Ich hieß Sabina Spielrein: Von einer, die auszog, Heilung zu suchen. Wissenschaftliche Aufsätze 9783666462160, 3525462166, 9783525462164


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German Pages [144] Year 2006

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Ich hieß Sabina Spielrein: Von einer, die auszog, Heilung zu suchen. Wissenschaftliche Aufsätze
 9783666462160, 3525462166, 9783525462164

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André Karger / Christoph Weismüller (Hg.)

Ich hieß Sabina Spielrein Von einer, die auszog, Heilung zu suchen

Mit 6 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-46216-6 ISBN 13: 978-3-525-46216-4

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Inhalt

Inhalt

André Karger und Christoph Weismüller Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Magnus Ljunggren Sabina und Isaak Spielrein . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Nitzschke Das magische Dreieck – Sabina Spielrein, Carl Gustav Jung, Otto Gross. Ein Bericht aus der Frühgeschichte der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marie J. Santiago-Delefosse und Jean-Marie Odéric Delefosse Spielrein, Piaget und Wygotski. Drei Positionen zur Entwicklung von Kognition und Sprache im Kindesalter

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Josiane Chambrier Sabina Spielrein (1912): Die Destruktion als Ursache des Werdens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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André Karger Sexueller Übergriff und Übertragung. Anmerkungen zu dem »Fall« Spielrein-Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Weismüller »Zu neuen Thaten, theurer Helde«. Zum Verhältnis von Heldentum und Weiblichkeit: Sabina Spielrein in den Fesseln des »Siegfried« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Anhang Sabina Spielrein: Biographische Übersicht . . . . . . . . . 135 Die Autorinnen und Autoren André Karger und Christoph Weismüller . . . . . . . . . . 139

André Karger und Christoph Weismüller Einleitung

André Karger und Christoph Weismüller

Einleitung

»Letzter Wille Wenn ich sterbe, erlaube ich nur den Kopf anatomieren, wenn er nicht zu hässlich aussieht. Der Jüngling darf nicht bei der Section sein . . . Meinen Schädel widme ich unserem Gymnasium . . . Mein Gehirn gebe ich ihnen . . . den Körper soll man verbrennen . . . Die Asche machen sie in 3 Teile. Einen legen sie in eine Urne und schicken sie nach Hause, den anderen streuen sie in die Erde . . . pflanzen sie dort eine Eiche und schreiben sie: ›ich war auch einmal ein Mensch. Ich hiess Sabina Spielrein. Was mit den dritten Teil tun, sagt ihnen der Bruder‹« (zit. n. Minder 1994). Beilage in den Krankenakten von Sabina Spielrein

1980 wurden bis dahin unbekannte Dokumente, Teile der in den Archiven der Familie de Morsier in Genf erhalten gebliebenen Tagebücher, Briefe, Notizen und Arbeiten der Psychoanalytikerin Sabina Spielrein (1885–1942), von dem Jungianer Aldo Carotenuto veröffentlicht, welche Sabina Spielrein dem Vergessen der psychoanalytischen Historiographie enthoben (vgl. Carotenuto 1986). Dabei stand – neben dem schmalen Œuvre (vgl. AllainDupré 2004), welches sie hinterließ, und der ungewöhnlichen Lebensgeschichte einer russischen Jüdin, die zunächst wegen einer schweren Hysterie in der psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich von Carl Gustav Jung behandelt und später selbst eine anerkannte Psychoanalytikerin wurde, die persönlichen Kontakt zu Sigmund Freud pflegte und Aufnahme in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung fand – zunächst vor allem die Beziehung zu Carl Gustav Jung im Zentrum des wissenschaftlichen und feuilletonistischen Interesses. Nicht zuletzt durch den Einblick in die intimen Tagebuchaufzeichnungen und Briefkorresponden-

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André Karger und Christoph Weismüller

zen eröffnete sich das facettenreiche Panorama einer Beziehung, die einseitig zum exemplarischen »Fall« von Grenzüberschreitungen in der psychotherapeutischen Situation gemacht wurde. In den letzten Jahren gewann jedoch die Beschäftigung mit der Person Sabina Spielrein und ihrem Werk zunehmend an Bedeutung. Die Faszination, welche von Sabina Spielrein ausgeht, ist bis heute ungebrochen. Immer wieder erscheinen neue Dokumente und Arbeiten (vgl. beispielsweise Volkmann-Raue 2002; Covington 2003; Möller et al. 2003), die Episoden ihres Lebens um Details anreichern und neuen Interpretationen zugänglich machen. Ihre Tagebücher und Briefe wurden neu herausgegeben (Hensch 2003). Ihr Leben ist Sujet von Filmen (vgl. Marton 2002)1 und Theaterstücken (Hampton 2002). Jüngst ist eine umfassende Biographie erschienen (vgl. Richebächer 2005). Rezeptionsgeschichtlich können drei Deutungsmuster unterschieden werden, die bisweilen große Überschneidungen aufweisen. In einer vornehmlich psychoanalytischen Lesart wird anhand der Beziehung zwischen Spielrein und Jung das Problem von Übergriffen in der Psychotherapie diskutiert. Hier erscheint Spielrein – meist in einer Opfer-Täter-Dialektik – entweder als »Missbrauchsopfer« (vgl. beispielsweise von Petersdorff 2003) männlicher Komplizenschaft zwischen Jung und Freud oder als eine durch Opferrollenzuschreibung Stigmatisierte (vgl. beispielsweise Lothane 2001a; Nitzschke 1988). Dagegen steht in einer feministischen Lesart Spielreins gesamte Biographie im Vordergrund. Diese wird als prototypischer »Entwicklungsroman« einer intelligenten Frau verstanden, die in einer von Männern dominierten westlichen Gesellschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts versucht, eine ihr gemäße Stellung und wissenschaftliche Anerkennung zu erlangen, aber an den repressiven Verhältnissen und Rollenzuschreibungen scheitert. In einem dritten Deutungsmuster stehen nicht verfahrenstechnische Probleme der Psychothe1 Die Uraufführung des Autorenfilms »Ich hieß Sabina Spielrein« fand am

27.4.2002 im Filmmuseum Düsseldorf statt. Die Veranstaltung wurde von »Psychoanalyse und Philosophie e. V.« und dem Filmmuseum der Stadt Düsseldorf organisiert und von einem Symposium begleitet.

Einleitung

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rapie, die Täter-Opfer-Frage oder das Geschlechterverhältnis, sondern die historisch-zeitgeschichtliche Dimension im Vordergrund. In dieser Lesart ist Spielreins Leben mit seinen Diskontinuitäten und Gegensätzen (jüdisch-christlich, bürgerlich-sozialistisch, Ost-West) sowie seinem schicksalhaften Ende an der Epochenschwelle zur Nachmoderne prototypisch für diesen zeitgeschichtlichen Übergang (vgl. Ljunggren in diesem Buch). Bereits die Synopsis der Deutungsmuster lässt den Schluss zu, dass sich die Faszination, die Sabina Spielrein ausübt, keineswegs allein aus deren Werk erklären lässt, sondern hierfür anderes namhaft zu machen ist. Typologisch lassen sich dabei folgende Elemente der Faszination unterscheiden, die sich wesentlich mit der Person – oder genauer noch: mit dem Körper verknüpfen. Wie muss ein solcher Körper beschaffen sein, damit er fasziniert? Ein wichtiges Element ist dabei das gegensätzlich aufeinander Bezogene, das von dem Begehren getragen ist, die Gegensätze miteinander zu versöhnen: ausländische Psychiatriepatientin und international anerkannte Ärztin und Psychoanalytikerin, Mutter zweier Kinder und emanzipierte Wissenschaftlerin, Patientin und Schülerin von Jung und später Jungs Inspirationsquelle und therapeutisch-beratende Freundin; russische Jüdin und Bewunderin der christlichen Kultur, die Freundschaft zu Jung und intellektuelle Nähe zu Freud. Ein weiteres Element der Faszination ist das Ortlose. Lang ist die Liste der Orte, an denen Spielrein sich aufgehalten hat, ohne dass einer der Orte die rastlose Reisetätigkeit beendet hat und zur Heimat geworden ist. Es gibt kein Anoder Zurückkommen: überall ist nirgendwo. Dann ist da das Schicksalhafte. Es handelt sich um eine Person, die ihr Schicksal schon in ihren frühen Tagträumen und Phantasien vorwegnimmt und welches sich auf unheimliche Weise realisiert, denkt man beispielsweise an den »Letzten Willen«, der sich bei den Krankenakten im Burghölzli fand. Sind Schädel und Gehirn, die einzig gegenüber dem zu verbrennenden Körper Bestand haben, denn nichts anderes als der hinterlassene Koffer mit Tagebüchern, Notizen und Briefen in dem Keller in Genf mit der Verheißung eines geheimen Wissens? Und schließlich treffen wir zentral auf die Obszönität des weiblichen Körpers. Sicherlich gibt

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André Karger und Christoph Weismüller

es viele Frauen in dieser Zeit, die in bedeutsamen intellektuellen Zirkeln verkehren (innerhalb der Psychoanalyse denke man beispielsweise an Marie Bonaparte oder an Anna Freud). Aber die Nähe zum männlichen Wissen hat bei Spielrein eine ganz andere Qualität. Hören wir die Namen bekannter Männer wie Freud, Jung, Piaget, Wygotski oder Lurija, so wird deren Verbindung zu Spielrein sogleich eingefärbt durch die Ahnung um die besondere Leidenschaft einer Frau, von der wir durch die intimen Aufzeichnungen der Tagebücher und Briefe Kenntnis haben. Nehmen wir die Elemente – das gegensätzlich aufeinander Bezogene, das Ortlose, das Schicksalhafte und die Obszönität des weiblichen Körpers – zusammen, so gelangen wir zu der Faszination, deren Objekt die Hysterie ist. Bleibt bei aller aufregenden und aufgeregten Beschäftigung mit Sabina Spielrein auch deshalb so etwas wie eine Leere, ein Rest, eine Lücke, die sich nicht füllen lässt? Vielleicht sollten wir uns nicht so sehr bemühen, diese Leere unaufhörlich substantiieren zu wollen, indem wir Spielrein als Opfer, als Nicht-Opfer oder als Urheberin der Todestriebtheorie darzustellen versuchen. Stattdessen könnten wir bei der Hysterie selbst in die Lehre gehen und verstehen lernen, was es heißt, dieser Versuchung, diesem Begehren nachzugehen, welches zuletzt immer ein tödliches und ein tötendes ist. Die in diesem Buch versammelten Beiträge versuchen in diesem Sinne nicht, die genannten Deutungsmuster festzuschreiben, sondern Differenzierungen in diese einzutragen und bisher vernachlässigten Aspekten Geltung zu verschaffen. Der Slawist und Historiker Magnus Ljunggren (Göteborg) gibt einen kurzen biographischen Überblick. Hierbei finden erstmals die Geschichte der Familie Spielrein in der Zeit nach der russischen Oktoberrevolution und die Rolle der jüdischen Herkunft eine angemessene Berücksichtigung. Ljunggren gebührt das Verdienst, in russischen Archiven recherchiert und mit noch lebenden Angehörigen von Sabina Spielrein gesprochen zu haben. Ihm verdanken wir wichtige Informationen über den familiären Hintergrund von Sabina Spielrein. In seinem Beitrag »Sabina und Isaak Spielrein« parallelisiert er die Lebensgeschichten von Sabina und Isaak Spielrein und deutet diese als unterschiedliche Reaktions-

Einleitung

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und Bewältigungsversuche auf eine repressive väterliche Autorität und eine konflikthafte jüdische Herkunft. Im Fall von Sabina Spielrein bestand das emanzipatorische Aufbegehren, die Utopie einer Befreiung in der Hinwendung zur Psychoanalyse, im Fall von Isaak Spielrein war es das Engagement in der russischen Revolution. Eine weitere historische Facette beleuchtet der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke (Düsseldorf) in seinem Beitrag »Das magische Dreieck – Sabina Spielrein, Carl Gustav Jung und Otto Gross«. Nitzschke arbeitet die Bedeutung der Bekanntschaft von Jung mit Otto Gross heraus, einem Psychiater, Psychoanalytiker, Anarchisten und Sexualimmoralisten, der sich 1908 von Jung im Burghölzli wegen seiner Morphinsucht behandeln ließ. Unter dem Einfluss von Gross’ libertinären Ansichten dürfte sich Jungs innerer sexueller Konflikt noch intensiviert und eine entsprechende Abwehr provoziert haben, die die brüske Distanzierung zu Spielrein im Jahr 1909 mit bedingt hat. Einem bisher wenig beachteten Bereich der Arbeiten von Sabina Spielrein widmen sich die Psychologen Marie J. SantiagoDelefosse und Jean-Marie Odéric Delefosse (Lausanne) mit ihrem Beitrag »Spielrein, Piaget und Wygotski. Drei Positionen zur Entwicklung von Kognition und Sprache im Kindesalter«. Entlang den biographischen Begegnungen mit Piaget in Genf einerseits und mit Wygotski in Moskau andererseits wird die Bedeutung Spielreins für die sprachpsychologische Theorie dieser beiden bedeutenden Psychologen herausgestellt. Die Psychoanalytikerin Josiane Chambrier (Paris) gibt eine Einführung in Sabina Spielreins bedeutsamste Arbeit »Die Destruktion als Ursache des Werdens« (1912) und kennzeichnet ihre Bedeutung für Freuds Todestriebtheorie und das Freud’sche Denken. Sie räumt dabei Spielrein das Verdienst ein, als eine der ersten Analytikerinnen ein Jenseits des Lustprinzips auszumessen und der Ahnung Ausdruck zu verleihen, dass paradoxerweise gerade das eigene Opfer (und das des anderen) erforderlich ist, um das Objekt zu finden. Die Diskussion um das Problem des Übergriffs in der therapeutischen und nach-therapeutischen Beziehung zwischen Sabi-

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André Karger und Christoph Weismüller

na Spielrein und Carl Gustav Jung nimmt der Psychoanalytiker André Karger (Düsseldorf) zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen im Beitrag »Sexueller Übergriff und Übertragung«. Bei Spielrein und Jung wird exemplarisch zum Problem, wie die Übertragung in der Psychoanalyse in Bezug auf die Übertretung, die im Extrem den so genannten Missbrauch impliziert, zu denken ist. Sowohl der Wunsch im Sinne Freuds oder das Begehren im Sinne Lacans sind als die Übertragung generierende Größen fundamental; das heißt, sie sind von sich aus grenzüberschreitend und damit für die Relation zum anderen konstitutiv. Das in den Briefen Sabina Spielreins an Jung hartnäckig wiederkehrende und sich auf Richard Wagners »Ring des Nibelungen« beziehende Siegfried-Motiv nimmt der Philosoph Christoph Weismüller (Düsseldorf ) auf, um nach dem Problem weiblicher Selbstrepräsentation zu fragen. Spielreins Versuche hysterischer Selbstinszenierung, die in der funktionellen Reihung Tochter, Patientin, Schülerin, Kollegin, Mutter ihren Austrag finden, werden so einer weiteren Deutung erschlossen. Sabina Spielreins Lebensentwurf lässt sich mit solcher Rücksicht auf Inszenierung – das ist eine Version der Freud’schen Rücksicht auf Darstellbarkeit – als durchgängig an Richard Wagners musikdramatischem Gesamtkunstwerk »Der Ring des Nibelungen« orientiert erkennen, welches im erstem Entwurf noch einen anderen Titel trug: »Siegfrieds Tod«. Wir danken der Stiftung zur Förderung der Philosophie für ihre Unterstützung, der Geduld des Verlags sowie Susanne Vollberg, Angela Gdawietz und Ulrich Braunschweiger, welche die Übersetzungen besorgt haben.

Literatur Allain-Dupré, B. (2004): Sabina Spielrein: a bibliography. Journal of Analytical Psychology 49 (3): 421–433. Carotenuto, A. (Hg.) (1986): Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Sabina Spielrein zwischen Jung und Freud. Freiburg i. Br.

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Covington, C.; Wharton, B. (Hg.) (2003): Sabina Spielrein. Forgotten pioneer of psychoanalysis. London. Hampton, C. (2002): The talking cure. New York. Hensch, T. (Hg.) (2003): Sabina Spielrein: Tagebuch und Briefe. Die Frau zwischen Jung und Freud. Veränderte, ergänzte Neuauflage. Gießen. Lothane, Z. (2001): Zärtlichkeit und Übertragung – Unveröffentlichte Briefe von C. G. Jung und S. Spielrein. In: Karger, A.; Knellessen, O.; Lettau, G.; Weismüller, Ch. (Hg.): Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie. Göttingen, S. 35–70. Márton, E. (2002): »Ich hieß Sabina Spielrein«. Autorenfilm. Koproduktion von Schweden, Dänemark, Finnland und der Schweiz. Minder, B. (1994): Sabina Spielrein. Jung’s Patientin am Burghölzli. Luzifer-Amor 14: 55–127. Möller, A.; Scharfetter, C.; Hell, D. (2003): Das »psychopathologische Laboratorium« am »Burghölzli«. Entwicklung und Abbruch der Arbeitsbeziehung C. G. Jung/E. Bleuler. Nervenarzt 74: 85–90. Nitzschke, B. (1988): Die Frau als »Opfer« – und wie man sie in dieser Rolle fixieren kann. Kritische Anmerkungen zur Behandlung des »Falles« Sabina Spielrein durch Johannes Cremerius. Forum der Psychoanalyse 4: 153–163. Petersdorff, C. von (2003): Epilog. In: Hensch, T. (Hg.) (2003): Sabina Spielrein: Tagebuch und Briefe. Die Frau zwischen Jung und Freud. Veränderte, ergänzte Neuauflage. Gießen, S. 281–295. Richebächer, S. (2005): Sabina Spielrein. »Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft«. Zürich. Volkmann-Raue, S.; Lüde, H. E. (Hg.) (2002): Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften. Weinheim u. Basel, S. 61–80.

Sa bina und Magnus IsaakLjunggren Spielrein

Magnus Ljunggren

Sabina und Isaak Spielrein2

Zusammen mit Hannah Arendt und Rosa Luxemburg ist Sabina Spielrein zu den jüdischen Frauen zu zählen, deren Bedeutung für das beginnende zwanzigste Jahrhundert lange nicht angemessen gewürdigt wurde. Wie bei Hannah Arendt und Rosa Luxemburg ist bei Sabina Spielrein ein angemessenes Verständnis ihrer Lebensgeschichte wohl nur vor dem Hintergrund ihrer jüdischen Herkunft möglich. Ihr Lebenslauf wird besonders anschaulich, wenn man ihn dem ihres jüngeren Bruders Isaak gegenüberstellt. Sabina Spielrein wurde 1885 als Kind einer wohlhabenden Familie in Rostow am Don geboren. Ihr Vater stammte aus Warschau; sein ursprünglicher Name lautete Naphtul Moschkowitsch, er nannte sich jedoch Nikolai Arkadjewitsch. Hier in Rostow, an der Grenze des so genannten Tchum – dem Ansiedlungsraum im Westen des Zarenreichs, der Juden zugewiesen wurde – versuchte sich Nikolai Arkadjewitsch anzupassen. In das jüdische Geburtenregister wurde seine Tochter als Sheyve eingetragen, ihr Rufname war jedoch Sabina. Nach der Ermordung des Zaren im Jahr 1881 verbreitete und vertiefte sich der Antisemitismus in Russland. Es gab die ersten Pogrome. In diesem repressiven Umfeld wuchs Sabina auf. Die Bedrohung, in der Sabina lebte, war eine zweifache. Zur äußeren Bedrohung durch die gesellschaftliche Situation kam die innere durch ihre Familie, insbesondere durch den Vater. Nikolai Arkadjewitsch war unausgeglichen und litt unter Depressionen. 2 Die gekürzte Fassung des Aufsatzes »Sabina und Isaak Spielrein«

(Ljunggren 2001) ist zuerst erschienen in: Slavica Lundensia 21: 79–95. (Übersetzung von Ulrich Braunschweiger und André Karger.). Die Bildrechte liegen beim Autor.

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Magnus Ljunggren

Abbildung 1: Nikolai Spielrein mit seinem »Jüdischen Wanderverein«, Leipzig, Mai 1914

Sabina und Isaak Spielrein

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Er verlangte viel von seinen begabten Kindern. Schon in jungen Jahren wurden Sabina, ihre Schwester und die drei Brüder einer asketischen und anspruchsvoll-fordernden Erziehung unterworfen, die ganz auf Leistung ausgerichtet war. Vor allem jedoch schlug und bestrafte der Vater sie regelmäßig. Dies war womöglich der einzige körperliche Kontakt, den er zu seinen Kindern hatte, denn er weigerte sich, Menschen die Hand zu geben oder sie zu berühren. Der Vater hatte großes Interesse an Sprachen und seine Kinder mussten sich ebenfalls früh darin üben. Er zwang sie an unterschiedlichen Tagen der Woche, jeweils Russisch, Französisch oder Deutsch zu sprechen und bestrafte sie, wenn sie dies nicht befolgten.3 Sabinas Reaktion auf diese Misshandlungen war sehr stark. Als Erwachsene erinnerte sie sich, wie aufgewühlt und entrüstet sie stets war, wenn ein jüngerer Bruder geschlagen wurde. Später entwickelte sie unangenehme Gefühle sexueller Erregung, wenn ihr Vater sie über das Knie legte. Dies ging soweit, dass es sie bereits erregte, die Hand ihres Vaters anzusehen, die ansonsten nie Kontakt mit ihr suchte. In ihrer Jugend wurde sie von zwanghaften Gedanken und Depressionen gepeinigt. Von Bedeutung ist auch, dass wohl kein enger Kontakt zu ihrer Mutter bestand. Von ihr übernahm sie allerdings das große Interesse an Musik und erlernte das Klavierspiel. Ihre Mutter mischte sich aber offensichtlich niemals in die pädagogischen Maßnahmen des Vaters ein. Schon früh entwickelte Sabina masochistische Tendenzen, die Ausdruck in einem sexuell erregenden Bedürfnis nach Unterwerfung unter die väterliche Autorität fanden. Ihr sechs Jahre jüngerer Bruder Isaak reagierte genau entgegengesetzt. Er gestattete es seinem Vater nie, ihn vollständig zu unterwerfen. So zeigten die beiden Geschwister gegensätzliche Reaktionsweisen auf autoritäre Gewalt, die gleichzeitig zwei verschiedene Überlebensmöglichkeiten in der repressiven russischen Gesellschaft repräsentierten. 1904 wurde Sabina von ihren Eltern zum Studium und zur Behandlung ihrer psychischen Symptome in die Schweiz geschickt. An einer schweren Hysterie erkrankt, wurde sie durch Carl Gustav 3 Persönliche Mitteilung von Menicha Spielrein, Moskau.

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Jung in der Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli in Zürich erfolgreich behandelt. 1905 begann sie als Medizinstudentin selbst klinisch zu arbeiten und sich durch den Kontakt zu Jung für die Psychoanalyse zu interessieren. Sie begann eine Liebesbeziehung mit Jung, in der die Phantasie eine wichtige Rolle spielte, einen heroischen arischen Sohn mit ihm zu zeugen, den sie – getreu dem »Ring der Nibelungen« – Siegfried nennen wollte. Siegfried sollte zum einen das Symbol der intellektuellen Verwandtschaft zwischen ihr und Jung darstellen, zum anderen war es die Manifestation ihrer Sehnsucht, die jüdische Identität hinter sich zu lassen. In Russland kam es im gleichen Jahr erstmals zu revolutionären Unruhen. Das autokratische System näherte sich seinem Zerfall und es waren nicht zuletzt die Juden, die aus den Ghettos ausbrachen und auf die Barrikaden gingen. Damals nur 14 oder 15 Jahre alt, beteiligte sich Sabinas Bruder Isaak schon als aktiver Revolutionär. Es hat etwas Symbolisches an sich, dass er jetzt zum ersten Mal gegen den Vater aufbegehrte und zurückschlug. Daraufhin hörten die körperlichen Übergriffe auf. Isaak schloss sich jüdischen Selbstverteidigungspatrouillen an und trat bald auch der Sozialrevolutionären Partei bei. 1906 folgte die Gegenreaktion: Es kam zu staatlichen Massenerschießungen von Revolutionären. Die Pogrome erreichten auch Rostow und die gefälschten antisemitischen »Protokolle der Weisen von Zion« wurden im ganzen Land verbreitet. Im Alter von 16 Jahren beschloss Isaak, der Terrororganisation der Sozialrevolutionäre beizutreten. Er legte niemals Bomben, war aber tief in konspirative Aktivitäten verwickelt.4 Schon bald durchsuchte die Polizei das Haus der Spielreins und fand Flugblätter und revolutionäre Aufrufe. Isaak versuchte sich umzubringen, indem er sich in den Mund schoss, doch seine Verletzungen waren nicht lebensbedrohlich. Es gelang seinem Vater, die Polizei zu bestechen und Isaak nach Paris zu bringen, um ihn dort behandeln zu lassen.5 Somit entdeckten Sabina und Isaak zum gleichen Zeitpunkt ihre je eigene Befreiungsdoktrin: Psychoanalyse hier, Sozialismus dort. 4 Briefe und Notizen im Besitz der Familie Spielrein, Moskau. 5 Persönliche Mitteilung von Menicha Spielrein, Moskau.

Sabina und Isaak Spielrein

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Abbildung 2: Jan, Emil und Isaak Spielrein um 1930

1909 wurde zu einem weiteren entscheidenden Jahr für beide.6 Die russische Revolution war fürs erste gescheitert. Isaak wandte sich vom politischen Aktivismus ab und begann Philosophie und Psychologie in Deutschland zu studieren. Zuerst arbeitete er bei 6 Dr. Feiga Berg schrieb damals im russischen Journal »Sowremennaja

psichiatrija« (1909, S. 13f.) eine kurze Zusammenfassung über den Fall Spielrein (»Das Mädchen S.«).

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Magnus Ljunggren

Wilhelm Windelband in Heidelberg und dann bei Wilhelm Wundt in Leipzig. Die wissenschaftliche Psychologie steckte noch in den Kinderschuhen. Durch die Unterstützung von Sabina entdeckte er die noch in ihm schlummernden Möglichkeiten. 1911 beendete Sabina ihr Studium der Medizin. Im selben Jahr erschien ihre Doktorarbeit im »Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen«, das Jung herausgab. Thema ihrer Arbeit war der Versuch, ein verständliches Muster im Durcheinander der Sprache des paranoiden Wahns zu finden. Hierbei stellte sie nicht zuletzt Verbindungen zur Mythologie her. Jung war zu dieser Zeit mit ähnlichen Überlegungen beschäftigt, aber Sabina kam ihm zuvor. Jungs Studie über den Mythos wurde in zwei Fortsetzungen in den Jahrbüchern von 1911 und 1912 veröffentlicht. Die beiden Wissenschaftler waren nun tatsächlich auch zu Konkurrenten geworden. Jung war nie besonders daran gelegen, die Quellen seiner Inspiration offen zu legen. Seine Anerkennung für Sabina Spielrein drückte er nur in seiner Korrespondenz mit ihr aus, wo er auf die bemerkenswerten Parallelen in beider Veröffentlichungen hinwies (Brief von Jung am 18. März 1909, zit. n. Carotenuto 1986, S. 206). Schon früh beschäftigte sich Sabina mit der Vorstellung, der Mensch habe einen angeborenen Destruktionstrieb. Auf Jungs Anregung hin arbeitete sie dieses Konzept bald in einem Artikel mit dem Titel »Die Destruktion als Ursache des Werdens« aus. Rückblickend scheint dies ihre wichtigste Arbeit zu sein. Sie wandte sich zunächst an Freud und präsentierte ihre Arbeit in zwei Vorträgen, die sie bei den wöchentlichen Treffen der so genannten »Mittwochsgesellschaft« hielt. 1912 folgte die Veröffentlichung im »Jahrbuch«. Offensichtlich von ihren eigenen Erfahrungen mit Jung ausgehend, beschreibt sie in dieser Arbeit den Destruktionstrieb – den sie als einen Teil der Liebe auffasst – als eine zerstörerische Kraft, die untrennbar mit den kreativen Kräften des Menschen verbunden ist. Neben den individuellen Selbsterhaltungstrieben nimmt sie einen stets präsenten, nihilistischen Trieb zur Arterhaltung an: Die Gattung und das Individuum befinden sich in einem unlösbaren Konflikt. Wiederum stellt sie Vergleiche mit der Mythologie an, darunter auch mit dem Talmud.

Sabina und Isaak Spielrein

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Freud war beeindruckt. Er hielt Sabina Spielreins These für bedeutsam, beurteilte sie aber als zu stark von persönlichen Faktoren beeinflusst. Acht Jahre später, im Jahr 1920, entwickelte er in seiner Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« ähnliche Ideen. In dieser geht Freud von einem dem Menschen eigenen Todestrieb aus, dem er allerdings die Libido als antagonistischen Trieb gegenüber stellt. Seit 1912 nahmen die Differenzen zwischen Freud und Jung zu. Dieser hatte in seiner Mythenstudie gerade die Idee der Libido in einer Weise erweitert, dass sie mit Freuds triebtheoretischen Vorstellungen unvereinbar war. Fortan sprach Jung im weiteren Sinne von den kreativen Energien der Libido im Unterbewusstsein. Es ist leicht zu erkennen, dass Jung in gewissem Umfang Anregungen von Freud und Spielrein dazu genutzt hatte, um seine Ideen voranzutreiben. Jetzt wollte er seinen eigenen Weg gehen und seine eigene Bewegung gründen. In seinen Briefen an Sabina drückte Freud seine große Enttäuschung über Jung aus und stellte sich endgültig auf ihre Seite. 1913 schrieb er: »Meine persönliches Verhältnis zu Ihrem germanischen Heros ist definitiv in die Brüche gegangen. Sein Benehmen war zu schlecht. Es hat sich in meinem Urteil gegenüber ihm viel geändert seitdem ich jenen ersten Brief von Ihnen erhalten habe [. . .] Ich stelle mir vor, Sie lieben Dr. J. noch so stark, weil Sie den ihm gebührenden Hass nicht ans Licht gebracht haben [. . .] Wir sind Juden und bleiben Juden. Die Anderen werden uns immer nur ausnützen und uns nie verstehen oder würdigen« (Briefe von Freud vom 20. Januar, 8. Mai und 28. August 1913, zit. n. Carotenuto 1986, S. 112ff.).

Sabina, die ein Jahr zuvor den jüdisch-russischen Arzt Pawel Scheftel geheiratet hatte, war zu dieser Zeit schwanger und Freud merkte an: »Selbst bin ich, wie Sie wissen, vom letzten Rest von Vorliebe fürs Ariertum genesen und will annehmen, wenn es ein Junge wird, dass er sich zum strammen Zionisten entwickeln soll« (Brief von Freud vom 28. August 1913, zit. n. Carotenuto 1986, S. 124). Einen Monat später, im September 1912, brachte Sabina eine Tochter zur Welt, der sie den Namen Renata, die Wiedergeborene, gab. Zum selben Zeitpunkt bestätigte der Internationale Psychoanalytische Kongress in München den endgültigen

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Abbildung 3: Sabina Spielrein in den 1920ern

Magnus Ljunggren

Sabina und Isaak Spielrein

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Bruch zwischen Freud und Jung. Jung schrieb seinem schwedischen Kollegen Poul Bierre: »Bisher war ich kein Antisemit, aber ich glaube, jetzt werde ich einer« (Bärmark u. Nilsson 1983, S. 633). Unter dem Eindruck der zunehmenden Judenverfolgung im zaristischen Russland, die ihren Höhepunkt in der so genannten Bejlis-Affäre fand, war Isaak Spielrein unterdessen zwar nicht zu einem strammen Zionisten, aber doch zu einem sehr bewussten Juden geworden. Er nahm seinen jüdischen Namen Isaak Naphtulowitsch wieder an, lernte Jiddisch und suchte zunehmend Kontakt zu jüdischen Persönlichkeiten. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, saß er in Berlin fest, wo er in der Wohnung lebte, aus der Sabina gerade ausgezogen war, nachdem sie einige Jahre in einem Krankenhaus in Berlin gearbeitet hatte. Als russischer Staatsbürger war es ihm nicht erlaubt, die Stadt zu verlassen. Er studierte zum einen bei dem Philosophieprofessor Hermann Cohen, der seine eigene jüdische Universität leitete und zum anderen bei dem Psychologen William Stern, der gerade dabei war, seine Arbeitspsychologie, die so genannte Psychotechnik, in einem neu eröffneten Labor weiter zu entwickeln. Sabina, die jetzt auf sich allein gestellt war, da ihr Mann zur russischen Armee eingezogen worden war, wandte sich immer mehr der Musik zu. Sie nahm Musikunterricht und komponierte neben ihrer psychoanalytischen Arbeit. Später ließ sie sich in der französischen Schweiz, in Lausanne, nieder. In dieser Zeit bemühte sie sich, eine Annäherung zwischen Jung und Freud zu erreichen. In Briefen, die sie Jung in den Kriegsjahren schrieb, versuchte sie, ihn zu überzeugen, wie viel er und Freud trotz aller Gegensätze gemeinsam hätten. Jungs Antwort fiel auf fast schon brutale Weise aus. Er betonte, dass es eine Eigenart der Juden sei, ihre »tiefste seelische Zufriedenheit« auf eine Frage kindlicher Befriedigung ihrer Triebe zu reduzieren. Zusammenfassend meinte er, dass Freud »das Heilige« vergewaltigt habe. Er verbreite Finsternis, nicht Licht (Brief von Jung vom 3. April 1919, zit. n. Carotenuto 1986, S. 222). Isaak Spielrein hielt sich 1920 wieder in Russland auf. Er war gerade Mitglied der Bolschewistischen Partei geworden und hatte

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Magnus Ljunggren

Abbildung 4: Isaak Spielrein in Berlin

wieder revolutionäre Träume. Auf seiner Reise nach Russland hatte er auch in Wien Station gemacht, um Freud zu besuchen. Isaak strebte einen zentralen Platz in der neuen »Gesellschaft für Psychotechnik« an, die sich für die verbesserte Arbeitsproduktivität und rationelle Verwendung menschlicher Arbeitskraft einsetzte. 1922 eröffnete er ein psychotechnisches Labor in dem von Alexej Gastew neu gegründeten »Zentralinstitut für Arbeit« in

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Moskau. Schon bald war er Präsidiumsmitglied der »Vremja« (Zeit), einem Verband, dessen Ziel es war, das Konzept wissenschaftlich organisierter Arbeit allgemein bekannt zu machen. Trotzki und Lenin waren Ehrenvorstandsmitglieder; unter den anderen Präsidiumsmitgliedern befand sich neben Gastew auch Wsewolod Meyerhold (Koltsova et al. 1990, S. 113; vgl. auch Kurek 1999, S. 155). Zu Hause sprach Isaak Spielrein Jiddisch. Viele der führenden Köpfe der Bolschewiken waren wie er und seine engsten Mitarbeiter Juden. Jude zu sein war plötzlich kein Nachteil mehr, sondern vielleicht sogar ein Vorteil. In einer der über 100 wissenschaftlichen Arbeiten, die er während seiner größten Schaffensperiode in den zwanziger Jahren veröffentlichte, beschrieb er, wie Nichtjuden im jungen Sowjetstaat jüdische Namen annahmen, um mit der Revolution Schritt zu halten (vgl. Etkind 1996, S. 208f.). 1923 überzeugte Isaak Sabina, nach Hause zu kommen, um wichtige Aufgaben in der neuen russischen Gesellschaft zu übernehmen. Durch die Unterstützung Trotzkis entwickelten sich Verbindungen zwischen dem Sowjetstaat und der Psychoanalyse. Somit erlebte diese ihren zweiten Durchbruch auf russischem Boden. Freuds Arbeiten wurden von einem staatlichen Verlag veröffentlicht. Das »Staatliche Psychoanalytische Institut«, an dem Sabina nach ihrer Rückkehr eine leitende Position einnahm, war kurz zuvor eröffnet worden. Sabina untersuchte Problemkinder im Ambulatorium des Institutes und hielt ein Seminar für Kinderpsychoanalyse. Es spricht vieles dafür, dass sie eine groß angelegte Studie plante, die auf ihrer Arbeit mit Kindern basieren sollte und mit den Forschungen hätte konkurrieren können, die Melanie Klein und Anna Freud im Westen durchführten.7 Allerdings beschloss Sabina schon im Jahr 1924, nur etwas mehr als ein Jahr nach ihrer Rückkehr, all diese Aufgaben aufzugeben, um nach Rostow zurückzukehren. Neben den persönlichen Problemen, die mit ihren Kollegen am Institut bestanden, wurde ihr zunehmend der politische Druck bewusst, dem die Psychoanalyse ausgesetzt war. Nach Lenins Tod Anfang 1924 be7 Persönliche Mitteilung von Professor Victor I. Ovcharenko, Moskau.

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Abbildung 5: Eva Spielrein, geb. Lublinskaja, auf ihrem Totenbett 1922

gann unter seinen Nachfolgern ein Machtkampf, den Trotzki bald verlieren sollte. Bereits ein Jahr später wurde das »Staatliche Psychoanalytische Institut« geschlossen. Sabina ging aber auch deshalb nach Rostow, um sich wieder mehr ihrer Familie und ihrem Mann zu widmen, der sich zehn Jahre zuvor von ihr getrennt hatte. Sie arbeitete als Kinderpsychiaterin und beschäftigte sich weiter mit Psychoanalyse. Isaak arbeitete noch immer voller Enthusiasmus an der Weiterentwicklung der Psychotechnik. Er hatte eine Professur erhalten und untersuchte zusammen mit seinen Mitarbeitern das Arbeitsleben aus der Innenperspektive. Er arbeitete in verschiedenen Berufen, um Theorie und Praxis miteinander in Einklang zu bringen und um die Interviews und Messungen mit persönlichen Erfahrungen anzureichern. Wie es scheint, fand Sabina in Rostow nicht zu ihrem Mann zurück. Diejenigen, die ihn kannten, sagen, dass er ihr intellektuell unterlegen war und dies auch wusste.8 Allerdings teilten sie auch gemeinsame Interessen, denn Scheftel war schließlich Kinderarzt. 1925 wurde Sabina erneut Mutter einer Tochter, aber in 8 Persönliche Mitteilung von Valeria Elwowa, Moskau.

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Abbildung 6: Nikolai Spielrein mit Emils Sohn Ewald, 1928

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mancherlei Hinsicht lebten Sabina und Pawel in verschiedenen Welten. Der Spielraum der Psychoanalyse war zu diesem Zeitpunkt schon stark eingeschränkt. Stalin war aus dem Machtkampf im Kreml als Sieger hervorgegangen und der Druck zu ideologischer Konformität verschärfte sich. 1929 nahm Sabina an einem psychiatrischen Kongress teil, auf dem sie Freud verteidigte. Dieses Verhalten war sehr mutig für eine Zeit, in der Freud bereits als »bourgeoiser Idealist« und »Reaktionär« gebrandmarkt wurde und psychoanalytische Arbeiten so gut wie nicht mehr veröffentlicht wurden (zit. n. Carotenuto 1986, S. 203–212, 261f.). Zwei Jahre später erschien in der Zeitschrift »Imago« die letzte Arbeit von Sabina Spielrein, in der sie sich mit Kinderzeichnungen beschäftigte (Spielrein 1931). Anscheinend hat sie sich immer stärker in ihre Arbeit als Kinderpsychiaterin in einem Krankenhaus für Tuberkulose vertieft, um ihren Eheproblemen und der stalinistischen Dogmatik zu entfliehen. Sie konnte nur noch inoffiziell psychoanalytisch tätig werden. Auch für die Psychotechnik war die Zeit abgelaufen und sie wurde Stück für Stück zu Grabe getragen. Isaak hielt ihr die Treue, so lange er konnte. 1931 war er Veranstalter einer »Internationalen Konferenz für Psychotechnik« in Moskau und wurde dabei zum Vorsitzenden der »Internationalen Psychotechnischen Gesellschaft« gewählt. Er plante die Gründung einer Hochschule für Psychotechnik in Moskau, die die erste ihrer Art weltweit gewesen wäre. Als er seine Forschungen schließlich unter Zwang beenden musste, wurden vor allem drei Anklagepunkte gegen ihn vorgebracht: Trotzki, der ideologische Hauptfeind Stalins, hatte fraglos die Psychotechnik unterstützt; die experimentellen Methoden hatten sich vor allem auf das Individuum und nicht auf das Kollektiv bezogen und außerdem hatte Isaak mit seinen außergewöhnlichen Fremdsprachenkenntnissen zu ausgedehnten Kontakt zum Ausland gehabt. 1935 wurde er verhaftet und zu schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Isaak Spielrein appellierte mehrmals schriftlich an hochrangige Parteimitglieder. Diese Briefe zeigen, dass er sich weigerte zu verstehen, was in der Gesellschaft vor sich ging. Die Revolution war sein Leben. Er beteuerte, dass er immer der Linie der Partei

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gefolgt sei. Der ewige Rebell zeigte sich unerschütterlich loyal gegenüber seinen Henkern (siehe Koltsova et al. 1990, S. 127–131). Als der Terror 1937 seinen Höhepunkt erreichte, wurden Sabinas andere Brüder – Emil und Jan, der das staatliche Institut für Energie leitete – ebenfalls verhaftet. Im Verlauf weniger Monate wurden alle drei als Volksfeinde exekutiert. Dies war Stalins »verstaatlichte« Revolution. Der Terror wandte sich nicht zuletzt gegen eine Generation frommer, jüdischer Weltrevolutionäre. Mitte der dreißiger Jahre versetzte Stalin auch der Kinderpsychologie den Todesstoß. 1937 starb Pawel Scheftel an Herzversagen. Sabinas Vater Nikolai starb im darauf folgenden Jahr. Wie reagierte Sabina auf all diese Erschütterungen? Laut Augenzeugen lebte sie sehr zurückgezogen, wirkte vorzeitig gealtert und erschöpft, war aber auch von großer Ausdauer. Sie flüchtete sich in ihre Arbeit und nur ihre Töchter, beide mit sehr großem musikalischen Talent ausgestattet, waren Lichtblicke in der Dunkelheit ihres Lebens.9 Mit der internationalen psychoanalytischen Bewegung hatte sie keinerlei Kontakt mehr. Sie hatte keine Möglichkeit zu erfahren, dass im Verlauf der dreißiger Jahre die Politik Einzug in den Konflikt zwischen Jung und Freud gehalten hatte. Schon früh hatte Jung mit der nationalsozialistischen Bewegung sympathisiert und zeigte sich sogar teilweise fasziniert von einem mythischen arischen »Helden« Hitler. In einem psychiatrischen Bulletin, dass er zusammen mit Hermann Görings Cousin herausgab, ging Jung im Jahr 1934 auf das noch nicht geweckte psychische Potenzial der »jungen germanischen Völker« ein. Er schrieb, Freud habe diese beleidigt, indem er die Tiefe ihrer Seele als »kindisch banalen Sumpf« abtat. Nach Jungs Ansicht hatte Freud den Fehler begangen, jüdische Kategorien auf die deutsche Psyche anzuwenden und diese – angesichts der semitischen Fixierung auf die Sexualität – damit verunglimpft. Schließlich sah er sich gezwungen, die Frage zu stellen, ob nicht die »gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf den eine ganze Welt mit er9 Persönliche Mitteilungen von Svetlana Konjaeva, Rostow und Valeria El-

wowa, Moskau.

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staunten Augen blickt, sie [Freud und seine Anhänger] eines Besseren belehrt hat?« (Jung 1934, S. 9). Wie es scheint, hatte Jung zu dieser Zeit Hoffnungen, seiner eigenen Psychologie würde der Durchbruch im nationalsozialistischen Deutschland gelingen. Gerade erst waren Freuds Schriften öffentlich verbrannt worden. 1938 entkam Freud knapp den Nazis, als diese Wien besetzten. An sein Haus hatten sie bereits ein Hakenkreuz geschmiert, seine Tochter war schon verhört worden. Vier seiner Schwestern starben später in Auschwitz. Im Oktober 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht Rostow, wurde aber im November von der Roten Armee wieder vertrieben. Ihr wahres Gesicht hatten Hitlers Truppen bei dieser ersten Besetzung noch nicht gezeigt. Sabina Spielrein weigerte sich zu fliehen, obwohl sich ihr und ihren Töchtern dazu mehrmals die Möglichkeit bot. Offensichtlich war sie vollständig vom Kommunismus desillusioniert und neigte dazu, die Enthüllungen über den Nazismus als Propaganda abzutun. Sie behauptete, die »deutsche Kultur« zu kennen und nichts befürchten zu müssen.10 Anfang 1942 wurde das Haus, in dem sie mit ihren Töchtern lebte, bombardiert und sie mussten in einem Keller Zuflucht suchen. Ende Juli 1942 besetzten die Deutschen Rostow erneut. Kurz darauf mussten sich alle Rostower Juden an einem zentralen Sammelpunkt einfinden. Von dort wurden sie in die Smijewskaja-Schlucht in der Nähe Rostows getrieben, wo man sie erschoss und in ein Massengrab warf. Sabina und ihre Töchter wurden zuletzt gesehen, als sie gemeinsam mit den anderen Juden in einer langen Schlange zum Hinrichtungsort getrieben wurden.11 Genauso wie Sabina Spielrein sich weigerte, die Gefahr des Nationalsozialismus zu erkennen, weigerte sich ihr Bruder Isaak, die Gefahr des Stalinismus zu erkennen. Am Ende ergaben sich beide widerstandslos dem jeweiligen Genozid, Sabina dem Hitlers, Isaak dem Stalins. Ein Zusammenhang mit den Entscheidungen, die sie früher in ihrem Leben trafen, wird deutlich: Sabina verleugnete teilweise ihre jüdische Identität, Isaak ging darin auf und 10 Persönliche Mitteilung von Valeria Elwowa, Moskau. 11 Persönliche Mitteilung von Valeria Elwowa, Moskau.

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kämpfte leidenschaftlich für die sozialistische Revolution. Sabina und Isaak Spielrein lebten mitten im Zentrum der großen, neuen psychologischen Erkenntnisse und der fürchterlichen politischen Verbrechen unserer Zeit. Ihre Hoffnungen und ihre Tragödie nehmen die Form einer symbolischen Schilderung jüdischen Schicksals im totalitären zwanzigsten Jahrhundert an.

Unveröffentlichte Quellen Briefe und Niederschriften im Besitz der Familie Spielrein, Moskau. Persönliche Mitteilungen von Valeria Elwowa, Moskau; Svetlana Konjaeva, Rostow am Don; Professor Victor I. Ovcharenko, Moskau; der verstorbenen Menicha Spielrein, Moskau.

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Das magische Bernd Nitzschke Dreieck

Bernd Nitzschke

Das magische Dreieck – Sabina Spielrein, Carl Gustav Jung, Otto Gross Ein Bericht aus der Frühgeschichte der Psychoanalyse

1 Der 11. Mai 1908 war ein besonderer Tag – jedenfalls in Zürich. An diesem Tag legte dort die russische Studentin Sabina Spielrein im Fach Medizin die propädeutische Prüfung ab (Swales 1992, S. 36) und in der Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli erschien der Privatdozent für Psychopathologie Dr. Otto Gross aus Graz, allerdings nicht, um mit Kollegen zu konferieren, sondern um sich von Carl Gustav Jung wegen Drogensucht behandeln zu lassen. Sabina Spielrein war schon früher einmal in Burghölzli therapiert worden. Und auch diese Behandlung hatte Jung übernommen. Am 17. August 1904 kurz vor Mitternacht war die damals knapp 20-Jährige mit seltsamen Grimassen und Zuckungen als Notfallpatientin eingeliefert worden. Sie wurde Jungs »psychoanalytischer Schulfall«, wie er später an Freud schrieb (McGuire u. Sauerländer 1974, 144 J). Nach einem halben Jahr konnte sie entlassen werden und mit dem Medizinstudium beginnen. Die ambulante Behandlung ging noch eine Zeitlang weiter. Wann sie genau beendet wurde, ist nicht bekannt. Es gab wohl kein definiertes Ende, sondern einen fließenden Übergang, wobei der Therapeut zum Dozenten und die Patientin zur Studentin und später zur Kollegin wurde. Das kam damals öfter vor. So arbeitete Emma Eckstein nach dem Ende ihrer Behandlung durch Freud psychoanalytisch, ließ ihre Fälle von Freud supervidieren (vgl. Freud 1986, S. 312) und schrieb eine der ersten Rezensionen (Eckstein 1900) von Freuds »Traumdeutung« (1900). Auch die Beziehung zwischen Jung und Spielrein entwickelte sich zu einer

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Freundschaft, die selbst dann noch hielt, als Freud nach seinem Bruch mit Jung Sabina Spielrein zur Aufgabe der Beziehung zu überreden versuchte. Für eine kurze Zeitspanne – von Frühjahr 1908 bis Anfang 1909 – gab es zwischen Jung und Spielrein allerdings auch noch »ein näheres erotisches Verhältniss« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 99). Diese Phase der Beziehung ist seit Wiederentdeckung des biographischen Materials, das Sabina Spielrein in Genf hinterlassen hat – also seit Beginn der 1980er Jahre – in wissenschaftlichen und feuilletonistischen Beiträgen, ja sogar in Theaterstücken und Filmen dargestellt worden. Im Folgenden soll sie noch einmal genauer betrachtet werden, da sachliche Beiträge (z. B. Volkmann-Raue 2002) und Arbeiten, in denen das Wissen, das Jung seinerzeit über die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung zur Verfügung stand, berücksichtigt wurde (z. B. Lothane 2003), bislang eher selten sind. Öfter wurde Jung dagegen als Verführer angeprangert und moralisch abqualifiziert (z. B. Richebächer 2000) und Sabina Spielrein als dessen hilfloses Opfer hingestellt (von Petersdorff 2003). Das »nähere erotische Verhältniss«, von dem die Rede ist, kann nicht vor Mai 1908 begonnen haben. Noch nach der PropädeutikPrüfung war Sabina Spielrein nämlich über Jungs distanziertes Verhalten ihr gegenüber sehr enttäuscht, wie sie später berichtete: »Ich erzählte ihm, wie es mir bei den Examina gegangen ist, war aber tief deprimiert, dass er gar keine Freude zeigte, dass ich doch was leisten konnte, dass ich nun cand. med. bin. Ich [. . .] dachte mir: nicht nur hat er mich nicht lieb, sondern ich bin nicht einmal seine gute Bekannte, die ihn interessiert. Er wollte mir zeigen, dass wir ganz fremde Leute sind, und es ist eine Erniedrigung für mich, wenn ich zu ihm gehe« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 107).

Dann folgt noch ein Zusatz. Er lautet: »Ich beschloss jedoch, nächsten Freitag zu ihm zu gehen, mich aber ganz offiziell zu halten. Der Teufel sagte mir andere Dinge« (S. 107). Der »Teufel«, das war Sabina Spielreins Begehren, das ihren Blick für das Verlangen schärfte, das Jung hinter einer spröden Schale verbarg. Sie besuchte ihn also »nächsten Freitag« trotz vorausgegangener Kränkung – und wurde Zeugin einer Verwandlung:

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»Nun kommt er [Jung] ganz freudestrahlend und erzählt in tiefster Rührung von Gross, von der großen Erkenntnis, die ihm nun aufgegangen ist [. . .], er will nun nicht mehr sein Gefühl zu mir unterdrücken; [. . .] er will mir nun alles von sich erzählen. Wiederum also dieser eigentümlichste Zufall, dass der Teufel so unerwartet für mich Recht behielt. Sollte man den preisen oder verdammen? Dieser unsterbliche Satz: ›Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft.‹ Diese dämonische Kraft [. . .] Das ist eben der Sexualtrieb, der seinem Wesen nach ein Zerstörungstrieb, Vernichtungstrieb für das einzelne Individuum ist und daher auch meiner Ansicht nach einen so großen Widerstand bei jedem Menschen zu überwinden hat« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 107f.).

Jung hatte seinen »Widerstand« aufgegeben. Warum? Sabina Spielrein nennt den Grund: Otto Gross. Der hatte in der Zwischenzeit Jung die Leviten gelesen. Er hatte ihm den »Teufel« schön, ja heilig geredet. Er hatte die »dämonische Kraft«, die – laut Spielrein – allen Menschen Angst macht, »sexualimmoralistisch« befürwortet. Die Behauptung, Jung habe Spielrein deshalb zum Geschlechtsverkehr verführt, lässt sich jedoch nicht belegen (vgl. Nitzschke 1988, 2001; Lothane 2001). Bedingung des »näheren erotischen Verhältnisses«, das nun zwischen Jung und Spielrein begann, war vielmehr der Verzicht auf diese letzte sexuelle Wunscherfüllung. Schließlich steigert ja nicht die Erfüllung, sondern die Versagung die Leidenschaft in himmlische Höhen – und dort ist die Liebe allemal schöner als auf Erden. Wenn aber Götterbilder zu Boden stürzen und Engel wieder zu Menschen werden, ist die Enttäuschung umso größer. In ihrer Arbeit »Die Destruktion als Ursache des Werdens« (1912) untersucht Spielrein die irdischen Bedingungen der Liebe. Sie diskutiert die Widersprüchlichkeiten des Begehrens, die intrapsychischen und interpersonalen Konflikte, deren letzten Grund sie darin sieht, dass »der Fortpflanzungstrieb« – biologisch wie psychologisch – »aus zwei antagonistischen Komponenten« besteht. Er ist »ebenso gut ein Werde- als ein Zerstörungstrieb« (1912, S. 58). Damit geht sie auf den Gegensatz ein, der Freuds erste Triebtheorie kennzeichnet: auf den Gegensatz zwischen sexuellem Wunsch und Selbsterhaltungstrieb. Sie radi-

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kalisiert diesen Gegensatz – und hebt ihn auf. Sie kennt nur einen Trieb, den Sexualtrieb, und der hat zwei Seiten: Liebe und Tod. Er repräsentiert die dialektische Einheit der Gegensätze, die in Freuds Triebtheorie dualistisch zerfällt. Das ist auch in Freuds zweiter Triebtheorie der Fall, der zufolge Eros das Leben erhält, das Thanatos zerstören will. Spielrein hat – anders als viele Autoren behauptet haben (z. B. Cremerius 1986) – Freuds Todestriebtheorie also nicht vorweggenommen, vielmehr hat sie ihr vorausschauend widersprochen. Bei der Ableitung ihrer Theorie geht sie kurz auf Bleuler, Gross und Freud ein, um sodann ausführlich aus Jungs Schrift »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912) zu zitieren: »Die leidenschaftliche Sehnsucht, d. h. die Libido hat zwei Seiten: sie ist die Kraft, die alles verschönt und unter Umständen alles zerstört. Man gibt sich öfter den Anschein, als ob man nicht recht verstehen könne, worin denn die zerstörende Eigenschaft der schaffenden Kraft bestehen könne. Eine Frau, die sich, zumal unter heutigen Kulturumständen, der Leidenschaft überlässt, erfährt das Zerstörende nur zu bald. Man muss sich um ein Weniges aus bürgerlich gesitteten Umständen herausdenken, um zu verstehen, welch ein Gefühl grenzenloser Unsicherheit den Menschen befällt, der sich bedingungslos dem Schicksal übergibt. Selbst fruchtbar sein – heißt sich selber zerstören, denn mit dem Entstehen der folgenden Generation hat die vorausgehende ihren Höhepunkt überschritten« (Jung 1912, zit. n. Spielrein 1912, S. 8).

Angst ist die Zwillingsschwester des Begehrens. Diese »Angst vor dem erotischen Schicksal ist ganz begreiflich« (Jung 1912, zit. n. Spielrein 1912, S. 8). Sie entsteht bereits »beim ersten Versuch einer Wunschrealisierungsmöglichkeit« (Spielrein 1912, S. 9). Schon dann »fühlt man den Feind in sich selbst, es ist die eigene Liebesglut, die einen mit eiserner Notwendigkeit zu dem zwingt, was man nicht will; man fühlt das Ende, das Vergängliche, vor dem man vergebens in unbekannte Fernen die Flucht ergreifen möchte« (Spielrein 1912, S. 9). Diese Flucht vor dem Begehren brächte Sicherheit – doch sie bedeutet auch »eine Art Selbstmord« (Jung 1912, zit. n. Spielrein 1912, S. 8). Gibt man sich dem sexuellen Wunsch hin, so riskiert man den kleinen Tod: die Ich-

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Auflösung. Es geht bei der Angst vor der Liebe also um die Angst vor dem Ich-Verlust. Dieser Angst steht die Lust an der Selbstpreisgabe entgegen. Denn es gibt »Triebkräfte in uns, welche unseren psychischen Inhalt in Bewegung setzen unbekümmert um das Wohl und Wehe des Ich«. Deshalb gibt es auch etwas in uns, das, »so paradox es a priori klingen mag, diese Selbstschädigung will« (Spielrein 1912, S. 17). Dem Wunsch, das Ich zu erhalten, entspricht der Wunsch nach der Sicherheit, die der Erwachsene kennt. Dem widerspricht der Wunsch, das Ich aufzulösen, jenes Sicherheitsgefühl wieder zu erleben, das dem Kind vertraut war. Dieser Wunsch zielt auf eine urtümliche Form der Verbundenheit, auf Verständigung jenseits der Sprache ab. In der »Tiefe unserer Psyche« ist die Erinnerung an die Zeit der frühen Beziehung zur Mutter erhalten geblieben. Damals gab es noch »kein ›Ich‹, sondern nur dessen Summation, das ›Wir‹« (S. 18). In diesem »Wir« finde ich dich – und mich ohne mein Ich wieder. Das ist eine Sehnsucht und eine große Angst. Deshalb wollen wir immer beides zugleich – in die Kindheit zurück, aber nicht zum Kind werden. Das ist der Widerspruch des Begehrens.

2 Kehren wir in die Zeit zurück, in der Jung die Distanz zu Sabina Spielrein aufgab, wie es der »Teufel« ja auch prophezeit hatte. Dieser »Teufel« hatte in Otto Gross einen Assistenten gefunden. Ein Jahr nach dem Ende der Behandlung von Gross, am 4. Juni 1909, schreibt Jung an Freud: »Gross und Spielrein sind bittere Erfahrungen. Keinem von meinen Patienten habe ich dieses Maß an Freundschaft gegeben, und von keinem habe ich ähnlichen Schmerz geerntet« (McGuire u. Sauerländer 1974, 144 J). Meine These lautet nun: Jungs Selbstentblößung gegenüber seiner früheren Patientin Sabina Spielrein war die Folge der Übertragung des Beziehungsmusters, das sich zwischen Jung und Otto Gross entwickelt hatte. Anders formuliert: Hätte sich Jung von Gross und von dessen »sexualimmoralistischen« Ideen besser abgren-

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zen können, wäre es nicht zur Entgrenzung der Gefühle in der Beziehung zu Spielrein gekommen. In beiden Fällen trug das noch sehr unzureichende Wissen über das Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung zur Verwirrung der Gefühle bei. Jungs Briefe an Freud geben Auskunft, welcher Faszination er erlag, als er Gross behandelte. Schon drei Tage nach Beginn der Therapie berichtet er, »eine unglaubliche Zeit« mit Gross verbracht zu haben. Die Diagnose steht auch schon fest: »Es scheint im wesentlichen Zwangsneurose zu sein [. . .] Wir sind jetzt an den infantilen Identifikationssperrungen speziell homosexueller Natur. Ich bin gespannt, wie es gelingt« (93 J). Freud antwortet nüchtern: »Ihre Diagnose über Groß halte ich für richtig.« Doch dann gibt er einen Wink, der Jung hellhörig hätte machen müssen: Gross’ »erste Jugenderinnerung (in Salzburg mitgeteilt) ist, dass sein Vater einem Besucher warnend sagt: Geben Sie acht, er beißt!« (94 F). Am 26. April 1908 – also nur wenige Tage vor Beginn der Behandlung – hatte Gross in Salzburg beim 1. Internationalen Psychoanalytischen Kongress über die »Entdeckung des ›psychoanalytischen Prinzips‹« referiert, das, wie er meinte, der politischsexuellen Revolution dienen sollte. Freuds Reaktion darauf fiel knapp aus: »Es ist mir damals von S. Freud erwidert worden: ›Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben‹« (Gross 1913a, S. 62). Gross war da entschieden anderer Meinung. Und Jung kannte diese Meinung schon lange bevor er mit der Behandlung von Gross begonnen hatte. Er hatte Gross erstmals im September 1907 bei einem Psychiatriekongress in Amsterdam kennen gelernt. Dort hatte Jung seinen »psychoanalytischen Schulfall« – den Fall Sabina Spielrein – vorgetragen, ohne zu ahnen, wie eng sich dieser Fall ein dreiviertel Jahr später mit dem Fall Otto Gross verbinden würde. Nach der Rückkehr aus Amsterdam schrieb Jung an Freud: »Dr. Gross hat mir gesagt, er habe die Übertragung auf den Arzt gleich wieder weg, da er die Leute zu Sexualimmoralisten mache. Die Übertragung auf den Arzt und ihre anhaltende Fixation sei nur Monogamiesymbol und mache darum als Verdrängungssymbol Symptom. Der wahrhaft gesunde Zustand für den Neurotiker sei die sexuelle Immoralität [. . .] Mir scheint, Gross gerate mit den Modernen

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zu weit in die Lehre des sexuellen Kurzschlusses, der weder geistreich, noch geschmackvoll, sondern nur bequem und darum alles andere, nur kein Kultur erzeugendes Moment ist« (46 J).

Die »Modernen«, das waren Leute, die sich damals gern in Schwabing oder Ascona trafen. Für sie war Otto Gross der Kronzeuge einer Psychoanalyse, die sich als individuelles wie kollektives Werkzeug der sexuellen Revolution gebrauchen ließ. Freud hatte dieser Interpretation widersprochen. In einem Lexikonartikel, den er für das von Max Marcuse herausgegebene »Handwörterbuch der Sexualwissenschaft« verfasste, schrieb er später: »Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Missverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom ›freien Ausleben‹ der Sexualität. Das Bewusstmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, dass die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit« (Freud 1923, S. 227f.).

Das wollte Gross gewiss nicht: sich oder andere von den »Fesseln« der Sexualität befreien. Vielmehr wollte er die Sexualität von moralischen Fesseln befreien. Und er wollte das Begehren auch keiner psychoanalytisch inspirierten »Beherrschung« unterwerfen. Vielmehr wollte er die Psychoanalytiker bewegen, in der Beziehung zum Patienten die therapeutische Beherrschung (Abstinenz und Neutralität) zu verlieren. Bei Jung hatte er damit (vorübergehend) Erfolg. Denn er behandelte Jung kostenlos mit, während er sich von Jung behandeln ließ. Das war eine erste mutuelle Analyse, durchgeführt lange bevor Ferenczi diesen Ausdruck in Umlauf brachte. Am 25. Mai 1908 heißt es in einem Brief Jungs an Freud: »Ich habe alles liegen lassen und alle verfügbare Zeit, tags und nachts, an Groß gewendet, um seine Analyse möglichst zu fördern [. . .] Wo ich nicht mehr weiterkam, hat er mich analysiert. Auf diese Weise habe ich auch an meiner eigenen Gesundheit profitiert [. . .] Heute habe ich den ersten Ruhetag, denn gestern habe ich die Analyse beendigt [. . .] Die Analyse hat allerhand wissenschaftlich schöne Resultate ergeben, die wir bald zu formulieren trachten« (95 J).

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Offenbar sollten die Ergebnisse dieser mutuellen Analyse gemeinsam publiziert werden. Der Plan wurde jedoch nicht verwirklicht. Jungs Schrift »Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen« (1909) könnte man aber als Version dieses Vorhabens begreifen. Gross jedenfalls beschwerte sich 1911 bei Freud, Jung habe in dieser Schrift Gedanken verarbeitet, die ihm Gross in Burghölzli mitgeteilt habe (250 F). Jung konterte den Vorwurf mit den Worten: »Gross ist ein ausgemachter Narr [. . .] Von verletzter Priorität ist gar keine Rede, indem der Passus in meiner Arbeit, wo ich Gross erwähne, die abgemachte Formel war« (252 J). Damit meinte Jung die Formulierung »[. . .] nicht zum mindesten eine gemeinsam mit Dr. Otto Gross durchgeführte Analyse haben mir die Berechtigung dieser Anschauung eindringlich nahegelegt«. In späteren Auflagen seiner Arbeit strich Jung diesen Passus dann wieder (Heuer 1998). Auf Jungs enthusiastischen Brief vom 25. Mai, in dem bereits die (vermeintliche) Beendigung der Behandlung mitgeteilt worden war, reagierte Freud ironisch: »Übrigens wundere ich mich über das Tempo der Jugend, die in zwei Wochen solche Aufgaben erledigt, bei mir hätte es länger gedauert.« Und dann setzte Freud noch skeptisch hinzu: »Unsicher wird die Beurteilung eines Menschen allerdings, solange er seine Widerstände toxisch beschwichtigt« (96 F). Damit spielte Freud auf Jungs Mitteilung an, die Analyse des drogensüchtigen Gross sei ohne Entzug durchgeführt worden, um sie nicht »durch Abstinenzgefühle« zu beeinträchtigen (95 J). Am 19. Juni teilte Jung ergänzend mit, Gross habe inzwischen »freiwillig« auf Drogen verzichtet (98 J). Das klang vielversprechend – doch das Blatt hatte sich schon wieder gewendet: Zwei Tage zuvor, am 17. Juni, hatte sich Gross durch einen Sprung über die Anstaltsmauer weiteren Behandlungsbemühungen Jungs entzogen. Wenig später tauchte er in Schwabing wieder auf. Von dort berichtete Jones an Freud: »I don’t know how much you know of the Gross affair. He escaped from Burghölzli last week over the wall and came back here this week. I saw him yesterday. He seems to be much worse, quite paranoiac – shut off from outside the world – and has already started taking cocaine again« (Freud u. Jones 1993, Nr. 2). Jung

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hält jetzt noch einmal Rückschau auf die Zeit vor dem Mauersprung: »Die letzten drei Wochen haben wir nur mit frühinfantilem Material gearbeitet, wobei ich allmählich zu der traurigen Einsicht kam, dass die infantilen Komplexe zwar alle darstellbar und begreifbar waren, auch vom Patienten eingesehen und vorübergehend realisiert wurden, dass sie aber übermächtig sind, d. h. dauernd fixiert und aus unerschöpfbaren Quellen ihre Affekte beziehen; es gelingt für einen Moment der höchsten beidseitigen Einsichts- oder Einfühlungsanstrengung, das Leck zu stopfen. Der nächste Moment öffnet es wieder [. . .] Es gibt keine Entwicklung [. . .], die Ereignisse der frühen Kindheit bleiben ewig neu und wirksam, so dass (er) trotz aller Zeit und aller Analyse die Ereignisse des Heute mit der Reaktion des sechsjährigen Knaben begrüßt, dem die Frau immer nur die Mutter ist, jeder Freund, jeder Wohl- oder Übelwollende der Vater.«

Dieser geballten Widerstands- und Übertragungsdeutung folgt der diagnostische Schluss: »Sie werden leider aus meinen Worten schon die Diagnose gelesen haben, an die ich immer doch nicht glauben wollte und die ich jetzt doch mit erschreckender Deutlichkeit vor mir sehe: Dementia praecox [. . .] Für mich ist dieses Erlebnis eines der schwersten meines Lebens, denn in Gross erlebte ich nur allzu viele Seiten meines eigenen Wesens, so dass er mir oft vorkam, wie mein Zwillingsbruder minus Dementia praecox« (98 J).

»Schizophrenie« – das war die Diagnose, mit deren Hilfe sich Jung endlich wieder von Gross unterscheiden konnte. Im Februar 1909 schrieb er an Jones: »Eine extreme Haltung, wie sie Gross vertritt, ist entschieden falsch und für die ganze Bewegung gefährlich [. . .] Ich komme mit den Studenten, ebenso wie mit den Patienten, weiter, wenn ich das Thema der Sexualität nicht in den Vordergrund stelle« (Jung, zit. n. Jones 1962, Bd. 2, S. 171f.). Hinfort sang Jung das Hohe Lied der von Sexualität gereinigten Libido. So distanzierte er sich von Otto Gross – und so geriet er in Widerspruch zu Freuds libidotheoretischen Auffassungen, was schließlich zum Bruch mit Freud beitrug.

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3 Diese Rückverwandlung Jungs war das Ergebnis schwerer Prüfungen, die mit einem anonymen Brief begonnen hatten und mit der Aufhebung des »näheren erotischen Verhältnisses« zwischen Jung und Sabina Spielrein endeten. Am 10. Juni 1909 stellt Spielrein in einem Brief an Freud die Chronologie der Ereignisse aus ihrer Sicht so dar: Jung sei »vor 4 ½ Jahren« – also noch 1905 – ihr »Arzt« gewesen; »dann wurde er Freund und zum Schlusse ›Dichter‹ d. h. Geliebter. Er kam zuletzt zu mir und so gings wie’s gewöhnlich bei der Poesie zugeht. Er predigte Poligamie, seine Frau sollte einverstanden sein etc etc«. Anfang 1909 »kriegt meine Mutter einen anonymen Brief, [. . .] sie solle ihre Tochter retten, da sie sonst durch Dr. Jung zu Grunde gerichtet wird« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 91f.). Was der anonyme Briefschreiber – oder besser: die anonyme Briefschreiberin (Jungs Ehefrau) – nicht wissen konnte, war: Sabinas Mutter wusste längst Bescheid. Sie war schon informiert worden – nämlich von ihrer Tochter. Und die Mutter hatte der Tochter auch schon gute Ratschläge zum Umgang mit Jung erteilt – im September 1908 etwa diesen: »Das Wichtigste ist, zu sehen, dass er erobert werden könnte, es sich aber nicht lohnt. Du kannst es nicht besser haben, als es jetzt ist« (zit. n. Lothane 2001, S. 50). Daraufhin hatte die Tochter der Mutter versichert: »Bis dato sind wir auf der Ebene der Poesie verblieben, welche ja nicht gefährlich ist und wir werden auf dieser Ebene bleiben« (S. 53). »Poesie«, das war die Verdichtung, die Spielrein und Jung nun gemeinsam erlebten: »Er ist für mich ein Vater, und ich bin eine Mutter für ihn, oder, um es genauer zu sagen, die Frau, die zum ersten Ersatzobjekt für die Mutter wurde«, heißt es in dem Ende 1908 geschriebenen Brief an die Mutter weiter. Und dann malt die Tochter der Mutter noch eine phantastische Szene aus, in der sie – in Umkehr der Urszene, bei der das Kind den Beobachterposten einnimmt – der Mutter einen Platz als Lauscherin an der Wand zuweist: »Wenn Du Dich nur im Nebenraum verbergen könntest und hören könntest, welche Sorgen er sich um mich und mein Schicksal macht, wärst Du selbst zu Tränen gerührt [. . .] Erinnere

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Dich, wie der liebe Papa sich bei Dir in genau der gleichen Weise entschuldigte!« Alles wiederholt sich. Und so liebt die Tochter jetzt – wie einst die Mutter: auch »einen Psychopathen« (zit. n. Lothane 2001, S. 51f.). Und Jung gibt ihr Recht. Am 4. Dezember 1908 schreibt er an Sabina Spielrein: »Geben Sie mir in diesem Augenblicke etwas zurück von der Liebe und Geduld und Uneigennützigkeit, die ich Ihnen zur Zeit Ihrer Krankheit geben konnte. Jetzt bin ich krank« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 196). Obgleich die Mutter also längst vor Erhalt des anonymen Briefs Bescheid wusste, spielt sie Jung gegenüber jetzt die Ahnungslose. Sie schreibt ihm »einen rührenden Brief, er hätte doch ihr Mädchen gerettet, wird er sie doch nicht verderben wollen und fleht ihn an nicht ueber die Grenzen der Freundschaft zu gehen« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 92). Jung antwortet: »Ich habe Ihrer Tochter immer gesagt, dass das Sexuelle ausgeschlossen sei, und dass ich bloß mit meiner Handlungsweise meinem Gefühle der Freundschaft Ausdruck verleihen wollte« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 93). Das war korrekt, denn die Aussage stimmte mit der Aussage Sabinas überein, die Beziehung spiele sich »auf der Ebene der Poesie« ab, »welche ja nicht gefährlich ist«. Und doch war Jungs Aussage nur die halbe Wahrheit. Denn im Brief an die Mutter hatte Jung die Liebe zur Tochter verraten, die er so vielfach geschworen hatte. Diesem Verrat folgte die Aufforderung, die Mutter möge Jung bei der Distanzierung von der Tochter helfen: »Ich bin ihr also vom Arzte zum Freunde geworden, indem ich aufhörte mein eigenes Gefühl in den Hintergrund zu drängen. Meine Rolle als Arzt konnte ich umso leichter aufgeben, da ich mich ärztlich nicht verpflichtet fühlte, denn ich habe nie ein Honorar verlangt [. . .] Ich schlage Ihnen darum vor, um meine Stellung als Arzt, von der Sie wünschen dass ich sie beibehalten möge zu umgrenzen, mir ein Honorar auszusetzen [. . .] Mein Honorar beträgt fr. 10 pro Consultation« (Jung, zit. n. Carotenuto 1986, S. 93).

Jung bereute diese und andere Worte später wieder. In einem Brief an Freud schrieb er: »[. . .] da wehrte ich mich in einer Weise, die sich moralisch nicht verteidigen läßt. In meinem Wahne befangen, ich sei quasi das Opfer der sexuellen Nachstellungen

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meiner Patientin, schrieb ich an deren Mutter, daß ich nicht der Befriediger der Sexualität ihrer Tochter, sondern bloß der Arzt sei, weshalb sie mich von der Tochter befreien solle« (McGuire u. Sauerländer 1974, 148 J). Erinnern wir uns: Jungs Entschluss, seine Gefühle seiner vormaligen Patientin gegenüber offen zu legen, war die Folge der Belehrung, die ihm Otto Gross erteilt hatte, der für eine Überwindung der Distanz in der Beziehung zwischen Arzt und Patient eintrat. Doch wir erinnern uns auch: In der Beziehung zwischen Jung und Gross führte die Entgrenzung der Gefühle zu einer jähen Distanzierung. Damals rettete sich der Patient durch einen Sprung über die Mauer vor der provozierten Nähe. Jetzt rettete sich der Arzt, der eine Mauer, die er leichtfertig eingerissen hatte, pro Stein »fr. 10« wieder errichtete: Es war diese Distanzierung, die Sabina Spielrein verletzte – so tief, wie sich Jung verletzt gefühlt hatte, nachdem sich Gross jäh entfernt hatte. Spielrein war in ihrer Ehre als Frau getroffen. Sie sah sich zur Patientin, ja zum Kind herabgestuft – von einem Mann, der sich ihr gegenüber kurz zuvor noch selbst wie ein Kind, ja wie ein »Psychopath« benommen hatte. Und dieser Mann schwang sich nun wieder zum distanzierten Arzt auf: »Wie entsetzlich muss es denn für mich sein, wenn die Mutter nun dazwischen kommt, mich als Kindchen unter ihren Schutz nimmt, und mein Freund flieht wie ein elender Feigling und besudelt das, was so hoch, so hell und rein über allem stand. Wäre er doch zu mir gekommen, hätte er mir doch gesagt, dass die Freundschaft für ihn über irgend ein dummes Geklatsch in der Welt steht« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 99).

Anders als viele spät berufene und selbst ernannte Anwälte hat Sabina Spielrein Jung niemals vorgeworfen, er habe sie sexuell verführt oder gar sexuell missbraucht. Sie hat ihm vielmehr den Verrat der Liebe vorgeworfen, den er beging, nachdem er den Brief der Mutter erhalten hatte. Und als Jung dann auch noch Sabina Spielrein vorwarf, sie habe ihn zu »sexuelle(n) Geschichten« verführen wollen, war sie außer sich: »Meine ideelle Persönlichkeit war vollkommen vernichtet, ich war vollkommen verloren.« »Damals erschien mir zum ersten Male Prof. Freud, als ein

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Rettungsengel«, schreibt sie am 10. Juni 1909 an Freud (zit. n. Carotenuto 1986, S. 96). Sie verlor die Beherrschung. Sie ohrfeigte Jung. Im Brief(entwurf?) an Freud vom 20. Juni heißt es dazu weiter: »Wer ist dieser Prof. Freud an den ich schreibe? Kann der verstehen was [es] für eine stolze Natur bedeutet auf diese Art vom besten Freund verspottet zu werden?« (S. 98). Nun, Freud gab sich Mühe, Sabina Spielrein zu verstehen, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal persönlich kannte. Denn er wollte ihr bei der Erfüllung des Wunsches helfen, den sie ihm so beschrieben hatte: »Mein heissester Wunsch ist dass ich mich liebend von ihm [Jung] trenne« (S. 90). Jetzt ist Sabina Spielrein bereit, die Illusion grenzenloser Verschmolzenheit durch realistisch begrenzte Freundschaft zu ersetzen. Sie will Trennung ohne Hass. Sie will Versöhnung, nicht Rache. Das Geheimnis der Rache ist der Wiederholungszwang. Also setzt der Verzicht auf Rache die vernünftige Einsicht in einen verhängnisvollen Kreislauf voraus. Denn das Beharren auf Wiedergutmachung und Wiederherstellung, also die Rache, kann nur zu neuen Enttäuschungen führen. Freud fordert deshalb beide – Spielrein wie Jung (der sich inzwischen ebenfalls an ihn gewandt hatte) – zum Triebverzicht auf. Dabei folgt er den Grundsätzen, an die er sein Leben, seine Wissenschaft, die Psychoanalyse, gebunden hat: illusionslose Anerkennung triebhafter Wünsche und vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit, auf die Erfüllung unerfüllbarer Wünsche zu verzichten. Am 7. Juni 1909 schreibt Freud an Jung: »Solche Erfahrungen, wenngleich schmerzlich, sind notwendig [. . .] Es wächst einem so die nötige harte Haut, man wird der ›Gegenübertragung‹ Herr, in die man doch jedes Mal versetzt wird, und lernt seine eigenen Affekte verschieben und zweckmäßig platzieren« (McGuire u. Sauerländer 1974, 145 F). Und einen Tag später schreibt er an Sabina Spielrein: »[. . .] so möchte ich Sie zur Selbstprüfung auffordern, ob die Gefühle, welche diese Beziehung [zu Jung] überdauert haben, nicht etwa verdienen, unterdrückt und erledigt zu werden, in der eigenen Seele meine ich« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 116). Das klingt hart: Traumata sind nicht ungeschehen zu machen und infantile Wünsche sind nie zu erfüllen. Doch das ist das

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Gesetz des Vaters, der das Kind zum Verzicht auf die Illusion grenzenloser Nähe zur Mutter bewegen will und ihm dadurch neue Freiheit, die begrenzte Autonomie des Erwachsenen, ermöglichen will. Dieses Konzept verwirft Otto Gross. Er predigt die »Wiederkehr des freien Mutterrechtes« (1914, S. 88). Und so interpretiert Gross auch die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies: als Abbild einer »kulturellen Katastrophe«. Er verdammt die »Abkehr vom freien Mutterrecht der Urzeit, die von der Genesis als die alles entscheidende Menschheitsverirrung erkannt und als Sünde gegen den göttlichen Geist und Willen gewertet ist« (1919, S. 95). Er will das – vermeintlich historische – Trauma der Geburt der (patriarchalischen) Kultur rückgängig machen. Denn in der Zeit vor der Katastrophe, in der Ur-Zeit, seien die Beziehungen zwischen den Geschlechtern noch frei gewesen – frei »von Pflicht und Moral und Verantwortlichkeit, von wirtschaftlichen, rechtlichen, moralischen Verbindlichkeiten, von Macht und Unterwerfung«, von »Vertrag und Autorität«, von »Ehe und Prostitution« (S. 98). Denn damals seien die Kinder noch von der gesamten Gemeinschaft versorgt worden. Deshalb sei der biologische Vater unwichtig gewesen. Und deshalb sah sich keine Frau, die Mutter werden wollte, gezwungen, ihre Sexualität einem einzigen Mann zur Verfügung zu stellen. Erst in der patriarchalischen Gesellschaft wurde die Frau Besitz des Mannes, der im Austausch für ökonomische Sicherheit das exklusive Recht an ihrem Körper erhielt. So wurden Frau und Kinder zum Privateigentum des Mannes. Damit veränderten sich auch die psychologischen Bedingungen der Liebe: Die Scham – der affektive Garant des Privateigentums Sexualität – drang nun mehr und mehr in die Geschlechterbeziehungen ein. Denn »die sexuelle Scham [. . .] ist die markante Geste einer Sexualität, die aufgehört hat, gemeinsames Interesse zu sein« (Gross 1919, S. 101). Gross greift in diesem Zusammenhang auch noch einmal die von Sabina Spielrein gestellte Frage auf: Warum der »mächtigste Trieb, der Fortpflanzungstrieb, neben den a priori zu erwartenden positiven Gefühlen negative, wie Angst, Ekel, in sich beherbergt, welche letztere eigentlich überwunden werden müs-

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sen, damit man zu positiven Betätigung gelangen kann?« (Spielrein 1912, zit. n. Gross 1914, S. 83). Der mit dieser Frage verbundenen Feststellung eines inneren Konflikts stimmt Gross zu. Doch der Antwort, die Spielrein gibt, ihrer Erklärung des inneren Konflikts widerspricht er: »Wir finden [. . .], dass dieser Konflikt in jedem Menschen ist, dass diese seelische Zerrissenheit die ganze Menschheit durchzieht, und diese Erkenntnis führt in die Versuchung, das Leiden an sich selbst unvermeidbar, den inneren Konflikt als etwas ›Normales‹ zu sehen. Doch unser naturwissenschaftliches Erkennen muss es ablehnen, etwas so Unzweckmäßiges für einen angelegten Artcharakter, für etwas artgemäß dem Menschen Angeborenes zu halten« (Gross 1914, S. 83).

Gross findet im Zusammenhang mit Sexualität keinen biologischen Grund für Scham und Schuld, Angst und Ekel. Er findet historisch-politische Gründe für das gesellschaftlich organisierte und individuell ausgestaltete sadomasochistische Beziehungsdrama. Darüber will Gross aufklären. Dazu braucht er die Psychoanalyse, der die politisch-ökonomische Revolution folgen soll: »Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution, d. h. sie ist berufen, [. . .] zur Freiheit innerlich fähig zu machen, berufen als die Vorarbeit der Revolution« (1913b, S. 59). Auf diese Parole hatte Freud geantwortet: »Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben«. Das war kein Einwand gegen den Wunsch, »[. . .] die eigene Persönlichkeit behalten und nach den eigenen angeborenen Gesetzen lieben« zu können (Gross 1914, S. 84). Das war eine Erinnerung daran, dass das Leiden an der Unerfüllbarkeit unserer Wünsche krank machen kann und nur durch die individuelle Fähigkeit zur Versöhnung zu heilen ist.

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Marie J. San tiago-Delefosse und Spielrein, Jean-Marie Piaget Odéric und Delefosse Wygotski

Marie J. Santiago-Delefosse und Jean-Marie Odéric Delefosse

Spielrein, Piaget und Wygotski12 Drei Positionen zur Entwicklung von Kognition und Sprache im Kindesalter In der Literatur zur Sprachentwicklung des Kindes wurde bislang die Gegensätzlichkeit der Beiträge von Jean Piaget und Lew S. Wygotski betont. 1977 erhielt Aldo Carotenuto durch Zufall Kenntnis von einigen Dokumenten, die vergessen im Keller des Instituts für Psychologie in Genf lagen (Carotenuto 1986). Unter diesen Dokumenten fand sich ein umfangreicher Briefwechsel zwischen Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Sabina Spielrein sowie Teile eines von Spielrein verfassten Tagebuchs, welche ein differenzierteres Verständnis ihrer Person und ihres Werkes ermöglichten. Die Beziehungen, die sie zu Jung und Freud unterhielt, zeugen von ihrem Einfluss auf die Entwicklung der Psychoanalyse. Über den Einfluss, den sie auf Piagets Theorie über die Stadien der Sprachentwicklung und auf Wygotskis Theorie über den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken und deren Herkunft als soziales Phänomen genommen hat, ist allerdings wenig bekannt. Jean Piagets Theorien haben die Auffassungen über die kindliche Entwicklung und das kindliche Denken in großem Maß beeinflusst. Im Gegensatz zu seinen frühen Arbeiten erwähnte Piaget (1962) allerdings in seiner Antwort auf Wygotskis Kritik (1934/1964) seine psychoanalytischen Einflüsse nicht. Er erwähnte auch nicht, dass er in den 1920er Jahren persönlich von Spielrein analysiert worden war (vgl. Carotenuto 1986; Etkind 1996; Kress-Rosen 1993; Séchaud 1995). 12 Der Aufsatz ist unter dem Titel »Spielrein, Piaget and Vygotsky«

(Santiago-Delefosse u. Delefosse 2002) zuerst erschienen in: Theory and Psychology 12: 723–748. (Übersetzung von Angela Gdawietz und André Karger.)

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Unsere eigenen Nachforschungen haben uns ermutigt, uns mit Sabina Spielrein zu beschäftigen, die sich als eine der ersten Psychoanalytikerinnen für die Sprachentwicklung des Kindes interessierte (Spielrein 1920, 1923). 1923 kehrte sie nach Russland zurück. Zu dieser Zeit befand sich die Russische Psychoanalytische Vereinigung (RPSAO) noch im Aufbau, zu deren Mitgliedern später Lurija und Wygotski zählten (vgl. Etkind 1996; Ovcharenko 1995; Wortins 1953). Wygotski war ein bekannter Psychologe, der sich in seinen Arbeiten nicht nur mit der Beziehung zwischen Sprache und Denken befasste, sondern mit seiner kulturhistorischen Theorie eine wichtige Kritik an Piagets genetischer Epistemologie formulierte. Unsere Hypothese ist, dass Spielreins Arbeiten, obwohl diese nur selten zitiert werden, zahlreiche wichtige Denkansätze in der Psychologie und den Sprachwissenschaften inspiriert haben: nicht nur bei Piaget und Wygotski, auch bei Freud, Jakobson und Leontjew. Ihre Arbeiten gerieten zunehmend in Vergessenheit. Mögliche Gründe hierfür waren, dass ihre Forschung eher klinisch-kasuistisch und spekulativ als empirisch-theoretisch orientiert war und dass die russischen Grenzen 1925 geschlossen wurden. Fünf Arbeiten der genannten Autoren unterzogen wir einer näheren Analyse. Die Arbeiten wurden zwischen 1920 und 1934 veröffentlicht und beschäftigen sich mit dem Zusammenhang zwischen Denken und Sprache. Verglichen werden soll die Spezifität von Sprachstadien und Strukturen des Denkens. Dabei wurden die Arbeiten drei Gruppen zuordnet: 1) »Le langage et la pensée chez l’enfant« (Dt.: Sprechen und Denken des Kindes, Piaget 1923), »La pensée symbolique et la pensée de l’enfant« (Dt.: Das symbolische Denken und das Denken des Kindes, Piaget 1923); 2) »Zur Frage der Entstehung und Entwicklung der Lautsprache« (Spielrein 1920); 3) »Quelques analogies entre la pensée de l’enfant, celle de l’aphasique et al pensée subconsciente« (Dt.: Einige Analogien zwischen dem Denken des Kindes, des Aphysikers und dem unbewußten Denken, Spielrein 1923), »Denken und Sprechen« (Wygotski 1934). Nach einem kurzen Blick auf Sabina Spielreins Biographie

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folgt eine Zusammenfassung ihrer Theorie zu den Stadien der Sprachentwicklung bei Kindern. Dabei wird versucht, Spielreins Einfluss auf Piagets und Wygotzkis Theorien zu verdeutlichen. Ferner sollen die zentralen Elemente, die bei der Genese von Denkstrukturen für jeden dieser Autoren bedeutsam sind, aufgezeigt und Spielreins möglicher, bisher nicht anerkannter Beitrag zu Piagets und Wygotzkis Theorien in den 1920er und 1930er Jahren herausgearbeitet werden.

Sabina Spielrein – ein Leben voller Begegnungen Sabina Spielreins Biographie (1885–1942) kann als eine Abfolge wichtiger Begegnungen beschrieben werden. Sie war Psychoanalytikerin und Psychiaterin, die erfolgreich von Jung (und Freud) analysiert wurde. Sie zählte zu den bemerkenswerten Persönlichkeiten der Psychoanalyse zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr Leben könnte ebenso gut Gegenstand eines Romans sein. Der Briefwechsel zwischen Spielrein, Jung und Freud, ebenso wie Spielreins Tagebücher und Briefe legen ein spätes Zeugnis vom Leben einer schönen und intelligenten Frau ab, die auf der Suche nach einer gesellschaftlichen Position war, welche es in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts für Frauen nicht gab (vgl. Carotenuto 1986; Cifali 1988). Nach den Begegnungen mit Jung und Freud traf Spielrein in den frühen 1920er Jahren in Genf auf Piaget. Zu dieser Zeit arbeitete Spielrein am Jean-Jacques-Rousseau-Institut, welches damals von Eduard Claparède (vgl. Garrabé 1995) geleitet wurde. Im Jahr 1921 war sie für acht Monate die Lehranalytikerin des damals 25-jährigen Piaget. Mit ihm verband sie auch das Interesse an den Themen, mit denen sich Piaget zwischen 1920 und 1923 beschäftigt (Spielrein 1920, 1923). Nach Darstellung Piagets war sie diejenige, die sich dafür entschied, die Analyse zu beenden (vgl. Carotenuto 1986; Rice 1982). Offenbar zog Piaget es nicht ernsthaft in Erwägung, Psychoanalytiker zu werden, obwohl sein Name bis 1922 in den Listen der

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Schweizer Psychoanalytischen Gesellschaft geführt wurde (vgl. Etkind 1996) und er drei Schriften zur Psychoanalyse verfasst hat (vgl. Volkmann-Raue 1993). Von großer Bedeutung ist, dass Spielrein die erste Psychoanalytikerin war, die ein spezielles Interesse an der Erforschung der Beziehung zwischen Sprache und Denken bei Kindern zeigte (vgl. Roudinesco 1990). 1923 entschied sie sich, nach Russland zurückzukehren. Im gleichen Jahr wurde die Russische Psychoanalytische Vereinigung gegründet, in der sie mehrere Vorlesungen hielt. Unter ihren Zuhörern waren auch Lurija und Wygotzki, die dieser noch jungen Vereinigung ebenfalls angehörten. Über ihre letzten Lebensjahre in Russland ist nur wenig bekannt. Etkind (1996) gelang es, einen Teil dieser Zeit zu rekonstruieren, indem er Angehörige Spielreins interviewte und in russischen Archiven recherchierte. Anscheinend kehrte sie nicht nach Russland zurück, um wieder mit ihrem früheren Ehemann Pawel Scheftel zusammenzuleben, sondern um berufliche Ziele zu verfolgen, was von Freud sehr unterstützt wurde. 1923 war Spielrein wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatlichen Psychoanalytischen Institut, pädiatrische Ärztin in einem Städtchen namens »III. Internationale« und Leiterin der Sektion Kinderpsychologie an der Ersten Moskauer Universität. Obwohl sie Kontakt zu einem einflussreichen Zirkel von Intellektuellen hatte, blieb sie eigentümlich isoliert. Die Gründe hierfür sind unbekannt (vgl. Etkind 1996). 1925 verließ sie Moskau nach nur zwei Jahren und reiste nach Rostow. 1931 nahm Spielrein an der von ihrem Bruder Isaak organisierten 7. Internationalen Konferenz für Psychotechnik in Moskau teil. Isaak Spielrein war, gemeinsam mit Henri Piéron und William Stern, Mitglied des Präsidiums der Internationalen Psychotechnischen Gesellschaft. Er trug entscheidend zur Verbreitung und Entwicklung der Psychotechnik bei. Bis 1934 wurde ihr Name noch in der Mitgliederliste der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung geführt. Vermutlich arbeitete Spielrein ab 1936 in einer Schule als Ärztin. Nach 1923 erschienen nur zwei weitere wissenschaftliche Publikationen, die letzte 1931. Es ist nicht bekannt, ob weitere wissenschaft-

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liche Arbeiten entstanden, aber nicht erhalten sind. Die erhaltenen Arbeiten sind bemerkenswert intuitiv im Hinblick auf die Beziehung zwischen Sprache und Denken und die Bedeutung der Sozialisation, der emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind, für die kindliche Entwicklung. Dieser kurze Überblick über Spielreins Biographie und Werk deutet bereits etwas von dem Einfluss an, den sie direkt oder indirekt auf Piagets und Wygotskis Theorien über die Beziehung von Sprache und Denken im Kindesalter hat nehmen können. Jean Piaget (1896–1980) begann seine wissenschaftliche Laufbahn im Alter von elf Jahren mit dem Studium von Mollusken. Bereits in relativ jungen Jahren machte er durch Veröffentlichungen als Wissenschaftler auf sich aufmerksam. In den 1920er Jahren entwickelte er großes Interesse für die Philosophie von Bergson und James sowie für die Kinderpsychologie. Er beschäftigte sich mit den Theorien von Bleuler, Janet und Binet und arbeitete bei Claparède. Im Januar 1920 hielt Piaget auf einer Versammlung der Alfred-Binet-Gesellschaft eine Einführungsvorlesung über die »Psychoanalyse in ihren Beziehungen zur Kinderpsychologie« (vgl. Piaget 1920; Volkmann-Raue 1993), in der er sich paradoxerweise gleichzeitig als »Anfänger der Psychoanalyse« bezeichnete. Wahrscheinlich begann er im selben Jahr seine Psychoanalyse bei Spielrein, eine Tatsache, die er erst gegen Ende seines Lebens und nur widerwillig preisgab (vgl. Carotenuto 1986; Etkind 1996). Jedenfalls enthielten seine Überlegungen, die er 1923 in »Sprache und Denken des Kindes« und in »Das symbolische Denken und das Denken des Kindes« veröffentlichte, psychoanalytische Konzepte. Es werden zwei Funktionen der Sprache unterschieden: die egozentrische Sprache, die nicht an andere gerichtet ist und in erster Linie vom Lustprinzip bestimmt wird und die sozialisierte Sprache. Diese ist an andere gerichtet, bei denen der Sprecher etwas bewirken möchte und wird vom Realitätsprinzip bestimmt. Als einer der ersten hat Wygotski diese Theorie kritisiert und empirische Untersuchungen zu deren Falsifikation durchgeführt (vgl. Pellegrini 1984; Wygotski 1934). Unserer Ansicht nach gab es um 1923 für Spielrein zwei Möglichkeiten, mit Wygotski zusammen zu treffen: entweder durch Vermittlung ihres Bruders

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Issak oder in der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung. In dieser wurde sie zeitgleich mit Lurija, damals ein enger Mitarbeiter Wygotskis, Mitglied, während Wygotski eine Mitgliedschaft anstrebte. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Wygotski 1925 Freuds Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« (1920) in das Russische übersetzte. Isaak Spielrein war zu der Zeit Leiter der Sektion Psychotechnik am Institut für Philosophie und Leiter des Labors für Industrielle Psychotechnik beim Volkskommissariat für Arbeit. Unter dem Einfluss von Jakobson, dessen Vorlesungen er besucht hatte, entwickelte Isaak Interesse für die Linguistik. Gleichzeitig hielt Sabina Spielrein eine Reihe von Vorlesungen über die Psychologie des unterbewussten Denkens, einschließlich eines Referats über »Denken bei Aphasie und infantiles Denken« (vgl. Etkind 1996). Es wird im Folgenden deutlich, dass Wygotski zweifelsohne stärker durch Spielreins Theorie des Denkens beeinflusst war als durch ihre Sprachtheorie. Wygotski (1896–1934), bereits als Student hochbegabt, wurde nach Ende der Oktoberrevolution zum Professor am Psychologischen Institut der Universität Moskau ernannt. Er widmete sich dem Studium höherer kognitiver Funktionen, der Entwicklung der Intelligenz des Kindes, seiner Erziehung und seiner Psychologie. Wygotskis wichtigster Beitrag besteht jedoch in seine Theorie über die Rolle der Sprache in der kognitiven Entwicklung. Im Gegensatz zu Piaget nahm er an, dass kognitive Prozesse durch die Interaktion des Subjektes mit seiner Umwelt und damit nicht primär genetisch determiniert sind. In dieser Hinsicht nahm Wygotski spätere soziogenetische und interaktionelle Ansätze der Psychologie vorweg (vgl. Bruner 1985; Schneuwly 1985; Wertsch 1985). Seiner Ansicht nach ist die Sprache das zentrale Instrument, auf dem soziale Austauschprozesse beruhen. Durch die Integration der sozialen Bedeutung der Sprache (das Sprechen mit dem Erwachsenen) bildet sich bewusstes Denken (das Sprechen mit sich selbst) heraus, welches die anderen psychischen Funktionen reguliert.13 13 Anm. d. Übers.: Kurz gesagt formt für Wygotski die Sprache das Denken,

während umgekehrt für Piaget die Sprache durch die formalen Struktu-

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Nach ihrer Rückkehr nach Russland führte Spielrein ihre Untersuchungen fort und nahm an Vera Schmidts Erziehungsexperimenten teil (vgl. Spielrein 1923). Für Spielrein gibt es drei Stufen der Sprachentwicklung: das autistische, das magische und das soziale Stadium. Durch einen inneren biologischen Trieb und die äußeren Erfordernisse der Realität muss das selbstbezügliche autistische Stadium angesichts der sozialen Notwendigkeiten teilweise aufgegeben werden. In der Entwicklung vom autistischen zum sozialen Stadium erwirbt das Kind vermittels des magischen Stadiums die Sprache und lernt sich der Realität und den sozialen Notwendigkeiten anzupassen. Im Gegensatz zu Piaget setzte sie dabei das Lust- mit dem Realitätsprinzip in Verbindung. Bereits 1920 betonte sie die Bedeutung der Prosodie und der kulturellen Faktoren, hierbei insbesondere der frühen Mutter-Kind-Interaktion, für den Spracherwerb. Spielreins Überlegungen bereiten in Teilen Piagets Konzepte vor, indem sie Begriffe wie autistisch, magisch oder sozial zur Beschreibung von Sprachstadien verwendet. Diese Art der Konzeptualisierung von Sprache schaffte eine Verbindung zwischen individuellen und sozialen Phänomenen, die notwendig war, um die Struktur des Denkens, so wie es Wygotski zehn Jahre später tat, erklären zu können.

Sprachfunktionen und -stadien bei Piaget und Wygotski Gemeinsam mit Piaget besuchte Spielrein im September 1920 den VI. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Den Haag. Zu diesem Zeitpunkt befasste sich Piaget noch nicht explizit mit dem Verhältnis von Sprache und Denken. Zumindest hatte er darüber noch nichts veröffentlicht (vgl. Carotenuto 1986; Etkind 1996; Vidal 1995). ren des Denkens determiniert ist. Entsprechend sind für Wygotski Sprache und Denken zunächst unabhängig voneinander, während für Piaget die Sprache aus dem Denken entsteht.

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Das Thema von Spielreins Vortrag auf diesem Kongress – »Zur Frage der Entstehung und Entwicklung der Lautsprache«, von dem nur eine kurze Zusammenfassung erhalten ist –, ist sehr interessant und unterstreicht die Originalität ihres Denkens. Zum einen verwendete Spielrein einige Ausdrücke, die sich bald in Piagets Schriften wiederfinden lassen, ohne dass Piaget explizit auf Spielrein hinweist (die einzige Anerkennung erfolgte in Form einer Fußnote in seinem Buch von 1923). Zum anderen zeigt die Arbeit ihr großes Interesse an non-verbalen Sprachprozessen wie Rhythmus und Melodie. Diese Prozesse bezeichnete Wygotski später als »autonome Melodie« des inneren Sprechens und sah sie als grundlegende Funktion des Denkens an (vgl. Wygotski 1934). Bereits 1920 unterschied Spielrein ebenso wie Piaget zwei Funktionen und ebenso wie Wygotski drei aufeinander folgende Stadien in der Sprachentwicklung (sh. Tab. 1). Die beiden Sprachfunktionen sind die des individuellen Diskurses (die Sprache ist für sich selbst bestimmt) und des sozialisierten Diskurses (die Sprache ist an den anderen gerichtet). Die drei Stadien sind das autistische Stadium, das magische Stadium und das soziale Stadium. Spielrein argumentierte, dass die Sprache häufig einseitig auf Wortsprache reduziert und bisher die Bedeutung des Rhythmus und der Melodie (einschließlich Mimik und Gebärde) vernachlässigt wurde. Diese Einsicht führte sie dazu, verschiedene Arten von Sprache zu unterscheiden: Melodiesprache, visuelle (Bild-)Sprache, Tastsprache und dergleichen mehr. Sie erkannte, dass »Lautsprachen« (akustisch vermittelte Sprachen) wie die Wortsprache oder die Musik eine wichtige Rolle im Leben des Menschen spielen und nannte sie aus diesem Grund »soziale Sprachen«, da sie auf Mitteilung und Verständnis abzielen (vgl. Spielrein 1920/1987, S. 214). Da die Wortsprache besonders gut für soziale Zwecke geeignet ist, überragt sie letztendlich alle anderen Sprachtypen. Allerdings stehen die »sozialen Sprachen« aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive laut Spielrein nicht an erster Stelle, sondern es ist die »Melodie«, welche grundlegend ist. Austausch und Verständigung zwischen Baby und Pflegeperson finden, lange bevor die ersten Zeichen der Wortsprache auftauchen, durch Schreie, Rhythmus und Tonfolgen statt. Für

Spielrein, Piaget und Wygotski

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Spielrein stellt somit die zwischenmenschliche Beziehung und der soziale Austausch bereits in den ersten Lebensmonaten einen entscheidenden Faktor des Spracherwerbs dar. Der Säugling versteht zunächst die Intonation und erst später das Wort (vgl. Spielrein 1920/1987, S. 238f.). Daher scheint Spielrein anzunehmen, dass das Kind die Sprache durch den Rhythmus erwirbt und die pflegenden Erwachsenen dem Bedeutung verleihen, was sie in den Lauten und Rhythmen des Kindes zu erkennen meinen. Das Kind internalisiert dann die Tatsache, dass es durch die hervorgebrachten Laute und Rhythmen mit anderen »spricht«. Spielrein bemerkte, dass es in dieser Hinsicht signifikante Unterschiede zwischen Mutter und Vater gibt. Dem Schreien und den Reaktionen des Babys wird von der Mutter tendenziell früher eine Bedeutung zugewiesen. Was das Schreien zu einem kommunikativen Akt macht, ist dessen intentionale Dimension. Im Hinblick darauf, dass Intentionalität heutzutage ein zentrales Thema in der Psychologie ist, sind diese Annahmen erstaunlich modern. Spielrein nahm eine Position zwischen Piaget und Wygotski ein, indem sie glaubte, dass Sprache als Rhythmus während der ersten drei bis vier Lebensmonate mit selbstbezogener Lust verbunden ist. Aber mit fortschreitendem Alter entwickelt sich die Sprache unter dem Einfluss der sozialen Realität rasch zu einer auf andere bezogenen Sprache. In zwei getrennten Stadien (magisches Stadium, soziales Stadium) entwickelt die Sprache schließlich vollständig ihre soziale Dimension. Sobald Sprache aus dem reinen selbstbezogenen Rhythmus des individuellen Diskurses in den zwischenmenschlichen Austausch eintritt, erwirbt sie ihre soziale Natur. Es ist wichtig zu spezifizieren, dass die Phase des Rhythmus und des individuellen Diskurses dem autistischen Stadium, die Phase des sozialisierten Diskurses dagegen dem magischen und dem sozialen Stadium entspricht. Im magischen Stadium, welches bis zum fünften oder sechstem Lebensjahr andauert, entwickelt Sprache zwar ihre soziale Dimension, ist aber durch eine große subjektive Überwertigkeit charakterisiert, in der es keinen Unterschied zwischen Wort und Handlung gibt. Piaget zufolge ähnelt es in seiner »Allmacht der

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Gedanken« dem »autistischen Denken« (Piaget 1920/1993, S. 80). Spielrein spezifizierte, dass sich das magische Denken im Kindesalter vom pathologischen Autismus darin unterscheidet, dass es auf der Annahme der Außenwelt als einer Realität, die erobert werden muss, beruht. Der magische Sprachtypus habe also eine stark pragmatische Ausrichtung. Im sozialen Stadium, welches nach dem sechsten Lebensjahr auftritt, wird Sprache dann eine Realität, die mit anderen geteilt wird und die von der eigenen Vorstellung unterschieden werden kann. Von diesem Zeitpunkt an bezieht das Kind den Standpunkt seiner Mitmenschen in sein Denken und Sprechen mit ein. Seine Bitten richten sich an andere. Es sucht die Kommunikation und antwortet auf die Interventionen der anderen. Aus einer Langzeitperspektive betrachtet, bleiben alle drei Sprachstadien – das autistische, das magische und das soziale Stadium – lebenslang erhalten. Sie sind stets gegenwärtig und eng miteinander verbunden. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Spielrein mit der sozialen Rolle von Gebeten, Liedern oder Klagen. Ihrer Ansicht nach weist die Wichtigkeit der »Vereinigung von Wort und Melodie in der [. . .] Poesie« auf die andauernde Existenz zweier unabhängiger Sprachen hin, die beide einzigartige Charakteristiken besitzen: die (melodisch-)autistische Sprache ist allgemeiner, die (verbal-)sozialisierte Sprache ist individueller, konkreter und der Realität angepasst (Spielrein 1922/1987, S. 240). Die Vorstellung zweier unterschiedlicher, aber miteinander verbundener Sprachfunktionen – einer inneren selbstbezogenen und einer sozialisierten, auf den Mitmenschen bezogenen – findet sich auch in Wygotskis Schriften. Spielrein stellte einen eindeutigen Zusammenhang zwischen ihren drei Sprachentwicklungsstadien und den beiden Freud’schen Prinzipien des psychischen Geschehens her: das Lustprinzip umfasst die ersten beiden Stadien und ist charakterisiert durch das Vorherrschen des »Wunsches über die Realität [. . .], der Phantasie über die Wirklichkeit und der Allmacht des Gedankens« (S. 247), wo hingegen das Realitätsprinzip mit dem dritten Stadium zusammenfällt.

Spielrein, Piaget und Wygotski

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Obwohl Piaget ihre Überlegungen kannte, hielt er an seiner Annahme von zwei Stadien fest, welche, dem Freud’schen Modell entsprechend, um zwei psychische Prinzipien herum organisiert waren. Er kannte diese Prinzipien sehr gut und hatte diese bereits im Dezember 1919 in seiner Vorlesung über »Die Psychoanalyse in ihren Beziehungen zur Kinderpsychologie« erörtert. Entsprechend sind die egozentrische Sprache und die soziale Sprache bei Piaget zwei Stadien zugeordnet, welche Piagets Verständnis der Theorie Freuds reflektieren. Es ist interessanterweise anzumerken, dass sich bereits Spielrein sowohl auf Freud und dessen »zwei Prinzipien des psychischen Geschehens« (1911) als auch auf Bleuler und dessen Ausführungen über »das autistische Denken« (1911) beruft – eine Idee, die später von Piaget weiterentwickelt wurde. In der Tat verfügt das Kind über keine umfassende Vorstellung von seiner Umwelt, sondern erfährt vielmehr sensorische Empfindungen wie Wärme, Weichheit, Kontakt, Bewegung oder Sättigung. Die ersten Lautartikulationen des Kindes können in gleicher Weise als autistisch angesehen werden: sie scheinen in der inneren Welt des Kindes in der Verbindung von Lautartikulation mit Lust- oder Unlustempfindungen begründet zu sein. Für Spielrein erscheint es jedoch notwendig, das magische Stadium von den beiden anderen Stadien zu unterscheiden. Das magische Stadium ist durch die Bindung des Wortes an eine Handlung gekennzeichnet. Spielrein betonte, dass ein Wort nicht eine bestimmte Handlung bezeichnet, sondern selbst eine Handlung ist: ursprünglich war das erste Wort eine Handlung. Der Bewegung der Pragmatik folgend, entwickelte Wygotski später eine ähnliche Ansicht über den Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln (vgl. Austins Theorie der Sprechakte; Austin 1962). Indem Spielrein an diesem spezifischen Stadium festhielt, konnte sie eine sozial vermittelte Konstruktion der Welt erklären und vermied die solipsistische Falle des Freud’schen und Piaget’schen Denkansatzes. Die soziale Realität spielt in der Entwicklung des Kindes früh eine Rolle. Sie ist aber Produkt der Konvergenz zwischen innerer, psychischer Schöpfung und äußerer Realität. Zwar blieb Spielreins Denkansatz weiterhin Freud verpflichtet, da sie

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Tabelle 1: Sprachfunktionen und -entwicklungsstadien Jean Piaget Zwei logische Funktionen Zwei Stadien der Sprachentwicklung (1923, 1923/1959)

Sabina Spielrein Zwei Funktionen Drei Stadien der Sprachentwicklung (1920, 1923)

Egozentrisches Stadium

Auf sich selbst bezogene Sprache

Auf den anderen bezogene (d. h. sozialisierte) Sprache Die Wortsprache ist für soziale Zwecke am besten geeignet.

Autistisches Stadium

Magisches Stadium

Soziales Stadium

Soziales Stadium

– Sprache hat keine kommunikative Funktion – Autistischer Symbolismus

– Sprache bezieht sich deutlich auf den anderen – Aufnahme von Informationen (Adaptation) – Austausch von Gedanken mit anderen

– Frühes Stadium (die ersten drei oder vier Monate des Lebens) – Nicht-verbaler Ausdruck überwiegt – Bestimmt durch das Lustprinzip

– Worte sind überbesetzt mit persönlicher symbolischer Bedeutung – Das Wort als wunscherfüllendes Denken ersetzt die Handlung

– Entspricht der erwachsenen Sprache – Realität und Vorstellung sind klar voneinander getrennt

Monologe

Dialoge

Rhythmus/Lust

Wunsch/Lust

Kommunikation

Das Kind spricht mit sich oder führt Gespräche, ohne den Standpunkt des anderen mit zu berücksichtigen.

– Kritik, Befehle, Kommentare bezogen auf das Verhalten einer anderen Person. – Will andere beeinflussen und erwartet Reaktionen.

– Lustempfinden ist mit Rhythmus und Wortmelodie assoziiert – Sensorische Empfindungen sind sehr wichtig – In dem die Umwelt dem Schreien Bedeutung gibt, wird dieses zu bedeutungsvollem Rufen

– Der Wunsch steht über der Realität – Aktives Stadium intellektueller und kreativer Entdeckungen durch das Spiel – Besteht während des ganzen Lebens in modifizierter Weise fort

– Ausdruck des Bedürfnisses zu kommunizieren – Sozialisation ist auch von dem Wunsch abhängig, den anderen zu verstehen

Egozentrische Sprache verschwindet langsam mit der Entwicklung der sozialisierten Sprache. Während die sozialen und affektiven Dimensionen vernachlässigt werden, teilt Piagets egozentrische Sprache Charakteristika mit Spielreins autistischem und magischem Stadium.

Spielrein postuliert zwei von einander unabhängige Sprachen: Melodiesprache und Wortsprache. Die primäre Funktion der Sprache gründet in selbstbezogener Wunscherfüllung. Die Kommunikation entsteht sekundär: Obwohl das Kind ein soziales Wesen ist, hat es sich die Umwelt erst anzueignen. Sprache ist nicht notwendigerweise Wortsprache. Sprache wird sozial (auch im magischen Stadium), sobald sie gesprochen wird.

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Spielrein, Piaget und Wygotski

Lew S. Wygotski Drei entwicklungsmäßig aufeinander bezogene Funktionen

Soziale Sprache; anfänglich gesprochener Dialog; anfängliche Funktionen der Sprache beeinflussen Umgebung, Kommunikation und soziale Verbindungen. Egozentrische und soziale Sprache sind miteinander verschmolzen, trennen sich dann in die egozentrische und kommunikative Sprache Kommunikative Sprache

Egozentrische Sprache

Innere Sprache

– Primäre Funktion der Sprache ist immer sozial – Das ganze Leben vorhanden

– Autonome Funktion, die dem Kind hilft, zu denken, sich zu orientieren und aufmerksam zu sein: a) gehört zu den Denkfunktionen, b) mit der inneren Sprache verbunden, c) Übergangsstadium, welches das innere Sprechen vorbereitet.

– Privatsprache – Entsteht aus der egozentrischen Sprache – Hat spezielle syntaktische Merkmale

Sozialer Dialog

Selbst-bezogener Dialog

Monolog

– Grundfunktion der Spra- – Hörbares Sprechen ist verche: Kommunikation kürzt – Syntaktische Artikulation ist verkürzt – Verdichtung

– Verkürzt, fragmentarisch, unverständlich (verglichen mit der gesprochenen Sprache)

Die egozentrische Sprache entwickelt sich aus dem Sozialen. Sie dient dazu, das Denken zu strukturieren und in innere Sprache zu transformieren, in dem sie zunehmend komplexer wird (ähnlich dem magischen Stadium Spielreins). Die Entwicklung des Kindes ist ein Prozess zunehmender Individualisierung aus seinem sozialen Wesen heraus. Die gesprochene Sprache ist nicht die innere Sprache plus Lautgebung, sondern das Ergebnis eines dynamischen Entwicklungsprozesses.

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beim Kind die Internalisierung der äußeren Realität als primär ansah, jedoch nahm sie Ideen Wygotskis vorweg, indem sie intuitiv eine verbale Sprache postulierte, die von Beginn an sozial und auf Kommunikation ausgerichtet ist. Obwohl das Kind für Spielrein ein soziales Wesen ist, nahm sie an, dass es sich die Welt dennoch durch Besetzung mit asozialer Libido (Lust) aneignen muss; Sprache muss daher nicht notwendigerweise Wortsprache sein. Sobald Sprache aber zu einer artikulierten Wortsprache wird, sollte sie als sozial betrachtet werden. In dieser Hinsicht steht Spielrein tatsächlich zwischen Piaget und Wygotski. Dabei ist sie paradoxerweise gerade aufgrund ihrer Verbindung zu Freuds Theorie zeitweise Piaget näher, der in dieser Zeit ebenfalls von Freud beeinflusst war.

Eine Logik des Denkens und ihre duale Funktion Piaget bezog sich neben Spielrein auf Baldwin, Janet, Freud, Ferenczi und Jones. Er versuchte zu zeigen, dass Sprache nur unzureichend als »ausgesprochenes Denken« charakterisiert werden kann (Piaget 1923/1993, S. 109). Er bestand auf der Bedeutung der Lust und der Erregung, die das Selbstgespräch und die Verbalisation im Allgemeinen begleiten sowie auf der magischen Funktion der Worte. Er wies darauf hin, dass das Wort erst dann mit Handlungen verbunden wird, nachdem es solche bewirkt hat. So hatte es Janet bereits vorgeschlagen. Piagets Arbeit (1923/1993) wurde sowohl von Spielrein, die er gelegentlich zitierte, als auch von der Psychoanalyse inspiriert. Letzterer versagte er allerdings später seine Anerkennung. In seiner Erwiderung auf Wygotskis Kritik bezog er sich zu seiner Verteidigung nicht auf die Psychoanalyse, obwohl dies geholfen hätte, seine Argumentation zu unterstützen (Piaget 1962). Stattdessen betonte er die innere Natur des symbolischen Denkens. Wygotski dagegen betonte die äußere Natur der Sozialisation (vgl. Delefosse 1994). Piaget unterschied zwei Sprachfunktionen bei Kindern bis zum Alter von sieben und acht Jahren. Hierfür benutzte er Be-

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griffe, die denen von Spielrein sehr ähnlich waren: die egozentrische Sprache und die sozialisierte Sprache. Beim egozentrischen Sprechen wiederholt das Kind Silben oder Worte nur zu seiner unmittelbaren Befriedigung, ohne sich dabei an andere zu wenden. Diese gesprochenen Monologe können zwar dem Kollektiven und Allgemeinen entstammen, es gibt jedoch keinen wirklichen Dialog zwischen Kindern. Es kümmert sie nicht, ob sie von anderen gehört oder verstanden werden. In seiner Beschreibung der allgemeinen Funktion der egozentrischen Sprache bezieht sich Piaget auf das Lustprinzip Freuds. Das sozialisierte Sprechen ist an andere gerichtet. Hierbei sollen mit dem angesprochenen Zuhörer Gedanken ausgetauscht werden. Das Kind versucht, von seinem Zuhörer verstanden zu werden. Die frühesten Formen eines Dialogs beinhalten Befehle, Fragen, Kritiken, Bitten, Drohungen und andere Arten direkter Handlungen, mit denen ein Kind versucht, auf andere einzuwirken. Piaget glaubte, dass es der bewusste Wunsch des Kindes nach Beeinflussung seines Zuhörers ist, welcher die beiden Sprachfunktionen unterscheidet. Die gerichtete Kommunikation verlangt, dass das Kind auf andere einwirkt. Dieser Sprachtypus würde daher erst relativ spät in der kindlichen Entwicklung, nicht vor dem siebenten bis achten Lebensjahr, erworben. Wenn man davon ausgeht, dass das Überleben des Kindes vom interpersonellen Austausch abhängt, verwundert diese Schlussfolgerung. Piaget schien nicht in Betracht zu ziehen, dass bereits ein Säugling mit seinem Brabbeln in den ersten Lebensmonaten in der Lage ist, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken. Aufgrund der Abwesenheit eines bewussten Willens, auf andere einzuwirken, wird die Sprache des Kindes als egozentrisch beschrieben. Sie ist im Lustprinzip verankert und vom Spiel als primärer Aktivität begleitet. Kinder hören einander nicht zu. Ihre Sprache ist magisch: das Kind versucht, mit dem Gebrauch von Worten zu handeln. Das Sprechen hat nur eine selbststimulierende, aber keine soziale Funktion. Es dient dazu, Handlungen zu begleiten oder zu verstärken. Diese Definition macht den Egozentrismus messbar: der Egozentrismus-Koeffizient wird aus

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dem Verhältnis der egozentrischen und der sozialisierten Sprechweise gebildet (vgl. Piaget 1923/1993, S. 106). Die egozentrische Sprache wird mit zunehmender Entwicklung der sozialisierten Sprache zurückgedrängt. Dabei sind es die kindlichen Tätigkeiten, die von den sukzessiven Vorgängen der Assimilation und Akkommodation begleitet werden, welche die Entwicklung einer nach außen gerichteten Sprache ermöglichen. Die verschiedenen Funktionen der sozialisierten Sprache beinhalten ausdrücklich das Prinzip der Anpassung an die Realität. In diesem Stadium gelingt es dem Kind, sich an den Zuhörer zu wenden, auf ihn zu reagieren, ihn zu beeinflussen. Diese kognitive Funktion scheint die Grundlage des Dialogs zu sein. Unberücksichtigt bleibt in dem theoretische Ansatz die Reaktion des Zuhörers auf die egozentrischen Äußerungen eines Kindes, die bei Piagets Beobachtungen nicht erfasst wurden (vgl. Piaget 1923). Man kann zu der Schlussfolgerung gelangen, dass ein richtiger Dialog Piaget zufolge hauptsächlich den Regeln der Logik folgt. Kindliche Unterhaltungen, welche durch die Abwesenheit einer kausalen Logik gekennzeichnet sind, sind daher ihrer Natur nach egozentrisch und kein gerichteter Austausch. In seinen frühen Untersuchungen schien Piaget die einfache Tatsache nicht bedacht zu haben, dass Kinder im Alltag ständig durch ihre Umgebung stimuliert werden und auf sie reagieren. Das Piaget’sche Labor verortete das Kind in einer künstlichen Situation! Er schaffte eine solipsistische Umgebung, in der er dann solipsistische Tendenzen bei Kindern nachwies. Daraus folgte, dass Piaget sich weniger mit Sprache, sondern mehr mit dem Denken beschäftigte und gezwungen war, die Art des Denkens, welche der egozentrischen Sprache zugrunde liegt, zu erforschen. Piaget zeigte, dass Kinder anders als Erwachsene sprechen und in der sozialen Dimension ihres Sprechens weniger individuell sind – eine Idee, die mit Wygotskis Ansichten übereinstimmt. Er verwechselte jedoch die Individualität im Sprechen mit dem Unterschied zwischen Sprache und Denken und vollzog einen ungerechtfertigten theoretischen Sprung von Erstem zu Letzterem. Zahlreiche zeitgenössische Theorien widersprechen dieser Sichtweise (vgl. Bruner 1990).

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Von der sozialen Kommunikation zum internalisierten Denken Wygotski war viel stärker von einigen Ideen Spielreins als von Freuds Theorie beeinflusst, obwohl er zusammen mit Lurija Freuds Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« ins Russische übersetzt hatte. In dieser Arbeit hinterfragte Freud – angeregt durch Spielrein – seine Unterscheidung zwischen Selbsterhaltungs- oder Ich-Trieben (Narzissmus) und Sexualtrieben und stellte dem Lebenstrieb den Todestrieb entgegen. Von diesem Zeitpunkt an wurden Überlegungen, die das Realitätsprinzip betrafen, wesentlich komplizierter. Es wurde bis dahin mit einer Art von Energie in Verbindung gebracht, die speziell den Bedürfnissen des Ich diente, wohingegen das Lustprinzip stärker von sexuellen Triebimpulsen beeinflusst wurde. Um zu verstehen, mit welchen theoretischen Schwierigkeiten Spielrein und Piaget konfrontiert waren, muss zunächst auf das Missverständnis, welches das Realitätsprinzip betrifft, eingegangen werden. Denn das Realitätsprinzip wurde von beiden Autoren im Gegensatz zur psychischen Funktion des Autismus gesehen. Letztere konnte aber seit Freuds letzter metapsychologischer Revision durchaus dem Realitätsprinzip unterstehen. Man kann vermuten, dass Wygotski, der besser mit dieser letzten Revision von Freuds Theorie vertraut war, zu dem Schluss kam, dass bei einem Kind das Realitätsprinzip zunehmend an Einfluss gewinnt, indem die externe Welt durch den Prozess der Identifikation internalisiert wird. Dies wird durch den Vorgang der Individuation begleitet. Wygotski erkannte den vorherrschenden Einfluss der Psychoanalyse in Piagets Arbeiten (vgl. Wygotski 1934/1964, S. 21), insbesondere hinsichtlich seiner Idee eines autistischen Denkens und seiner Erklärung des kindlichen Egozentrismus. Andererseits schien er die Verbindung zwischen Piagets und Spielreins Schriften nicht bemerkt zu haben. Spielrein wurde in Wygotskis Schriften nie zitiert. Allerdings sind nicht alle Arbeiten übersetzt oder erhalten. Während Wygotski der Meinung war, das Kind stehe seiner

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Umwelt offen gegenüber, betrachteten Piaget und Freud – die eher an logischen Prozessen bzw. affektiven Prozessen bei Erwachsenen als bei Kindern interessiert waren – das Kind als ein in sich eingeschlossenes, solipsistisches Wesen, welches ähnlich funktioniert wie ein Erwachsener. Freuds Bezugnahme auf das Primat innerpsychischer Repräsentanzen und Piagets Bezugnahme auf die Strukturen des symbolischen Denkens führte zur Nichtbeachtung sozialer Faktoren oder von Verhaltenseinflüssen. Sowohl Spielrein als auch Piaget bezeichneten das Stadium, in dem Kind und Umwelt eine untrennbare Einheit bilden, als autistisch. Während Spielrein die soziale Funktion der Sprache in der kindlichen Entwicklung an zweite Stelle setzte, hielt Wygotski das Kind von Beginn an für ein soziales (aber noch nicht sozialisiertes) Wesen, bei dem die Prozesse der Differenzierung, Sozialisation und Individuation in späteren Stadien ablaufen. Wygotski lehnte die Annahme einer kindlichen Isolation im Sinne eines primären Autismus ab und betonte stattdessen die über-sozialisierte Natur der kindlichen Welt. Wir sind versucht, ihm recht zu geben, wenn wir das Beispiel eines Kindes mit pathologischem Autismus heranziehen. Im Gegensatz zu einem nicht pathologischen Kind existiert für dieses weder die Außenwelt noch es selbst. Die Isolierung von der Außenwelt führt dazu, dass es von sich selbst isoliert ist. Es scheint, als ob die Phase der Über-Sozialisierung notwendig ist, damit später eine Differenzierung im Sinne der Individuation stattfinden kann. Wygotski behauptete, dass sich die egozentrische Sprache aus einer, die kindliche Natur ausmachenden, sozialen Grundlage entwickelt. Anstatt dazu bestimmt zu sein, irgendwann im Entwicklungsprozess zu verschwinden, trägt die egozentrische Sprache dazu bei, das Denken zu strukturieren und wird in einem Prozess wachsender Komplexität in die innere Sprache umgewandelt. Wygotski schrieb der egozentrischen Sprache drei Charakteristika zu, wobei er gleichzeitig die Relevanz einiger Beobachtungen Piagets anerkannte: sie erfüllt intellektuelle Funktionen, ähnelt in ihrer Struktur der inneren Sprache und repräsentiert eine Übergangssprachform, die die Voraussetzung für die Entwicklung der inneren Sprache ist. Ihre Funktionen schließen Aus-

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druck, Freisetzung psychischer Energie, Unterstützung von Handlungen und Elaborierung von Problemlösungsstrategien ein. Die Sprache ist somit direkt mit den Funktionen des »realistischen« Denkens verknüpft. Wygotskis egozentrische Sprache ähnelt Spielreins magischem Stadium sowohl in ihrer Art des Ausdrucks als auch in ihrem Ergebnis: dem selbstbezogenen Dialog und der teilweisen Integration in die sozialisierte Sprache. Aber sie unterscheidet sich von Spielreins magischem Stadium in der Annahme, dass die egozentrische Sprache die Entstehung des inneren Sprechens vorbereite. Die formale Struktur der egozentrischen Sprache (Verdichtung, Auslassung, Abkürzung durch Assoziationen etc.) ähnelt der inneren Sprache, die sich zunehmend durch Übung entwickelt. Die egozentrische Sprache ist daher weit davon entfernt, einfach Ausdruck des egozentrischen Denkens zu sein; sie ist gerade nicht egoistisch, sondern im Gegenteil völlig auf die Realität und die Praxis ausgerichtet und den Ausführungen des zielorientierten Denkens angepasst. Der Säugling ist von Geburt an ein soziales Wesen. Er gehört zu einer Welt des Miteinanders, an die er sich anzupassen und mit der er zu kommunizieren versucht. Im Rahmen der Sprachentwicklung durchläuft das Kind einen zentrifugalen und einen zentripetalen Prozess: zum einen die Sozialisierung mit der zunehmenden Anpassung des Dialog und des verbalen Austauschs und zum anderen die Internalisierung, Übersetzung und Integration des Gelernten in eine private Sprache, wodurch ein einfacherer und abgekürzter intimer Dialekt entsteht, der flexibler an den eigenen Gedankenfluss angepasst ist. Dieser intime Dialekt findet sich bereits bei Spielrein, die biologische, kognitive und affektive Funktionen gleichermaßen beachtete. Der intime Dialekt bleibt in der biopsychosozialen Geschichte einer Person verwurzelt. Die kommunikative Sprache kann nicht auf eine Form des logischen Denkens reduziert werden, die von sozialer Interaktion vollkommen abgetrennt ist. Außerdem bezieht sich Wygotski auf Spielrein, wenn er betont, dass »man die Befriedigung von Bedürfnissen nicht der Anpassung an die Wirklichkeit gegenüberstellen« kann (Wygotski 1934/1969,

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Tabelle 2: Strukturen des Denkens Sabina Spielrein Zwei Funktionen des Denkens (Januar 1923)

Jean Piaget Zwei Strukturen des Denkens (Juni 1923) Egozentrische Logik – ungerichtetes oder autistisches Denken

Ungerichtetes Denken oder Kommunizierbare Logik – gerichtetes oder intelligen- spontanes Denken tes Denken

– Unbewusstes Denken (Begriff von Spielrein) – Enthält Merkmale des autistischen Denkens (Begriff von Bleuler) und des magischen Denkens (Begriff von Spielrein)

– Bewusstes Denken, welches an die Realität angepasst ist und die Realität versucht zu beeinflussen – Logik ist über Sprache kommunizierbar

– Typisch für kindliches Denken – Unbewusst – Realität wird an die Vorstellung angepasst – Wird bestimmt durch Affektivität

– Versucht Wünsche zu befrie- – Sucht nach Begründundigen gen für Wahrheiten

– »Haftendes« Denken, das perseveriert – Langsam und arm an Assoziationen

– Induktives synkretistisches Denken

– Deduktives Denken

– Kreatives Spiel – Gekennzeichnet durch Verdichtung und Dissoziation

– Bildhaftes ist vorherrschend

– Logischer Beweis ist vorherrschend

– Ungerichtetes Denken

– Vorherrschend sind Analo- – Suche nach dem Beweis gien, die auf Meinungen gründen

– In der Entwicklung wird das Denken zunehmend unbewusst.

– Vorherrschend sind Urteile auf Grund persönlicher Wertüberzeugungen

– Persönliche Urteilsbildungen werden aufgegeben zugunsten allgemeiner Werturteile

– Ungerichtetes Denken ist manchmal effizienter als bewusstes gerichtetes Denken. Gerichtetes Denken hilft dem ungerichteten kreativen Denken, sich auf die Realität zu fokussieren.

Piagets Modell impliziert ein autistisches, nicht-verbales und symbolisches Denken, welches mit einem egozentrischen Denken kombiniert wird. Während der Entwicklung des Kindes verschwinden die frühere Denkformen. Die Entwicklung des Denkens schreitet vom Individuellen zum Sozialen voran.

Denken als primär innenweltlicher Vorgang entsteht aus sensorischen und affektiven Repräsentationen;

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Spielrein, Piaget und Wygotski

Sabina Spielrein Zwei Funktionen des Denkens (Januar 1923)

Lew S. Wygotski

Gerichtetes Denken

Autistische und soziale Dimension des Denkens sind miteinander verbunden und resultieren aus internalisierter Sprache.

– Typisch für erwachsenes Denken – Bewusst – Vorstellung wird an die Realität angepasst – Wird bestimmt durch Logik – Wortsprache fördert das logische Denken – Logik erlaubt Anpassung an die Realität

– Die autistische Form des Denkens ist nicht die primäre Form des Denkens. Die basalen Elemente des Denken und der Sprache sind nicht gleich. – In der äußeren Sprache repräsentieren die Worte die Gedanken. In der inneren Sprache verschwinden die Worte und lassen das Denken hervortreten.

– Verbunden mit parallel verlaufendem »organisch-halluzinatorischem« unbewussten Denken

– Was im Denken gleichzeitig ist, entwickelt sich in der Sprache sequenziell. – Denken besteht nicht aus isolierten Wörtern.

– Unbewusste halluzinatorische Bil- – Ein wahres und vollständiges Verstehen der Gedander reichern das bewusste Denken an ken des Anderen ist nur möglich, wenn die affektivwillentlichen Bedeutungen mit erfasst werden. – Gerichtetes verbales Denken verarmt, wenn die Bindung an das parallel verlaufende unbewusste Denken unterbrochen wird. Es wird dann dem autistischen primärprozesshaften Denken ähnlich.

– Das Denken ist von einer affektiven und willentlichen Komponente begleitet. – Ein Wort ohne Bezug zu einem Gedanken ist ein lebloses Wort. – Die Befriedigung von Bedürfnissen kann nicht im Gegensatz zur Anpassung an die Realität erfolgen. – Die Anpassung an die Realität wird durch Bedürfnisse bestimmt. Bedürfnis und Anpassung müssen als Einheit betrachtet werden. – Reines Denken unabhängig von Bedürfnissen, Interessen und Wünschen existiert nicht. – Der Bezug zwischen Gedanken und Wort ist kein primärer und unveränderbarer.

Spracherwerb geschieht durch Bedeutungszuschreibung zu äußeren Reizen; das gerichtete Denken existiert nicht ohne das ungerichtete Denken: letzteres wird zunehmend internalisiert.

Das Denken ist immer im Affekt und dem Willen verwurzelt. Wie Spielrein betont er, dass Verbalisierung ohne affektive und willentliche Komponenten eine dem Menschen nicht entsprechende Abstraktion ist.

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S. 45). Dagegen behauptete Piaget, dass es »somit die einzige Funktion des autistischen Denkens [ist], den Bedürfnissen und Interessen sofort und ohne Kontrolle Befriedigung zu verschaffen, indem es die Wirklichkeit entstellt, um sie dem ›Ich‹ anzupassen« (Piaget 1924/1972). Nach Piaget ist das realistische Denken, welches von Bedürfnissen, Interessen und Wünschen völlig losgelöst ist, die einzige Form des reinen Denkens. Dennoch ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die soziale Welt in Piagets Theorie nicht fehlt. Sie fungiert als eine Beschränkung, die die Entwicklung des kindlichen Denkens leitet. Die äußere Sprache ist keine bloße Hinzufügung von Lauten zur inneren Sprache. Sie entsteht durch eine dynamische Transformation der syntaktischen, semantischen und phonetischen Strukturen der inneren Sprache, die durch die Anpassung an die soziale Welt hervorgerufen wird.

Zur Entstehung von Denkstrukturen Für Spielrein, Piaget und Wygotski sind Denken und Sprache eng miteinander verknüpft. Die Sprachfunktionen repräsentieren die Strukturen des Denkens. Ein Vergleich der jeweiligen Texte zeigt auch hier, dass einerseits eine Verbindung zwischen Spielreins und Piagets Theorien, andererseits eine Verbindung zwischen Spielreins und Wygotskis Theorien besteht. Spielreins Theorien scheinen die notwendige Verbindung in einer Kette von Einflüssen darzustellen: Einige ihrer Konzepte (vor allem die, die Freud näher stehen) inspirierten mehr oder weniger Piaget, während andere (vor allem ihre eigenen) eher für Wygotski eine Quelle der Inspiration waren (sh. Tab. 2). In Bezug auf die Strukturen des Denkens erscheint es schwieriger, die Originalität von Spielreins Ideen im Vergleich zu denen von Piaget nachzuweisen. Beide Autoren veröffentlichten ihre Texte im selben Jahr und wir haben keine Informationen über etwaige Debatten, die den Veröffentlichungen gegebenenfalls vorausgegangen sind. Wie Spielrein unterschied Piaget zwei Strukturen des Denkens: eine, die einem ungerichteten, unbe-

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wussten inneren Prozess im Sinne von Freuds Primärprozess folgt, und eine andere, die einer Logik entspricht, die sich der äußeren Realität bewusst und auf diese gerichtet ist. Piaget glaubte, dass letztere Denkform die erste ablösen muss, wohingegen Spielrein glaubte, dass beide Denkformen nebeneinander bestehen bleiben. Wygotski dagegen schlug einen Prozess der Integration durch die innere Sprache vor.

Die Verbindung zwischen spontanem Denken und gerichtetem Denken In diesem Zusammenhang kann man sich fragen, wie stark Spielreins Denken im Jahr 1923 von Piaget beeinflusst war. Tatsächlich beschreibt Spielrein in ihrem Text von 1923 zwei Strukturen des Denkens, die mit zwei Sprachfunktionen korrespondieren, ohne weiter auf ihre Einteilung der drei Sprachstadien einzugehen. Die beiden Strukturen ähneln zudem sehr denen von Piaget. Spielrein unterschied zwei Arten des Denkens: das ungerichtete, spontane Denken und das gerichtete Denken, das sich durch die bewusste Verfolgung eines Ziels auszeichnet. Zwischen beiden Arten des Denkens gibt es keine eindeutige Grenze. Spielrein betonte den praktischen Nutzen einer solchen Unterscheidung, da sich Psychologen und Logiker – denkt sie dabei an Piaget? – in erster Linie für die Gesetze des bewussten Denkens, Psychoanalytiker wie sie selbst hingegen eher für das spontane, unterbewusste Denken interessieren. Das ungerichtete Denken zeigt sich am deutlichsten in freien Assoziationen, in Träumen und bei Kindern. Spielrein nahm im Unterschied zu Piaget an, dass sich diese Form des Denkens nicht zurückbildet: Sie behält ihre Funktion in der Welt der Erwachsenen und wird durch die Affekte beeinflusst. Spielrein behauptete, dass das Denken eines 2½-jährigen Kindes noch nicht gerichtet und logisch sei. Das Kind behält etwas von der absoluten Spontaneität eines Babys, das den ganzen Tag für sich selbst plappert, ohne sich um unsere An- oder Abwesenheit zu kümmern. Ein solches spontanes, ungerichtetes Denken tendiert zur Verhar-

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rung; es ist langsam und arm an Assoziationen; es erscheint fragmentiert und ist Verdichtungen unterworfen. Eine solche Beschreibung stimmt mit den detaillierten Beobachtungen Piagets überein, die Spielrein bereits bekannt waren: Sie fragte jedoch über die Beschreibung hinaus danach, wie das Beharren und die Wiederholung von Wörtern oder Sätzen zu verstehen ist. Sie folgerte, dass ein Kind deshalb dazu neigt, Dinge für sich zu wiederholen, weil sie ihm wichtig sind. Daraus lässt sich schließen, dass die Beharrlichkeit des kindlichen Denkens durch affektive Einflüsse bedingt ist. Bei der Erklärung der Funktion der Wiederholung berührte sie auch Probleme des Einflusses sozialer Faktoren und der Gerichtetheit. Ohne darauf ausführlicher einzugehen, stellte Spielrein eine Grundsatzfrage: Sind Denken und Sprache gleichwertig? Sie bejahte dies: »Das Denken existiert für uns nicht anders als in seinem Ausdruck« (Spielrein 1923/1987, S. 297). In der Tat – in dem Moment, in dem das Denken durch Sprache repräsentiert angenommen wird, tauchen Anschlussfragen hinsichtlich der Typen und Funktionen von Sprache auf. In dem Ausmaß, in dem Spielreins Prämissen Freuds dualer Theorie verpflichtet bleiben, betrachtet sie das »primitive« Denken und die daraus resultierende innere Sprache als einen inneren unbewussten Vorgang. Beides stammt aus einer inneren Welt sensorischer und affektiver Eindrücke, lange bevor das Individuum Worte zu ihrer Beschreibung kennt. Hingegen stammt die erworbene Sprache aus der Außenwelt. Obwohl Spielreins Beschreibung des spontanen und des gerichteten Denkens scheinbar Piagets Theorien unterstützt, kam sie nicht umhin, eine persönliche Bemerkung über die gesprochene Sprache als einer »sozialisierten Sprache par excellence« (S. 304) anzufügen. Aber sie entwickelte diesen Gedanken nicht in dem Ausmaß, wie es Wygotski später tat. Außerdem nahm sie eine Verbindung zwischen den beiden Funktionen des Denkens an: »Unser bewusstes Denken ist vor allem ein verbales Denken; unser unterbewusstes Denken hat seinen primitiven Charakter bewahrt,

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und zwar in dem Sinn, dass es vor allem ein kinästhetisch-visuelles Denken ist. Unser bewusstes Denken wird immer von einem dazu parallel verlaufenden ›organisch-halluzinatorischen Denken‹ begleitet, dass das bewusste Denken in Bilder übersetzt; dieses parallel verlaufende Denken ist das unterbewusste Denken. Wir bemerken Spuren dieses Denkens [. . .] in den hypnagogen Zuständen [. . .], d. h. in den Zuständen großer Müdigkeit, wo das Denken nicht mehr ausreichend gesteuert wird, so dass nicht alle unterbewussten Bilder unterdrückt werden können: Das ermöglicht uns, das verbale Denken zugleich in seinem bildhaften Ausdruck beobachten zu können« (Spielrein 1923/1987, S. 305f.).

Als Vorreiterin für Wygotskis Überlegungen zur Rolle der Affekte und Emotionen (vgl. Wygotski 1931/1999) betonte Spielrein, dass die unbewussten kinästhetisch-visuellen Bilder die Grundlage des bewussten Denkens bilden. Ohne diese Bilder wäre das Denken »entwurzelt«, würde, »kraftlos geworden, verkümmern« und sich wieder zu einem primitiven Denken rückbilden (Spielrein 1923/1987, 307). Das unterbewusste spontane Denken und das bewusste gerichtete Denken müssen zusammenarbeiten, damit ein reifes Denken möglich wird. Dementsprechend verschwindet das spontane Denken nicht (genau wie Wygotzki behauptet, dass die egozentrische Sprache nicht verschwindet), sondern wird internalisiert und komplexer. Das spontane Denken ist die Quelle der Kreativität, während das gerichtetes Denken den Kreativitätsfluss kanalisiert, um schöpferisches Handeln zu ermöglichen: Nur durch die Zusammenarbeit von bewusstem und unterbewusstem Denken kann ein schöpferisches Werk in Gang gesetzt werden: Das gerichtete Denken muss dass, »was uns das unterbewusste Denken anbietet, aufgreifen und benutzen« (S. 309). Man kann sich fragen, ob Spielreins »unterbewusstes Denken« nicht Wygotzkis »innerem Sprechen« gleicht, da sie viele gemeinsame Merkmale aufweisen. Nach Spielrein ist diese Form des Denkens reicher und enthält mehr kreative Energie als das bewusste Denken, aber es fehlen die realitätsorientierten Fähigkeiten zur Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie stimmt mit Wygotzki darin überein, dass das spontane Denken für vorbewusste psychische Arbeitsprozesse sehr geeignet ist.

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»Denken« ist logisches Denken Für Piaget weist das Denken zunächst eine individuelle, später eine soziale Orientierung auf. Um diese Theorie zu stützen, vollzog er einen problematischen theoretischen Sprung: Aus der egozentrischen Sprache entwickelt sich demnach das egozentrische Denken. Das egozentrische Denken stellt die Form des Denkens zwischen dem gerichteten, intelligenten Denken und dem ungerichteten, autistischen (primitiven) Denken dar (vgl. Piaget 1923/1972). Diesen Schritt von den Funktionen der egozentrischen Sprache hin zu allgemeinen Aussagen zur Struktur des Denkens rechtfertigte er allerdings nicht explizit. Würde er den »psychoanalytischen Monolog«, den er selbst ein bis zwei Jahre zuvor in seiner Psychoanalyse geführt hatte und scheinbar so wenig schätzte, auch als egozentrisch (und damit als unlogisch) bezeichnen? Interessanterweise nahm Spielrein 1920 den selben epistemologischen Sprung vor. Auf sie nahm Piaget jedoch in seinen Texten über das Denken keinen Bezug (vgl. Piaget 1923/ 1993). Die egozentrische Logik ist Piaget zufolge ein ungerichtetes und unbewusstes Denken (Begriff von Spielrein), welches die Merkmale des autistischen Denkens (Begriff von Bleuler) und des magischen Denkens (Begriff von Spielrein) beinhaltet. Die egozentrische Logik ist intuitiv und sucht eher nach direkter Befriedigung von Wünschen als nach der logischen Lösung von Notwendigkeiten. Sie ist synkretistisch und wird von visuellen Illusionen, Analogien und vom Glauben dominiert. In seinem Text »Das symbolische Denken und das Denken des Kindes«, der kurz vor dem Erscheinen seines zweiten Buches veröffentlicht worden war, bezog sich Piaget auf Freud. Er versuchte, das ungerichtete Denken, Bleulers autistisches Denken und Freuds Traumprozesse miteinander zu verbinden (vgl. Piaget 1923/1993, S. 83). Außerdem erwähnte er Jung, als er den primitiven Charakter des Denkens in Bildern diskutierte. In Anlehnung an Spielreins Terminologie spezifizierte Piaget, dass bei dieser Form des Denkens präzise Grenzen zwischen dem »Ich« und »Nicht-Ich« noch fehlen (S. 111). Die Vorstellung eines noch

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nicht differenzierten »Ich« wird durch Freuds Theorie des Narzissmus gestützt. Inhaltlich und strukturell in Teilen mit dem autistischen Denken vergleichbar, kann das kindliche Denken nur vorlogisch sein. Das »kindliche Denken ist seiner selbst weniger bewusst als das erwachsene Denken«. Es ist ein Übergangszustand, ist »individuell, nicht mitteilbar, unabhängig vom sozialen Leben« (S. 103f.) und ungerichtet. Es steht irgendwo »zwischen dem symbolischen Denken und dem logischen Denken. Mit dem Namen Egozentrismus des kindlichen Denkens kann man diesen intermediären Charakter zwischen dem integralen Autismus einer nicht mitteilbaren Träumerei und dem sozialen Charakter der erwachsenen Intelligenz bezeichnen« (S. 105). Piagets egozentrische Logik kann als vorlogisch beschrieben werden und ähnelt darin Spielreins »spontanem Denken«. Nichtsdestotrotz haben beide Formen ein unterschiedliches Schicksal. Anstatt zunehmend artikuliert zu werden, verschwindet die egozentrische Logik im Gegensatz zum spontanen Denken. Die kommunizierbare Logik oder das gerichtete Denken ersetzen diese frühe Form der Logik. Eine solche Veränderung erfolgt durch Assimilation und Akkommodation, die die egozentrische Logik überflüssig machen. Endprodukt ist das »formale«, reife, bewusste, erwachsene Denken, das dafür geschaffen ist, im Feld der Realität zu agieren. Das Denken wird deduktiv und sucht nach Erklärungen, indem es sich auf greifbare und verifizierbare Beweise verlässt.

Die innere Sprache formt das Denken Wygotski unterschied nicht zwischen spezifischen Stadien des Denkens und ihnen zugeordneten Sprachstadien. Er nahm an, dass sich Denken als innerer Prozess im Verlauf der kindlichen Individuation kontinuierlich weiterentwickelt. In Übereinstimmung mit Spielrein behauptete er, dass das Denken eine bio-psycho-soziale Einheit darstellt. Was zunächst äußerlich und sozial war, wird internalisiert, wodurch das Denken im eigentlichen

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Sinne – mit persönlichen Besonderheiten und einzigartigen operationalen Modalitäten – entsteht. An diesem Punkt der Entwicklung verschmilzt das Denken mit der Beschreibung der inneren Sprache. Die Spezifitäten der inneren Sprache zeigen, dass das Denken ein komplexer, nicht isoliert zu betrachtender Prozess ist. Seine Komponenten leiten sich aus der Internalisierung der egozentrischen Sprache ab. Die autistische Form des inneren Denkens ist nicht vorherrschend, da das Denken von Beginn an sozial und äußerlich vermittelt ist. Wie Spielrein berücksichtigte auch Wygotski die emotionalen und affektiven Komponenten des Denkens. Er betonte, dass ein wirkliches Verstehen der sprachlich vermittelten Gedanken einer anderen Person nur möglich ist, wenn das Subjekt in der Lage ist, neben den inhaltlichen auch die affektiven und volitiven Bedeutungen der Sprechakte mit zu erfassen. Ein reines Denken – abgelöst von Bedürfnissen, Interessen und Wünschen – gibt es nicht und ist das Produkt philosophischer und idealistischer Spekulation. Eigene Bedürfnisse und die Notwendigkeit der Anpassung an die Realität sind zwingend miteinander verknüpft. Insofern ist das Verbalisieren ohne affektive und willentliche Beteiligung eine bloße Abstraktion. In dieser Hinsicht und auch hinsichtlich der Vorherrschaft, welche dem Sozialen eingeräumt wird, weichen Spielreins und Wygotskis Ansichten eindeutig von Piaget ab. Auch wenn die Struktur des Denkens eng mit der inneren Sprache verknüpft ist, so ist doch Tatsache, dass zwischen Wort und Gedanken keine grundsätzliche, für immer überdauernde unveränderliche Beziehung besteht. Während sich das Denken in der äußeren Sprache in Worten materialisiert, verschwinden die Worte in der inneren Sprache, wodurch das Denken geboren wird (vgl. Wygotski 1934/1969, S. 312f.).

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Diskussion und Schlussfolgerung Nach der vergleichenden Analyse der Inhalte der drei Texte können folgende Punkte festgehalten werden: – Es ist wichtig, Spielreins, Piagets und Wygotskis Konzepte der verschiedenen Sprachstadien von ihren Konzepten der verschiedenen Denkstrukturen zu unterscheiden. Unterschiede in allen Ansätzen beziehen sich sowohl auf Sprachstadien als auch auf Stadien des Denkens. – Während unsere Hypothese bestätigt scheint, dass Spielrein Piagets Arbeiten zu den Sprachstadien beeinflusst hat, sind die Ergebnisse hinsichtlich der Denkstrukturen weniger überzeugend. – Hinsichtlich der Annahmen zu Denkprozessen steht Spielrein Wygotskis Arbeiten näher. Für sie bestimmen der Einfluss des Sozialen und die affektiven Prozesse das Denken primär. Es mag überraschen, dass Piaget später in seinen Arbeiten jeglichen psychoanalytischen Einfluss unerwähnt lässt. Dabei sind seine Annahmen zum kindlichen egozentrischen Denken eng mit der Psychoanalyse des Ichs, wie sie in den ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts verstanden wurde (vgl. Bleuler 1911), verbunden. Diese beziehen sich auf: – die duale Theorie der psychischen Funktionen (Primärprozess/Lustprinzip, Sekundärprozess/Realitätsprinzip), – das Konzept des Narzissmus, – die Annahme eines solipsistischen Ichs (bei Piaget »Autismus« genannt) und – die Annahme, dass das Verhältnis des Subjekts zur Umwelt durch »Objektbeziehungen« (Internalisierung, Projektion etc.) strukturiert wird. Piaget ist nicht der Einzige, der eine solipsistische Sicht auf Freuds Theorie bevorzugte, die sich später auch in den Schriften von Jacques Lacan in Frankreich (vgl. Allouch 1997) und noch später bei Grünbaum (1996) in den Vereinigten Staaten zeigte. Diese Sichtweise wird weiterhin kontrovers diskutiert, da sie den »Mythos einer isolierten Psyche« unterstützt (vgl. Stolorow u. At-

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wood 1992). Es ist nicht überraschend, dass Piaget die solipsistische Sichtweise bevorzugte: Seine unvollständigen Kenntnisse psychoanalytischer Konzepte und sein ausschließliches Interesse an der logischen Dimension des Denkens führten dazu, dass in seiner Versuchsanordnung das Kind einer seltenen und künstlichen Situation ausgesetzt wurde, welche all die sozialen Momente ausschloss, in denen das Kind in einer spontanen Sprache angesprochen wird. Dieser Ansatz erleichterte die theoretische Schlussfolgerung von den Manifestationen der Sprache hin zum egozentrischen Denken und führte Piaget zu der folgenden Frage: Wie kann das Kind in einer autistischen Welt ohne Interventionen von Außen existieren? Die Antwort Piagets lautet, dass es die Welt durch einen selbst konstruierten Egozentrismus entwirft und kennen lernt und sich so langsam an diese anpasst. Auf der anderen Seite wies Piaget nach, dass Kinder in sozialen Sprechsituationen in ihrer Sprachkompetenz weniger unabhängig sind als Erwachsene. In diesem Punkt besteht Übereinstimmung mit Wygotski. Indem er jedoch die Vorstellung von der Autonomie des Sprechens mit der der Sprache und des Denkens verwechselte, zog er ungerechtfertigte Schlüsse. Zahlreiche aktuelle Theorien widersprechen Piaget in diesem Punkt (vgl. Bruner 1990; Varela et al. 1991). Sie versuchen, Äußerungen von den ersten Lebenstagen an unter Berücksichtigung individueller und sozialer Faktoren zu erklären. Danach bilden Kultur als auch Biologie initiale Voraussetzungen, die in ihrem Zusammenhang gesehen werden müssen. Spielrein teilte mit Piaget die Vorstellung einer primären inneren Welt. Sie betonte jedoch die Wichtigkeit der äußeren Unterstützung und der Mit-Konstruktion von Bedeutungen bereits in den ersten Lebensmonaten. Das Schreien des Säuglings wird durch die Eltern interpretiert – beispielsweise als Ausdruck von Hunger oder Wunsch nach Zuwendung. Erst danach folgt eine entsprechende Reaktion. Sprache gewinnt auf diese Weise ihre soziale Dimension und ist vollständig sozial, sobald sie verbalisiert wird. Die autistischen Prozesse bilden sich allerdings nicht zurück, sondern bleiben ein unbewusster internalisierter Organisator an der Basis der verbalen Expression und des Denkens.

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Kreativität und Affektivität sind ein Energiepool, der die Dynamik von Sprache und Denken erst möglich macht. Sprache und Denken sind untrennbar miteinander verbunden, obwohl sie einen unterschiedlichen Ursprung haben. Erstere ist internal-angeboren, während letzteres interaktionellen Prozessen entspringt. Spielreins Ideen stimmen mit Studien, die in den 1990iger Jahren durchgeführt wurden, überein (vgl. Damasio 1996; Goleman 1996). Ihr Verdienst ist, dass sie spezifische Fragen nach der Intentionalität der kindliche Sprache und den Interaktionen behandelte und die Rolle des Affektes in der Verbindung zu Denken, Sprechen und Handeln erkannte. In der Psychologie verortete Spielrein das Kind in seiner natürlichen Umgebung und stellte es außerdem in das Zentrum einer Welt von Erwachsenen, die es stimuliert und mit den kulturellen »Energien« versorgt, die zur Formung seiner Psyche nötig sind (vgl. Bruner 1990). Dennoch ignorierte Spielrein die biologische Bedingtheit der Psyche nicht (vgl. Varela 1991), insofern sie versuchte, den angeborenen Trieb, die Libido, mit der Konstruktion von Bedeutung im Austausch mit der Umwelt zu verbinden. Wygotski, der eine größere Distanz zur Psychoanalyse hatte, übernahm von Spielrein nur einzelne Gedanken, die er möglicherweise während seiner Zeit in der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung rezipiert hatte. Er kannte Spielreins Bruder Isaak, der ebenfalls ein Sprachwissenschaftler war. Wir können vermuten, dass Wygotski durch Spielrein einen direkten Zugang zu den frühen Werken Piagets hatte, die er ins Russische übertrug. Mit Rückgriff auf Spielreins Denkansätze formalisierte und entwickelte er einige originelle Aspekte, verfolgte seine eigenen Hypothesen weiter und unternahm es, mit experimentellen Versuchsanordnungen Piaget zu widerlegen. Obwohl er als ein Vorläufer des Interaktionismus anzusehen ist, sind einige seiner Überlegungen zur Vorherrschaft der Soziogenetik weniger nuanciert und heuristisch geeignet als Spielreins Annahmen, die uns stärker konstruktivistisch und bio-psycho-sozial ausgerichtet erscheinen.

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Sabina Spielrein (1912): Die Destruktion als Ursache Josianedes Chamb Werdens rier

Josiane Chambrier

Sabina Spielrein (1912): Die Destruktion als Ursache des Werdens14

Im Jahr 1929 gestand Freud Folgendes: »Ich erinnere mich meiner eigenen Abwehr, als die Idee des Destruktionstriebs zuerst in der psychoanalytischen Literatur auftauchte, und wie lange es dauerte, bis ich für sie empfänglich wurde« (Freud 1929, S. 479). 1938 bestätigt er nochmals: »Nach langem Zögern und Schwanken haben wir uns entschlossen, nur zwei Grundtriebe anzunehmen, den Eros und den Destruktionstrieb. (Der Gegensatz von Selbsterhaltungs- und Arterhaltungstrieb sowie der andere von Ichliebe und Objektliebe fällt noch innerhalb des Eros)« (Freud 1938, S. 71). Die Hypothese eines Todestriebs, 1920 in »Jenseits des Lustprinzips« formuliert, wurde erst im Spätwerk zur festen Überzeugung; im Rahmen mühseliger Arbeit, ein allgemeines – metapsychologisches – Modell des psychischen Apparats zu konstruieren, welches dasjenige beinhalten und übertreffen sollte, das Freud ausgehend von den Übertragungsneurosen zu deren Erklärung erarbeitet hatte. Unbestreitbar hat Sabina Spielrein lange vor Freud um 1910 erkannt, dass die Destruktion eine wichtige Rolle im psychischen Leben spielt und notwendig für die psychischen Wandlungen ist. Sie betrachtet sie als integralen Bestandteil des Sexualtriebs, der

14 Der Aufsatz ist unter dem Titel »Sabina Spielrein (1912): la destruction

comme cause du devenir« (Chambrier 2002) zuerst erschienen in: Revue française de Psychanalyse 4: 1285–1294. (Übersetzung von Susanne Vollberg.)

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dem Selbsterhaltungstrieb entgegengesetzt ist – diese Abweichung beinhaltet allerdings noch nicht das gesamte Ausmaß der Verschiedenheit beider Autoren. Ebenso wenig werden die Aussagen Roberts (1964, S. 356) oder Carotenutos (1986, S. 32), »Die Destruktion als Ursache des Werdens« (1911) antizipiere Freuds Konzeption des Todestriebs »beinahe Punkt für Punkt« oder »wortgetreu«, dem Genie und der Gedankenstrenge Freuds sowie der Sensibilität und kreativen Inspiration Spielreins gerecht. Sabina Spielrein wurde 1885 in Rostow am Don geboren und entstammt einer wohlhabenden und kultivierten jüdischen Familie. Ihre Mutter, die ein Universitätsstudium absolviert hatte, betrauerte den Verlust ihrer ersten Liebe, eines nichtjüdischen Arztes. Sabina, ein lebhaftes Kind voller Phantasie, zeigte seit dem siebenten, achten Lebensjahr nach dem Tod ihrer jüngeren Schwester erste Symptome: eine visuelle Halluzination, gefolgt von der Ausprägung eines starken Angstzustands, der an die Stelle eines Allmachtgefühls trat, zwanghafte Vorstellungen hinsichtlich des Stuhlgangs sowie eine durch den Anblick der Hände ihres Vaters hervorgerufene sexuelle Erregung. Im Lauf der Zeit werden diese Störungen derart vorherrschend, dass ihre Eltern im Jahr 1904 die gerade zur Aufnahme ihres Medizinstudiums in Zürich Eingetroffene für mehrere Monate in die Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli einweisen lassen. Dort begegnet sie Jung, der sie einer »Freud’schen« Analyse unterzieht. Jung befindet 1906 in einem der ersten an Freud gerichteten Briefe (zit. n. McGuire u. Sauerländer 1974, S. 7), sie sei »ein schwerer Fall«, leide an »psychotischer Hysterie«, wie er im darauf folgenden Jahr in einer klinischen Arbeit (Jung 1908, Bd. 4) schreibt – heute würde man von einer Persönlichkeitsstörung sprechen. Die Behandlung zeigt einen gewissen Erfolg, denn Sabina absolviert ihr Studium der Medizin und der Psychiatrie in der Schweiz und erlangt die Doktorwürde mit einer durch Jung und Bleuler beeinflussten Arbeit über die Schizophrenie (Spielrein 1911, S. 329–400). Bereits in dieser Arbeit, die sich ausschließlich mit den Psychosen befasst, stellt sie die Hypothese eines Destruktionstriebs (1910) auf. Spielrein erlangte ihren Bekanntheitsgrad innerhalb der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung dadurch, dass sie im

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Mittelpunkt der Betrachtungen über die Gegenübertragung und die Entgleisungen der Analyse stand. Die Übertragungsliebe dieser jungen Frau nahm leidenschaftliche Formen an, nachdem ihr Analytiker (nichtjüdischer Arzt) – seinerseits dem Wiederholungszwang (Neigung zu einer jungen Jüdin) wie auch seinen polygamen Tendenzen nachgebend – diese in fragwürdiger Weise beantwortete. Als sie das Phantasma eines gemeinsamen Kindes namens Siegfried entwickelt, bekommt Jung Angst und verhält sich feige. Die Enttäuschung ist bitter. Der Analytiker erscheint Sabina bald als Teufel, bald als Held, sie wird sogar gewalttätig. Überzeugt von der Vergeblichkeit ihrer Hoffnungen und um sich von der todbringenden – sie phantasiert abwechselnd über ihren eigenen Tod und denjenigen Jungs – Übertragung zu befreien, hat sie schließlich den Wunsch, einen Dritten einzuschalten und wendet sich an Freud. Dieser ist peinlich berührt und empfiehlt in Übereinstimmung mit Sabinas Vater eine »endopsychische Erledigung« (zit. n. McGuire u. Sauerländer 1974, S. 259). Genau diese findet sie, indem sie besagten Artikel verfasst, eine Sublimationsarbeit, Resultat der Umwandlung ihres frustrationsbedingten Leids und Überwindung ihres Schmerzes, verraten worden zu sein. Henri und Madeleine Vermorel stützen diese These: »Zweifellos konnte Sabina Spielrein durch ihre Befreiung von der auf Jung gerichteten Übertragung den Destruktionstrieb in Form einer Todessehnsucht ausgestalten, in der sich der Wunsch nach Rückkehr in den Mutterschoß realisiert« (2000, S. 149).15 Man kann nur bedauern, dass die vielversprechenden intuitiven Erkenntnisse dieser jungen Analytikerin, deren Denken einige Originalität aufweist und deren Intelligenz Freud mehrfach anerkennt, ohne Fortsetzung blieben und so ihre eigenen Störungen mehr als notwendig in den Mittelpunkt rückten, welche Freud 1912 zu folgender Bemerkung veranlassten: »Ihr Destruktionstrieb ist mir nicht sehr sympathisch, da ich ihn für persön15 Anm. d. Hg: Die Sublimationsthese wird auch durch den Umstand ge-

stützt, dass Spielrein anschließend ihre Hypothesen zum Destruktionstrieb nicht weiterverfolgte.

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lich bedingt halte. Sie scheint mehr Ambivalenz, als normal ist, zu führen« (zit. n. McGuire u. Sauerländer 1974, S. 548). Nach ihrem Konflikt mit Jung zieht sich Spielrein, ohne hasserfüllt zu sein, zurück. 1911 optiert sie in Fragen der Theorie für Freud, den sie in Wien trifft, wobei sie von dem Wunsch erfüllt ist, Freud und Jung (eine neue Figuration des arisch-semitischen Kindes) innerhalb der Psychoanalyse zu versöhnen. Als sie im Jahr 1912 den russischen Arzt Pawel Scheftel heiratet, wertet Freud dies als Zeichen einer partiellen Loslösung aus der auf Jung fixierten Übertragungsliebe. 1913 bekommt sie eine Tochter und lässt sich aufgrund dessen nicht wie geplant von Freud analysieren. Ihr Ehemann geht nach Russland, während sie sich nicht auf einen Ort (Deutschland, Schweiz, Österreich) festlegen zu können scheint und zwischen Psychoanalyse, Kunstgeschichte und dem Studium der Kompositionslehre hinund hergerissen ist. Sie bleibt in Kontakt mit Freud und setzt bis 1918 die Korrespondenz mit Jung bezüglich ihrer Arbeit fort.16 1923 bricht Spielrein nach Russland auf. Sie findet Aufnahme in der russischen analytischen Vereinigung, arbeitet in Moskau zusammen mit Vera Schmidt im Kinderheim und hält Unterrichtsveranstaltungen ab. 1924 kehrt sie nach Rostow zu ihrer Familie und ihrem Ehemann zurück. 1926 bringt sie eine zweite Tochter zur Welt. Als praktische Ärztin tätig, behandelt sie schwierige und belastete Kinder psychoanalytisch. Ihre Brüder fallen dem stalinistischen Terror zum Opfer. 1942 werden sie und ihre Töchter zusammen mit Tausenden anderer Juden von den Nazis ermordet.

16 1918 äußert Spielrein in einem Brief an Jung ergriffen, ihr sei bewusst

geworden, dass noch immer ein Siegfried in ihr lebe, der ein Kind, ein Kunstwerk oder eine wissenschaftliche Entdeckung sein könne und dass »man einen psychischen Inhalt durch töten nicht beseitigen kann« (zit. n. Carotenuto, S. 182–186). Im Jahr 2000 beschreibt A. Green den Mord an einer Repräsentation in der zentralen phobischen Position der Borderline-Zustände.

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Der Artikel und seine Thesen Ausgerüstet nur mit dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen sowie einer sehr eingeschränkten Berufspraxis – sie ist 27 Jahre alt und hat sich vor allem für Psychosen interessiert –, sucht Spielrein in der Philosophie und der Mythologie Rückendeckung für ihre Thesen. Sie bezieht sich dabei auf Nietzsche und Jung. Nietzsche (1844–1900) ist mit der Bezugnahme auf Zarathustra in »Die Destruktion als Ursache des Werdens« viel Raum gewidmet. Das Ende der Metaphysik, der reale Mensch, sein Körper, die Kräfte seiner Instinkte, die unbegrenzte Interpretationsfähigkeit des Subjekts, die Bedeutung der Wahrheit und die Umwertung der Werte, die Zukunft, in der alles sich unaufhörlich zu übertreffen sucht, die Kulturarbeit und die Selbstüberwindung, die ewige Wiederkehr des Gleichen als Rückkehr zu sich selbst – die Übereinstimmung mit Freuds Hypothesen wirkt faszinierend. Freud wird 1925 in zwei Anspielungen in »Jenseits des Lustprinzips« selbst auf eine mögliche Nähe zu dem Philosophen hinweisen: »[Was] Nietzsche angeht [. . .], dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange vermieden; an der Priorität lag mir ja weniger, als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit« (S. 86). Zu fragen ist, ob Jung an der Entdeckung der Rolle eines Destruktionstriebs im psychischen Leben beteiligt war. Er selbst deutet dies in seiner Autobiographie an, indem er vorgibt, Spielrein habe ihren Gedanken nach der Lektüre der »Wandlungen der Seele und deren Symbole«, insbesondere des Kapitels »Die doppelte Mutter«, entwickelt. Die Tatsachen und das Tagebuch Sabinas (vgl. Carotenuto 1986, S. 37–86), das 1977 in Genf aufgefunden wurde, legen eine andere Chronologie nahe. Gewiss zitiert Spielrein in der Einleitung ihres Artikels eine lange Textpassage der ersten Version der »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912), in der Jung die Libido hinsichtlich der leidenschaftlichen Liebe als »zeugungsmächtige Kraft, die sich als zerstörerisch erweisen kann«, ja sogar als »selbstzerstörerisch« beschreibt. In Spielreins Tagebuch finden sich jedoch bereits ab September 1910 Äußerun-

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gen über ihr Arbeitsprojekt über den »Todestrieb« – und Befürchtungen, dieser Entdeckung durch ihren Analytiker enteignet zu werden. Andererseits trägt »Die Destruktion als Ursache des Werdens« – was die Transformationen des Ich in der Psychose, das archaische Denken und die Art der Verwendung der Mythen angeht – eindeutig den Stempel Jungs, was ihr eine Verwarnung einbringt, ähnlich derjenigen, die Freud ihrem Analytiker erteilte. Am 29. November 1911 stellt Spielrein im Rahmen einer Mittwochssitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung eine Zusammenfassung ihres zukünftigen Artikels mit dem Titel »Über Transformation« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 37–86) vor. Ihre These ist folgende: Der Sexualtrieb ist ein Sonderfall des Transformationstriebs. Indem er den Übergang von einem Zustand zum anderen erlaubt, impliziert er eine zerstörerische Tendenz. Ihre visionäre These findet wenig Beifall. In seinem Kommentar zögert Freud und hält es »letztlich für akzeptabel«, den Sexualtrieb als einen Zustand labilen Gleichgewichts zwischen zwei unvollkommen beherrschten Trieben zu begreifen. Seiner Methodologie getreu fordert er, die Frage solle durch Studien der individuellen Psychologie entschieden werden und wirft der Rednerin vor, ihre Theorie auf biologische Prämissen, wie etwa die der Arterhaltung, zu gründen (Numberg u. Federn 1979, S. 314–320). Der 1912 im Jahrbuch für Psychoanalytische und Psychopathologische Forschungen veröffentlichte Artikel Spielreins wirkt konfus, wahrscheinlich, weil sie versucht, eine starke intuitive Erkenntnis mit ungeeigneten Mitteln und den unvereinbaren Ansätzen Freuds und Jungs zur Theorie zu erheben. Der moderne Charakter der angeschnittenen Themen überrascht noch heute: Abgesehen von der Einführung der Destruktionstriebe fühlt man sich, folgt man der gedanklichen Entwicklung des Artikels, an die Triebregungen des Es, den Masochismus des Ich, seine Wandlungen und seine Fragmentierung durch Spaltung in der Psychose, an die positive Dimension des Wiederholungszwangs, das Objekt und seine Funktionen, das Inzestuöse und das Phantasma der Rückkehr in den Mutterleib, den Anderen als Doppelgänger, die Aufteilung der Affekte und den todbringenden Narzissmus erinnert.

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Paul Federn veröffentlicht 1913 eine Kritik in derselben Zeitschrift (S. 89–93). Er hält die Studie, in welcher Spielrein »den Zusammenhang der Todes- mit den Werdevorstellungen, des Fortpflanzungstriebes mit dem Todeswunsche, der Ichbehauptung mit dem Verlangen, in der Allgemeinheit sich zu verlieren, vor allem dem Antagonismus zwischen dem Individual-Ich und Art-Ich in dem Individuum darstellt«(S. 91), für interessant. Als Spezialist für Psychosen weist er darauf hin, dass Spielrein, was die Dementia praecox angeht, nicht die Auffassung Freuds teilt, da sie den pathologischen Prozess nicht durch den Konflikt zwischen Libido-Entzug und -Wiederbesetzung, sondern durch »den Konflikt zwischen den zwei antagonistischen Strömungen der Art- und der Ich-Psyche« charakterisiert. Spielrein betrachtet den Destruktionstrieb gegenüber den Bedürfnissen der »Art« als tributpflichtig – man zerstört sich selbst, um dem Anderen seinen Platz zu überlassen. Damit lässt sich erklären, warum ein Individuum sich selbst Schaden zufügt, Gefallen am eigenen Leid findet, sich dem Anderen ausliefert, sich in den Anderen versenkt und dort sein Ich verliert. Federn hebt hervor, dass Spielrein den Sadomasochismus durch diese destruktive Komponente erklärt und die nicht erfolgende Entfaltung der Kreativität, die sich in einer asketischen Haltung äußert, auf das ursprüngliche Gefallen an der Destruktion zurückführt. Wenn schließlich, so Federn, der unbefriedigte Sexualtrieb zum Inzestwunsch zurückführt, nimmt er Spielrein zufolge die Form des Todeswunsches an, begriffen als Sehnsucht nach dem Einssein mit der Mutter und dem Verschwinden in ihr und würde damit nur die Macht des Lebenstriebs widerspiegeln. Noch allgemeiner formuliert, gewinnt »in der Neurose die destruktive Komponente die Oberhand und äußert sich in allen Symptomen des Widerstandes gegen das Leben und das natürliche Schicksal« (S. 92). Obschon Federn zu bedenken gibt, dass Spielrein von Ahnungen und Gefühlen ausgeht, dass sie Parallelen zwischen Psychologie und Biologie konstruiert und abenteuerlustig Wege beschreitet, die nicht mehr ins Ressort der Psychoanalyse gehören, findet er ihre Vorgehensweise zum großen Teil sehr überzeugend. Er erhebt zunächst keine Einwände hinsichtlich der Behauptung

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der Existenz psychischer Destruktionsphänomene, äußert dann aber doch Vorbehalte gegenüber der Rückführung derselben auf einen spezifischen Trieb und der damit verbundenen Annahme eines vom Individuum verfolgten Ziels, anstatt Destruktionsphänomene – insbesondere was die Angstneurose angeht – als Konsequenz eines Konflikts zu betrachten. Schließlich hält Federn es für bedenklich, dass Spielrein spät entstandene komplexe psychische Formationen auf die entfernteste Ursache zurückführt und dabei näher liegende Erklärungen ignoriert: Dieses Vorgehen erinnert, so Federn, an die Werke der großen Mystiker und »ihre weitausholenden und vielsagenden Gedankengänge« (S. 92). Diese Anmerkung scheint sich auf Jung und überhaupt auf die gesamte »Burghölzli-Mystik« um Forel und Bleuler zu beziehen. Heute sind wir auf die Thesen Spielreins vorbereitet. Im Jahr 1912 stand der Annahme der Existenz eines Destruktionstriebs jedoch zum einen die Eigendynamik des Kreationsprozesses, wie Freud ihn begriff, und zum anderen die Vorgaben bezüglich der Psychose im Wege, in deren Konzeption eine Freud-typische Komplikation auftritt. Zu denken ist hier an die Rolle des Objekts und den Platz des Weiblichen in der Psyche. Rufen wir uns in Erinnerung, dass Freud 1913 in »Das Motiv der Kästchenwahl« den Tod neben der Mutter und der Geliebten als eine der drei Figuren des Weiblichen evozierte (S. 23–37). Jung ließ Freud den neuen Kontinent der Psychose entdecken. Er selbst lehnte, wie Adler an Janet orientiert, die infantile Sexualität, den Ödipuskomplex und die Rolle der Libido ab und stellte hinsichtlich der Dementia praecox die Hypothese einer organisch begründeten Zerstörung bestimmter geistiger Fähigkeiten auf (vgl. Jung 1907). Abraham versuchte Freud die Augen zu öffnen – vergeblich; aus politischen Gründen wollte Freud in Jung seinen »Thronfolger« sehen. Jung veranlasste Freud, die »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« zu lesen. Freud veröffentlichte 1911 »Der Fall Schreber« – seine Abhandlung über die Paranoia, in dem er Jungs und Spielreins Beiträge erwähnt, aber nichtsdestotrotz eine ausschließlich libidinöse und homosexuelle Theorie über die Krankheit aufstellt. Des weiteren stellt Freud 1911 in »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychi-

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schen Geschehens« Verbindungen zwischen libidinöser Frustration, Realitätsprinzip und Realitätsverlust her. Im Gegensatz zu Bleuler und Jung, die »eine Psychologie ohne Sexualität« anstreben, ist der in der Psychose zu Tage tretende Destruktionstrieb Spielreins ein Bestandteil des Sexualtriebs. Jung weitet in seinem 1912 veröffentlichten Werk »Wandlungen und Symbole der Libido« die Bedeutung des Libidobegriffs dergestalt aus, dass er die ganze psychische Energie umfasst, die Jung zufolge einer physischen Energie ähnelt. Diese Neugestaltung mündet in einen Monismus und verwässert die Referenz auf einen psychischen Konflikt. Als Jung hinzufügt, dass »die Unterdrückung der Realitätsfunktion in der Dementia praecox sich nicht auf die Unterdrückung der Libido reduzieren läßt«, bedeutet dies den Bruch mit Freud. Freud kontert 1914 mit »Zur Einführung des Narzissmus« – einer ersten Revolution innerhalb der Triebtheorie. Mit dem Narzissmus bestätigt er den libidinösen Ursprung der IchTriebe in Entgegensetzung zu den Objekttrieben: Wenn das Ich selbst libidobesetzt ist, müssen wir sein bemerkenswertestes Charakteristikum, den Selbsterhaltungstrieb, als narzisstisches Element des Sexualtriebs begreifen. Während des Krieges setzt Freud, trotz der Angst um seine Familienangehörigen und der Entbehrungen, seine Überlegungen fort. Nach »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« erscheinen die großen Synthesen der Texte »Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre« (1915) und »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916–1917), gefolgt von »Trauer und Melancholie« (1917) und schließlich dem »Wolfsmann« (1918). 1919 modifiziert er seine Triebtheorie zum dritten Mal, indem er die Hypothese eines Todestriebs aufstellt, um – ausgehend von der Wiederholung in der Analyse des Spiels, der in Träumen offenbar werdenden Traumatisierung und der Übertragung – einen Wiederholungszwang »Jenseits des Lustprinzips« zu etablieren. Der Text wird 1920 veröffentlicht; Verleumder machen den Tod der Tochter Sophie sowie des Freundes Anton von Freund in derselben Januarwoche für Freuds Pessimismus verantwortlich (vgl. Gay 1989, S. 440–441). Die von Eitingon als Dementi erbetene Versicherung, der Text sei älter, ist vergeblich.

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Während er seine Gedanken – wie er selbst sagt: versuchsweise – entwickelt, erkennt Freud in einer Fußnote die Vorgängerschaft der Entdeckung des Destruktionstriebs Sabina Spielrein zu. Er schreibt: »In einer inhalts- und gedankenreichen, für mich leider nicht ganz durchsichtigen Arbeit hat Sabina Spielrein ein ganzes Stück dieser Spekulation vorweggenommen. Sie bezeichnet die sadistische Komponente des Sexualtriebs als die ›destruktive‹« (1920, S. 59). Die Referenz überrascht. Ein Schwindelanfall angesichts der Wendung, die Freuds Werk nimmt und die ihn Rückhalt suchen lässt? Bedauern auf Grund seiner »nicht ganz durchsichtigen« Rolle als Dritter in der Affäre Spielrein-Jung, in der homosexuelles Einverständnis vielleicht als Abwehr der Stimme des Weiblichen fungierte? Reminiszenz des Eindrucks, den Spielrein hinterließ, als er sie traf und daraufhin an Jung schrieb: »Ich beginne zu verstehen«, wobei die junge Frau einen theoretischen Arbeitsprozess anregte, der ihn einige Jahre später zur Formulierung der Rolle des Objekts und des Platzes des Weiblichen in der Trieborganisation veranlasste. Freuds Anmerkung aus dem Jahr 1920 entstammt einer Passage, die den Masochismus betrifft. Es macht durchaus Sinn, Spielreins Auffassung des Destruktionstriebs als einen Trieb unter den Sexualtrieben in die Nähe der Freud’schen Beschreibung des Masochismus in »Das ökonomische Problem des Masochismus« (1924) zu rücken. Darin orientiert sich Freud stark an seinen klinischen Erfahrungen. Die Konzeptionen beider Autoren ähneln sich, wenn Freud den Masochismus als »Ausdruck des Seins der Frau« beschreibt und einen der drei Masochismen als weiblich qualifiziert und Spielrein in dem Wunsch, absorbiert zu werden, eine normale masochistische Tendenz sieht, die sich bei der Frau als Destruktionsphantasma äußert. Muss man es dem weiblichen Masochismus Spielreins anlasten, dass sie nicht wie Freud das verbissene und rigorose Bedürfnis verspürte, ihre Hypothesen dem Prüfstein klinischer Fakten auszusetzen, um ein überzeugendes und unumstößliches theoretisches Modell zu erstellen? Illustriert sie damit ihre eigene These, dass die Frau aufgrund ihres Identifikationsvermögens nicht

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über dieselbe psychische Organisationsfähigkeit wie der Mann verfügt, wenngleich sie ihm in puncto Imagination und Intelligenz nicht nachsteht? Tatsächlich hat Freud in einem Brief vom 27. Oktober 1911 einmal geäußert: »Sie haben als Frau das Vorrecht feiner zu beobachten und Affekte intensiver einzuschätzen als andere« (zit. n. Carotenuto 1986, S. 117). Dies erklärt die Verschiedenheit der Vorgehensweisen der beiden Autoren. Im Gegensatz zu Freud gehörte Spielrein zur ersten Generation von Analytikern, denen die Erfahrung der Behandlung, der Übertragung und der Gegenübertragung im Prozess der Analyse zuteil wurde. Diese Erfahrung ließ sie die kapitale Funktion des Objekts erkennen, die Freud bis 1926 in »Hemmung, Symptom und Angst« zu ignorieren schien und die die Post-Freudianer bestätigen würden. Vermorel und Vermorel betonen, dass Freud in »Jenseits des Lustprinzips« den Wiederholungszwang und die Rückkehr zu einem vorhergehenden ursprünglichen Zustand nicht einer inzestuösen Tendenz zuordnet. Die Ambiguität Freuds gegenüber dem Inzest wird durch seine zweischneidige Rolle in der Jung-Spielrein-Episode und kurz darauf durch die Analyse der eigenen Tochter verdeutlicht. Der Todestrieb könnte demzufolge »eine Folie oder eine Etappe der Theoretisierung der Destruktivität als Verlust derjenigen Bindungen des ursprünglichen Inzests« (Vermorel u. Vermorel 2000, S. 149) sein. Spielrein erforscht 1911 lediglich das dynamische Register der Beziehung zum anderen. 1920 ruft Freud in größerem Umfang als seine junge Schülerin die Biologie zu Hilfe. Er beruft sich auf den Prozess der Erregung und seiner Beherrschung durch Bindungen, um den Umwandlungen im Dienste vom oder in Opposition zum Lust- und Realitätsprinzip Rechnung zu tragen. Auf diese Weise beharrt er auf der ökonomischen Ansicht. In einer heute überholten solipsistischen Auffassung vom psychischen Apparat ist der Todestrieb für ihn die Rückkehr zum Anorganischen und Spielreins Annahme der Selbsterhaltung/Erhaltung der Spezies wird in seinem Modell zum Konflikt Ich/Sexualtrieb: »Wir haben vielleicht nicht Unrecht, wenn wir sagen, der schwache Punkt in der Organisation des Ich läge in seinem Verhalten zur Sexualfunktion, als hätte sich

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der biologische Gegensatz zwischen Selbsterhaltung und Arterhaltung hier einen psychologischen Ausdruck geschaffen« (1938, S. 113). Für Freud ist der Todestrieb einerseits an den libidinösen Trieb im erogenen Masochismus gebunden und bleibt andererseits als stummer Antagonist des Eros ungebunden. Später bevorzugt er es, um eine stets präsente Triebverbindung herzustellen, von einem Destruktionsinstinkt oder besser von destruktiven Trieben zu reden. Mit Erstaunen bemerkt er: »Ich erkenne, dass wir im Sadismus und im Masochismus die stark mit Erotik legierten Äußerungen des nach außen und nach innen gerichteten Destruktionstriebes immer vor uns gesehen haben, aber ich verstehe nicht mehr, dass wir die Ubiquität der nicht erotischen Aggression und Destruktion übersehen und versäumen konnten, ihr die gebührende Stellung in der Deutung des Lebens einzuräumen. (Die nach innen gekehrte Destruktionssucht entzieht sich ja, wenn sie nicht erotisch gefärbt ist, meist der Wahrnehmung)« (1929, S. 479). Ersetzen wir in gewissen Passagen »Art« durch »Objekt«, so wird deutlich, dass Spielrein ahnte, dass jenseits des Lust-UnlustPrinzips bisweilen paradoxerweise das Opfer seiner selbst erforderlich ist, um das Objekt zu finden, was nicht zuletzt an das »falsche Selbst« Winnicotts denken lässt. Sie nimmt an, dass all unsere Repräsentationen ein ihnen ähnliches Material suchen, in dem sie versinken, sich aufheben und wandeln können – ein Material, das vom Verständnis bereitgestellt wird und dessen Grundlage die Übereinstimmung der Inhalte ist, die die Repräsentationen beim Adressaten wachrufen. Damit zeigt Spielrein die wichtige Bedeutung des Objekts, seiner Empfänglichkeit, seiner Antwort und seiner Rolle im Prozess der psychischen Wandlung auf, was an die Alpha-Funktion und das Traumvermögen Bions erinnert. Die große Schwachstelle des Spielrein-Artikels ist der Raum, welcher der Verdrängung zugewiesen wird. Der Destruktionstrieb rückt die Funktion der Verdrängung in den Hintergrund, indem negative an die Sexualität geknüpfte Affekte wie Furcht, Ekel oder Angst unmittelbar einer zerstörerischen Komponente des Sexualtriebs zugeschrieben werden. Die Arbeit des Vorbewussten, in der eine Todesrepräsentation an die Stelle einer sexuellen Repräsenta-

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tion treten kann, wie Freud in der »Traumdeutung« ausführt, wird vernachlässigt. Die Hypothese Spielreins lässt an die Beziehungen denken, in denen destruktive Triebe und Angst bei Melanie Klein stehen; wohingegen die Einführung des Todestriebs bei Freud die Theorie der Verdrängung in komplexerer Form erneuert. Freud gesteht, die Intuitionen Spielreins teilweise nicht berücksichtigt zu haben. Sein Ziel war es, »unvoreingenommen [zu] bleiben«, wie er in Bezug auf Nietzsche schreibt – selbst auf die Gefahr hin, dass es scheint, als mache er sich wenig aus den Gedanken anderer: »[. . .] ich bin den Gedanken anderer nicht leicht zugänglich und mache es mir zur Regel, so lange zu warten, bis ich einen wie auch immer gearteten Bezug zum Labyrinth meiner eigenen Gedanken gefunden habe« (Rundbrief vom 15. Februar 1925, zit. n. Robert 1964, S. 373). Um diesen Preis hat er getreu seiner Haltung und den Anforderungen der klinischen Behandlung (Depressionen, Psychosen und Perversionen inbegriffen) seit 1923 – beginnend mit »Das Ich und das Es« – eine Metapsychologie neu begründet, die von der Integration der zerstörerischen Triebe in sein Modell des psychischen Apparats zeugt, wobei er deren Zukunft innerhalb der Theorie und der klinischen Praxis der Nachwelt überließ.

Literatur Carotenuto, A. (Hg.) (1986): Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Sabina Spielrein zwischen Freud und Jung. Freiburg i. Br. Federn, P. (1913): Sabina Spielrein: Die Destruktion als Ursache des Werdens. Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse I: 89–93. Freud, S. (1913): Das Motiv der Kästchenwahl. G. W. Bd. X. Frankfurt a. M. Freud, S. (1920): Jenseits des Lustprinzips. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M. Freud, S. (1925): Selbstdarstellung. G. W. Bd. XIV. Frankfurt a. M. Freud, S. (1929): Das Unbehagen in der Kultur. G. W. Bd. XIV. Frankfurt a. M.

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Freud, S. (1938): Abriss der Psychoanalyse. G. W. Bd. XVII. Frankfurt a. M. Gay, P. (1989): Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt a. M. Jung, C. G. (1908): Die Freudsche Hysterietheorie. G. W. Bd. IV. Offen. Jung, C. G. (1907): Über die Psychologie der Dementia praecox: Ein Versuch. G. W., Bd. III. Offen. McGuire, W.; Sauerländer, W. (Hg.) (1974): Freud, S.; Jung, C. G.: Briefwechsel. Frankfurt a. M. Numberg, H.; Federn, E. (Hg.) (1979): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. III. 1910–1911. Frankfurt a. M. Robert, M. (1964): La révolution psychanalytique. Paris. Spielrein, S. (1911): Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie (Dementia praecox). Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen: 329–400. Spielrein, S. (1912): Die Destruktion als Ursache des Werdens. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen: 465–503. Vermorel, M.; Vermorel, H. (2000): La Pulsion de mort dans l’oeuvre freudienne et son impact dans les Psychoses. In: Guillaumin, J. (Hg.): L’invention de la pulsion de mort. Paris.

Sexueller Übergriff undAndré Übertragung Karger

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Sexueller Übergriff und Übertragung Anmerkungen zu dem »Fall« Spielrein-Jung

Vorbemerkung Grenzverletzung, Grenzüberschreitung, Missbrauch oder Übergriff – das Phänomen hat viele Namen und bezeichnet ein immer wieder auftretendes Problem in zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt und in der Psychotherapie im Besonderen. Bemerkenswerterweise steht unter den therapeutischen Verfahren die Psychoanalyse im Verruf einer besonderen Anfälligkeit für Grenzverletzungen und nicht die Verhaltenstherapie oder die Psychiatrie, deren Grenzverletzungen mehr mit repressiver staatlicher Ordnungsmacht und Disziplinierung assoziiert zu sein scheinen. Letztere versuchen das Phänomen der Grenzverletzungen durch wissenschaftliche Objektivierung zu neutralisieren. Überhaupt scheint neben der moralischen und rechtlichen Restriktion die wissenschaftliche Objektivierung therapeutischer Binnenverhältnisse derzeit das strategische Gegenmittel zu sein, um dessen Bedienung auch die Psychoanalyse zunehmend nicht umhin kommt. Ich halte es allerdings für den Umgang mit Grenzverletzungen für nicht unerheblich, ob diese als eine durchgängig notwendige Voraussetzung menschlicher Beziehungen (kein Selbstverhältnis ohne den Übergriff auf den anderen und dessen objektivierende Wiederaneignung) oder aber ein Pathologiefall derselben angesehen werden. Die therapeutischen Konsequenzen aus diesen beiden Prämissen, die freilich keine absolute Trennschärfe besitzen, sind höchst unterschiedlich. In dem ersten Fall geht es um intellektuelle/affektive Distanzierung a posteriori zu einer Notwendigkeit der eigenen Grenzüberschreitung. Im zweiten Fall geht es um paranoische Bannung und letztlich um eine Radikalisierung des Phänomens.

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Als Beispiel und geradezu Schulfall einer solchen Grenzverletzung in der Psychoanalyse gilt nach wie vor – allen relativierenden Kontroversen widerstehend – die Beziehung zwischen Sabina Spielrein und Carl Gustav Jung. Die mit historischen, psychoanalytischen und diskursanalytischen Argumenten geführte Diskussion um diese Beziehung verdiente eine eigene Betrachtung. Im Allgemeinen herrscht Einvernehmen, dass es zu Grenzenverletzungen gekommen und dies nachteilig für Sabina Spielrein gewesen ist. Vor allem aber die Frage, worin eigentlich die Grenzverletzung bestanden haben soll, ist strittig. Betrifft diese ein sexuelles Verhältnis zwischen Spielrein und Jung im engeren Sinne? Sind es die Rollenvermischungen von Patientin, Schülerin, Geliebter, Kollegin? Ist es Jungs Illoyalität, seine »Schufterei« Spielrein gegenüber, als dessen Ehe ernsthaft bedroht schien? Waren es die wechselseitigen Instrumentalisierungen von Spielrein und Jung in deren Beziehung zu Freud und umgekehrt? Sind es die intellektuellen Enteignungen der Frau Spielrein durch die die Frau repräsentierenden Männer Jung und Freud? Die Aufzählung von Fragen ließe sich problemlos weiter verlängern. Mit der Lokalisierung und Definition der Grenzverletzungen zwischen Spielrein und Jung geht gemeinhin die Gewichtung derselben bezüglich ihrer Konsequenzen für die Beteiligten und die Festschreibung von Schuldverhältnissen einher. Hierin liegt sicherlich der heimliche Skandal der Diskussion begründet: Waren – pointiert gefragt – die Grenzverletzungen letztlich das heilsame Agens für Sabina Spielrein, welche die erstaunliche Entwicklung einer Psychiatriepatientin zur Psychoanalytikerin von internationalem Ruf förderten, oder waren diese Grenzverletzungen schädigend, da sie Entwicklungsmöglichkeiten verhinderten? Waren die therapeutischen Grenzverletzungen für Sabina Spielrein letztlich produktiv oder destruktiv? Um solche Fragen einer angemessenen Beantwortung zuzuführen, erscheint es sinnvoll, nochmals das Problem der Grenzverletzung in seiner allgemeinen Dimension aufzunehmen. Ich möchte dabei im Folgenden anstatt des Begriffs der Grenzverletzung den des Übergriffs verwenden, da es mir in der allgemeinen Dimension dem Wortsinn nach zunächst weniger um einen Akt

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des Verletzens, als um einen des Voraus- oder Über-Greifens zugehen scheint. Akte des Voraus- oder Übergreifens können freilich in ihrer Folge zu Verletzungen führen. Wie lässt sich der Übergriff bestimmen? Ich möchte dabei im Folgenden auf den Zusammenhang von Übergriff und Übertragung näher eingehen, da mir ein gegenüber bestimmten Positionen in der Psychoanalyse differenzierendes kategoriales Verständnis der Übertragung für das Verständnis des Übergriffs bedeutsam erscheint und daran einige Bemerkungen über den Umgang – auch den gesellschaftlichen – mit dem Problem des Übergriffs anschließen. Nicht befassen möchte ich mich an dieser Stelle mit den differenzierten Ansätzen innerhalb der Psychoanalyse zum behandlungstechnischen Verständnis »therapeutischer Übergriffe«, wie sie von Autoren wie Cremerius, Fischer, Pfannenschmidt, Hirsch oder Krutzenbichler bereits entwickelt worden sind und deren Wert nicht zu bestreiten ist (vgl. Karger et al. 2001). Auch die klinisch praktische Dimension des Problems wird an dieser Stelle vernachlässigt.

Sexueller Übergriff »[. . .] und von einer edlen Frau, die sich zu ihrer Leidenschaft bekennt, geht trotz Neurose und Widerstand ein unvergleichlicher Zauber aus [. . .] Die feineren und zielgehemmten Wunschregungen des Weibes sind es vielleicht, die die Gefahr mit sich bringen, Technik und ärztliche Aufgabe über ein schönes Erlebnis zu vergessen« (Freud 1915, S. 319). Freud wusste, wovon er schrieb. Nicht umsonst hatte er sich, wie es bei Jones zu lesen ist, 1883 von seiner Braut Martha Bernays den Satz »In dubio, abstine« auf eine Votivtafel sticken lassen, die dann über seinem Schreibtisch im Wiener Allgemeinen Krankenhaus hing (vgl. Jones 1962, S. 70). Diese Erinnerung oder vielmehr Ermahnung an eine Hemmung verweist auf deren Gegenteil, die Enthemmung, womit zugleich die Extrempositionen eines Verhältnisses benannt sind. Die volle Enthemmung bedeutet Übergriff, die

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Hemmung Abstinenz. Später hat Freud diese Extrempositionen in das Verhältnis der Übertragung gesetzt, die zunächst noch als Artefakt und größtes Hindernis, als »falsche Verknüpfung« (Freud 1895, S. 308f.), dann zum »mächtigsten Hilfsmittel derselben« (Freud 1905, S. 281) wurde. Bereits in dem Beschreiben der Übertragung als »Hilfsmittel« kündigt sich eine folgenschwere Verwechslung an, die den kategorialen Stellenwert der Übertragung zugunsten der Übertragung als klinisches Phänomen und therapeutisches Element vernachlässigt. Dass die Übertragung mehr ist als ein Topos in Lehrbüchern über psychoanalytische Behandlungstechnik, darauf hat spätestens Lacan aufmerksam gemacht, der die Übertragung in Bezug auf Freuds Terminologie neben dem Unbewussten, der Wiederholung und dem Trieb als zentralen der »vier Grundbegriffe der Psychoanalyse« bezeichnete und ihr das Begehren als »Achse, Drehpunkt, Stil, Hammer [. . .] applizierte« (Lacan 1987, S. 257). Die Übertragung ist buchstäblich ein transitiver Akt, eine Über-Tragung. Dieses Moment findet sich in einer Verschiebung des Über-Tragens auch beim Über-Gang, Über-Griff und beim Über-Tritt wieder. Tragen, Gehen, Greifen und Treten sind performative Akte, die eine Ortsveränderung bewirken. Ortsveränderungen implizieren eine Relation zwischen zwei Orten, die einen Raum und ein diese Relation differenzierendes Moment, die Grenze, konstituieren. Übertragungen, Übergänge, Übergriffe und Übertretungen sind Grenzüberschreitungen, die sich im Modus der Grenzpassage unterscheiden. Während die Übertragung scheinbar noch vom sicheren Ort des Selbst aus geschieht und etwas vom Selbst beim Anderen deponiert, was wieder zurückgenommen werden kann, und der Übergang ein scheinbar gefahrloser Wechsel vom Ort des Selbst zum Ort des Anderen ist, wird im Übergriff und in der Übertretung etwas Illegitimes angezeigt, da die Grenzpassage mit einer Grenzgefährdung oder -beschädigung einhergeht. Was unterscheidet die Übertragung vom Übergriff als Grenzpassage? Liegt in der Übertragung, die ebenfalls eine Grenze zum Ort des Anderen überquert, nicht bereits der Übergriff verborgen? Lassen sich derartige Grenzen überhaupt als isolierbare Größen behaupten?

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Paradigmatisch für die Praxis der Übertragung ist die Liebe, bei der nicht erst die Psychoanalyse darauf hingewiesen hat, dass das sich realisierende Phantasma der Liebe auf einem fundamentalen, aber offensichtlich immer auch befriedigenden Verkennen und Verfehlen gründet. In seiner Arbeit »Massenpsychologie und Ich-Analyse« betrachtet Freud einen Zustand der Liebe, die »Verliebtheit«, unter dem Aspekt der Verkennung oder Täuschung, der Beeinflussung mit der »primären Identifizierung«, der Suggestion, der Hypnose und auch kurz der Telepathie. Die Telepathie, ein Übertragungsvorgang, zu dem Freud bekanntermaßen eine hochgradig ambivalente Einstellung hatte, markiert übrigens eine Grenze des im psychoanalytischen Diskurs Ausgeschlossenen, die Grenze gegenüber den objektiven Übertragungsmedien, die nur als Wahninhalte von Psychosen wie im »Fall Schreber« behandelt werden. Freud interessiert sich unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges für den Prozess, der die »Beeinflussung« in Gang setzt und dafür, in welcher Weise dieser der Verkennung bedarf. Beeinflussung lässt sich wie im Fall der Hypnose nicht allein auf den Hypnotiseur und seine Gabe zurückführen, sondern es muss etwas im Selbst geben, was diese Beeinflussung zulässt. Eine Erklärung dafür findet sich im Begehren und seiner Unabschließbarkeit im Selbst-Anderen-Verhältnis. Freud beschreibt dies als »Wieder-Holung« durch die primäre Identifizierung, bei der etwas »im Ich am Ort des Ich-Ideals wieder aufgerichtet wird« (1921, S. 125), was als Objekt unwiederbringlich verloren ist. Das fehlende Objekt wird durch das Aufstellen eines Denkmals des Objekts ersetzt. Diesem Denkmal als Anwesendes Abwesendes kommt eine spezifische Kraft zu, die in einer Bindung und einer Transformation besteht. Die Bindung zwischen dem Selbst und dem Anderen, auf die Freud insistiert, ist keine einfache – im Sinne einer reziproken – Relation von Projektion und Identifikation (Introjektion). Das Verhältnis beruht nicht auf etwas, was der Andere für das Selbst ist, sondern was dem Anderen und dem Selbst jenseitig ist. »Dabei stellt das Ich-Ideal jenen Punkt vor, von dem her das Subjekt wie vom anderen gesehen sich zu sehen vermag, [. . .] was ihm die Möglichkeit gibt, sich in einer Zweier-

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situation zu halten, die ihm unter dem Gesichtspunkt der Liebe als befriedigend erscheint« (Lacan 1987, S. 282). Das Ich-Ideal steht in Relation zu einem abwesenden Objekt, von dem es sich nährt. Bei Lacan wird dies als Objekt a bezeichnet. Das Begehren der Selbstkonstitution im Selbst-Anderen-Verhältnis ist an diese dinglich-mortale Objektivität gebunden, von der sie sich zugleich beständig abstoßen muss. In der »primären Identifizierung«, verbleibt laut Freud ein unassimilierbarer Rest, an dem sich die Selbst-Identität aufschiebt und die das Begehren in seiner Unabschließbarkeit motiviert. Keine Selbstkonstitution ohne Übergriff auf das Entzogene und dessen Verfehlen, von dem aus sich diese neu generiert. Die Diskussion der Übertragung ist also in die Dimension des Begehrens aufzunehmen, welches als Verhältnis im Sinne einer apriorischen Übergriffigkeit existiert. Bezogen auf die psychoanalytische Behandlung hat Lacan, für den der Psychoanalytiker in der Übertragung den Platz des IchIdeals einnimmt, dies einmal so formuliert: »In dieser Konvergenz indessen, auf die die Analyse durch die Täuschung der Übertragung hinausläuft, begegnet etwas Paradoxes – die Entdeckung des Analytikers [. . .] was der Analysierte seinem Partner, dem Analytiker, letztlich zu verstehen gibt [ist]: Ich liebe Dich, weil aber, unerklärlich, ich in Dir etwas liebe, das mehr als Du ist . . . muß ich Dich verstümmeln« (Lacan 1987, S. 282). Unterstellt man dem Begehren eine apriorische Grenzüberschreitung, hat das ganze Hominisationsgebaren, die kulturelle Entwicklung in makro- und mikrologischer Dimension einen fundamental übergreifenden Charakter. Das Übergreifende des Begehrens realisiert sich im Normalfall nicht im Extrem seiner Enthemmung, die in der Verstümmelung, der Tötung, der Vernichtung des anderen liegen kann. Es unterliegt einer Hemmung. Was aber verursacht die Hemmung – ist es das Gesetz, das Über-Ich, die symbolische Ordnung? Damit wären wir wieder bei der klinischen Situation, bei der Übertragung, der Abwehr und dem Widerstand. Es scheint, vergegenwärtigt man sich den Stand der geltenden psychoanalytischen Praxis und Theorie, außerordentlich schwierig zu sein, die konstitutionelle Notwendigkeit des Übergriffs in der Übertragung als Problem zu erkennen. Vielmehr ist sie einer

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mitunter hartnäckigen Amnesie anheim gefallen. Die Vermittlungsdimension der Übertragung wird als Behandlungstechnik und der Missbrauch damit als technisches Problem isoliert. Insofern ist der Missbrauch immer ein kategorial sexueller, da sich von ihm die scheinbar übergriffsbereinigte Behandlungstechnik (Rationalität) separieren lässt. Scheinbar funktionieren »die reine Psychoanalyse« und »der sündige Missbrauch« als zwei parallele Serien, in denen es neben der »realen« Liebe die Übertragungsliebe gibt (vgl. Freud 1915). Der Leib der Patientin wird zum Inbegriff der Grenze, die Übertragungsliebe wird zum Inbegriff der Motivation ihrer Überschreitung. Als Bedingung psychoanalytischen Arbeitens gilt die strikte Trennung zwischen imaginärem und symbolischem Raum einerseits und dem realen Raum andererseits. Nur wenn das Reale des Körpers und der Kultur außerhalb der therapeutischen Beziehung isoliert bleibt, ist das atraumatische Wechselspiel der Übertragung möglich, in der die Behandlungsfolge von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten und mit ihr die Wandlung eines individuellen Symptoms in ein allgemeines gelingen kann. Das Konzept der erotischen Gegenübertragung (vgl. Blum 1973, S. 61–76), das die Spitze der Rationalitätsisolierung ist, erlaubt es, erotische und sexuelle Phantasien des Therapeuten ausdrücklich zuzulassen, deren souveränes Management einzig an ein selbstreflexives klinisches Wissen und die erfolgreiche Beseitigung therapeutischer Restneurosen gebunden ist. Dieser zum Gott-Vater gewandelte Analytiker kann – scheinbar restlos ödipal befreit – die Übertragung und Gegenübertragung bewusst an sich austragen und sich zugleich im instrumentellen Gebrauch derselben davon distanzieren. Der Psychoanalytiker Otto Kernberg formulierte diesen Übergriffsverschluss in der Übertragung als Lehrsatz: »Der Analytiker, welcher die Freiheit hat, bei sich seine sexuellen [das heißt die polymorph-perversen und ödipalen sowie die homo- und heterosexuellen] Gefühle für den Patienten detailliert zu erkunden, wird in der Lage sein, die Natur der Entwicklung der Übertragung zu beurteilen und [für die Behandlung] zu benutzen und eine abwehrende Verleugnung der eigenen erotischen Reaktionen auf den Patienten vermeiden können. Zugleich muss der

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Therapeut in der Lage sein, die Übertragungsliebe zu erkunden, ohne seine Gegenübertragung auszuagieren« (Kernberg 1994, S. 1145). Der Psychoanalytiker ist im souveränen Imaginationsraum seines Binnenkinos durch die Rationalität seines therapeutischen Verfahrens memorial gesichert. Die Abstinenz als Tabuwächter des sie fundierenden Übergriffs sichert den symbolischen Raum der Psychoanalyse – aber sie bedroht ihn auch. Denn das Gesetz verbietet den Übergriff nicht nur, sondern motiviert ihn zuallererst. Dies wirft die Frage nach einem angemessenen Umgang mit dem Übergriff in der psychoanalytischen Situation und in der Psychoanalyse auf, der weder in einem Rationalitätsfortschritt der psychoanalytischen Technik, noch in einer Ich-Stärkung – reifere Analytiker – oder Über-Ich-Proliferation – mehr Supervision und Qualitätskontrolle – bestehen kann und auch bisher nicht den anhaltenden faktischen Vollzug des Übergriffs korrigieren konnte, ohne dabei einer perversen libertinären Enthemmung im Zugriff auf den Körper das Wort reden zu wollen. Es geht vielmehr darum, den Übergriff in der analytischen Situation beständig in der Übertragung in Bewegung zu halten. Das etwas von dieser analytischen Haltung durchaus als eine »Ethik der Psychoanalyse« verstanden werden kann, drückt sich in einer bestimmten Lesart der eingangs erwähnten kleinen Tafel Freuds aus. Das »In dubio, abstine« unterscheidet sich sehr von dem ersten Gebot der transatlantischen »Grundsätze der Psychoanalytischen Technik« von 1922: Statt »Don’t touch the patient« (Cole 1922, S. 43f.) heißt es ja bei Freud gewendet: »Greife über, aber nur wenn du dir gewiss bist«. Wer hat in Liebesdingen schon je Gewissheit erlangt? In seinen Bemerkungen zur »Dynamik der Übertragung« schreibt Freud: »Es ist unleugbar, dass die Bezwingung der Übertragungsphänomene dem Psychoanalytiker die größten Schwierigkeiten bereitet, aber man darf nicht vergessen, dass gerade sie uns den unschätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden« (1912, S. 374): die Liebesregungen ebenso wenig wie die Kranken, möchte ich hinzufügen.

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Abschließend möchte ich mir noch einige kurze Bemerkungen zum Problem des Opfers als kulturelles Anathema – geweiht und geflucht – erlauben. Denn bei der Frage nach dem sexuellen Übergriff oder, um es pointierter zu sagen, nach dem »sexuellen Missbrauch in Psychoanalyse« von einem Skandal auszugehen, ist ebenso notwendig wie altmodisch. Relativiert sich das Skandalöse doch sogleich an der allgemeinen Dimension, die der Übergriff in der heutigen Kultur einnimmt. Der Übergriff ist in seine kulturelle Totalität gewendet, so dass wir heute mit Baudrillard von einer »opferhaften Gesellschaft« sprechen können, in der sich »das Schuldgefühl ausdrückt, aufgrund einer unmöglichen Gewalt gegen sich selbst« (Baudrillard 1996, S. 204f.). Es gibt keine Dimension mehr – weder die Wissenschaft, noch die Ethik oder gar die Kirche, wie die jüngsten Päderastie-Skandale in den USA zeigen –, die noch als übergriffsfreies Reservat, als schuldfreies Jenseits gelten kann. Vielmehr sind wir in einer negativen Wendung genötigt, die Opfer beständig als Täter und die Täter als Opfer zu entdecken, wie dies beispielhaft die Debatten um das »false-memory-syndrom« oder den »Fall Wilkomirski« zeigen. Die Konjunktur des Opfers korrespondiert mit einer Konjunktur des Traumas. Was als kulturwissenschaftliche Mode der 1980er Jahre begann und zunächst in der Positivität des Gedächtnisses seinen Gegenstand fand, ist inzwischen zur Beschäftigung mit den Formen seiner Beschädigung geworden. Das Negative – die Kategorie des Opfers und des Traumas – wird so zur Identitätsfolie, in der sich die Enteignung des Übergriffs durch seine Simulation als mediale Repräsentation widerspiegelt. »[Es ist] die Auferstehung des Anderen [. . .] als Opfer [. . .] und unsere eigene Auferstehung als unglückliches Gewissen, die aus diesem nekrologischen Spiegel eine nicht weniger elende Identität bezieht. Wir nutzen die vielfältigen Zeichen des Unglücks, um Gott durch das Böse zu beweisen, wie wir das Elend der anderen nutzen, um den negativen Beweis unserer Existenz anzutreten. Die neue Identität ist die des Opfers. Alles dreht sich um das [missbrauchte] Subjekt, und die opferhafte Strategie ist die, es als solches anzuerkennen. Alle Differenz zeigt sich durch den opferhaften Akt der Beschuldigung (der Wiedergutmachung

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eines Verbrechens)« (Baudrillard 1996, S. 209). Mitleid ist eine Strategie der Indifferenz, »Freikauf, Buße, Weißwaschung, Prophylaxe, Promotion und Rehabilitation« sind Strategien der Indifferenzbildung. Die Identität des Opferhaften wird zum stärksten Motiv seiner Beseitigung, zum Erlösungsmotiv als Teilhabe am universellen Übergriff. Man erkennt hier leicht Nietzsches Kritik des Ressentiments wieder, die sich ein Jahrhundert später zunehmend im Objektivitätsexzess erfüllt. Ich möchte mit einem Zitat – vielmehr einer Ermahnung – von Baudrillard meine Anmerkungen schließen, die hoffentlich anstößig genug waren: »Sich auf das Unglück zu beziehen, selbst in der Absicht, es zu bekämpfen, heißt, ihm eine Grundlage zur unbegrenzten objektiven Reproduktion zu geben. Unter allen Umständen und gleich was bekämpft wird: man muss immer vom Bösen ausgehen, aber nie vom Unglück« (Baudrillard 1996, S. 205).

Literatur Baudrillard, Jean (1996): Das perfekte Verbrechen. München. Blum, H. (1973): The concept of erotized transference. Journal of the American Psychoanalytic Association 21: 61–76. Cole, E. M. (1922): A few »dont’s« for Beginners in the Technique of Psychoanalysis. International Journal of Psychoanalysis 3: 43–44. Cremerius, J. (1986): Vorwort. In: Carotenuto, A. (Hg.) (1986): Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Sabina Spielrein zwischen Jung und Freud. Freiburg i. Br. Fischer, G.; Becker-Fischer, M. (1996): Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie – was tun? Heidelberg. Freud, S. (1912): Zur Dynamik der Übertragung. G. W. Bd. VIII. Frankfurt a. M. Freud, S. (1915): Bemerkungen über die Übertragungsliebe. G. W. Bd. X. Frankfurt a. M. Freud, S. (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M. Hirsch, M. (1998): Überlegungen zum Wesen der Analyse, zum analyti-

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schen Raum und zur Überschreitung seiner Grenzen. Forum der Psychoanalyse 14: 312–318. Karger, A.; Knellessen, O.; Lettau, G.; Weismüller, Ch. (Hg.) (2001): Sexuelle Übergriffe in Psychoananlyse und Psychotherapie. Göttingen. Kernberg, O. F. (1994): Love in the analytic setting. Journal of the American Psychoanalytic Association 42: 1137–1157. Krutzenbichler, H. S.; Essers, H. (1991): Muß denn Liebe Sünde sein? Über das Begehren des Analytikers. Freiburg i. Br. Lacan, J. (1987): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim u. Berlin. Pfannenschmidt, H. (1998): Der »Gebrauch der Lüste« in der Analysestunde. Forum der Psychoanalyse 14: 364–384.

»Zu neuen Thaten, Christoph theurer Weismüller Helde«

Christoph Weismüller

»Zu neuen Thaten, theurer Helde« Zum Verhältnis von Heldentum und Weiblichkeit: Sabina Spielrein in den Fesseln des »Siegfried«17

Krankheit, Therapie und Inzestverstrickungen 1904 wird Sabina Spielrein mit fast 19 Jahren in die psychiatrische Klinik Burghölzli, Zürich, eingeliefert. Dort behandelt sie der 29-jährige Carl Gustav Jung unter Berücksichtigung der psychoanalytischen Lehren Sigmund Freuds. Nach zehn Monaten wird Spielrein 1905 als geheilt aus der Anstalt entlassen. Noch im Sommersemester des Jahres 1905 schreibt sich Sabina Spielrein für das Studium der Medizin an der Universität Zürich ein. Wie ist ein solcher Schritt zu bewerten, der noch innerhalb und zugleich wie im direkten Anschluss an die – zumal bemerkenswert kurze – Behandlung erfolgt, die sicherlich bereits von den neuen psychoanalytischen Erkenntnissen beeinflusst war? Ist die Aufnahme eines Studiums – zumal das der Medizin, dieser therapeutisch fesselnden Näherung des kranken Körpers des Anderen – nur die Aufnahme eines Studiums und sonst nichts? Zweifellos handelt es sich um mehr: Mit dieser Einschreibung zum Medizinstudium geht Sabina Spielrein über die Therapie im Burghölzli hinaus und gibt dieser eine neue Wende. Sie nimmt einen weiteren Weg der Therapie auf, und zwar in der folgenden Art und Weise: Sie erweitert eine Situation subjektiver Reklamation auf die objektive Ebene wissenschaftlicher Ausbildung und Forschung und nimmt das thera17 Präzisierungen, Spezifizierungen, ausführlichere theoretische Ausfüh-

rungen sowie an Sabina Spielreins Gedanken orientierte detailliertere Bezugnahmen auf das Wagner’sche Werk hinsichtlich des SiegfriedProblems werden als separate, monographische Buchpublikation unter dem Titel »Siegfried lebt, lebt, lebt« voraussichtlich 2007 vorgelegt.

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peutische Verhältnis ein Stück weit in eigene Bestimmung und Verantwortung, indem sie es auf seine wissenschaftlichen Konditionen zurückführt respektive seine objektive Konstitution subjektiv nachzuarbeiten versucht. Nicht zuletzt erweitert sie dergestalt die Situation auf die konkrete Vermittlung zum väterlichen Ort des Behandelnden hin: und zwar nicht zuletzt auch in der Hinsicht, dass sie die Therapie von Jung – der »eigentlichen« Psychopathologie in diesem Verhältnis – übernimmt, und zwar als Fortsetzung ihrer eigenen Therapie. Spielreins Therapie dauert mithin nicht nur unwahrscheinlich kurze zehn Monate zuzüglich der wöchentlichen Folgesitzungen, sondern sie vollzieht sich vor allem als die Therapie Jungs. Diese nahm mit dem Übergang von der Behandlung in Burghölzli zum Studium der Medizin ihren Anfang. Aus der fesselnden Verwebung der beiden Ebenen Therapie und Studium – und Sabina Spielrein wird sich und ihrem »Patienten« Jung noch weitere Ebenen erschließen – ergibt sich die Diskussion des Problems der Vermittlung des weiblichen Geschlechts. Diesem Aspekt möchte ich im Folgenden vorrangig Aufmerksamkeit zukommen lassen, da er in ganz besonderer Weise für das Problem der Sabina Spielrein einschlägig ist und alle Ebenen ihrer Existenz durchzieht. Drei Grundannahmen sind einleitend zu formulieren. Diese Annahmen betreffen die Konzeption von Lebensentwürfen, das heißt a) deren Konstitution, die konstitutiven, kriterialen Bedingungen, b) deren Funktion und c) deren Struktur, und zwar im Rahmen eines – niemals souverän subjektiv und verfügt bewusst zu wählenden – Plans der weiblichen Subjektkonstitution: 1. Sabina Spielrein scheint darauf zu bestehen, sich aus Vorhandenem, aus Voraussetzungen und Vorgaben gewinnen zu können. 2. Sie gewinnt ihre Existenz als die Planung ihrer Möglichkeit aus den Vorgaben einer kulturell entfalteten Wirklichkeit. 3. Es ist ihr Plan, das weibliche Geschlecht als ein mögliches vermittelbar zu machen und als solches entweder sich rückzuvermitteln beziehungsweise dessen bemächtigende Vermittlung gewährleisten zu können.

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Die Vorgaben, auf welche sie diesbezüglich zurückgreifen kann, sind vielfältig; es handelt sich um Elemente des Komplexes der Menschkultur: die Dinge, Medien, Techniken, die Verwandtschaftsverhältnisse, die eigene Familie und deren Situation, die Mutter, den Vater, die Psychoanalyse, die Wissenschaften, die Kunst und weiteres. Bereits in früher Kindheit gewinnt Sabina Spielrein einen besonders direkten, fast distanzlosen Zugang zu kulturellen Phantasmen, wenn sie sich selbst als unmäßig machtvoll im fesselnden Herrschaftsverbund eines inzestuösen Verhältnisses zwischen Vater und Tochter erfährt. Sie nimmt sich als die »Göttin« wahr, die ein mächtiges Reich regiert und eine Kraft besitzt, mit welcher sie alles wissen und alles erreichen könne, was sie nur wolle (vgl. Carotenuto 1986, S. 263). Von der inzestuösen Fixierung auf den realen Vater, in welcher der Mutterkörper sich ihr zum Wahn mutiert, wechselt Spielrein im Rahmen ihrer Therapie zu Carl Gustav Jung, von dem sie nun als einzigem »alles ertragen« (Russisches Tagebuch, Eintrag vom 08. Juni 1905, zit. n. Wackenhut u. Willke 1995, S. 186f.) und aufnehmen kann. Von Jung wird sie weiter Ausgang nehmen zum Studium, zur Medizin, zur Psychoanalyse, zur Kunst, zur Musik und auch zur Mutterschaft; durch ihn ermöglicht sich für Sabina Spielrein die Restitution eines weiblichen Körpers: aus der Vermittlungsleistung des Sohnes, der im institutionellen – insbesondere klinischen – Anschluss die maternale Macht phantasmatisch verfügt. Dreh- und Angelpunkt der vielfältigen Ausrichtungen Spielreins wird die besondere Beziehung, das fesselnde therapeutische Verantwortungsverhältnis zu Jung bleiben. Das Verhältnis von Sabina Spielrein und Carl Gustav Jung ist als die subjektive respektive intersubjektive Nachstellung des Vermittlungsproblems zu begreifen, das objektiv in den technischen Medien verschlossen ist. Das Vermittlungsproblem wird subjektiv erst dann virulent, wenn der Versuch unternommen wird, sich aus diesen Vorgaben entfesselnd zu gewinnen: Das heißt, dass das Innere der Objektivität, deren Konstitutionskriterien, auf die subjektive Existenz hin korporal erschlossen werden, dass technische, maschinelle, institutionelle Fesseln in sol-

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che zur Reklamation des Körpers und seiner Fühlbarkeit getauscht werden, so dass – auf der subjektiven Seite und damit krankheitsprovokativ – die Objektivität ihr Eingedenken findet, die Dinge am Körper ihrer Herkunft erinnert werden und das für die Objektivität initiale Körperschwinden am konkreten Körper nachgestellt wird. Die Behandlung durch Jung in Burghölzli, in der er zweifelsohne psychoanalytische Momente soweit wie möglich dominieren ließ, leistete offensichtlich eine erste intersubjektive Strukturierung und Bindung von unverfügbarem und deshalb in Pathologie mündendem Objektivitätsaufschluss. Diese intersubjektive Strukturierung und Bindung nahm und nimmt des Weiteren – durch Sigmund Freuds theoretische Aufarbeitung dieses Verhältnisses – in der Psychoanalyse Platz als das Verhältnis von Übertragung und Gegenübertragung: So produziert die Psychoanalyse eine subjektiv fixierende Erotologisierung des objektiven, in den Dingen gewahrten Todestriebs. Des Todestriebs Fesselungen lockerten sich im Therapieverlauf allerdings – und zwar im Sinne des Versuchs, den Übergriff auf die Götter und Dinge als zwischenmenschliches Verhältnis sich anzumaßen. Damit leitete sich der – keineswegs immer unproduktive – Prozess einer Symptomverschiebung ein: Wechsel der Fesselung (Bondage) des Todestriebs. Von daher lässt sich eine kleine, aber prägnante und für den behandelten Zusammenhang äußerst relevante Theorie des Bondage formulieren: Es geht beim Bondage um die Sexualisierung oder Erotologisierung der Dingkonstitutionserinnerung im Sinne der Fesselung des Körpers im Übergang zum Ding und als solchen Übergang zum Ding, das selbst als die fetischistisch geglättete Todestriebfesselung, als beständiger Übergang, Total- und Massenmedium, imponiert. Aus der Klinik entlassen, verschafft sich Sabina Spielrein Zugang zum Medizinstudium sowie später zur Psychoanalyse. Sie versucht damit, sich möglichst weite Bereiche von dieser technischen Verschlossenheit agierend zu erschließen, diese für sich zu entfesseln. Theoretisch kompendiert sie dies insbesondere in ihrer Examensarbeit »Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie« sowie in der für die Entwicklung der psycho-

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analytischen Theorie weit reichenden Schrift »Die Destruktion als Ursache des Werdens«. In diesem Zusammenhang ist vor allem darauf hinzuweisen, dass nicht nur der Inhalt dieser Schriften besondere Erwähnung verlangt, sondern insbesondere die Form, mithin das Medium selbst: Vermittels der Schrift, dieser Ordnung der Fesselung, der Vorstellungen, der Gedanken und Inhalte, ist Sabina Spielrein in den Status der Medienproduzentin getreten und mithin in den des Begehrens der Fesselung und Disposition des – maternalweiblichen – Opferkörpers. Die Schriften – als Paradigma der Mutterkörpervermittlung, Synthesis der zerstückelten Weibsleiche – werden das Verhältnis von Spielrein und Jung zentral bestimmen, sie verbinden und aneinander fesseln.

Brünnhilde und Siegfried Bald ist Sabina Spielrein von einer anderen medialen Vorgabe gefesselt und erkennt darin verwoben ihre Situation als die subjektive Korrespondenz objektiver Vorgestaltung: Nachdem sie 1905 das Medizinstudium aufgenommen hat, teilt sie 1906 mit, dass sie sich mit der Brünnhilde aus Wagners »Siegfried« und Jung mit dem Protagonisten Siegfried identifiziere. Später wird sie Freud sogar über ihre Seelenverwandtschaft mit Jung, vermittelt durch Wagners Werk, Kunde geben: »Unsere Seelen waren lange Zeit tief verwandt, so haben wir zB. nie mit Dr. Jung ueber Wagner gesprochen; ich komme eines Tages zu ihm und sage, was Wagner von den bisherigen Musikern unterscheidet ist, dass seine Musik tief psychologisch ist: sobald der gleiche Gefühlston kommt, kommt auch die gleiche Melodie und wie sich der Gefühlston bei Andeutung der gleichen Situation zuerst undeutlich in der tiefe wühlt, so erscheint auch bei Wagner die Melodie zuerst kaum erkennbar unter den anderen, erscheint dann in ihrer voller Deutlichkeit um schliesslich sich wieder unter den anderen umgestaltet zu werden. etc. Die Musik von Wagner ist ›plastische Musik‹. Am besten hat mir Reingold gefallen. Bei Dr. Jung werden die Augen tränenerfüllt. ›Ich werde Ihnen zeigen, ich schreibe gerade jetzt das

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gleiche‹. Nun erzählt er mir von Freud, der ihn manchmal bis zu den Tränen rührte wenn sie so ganz das gleiche dachten und fühlten. Ihr Gesicht kam ihn so ungemein sympatisch vor, besonders eine Partie am Ohre uns us.w. Das war vor 1½ bis 2 Jahren, da von einem näheren erotischen Verhältnis zwischen uns noch keine Rede war. Reingold war auch für ihn immer das Liebste. Es drängt sich eine solche Unendlichkeit, dass ich kaum vorwärts kann« (Brief an Freud vom 10.06.1909, zit. n. Carotenuto 1986, S. 98f.).

Besonders erwähnenswert erscheint mir eine orthographische Fehlleistung: Sabina Spielrein schreibt vom »Reingold« anstatt vom »Rheingold«. Worauf mag solche Abänderung der Konvention, das Weglassen eines »h« an solcher Stelle hinweisen? Es ist nicht das vom Vater – dem Rhein – bestimmte Gold, von dem sie handelt, sondern das reine Gold, das geläuterte. Das aber heißt auch, und zwar nicht nur auf der Ebene einer werkimmanenten Betrachtung, dass sie von einem Gold spricht, das durch die therapeutische Läuterung gegangen und von der zehrenden Schuldanmahnung freigesetzt ist, dass sie mithin von dem Gold spricht, an das erst nach der Götterdämmerung zu denken ist. Das »Reingold« basiert auf dem Erfassen des Rheingold – als der töchterlichen Sexualität – von der Götterdämmerung – das heißt von der Psychoanalyse – her. Das Reingold erscheint dergestalt als der – dank der psychoanalytischen Vermittlung – in Reinheit sich vermittelnde Mutterkörper, als die Restitution beziehungsweise Rekonstitution eines reinen maternal-weiblichen Körpers vom töchterlich sexuellen her. Wie auf solche Details, so gilt es auch nicht weniger darauf zu achten, dass Sabina Spielrein weitere bedeutende Verknüpfungen vornimmt, indem sie Freud und Jung und sich dazu in Wagner zu vereinen trachtet. Hervorzuheben ist, dass Sabina Spielrein an einer wie an einen Brünnhildenfelsen bannenden Seelenverwandtschaft gegenüber Freud festhält, und zwar im Rahmen des von Wagner musikalisch und dramatisch inszenierten Drängens der Unendlichkeit, das eine besondere Konkretion hinsichtlich ihrer Beziehung zu Jung zu erfahren scheint. Diese Seelenverwandtschaft gemahnt in solcher Konstellation nicht zuletzt auch an eine zwischen Freud und Jung. Im Sinne der textuellen Brief-

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Inszenierung Spielreins heißt das, dass diese drei seelenverwandt zusammengehören; allerdings müssen sich noch ihr genauer Bezug und ihre Rollen spezifizieren. Man darf mit einiger Zuversicht annehmen, dass sich solche Spezifikation an Wagners Werk ausgerichtet haben wird beziehungsweise sich in Entsprechung zu diesem realisiert.

Wunschkind und Wunschmädchen Auf der Grundlage der Antworten Jungs bei einem AssoziationsTest, den ein Kollege Jungs durchführt, entdeckt Spielrein Jungs geheimen, unausgesprochenen Wunsch: den Wunsch nach einem Sohn. Diesen Wunsch will sie ihm erfüllen. Am 06.07.1907 schreibt Jung an Freud über Spielrein: »Wie sie zugibt, wäre eigentlich ihr höchster Wunsch, von mir ein Kind zu haben, das alle ihre unvollendbaren Wünsche zur Vollendung brächte. Dazu müßte ich natürlicherweise vorher den ›Vogel fliegen‹ lassen« (Brief an Freud vom 06.07.1907, zit. n. Carotenuto 1986, S. 231). Dieses Wunschkind tauft Spielrein auf den Namen Siegfried. Jung indessen fügt eine subjektivierte Version der Waldvogelszene aus Wagners »Siegfried« hinzu. Das Begehren der Sabina Spielrein konzentriert sich darauf, Jungs »Wunschmädchen« (Siegfried, 3. Aufzug) zu sein. Im Rahmen einer subjektiven Fesselung wird der Versuch unternommen, selbst die Position des objektiven Mediums einzunehmen und teilzuhaben an der in diesem vorbehaltenen, gefesselten Macht. Den Wunsch jedoch, als dessen Mädchen sie Platz nimmt, gilt es für Spielrein, die sich in der Position der Brünnhilde erfasst, neu zu bestimmen. Es gibt hierzu eine Vorgabe: Diese stammt von Richard Wagner und ist in der »Götterdämmerung« formuliert: »BRÜNNHILDE: Zu neuen Thaten, / theurer Helde, / wie liebt’ ich dich – / liess’ ich dich nicht? / Ein einzig Sorgen / lässt mich säumen: / dass dir zu wenig / mein Werth gewann! // Was Götter mich wiesen, /

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gab ich dir: / heiliger Runen / reichen Hort; / doch meiner Stärke magdlichen Stamm / nahm mir der Held, / dem ich nun mich neige. / Des Wissens bar – / doch des Wunsches voll; / an Liebe reich – / doch ledig der Kraft: / mög’st du die Arme / nicht verachten, / die dir nur gönnen – / nicht geben mehr kann!« (Götterdämmerung, Vorspiel)

Ganz im Sinne Spielreins setzt die Brünnhilde Wagners den Mann in die Pflicht, die Gaben der Weiblichkeit dem Wunschort rückzuerstatten: Das ist eine Darstellung der Funktion des technischen Mediums selbst, dem Wort und Szene entnommen sind. Diese Funktion des technischen Mediums ist eine formale, die an dieser Stelle den Formalcharakter zudem zum inhaltlichen Ausdruck bringt; sie besteht darin, die Restitution des weiblichen Körpers als technische Objektivität im Sinne eines Körpergedächtnisses zu leisten. Von diesem her werden die Subjekte differenziell konstituiert und sexualisiert, und zwar in dem Maß, wie die Körper von der Objektivierung her erinnert werden. Das heißt, dass die Funktion des Mediums darin besteht, den maternalen Opferkörper als den reinen Gabenkörper erstehen zu lassen, als den sexuellen Körper der Tochter: Lustfesseln der Athene. Die Tragweite der von Spielrein vorgenommenen Identifikationen – Spielrein = Brünnhilde, Jung = Siegfried – entfaltet sich erst vollständig, wenn man auch Wagners »Siegfried« angemessen erfasst. Das Musikdrama »Siegfried« geradeso wie das von Spielrein gewünschte Kind Siegfried sind beide auf einem jeweils spezifischen Niveau die Darstellung der Konstitution des Mediums: Darstellung des Weges zur medial eingelösten, objektiven Totalität des Inzests. Das aber meint: Es geht – auf diesem als Therapie Spielreins eingeschlagenen und der Ästhetik verkoppelten Weg der Therapie Jungs – weniger um den Vollzug des Inzests, als vielmehr darum, an dem Weg zur Erfüllung des ödipalen, narzisstischen Begehrens zu bauen und diesen darzustellen. Es geht um den Todestrieb, um seine Entfesselung und seine Neufesselungen. Die konkrete wie imaginäre dramatische Wunschfigur des Siegfried konstituiert sich aus seiner Berufung, die da ist: der Entfessler zu sein. Entsprechend erfolgt Spielreins Identifikation mit Brünnhilde.

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Diese erscheint ihrerseits im Rahmen des Musikdramas als die Opfergestalt ihres Geschlechts, des Göttergeschlechts. Die Bedingung der Möglichkeit ihres Erscheinens, und zwar ihres Erscheinens in der Gestalt des Opfers, ist Siegfried. Der Siegfried aber ist nicht autonom, und zwar weder bei Wagner noch in Spielreins lebensweltlicher Inszenierung. Der eine ist abhängig von Wotan, der andere von Freud, beide sind abhängig von jeweils spezifischen objektiven Vorgaben. Auch Siegfried, der Entfessler, ist gefesselt; aber er hat seinen durch Brünnhilde respektive Sabina Spielrein opfervermittelten Auftrag erhalten, und dieser besteht paradoxerweise darin, seine Autonomie, seine Souveränität, die Macht der Fesselung selbst zu gewinnen. Damit sind bereits weit reichende therapeutische Maßnahmen in der Hinsicht auf die Behandlung Jungs entworfen. Die Wagner’schen Musikdramen des »Ring des Nibelungen« und speziell der »Siegfried« lassen sich sehr genau als die künstlerisch-ästhetischen Vorgaben für Sabina Spielreins Ausrichtung ihres Lebensweges erkennen: als die medialen Vorgaben eines subjektiven Lebensvollzuges.

Götterdämmerung mit Freud In der ersten Hälfte des Jahres 1908 besteht Spielrein das medizinische Zwischenexamen und Jung gesteht ihr seine Liebe: Das ist eine Szene wie der Schlussakt des »Siegfried«. Doch dann beginnt die »Götterdämmerung«: Jungs Sohn wird geboren, aber nicht von Sabina Spielrein, sondern von seiner Ehefrau. Es kommt zum Streit. Anfang 1909 schaltet sich Spielreins Mutter ein. Es droht ein Skandal. Jung reicht seine Entlassung in Burghölzli ein. Spielrein wirft in dieser Situation Freud das Seil zu; das ist ein Wurf, der wie abgeschaut erscheint von den Nornen und deren zur Neige gehenden Fesselungskünsten; sie schreibt an Freud. Diese Schrift mutet ihr an als »die einzige Rettung« (Brief an Freud vom 10.06.1909, zit. n. Carotenuto, S. 91) vor der Einlö-

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sung des Votums »Siegfried falle«, als die letzte Möglichkeit der Neufesselung der provozierten Todesanmahnung. Sie berichtet Freud in der Korrespondenz, wie »Siegfried entstanden, der den grössten Genie geben sollte, weil Dr. Jung als Götterabkömling mir vorschwebte« (Brieffragment an Freud um 1909, zit. n. Carotenuto 1986, S. 108).18 Spielrein bietet Freud mit solchen Worten und Hinweisen indirekt an, den »Fall Jung« mindest zu supervidieren, wenn nicht gar in therapeutische Obhut zu nehmen. Über Freud vermittelt knüpfen Jung und Spielrein ihre Bande wieder neu. Jung unterstützt Spielrein weiterhin bei der Arbeit an ihrer Dissertation. Die Weisen dieser Zusammenarbeit an dem Gewebe eines Textes geben Spielrein die unerschütterlich feste Sicherheit, dass ihr »Siegfried« lebe. Diesen Glauben, so versichert sie, könne ihr nur der Tod nehmen; dieser Tod, das ist die ultimative Identität von Fesselung und Entfesselung. Sie schickt die Schrift – dieses Medium gefesselter Entfesselung der eingefangenen und verstillten Phoné – an Jung und begleitet sie mit den Worten: »Empfangen Sie nun das Produkt unserer Liebe, die Arbeit Ihres Söhnchens, Siegfrieds. Das hat eine Riesenmühe gegeben, aber für Siegfried war mir nichts zu schwer. Wenn die Arbeit von Ihnen in den druck aufgenommen wird fühle ich meine Pflicht Ihnen und Ihrem Sönchen gegenüber erfüllt. Dann erst bin ich frei. Die Arbeit geht mir weit ueber mein Leben, deshalb habe ich so Angst . . . werth sein wird sie ja schon, weil grosse Liebe und Ausdauer ihr gewidmet sind. Viele Tage und auch Nächte sassen wir mit Siegfried da und arbeiteten. Siegfried hat einen ungeheuren Schaffungsdrang, wenn ihm auch vorläufig ein Schattendasein im Reiche der Proserpina beschieden war . . . die uebrigen Unebenheiten in der Darstellung werde ich auch verbessern können, weil die Liebe zu Siegfried mir hilft . . . Der mythologische Teil ist wohl im allgemeinen bedeutend besser geraten, weil wir hier mit Siegfried alein waren, beim ersten Teile hingegen wurde ich gestört und dann kam eine gegen Siegfried gerichtete Stelle, so dass ich weiter nur sehr mangelhaft meine Gedanken ordnen konnte« (Brief an Jung, wahrscheinlich Anfang August 1911, zit. n. Carotenuto 1986, S. 138–139). 18 Mit einem »m« erscheint der Götterabkömling wie in seiner kastrierten

Gestalt.

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Am 11. September 1910 notiert sie in ihrem Tagebuch Szenenskizzen, die Siegfrieds »blühender Brunst« (Siegfried, 3. Aufzug) abgelesen zu sein scheinen: »Mit wilder Gluth hat sich die Liebe zu meinem Freunde meiner bemächtigt. Bald wehrte ich mich ungestüm, bald liess ich mir jedes Fingerchen von ihm abküssen und hing vor Liebe vergehend an seinen Lippen. Wie dum darüber zu reden! Das bin ich also die reine klare Vernunft, die sich mit solchen Phanthasieen abgibt« (Tagebucheintragung vom 11.09.1910, zit. n. Carotenuto, S. 48).

Siegfrieds »zehrendes Feuer« aber ist leidenschaftlich wohl nur in der Phantasie, als Übertragungsinszenierung, Erinnerung eines bereits vorgängigen Entzuges: in der Schrift. Das verweist auf weitere Verknüpfungen, Übergänge, Übertragungen, Mediationen der Fesselungen, auf deren Verschiebung und Entstellung als Fortschreiben des lebensweltlichen Geschicks: »So will ich denn einen Anderen lieb gewinnen, wenn es für mich noch möglich ist. Ich will von ihm geliebt und geachtet werden, ich will mein Leben mit dem seinigen vereinigen . . . Es ist nicht leicht den Gedanken an das Knäblein, an meinen ersehnten Siegfried aufzugeben, aber was tun?« (S. 51).

Am 19.10.1910 schreibt sie sehr detaillierte Vorstellungen vom Vater des »Siegried [sic!]« (Tagebucheintragung vom 19.10.1910, zit. n. Carotenuto 1986, S. 72) nieder; vor allem notiert sie, wie sie mit diesem hausmütterlich und doch intellektuell ebenbürtig »alles Höchste und Edelste . . . aneinander grosszuziehen« versuchen möchte; ebenso davon, wie ihr Freund, Jung, der »Tauffvater« (S. 73) ihres »ersten Söhnchens«, des Siegfried, würde, dieser Freund, dem sie »das Ideal des Siegfrieds verdanke«. Diesem Freund schickt sie auch ihre Arbeit »Die Destruktion als Ursache des Werdens«. Deren Titel hat Jung nach eigenen Angaben bis in den März 1912 konsequent »falsch gelesen, immer: ›Distinction‹ statt ›Destruction‹« (Brief an Spielrein vom 18.03.1912, zit. n. Carotenuto 1986, S. 206), worüber er sich »gewundert« habe. Solche Fehlleistung bedarf des Bedenkens. Was bringt sich hier zum Ausdruck? »Lieber Trennung als Zerstörung«, so sagt es Jung sich vermittels solcher insistenten Fehlleis-

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tung; oder etwas moderater formuliert: Lieber Flucht, auch Flucht in die von der Gegenübertragung provozierten Aktionen, lieber Flucht als Aushalten der intellektuellen Exposition des fundamental leitenden humanen Problems. Was aber ist das fundamental leitende humane Problem? Wie ist es zu benennen? Das fundamental leitende humane Problem ist das sich selbst als sein Tod Voraus-sein: das Gedächtnisapriori. Das heißt nicht zuletzt, dass an dieser Stelle auf das Problem des Fundamental-Bondage verwiesen ist, und dieses hat seine deutliche Szene wiederum im Wagner’schen Werk gefunden, und zwar mit der vom Vater Wotan auf dem Felsen gefesselte Brünnhilde: das Apriori der Körperfesselung. Zugleich aber erscheint das Gedächtnisapriori als das Problem des dem Vater vorhergehenden Sohnes: Es sind doch alle Männer, und auch die Väter, zunächst einmal die Söhne einer Frau; das heißt, dass dem besagten Apriori die Aufforderung zu »neuen Thaten« immanent ist; anders formuliert: Der Mann kommt zuallererst als Sohn auf die Bühne wie auch in die Existenz, und zwar insofern er von der Frau errufen wird; so nehmen beide Geschlechter für einander die Nicht-Position ihrer kriterialen apriorischen Bedingung ein. Das heißt: Der Mann geht der Frau und die Frau geht dem Mann voraus, und sie erscheinen sich jeweils in der Erscheinung des Anderen als das Gedächtnis ihres Vorausgangs. Aus solchem fundamentalen Existenz-Komplex ergeben sich die weiteren Momente, die Jung offensichtlich zu fliehen versucht: – die Unvermittelbarkeit und Unüberbrückbarkeit der Differenz von a) Geschlecht, b) Generation c) Leben und Tod, – die phallische Unbegründbarkeit – das Denken a) der absoluten Differenz b) des Todestriebs.

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Der Todestrieb schließlich ist es, der als das Unternehmen des Begehrens der Disposition der ursprünglich entzogenen Differenz die Fesselungen der Phantasmata an und in den Dingen der Objektivität sowie pathologiekriterial an den Körpern – dort als konkretisierte Erinnerung und Anmahnung des Opfervorausgangs – vornimmt. In diesem Sinne ist es allemal verständlich, dass Sabina Spielrein mindestens soviel Beängstigendes wie Verführerisches mit sich trägt. Konsequenterweise sind für Sabina Spielrein Liebe und Theoriebildung zwei unentkoppelbare, aneinander gefesselte Elemente eines Komplexes, mit denen die Frage nach dem Repräsentationsverhältnis, nach Narzissmus und Todestrieb offen gehalten und zuallererst eröffnet wird. Jung setzt dem aus der Gegenübertragung motivierte Fehlleistungen entgegen, und zwar zur magischen Beschwörung der Isolation oder »Distinction« von Liebe und Theoriebildung, das heißt: zur Aufrechterhaltung des Rationalitätsphantasmas möglicher Selbstbegründung. Die Fiktion der Selbstbegründung findet in der rationalistischen Fiktion der souveränen Herrschaft des Geistes über den Körper seinen Ausdruck und soll nicht zuletzt zur Fernhaltung von »Wunschmädchen« dienen. Festzuhalten ist zumindest eine starke Abwehr und großer Widerstand auf Seiten Jungs.

Wunschmädchens Aufgabe Spielreins wie Brünnhildes Aufgabe ist es, »Wunschmädchen« in therapeutischer Funktion zu sein. Diese Aufgabe wird ihnen beiden zum Verhängnis. Die Aufgabe besteht darin, den Wunsch des Vaters, den göttlichen Wunsch – die inzestuöse Heimholung all seiner Kreatur in sich –, stets zur Vermittlung einer möglichen Position des weiblichen Geschlechts in der Erscheinung – durch den Helden – erfüllen zu müssen. Dementsprechend schreibt Spielrein: »Es gilt der Kampf auf Leben oder Tod. Wenn es einen Gott-Vater gibt, so höre er mich: kein Schmerz ist mir unausträglich, kein Opfer

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zu gross, um meine heilige Bestimmung zu erfüllen! ›Er muss ein Helde sein‹, weil es mein Wille und der Wille meines Vater, Votans ist. Lieber Tod, als die Schmach. Wie in einen festen grauen Felsen seien diese Worte in mir eingeritzt. Jetzt gibt es keine Angst mehr, weil die Angst des Siegers nicht werth ist, der Schmerz wird nicht mehr empfunden, es wird gegessen, geschlafen, gearbeitet, weil ich nicht mehr ich, nicht mein Wunsch, sondern der unerschütterlich feste göttliche Wille bin . . . was habet ihr, Götter im gemeinsamen Rathe beschlossen? Saget mir den Endwillen. [sic!] und er geschehe!« (Tagebucheintrag vom Februar 1911, zit. n. Carotenuto 1986, S. 80f.)

Anfang 1912 resümiert Sabina Spielrein in Wien ihren Weg des letzten Jahres: »Fort von Zürich in die Ferien nach Montreux. (Chailly s. Clarens), von da – nach München wegen der Kunstgeschichte, hier in voller Einsamkeit meine Arbeit ›Destruktion als Ursache des Werdens vollendet‹ . . . auf Grund meiner Dissertation Mitglied der Psycho-analyt. Vereinigung geworden . . . Alles, was ich mir somit bis dato wünschte ist erfüllt mit Ausnahme des einen: wo ist der, den ich lieben könnte, den ich als Frau und Mutter unserer Kinder glücklich machen könnte? Immer noch ganz einsam« (Tagebucheintrag vom 07.01.1912, zit. n. Carotenuto › S. 82f.)

An diese Worte knüpft sie die Bemerkung, dass sie zwei Patientinnen habe, denen es gut ginge, insbesondere einer Sängerin, die ihr nun »grosse libeerfüllte Briefe und Gedichte« schreibe: »Sie ist eine uneheliche Tochter eines Grafen und ihr Schicksal berührt mich sehr nahe (Siegfried).« Jung zieht sich verstärkt zurück. Sabina Spielrein beginnt, Träume zu erinnern, sie träumt von Heirat; sie reist nach Russland, heiratet den Arzt Pawel Scheftel. Diese Heirat erscheint nicht zuletzt als der Versuch, die geschaffene Differenz zwischen Jung und Freud durch die Aussetzung der Differenz des sperrigen weiblichen Körpers aus der Männerbeziehung zu überbrücken, und zwar umwillen der Neufesselung desselben an einen verschobenen und scheinbar ursprungsnahen Ort. Spielrein begleitet diese Fesselungsverschiebung auch auf der intellektuellen Ebene: Den Streit zwischen Jung und Freud pointiert sie auf den gegenseitigen Vorwurf hin, an der »biologischen Auffassung«

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festzuhalten: »Recht lehrreich für mich ist es, dass Sie und Freud sich gegenseitig das Gleiche vorwerfen, nämlich die biologische Auffassung in der Psychologie« (Brief an Jung vom 03.12.1917, zit. n. Carotenuto 1986, S. 146). Sabina Spielrein nimmt die konkrete korporale, aber zugleich kulturell und sozial abgedeckte Realisierung des Streitfalls der »biologischen Auffassung« vor: Sie heiratet zur Zeugung und Kindesgeburt. Die Geburt ist die Wiedergeburt; das kann man kaum genug hervorheben: Sabina Spielrein gebiert die Wiedergeburt: die Tochter Renata. In diesem Jahr 1913 aber kommt es während der Schwangerschaft Spielreins auf Grund von Differenzen um die Paranoia, womit Spielrein ihren Ort im Zusammenhang der Diskussion um den »Fall Schreber« gewinnt, zum endgültigen Bruch zwischen Freud und Jung. Also ist der Ort für die Wiederkunft Sabina Spielreins bereitet. Am 12. und 18. Dezember 1913 meldet sich die Beziehung zu Sabina Spielrein in Jungs Träumen wieder an: mit Siegfried als dem Renatus. Jung ist gefesselt von zwei Siegfried-Träumen (vgl. Jaffé 1962, S. 182ff.; Eissler 1982, S. 112–145; Rosenzweig 1992, S. 135–175). Im ersten Traum vom 12.12. kündigt sich die Wiedergeburt des Siegfried an, die in einem Blutstrom, einer Tötungs-Inszenierung kulminiert: Menstruation, Abort respektive Kastration. In dem Traum vom 18.12. ertönt der Horn-Weckruf des Siegfried und Jung beschließt, den Wecker zu töten. Zusammen mit einem schattenhaften Begleiter erschießt er den Siegfried, sobald dieser, in einem Wagen aus Totengebein in rasendem Tempo von felsigem Abhang hinab sich nähernd, um eine Ecke biegt. Ekel, Reue und Angst treiben den Mörder zur Flucht vom Ort der Tat, doch gewaltiger Regen wischt alle Spuren hinweg, welche die Tat hätten entdecken lassen können: Das Schuldgefühl aber, den Renatus getötet zu haben, bleibt. In seinen Erinnerungen gesteht Jung, dass es ihm zunächst nicht gelingen wollte, den Traum zu verstehen. Erst musste er sich selbst mit dem Tod bedrängen: Eine Stimme drohte ihm mit dem Suizid durch Erschießen, wenn er den Traum nicht verstünde: »›Wenn du den Traum nicht verstehst, mußt du dich erschießen!‹ In meinem Nachttisch lag ein geladener Revolver, und es wurde mir

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angst« (zit. n. Jaffé 1962, S. 184). Die Alternative ist mithin die von differenzierendem Verstehen oder indifferenzierendem Tod. So rettet die Reflexion des Todes das Leben – des Mörders –, und Jung kann als Verstehender die in eigene Verfügung gestellte Siegfried-Position annehmen und auch die Deutung finden: 1. Siegfried sei das, was die Deutschen verwirklichen wollten, »nämlich den eigenen Willen heldenhaft durchzusetzen«; diesen Willen zur heldenhaften Durchsetzung erkennt Jung 2. als sein eigenes Ideal; 3. zeige der Traum, dass diese heldenhafte Durchsetzung »nun nicht mehr möglich« sei, dass »die Einstellung, welche durch Siegfried, den Helden, verkörpert war, nicht mehr zu mir paßte. Darum mußte er umgebracht werden«; 4. müsse der »Identität mit dem Heldenideal« ein Ende gesetzt werden, denn 5. gäbe es da »Höheres, dem man sich unterwerfen muß«. Diese Gedankenbewegung zum »Höheren« hin ermöglichte es Jung schließlich wieder, wie exkulpiert einzuschlafen; und bald wurden »neue Kräfte frei, die mir halfen, das Experiment mit dem Unbewußten zu Ende zu führen« (S. 184).

Musik und Komposition 1914 knüpft Sabina Spielrein wieder festere Fäden nach Westen, sie zieht mit ihrer Tochter nach Zürich, dann weiter nach Lausanne. Sie korrespondiert mit Jung über wissenschaftliche Fragen und widmet sich andererseits verstärkt der Musik. 1917 beginnt sie ein neues Studium. Sie studiert Komposition. Was ist Komposition, und als was ist diese im Zusammenhang um Sabina Spielrein herum insbesondere zu erfassen? Komposition ist die Lehre von der Organisation und Fesselung der Vermittlung. Sabina Spielrein nimmt das Studium als Reaktion auf ihren Versuch der Selbsterschöpfung in chirurgischer Arbeit auf: »Ich habe mich in die chirurgische Klinik geflüchtet, was soviel bedeutete, als, dass ich unter Aufgebung jeder persönlicher Schöpfung einfach tüchtiger Arbeiter werden wollte. Und nun kam die ganz unerwartete Reaction mit einer Kraft, die ich nie in mir vermuten konn-

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te – dies war die Sublimation des Bedürfnisses nach Selbsthingebung in musikalischen Compositionen. In dem Maasse, als mein Können hier fortschreitet – fühle ich mich freier, unabhängiger und ich fühle es, dass ich nun auch wieder wissenschaftlich arbeiten kann, vielleicht mit einer Ruhe und Schärfe, wie noch nie zuvor« (Brief an Jung vom 15.12.1917, zit. n. Carotenuto 1986, S. 149).

So tritt Siegfried als das Medium und die produktive, variative Arbeit an diesem wieder in Spielreins Leben. Den »Complex ›Musik‹«, diese Fesselung, hatte sie eine Zeit lang aus dem Bewusstsein geschoben, »weil er zu stürmische Gefühle wachrief« und sie »kein richtiges Vertrauen« zu sich »nach dieser Richtung hin hatte« (Brief an Jung vom 20.12.1917, zit. n. Carotenuto 1986, S. 156). Diese Abwendung vom Komplex Musik bestimmt sie in einem späteren Brief an Jung nochmals genauer, indem sie festhält, daß das »unterdrückte Bedürfnis« zur Musik sich »anfallsweise ungeschickt« äußerte »und mit so einer Wucht, dass Sie mir einmal sagten, ich könnte den Verstand verlieren, wenn ich Musik treibe«. Zehn Jahre später ist es ihre »grösste Lust . . . zu componieren«. Spielrein schreibt in solchem Zusammenhang des weiteren von ihrer »jugentliche[n] Siegfriedsymbolik«, von misslungenen Worten, die sie in ihrer Jugend gedichtet hatte, die sie nun aber »für activ genug hielt, um eine Melodie zu schaffen«. Sie zitiert die vertonten Siegfriedsymbolik-Verse und fährt fort: »Den Knaben hat nun eine andere gekriegt, ich habe ein Mädchen«(Brief an Jung vom 06.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 165ff.). Das ist wirklich ein starkes »Siegfriedproblem«, wenn Siegfried ein Mädchen ist. Was tun? Dieses Problem beschäftigt Sabina Spielrein weiterhin zentral, und in diesem Rahmen kommt sie zu weiteren Pointierungen hinsichtlich ihres Siegfriedproblems mit Jung: »So war mein unterbewusstes Denken und Fühlen von Ihnen so weit beeinflusst, dass ich die Lösung des Siegfriedproblems in Form eines realen Kindes suchte. Das Unterbewusste hat die Realisierungsmöglichkeit durchschaut und mir geraten keine Widerstände zu leisten, weil man diese Tendenz nicht anders, als eine ›höhere‹ betrachten kann. Die Realisierung wurde durch die Schwierigkeiten des Alltag-

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lebens verhindert. Der ›reale‹ Siegfriedcomplex musste deshalb seiner Energie beraubt werden und diese Energie zum beleben einer anderen Aufgabe, des ›Siegfrieds‹ in sublimierter Form, verwendet werden. Was dieser neue ›Siegfried‹ ist – weiss ich nicht. Merkwürdigerweise träume ich nie mehr vom ›Siegfried‹ und wie ich glaube, seit der Zeit nicht mehr, als ich Prof. Freud die Analyse meines Siegfriedtraumes zeigte19. Doch! Er kam noch einmal im Traume während der Gravidität, weshalb als ich mein Kind fast verloren haben. Deshalb heisst ja mein wiedergeborenes Töchterchen ›Renata‹. Vielleicht sind meine zahlreichen Träume in Sonnensymbolik – Siegfriedträume?« (Brief an Jung vom 06.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 171).

Jung aber habe die Möglichkeit vernichtet und »schliesslich den ›realen‹ Siegfried getötet«, er habe Siegfried »zu Gunsten eines sublimierten geopfert«. Dagegen stellt Spielrein fest: »Ich, hingegen, habe in meinen Träumen den Mann getötet, der Siegfrieds Vater werden sollte und dann in Wirklichkeit einen anderen Mann gefunden« (Brief an Jung vom 06.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 172). Jung reagiert mit dem Hinweis, der Siegfried könne verschwinden, wenn er endlich als »unsere spezifische Heldeneinstellung« (Brief vom 19.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 174) anerkannt würde. Spielrein widersetzt sich nicht der Anerkennung des Siegfried als der »Heldeneinstellung«, wohl aber der Isolationstendenz und solcher Aufforderung zum Vergessen der Differenz und der Opfereingaben. Dafür erfährt sie von Jung neue Schelte: »Sie wollen das Siegfriedsymbol immer wieder in die Realität hineinschleppen, während es doch die Brücke zu Ihrer Individualentwicklung ist« (Brief an Spielrein vom 21.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 219). Spielrein aber widerspricht Jung hinsichtlich der These »dass diese Brücke, bezw. Ausdruck sofort schwindet, wenn diese Einstellung ihre Verwendung im realen Leben gefunden hat« sowie dass »die Siegfriedphantasie blos eine Wunscherfüllung« (Brief an Jung vom 19 In der Darstellung von Spielrein äußert Freud: »Sie können es ja haben,

wenn Sie es wollten, aber es wäre viel zu schade um Sie« (zit. n. Carotenuto, S. 164).

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19.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 174) sei.20 Sie insistiert vielmehr darauf, dass Siegfried der Name der Anerkennung des basalen, immer schon erbrachten und nicht zu hintergehenden Opfers sowie der gefesselten Entfesselung sei und dass es um solche theoretische und intellektuelle Opferanerkennung auch hinsichtlich des konkreten eigenen Lebensvollzuges gehe, und zwar im Gegenzug zur bloß wiederholenden und unaufgeklärten Opferexekution. Damit verdeutlicht Spielrein eine entscheidende Position, denn sie skizziert nicht nur die Differenz von Erkenntnis und Psychopathologie, sondern des weiteren auch den schmalen und doch alles entscheidenden Grat zwischen dem Denken des Faschismus und seiner Exekution. Wohl übersieht man den Kern der Liebesbeziehung und der folgenden Auseinandersetzungen von Spielrein und Jung, wenn man diese nicht einerseits als das inverse Therapeuten-PatientenVerhältnis, andererseits jedoch vor allem als die nicht nur diskursive Exposition der Differenz einer Jüdin und eines Ariers hinsichtlich des Faschismus erfasst21, die einander in strittiger, aber leidenschaftlicher Liebe verbunden sind, die jedoch den Körper des anderen nicht zulässt oder ihn nur maschinell innerhalb der Ordnung der Medien beziehungsweise als die spezifische Vermittlung von Objektivität – mythisch, ästhetisch, (kriegs-)technisch – zulassen kann. Schließlich aber, so Spielrein, habe sie den richtigen Ausgang aus dem Siegfriedproblem und der »Heldeneinstellung« gefunden: »ich habe die ›Heldeneinstellung‹ nach 2 Richtungen hin realisiert 1) indem ich den X durch Y ersetzte und 2) in Musik«. Ihr doppelter Lösungsvorschlag lautet mithin: Heirat und Musik oder Kind und Kunst. Die Musik sei ihr zum einen »bloss eine 20 Zur philosophischen Psychoanalyse der Brücke siehe insbesondere

Heinz, R. (1997): Brücken selbst – pathognostisch. Logik und Inzest. Bd. III. Wien, S. 41–46. 21 Zu Annäherungen an den Faschismus in der Theorie C. G. Jungs siehe Weismüller, Ch.: Metakritik der psychoanalytischen Traumtheorie, in: Heinz, R. (1999): Traum-Traum 1999. Zum Zentenarium der Traumdeutung Freuds. Mit Beiträgen von Christoph Weismüller. Wien, S. 51– 102, 98.

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Brücke . . . für das religiöse Gefühl«; an anderer Stelle präzisiert sie: »bei der Musik habe ich keine Widerstände und kann mich ganz aufopfern« (Brief an Jung vom 19.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 176). Ausschlaggebend aber bleibt es, eine solche – jüdisch-christliche – Opfereinstellung als – von der Opferpraxis differenzierte – Opferreklamation überlebbar werden zu lassen. Für dieses große Ansinnen ist es notwendig, sich nicht in Träumereien zu verlieren, zugleich aber den Traum nicht aufzugeben, denn beide Arten des Traumverlustes, sich im Traum oder den Traum von und für sich zu verlieren, sind in letzter Konsequenz tödlich: Der Traumverlust realisierte sich als die unmittelbar in den Tod weckende Selbsterbringung des Opfers. Das heißt, es geht um den angemessenen Weg zur Repräsentation des Opfers: Es ist »schwierig den praktischen Weg aus der Träumerei zu finden, ausser in musikalischen Schöpfungen« (Brief an Jung vom 19.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 177). In diesem Sinne erhält solcher Weg zur Repräsentation des Opfers bei Sabina Spielrein den Namen Siegfried. In einem weiteren Brief erinnert Spielrein sich und Jung daran, dass sie erst nach vielen Analysen von »Siegried [sic!]« zu träumen begann, und zwar war er dort »eine Kerze (Licht), das Sie mir gegeben haben, bald ein Buch, das sich mit kolossaler Geschwindigkeit vermehrte, bald waren es Träume, wo Elemente aus Wagners Siegfried stammten, bald Musik, bald Wahrträume und Wahrsagungen, die bei der Analyse erst ›Siegfried‹ als reales Kind sich entpuppten« (Brief an Jung vom 27./28.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 182). In Wien dann begann sie an der Seite Freuds »vom Kinde direkt zu träumen und auch nicht einmal direkt, da es ja garnicht ein von mir geborenes Kind war, sondern bald war ich ein verpuppter Siegfried, bald war es ein arysch-semitischer Sänger Aoles, bald deutete ein Lied darauf dass es ein unehelig geborenes Kind ist, welches vom Vater, dem es bis ins kleinste hinein gleicht, verlassen wurde. Das Leben hat es so gemacht, dass Siegfried auf anderem Wege gelebt wird«; auf einem Weg allerdings, auf dem »Siegfried fast meinem Töchterchen das Leben genommen hat« (Brief an Jung vom 27./28.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 182f.).

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Mit der schriftlichen Niederlegung dieser Gedanken im Brief knüpft Sabina Spielrein wieder neue Fäden zu Jung. Der neu aufgenommene Zugang zu Jung, diese Briefschrift, gibt ihr zu verstehen: »›Also lebt er doch, der Siegfried!‹«. Ist er deshalb »ein krankhafter Uebercompensierungsversuch, ein Grössenwahn, der durch alle meine Träume und Phantasieen geht?« Sie antwortet: Die Wirklichkeit sei »viel zu öde ohne den Glauben an Siegfried«. »Siegfried ist für mich = Christus und doch nicht ganz gleich. Er ist aus meinem jahrelangen gemeinsamen Leben mit einem Deutschen (Arier) entstanden. Da her ist er entsprechend umgestaltet und daher auch sein Name ›Siegfried‹ = ›Aloes‹ = ›Balder‹ etc.« (Brief an Jung vom 27./28.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 185). Warum aber sollte »Siegfried gerade Dichter und Musiker namentlich werden«? Die Musik sei für sie »innerstes und unmittelbares Seelenbedürfniss,auch Geistesbedürfniss«, und Siegfried dachte sie deswegen immer als Musiker, »weil diese so ausserordentlich wichtige Veranlagung in mir von mir am wenigsten gelebt wurde.« Jetzt aber könne sie die Musik nicht mehr aufgeben, diese Fessel nicht mehr lösen, denn sie sei zu einem Teil ihrer Seele geworden, verwachsen mit ihr. Sollte sie sich dennoch von der Musik trennen müssen, so entstünde eine Wunde, die »nie schließen« würde (Brief an Jung vom 27./28.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 186). So würde, in den Vorgaben des »Parsifal« gedacht, ihr Kundry-Wesen ganz und gar in der Wunde des Amfortas aufgehen, sie würde in dieser Wunde des Mannes verschwinden, in dieser und damit in seinem narzisstisch homosexuellen Begehren aufgehen, und sie wäre enteignet von der Möglichkeit der Anmahnung und Klage des Opfers: So wäre nicht einmal mehr der weibliche Körper als das Opfergeschlecht in die Repräsentation zu rufen. Aber wenn es jemandem so ist, als würde mit der Musik ein Stück Seele ausgerissen und die Wunde nie schließen, so fragt Sabina Spielrein: »Ist es Neurose? – Warum ja? Ist es keine? – warum nein? Warum soll man nicht schliesslich mit Freud annehmen, dass ich ein ›Retter bezw. ›Opfertypus‹ bin und deshalb meine Wünsche in Symbolen darstelle, welche restlose Auflösung der Persönlichkeit ausdrücken,

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wie zB. all die grossen Helden, die für ihre Ideale Sterben, wie der Sonnengott Siegfried, wie unter den Künsten von allem Musik, welche ebenfalls das volle sich Hingeben fordert?« (Brief an Jung vom 27./28.01.1918, zit. n. Carotenuto 1986, S. 186).

Testamentarische Existenz Sabina Spielrein versucht die Inszenierung der Existenz als Hingabe an die Vermittlung der Hingabe und dergestalt zeitigt sie ihre Existenz testamentarisch. In diesem Sinne hinterlässt sie auch 1923 vor ihrer Rückkehr nach Russland die Tagebücher und Briefe im Jean-Jacques-Rousseau-Institut in Genf. Sie gibt zurück, was die Repräsentation ihres Geschlechtes nicht leisten konnte: die Schrift. In dieser Hingabe aber lauert die Gefahr der Hoffnung. Als 1942 die deutschen Truppen in Rostow einmarschieren, flieht Sabina Spielrein nicht, sondern verharrt wie gefesselt. Es scheint, als erwarte sie die positive Rückeignung ihrer Hingabe und ihre Entfesselung. Diese Hingabe wie ihre Entfesselung widerfahren ihr – geradeso wie ihren Töchtern Renata und Eva – als der Tod. Die der Musik immanente Hingabe ist der Tod. So kommt letztlich Weiblichkeit als hingebende Bereinigung der Schrift vom Körper, als Gabe von Notaten des Siegfried zu sich, dessen Existenz bereits bei Wagner vom Tod des Weibes eingerahmt ist.

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Sabina Spielrein: Biographische Übersicht Anhang

Anhang

Sabina Spielrein: Biographische Übersicht 7. November 1885 Sabina Nikolajewna Spielrein wird in Rostow am Don als erstes Kind von Nikolai Arkadjewitsch Spielrein und Eva Mordechajewna, geb. Lublinskaja, geboren. Der Vater ist ein jüdischer Kaufmann für landwirtschaftliche Erzeugnisse, der es, aus ärmlichen Verhältnissen kommend, zu Vermögen gebracht hat. In seiner Erziehung wird der Vater als sehr streng und autoritär geschildert. Die Mutter, von der Sabina ihre künstlerischen Neigungen übernimmt, hat vermutlich in Petersburg Zahnmedizin studiert, widmete sich aber ab 1903 ganz der Erziehung ihrer Kinder. Sabina hat eine jüngere Schwester Emilia (*1893), welche sechsjährig verstirbt, sowie drei jüngere Brüder: Jan (*1887), Isaak (*1891) und Emil (*1899). 1890 bis 1895 Sabina besucht einen Fröbel-Kindergarten in Warschau und erlernt mehrere Sprachen: Russisch, Deutsch, Englisch, Französisch. Später besucht sie das Katharinen-Gymnasium in Rostow, an dem sie 1904 ihre Reifeprüfung mit Auszeichnung absolviert. 1904 bis 1905 Sabina wird, wie andere wohlhabende russische Töchter in dieser Zeit, zum Studium in die Schweiz geschickt, da dort Frauen der Zugang zu den Hochschulen gestattet ist. Unter den psychischen Symptomen einer Hysterie leidend, wird Sabina nach einem kurzen Aufenthalt in einem Sanatorium in Interlaken am 17. August 1904 in die psychiatrische Klinik Burghölzli des Kantons Zürich aufgenommen und durch den

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Oberarzt Carl Gustav Jung behandelt. Sabina Spielrein wird Jungs »psychoanalytischer Schulfall«. Die Entlassung nach knapp zehn Monaten erfolgt als »geheilt«. 1905 bis 1911 Am 25. April 1905 immatrikuliert sich Sabina Spielrein an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Ihr Studium schließt sie 1911 ab und promoviert bei Eugen Bleuler, betreut durch Carl Gustav Jung, mit der achtzigseitigen Dissertation »Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie«. Die Beziehung zwischen Jung und Spielrein entwickelt sich zu einer Freundschaft, die wahrscheinlich von Frühjahr 1908 bis Anfang 1909 den Charakter eines »näheren erotischen Verhältnisses« hat. 1909 distanziert sich Jung von Spielrein in unschöner Weise. Sie wendet sich postalisch mit der Bitte um Hilfe an Sigmund Freud. Der Briefwechsel zwischen Jung und Spielrein ist bis 1919 erhalten. 1911 Sabina Spielrein hält sich für neun Monate in Wien auf und macht die persönliche Bekanntschaft von Freud. Am 11. Oktober 1911 wird sie Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft und hält am 29. November 1911 ihren Aufnahme-Vortrag »Über Transformation«. Der Vortrag enthält Gedanken, die in ihrer wegweisenden Arbeit »Die Destruktion als Ursache des Werdens« (1912) ausformuliert werden. 1912 bis 1913 Der Bruch zwischen Freud und Jung wird offiziell bekannt gegeben. Spielrein hält Freud intellektuell die Treue. Während eines Aufenthaltes in Rostow lernt sie den jüdischen Arzt Pawel Scheftel kennen, den sie im Juli 1912 heiratet. 1913 wird die erste Tochter Renata geboren. 1914 bis 1921 Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird Pawel Scheftel zum Militärdienst eingezogen. Für Spielrein beginnt eine Zeit wechselnder Aufenthalte in verschiedenen europäischen Städten (Berlin, München, Lausanne, Château d’Oex und Genf). Während

Sabina Spielrein: Biographische Übersicht

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ihres Aufenthaltes in München studiert sie Musik, Kompositionslehre, Mythologie und Kunstgeschichte. 1920 Das zunehmende Interesse an der Entwicklung von Sprache und Denken bei Kindern schlägt sich in den nächsten Jahren in einigen Vorträgen und Publikationen zu dem Thema nieder. Auf dem VI. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Den Haag hält Spielrein ihren Vortrag »Zur Frage der Entstehung und Entwicklung der Lautsprache«. 1921 bis 1923 Am Psychologischen Labor des Jean-Jacques-Rousseau-Instituts unter der Leitung von Professor Édouard Claparède unterrichtet Spielrein Psychologie. In dieser Zeit unterzieht sich Jean Piaget einer achtmonatigen Psychoanalyse bei ihr. Sie erfährt 1921 vom Tod ihrer Mutter. Erst 1923 kehrt sie zusammen mit ihrer Tochter in die Sowjetunion zurück, um sich in Moskau aktiv am Aufbau der psychoanalytischen Organisation zu beteiligen. Ihre Tagebücher und Briefkorrespondenzen mit Freud und Jung lässt sie in einem Koffer in Genf zurück. Für eineinhalb Jahre hält sie Vorlesungen am Staatlichen Psychoanalytischen Institut und behandelt Patienten im Ambulatorium des Instituts, ferner arbeitet sie als pädologische Ärztin und leitet die Sektion Kinderpsychologie an der Ersten Moskauer Universität. Eine weiter reichende berufliche Anerkennung als Psychoanalytikerin bleibt aber aus. Sabina Spielrein schließt sich den neuen wissenschaftlichen Entwicklungen der Psychologie, die mit den Namen Alexander Lurija und Lew Wygotski verbunden sind, nicht an. 1924 bis 1926 Es folgt der Rückzug in das Private. 1924 kehrt Spielrein nach Rostow zurück und nimmt die Beziehung zu Pawel Scheftel, der zwischenzeitlich ein zweites Mal verheiratet war, wieder auf. 1925 wird das Staatliche Psychoanalytische Institut durch Stalin aufgelöst. Die Zeit der systematischen Repression der Psychoanalyse beginnt. 1925 wird die zweite Tochter Eva geboren. Ein langsamer sozialer Abstieg der Familie Spielrein ist zu verzeichnen.

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Anhang

1929 Spielrein tritt ein letztes Mal auf einem Psychiatrischen Kongress in der Sowjetunion öffentlich in Erscheinung. 1931 bis 1932 1931 erscheint Sabina Spielreins letzte erhaltene Veröffentlichung »Kinderzeichnungen bei offenen und geschlossenen Augen« in der Zeitschrift »Imago«. Isaak Spielrein ist Mitveranstalter des Internationalen Kongresses für Psychotechnik in Moskau und wird zum Vorsitzenden der Internationalen Psychotechnischen Gesellschaft gewählt. 1932 wird er zum ordentlichen Professor der Moskauer Universität ernannt. 1935 Isaak Spielrein wird wegen Verdachts auf antisowjetische Propaganda verhaftet und später in ein Arbeitslager interniert. Auch der Vater Nikolai wird kurzzeitig verhaftet. 1936 Die Psychoanalyse wird in der Sowjetunion offiziell verboten. Jan Spielrein wird Rektor des Fachbereichs Biologie an der Staatlichen Universität in Rostow. 1937 Pawel Scheftel verstirbt an Herzversagen. Emil und Jan Spielrein werden verhaftet und vermutlich später hingerichtet. 1938 Sabina Spielreins Vater stirbt verarmt. 1939 bis 1942 Viele Juden und Nicht-Juden erkennen die Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Obwohl die Möglichkeit zur Flucht besteht und von Spielreins Verwandten genutzt wird, bleibt sie mit ihren beiden Töchtern in Rostow. Im Oktober 1941 wird Rostow das erste Mal, im Juli 1942 das zweite Mal von Deutschen besetzt. Kurz darauf werden alle Rostower Juden in einer Kolonne zur Smijewskaja-Schlucht getrieben und dort erschossen. In der Kolonne wird Spielrein zusammen mit ihren beiden Töchtern zum letzten Mal gesehen.

Die Autorinnen und Autoren

Die Autorinnen und Autoren

Dr. Josiane Chambrier, Psychoanalytikerin, ist in eigener Praxis in Paris tätig. Dr. Jean-Marie Odéric Delefosse ist Professor für Sprachwissenschaften an der IUFM Orléans-Tours sowie an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris. André Karger, Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Düsseldorf. Dr. Magnus Ljunggren ist Professor am Institut für Slawische Sprachen an der Universität Göteborg. Dr. Bernd Nitzschke, Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker, ist in eigener psychotherapeutischer Praxis in Düsseldorf tätig. Dr. Marie Santiago-Delefosse ist Professorin am Institut für Psychologie an der Universität Lausanne. Dr. Christoph Weismüller ist Privatdozent am Philosophischen Institut der Universität Düsseldorf, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Design, für Geistesund Kulturwissenschaften, Psychologie und Philosophie und in eigener philosophischer Praxis in Düsseldorf tätig.

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André Karger / Olaf Knellessen / Gertrud Lettau / Christoph Weismüller (Hg.) Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie Der Frage therapeutischer Grenzüberschreitungen begegnete Freud mit dem Abstinenzgebot. Als behandlungstechnisches Problem erörterte er es unter dem Begriff der Übertragungsliebe. Historisches Beispiel ist die »Jung-Spielrein-Affäre«, die hier eine neue, unkonventionelle Bewertung erfährt. Die Autoren dieses Bandes stellen die Frage nach der konstitutiven Notwendigkeit von Grenzüberschreitungen, ohne damit einem blinden tatsächlichen Ausleben das Wort reden zu wollen. Die Reflexion der Motivation, des Begehrens des Psychoanalytikers stellt ein wichtiges Desiderat dar, das nicht mit einem Verbleiben im restriktiven Übertragungskonzept behoben werden kann. Besonders ist nach dem Status der psychoanalytischen Theorie der Sexualität zu fragen, stellt die Sexualität doch den bevorzugten Austragungsort der Übertragung dar.

Marga Löwer-Hirsch Sexueller Mißbrauch in der Psychotherapie Zwölf Fallgeschichten: elf Frauen und ein Therapeut In diesem Buch werden 12 kommentierte Fallgeschichten vorgestellt und diskutiert. Dabei kommen Patientinnen, Ausbildungskandidatinnen und ein Therapeut zu Wort, die den sexuellen Kontakt aus ihrer Sicht beschreiben. Es werden Faktoren aufgezeigt, die ein Einlassen auf einen sexuellen Kontakt begünstigten, Mechanismen, die ihn aufrechterhielten, sowie Bewältigungsversuche auf seiten der Patientinnen. Die Wünsche der betroffenen Frauen nach Besonderheit, Geborgenheit und Anerkennung ihrer Weiblichkeit wurden mit verschiedenartigen sexuellen Grenzüberschreitungen beantwortet und von den Frauen selbst manchmal auch in naiv erscheinender Weise mißgedeutet. Rückblickend erwies sich der sexuelle Kontakt immer als mißbräuchlich. Das Abstinenzgebot in psychotherapeutischen Behandlungen, das derartigen Gefahren entgegenwirken soll, wird ebenso erörtert wie die Frage, was eine gelingende Beziehung zwischen Therapeut und Patientin ausmacht.

Karl König Übertragungsanalyse Übertragung ist ein zentraler Vorgang in der Psychoanalyse, bei dem unbewußte, meist aus der frühen Kindheit entstandene Gefühle und Wünsche gegenüber den Eltern oder anderen wichtigen Personen aktualisiert und an den Analytiker gerichtet werden. Dadurch werden unbewußte Konflikte wiederbelebt und können bearbeitet werden. Es gibt derzeit kein einheitliches Verständnis vom Phänomen der Übertragung. Karl König zeigt die Differenzierungen und Erweiterungen des Übertragungsbegriffs in der nachfreudianischen Psychoanalyse auf. Daraus leiten sich unterschiedliche behandlungstechnische Fragen ab: Welche Übertragungsauslöser gibt es? Wann und in welcher Form soll eine Übertragung angesprochen werden? Wie wird dabei mit Widerständen gegen das Manifestwerden von Übertragung umgegangen? – Welche Ansicht der einzelne Analytiker hat, hängt sowohl von seiner Schulenzugehörigkeit als auch von persönlichen Erfahrungen in der Praxis ab.

Karl König Gegenübertragungsanalyse »König beleuchtet die unterschiedlichsten Aspekte der Gegenübertragungsanalyse, er plädiert für einen weiten und differenzierten Begriff der Gegenübertragung, um diagnostische Fehleinschätzungen und fehlgeleitetes therapeutisches Handeln zu vermeiden: Er definiert als Gegenübertragung ›alle Aspekte, Stimmungen und Handlungsimpulse, die ein Patient oder die Personen oder Institution, mit denen er in Beziehung steht, unter den Bedingungen der therapeutischen Aufgabe im Therapeuten hervorrufen.‹, schließt also alle Reaktionen des Therapeuten/der Therapeutin ein, auch die Übertragung der Analytikerin/des Analytikers. ... Ein sehr empfehlenswertes und hilfreiches Buch für die analytische Praxis.« Werkblatt »Karl König bezeichnet sein Buch höchst treffend als Hilfsmittel zur Selbstanalyse, das meines Erachtens auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine echte Bereicherung darstellt.« Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Psychoanalytische Blätter 1: Jörg Wiesse (Hg.) Aggression am Ende des Jahrhunderts

9: Rafael Moses (Hg.) Psychoanalyse in Israel

1994. 147 Seiten mit mehreren Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46000-7

1998. 162 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46008-2

2: Louis M. Tas / Jörg Wiesse (Hg.) Ererbte Traumata

10: Wilhelm Burian (Hg.) Der beobachtete und der rekonstruierte Säugling

1995. 140 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46001-5

3: Wilhelm Burian (Hg.) Die Zukunft der Psychoanalyse 1995. 157 Seiten mit einigen Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46002-3

4: Jörg Wiesse / Margarete Berger (Hg.) Geschlecht und Gewalt 1995. 167 Seiten mit einigen Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46003-1

5: Berthold Rothschild (Hg.) Selbstmystifizierung der Psychoanalyse 1996. 166 Seiten mit einigen Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46004-X

7: Jörg Wiesse / Peter Joraschky (Hg.) Psychoanalyse und Körper 1998. 163 Seiten mit einigen Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46006-6

8: Susann Heenen-Wolff (Hg.) Psychoanalytischer Rahmen, Ethik, Krisis –französischePerspektiven 1998. 112 Seiten mit einigen Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46007-4

Theoriebildung und therapeutische Praxis

1998. 119 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46009-0

11: Peter Diederichs (Hg.) Psychoanalyse in Ostdeutschland 1998. 140 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46010-4

12: Hans Sohni (Hg.) Geschwisterlichkeit Horizontale Beziehungen in Psychotherapie und Gesellschaft 1999. 128 Seiten mit 5 Illustrationen von O. Ubbelohde, kartoniert. ISBN 3-525-46011-2

13: Jörg Wiesse / Lisa Koch-Kneidl (Hg.) Frühkindliche Interaktion und Psychoanalyse 2000. 139 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46012-0

14: Mathias Hirsch (Hg.) Psychoanalyse und Arbeit Kreativität, Leistung, Arbeitsstörungen, Arbeitslosigkeit 2000. 125 Seiten, kart. ISBN 3-525-46013-9

Psychoanalytische Blätter 15: Peter Kutter (Hg.) Psychoanalytische Selbstpsychologie Theorie, Methode, Anwendungen 2000. 155 Seiten, kart. ISBN 3-525-46014-7

16: Susann Heenen-Wolff (Hg.) Neues vom Weib Französische Beiträge 2000. 123 Seiten, kart. ISBN 3-525-46015-5

17: Elfriede Löchel (Hg.) Aggression, Symbolisierung, Geschlecht 2000. 132 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46016-3

18: André Karger / Olaf Knellessen / Gertrud Lettau / Christoph Weismüller (Hg.) Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie 2001. 136 Seiten mit 1 Abb., kartoniert ISBN 3-525-46017-1

20: Ralf Zwiebel / Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.) Träume, Spielräume I Aktuelle Traumforschung 2002. 133 Seiten mit 8 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 3-525-46019-8

22: Anne-Marie Sandler / Rosemary Davies (Hg.) Psychoanalyse in Grossbritannien 2003. 188 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46021-X

24: Wilhelm Burian (Hg.) Auf der Suche nach dem Guten Objekt 2003. 125 Seiten mit 9 Abb. und 8 Tab., kartoniert. ISBN 3-525-46023-6

25: Johanna Schäfer (Hg.) Körperspuren Psychoanalytische Texte zu Körper und Geschlecht 2003. 143 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46024-4

26: Rolf Klüwer / Rudolf Lachauer (Hg.) Der Fokus Perspektiven für die Zukunft 2004. 139 Seiten mit einigen Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46025-2

27: Elfriede Löchel / Insa Härtel (Hg.) Verwicklungen Psychoanalyse und Wissenschaft 2006. Ca. 150 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46026-0

21: Träume, Spielräume II Kreativität und Persönlichkeitsentwicklung 2003. 143 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46020-1

Die Bände 6, 19 und 23 sind vergriffen.