 1948 nicht durch Flucht oder Akzeptanz der Vertreibung aufgegeben, sondern an der Heimat und deren Verteidigung festgehalten hätten. Diese Deutung greift auch Khaled auf, wenn er die 48er als den „Ursprung des Landes“ und damit als echte Palästinenser bezeichnet, die geblieben sind. Dass die Flucht, Vertreibung oder aber die Möglichkeit zu bleiben 1948 oft mehr von Zufall, Glück oder Pech als von Mut und Feigheit bestimmt waren, hat in dieser Deutung wenig Raum. Wenn die Reinform des Leidens im Exil nicht gelten kann, so wird ihr das heldenhafte Ausharren im Land und damit auch eine Reinform des Summud entgegengestellt, um sich trotz unterschiedlicher Lebensbedingungen dem palästinensischen Kollektiv und Widerstand zugehörig fühlen zu können. Sabine Damir-Geilsdorf betont, dass Nakba-Narrative die Palästinenser in der Regel in der Rolle ohnmächtiger Opfer zeigen und Heldengeschichten daher in Berichten über das jeweilige „Kleinkollektiv“77 zu finden sind, dem die Erzähler angehören. Viele der Interview-
76 „So we fled along with the rest first to Tarshiha, then to Nazareth and then here [Lebanon]. I regret to this very day because all this suffering and misery we have lived through was a result of our departure from the homeland. […] No other people have experienced what we Palestinians have. And this is because we left Palestine. Had we stayed behind, nothing would have happened to us.“ Makrma ‘Awitah, zitiert in: Matar: What it means to be Palestinian, S. 138. 77 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 123.
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partner, die in Israel geboren sind, erzählen von ihren Vorfahren und deren Mut und Durchhaltewillen aber auch, um den Vorurteilen gegenüber den 48ern und vor allem auch den eigenen Konflikten zu begegnen. Geschichten über unbeugsame Vorfahren, denen es gelungen ist, in der ursprünglichen Heimat zu verbleiben oder auf lebensbedrohlichen Wegen zurückzukehren, ohne aber mit dem „Feind“ zu kooperieren oder die palästinensische Identität zu verleugnen, werden gerne und mit Stolz geschildert. Stolz beschreibt daher auch Sohel aus dem Norden Israels, den Mut seiner Urgroßmutter, die während der Nakba in ihrem Haus verblieb, ohne Mann, entschlossen, ihr Hab und Gut zu verteidigen, und die sich zu behaupten wusste: „Die wollte nicht fliehen, die ist da geblieben, als einzige Frau im Dorf. Mein Vater hat immer erzählt, also, dass diese Oma nachts geschlafen hat und die hatte immer ein Messer unter ihrem Kissen. […] Ich hab versucht, einen kurzen Roman drüber zu schreiben, aber ich bin immer noch nicht damit fertig.“
Das Vorhaben Sohels, die Geschichte seiner Urgroßmutter in einem Roman festzuhalten, entspricht sowohl der Rechtfertigung gegenüber den Vorwürfen an die 48er als auch dem Bedürfnis nach Dokumentation und Konservierung der Erinnerung an die Nakba. Die Ehrung seiner Vorfahrin entspringt ebenfalls der verinnerlichten Prämisse, dass die mündlichen Zeugnisse fixiert werden müssen und nicht vergessen werden dürfen. Zumal diese Urgroßmutter sich der Erzählung nach scheinbar heldenhaft allein und ohne Unterstützung der israelischen Armee und damit der Enteignung des Besitzes widersetzt hat und mit dieser Geschichte in ihrem Umkreis sicherlich lange über ihren Tod Symbolcharakter behalten wird. Interviewpartner Khaled schildert ebenfalls die ruhmreiche Geschichte eines Vorfahren. Er berichtet von seinem Großvater, der nach der Flucht im Jahre 1948 illegal in seine Heimat zurückkehrte und dafür sorgte, dass seine Nachkommen nicht in einem Flüchtlingslager im Libanon, sondern im heutigen Israel leben. Der Großvater kehrte wohl unter Gefahren in sein ursprüngliches Dorf zurück, welches aber ent-
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eignet, zerstört und dessen Gelände neu bebaut wurde, weshalb er sich in der Nähe niederließ. Khaleds emotionaler Anspruch, als palästinensischer Israeli und 48er dem „Ursprung Palästinas“ anzugehören, also das urtümliche, echte Palästinensisch-Sein zu verkörpern, scheint sowohl sein Bedürfnis nach Anerkennung als Palästinenser (trotz israelischer Staatsangehörigkeit) als auch ein schlechtes Gewissen aufgrund der besseren Lebensumstände als Bürger Israels auszudrücken. Die Erfahrung der Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen, und die Verinnerlichung der Konkurrenz haben ihn geprägt, so dass er schnell in diesen offensichtlich gewohnten Argumentationsstrang gerät. Auch Sohel betont, dass die palästinensischen Israelis lange Zeit ignoriert und falsch beurteilt wurden: „Unsere Seite wurde immer verdunkelt. Viele haben gedacht: ‚Och die Araber mit israelischer Staatsangehörigkeit sind auch diejenigen Verräter, die mit Israel gearbeitet haben und deshalb durften sie da bleiben.‘ Obwohl das umgekehrt war. Es gibt die, die vertrieben wurden, und wir hatten Glück, weil Israel keine Zeit hatte, uns zu vertreiben, als der Staat gegründet wurde. Sonst hätten sie uns auch vertrieben, wie die anderen.“
Er begründet die Existenz der 48er in Israel mit einem zufälligen Umstand, einem bloßen Zeitproblem der israelischen Streitkräfte, das dazu führte, dass die Vertreibung seiner Vorfahren nicht stattfand, und sie im heutigen Israel verbleiben konnten. Auch aus seinen Ausführungen lässt sich das Bedürfnis nach Rechtfertigung und Anerkennung herauslesen. Ein Thema der Interviews mit den Studierenden in Deutschland war außerdem, dass die Mehrheit der palästinensischen Israelis Araber aus arabischen Ländern nur im Ausland treffen kann, wie in diesen Fällen in Deutschland. Aufgrund der israelischen Staatsangehörigkeit ist es ihnen nicht möglich, in einen Großteil der arabischen Länder zu reisen,
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so dass persönliche Begegnungen und Austausch oft nicht stattfinden können. Sohel berichtet dazu: „Wir kennen die Araber in den anderen Ländern nicht. Also bei uns, wir wohnen so in einem Gefängnis, so dass wir mit den anderen Arabern nicht in Kontakt kommen können. Aber wenn man nach Deutschland kommt, wir haben diese Möglichkeit, die anderen Araber aus den anderen Regionen kennenzulernen. Dann kriegen viele Jungs Probleme, weil sie zum Beispiel die israelische Staatsangehörigkeit haben. Verräter. Israelische Spione, oder so was.“
Viele der Studierenden beschreiben Begegnungen in Studentenwohnheimen, in denen sie sich im Kontakt mit anderen arabischen Studierenden erst erklären müssen, die Kontaktmöglichkeit aber als willkommene Gelegenheit wahrgenommen wird, mit den Vorurteilen aufzuräumen. Sohel schildert aber auch die Vorteile, die ein israelischer Pass in Deutschland bedeutet, sei es für den Einlass in den Club oder im Falle eines Konflikts: „Zum Beispiel wenn du zu einem Club gehst, manchmal lassen sie dich nicht rein. Wenn du so die Staatsangehörigkeit zeigst, dann sagen sie: ‚Ah, Schalom!‘ Sie denken, dass du Jude bist“, berichtet er lächelnd. Einerseits kritisiert Sohel diejenigen Palästinenser, die sich in Israel als Israeli geben oder definieren, sich dem System anpassen und dadurch entstehende Vorteile nutzen, gleichzeitig nutzt er im Ausland die Staatsangehörigkeit, in Deutschland scheint das Nutzen dieses Vorteils für ihn bedingt vertretbar. Darüber hinaus scheint ihm seine israelische Staatsangehörigkeit in kritischen Situationen sogar eine Art Sicherheit zu geben, wenn er betont, dass das Wissen um den israelischen Pass ihn in rassistischen Konfliktsituationen und im Falle einer Eskalation in der Auseinandersetzung mit Behörden ein Gefühl der Sicherheit gibt: „Ich lass zum Beispiel keinen mich schlagen, weil er Deutscher ist und ich Ausländer, und ich weiß auch, dass, da ich die israelische Staatsangehörigkeit habe, dann hilft das. Ja. Siehst du? Politik. […] Auch bei der Ausländerbehör-
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de, bei Polizei hab ich auch einen Bonus. Also man kann irgendwas sagen, dann bist du nicht das Opfer.“
Khaled ist bemüht, zu betonten, dass er nie einen Vorteil durch seinen israelischen Pass bemerkt habe, da aber gar nicht danach gefragt wurde, haftet seinen Ausführungen etwas Rechtfertigendes an: „Ja klar, also ich, ich hab mich immer als Palästinenser definiert, bin ich auch, ich hab eine israelische Staatsangehörigkeit, offiziell, klar muss. Aber Hauptsache, ich bin Palästinenser.[...] Ich hab nicht bemerkt, dass ich jetzt, weil ich Israeli bin, dass das vorteilhaft ist, hab ich nie bemerkt. Was ich bekommen habe, haben die anderen auch bekommen. Aber vielleicht, kann sein, dass es auch hilft. Aber – auch als Palästinenser bin ich gut vorangekommen.“
Auch an dieser Stelle wirkt es, als wäre das palästinensische Selbstbild für die palästinensischen Israelis durch die alltägliche Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gegenüber auch mit Komplexen behaftet. Khaled schließt die Aussage über mögliche Vorteile durch die israelische Staatsangehörigkeit mit der Aussage, dass er auch als Palästinenser viel erreicht habe, dieser Zusatz erscheint ihm wichtig. Das Spannungsfeld, das sich aus dem Leben mit israelischer Staatsangehörigkeit im israelischen Staat und der sich – trotz anhaltender Diskriminierungserfahrung – daraus ergebenden Vorteile ergibt, stellt gepaart mit der hohen Bedeutung der viel erwähnten palästinensischen Identität eine spezifische Verunsicherung in der Selbstverortung der sogenannten 48er dar. Diese steht in deutlichem Kontrast zum klaren Selbstbild der Palästinenser aus der Westbank und dem Gazastreifen. Zidane beschreibt die Schwierigkeit der 48er, sich innerhalb von Israel als Palästinenser zu definieren: „Viele in meiner Generation sind sehr selbstbewusst, sie sagen ihre Meinung überall ganz offen, aber viele haben auch diese Minderwertigkeitsgefühle.“ Er ordnet das unkompliziertere Selbstbild der Bewohner des Gazastreifens und der Westbank in Abstufungen und nennt als deren Vorteile ihren Status als homogene Gruppen, die trotz
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Besatzung und Konflikt in Zidanes Verständnis in einer Art eigener Staatlichkeit lebt: „Ich glaube, die Leute in Gaza oder Westbank haben das nicht unbedingt, dass sie Komplexe haben. Weil diese Gebiete kann man schon als kleine Staaten betrachten. Da ist eine Masse und die fungieren gleich, da ist schon ein nationales Gefühl. Im Gazastreifen ist es ganz klar, in der Westbank auch, aber es gibt ja auch Grauzonen da. Und in Israel ist das schwieriger.“
Auch Adel sieht diese Problematik für die 48er und beschreibt seine Rolle in Israel an einem Beispiel aus seiner journalistischen Tätigkeit: „After I wrote an article, I take a lot of comments, who start to come to my EMail: ‚You are not like us. You are less.‘ And as a Palestinian [in Israel] you take it from both sides. From Israelis and from Arabs and because of this situation you have to be clear with your identity, you need to be clear with your language and you need to be clear with your education for your children.“
Er ergänzt noch entschieden: „The whole Arabs, they say: ‚You are Arab-Israelis, you are not Palestinians.‘ And the Israelis say: ‚You are Palestinians, you are not Israelis.‘ In both sides, it is very complicated and very uncomfortable.“ Diese Zerrissenheit und auch der vermeintliche oder tatsächliche Rechtfertigungsdruck sind bei den Interviewpartnern aus dem Gazastreifen oder der Westbank nicht zu bemerken. Dort ist das Feindbild und das jüdische Gegenüber klar definiert und damit auch die eigene Identitätskonstruktion. Dieses Bewusstsein um die eigene Person und die Zugehörigkeit zum palästinensischen Kollektiv wird von Yassin aus dem Gazastreifen selbstbewusst zum Ausdruck gebracht: „Meine Identität ist, was mich ausmacht. Sie bestimmt, wer ich bin. Und das hat mich wirklich zu der Person gemacht, die ich bin. Und deswegen scheiß ich drauf, was sie davon halten, was jeder davon denkt. Ob es ihm passt oder nicht:
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Palästinenser bin ich von der Sohle bis zum Scheitel und daran wird sich nichts ändern.“
An diesen Aussagen wird deutlich, welch hohe Bedeutung das Palästinensisch-Sein im palästinensischen Diskurs hat, in Israel im direkten Kontakt mit dem stärkeren Gegenüber, der sowohl Nachbar, Freund als auch Unterdrücker und oft Überlegener ist, aber auch in Gaza, wo die palästinensische Identität für Widerstand, Trotz und Durchhaltewillen steht. Wie Sohel betont, ist es wichtig, zu den Palästinensern zu gehören, „die wissen, wer sie sind und das machen, was sie machen sollten.“ Und auch Zidane beschreibt die klarere Identität der Palästinenser aus der Westbank und aus Gaza: „Die Palästinenser, die in der Westbank oder in Gaza leben, die haben es am einfachsten, es emotional zu verarbeiten. Sie leben so in einem Staat mehr oder weniger, trotz Siedlungen und Checkpoints, sie sind da. Da wird auch Palästina so letztendlich sein. Klar, die Flüchtlinge haben es ganz schwer, das Land ist weit weg, ich lebe im Libanon, ich kriege hier nichts auf die Reihe, klar. Und die palästinensischen Israelis haben es wirklich am schwersten, so emotional und psychisch. Weil klar, sie können sich von diesem Konflikt nicht verabschieden, sie wollen aber da weiterleben, sie müssen halt mit Juden zusammenarbeiten. Man kann sich nicht so leicht definieren? Man schwankt hin und her, das ist nicht so einfach.“
Die Bewohner des Gazastreifens haben in diesen Kategorisierungen aufgrund der desolaten Situation in ihrem Gebiet und der anhaltenden Konflikte mit Israel, zynisch formuliert, einen klaren Vorsprung in dem Wettstreit um das größte Leid und damit auch um die palästinensische Identität. Sie haben Leid und die gewalttätigen Folgen des Konflikts von klein auf erfahren. Yassin erzählt in einer Schilderung über das Auslandsstudium eines Freundes auflistend fast nebensächlich vom Tod eines anderen Schulfreundes aus Kindertagen: „Also, wir waren fünf Jungs als Gruppe. Einer wurde erschossen, einer ist in die USA
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geflogen zum Studieren, mein Bruder, ein Kumpel von uns, der in Gaza geblieben ist. Und ich bin der Fünfte.“ Der gewaltsame Tod und damit das Leid sind im Gazastreifen allgegenwärtig und haben ihren Schrecken zwar sicher nicht verloren, aber ihre Realitätsferne oder Unglaublichkeit. Mit diesen Erfahrungen einher geht aber unter anderem auch das beschriebene sicherere Selbstbewusstsein im eigentlichen und übertragenen Sinne des Wortes bezüglich der eigenen palästinensischen Identität und Position im Nahostkonflikt. Folgt man diesem Ansatz, dass das erfahrene und auch das nicht persönlich erfahrene, sondern kolportierte Leid konstitutiv für das palästinensische Identitätskonstrukt ist, wird deutlich, wie sehr auch unter Palästinensern der dritten Generation um „das anerkannte Leiden“ und damit eine gesicherte palästinensische Identität gerungen wird.
PALÄSTINENSISCHE IDENTITÄTSKONSTRUKTION Das Leid ist eine starke Komponente der kollektiven und der individuellen palästinensischen Identitätskonstruktion. Yassin aus dem Gazastreifen benennt sogar „das Leiden [als] die eigentliche palästinensische Identität“, und auch andere Gesprächspartner bezeichnen das Leiden als zugehörig zur palästinensischen Identität. Fouad aus der Westbank erklärt, dass die Betonung des Leidens innerhalb der palästinensischen Gesellschaft aus der andauernden Notwendigkeit, sich Gehör zu verschaffen, um von den anderen Ländern Unterstützung zu erhalten, resultiere. Der Appell richtet sich an die westlichen Länder aber auch an den arabischen Raum. Fouad bezeichnet darüber hinaus die große Bedeutung des Leides als eine „palästinensische Krankheit“, die eine permanente Steigerung verlangt und so innerhalb des palästinensischen Diskurses eine so starke Rolle entwickelt habe, dass sie auch bei den Vergleichen unter den Palästinensern aus der Westbank, dem Gaza-
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streifen und den „48er-Gebieten“, wie er Israel bezeichnet, zum Tragen kommt. Auch Laleh Khalili zitiert in ihrer Arbeit Interviewpartner, in diesem Falle aus einem Flüchtlingslager im Libanon, die das Leid als Merkmal palästinensischer Identität betonen: „We know, we are Palestinians because, we suffer so much“,78 beschreibt eine ihrer Gesprächspartnerinnen die hohe Bedeutung des Leidens. Fouad aus der Westbank kritisiert das „Weinerliche“ dieser Diskurse, und auch Zidane aus dem Norden Israels betont mehrfach, dass das andauernde Klagen nicht konstruktiv sei, und seine Familie nicht so weinerlich wäre wie die palästinensische Gesellschaft im Allgemeinen. Ihre Mitglieder hätten die Gegebenheiten nach 1948 früh realisiert, um nach vorne zu schauen, etwas zu erreichen und sich aktiv für die Rechte der Palästinenser einzusetzen. Die Konzentration auf das Leiden wird stellenweise mit Stillstand und auch mit mangelndem Blick für die Gegebenheiten verbunden. Leid wird als Bestandteil palästinensischer Identität wahrgenommen, zum Teil aber auch kritisch hinterfragt. Zidane ist der Überzeugung, dass, wenn die israelische Politik die 48er engagierter und gleichberechtigter zu integrieren versucht hätte, deren Bedürfnis nach der Betonung ihrer palästinensischen Identität keinesfalls so groß gewesen und geworden wäre, wie es heute ist: „Wenn das einigermaßen in eine gute Richtung laufen würde, die palästinensischen Israelis hätten eigentlich kein Problem damit, als Israelis zu fungieren. Wenn wirklich Gleichberechtigung herrschen würde, wären die jungen Generationen nicht so akribisch der palästinensischen Identität hinterher. Ich glaube, das [Verteidigen der Identität] kommt reflexartig. Wenn man diskriminiert wird, dann sucht man seine Wurzeln. Viele Sozialwissenschaftler sagen, dass es der größte Fehler mit den arabischen Israelis war. Wenn der Staat sie gleich behandelt hätte wie die Juden, hätten sie jetzt überhaupt kein Problem. Ich glaub, nur wenige wären auf die Idee gekommen, sich so als Palästinenser zu betrachten wie heute.“
78 Fatin zitiert von Khalili: Heroes and Martyrs of Palestine, S. 103.
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Die Überlegung Zidanes, dass eine andere Innenpolitik Israels den Konflikt mit den palästinensischen Israelis hätte verhindern können, wird durch die Aussage eines Angehörigen der zweiten Generation verstärkt. Mohammad Abu al-Hayyja, den Jo Roberts in ihrer Studie interviewt hat und der von seinem Leben berichtet, dass sein Großvater dachte, sein Enkel könne aufgrund seines Studiums in Haifa mehr innerhalb der israelischen Gesellschaft bewirken: „He thought that we [die zweite Generation] can solve these problems, and we also thought the same. […] For us, we are living here, we are Israelis like everybody. […] I believed that I am equal. Today I know that I am not equal.“79 Mohammad Abu al-Hayyja gehört das beliebte Restaurant von Ayn Hawd, einem Dorf in den Hügeln nahe Haifa, dessen Bewohner aus dem ursprünglichen Dorf 1948 vertrieben wurden und die sich deshalb ein paar Hügel weiter auf dem Weideland ihrer Tiere niederließen und ein zweites Ayn Hawd errichteten. In das ursprüngliche Dorf zogen Künstler, nannten es hebräisch Ein Hod, und die Kolonie ist ebenfalls ein beliebtes Ziel für Touristen. Die Bewohner des ursprünglichen Ayn Hawds kämpfen seit Jahren um die Anerkennung ihres „neuen“ Ayn Hawd und Mohammad Abu al-Hayyja repräsentiert die Interessen des Dorfes. Sein Restaurant auf dem Hügel, von dessen Terrasse man das Meer sehen kann, steht inzwischen als Empfehlung in den IsraelReiseführern, und für Außenstehende mutet die Situation ziemlich absurd an, da das empfohlene Restaurant nur über eine schlechte Straße zu erreichen ist, deren Qualität im scharfen Kontrast zur Beliebtheit des Restaurants steht. Mohammad Abu al-Hayyja sammelt unter den gläsernen Tischplatten seiner Restauranttische die Visitenkarten der Gäste, und die Menge und Vielfalt der Besucher verdeutlicht noch einmal mehr die Absurdität dieses Konflikts und dessen Alltäglichkeit gleichermaßen.
79 Roberts: Contested Land, S. 9 und S. 196.
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„Gerät die Identität in der Gegenwart in Bedrängnis, so scheint es umso verständlicher, sich dieser historisch zu versichern“ schreibt Carsten Heinze,80 das trifft auch auf das Festhalten an den Erinnerungen an das frühere Palästina innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu. Vor dem anhaltenden Konflikt hat die Bedeutung der palästinensischen Identität zugenommen, und mit ihrer Betonung geht auch eine allgemeine Erwartung an die richtige Haltung als Palästinenser einher. Das bedeutet auch, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen und sich den Interessen des palästinensischen Kollektivs verpflichtet zu fühlen. In diesem Kontext wird die Entscheidung für eine Rückkehr in die Heimat oder ein Leben im Ausland schnell als eine für oder gegen die Identität und die palästinensischen Interessen verstanden. Fouad aus der Westbank betont „Ich kann das nicht hinter mir lassen, und auch die Leute die ich kenne, können das nicht, egal wo und was man tut. Man kann nicht seinen Koffer packen und fliehen, man muss standhaft bleiben.“ Fouad spricht hier die Haltung des Summud an, die in der palästinensischen Gesellschaft stark verankert ist, deshalb aber auch innerhalb der Generationen für Konflikte sorgt. Jo Roberts beschreibt diese Haltung als das Innehalten der Nakba-Generation, „they retreated into the silent hope that somehow things would change, that their lost Palestine would be restored and their separated relatives and neighbours could return home.“81 Angehörige der dritten Generation empfinden diese stoische Haltung zunehmend als uneffektiv und fordern eine Aufgabe der als passiv empfundenen Standhaftigkeit im stummen Ausharren. Solche Bedürfnisse bringen sie aber in Konflikt mit einer in der Gesellschaft traditionell verankerten Ehrerbietung gegenüber den Älteren, die ein Infragestellen von deren Verhalten erschwert. Dennoch ist Wael aus dem Gazastreifen der festen Überzeugung, dass die Konflikte zwischen Palästinensern und Juden um die Nakba und die israelische
80 Heinze: Identität und Geschichte, S. 1. 81 Robert: Contested Land, S. 174.
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Staatsgründung mit seiner Generation anders ausgegangen wären: „Mit uns könnte man das heute nicht mehr machen.“ sagt er entschieden. Wie er betonen auch andere Interviewpartner, dass ihre Generation aufgeklärter und im Bewusstsein um ihre Rechte damit besser vorbereitet wäre. In den Darstellungen der dritten Generation werden die Angehörigen der ersten Generation häufig als naiv und unschuldig, aber auch politisch kurzsichtig beschrieben. Immer wieder wird betont, dass die Nakba-Generation überzeugt war, ihre Häuser und Dörfer nur temporär verlassen zu müssen. Auch in Zeitzeugeninterviews mit Vertretern dieser Generation bekräftigt sich diese Einschätzung, wenn beispielsweise berichtet wird, wie sie alltägliche Dinge für die kurze Abwesenheit einpackten, wichtige Dokumente aber lieber im Haus deponierten und so glaubten, für die baldige Rückkehr sicher zu verwahren. Ihre oft einfache bäuerliche Herkunft wird von den Interviewpartnern betont, wie auch ihre Naivität und beides von der eigenen Generation entschieden abgegrenzt. Die offensiven Forderungen einer sogenannten generation of angry young men and women finden sich in den Interviews nicht, vielmehr scheint die vorhandene Kritik an dem Verhalten der ersten Generation die Interviewpartner in einen Loyalitätskonflikt zu bringen. Kritik wird formuliert, aber in einer vorsichtigen Art und Weise. Zidane argumentiert zwar entschieden, dass ein bloßes Ausharren in der Ungerechtigkeit heutzutage nicht mehr angemessen wäre: „Diese Einstellung, diese Passivität einfach, wir stehen hier, wir haben ein gerechtes Anliegen und wir warten auf unsere Rechte. Aber dafür muss man was machen. Und diese Hoffnung und dieses passive Hoffen, klar nervt das!“ Er sieht aber die radikale Abgrenzung von Angehörigen der dritten Generation kritisch und in den Brüchen sogar als Interesse israelischer Politik: „Sie kommen da mit irgendwelchen Argumenten, wie ‚Ja, wir haben das 60 Jahre so probiert wie unsere Großeltern. So geht es nicht mehr, wir wollen auch leben‘ und so. Aber das ist gerade das, was Israel will, diesen Konflikt in die
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Länge ziehen, bis eine Generation kommt unter den Palästinensern, die nicht mehr weiß, worum es überhaupt geht.“
Die Auseinandersetzung mit den Angehörigen der älteren Generationen bringt einige der Interviewpartner in einen inneren Konflikt, wie auch an dem Beispiel Khaleds deutlich wird. Bei seinen Ausführungen zu der Haltung der ersten Generation betont er zunächst seine Anerkennung ihrer Leistung und Haltung: „Diese alten Leute verdienen unseren Respekt, dass sie ihre Tradition, Sprache, ihre Überzeugung aufrecht erhalten haben.“ Im nächsten Satz aber bricht auch bei ihm die Kritik an der Haltung des Summud dieser Generationen durch: „Du kannst dir aber nicht immer die Reden von vor fünfzig Jahren anhören. Die Welt hat sich geändert, man muss auch andere Perspektiven und Lösungen finden.“ Khaled wechselt im nächsten Satz wieder in die respektvolle Haltung zurück und betont nochmals das traumatische Schicksal der Zeitzeugen der Nakba, um aber mit dem Appell an eine Änderung der Haltung zu schließen: „Sie haben das Ganze erlebt! Sie sind verletzt und geschlagen aber ich meine, man kann nicht einfach nur sagen, ich bin verletzt und ein Opfer. Man muss was tun! Das geht so nicht mehr, es muss etwas getan werden.“ Auch Adel betont das Leiden und den Schrecken der ersten und auch der zweiten Generation, nennt ihre Fehleinschätzung der Situation, als viele der vertriebenen und geflüchteten Palästinenser 1948 dachten, sie könnten in ein paar Wochen in ihre Dörfer zurückkehren. Er kritisiert, dass diese Generation wartend, ausharrend die Jahre vergehen ließ, ohne gegen ihr Schicksal vorzugehen. „As a young generation, it makes us very nervous and very angry. This generation of my grandfather, they need to know more about, what’s going on, and not to say: ‚Ok, tomorrow it will be better‘ or something like that.“ Der Begriff der „retroaktiven Tradierung“ 82 beschreibt, wie im Nachhinein die Teilnahme von Akteuren an historischen Prozessen geschönt
82 Welzer, Harald zitiert durch Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 130.
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wird, er wurde am Beispiel der Generation des Nationalsozialismus und deren Nachkommen von Welzer beschrieben. Welzer schildert in dem Zusammenhang die Tendenz der nachfolgenden Generationen, die Biografie ihrer Großeltern zu bereinigen, um sie für sich selbst in ein stimmiges Verhältnis zu ihrer emotionalen Bindung an die Vorfahren zu bringen. Sabine Damir-Geilsdorf bemerkte diese Tendenz bei ihren Interviewpartnern in Jordanien in Bezug auf das Verhalten der NakbaGeneration nicht.83 Diese grenzten sich klar von deren Verhalten ab, ohne es zu verurteilen. Bei den 48ern, die in dieser Arbeit interviewt wurden, kann man diesen Ansatz Welzers aber bestätigt finden. Vielleicht spielt hier die Nähe zum ursprünglichen Dorf und Besitz und die erlebte Ohnmacht eine Rolle, die es den Interviewpartnern erschwert, ihre Vorfahren für ihr Verhalten während der Nakba zu kritisieren und sich von ihnen so klar abzugrenzen. Intergenerationelles Konfliktpotential birgt für die palästinensischen Israelis auch die Frage nach der Beteiligung an dem Boykott der Wahlen in Israel. Die Entscheidung für eine Beteiligung kommt einer Anerkennung des israelischen Staates gleich und steht im Widerspruch zu der Haltung des Summud. Eine Möglichkeit der politischen Einflussnahme besteht aber in der Partizipation am demokratischen System, und in den Interviews wird wiederholt auf deren Vorteile hingewiesen. Es wird zum einen die Möglichkeit des Widerstands innerhalb der Knesset durch palästinensisch-israelische Vertreter genannt. Sohel schildert ein Beispiel, in dem ein palästinensischer Abgeordneter im Rahmen einer internationalen Veranstaltung auf Missstände in Israel hingewiesen hat, und so von Israel beantragte internationale Gelder nicht genehmigt wurden.
83 „Diese Tendenz fand sich in den von mir geführten Interviews nicht. Jüngere Interviewte skizzierten vielmehr häufig fundamentale Unterschiede zwischen ihrer Generation und der Nakba-Generation, auch wenn sie deren Flucht […] moralisch rechtfertigten.“ Ebd.
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Jaber aus dem Norden Israels engagierte sich bei den letzten Wahlen für die Joint List, den Zusammenschluss der vier größten arabischen Parteien in Israel, und geriet mit Familienangehörigen darüber in Konflikt, da diese die aktive Beteiligung am israelischen Regierungssystem als Verrat der palästinensischen Interessen werteten. Das Verhältnis zwischen den Generationen ist geprägt vom andauernden Konflikt, und die Folgen des Auslandsstudiums verkomplizieren das Verhältnis oftmals, da die Studierenden gänzlich andere Einflüsse erleben und durch den räumlichen und zeitlichen Abstand andere Perspektiven entwickeln, die sie ihrem ursprünglichen Umfeld auch im Hinblick auf den Konflikt entfremden. Aber auch unabhängig von dem prägendem Auslandsaufenthalt der Interviewpartner ist zwischen der ersten, zweiten und dritten Generation zu differenzieren, denn so sehr der Konflikt und damit in den Augen vieler Palästinenser auch die Nakba andauern, verändern sich doch die Rahmenbedingungen, die Handlungsspielräume und auch die Akteure zwangsläufig mit der Zeit. Adel differenziert auch zwischen seiner Großeltern- und seiner Elterngeneration. Letzterer attestiert er ein eigenes Trauma aufgrund der Erfahrungen ihrer Eltern und ihres Heranwachsens in der Zeit nach der Nakba, in der sie die Folgen von Verlust des Besitzes oder auch von Angehörigen erlebten und sich gleichzeitig als 48er in dem neuen Staat anpassen mussten: „They needed to have the two heads of ‚I am a Palestinian but I am a good civilian in Israel.‘“ Er betont wie auch Zidane die Ängste und Erfahrungen dieser zweiten Generation: „Most of this generation was not active, if they was active, they won’t be there today. Most of them was active in the heart, because they had no choice.“ Jaber beschreibt sein Erleben und Erinnern einer immer gedrückten Atmosphäre in seinem Elternhaus, die er mit den wiederholten Gefängnisaufenthalten des Vaters in Zusammenhang setzt. Sein Vater war in den 1970er und 1980er Jahren mehrmals wegen politischer Aktivitäten inhaftiert, er erzählt nicht viel aus dieser Zeit, manchmal erwähnt er Foltererfahrungen. Er lernte erst im Gefängnis lesen und schreiben, schrieb dann aber Tagebuch und hielt die Erfahrungen dort, die Verhö-
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re und seine Erlebnisse fest. Das Tagebuch hat Jaber „versteckt, damit es nicht wegkommt“, es erscheint ihm als ein wichtiges Dokument, ohne dass er sagen könnte, was er damit vorhat. Er erzählt auch von Freunden seines Vaters, die ebenfalls im Gefängnis waren oder es teilweise noch sind. Auch Yassin berichtet vom Leben seines Vaters, von dessen früheren politischen Engagements und dessen heutiger Enttäuschung und Müdigkeit angesichts der gegenwärtigen Situation im Gazastreifen. Sein Vater leidet auch unter der Regierung durch die Hamas und der damit einhergehenden religiösen Strenge, da er bekennender Atheist ist und sich Gaza vor seinen Augen trotz seines Engagements rückläufig entwickelt. „Ich sehe es jetzt auch bei meiner Familie und bei meinem Vater, mein Vater war ein Rebell. Schon immer gewesen. Jetzt verändert er sich komplett, er verhält sich manchmal so, wie ich ihn nie kannte. Mein Vater war einer, der sagt: ‚Das geht mir doch am Arsch vorbei, was du davon hältst oder was du darüber denkst.‘ Und dann äußert er [heute] irgendwann eine Meinung, wo ich sage: ‚Wer bist du, und was ist aus dir geworden?‘ […] Er hat auch etwas darunter gelitten, er war mehrmals im Gefängnis und jetzt stellt er fest, dass die Idioten, die Früchte einer Revolution, die jämmerlich scheitert gerade, also ernsthaft in Gaza, da sind die Idioten von vorgestern. […] Also er sieht, dass er sehr viel gegeben hat und dafür nichts kriegt. […] Er ist es leid, die ganze Zeit gegen den Strom zu schwimmen.“
Diese Brüche in den Biografien der Vorfahren und des alltäglichen Umfelds sind in den Schilderungen der Interviewpartner keine Seltenheit. In ihrer Wahrnehmung haben diese Leute Opfer gebracht und unter den Lebensbedingungen nach der Nakba gelitten, und diese Einschätzung verstärkt das Gefühl der Verpflichtung der dritten Generation gegenüber ihren Eltern und Verwandten.
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Ein weiterer Aspekt im Vergleich des Verhältnisses der Generationen zum Konflikt fällt in dem Interview Zidanes auf, wenn er schildert, dass die erste Generation noch oft in gutem Verhältnis mit ihren jüdischen Nachbarn gelebt hätte. Er nennt das Beispiel eines älteren Onkels, der ihm davon erzählte, dass viele der aus Europa geflohenen Juden keinerlei Interesse an einem Konflikt mit den ansässigen Palästinensern gehabt hätten, sondern oftmals den Palästinensern ein Stück Land abkauften und in Ruhe leben wollten. „Das klingt vielleicht etwas unlogisch aber ich glaub, das war damals einfacher. Weil es ehrlicher und unmittelbarer war. Und heute ist diese Gewaltspirale so groß geworden, und es ist viel komplexer, so eine Art von Beziehung oder Kontakt zu haben. Meine Generation hat wirklich relativ wenig real gesehen, sie haben viel weniger Erfahrung als die frühere Generation. Aber sie sind einfach so geladen, und sie können sich so ganz klar positionieren. Klarer als die Alten.“
Adel betont wiederum, dass die ältere Generation ein klareres Bewusstsein um ihre Herkunft und Identität hätte und kritisiert, dass sie das bei ihren Kindern nicht fördern würde. Am Bespiel seiner eigenen Familie schildert er, dass seinem Bruder das Verständnis für seine Herkunft und Rolle als Palästinenser fehle, und es die Aufgabe der älteren Generation sei, sich für dieses Bewusstsein ihrer Nachkommen zu engagieren: „If you will ask me about my identity, I know, I am a Palestinian, living in Israel. Now. But if you will ask my brother, he will tell you he is an Israeli. Because of that you didn’t speak with us, you have in the same home two different identities“, richtet er seine vorwurfsvollen Worte an seine Eltern und Großeltern. Adel betont auch hier noch einmal, dass es der zweiten Generation aufgrund der Erfahrungen ihrer Eltern und der eigenen schwer fällt, über ihre palästinensische Herkunft zu sprechen, da sie verinnerlicht hätte, dass eine Betonung ihrer Identität ihnen Schwierigkeiten in Israel bereiten kann. „Cause of this history, you are not supposed to speak about identity. A good Arab needs to be calm and quiet.“ Aber er
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schließt mit der Warnung: „Suddenly, if you don’t speak about it, you don’t have it anymore. If you don’t speak about identity, you don’t have it.“ Adel betont die Bedeutung des Erzählens und des Festhaltens an den Wurzeln und Erinnerungen als ein fundamentales Element palästinensischer Identität. Den gleichen Anspruch formuliert auch Fouad aus der Westbank, wenn er im Zusammenhang mit den Erwartungen an die dritte Generation betont: „Als Palästinenser hat man die Pflicht, für sein Recht zu kämpfen. Es gibt so Sachen, die von Generation zu Generation gehen und das Recht nach Rückkehr, das Recht auf den Lebensraum, den wir Palästina nennen, wird nicht sterben, wenn Leute darauf bestehen, es zu haben. So lange Leute danach fragen, wird das Recht am Leben erhalten, und das ist die Pflicht der Palästinenser.“
An dieser Stelle wird noch einmal die Bedeutung des kommunikativen Gedächtnisses innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, auch für eine kollektive Identitätskonstruktion, deutlich. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung für ein Leben im Ausland oder für die Rückkehr in die Heimat von großer Bedeutung und neben den privaten-individuellen auch an kollektiv bezogene Konsequenzen gebunden und wiederum eng an die auch verpflichtende palästinensische Identität geknüpft, wie Fouad aus Ramallah sagt: „Mein Leben wäre viel einfacher wenn ich kein Palästinenser wäre.“ Die persönliche Selbstverortung nach dem langen Auslandsaufenthalt ist nicht einfach und Yassin beschreibt diesen Konflikt. Im Gespräch mit einem Freund seiner Eltern, dessen Vornamen er trägt und der lange inhaftiert war, konfrontiert ihn dieser mit der Aussage, die jungen Palästinenser, die ins Ausland gingen, würden sich ihren Wurzeln entfremden und diese vergessen. „Er meinte, dass sie dann nicht mehr zurück wollen und dieses Gefühl der Zugehörigkeit nicht mehr so ausgeprägt ist. Er mag vielleicht Recht behalten, aber ich sehe das anders. Man verleugnet nicht seine Zugehörigkeit, sondern man
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verändert sich in einer Art und Weise, dass man sich zu mehr zugehörig fühlt, als dieser kleine Ort einem bieten kann.“
Yassin erwähnt hier einen Prozess, der mit einer notwendigen Neuverortung seines Identitätskonstrukts einhergeht, den Jörg Zierfas das Kennzeichen der „modernen Identität“ nennt, der entweder eine höhere Komplexität von Werten und Strukturen angeboten wird, oder die auf die Notwendigkeit einer „Flexibilisierung von Lebensformen“ reagiert.84 Yassin formuliert das Ziel, sich einmal als Weltbürger zu fühlen. „Ich hoffe, dass ich irgendwann ein Weltmensch bin. Dass ich über meine palästinensische Zugehörigkeit, die wahrscheinlich Teil meiner genetischen Codierung ist, hinauswachse. Das bedeutet keinesfalls, dass ich meine Zugehörigkeit zu diesem Land und diesen Menschen verlieren werde, oder dass ich mich nicht als Palästinenser bezeichnen würde, da mich das auch mit Stolz erfüllt. Weil das palästinensische Volk trotz der vielen Fehler, trotz der vielen Tragödien auch sehr vieles geschafft hat, über seine Wunde [die Nakba] hinweg sozusagen.“
Dieser Stolz auf den Durchhaltewillen und die palästinensischen Errungenschaften, gerade im Bereich der Bildung, wird wiederholt in den Interviews angesprochen. Das Bild des ungebrochenen Unterlegenen ist als eine Form eines heroischen Victimismus ebenfalls ein Bestandteil palästinensischer Identitätskonstruktion und Selbstverortung der dritten Generation. Auch Khamis versucht, seine Zugehörigkeit auf-
84 „Und die moderne Identität erscheint gerade dort als besonders differenzierte, reflexive und individuelle Identität, wo die Möglichkeiten von divergierenden Normen- und Wertesystemen, von unterschiedlichen Formen der Zugehörigkeit und Verbindlichkeit und von Inkonsistenzen in Rollenmustern und Interaktionsformen etc. vorhanden sind.“ Zirfas: Identität in der Moderne, in: Jörissen/Zirfas: Schlüsselwerke der Identitätsforschung, S. 14f.
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grund seiner Wohnortwechsel auf verschiedene Orte auszuweiten und damit auch seine Identitätskonstruktion anzupassen. „Die Definition von Heimat verändert sich. Ich habe sozusagen eine neue Identität für mich geschaffen. Es ist nicht mehr der Fall, dass ich persönlich denke, ja, ich komme aus Palästina/Israel und Punkt, ja?“ Für ihn war der Weggang aus Israel ein Prozess der Befreiung: „Ich fühlte mich jetzt nicht besonders fremd in Deutschland, das sagen viele Palästinenser aus Israel, wir sind halt aus einem Land, das unsere Heimat ist, aber es auch nicht ist. Ich würde sogar sagen, ich habe ein besseres Leben nach meinem Weggang. Im Sinne, dass ich frei bin, niemand hat nach meinem Ausweis gefragt und solche Dinge.“
Heimat wird als ein starkes Element von Identität genannt, wenn Khamis betont, dass mit der Neudefinition von Heimat eine Neuschaffung seiner Identität einhergehe. Vor dem Hintergrund der intergenerationellen Weitergabe der Erfahrung vom Verlust der Heimat und des Exilgefühls im Heimatland verwundert diese Verknüpfung nicht. Das Exilgefühl in der Heimat ist ein verbreiteter Topos der 48er. Es wird in der Dichtung der palästinensischen Autoren thematisiert und auch Dina Matar zitiert einen Bewohner von Nazareth im Norden Israels, dessen Herkunftsdorf Saffuriyyeh nur wenige Kilometer entfernt lag, mit den Worten: „My life remains a temporary one, even after 60 years. I am here in Nazareth in transit and I do not see myself as an Israeli citizen with equal rights.“85 Khamis, als Angehöriger der 48er, wollte diesen Zustand nicht mehr leben und beschreibt es als einen Gewinn, im Ausland ohne den alltäglichen (Identitäts-)Konflikt der Palästinenser in Israel zu leben. Yassin aus dem Gazastreifen nennt andere Umstände, welche ihn das Leben in Deutschland haben vorziehen lassen. Zunächst scherzt er, dass er im Falle einer Rückkehr das Salsa-Tanzen aufgeben müsste, und reagiert spöttisch auf die Nachfrage nach der Möglichkeit, dieses
85 Abu Arab zitiert in: Matar: What it means to be Palestinian, S. 44.
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Hobby im Gazastreifen weiter zu pflegen: „Ich könnte kein Salsa tanzen! Stell dir das mal vor! […] Ja genau! Der tanzende Arzt von Gaza!“ Ernsthafter erklärt er dann aber soziale Zwänge in seiner Heimatregion, die ihm mit zunehmendem Alter und Abstand schwer zu ertragen scheinen: „Es gibt sehr viele soziale Krankheiten, die unsere Gesellschaft zerreißen, und in der Stadt, aus der ich stamme zum Beispiel, gibt es sehr viele Heuchler, die die politische Seite nach Wetterlage wechseln, wenn es für sie von Vorteil ist.“ Yassin beschreibt seine persönliche Veränderung und seine zunehmenden Widerstände gegen die soziale und politische Kontrolle in dem kleinen Küstenstreifen. Wie auch andere Interviewpartner aus dem Gazastreifen berichtet er von der großen Spannung in der Gesellschaft, dem Druck, unter dem die Bewohner stehen, seitdem die Hamas die Kontrolle übernommen hat, welcher sich auch in Form von Misstrauen und Korruption innerhalb der Gesellschaft äußert: „Und mit solchen Menschen musst du dich wieder rumschlagen, und ich bin es leid, ich will nicht heucheln und ihn anlachen und sagen: ‚Ah, schön dich zu sehen!‘. Es ist zum kotzen. Und das ist dann ein Zeichen der Rebellion und manche interpretieren das als Arroganz oder sie sagen: ‚Wir zweifeln an deinem patriotischen Sinn‘. ‚Der will sich gesellschaftlich nicht fügen, bei den Treffen nicht dabei sein, gehört er wirklich zu uns?‘ Das ist ein Problem.“
Innerhalb der palästinensischen bzw. der arabischen Gesellschaft ist die Unterordnung der individuellen Bedürfnisse unter die des Kollektivs stark verankert, was im deutlichen Kontrast zu der positiv konnotierten Individualisierung innerhalb der westlichen Gesellschaften steht. Zidane beschreibt den gesellschaftlichen Auftrag: „Als Araber hat man diese gesellschaftliche Verpflichtung, hat eine Familie, und du musst das tagtäglich rechtfertigen, wenn du nicht mitmachst.“ Im Verlauf ihres langen Auslandaufenthalts werden die Interviewpartner mit diesen gegensätzlichen Ansätzen konfrontiert und auch gewohnte Strukturen in Frage gestellt.
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Während der offenen biografischen Interviews, in denen die Interviewpartner ausführlich erzählten und dementsprechend auch längere Monologe hielten, fiel der wiederkehrende perspektivische Wechsel zwischen dem ich, wir und die auf. Gerade in Passagen über den Konflikt und die Belange der Palästinenser, aber auch über persönliche Konflikte mit dem ursprünglichen Umfeld wechseln die Gesprächspartner innerhalb von Sätzen zwischen der Ich-Erzählung und dem solidarischen Wir. Das Kollektiv hat starken Einfluss, auch auf die individuellen Schilderungen der Interviewpartner. Deutlich zu nimmt dieser Wechsel in das Kollektive zusätzlich in den Passagen, in denen der jüdischisraelische Gegenpart als die hinzukommt. Der Wechsel der Perspektiven verdeutlicht auch stilistisch die komplizierte Identitätskonstruktion der Interviewpartner im Spannungsfeld zwischen individuellem oder individualisiertem Bedürfnis und den Ansprüchen des Kollektivs. In den Interviews wird außerdem deutlich, wie stark im Bewusstsein und auch im Diskurs der palästinensischen Gesellschaft die gegenwärtige Situation der Palästinenser mit der Nakba 1948 verknüpft wird. Adel berichtet aus seiner Studienerfahrung in Israel, wie er als einer der wenigen palästinensischen Studierenden wiederholt mit seinem Status in Israel konfrontiert wurde. In einem Beispiel berichtet er, dass ein jüdischer Kommilitone ihn aufforderte, doch dankbar für die Möglichkeit des Studiums zu sein und ihm sagte: „If we didn’t give you this chance to get into the university, you would be nothing“, und wie Adel selbst daraufhin wütend dachte: „Ok, this is what happened to my grandfather.“ Offenkundig ist seine Situation keinesfalls die, in der sich sein Großvater während der Nakba befand. Dennoch wird der Bogen sofort geschlagen und die Verbindung in dem Ohnmachtsgefühl der Diskriminierungserfahrung gesehen. Die Nakba als Ausgangspunkt für die aktuelle Situation ist durch die Erfahrungen der Großeltern in Verbindung mit der alltäglichen Erfahrung des andauernden Konflikts fester Bestandteil des palästinensischen Identitätskonstrukts. Wie Adel geht es vielen Palästinensern, und auch Zidane betont: „Die Katastrophe ist lebendig.“ Er beschreibt auch, dass sich der allge-
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genwärtige Bezug zur Nakba verselbstständigt hat, und seiner Meinung nach viele Palästinenser jeglichen persönlichen Misserfolg auf die Nakba beziehen, ergänzt aber gleichzeitig, dass, „auch wenn man objektiv bleibt, die Nakba viele Konsequenzen hat“, die bis in die Gegenwart reichen. Yassin bezeichnet die intergenerationellen Erzählungen über die Nakba als Teil seines kulturellen Erbes und auch Khaled spricht davon, dass die erste und die zweite Generation mit der Weitergabe der Erinnerungen in die dritte Generation „etwas gepflanzt“ haben, was sich in ihrem Selbstbild und in ihrer palästinensischen Identität manifestiert habe. Die Weitergabe der Erinnerungen an die Nakba an die dritte Generation und der Einfluss dieses Erbes auf deren Identitätskonstruktion und deren Selbstbild sind der Mehrheit der Interviewpartner bewusst. Daran wird auch noch einmal die anhaltende Bedeutung der Nakba als Fixpunkt und deren Gegenwärtigkeit innerhalb der palästinensischen Gesellschaft und innerhalb der dort geführten Diskurse deutlich. Zidane nennt in seinem Interview abschließend die stehende Redewendung, mit der auch heute noch Kindern gedroht wird, wenn sie den Anweisungen ihrer Eltern nicht folgen wollen, und die in zynischer Weise an die erwähnten Worte Avi Dichters erinnert: „Wenn du nicht brav bist, dann erleben wir eine zweite Nakba.“
„Wenn du nicht brav bist, dann erleben wir eine zweite Nakba“
„So lange noch gekämpft wird, ist das Paradies nicht verloren, sondern besetzt und kann jederzeit befreit werden“,1 schreibt der palästinensische Schriftsteller Mahmoud Darwisch im Jahr 1973 über Palästina und betont das Festhalten an der Kadya filastin. An anderer Stelle in dem Buch beschreibt der Protagonist die Suche nach seinem verlorenen Herzen: „So habe ich mich daran gewöhnt, nach etwas zu suchen, was verloren schien; ginge es aber tatsächlich verloren, dann wäre ich selbst ein für allemal verloren. Schon allein, daß ich suche, heißt, ich werde mich niemals mit dem Verlorenen abfinden. Solange ich nicht wiederfinde, was ich verloren habe, solange bleibe ich verloren“2
und stellt hier den Zusammenhang zwischen dem Verlust der Heimat und dem Verlust der Identität her. Gleichzeitig betont er auch die Bedeutung des palästinensischen Summud. „We speak with dried olive branches caught in the chests. […] I am the daughter coughing up the olive branch“, schreibt die 1973 geborene 1
Darwisch, Mahmoud: Tagebuch der alltäglichen Traurigkeit. Prosa aus Pa-
2
Darwisch: Tagebuch, S. 29.
lästina, Berlin 1978, S. 32.
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palästinensisch-amerikanische Schriftstellerin Suheir Hammad über die Nakba und das Erbe ihrer Eltern und Vorfahren, das sie in sich trägt und das sie Teil der palästinensischen Tragödie sein lässt, ob sie möchte oder nicht.3 Das Buch Darwischs transportiert den festen Glauben der ersten Generation an das Wachhalten der Erinnerung, an das Festhalten am Widerstand und an das Streben nach einer Lösung des Nahostkonflikts, die den palästinensischen Forderungen vor allem der nach dem Recht auf Rückkehr entspricht. Hammad, eine Angehörige der dritten Generation, bezeichnet in ihrem Gedicht die Kufeya4, in die die Geschichte Palästinas gestickt wird, als aus der Mode gekommen, die Väter als landlose Waisen, die Mütter als es leid, ihre Söhne zu opfern, die Söhne als dem Wahnsinn verfallen, die Kinder als Produkte impotenter Träume und sich als die Tochter, die versucht, den Olivenzweig aus ihrem Innern zu husten, sich der palästinensischen Tradition des sehnsuchtsvollen Leidens zu entledigen und sich von dem Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Erbe der Nakba zu befreien.5 Den intergenerationellen Kontrast und das Konfliktpotential dieses Erbes, die sich in den Texten der beiden Autoren spiegeln, findet man in dieser verbalisierten Schärfe nicht bei den Interviewpartnern dieser Arbeit. Die Loyalität gegenüber der Kadya filastin ist verinnerlicht, auch wenn sie Einfluss auf die individuelle Lebensplanung nimmt. „Unsere Gesellschaft braucht uns da. […] Und deshalb finde ich, das ist wichtig, dass jeder von uns nach Hause fliegt“, betont Sohel die Verpflichtung seiner Generation. Und auch die anderen Interviewpartner äußern keine so konfrontative Kritik an dem Erbe der Nakba wie es Suheir Hammad tut. Dennoch wurde in den Interviews deutlich, dass das Gewicht der Verpflichtung auch als Belastung empfunden und das
3
Hammad, Suheir: Blood stitched time, in: Born Palestinian, born black, New York 2010, S. 24.
4
Kufeya = Palästinensertuch.
5
Hammad: Blood stitched Time, S. 24-25.
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Verhalten der ersten und zweiten Generation als, wenn auch ehrenwert, so doch auch hilflos und nicht zielführend beurteilt wird. Sowohl Suheir Hammad als auch Sohel sind Angehörige der dritten Generation, die eine aufgewachsen in Jordanien und Amerika, der andere als ein 48er in Israel. Die Abgrenzung scheint für beide nicht möglich. Die in Jordanien geborene Palästinenserin spürt die Last des Verlusts, den ihre Vorfahren erfuhren und formuliert ihren Verdruss über den ohnmächtigen Dauerzustand des palästinensischen Leidens, welcher die im Exil geborenen Nachkommen der Nakba-Generation von klein auf begleitet. Sohel als 48er sieht es, wie viele seiner Generation, als seine Pflicht an, in die Heimat zurückzukehren und die Geschicke der Palästinenser mitzugestalten. Er kann aufgrund seines israelischen Passes zurückkehren und hat damit das Recht auf Rückkehr, welches den Exilanten größtenteils verwehrt bleibt. Dieses Privileg gegenüber den Exil-Palästinensern in den arabischen Ländern verstärkt das Gefühl der Verpflichtung zur Rückkehr und zum Einsatz für die palästinensischen Interessen. Denn auch die dritte Generation erlebt die Vorurteile, die gegenüber den 48ern im arabischen Raum existierten und noch existieren. Der Vorwurf der Kollaboration und des Verrats halten sich hartnäckig und wie in den Interviews geschildert wurde, ist es den Interviewpartnern ein Anliegen, diese Vorurteile zu widerlegen und über die 48er und deren Situation innerhalb Israels aufzuklären. Der Umgang der Interviewpartner mit den familiären und gesellschaftlichen Erwartungen an Rückkehr und Engagement ist unterschiedlich, das Gros gerade der 48er kann sich dem Gefühl der Verpflichtung aber nicht entziehen. Viele von ihnen sind nach dem Studienabschluss zurückgekehrt, aus Gründen der Loyalität, oder weil es ihnen nicht gelungen ist, im Ausland Fuß zu fassen und eine Balance zwischen dem Verpflichtungsgefühl gegenüber der Heimat und den veränderten eigenen Bedürfnissen zu schaffen. Wie Khaled resigniert in seinem Interview konstatierte: „Keiner kann so frei sein, zu sagen: ‚Ich bleibe in Deutschland, einfach weil es mir hier gefällt‘“, auch er ist inzwischen
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nach Israel zurückgekehrt. Die dritte Generation ist in hohem Maße beeinflusst von den prägenden Erlebnissen ihrer Großeltern und Eltern durch die Nakba und steht unter dem Druck, sich diesen traumatischen Erfahrungen, die vor ihrer Geburt stattfanden und deren Auswirkungen sich ihrer Kontrolle entziehen, entsprechend zu engagieren.6 Die Haltung der dritten Generation zur ersten und auch zur zweiten Generation ist geprägt von dem verbreiteten Topos der hilflosen und naiven Vorfahren, größtenteils Bauern, die sich weder wehren, noch die Situation und deren Folgen im Jahr 1948 überblicken konnten. Dieses Bild ist in Israel, der Westbank und dem Gazastreifen verbreitet, es wurde in den Interviews häufig beschrieben. Und auch in den arabischen Aufnahmeländern haben die Angehörigen der dritten Generation ein ähnliches Bild von ihren Vorfahren verinnerlicht.7 Im Zusammenhang mit dieser Deutung eines von Hilflosigkeit und Naivität aufgrund von Analphabetentum und geringer Ausbildung geprägten eingeschränkten Handlungsspielraums der Nakba-Generation hat Bildung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft eine hohe Bedeutung. Mehrfach wurden in den Interviews die jährlich im Regionalfernsehen und den Zeitungen veröffentlichten Listen und Feiern der besten Abiturienten geschildert. Die erfolgreiche Ausbildung und der
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„To grow up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are displaced by the stories of a previous generation, shaped by traumatic events that they can neither understand nor recreate“, beschreibt Marianne Hirsch das Verhältnis der nachfolgenden Generationen zu und auch gegenüber der Macht der Erfahrungen und auch der Hilflosigkeit der vorangegangenen Generationen am Beispiel von Nachkommen von Holocaustüberlebenden. Hirsch, Marianne: Projected Memory, zitiert in: Sa’di/Abu-Lughod: Nakba, S. 21.
7
Sabine Damir-Geilsdorf beschreibt diese Wahrnehmung der vorangegangenen Generationen unter Palästinensern der dritten Generation in ihrer Untersuchung anhand von Interviews mit Palästinensern in Jordanien und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 278.
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respektable Berufsstand haben auch für die Interviewpartner eine große Relevanz. Der selbst erreichte akademische Grad verleiht ihnen Selbstbewusstsein und bietet die Möglichkeit, sich von den als naiv empfundenen Vorfahren abzugrenzen. Bildung wird hier als Instrument eines wirksamen Widerstands, als politische Waffe verstanden. Auch deshalb gilt es, gut ausgebildet zurückzukehren und nicht im Ausland zu bleiben, wie Sohel betont: „Wenn jeder ins Ausland geht und da bleibt, wer soll dann bei uns bleiben? Bauarbeiter? Bauer? Die können NIX machen, also mit allem Respekt für die, aber an der Politik können sie nichts ändern.“ Der Großteil der Interviewpartner studierte Medizin, der Beruf des Arztes genießt hohes Ansehen. Gleichzeitig wurden aber auch der große Erwartungsdruck und das veränderte Verhalten des ursprünglichen Umfelds beschrieben, die den zurückkehrenden Ärzten begegnen. An die Interviewpartner aus dem Gazastreifen und der Westbank wird nicht die gleiche Erwartungshaltung an die Rückkehr nach dem Studium gestellt, wie es bei den 48ern der Fall ist. Das wird vorrangig in den schlechteren Lebensbedingungen in den Palästinensergebieten, vor allen Dingen im Gazastreifen begründet liegen. Gleichzeitig fielen in den Interviews die Schuldgefühle auf, die das bessere und friedlichere Leben im Ausland verursachen. Eine emotionale Abgrenzung gelingt auch den Gesprächspartnern aus dem Gazastreifen und der Westbank nur schwer, gerade in Zeiten militärischer Auseinandersetzungen mit Israel wird die Distanz als schwer erträglich beschrieben. Ein Versuch, der Zerrissenheit zu begegnen, die viele der Interviewpartner nach dem langen Auslandsaufenthalt im Konflikt zwischen gesellschaftlicher Erwartung und individuellem Bedürfnis empfinden, findet sich in dem Lebensentwurf des Weltbürgers. Dieser entscheidet sich gegen ein Heimatland, legt sich bewusst nicht fest und wählt für sich die Welt als Heimat. Aber auch diese Haltung schützt nicht vor dem Gewicht der Nakba beziehungsweise der ungelösten Kadya filastin.
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Die Bedeutung der Nakba ist vielfältig und ihre Wirkung reicht bis in die Gegenwart. Im kollektiven und im individuellen Bewusstsein dauert die Nakba an und darf auch nicht als abgeschlossen empfunden werden, bedeutete dies im palästinensischen Verständnis doch die Aufgabe des Widerstands, eine Akzeptanz des Status Quo und damit die Kapitulation im Konflikt. So gilt sie als Startpunkt der palästinensischen Zeitgeschichte und ist damit Schlüsselereignis, sowohl des palästinensischen Selbstverständnisses als auch des Widerstands.8 Mit diesem Aktualitätsbezug einhergehend werden auch gegenwärtige Erfahrungen von Diskriminierung oder persönliches Scheitern mit der Nakba in Verbindung gebracht und sie als ursächlich für die individuelle Biografie gewählt. Und auch die aktuelle israelische Politik im Zusammenhang mit dem Konflikt mit den Palästinensern wird als eine Weiterführung der Nakba interpretiert. „The Trauma of the Nakba continues. […] Today the Nakba continues through the politics of denial “ schreibt der Wissenschaftler Nur Marsalha und argumentiert ebenfalls, bezogen auf die gegenwärtige Situation des Nahostkonflikts, mit einer andauernden Nakba.9 Die Nakba ist außerdem identitätsstiftend und hat homogenisierende Wirkung für die in Israel, der Westbank, dem Gazastreifen und in den umliegenden arabischen Ländern oder anderswo im Exil lebenden Palästinenser. Sie ersetzt damit gleichermaßen den fehlenden nationalen
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„The Nakba is often reckoned as the beginning of contemporary Palestinian history, a history of catastrophe, changes, violent suppression and refusal disappear. It is the focal point for what might be Palestinian time.“ Sa’di/Abu-Lughod: Nakba, S. 5.
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„Today the Trauma of the Nakba continues: the ongoing forced displacement of Palestinians caused by Israeli colonization of the West Bank, land confiscation, continued closures and invasions, de facto annexion facilitated by Israel’s 730-kilometre ‚apartheid wall‘ in the occupied West Bank.“ Masalha: Palestine Nakba, S. 254.
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oder staatlichen Zusammengehörigkeitsfaktor.10 Sie verbindet die Generationen und bietet den Rahmen für die Verbindlichkeit der kollektiven palästinensischen Identitätskonstruktion. Der Topos Nakba bietet die Erklärung für die Empfindungen von Verlust, Exilerfahrung, Entfremdung, Unglück, Sehnsucht, Wut und Ohnmacht gegenüber der gegenwärtigen politischen Situation. Die Nakba ist damit auch Maßstab des palästinensischen Leides. Dem Leiden kommt innerhalb des palästinensischen und auch innerhalb des jüdisch-israelischen Diskurses eine große Bedeutung zu. Das jüdische Leid aufgrund des Holocausts wird von palästinensischer Seite als eine Art Grundmaß des Leides interpretiert. Auch die Wahl des Begriffs Al Nakba als die Katastrophe, die semantisch mehr auf eine schicksalhafte Naturgewalt als auf einen von Menschen ausgetragenen Konflikt hinweist, orientiert sich an dem Begriff der Shoah. Auf die Nachfrage nach der Notwendigkeit dieses Vergleichs, wurde in den Interviews die Begründung genannt, auf diese Weise auf das palästinensische Leid hinweisen und beim Gegenüber dessen Anerkennung erreichen zu können. Mehrfach wurde auf andere Opfergruppen, wie Sinti und Roma oder auch Homosexuelle, der Nationalsozialisten hingewiesen. Auch diese Verweise rührten aber nicht aus dem Versuch, das jüdische Leid in Frage zu stellen, keiner der Interviewpartner versuchte, den Holocaust und dessen Ausmaß in Zweifel zu ziehen, sondern aus dem Bemühen, neben diesem in Israel und auch in Deutschland eine Anerkennung des palästinensischen Leides zu erreichen. Die Anerkennung des Leids wird als eine Anerkennung des Rechts auf Existenz interpretiert und hat aus diesem Grund große Bedeutung. Insofern sollte der von palästinensischer Seite angestrebte Vergleich der Nakba mit der Shoah nicht fälschlich als der Versuch einer Holocaustleugnung, sondern als das missglücktes Bemühen um Anerkennung der palästinensischen Ka-
10 „When the nation remains a vision, not a territorial-institutional reality, remembering a unified national past is an urgent task.“ Swedenburg, Ted: Popular Memory, zitiert in: Damir-Geilsdorf: Nakba Erinnern, S. 12.
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tastrophe durch das Herstellen des Bezugs zur jüdischen Shoah verstanden werden. Sabine Damir-Geilsdorf nennt Faktoren, die ihr zufolge die Relevanz der Nakba und ihr Sinnstiftungspotential innerhalb der palästinensischen Gesellschaft in Jordanien definieren. „Politische Zugehörigkeiten und Identifikationen, aber auch der Grad der Integration in die Aufnahmegesellschaft – bei Palästinensern im arabischen Ausland – sowie der zeitliche Abstand und die persönliche Involvierung in die Geschichte“ sind für sie die Gradmesser der Intensität und Bedeutungsmacht der Nakba-Erinnerungen.11 Darüber hinaus gehend möchte ich aber die Bedeutung der geerbten Erinnerungen stärker betonen, die es den Angehörigen der nachfolgenden Generationen unmöglich machen, sich der Macht der Nakba zu entziehen. Dies meint sowohl eine geerbte als auch eine vom Umfeld erwartete persönliche Identifikation mit der Nakba, die neben den Erzählungen mit den eigenen Erfahrungen von Diskriminierung, Ohnmacht oder Misserfolg verknüpft und so zum eigenen aktualisierten Nakba-Narrativ wird. So wird im Dreiklang von tradierter Nakba-Erinnerung, der Kadya filastin und eigener „Nakba-Erfahrung“ die Relevanz, sowohl des zu erinnernden Erbes als auch des Konflikts und des Widerstandsgedankens aufrecht erhalten und für die folgenden Generationen konserviert. Würde eines Tages eine Lösung des Nahostkonflikts gefunden, mit der die Palästinenser sich identifizieren könnten, würden auch die Nakba und die Geschehnisse des Krieges von 1948 verarbeitet werden. So lange es diese Lösung nicht gibt, wird die Nakba erinnert, reaktiviert, aktualisiert und damit sinnstiftendes Meisternarrativ des palästinensischen Diskurses bleiben und so weiterhin sowohl die kollektive als auch die individuelle Identitätskonstruktion und das palästinensische Selbstbild in starkem Maße beeinflussen. Aus diesem Grund lassen sich auch die eingangs zitierten von Aleida Assmann definierten Zeit-
11 Damir-Geilsdorf: Nakba erinnern, S. 271.
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kategorien und deren Trennschärfe nicht auf die Nakba und die Kadya filastin anwenden und müssen in ihrer Absolutheit hinterfragt werden. Im Falle der 48er kommen zu der intergenerationellen Weitergabe der Erinnerungen an die Nakba die Orte als Erinnerungsräume hinzu. Die Besuche der ehemaligen Dörfer und die Spurensuche mit den Augenzeugen der ersten Generation verstärken die Bindung an die Familiengeschichte und das Verpflichtungsgefühl gegenüber dem Einsatz für die palästinensischen Interessen. Die wiederholten Besuche sind nicht an die erste Generation gebunden, es gilt für die dritte Generation die Erzählungen weiterzugeben und auch mit den eigenen Kindern die Orte aufzusuchen und die Erinnerungen an die Nakba wachzuhalten. Die Rolle der 48er ist in mehrfacher Hinsicht eine spezielle. Die in Israel lebenden Palästinenser stehen im Spannungsfeld zwischen Partizipation in Israel und der Unterstützung der palästinensischen Interessen. Die nachhaltige Wirkung des Vorwurfs der Kollaboration an die 48er wurde in den Interviews deutlich. Der Drang, sich zu rechtfertigen, macht sich auch in der Identitätskonstruktion bemerkbar, die ebenfalls von diesem Konflikt beeinflusst ist, so dass das geschilderte Selbstbild mitunter konstruierter und bewusster gewählt und präsentiert scheint. Wiederholt wurden Begründungen und Beweise für das politische Engagement genannt oder der Verbleib innerhalb Israels im Jahre 1948, der als Verrat vorgeworfen wurde, in seiner Deutung umgekehrt und als Beleg besonderer Tapferkeit und einer ausgeprägten palästinensischen Identität präsentiert. Das Selbstbild der 48er ist aufgrund ihrer israelischen Staatsbürgerschaft fragiler und komplizierter. Das deutlich selbstbewusstere Identitätskonstrukt der Interviewpartner aus der Westbank und dem Gazastreifen verdeutlicht den Kontrast zu der Unsicherheit der 48er noch einmal mehr, wenn zum Beispiel Yassin aus dem Gazastreifen betont: „Palästinenser bin ich von der Sohle bis zum Scheitel und daran wird sich nichts ändern.“ Der Auseinandersetzung mit der Rolle als Palästinenser innerhalb Israels und den Konflikten, die aus diesem Spannungsfeld entstehen, muss er sich nicht stellen.
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Die Journalistin Jo Roberts kommt in ihrer Interviewstudie zu dem Ergebnis, dass sich ein Großteil der palästinensischen Israelis der dritten Generation stark über ihre israelische Nationalität definiert und ihr Interesse vorrangig der Gleichberechtigung in Israel und weniger dem palästinensischen Bestreben nach einem eigenen Staat und der Zugehörigkeit zu diesem gelte.12 Auch wenn der Lebensstandard innerhalb Israels besser ist als der in den autonomen Gebieten und dem Gazastreifen, würde keiner meiner Gesprächspartner sich so deutlich von dem palästinensischen Bestreben nach einem eigenen Staat lossagen. Gleichermaßen würde auch keiner den Wunsch äußern, morgen in den Gazastreifen ziehen zu können. Der Politikwissenschaftler Hillel Frisch beschreibt den akademischen Umgang mit dieser Thematik in Israel, in dessen Debatten für die Entwicklung der palästinensischen Israelis entweder der Weg der Politisierung oder der der Radikalisierung genannt wurde. Politisierung meint hier die zunehmende Partizipation an Wahlen innerhalb Israels, Radikalisierung hingegen die Unterstützung der Palästinenser der Westbank oder des Gazastreifens im Zusammenhang mit der zweiten Intifada oder den regelmäßigen Protesten am Tag der Staatsgründung Israels, der ja einen Tag vor dem Tag der Nakba begangen wird. Frisch konstatiert in dem Artikel aus dem Jahr 2003 einerseits eine Entwicklung des politischen Engagements der palästinensischen Israelis vom Protest zur strategischen Wahlbeteiligung und andererseits ihr Verhalten während der Intifada als bloße Solidaritätsbekundung, aber nicht als engagierte Partizipation.13
12 „Despite their outsider status, most second and third-generation Palestinian Israelis, even those who feel a deep connection with their Palestinian identity, feel increasingly comfortable with their identity as Israeli citizens, and […] they want to be recognized as equals, not to be part of a Palestinian State.“ Roberts: Contested Land, S. 205. 13 Frisch, Hillel: Ethnicity or Nationalism? Comparing the Nakba Narrative among Israeli Arabs and Palestinians in the West Bank and Gaza, in: Bligh: The Israeli Palestinians, S. 165 und S. 168.
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Der Soziolinguist Muhammad Amara stellt im gleichen Jahr Forschungsergebnisse vor, die bezeugen, dass nur sehr wenige der 48er sich selbst als Israelis bezeichnen würden und beschreibt eine steigende Tendenz ihrer Selbstverortung innerhalb der kollektiven palästinensischen Identitätskonstruktion.14 Die Schilderungen der Interviewpartner unterstützen sowohl die Aussagen von Amara als auch die von Frisch. Es ist notwendig, diese Unterteilung von Politisierung = Israelisierung versus Radikalisierung = Palästinensierung zu hinterfragen. Die Angehörigen der dritten Generation positionieren und verorten sich explizit als Palästinenser, keiner bezeichnet sich als Israeli, gleichzeitig streben sie eine Veränderung der Situation der Palästinenser durch Bildung, Information, zivilen Widerstand und politische Teilhabe an. Insofern vereinen sie sowohl die solidarische Positionierung (wie beispielsweise der von dem Verein ADRID jährlich veranstaltete „Marsch der Rückkehr“ innerhalb Israels) als auch ihre palästinensische Identität mit einem zivilen partizipativen Widerstand innerhalb Israels und sehen dieses Engagement, das einerseits die Haltung des Summud überwindet, andererseits aber keinesfalls eine Aufgabe der palästinensischen Forderungen bedeuten soll, als den Auftrag ihrer Generation an. Der palästinensischen Identität kommt innerhalb der palästinensischen Gesellschaft besondere Bedeutung zu. Wie auch die Nakba stiftet sie Gemeinschaftsgefühl und Zugehörigkeit vor dem Hintergrund einer fehlenden gemeinsamen Nationalität und – im Zusammenhang mit der Nakba – einer fehlenden offiziellen Erinnerungskultur. Muhammad Amara nennt die Identitätskonstruktion der 48er eine temporäre, die an das Andauern des Konflikts gekoppelt ist, und deren Ausrichtung deshalb eine anhaltende Vorläufigkeit aufweist. Er attestiert dieser anpassungsfähigen Identitätskonstruktion auch immanente Widersprüche. 15
14 Amara: The collective Identity, in: Bligh: The Israeli Palestinians, S. 255. 15 „The Identity repertoire of the Arabs in Israel that has developed in recent years – and that is not without contradictions – is feasible in the complex
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Die 48er sind permanent gefordert, ihre Selbstverortung als Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit anhand einer nötigen Flexibilität auszutarieren. Hier wurde in den Interviews sichtbar, dass deutlich zwischen palästinensischer Identität als Kennzeichen für Ursprung und Zugehörigkeit und der israelischen Staatsangehörigkeit vornehmlich als legitimierendes Dokument im Sinne eines Passierscheins oder eines Mitgliederausweises differenziert wird. Das Widersprüchliche dieser Identitätskonstruktion spiegelt sich zum Beispiel in der Schilderung Sohels wieder, der einerseits beschreibt, wie er als palästinensischer Israeli in den israelischen Flughafenkontrollen als Palästinenser eingeordnet und mit Misstrauen befragt wird, andererseits aber auch berichtet, dass ihm der israelische Pass in Deutschland auch ein Gefühl der Sicherheit gibt. Als Beispiele dafür nennt er den Kontakt mit der Polizei, aber auch alltägliche Vorteile, wenn er einen Nachtclub besuchen möchte und ihn der Türsteher nach dem Blick auf seinen Pass mit „Schalom“ begrüßt und ihm den Eintritt erlaubt, welcher ihm aufgrund seines arabischen Aussehens ohne den israelischen Pass vielleicht verwehrt geblieben wäre. Mit dem beschriebenen Identitätskonflikt der 48er geht die Betonung eines Exilgefühls innerhalb des Heimatlandes sowohl in der Literatur als auch im gesellschaftlichen Diskurs einher. Die Betonung des Exilstatus findet sich zum Beispiel auch in der Selbstbeschreibung von ADRID. In ihrer Darstellung im Internet weisen sie explizit auf den Status der 48er als „internally displaced“ hin und betonen, dass sie trotz der Nakba im Land geblieben sind: „We must highlight the unique position of the internally displaced who have remained in the ho-
Israeli reality, in spite of the sharp conflict between the fact that they are citizens of a country that has long been in a state of war with the Arab world of which they are an integral part. It is therefore perceived as temporary, until a permanent solution is found for the Arab-Israeli conflict.“ Amara: The collective Identity, in: Bligh: The Israeli Palestinians, S. 255.
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meland.“16 Auch innerhalb dieser Organisation prägt das Bedürfnis nach Anerkennung ihrer Rolle innerhalb Israels und dem Abbau der Vorurteile gegenüber den 48ern die Selbstdarstellung. Sie schildern weitergehend die Schwierigkeiten der 48er aufgrund ihres Status in Israel.17 Und auch hier wird anschließend noch einmal die Langlebigkeit und Widerstandskraft der palästinensischen Erinnerungen der NakbaGeneration betont: „These people share common memories of their towns and villages of origin, memories which have withstood time and the policies of ethnic discrimination directed against the Palestinian Arab minority.“18 Das Erinnern an die Nakba und auch an das sogenannte PräPalästina19 ist in diesem Zusammenhang auch für das fragile und – wie von Amara betonte – immer temporäre Identitätskonstrukt der 48er bedeutsam. Folgt man der Deutung des Konzepts der biografischen Identität nach Michael Jungert, dass Erinnerung nicht nur indikativer, sondern ebenso konstitutiver Einflussfaktor für die Identitätskonstruktion ist,20 so wird die große Bedeutung des aktiven Erinnerns und des intergenerationellen Erzählens innerhalb der palästinensischen Gesellschaften, vor allem innerhalb der sogenannten 48er, noch einmal deutlich.
16 www.divestmentwatch.com/NewsStories/BodyShop-ADRID-001.pdf
am
10.05.2018. 17 „The Israeli authorities deal with us as Israeli citizens, and apply Israeli laws to us. Yet, at the same time, we are subject to ethnic discrimination policies, despite this citizen status, and our rights as citizens are no equal to those of other Israeli citizens.“ Zitiert aus der ADRID-Selbstdarstellung: www.divestmentwatch.com/NewsStories/BodyShop-ADRID-001.pdf
am
10.05.2018. 18 www.divestmentwatch.com/NewsStories/BodyShop-ADRID-001.pdf
am
10.05.2018. 19 Prä-Palästina meint im arabischen Diskurs das Palästina vor der Entstehung Israels im Jahre 1948. 20 Jungert: Personen und ihre Vergangenheit, S. 207.
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Das Erinnern an das Sehnsuchtsland Prä-Palästina und an die Nakba ist demnach konstitutiv für die palästinensische Identitätskonstruktion. Und so ist die Nakba selbst und das palästinensische Leid, das an sie geknüpft ist, inzwischen grundlegender Bestandteil der palästinensischen Identitätskonstruktion. Der Widerstand gegen den Status Quo ist damit Element palästinensischer Identität, so dass auch die Aussage Yassins, die palästinensische Identität wäre die einzige, die es jedem, der sich dem palästinensischen Widerstand verpflichtet sieht, ermöglicht, Palästinenser zu sein, in diesen Kontext passt: „Das heißt, jeder ist eigentlich in der Lage, Palästinenser zu sein. […] Es gab Tausende von Menschen, die sich in den 70ern und 80ern als palästinensisch gefühlt haben und sich darüber definiert haben. Über das palästinensische Leid, als eigentlich wahre prägende Identität.“ Denn obgleich in den Interviews zunächst oft die ursprünglichen palästinensischen Traditionen, eine spezifische Kunst, Kultur und Poesie betont wurden, wird die eigene Identitätsverortung doch vor allem ausgehend von der Nakba an den Nahostkonflikt und die Kadya filastin gekoppelt. Herbert Kehlman formulierte im Jahr 1999 die notwendige Entstehung einer gemeinsamen transzendenten Identitätskonstruktion von Israelis und Palästinensern, die sich über gemeinsame Faktoren jenseits von Religion oder Konflikt definieren sollte.21 Geprägt von dem noch nahen Oslo-Abkommen und nicht ahnend, dass nur ein Jahr später die zweite Intifada ausbrechen sollte, sieht er dieses Ziel als komplex aber nicht unmöglich an. Der Gedanke einer inkludierenden übergeordneten Identitätskonstruktion von Israelis und Palästinensern scheint durchaus sinnvoll, aber inwiefern die Entstehung dieser vor dem Hintergrund der aktuellen Situation und grundsätzlich nach einem Entwurf zu etablieren ist, ist fraglich.
21 Kehlman: The interdependence of Israeli and Palestinian national identities, S. 581.
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Abschließend lassen sich die Ergebnisse der Arbeit wie folgt zusammenfassen. Die Nakba hatte und hat einen hohen Stellenwert im kollektiven und im individuellen palästinensischen Bewusstsein. Ihre Bedeutung und ihr Einfluss setzen die gängige Dauer der intergenerationellen Weitergabe von historischen Ereignissen von drei Generationen außer Kraft, und ihr anhaltender Aktualitätsbezug sprengt damit auch die klaren Zeitkategorien von Vergangenheit und Gegenwart. Die Nakba ist fester Bestandteil der palästinensischen Identitätskonstruktion und Schlüsselereignis der palästinensischen Zeitgeschichte. Jede Generation von Palästinensern sucht ihren eigenen Umgang mit dem Konflikt, die hier untersuchte dritte Generation grenzt sich von der empfundenen Hilflosigkeit der vorherigen Generationen ab und versucht, ihre Einflussmöglichkeit in einer Mischung aus zivilem Widerstand im rechtlichen Rahmen und ihrer Positionierung als Palästinenser geltend zu machen und auf Grundlage von Bildung und Ausbildung zu erweitern. Gleichzeitig bringt sie dieser Auftrag in Konflikt, da die Interessen des palästinensischen Kollektivs deutlich vor den Bedürfnissen des Individuums einzuordnen sind. Diese Unterordnung der persönlichen Interessen wird gerade für diejenigen, die einen mehrjährigen Studienaufenthalt im Ausland absolvierten, schwierig, sowohl in ihrer Zukunftsplanung als auch im alltäglichen Umgang mit dem ursprünglichen Umfeld nach der Rückkehr. Fester Bestandteil der palästinensischen Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung ist das Leid. Das kollektive palästinensische Leid aufgrund der Nakba wird in den Schilderungen verteidigt, und es wird um Anerkennung geworben. Dafür werden Bezüge zum Holocaust hergestellt, da das jüdische Leid als Maß allen Leidens wahrgenommen und von der Weltgemeinschaft anerkanntes Leid als Existenzberechtigung eingeordnet wird. Über die Bezugnahme soll nicht die nationalsozialistische Judenvernichtung angezweifelt, sondern die palästinensische Tragödie anerkannt werden. Die Rolle der sogenannten 48er ist aufgrund ihrer israelischen Staatsangehörigkeit und ihres Lebens innerhalb Israels kompliziert. Lange wurde ihnen deshalb mit Vorurteilen begegnet, und diese gilt es
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nach wie vor zu entkräften. Gleichzeitig befinden sie sich in alltäglichem Konflikt zwischen ihrer palästinensischen Identität und ihrem israelischen Pass. Es wird daher klar zwischen Identität und Herkunft und dem Pass als Ausweispapier und Passierschein differenziert. Im Vergleich fällt auf, dass die Interviewpartner aus der Westbank und dem Gazastreifen deutlich selbstbewusster und klarer in ihrer Selbstverortung als Palästinenser auftreten können. Mit der Dauer des Nahostkonflikts dauert auch die Nakba im palästinensischen Bewusstsein an, da das Erinnern und die Weitergabe der Erinnerungen als Grundlage des anhaltenden Widerstands gegen den Status Quo wahrgenommen werden. Dieses Festhalten an der Kadya filastin wird intergenerationell weitergegeben, und so lange es kein tragfähiges Lösungsmodell des Konflikts gibt, wird auch die Nakba im palästinensischen Bewusstsein andauern. Es wird sich zeigen, in welchem Maße die Angehörigen der dritten Generation mit ihrem eigenen Ansatz von zivilem Widerstand, politischer Teilhabe und dem verinnerlichten Erbe durch die Nakba ihren politischen Handlungsrahmen etablieren und erweitern werden und Einfluss auf die Zukunft des Konflikts und eine mögliche längerfristige Lösung nehmen werden.
Anhang
Abfragebogen Vorname und Familienname: ________________________________ Geburtstag: ____________
Geburtsort: _____________________
Heimatland: ___________
Staatsangehörigkeit: ______________
Beruf der Eltern: __________________________________________ Wohnort in Deutschland: ____________________ Seit wann in Deutschland: ________
Wie lange noch: ________
Studiengang/Abschluss/Beruf: _______________________________ Kontaktadresse E-Mail/Telefon: ______________________________ ________________________________________________________ Datum, Unterschrift der Interviewpartner
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Katharina Kretzschmar Adresse Telefon E-Mail Über den Umgang mit den Inhalten, Zitaten der Interviews und persönlichen Angaben der Interviewpartner Ich werde die für meine Dissertation durchgeführten, aufgenommenen und transkribierten Interviews vertraulich behandeln und in der Auswertung für die Arbeit ausschließlich anonymisiert oder mit Pseudonym verwenden. Die Transkription der Interviews erfolgt durch mich und die Inhalte werden zu keinem anderen Zweck als für die Dissertation verwendet. Die Kontaktdaten der Interviewpartner dienen nur der Zuordnung und der Kontaktmöglichkeit, sie werden nicht veröffentlicht oder weitergegeben. _________________________________________________________ Datum, Unterschrift Katharina Kretzschmar
Anhang | 199
Kurzvorstellung der Interviewpartner Khaled A. Tierarzt geboren: 1982, Nord-Israel Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 29 Jahre Berufe der Eltern: Elektriker, Hausfrau in Deutschland seit: 2003 wie lange noch:1 ? Sohel M. Zahnarzt geboren: 1986, Nord-Israel Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 26 Jahre Berufe der Eltern: Schmied, Hausfrau in Deutschland seit: 2005 wie lange noch: 2 Jahre Jaber K. Zahnarzt geboren: 1982, Nord-Israel, Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 31 Jahre Berufe der Eltern: Bauunternehmer, Hausfrau in Deutschland seit: 2002 wie lange noch: 2 Monate
1
Die Frage zur weiteren Dauer des Aufenthalts wurde außer von zwei Gesprächspartnern, die sich in einem klar begrenzten Auslandsaufenthalt befanden, in der Regel nicht beantwortet, oder die Antworten vage gehalten.
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Zidane Y. Arzt geboren: 1982, Nord-Israel Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 33 Jahre Berufe der Eltern: Lehrer in Deutschland seit: 2005 wie lange noch: Momen M. Zahnarzt geboren: 1982, Nord-Israel Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 33 Jahre Berufe der Eltern: in Deutschland seit: wie lange noch: Khamis K. Regisseur geboren: 1972, Zentral-Israel Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 40 Jahre Berufe der Eltern: Arbeiter in Deutschland seit: 1999 wie lange noch: Adel A. Journalist geboren: 1987, Negev Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 25 Jahre Berufe der Eltern: Lehrer und Verkäuferin in Deutschland seit: 5 Monaten (Praktikum) wie lange noch: 1 Monat
Anhang | 201
Tarek A. Arzt geboren: 1985, Nord-Israel Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 27 Jahre Berufe der Eltern: Steuerberater und Lehrerin in Deutschland seit: 2006 wie lange noch: ! Radi M. Sozialarbeiter, Lehrer geboren: 1988, Nord-Israel Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 24 Jahre Berufe der Eltern: Bäcker in Deutschland seit: 6 Monaten (Auslandsjahr) wie lange noch: 5 Monate Yassin Q. Arzt geboren: 1984, Gazastreifen Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 27 Jahre Berufe der Eltern: Handwerker, Hausfrau in Deutschland seit: 2003 wie lange noch: „weiß nicht“ Wael W. Arzt geboren: 1983, Gazastreifen Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 32 Jahre Berufe der Eltern: Handwerker, Hausfrau in Deutschland seit: 2002 wie lange noch: -
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Adnan N. Arzt geboren: 1969, Gazastreifen Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 42 Jahre Berufe der Eltern: Händler, Hausfrau in Deutschland seit: 1988 wie lange noch: Tamim I. Arzt geboren: 1982, Gazastreifen Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 34 Jahre Berufe der Eltern: Betriebswirt, Hausfrau in Deutschland seit: 2012 wie lange noch: ?? Fouad F. Grafiker geboren: 1978, Jerusalem Alter zum Zeitpunkt des Interviews: 38 Jahre Berufe der Eltern: Geschäftsmann, Hausfrau in Deutschland seit: 2002 wie lange noch: -
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Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
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