Hochschullehre: systemisch?: Theoretische und praktische Impulse für Didaktik und Methodik [1 ed.] 9783666407857, 9783525407851


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Hochschullehre: systemisch?: Theoretische und praktische Impulse für Didaktik und Methodik [1 ed.]
 9783666407857, 9783525407851

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Holger Lindemann / Silke Trumpa (Hg.)

Hochschullehre: systemisch? Theoretische und praktische Impulse für Didaktik und Methodik

Holger Lindemann / Silke Trumpa (Hg.)

Hochschullehre: systemisch? Theoretische und praktische Impulse für Didaktik und Methodik

Mit 11 Abbildungen und 6 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der BrillGruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Holger Lindemann, mit freundlicher Genehmigung zur Nutzung des Spiels »Scrabble« durch die Mattel GmbH Abbildungen, wenn nicht anders gekennzeichnet: Holger Lindemann Gestaltung, Satz und Litho: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40785-7

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 TEIL 1: THEORIEBEITRÄGE Systemische Didaktik als Illusion einer besseren Lehre? Kritische Anmerkungen zur Theorie und Praxis systemischer Lehre . . . . 14 Holger Lindemann

Systemischer Ansatz trifft Hochschullehre – Entwicklungsfelder und ­Antinomien der systemischen Hochschullehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Silke Trumpa

Systemisch denken und handeln. Überlegungen zur Entstehung und ­Erfassung systemischer Könnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Marc Weinhardt und Rebecca Hilzinger

Spiel mit Hüten statt Hütchenspiel – Systemische Lehrpraxis als Spiel mit dem Lehr-/Lernkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Marc Höcker, Robert Baum, Dirk Rohr und Clara Stein

Systemisch Lernen und Lehren: Inhalte – Methoden – Erfahrungen . . . . 101 Günter Schiepek

Theorie und Praxis der interkulturellen systemischen Didaktik . . . . . . . . 124 Claude-Hélène Mayer

Systemische Hochschullehre – Ausgangspunkte und Erfahrungen . . . . . . 142 Kersten Reich im Gespräch mit Holger Lindemann und Silke Trumpa

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Inhalt

TEIL 2: PRAXISBEISPIELE Die Kunst der Irritation – Selbstreflexionen in der Hochschullehre . . . . . 164 Christian Paulick

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker I: Die pädagogische Haltung in der Reggio-Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . 179 Holger Lindemann

Fallarbeit als reflexive Lerngeschichten – Von Spiegeln, Irritationen und ­Labyrinthen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Kira Nierobisch

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker II: Die »didaktische Analyse« von Wolfgang Klafki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Holger Lindemann

Systemische Methoden in der Hochschullehre für berufliche Reflexions­ prozesse nutzbar machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Eva Maria Lohner und Mirjana Zipperle

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker III: Jenaplan-Pädagogik nach Peter Petersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Silke Trumpa

Lehren auf den Grundlagen wertschätzender Beziehung und reflektierter ­Erfahrung in einem systemisch-kokonstruktiven Verständnis von Lehre 216 Andrea Goll-Kopka und Monika Ludwig

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker IV: Pädagogik der Vielfalt nach Annedore Prengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Silke Trumpa

Das didaktische System als bilanzierendes System – Lösungsorientierte Beratung lehren und prüfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Maria Borcsa, Diana Skyba, Julia Hille und Christine Dathe

Inhalt

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    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker V: Die »konstruktivistische Didaktik« von Kersten Reich . . . . . . . . . . . . . . 247 Holger Lindemann

Schlafende Hunde wecken oder in Frieden lassen – Ein systemisch inspirierter Umgang mit Selbstreflexion und Selbsterfahrung in sozialwissenschaftlichen Studiengängen . . . . . . . . . . . . 249 Barbara Bräutigam, mit Beiträgen von Thorid Garbe und Mara Welz

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker VI: Subjektorientierte Pflegedidaktik nach Roswitha Ertl-Schmuck . . . . . . 258 Silke Trumpa

Beratung, Kommunikation und Interaktion für Studierende aus Gesundheitsberufen – Herausforde­rungen, Grenzen und Chancen ­systemischer Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Jenny Kipper

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker VII: Themenzentrierte Interaktion nach Ruth C. Cohn oder: Die Kunst, sich selbst und eine Gruppe zu leiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Silke Trumpa

As Time goes by – Die Zeitlinie (Timeline) als systemische Methode für s­ tudentische Forschungsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Heike Stammer

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker VIII: Die »zehn Kriterien guten Unterrichts« von Hilbert Meyer . . . . . . . . . . 290 Holger Lindemann

Beratung und Coaching lernen mit Simulationen und Videoanalysen . . . 293 Holger Lindemann

    Didaktische Basics für Systemikerinnen und Systemiker IX: Methodische Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Holger Lindemann

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Inhalt

TEIL 3: BIOGRAFISCHES GEWORDENSEIN Biografische Reflexivwerdung durch Räume des Ermöglichens und Denkens in Möglichkeiten? Zum Ansatz einer systemischen akademischen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Sophia Richter

It’s simple but not easy – Systemische Elemente in der Hochschullehre . . 328 Veronika Strittmatter-Haubold

Systemischer Ansatz trifft Hochschullehre – Analyse berufsbiografischer ­Episoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Silke Trumpa

»Spielbilanz« und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Vorwort

»Das Spiel geht weiter!« Begonnen hat es im Fe­bruar 2020 während der DGSFFachgruppentagung »Systemische Lehre und Forschung an Hochschulen und Universitäten« an der Hochschule Fulda. Angeregt durch die Impulsvorträge entstand die Diskussion, inwiefern es bei hochschulischer Lehre einen Unterschied macht, ob die Lehrperson eine systemische Zusatzqualifikation hat oder nicht. Auch die grundsätzliche Frage, ob es so etwas, wie eine systemische Lehre überhaupt gibt, wurde diskutiert. Zahlreiche Veröffentlichungen zu systemischer beziehungsweise systemisch-konstruktivistischer Pädagogik und Didaktik bestärkten den Eindruck, dass ein systemisches Profil in der Lehre eher unscharf zu sein scheint. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass eine systemische Qualifikation »irgendwie« zu einem Unterschied in der Lehre führt, aber worin dieser genau liegt, war auf den ersten Blick nicht auszumachen. Daher entstand die Idee, diesem zunächst diffusen Eindruck induktiv, suchend und auf eine spielerische Weise nachzugehen. Die Einladung, einen Beitrag zu diesem Herausgeberband zu verfassen, richtete sich an die »Spielerinnen und Spieler« in der hochschulischen Lehre. Wir erbaten Einblicke in die Erfahrungsschatzkisten, Methodenkoffer, Seminarkonzepte und Biografien. Angesprochen fühlten sich Autorinnen und Autoren mit ganz unterschiedlichen hochschulischen und systemischen Expertisen und Erfahrungen, die über verschiedene Zugänge und Tätigkeiten auf ihren jeweiligen Spielfeldern Antworten geben und Fragen stellen. Die Beiträge sind in drei Bereiche gruppiert: eher theoretische und eher praktische Perspektiven sowie Einblicke in biografische Werdegänge. Unsere Auseinandersetzung mit den eingereichten Beiträgen zeigte, dass wir ein interessantes Spielfeld betreten hatten, das sich in einem zentralen Spannungsfeld befindet: der Positionierung systemischer Theorie und Praxis zu bestehenden didaktischen Ansätzen. Befeuert durch die erfolgreiche Verbreitung von systemischer Therapie, Beratung, Coaching und Organisations-

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Vorwort

entwicklung erschien es so, als könne der systemische Ansatz auch in der Lehre eine eigenständige Didaktik und Methodik begründen. Dies sehen wir jedoch entschieden nicht so! Sicherlich gibt es aus der systemischen Theorie und Praxis zahlreiche Anregungen und Ergänzungen für die Didaktik und Methodik, eine eigenständige systemische Lehre ist für uns aber nicht erkennbar. Neben erkenntnistheoretischen Impulsen aus dem Konstruktivismus und der Systemtheorie zeigt sich die Stärke des Systemischen in den Impulsen, Aspekte der Lehre als Beratung von Lernenden zu verstehen, und darin, einen erweiterten Fokus auf die Prozess- und Beziehungsgestaltung von Lehr-/Lernarrangements zu legen. Hierzu liefern alle Beiträge in diesem Sammelband spannende Einblicke und Perspektiven. Um die Fokussierung auf systemische Herangehensweisen zu erweitern, haben wir das Spiel um zwei zusätzliche Aktionen ergänzt: Zum einen haben wir uns entschieden, bewährte didaktische Ansätze in aller Kürze zu skizzieren und sie zwischen die methodischen Beiträge zu streuen. Sozusagen als Stopp-Felder der Rückbesinnung auf all das, was schon da ist. Diese didaktischen Basics für Systemikerinnen und Systemiker sollen – ganz im systemischen Sinne – den Blick auf den Kontext und auf bereits vorhandene Ressourcen lenken, die sich in der Erziehungswissenschaft über viele Jahrzehnte entwickelt haben. Aus einer Vielzahl von didaktischen Ansätzen und Themen haben wir neun ausgewählt, die wertvolle Impulse und Anschlussstellen für eine systemisch orientierte Lehre beinhalten. Zum anderen haben wir einen »Joker« gezogen, um unseren Eindruck eines bestehenden Spannungsfeldes zwischen Systemik, Didaktik und Methodik zu diskutieren. Der »Joker« heißt Kersten Reich, der sich freundlicherweise für ein Interview über die Chancen und Grenzen systemischer und konstruktivistischer Ansätze in der Lehre und über die Situation der Hochschullehre zur Verfügung gestellt hat. Als emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik der Universität zu Köln, der für seinen Ansatz der Konstruktivistischen Didaktik bekannt ist, gibt er spannende Einblicke in seine Sicht der Dinge. Letztlich spiegeln sich unsere Erkenntnisse im Titel des Sammelbandes wider: »Hochschullehre: systemisch? Theoretische und praktische Impulse für Didaktik und Methodik«. Das Fragezeichen und auch das Titelbild, das aus zusammengesetzten Wörtern auf einem Scrabble-Spielbrett besteht, sollen verdeutlichen, dass alle Kombinationen der benannten Bereiche als eine Möglichkeit, beziehungsweise als ein erster Versuch zu verstehen sind, Schnittstellen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Das Spiel kann neu und auch anders gespielt werden, auf anderen Spielfeldern und mit anderen Spielsteinen und Figuren.

Vorwort

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»Nach dem Spiel«, ist bekanntermaßen »vor dem Spiel«. Deshalb möchten wir bereits jetzt eine neue Spielpartie in Aussicht stellen, bei der wir uns darüber austauschen, welche Konstellationen und Erkenntnisse (noch) möglich sind. Hierzu laden wir alle bisherigen und neuen Mitspielerinnen und Mitspieler ein, das Spielfeld in Form von Diskursen, Fachtagungen und weiteren Publikationen mitzugestalten und ihre Spielfiguren zu setzen. Holger Lindemann und Silke Trumpa

TEIL 1: THEORIEBEITRÄGE

TEIL 1: THEORIEBEITRÄGE

Systemische Didaktik als Illusion einer besseren Lehre? Kritische Anmerkungen zur Theorie und Praxis systemischer Lehre Holger Lindemann

Systemtheorie und Konstruktivismus entstanden als übergreifende, erkenntnisund wissenschaftstheoretische Theorien, die in zahlreichen natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen rezipiert wurden. Während sich die Wurzeln der erkenntnistheoretischen Sichtweisen bis in die Antike zurückverfolgen lassen, liegt der eigentliche Beginn beider Theoriegebäude in den 1950er Jahren (Pörksen, 2015; Baecker, 2016). Vor allem ausgehend von der Familientherapie entwickelten sich parallel hierzu praktische Arbeitsformen, die versuchten, Systemdynamiken sichtbar zu machen und zu nutzen (von Schlippe, 2010). Das sehr heterogene und methodenreiche Praxisfeld wurde zunehmend unter den Begriffen »systemisch«, »systemisch-konstruktivistisch« und »lösungsorientiert« zusammengefasst. Letztlich versteht sich »systemische Therapie« als ein integrativer Ansatz, der einen weiten Reflexionsraum eröffnet und sich nicht als therapeutische Schule versteht (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 75; Schiepek, 1999, S. 22 ff.). Ein zentraler Anspruch liegt in einem vernetzten Denken, das innere und äußere Systemkonstellationen reflektiert und in einer Abkehr von einer störungsbezogenen und subjektbezogenen Defektlogik. Ausgehend hiervon verbreitete sich systemische Praxis auch in den Bereichen Beratung, Coaching, Supervision und Organisationsentwicklung. In die Pädagogik fanden konstruktivistische Ansätze – zunächst vor allem durch die Lerntheorie Jean Piagets – und systemtheoretische Modelle – wie der ökosystemische Ansatz Urie Bronfenbrenners – Eingang. Konstruktivismus und Systemtheorie wurden genutzt, um in den verschiedensten Handlungsfeldern die Dynamiken von Lernen, Entwicklung und sozialem Miteinander zu reflektieren. Bezogen auf pädagogische Praxis, schien eine systemtheoretisch-konstruktivistische Reflexion eine gänzlich neue Form des Lehrens und Lernens sowie der Klientenund Systemorientierung zu erfordern. Auch schienen die Grundlagentheorien geeignet zu sein, bestimmte Handlungskonzepte legitimieren zu können. Befeuert durch die systemische Praxis in der Therapie entstanden auch in der Pädagogik praktische Überlegungen zu einer Verbindung von Konstruktivis-

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mus, Systemtheorie und systemischer Arbeit im Sinne einer Übertragung von Kommunikations- und Interventionsformen der Therapie in die pädagogische Praxis. Die anfängliche Euphorie einer sogenannten systemisch-konstruktivistischen Pädagogik oder Didaktik erntete aber auch viel Widerspruch. Weder Kon­struktivismus noch Systemtheorie, noch der systemische Ansatz würden zu einer »neuen« Pädagogik oder Didaktik führen, auch, wenn sie geeignet sind, diese zu reflektieren und zu erweitern. Dieser Kritik möchte ich im ersten Teil dieses Beitrags teilweise folgen und auf einige bedenkenswerte Aspekte der kritischen Diskussion aufmerksam machen. Vor allem hinsichtlich der pädagogischen Praxis erweist sich das Systemische als weitaus weniger eigenständig und abgegrenzt als dies in der Therapie der Fall ist. Eine eigenständige systemische Didaktik oder systemische Lehre ist – so die nachfolgende Argumentation – nicht begründbar. Denk- und Handlungsformen systemischer Praxis eignen sich vielmehr als Ergänzung und Untermauerung bestehender Lehr-Lernmodelle. Diesen letzten Argumentationsstrang einer »Anreicherung« der Lehre werde ich im zweiten Teil dieses Beitrags konkretisieren und versuchen, das Systemische in der Lehre genauer zu fassen. Mein Anliegen ist es, an die Errungenschaften der Reformpädagogik und bestehende Lehr-/Lernmodelle zu erinnern und diese angemessen zu würdigen. Gerade weil systemische Herangehensweisen auch für das Praxisfeld der Lehre Potenzial bieten, sind mir ein Hinweis auf Historie und die trennscharfe Verwendung von Begriffen und Modellen im Kontext von Didaktik wichtig. Einige meiner Ausführungen können in ihrer Problematisierung als Provokation erscheinen. Wenn es aber – gemäß einem Ausspruch des Industriellen Henry J. Kaiser – so ist, dass »Probleme Lösungen in Arbeitskleidung sind«, mag sich hieraus im besten Sinne ein Entwicklungsimpuls ergeben.

TEIL I: Kritik und Relativierung systemischer Lehre 1 Systemisch-konstruktivistisches Denken in der Pädagogik Erziehungswissenschaftlich fundierte Bemühungen um eine systemisch-kon­ struktivistische Pädagogik gibt es viele. Die Begriffe systemisch-konstruktivistisch, systemisch und konstruktivistisch werden hierbei weitgehend synonym verwendet. Bevorzugungen für die Bezeichnung systemisch entstehen zum Teil, um das »Wortungeheuer systemisch-konstruktivistisch zu vermeiden« (Huschke-Rhein, 1998, S. 7 f.), für die Bezeichnung »konstruktivistisch« mag sprechen, eine deutliche erkenntnistheoretische Schwerpunktsetzung vorzu-

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nehmen (Reich, 2002). Die bearbeiteten Themengebiete der Pädagogik reichen von Schulpädagogik und Unterricht über Soziale Arbeit, Erwachsenenbildung bis zu Sonderpädagogik und Frühpädagogik. Eine historische Rekonstruktion und Einordnung systemisch-konstruktivistischer Strömungen in der Pädagogik steht jedoch noch aus. Kernbestandteile all dieser Auseinandersetzungen mit Pädagogik und Didaktik lassen sich auf drei Säulen reduzieren: ■ Konstruktivismus als Erkenntnistheorie, ■ Systemtheorie als allgemeiner Theorie der Beschreibung von Zusammenhängen, ■ systemische Praxis, ausgehend von Haltung, Modellen und Methoden systemischer Therapie und Beratung. Die Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Forderungen, die im pädagogischen Diskurs dargestellt wurden, bilden ein sehr heterogenes Feld. Hierbei wird wahlweise stärker auf einzelne der genannten drei Kernbestandteile Bezug genommen, es werden jedoch auch zahlreiche andere fach- und bezugswissenschaftlichen Konzepte in die Darstellungen eingebunden. Diese entstammen weitgehend einer reformpädagogischen und postmodernen Pädagogik sowie der Hinwendung zu soziologischen und gesellschaftstheoretischen Modellen, wie Subjekt- und Handlungsorientierung, Partizipation, Emanzipation, Pluralismus, Sozialraumorientierung, Postmoderne und vielem mehr. Im pädagogischen Diskurs war die Erkenntnis der Notwendigkeit, kreativ und ohne direktiv-steuernde Belehrung zu arbeiten, bereits vor der Bezugnahme auf systemische und konstruktivistische Konzepte entstanden (Heyting, 1994, S. 101 f.). Der Konstruktivismus und die Systemtheorie lieferten hierzu neue Modelle und eine neue Sprache der kritischen Reflexion. Praktisch zeigte sich eine veränderte Denkweise und Haltung bereits in den zahllosen Ansätzen der Reformpädagogik, die mit ihrer »Pädagogik vom Kinde aus« bereits im 19. Jahrhundert gegen direktive und belehrende Formen pädagogischer Arbeit argumentierten (Oelkers, 2005; Skiera, 2010; Pfeiffer, 2013). Besonders eindrücklich findet sich eine Haltung, die systemischer Praxis sehr nahe ist, z. B. schon in der ReggioPädagogik wieder, die bereits in den Jahren nach 1945 das Kind als Akteur und Konstrukteur seiner Entwicklung entdeckte (Stenger, 2010). Der in der Pädagogik vollzogene Paradigmen- oder Perspektivenwechsel und die daraus folgend geforderte pragmatische Wende einer Klientenorientierung, Beteiligungspraxis und Handlungsorientierung waren in der pädagogischen Praxis weitaus früher Bestandteil der fachlichen Diskurse als z. B. in der Familientherapie und Beratung.

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Konstruktivismus, Systemtheorie und systemische Vorgehensweisen liefern der Didaktik in diesem Kontext neue Begriffe, ergänzende Modelle und methodische Anreicherungen. Der Einfluss des Konstruktivismus und der Systemtheorie als bezugswissenschaftliche Referenztheorien ist hierbei beachtlich. Systemische Arbeit findet sich vor allem in der beratenden pädagogischen Praxis wieder und gehört hier mittlerweile, vor allem in der Sozialen Arbeit, zu den Standards der Profession. Bezogen auf die Praxis der Lehre kann ihr Beitrag jedoch als weitaus geringer eingeschätzt werden. Eine systemisch-konstruktivistisch motivierte Didaktik erscheint – vor allem bezogen auf ihre Methodik – eher als »alter Wein in neuen Schläuchen« (Klauer, 1999). Der Konstruktivismus könne »zwar eine neue Sprache für die Erfassung altbekannter Lehr-Lernprobleme bereitstellen, aber keine prinzipiell neuen Formen für die Praxis des Unterrichtens« anbieten (Möller, 2001, S. 27). Die hier aufgezeigte Problematik systemisch-konstruktivistischen Denkens und Handelns in der Pädagogik werde ich nachfolgend genauer ausführen und begründen. Auch möchte ich auf einige – nicht nur in der Pädagogik – gebräuchliche, jedoch missverständliche Verwendungen grundlegender Begriffe systemischer Theorie hinweisen. Verbunden ist damit nicht nur die Hoffnung, die Grenzen des Systemischen in der Lehre genauer zu definieren, sondern auch, ihren Beitrag genauer zu fassen.

2 Nichts gänzlich Neues, aber: Erkenntnistheoretische Provokation und methodische Ergänzung Die sogenannte systemische Pädagogik hat sich selbst an einigen Stellen keinen Gefallen damit getan, die »Schule neu erfinden« zu wollen und sich dabei in Opposition zu einem vermeintlich rückständigen Praxisfeld zu positionieren (Voss, 1997). In vielen Bereichen wurden dabei Türen erstürmt, die vonseiten der Reformpädagogik und anderer Akteurinnen und Akteure im Feld bereits weit offenstanden. In den zahlreichen Analysen systemisch-konstruktivistischer Ansätze in der Didaktik werden deren Argumentationen und Impulse durchaus begrüßt. Was jedoch abgelehnt wird, ist die Einschätzung, diese würden etwas grundsätzlich Neues bieten oder zu einer eigenständigen Didaktik und Methodik führen (Terhart, 1999, S. 644 ff.; Peterßen, 2001, S. 126–135; Jank u. Meyer, 2002, S. 300–302; König u. Zedler, 2002, S. 236–239; Lindemann, 2006, S. 194 f.). Mit einer konstruktivistischen Argumentation gegen ein lineares Verständnis von Lehr-/Lernprozessen stößt man in der Pädagogik weithin auf offene Ohren. Eine reine Vermittlungs- oder Trichterdidaktik findet in keinem päda­

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gogischen Handlungsfeld fachliche Vertreterinnen und Vertreter, auch wenn einige Praxisformen dem Augenschein nach in alten und tradierten Mustern verharren. Ein erkennbares Innovationsdefizit kann zahlreichen strukturellen und für Deutschland typischen Limitationen zugeschrieben werden, nicht aber einer Rückständigkeit pädagogischer Theorie (siehe hierzu das Interview mit Kersten Reich in diesem Band). Umso verwunderlicher ist es daher, dass sich systemische und konstruktivistische Bemühungen an vielen Stellen über Ablehnung, Abgrenzung, Kolleginnen- und Kollegenschelte positionierten, indem Vorwürfe gegen eine pädagogische Steuerungs- und Vermittlungshaltung erhoben wurden, die – zumindest in den Erziehungswissenschaften – niemand mehr ernsthaft vertrat (Meixner, 1997, S. 10, S. 25–34; Palmowski, 2007, S. 45 ff.; Arnold, 2007, S. 33–53; Siebert, 2005, S. 106 f.). Statt vorhandene Ressourcen zu benennen oder gegebenenfalls nach Ausnahmen zu suchen – was systemisch geboten wäre – wurde ein Mangel heraufbeschworen und einer scheinbar rückständigen Didaktik untergeschoben. Anstatt den Schulterschluss zu suchen, wurden Grenzsetzungen vollzogen. Die Behauptung aus dem Konstruktivismus, der Systemtheorie oder aus einer systemischen Haltung und Methodik ließe sich eine gänzlich neue Lehrpraxis ableiten oder gar eine eigenständige Didaktik begründen, erzeugte nicht nur Skepsis, sondern auch strikte Ablehnung (Terhart, 1999, S. 637; Jank u. Meyer, 1991, S. 302). Die Etikettierfreude, alle möglichen Handlungsfelder und Methoden als systemisch, konstruktivistisch oder systemisch-konstruktivistisch zu vereinnahmen, löste eher Verwunderung als Bewunderung aus. Zusammengenommen fällt eine Bilanzierung systemisch-konstruktivistischer Didaktik (respektive Pädagogik) eher bescheiden aus: »Methodenvielfalt, Individualisierung durch Differenzierung und Handlungsorientierung als Grundpfeiler der Unterrichtsmethodik halten auch wir für unverzichtbar. Die Forderungen danach sind nicht neu, sondern stammen von den pädagogischen Klassikern wie Rousseau und Herbart und aus der Reformpädagogik des beginnenden 20. Jahrhunderts. Nicht viel anderes gilt für Schlagworte, wie ›Situiertheit‹, ›Authentizität‹, ›Random Access Instruction‹, ›Anchored Instruction‹, ›Cognitive Apprenticeship‹. Sie setzen auf Selbsttätigkeit und Problemlösen in mehr oder weniger authentischen, motivational anregenden Handlungssituationen. Vergleichbare Methoden wurden in der Reformpädagogik […] seit den 1970er-Jahren weitergeführt. Dazu bedurfte es nicht der Konstruktivistischen Didaktik. Ihr kann allerdings zugute gehalten werden, dass sie all jenen, die solche Methoden im Schulalltag einsetzen wollen, mit guten Argumenten den Rücken stärkt« (Jank u. Meyer, 1991, S. 301 f.).

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Wirft man dann einen Blick auf die lehrpraktischen Forderungen, die dennoch mit vermeintlicher Rückendeckung von Konstruktivismus und Systemdenken erhoben werden, zeigt sich, »daß die konstruktivistische Didaktik keine wirklich radikal neuen Formen für die Praxis des Unterrichtens anzubieten hat, sondern sich an solchen (bekannten) methodischen (!) Formen orientiert, die selbständiges Lernen, entdeckendes Lernen, praktisches Lernen, kooperatives Lernen in Gruppen sowie erfahrungs- und handlungsorientiertes Lernen fördern wollen. Die neue konstruktivistische Didaktik – eine alte Methodik? […] Im Grunde entsteht eine aller Inhaltlichkeit weitgehend entkernte Prozeß-Didaktik (und damit eine Methodik?), die in ihren konkreten Vorstellungen zur Gestaltung des Lehr-Lern-Prozesses im Wesentlichen einer Synthese von Ideen J. Deweys, J. Piagets und M. Wagenscheins entsprungen sein könnte. Auf diese Weise entsteht nun gerade nicht eine neue Allgemeine Didaktik« (Terhart, 1999, S. 645).

Seine ähnlich kritische Analyse beginnt Wilhelm Peterßen mit der Feststellung: »Kein besonderes Problem sollte die gegenwärtige Didaktik mit jenen Überlegungen in der Lernpsychologie haben, die sich selbst als konstruktivistisch bezeichnen« (Peterßen, 2001, S. 126). Dieser Würdigung der Bezugswissenschaft folgt eine Analyse des didaktischen Gehaltes, in der er unter anderem moniert: »Es hat lange Jahrzehnte gebraucht, bis didaktische Theoriebildung sich konsolidierte, bis die Epigonenkämpfe zugunsten gemeinsamer Problembewältigung aufgegeben wurden. Jetzt wird eine Theorie kreiert, die nicht nur neben bestehende Ansätze treten soll, sondern diese radikal ablösen soll« (S. 130). Das kritische Potenzial konstruktivistischen Denkens wird seines Erachtens durch die Ablehnung oder auch Ignoranz gegenüber bestehender Didaktik verspielt, denn: »Was ich dem Ansatz allerdings eingestehen muss: Er ist wie kaum ein anderer dafür geeignet, heilsame Unruhe in den gegenwärtigen Schlafzustand didaktischer Theoriediskussion zu tragen« (S. 131). Vor den Grenzen der Grundlagentheorie bezogen auf didaktische Forderungen wurde auch von Vertretern systemischer Ansätze ausdrücklich gewarnt: »Es gibt noch keine Didaktik der Selbstorganisation. Aber sicher gibt es derzeit ein intensives Bemühen darum, didaktische Prozesse mit Hilfe der Systemtheorie und insbesondere mit dem Konzept der Selbstorganisation zu beschreiben und zu erklären. […] Bevor in dieser Richtung weitergedacht werden soll, sei allerdings gewarnt. Viele der didaktischen Forderungen, die in jüngster Zeit unter dem Bezug zur Sys-

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temtheorie diskutiert werden, sind bereits alte Konzepte, die es sich allerdings lohnt, wieder aufzugreifen« (von Saldern, 1996, S. 31).

Zusammengefasst lässt sich die Situation systemisch-konstruktivistischer Didaktik aus der hier dargestellten Logik unter drei Punkten beschreiben: 1. Konstruktivismus und Systemtheorie können der Reflexion von Lehr-/Lernprozessen dienen. Sie liefern hierfür theoretische Modelle und eine Sprache, die den Fachdiskurs bereichern. 2. Konstruktivismus und Systemtheorie können aber keine Handlungsorien­ tierung liefern, geschweige denn bestimmte Praxisformen legitimieren. Aus ihnen entsteht keinerlei neue oder weitergehende Methodik, als sie ohnehin schon im Fachdiskurs vorlagen. 3. Systemische Praxis liefert methodische Ergänzungen für die Lehre. Diese müssen aber immer in bereits vorher schon bestehende didaktische und methodische Modelle der Lehr- und Lernpraxis eingebettet werden. Auch diese können keine eigenständige Didaktik oder Lehre begründen. Konstruktivismus, Systemtheorie, Aspekte systemischer Haltung und Methodik passen gut in ein reformpädagogisches Umfeld, das vermittlungskritisch und methodenvielfältig einen pluralistischen und emanzipatorischen Anspruch vertritt. Schule, Unterricht oder Lehre müssen immer wieder »neu erfunden« werden (Voss, 1997). Die Reformpädagogik tut dies schon von Beginn an, sodass sie eine immerwährende Mahnerposition entwickelt hat, die fortwährend den Status Quo beklagt (Terhart, 1999, S. 646). Im Bereich formaler Bildung treffen Didaktik und Lehre auf einige Innovationshürden. Das öffentliche Schulsystem – Hochschulen eingeschlossen – ist ein prinzipiell schwerfälliges organisationales und bürokratisches Konstrukt, das praktischen Veränderungen sehr robust entgegensteht. Zudem ist es mit dem Versuch verbunden, die Lehr-/Lernprozesse vieler Lehrender und vieler Lerngruppen zu parallelisieren. Auch wenn die Freiheit der Lehre grundgesetzlich abgesichert ist, stößt die didaktisch-methodische Innovation oft an strukturelle und organisationale Grenzen. Dies gilt umso mehr, wenn die Lehr-/Lernkulturen mehrerer Lehrender und Lerngruppen aufeinander abgestimmt werden müssen. Guter Unterricht geht oft mit erfolgreicher Schul- beziehungsweise Organisationsentwicklung einher (Lindemann, 2017a, 2017b). Neben der Didaktik müsste daher auch die organisationale Struktur von Bildungsangeboten eine größere Beachtung finden.

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3 Einige Missverständnisse und Klärungen im Zusammenhang mit systemischer Theorie und Praxis Im Zusammenhang mit der vorangestellten kritischen Auseinandersetzung mit systemischer Didaktik, beziehungsweise systemischer Lehre, möchte ich nachfolgend auf drei Aspekte aufmerksam machen, die im Diskurs um systemische Theorie und Praxis, beziehungsweise bezogen auf systemisches Handeln, Beachtung finden sollten. Hierbei geht es – meines Erachtens – um Missverständnisse in der Rezeption der Grundlagentheorien, die für systemisches Denken bezogen auf jede Form der Handlungstheorie beachtet werden sollten.

3.1 Legitimation und Pragmatik systemischer Arbeit Aus den Erklärungsmodellen des Konstruktivismus und der Systemtheorie lassen sich keinerlei Pragmatik oder Methodik ableiten. Aus ihnen folgen keinerlei Ethik oder Moral. Sie führen auch nicht zu einer Bevorzugung bestimmter Methoden oder Lehr-/Lernsettings. Die pragmatische Schlussfolgerung des Konstruktivismus lautet, dass er selbst keine Handlungsempfehlungen zu geben imstande ist, sondern sich gänzlich auf Reflexion und Erklärung kognitiver und sozialer Phänomene beschränkt (Maturana, 1982, S. 30, S. 80; Schmidt, 1987, S. 75; Watzlawick, zit. nach Pörksen, 2002, S. 222; von Glasersfeld, 2009, S. 119; Hoops, 2001, S. 51; Lindemann, 2019, S. 227–258). Die Grundlagentheorien bleiben eine erkenntnistheoretische Provokation gepaart mit vernetztem Denken. Aus systemischer Sicht kann jede Handlung hilfreiche wie hinderliche Entwicklungen anstoßen. Im systemischen Denken kann daher pragmatisch eine Handlung weder als systemisch noch als unsystemisch markiert werden. Systemisch ist dann eher eine Denk- und Reflexionsweise als handelnde Praxis: »Wenn sich systemische Praxis vor allem als angewandte Erkenntnistheorie versteht […], dann ›gibt‹ es keine spezifische systemische Methode. […] Es geht also nicht darum, eine eigene ›Schule‹ mit einer spezifischen Praxis vorzustellen: ›Handlungen ›an sich‹ können zwar bestimmte Wirkungen haben oder auf Motive zurückzuführen sein, die der Beobachter dann auch bewerten kann, aber sie ›sind‹ genauso wenig systemisch, wie sie ›katholisch‹ oder ›grün‹ sind‹« (von Schlippe, 2015, S. 14; unter Verwendung eines Zitates von Simon, 2012, S. 13). »Angewandte Erkenntnistheorie« meint hierbei nicht eine »Umsetzung« des Konstruktivismus oder der Systemtheorie, sondern eine Haltung des ständigen kritischen Hinterfragens. Da jede konkrete Handlung die Vielfalt der Möglich-

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keiten auf ein singuläres Ereignis reduziert, und somit andere Optionen ausschließt, kann sie zwar systemisch reflektiert werden, aber nicht systemisch sein. Systemisch ist in aller erster Linie eine Denkfigur und Haltung der Welt und anderen Menschen gegenüber. Und selbst das Denken kann nur schwer als systemisch bezeichnet werden. Mara Selvini Palazzoli äußerte dies bereits 1979 in einem Interview folgendermaßen: »Heute bin ich überzeugt, während jeder proklamiert ›ich bin systemisch‹ […] ist niemand wirklich systemisch: Es ist unmöglich, wirklich oder systemisch zu denken, weil wir Sprache benutzen – und die Sprache ist linear« (Selvini Palazzoli, 1979/2017, S. 34). So gesehen haben wir in allem, im Denken, Sprechen und Handeln, nur einen linearen Zugang zum Systemischen, was die Markierung, etwas »sei systemisch«, ad absurdum führt. Spricht man dem Denken hingegen – als dem Bereich des parallelen, widersprüchlichen und hypothetischen – das Attribut systemisch zu, so muss zumindest dem Handeln und damit auch dem Sprechen das Systemische abgesprochen werden. Wenn demnach also nicht von systemischem Handeln und entsprechend auch nicht von systemischer Lehre gesprochen werden kann, müssten eigentlich Bezeichnungen wie systemreflexives Handeln oder systemreflexive Lehre Verwendung finden. Wenn von systemischem Handeln, systemischen Methoden, systemischer Beratung und Therapie, systemischer Gesprächsführung und dergleichen gesprochen wird, müsste immer auch angemerkt werden, dass sich diese weder aus den Grundlagentheorien ergeben noch »im eigentlichen Sinne« systemisch sind. Die dennoch häufig anzutreffende Annahme einer spezifischen Pragmatik, die aus den Grundlagentheorien zu folgen scheint oder scheinbar systemisch ist, zieht weitere Missverständnisse nach sich, die ich nachfolgend erläutern möchte. Es handelt sich bei diesen Missverständnissen um eine quantitative Verwendung der Begriffe »Selbstorganisation« und »Konstruktion«. Es wird suggeriert, es gäbe »mehr« oder »weniger« Selbstorganisation beziehungsweise »mehr« oder »weniger« Konstruktion. Deskriptive Erklärungsmodelle werden somit als formative Begründungen verwendet, die eine legitimatorische Funktion für spezifische Handlungspraxen erfüllen sollen.

3.2 Die missverständliche Verwendung des Begriffs »Selbstorganisation« Der Begriff der Selbstorganisation wird auf (mindestens) drei Arten verwendet: 1. Selbstorganisation im Sinne der Systemtheorie und der Theorie komplexer Systeme als eine Eigenschaft, die komplexen Systemen innewohnt.

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2. Selbstorganisation im Sinne einer organisationalen Stärkung von Selbstbestimmung, vor allem in der Unternehmensführung und Schulorganisation. 3. Selbstorganisation im Sinne der Optimierung von Arbeitsplatzgestaltung und Zeitmanagement. Die folgenden Ausführungen und die darin zum Ausdruck gebrachte Kritik beziehen sich auf alle Verwendungen des Selbstorganisationskonzeptes, die einen Rückbezug zur Systemtheorie und Synergetik für sich in Anspruch nehmen, beziehungsweise sich im weitesten Sinne als systemisch bezeichnen (erste Verwendungsart), aber dennoch eher die zweite oder gar dritte Verwendungsform des Selbstorganisationsbegriffs damit verknüpfen. Weder gegen die zweite noch die dritte Verwendungsform des Begriffes Selbstorganisation ist etwas einzuwenden, auch wenn er dadurch an Eindeutigkeit verliert. Der Behauptung, die zweite oder gar dritte Form der Verwendung würden sich aus der ersten ergeben, möchte ich aber entschieden widersprechen. 1. Selbstorganisation – im ersten Sinne der Systemtheorie und der Theorie komplexer Systeme (Synergetik) – bedeutet nichts anderes, als dass komplexe Systeme – aufgrund des Zusammenwirkens ihrer Bestandteile – Strukturen und Muster ausbilden, und dass diese nicht durch äußere Faktoren, sondern durch sich selbst determiniert sind (Haken, 1991, S. 133; an der Heiden, 1992, S. 72). Selbstorganisation als spontanes Entstehen von Mustern »ohne ordnende Hand« (Haken, 1991, S. 133; an der Heiden, 1992, S. 72) erlaubt bestenfalls indirekte Steuerungsversuche. Der Begriff der »Perturbation«, also »Verstörung«, macht dies deutlich, da keine Steuerung oder lineare Verursachung möglich ist (Maturana u. Varela, 1987, S. 27).   In chemischen oder physikalischen Experimenten lassen sich – unter sehr reduzierten Rahmenbedingungen – einige Formen der Musterbildungen willentlich erzeugen und sichtbar machen (Haken, Plath, Ebeling u. Romanovsky, 2016, S. 52 ff.). In solchen Experimentalsituationen werden zwar nur Ausschnitte von Musterbildungen hervorgebracht und betrachtet, diese erlauben jedoch Rückschlüsse auf Musterbildungsprozesse in größeren Systemen. In größeren oder auch globalen Dimensionen lassen sich solche Musterbildungsprozesse zwar beobachten, aber nicht reproduzieren. Computersimulationen komplexer Systeme, die über eine experimentelle Reduktion hinausgehen, zeigen, dass schon kleinste Veränderungen einzelner Faktoren die Musterbildungen im Gesamtsystem verändern. Prognosen, geschweige denn eine Steuerung, sind hierbei nicht mehr möglich. Das Adjektiv »selbstorganisiert« kann als rein deskriptive Zuweisung einer

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musterbildenden Prozessdynamik, ohne Einschränkung auf alle komplexen biologischen, psychischen und sozialen Systeme angewendet werden.   Was auch immer an Ordnung oder Muster durch Selbstorganisationsprozesse entsteht, ist nicht immer wünschenswert oder gar gewollt. Auch Psychosen, Krankheiten, Krieg, Diktaturen, Diskriminierung, Bankenkrisen, Massentierhaltung, Wetter, Brandrodung, Überfischung, Klimaerwärmung und Überschwemmungen sind Ergebnisse von Selbstorganisationsprozessen komplexer Systeme. Selbstorganisation ist weder gut noch schlecht noch wünschenswert und schon gar nicht machbar oder steuerbar. Hinzu kommt, dass es immer Beobachterinnen und Beobachter sind, die Ordnungen und Muster gemäß ihrer Wahrnehmung und Erfahrung konstruieren und nicht in ihrem scheinbaren Vorhandensein »erkennen« (Küppers u. Krohn, 1992, S. 11 f.). Die Beobachterperspektive ist für die Idee der Mustererkennung von Selbstorganisationsprozessen entscheidend, da nur solche Muster erkannt beziehungsweise konstruiert werden können, die zu den Erfahrungen, Kenntnissen und Gewohnheiten der beobachtenden Person passen. Ist eine Musterbildung »erkannt«, bleibt zudem noch ein ebenso weites Feld der Bewertung dieser Muster. Verschiedene Personen können zu verschiedenen Zeiten erkannte Muster ganz unterschiedlich bewerten.   Muster und Strukturen, die als Ergebnisse von Selbstorganisationsprozessen entstehen, können als wünschenswert oder nicht wünschenswert gewertet werden. Daraufhin ist es möglich, Ideen (Hypothesen) zu entwerfen, wie diese Prozesse entweder aufrechterhalten oder perturbiert – also verstört – werden können. Die Selbstorganisation mag zu anderen Musterbildungen angeregt, kann aber nicht gesteuert werden. 2. Kommen wir zur zweiten, jedoch nicht deskriptiven, sondern formativen Verwendung des Begriffs Selbstorganisation (z. B. Rolff, 1995; Haas, 2015; Herold u. Herold, 2017). Mit Wortkombinationen wie »selbstorganisierter Unterricht«, »selbstorganisierte Lerngruppe« oder »selbstorganisierte Teams« wird der Begriff im Sinne einer Rahmensetzung oder Erlaubnis und nicht im Sinne einer allgemeingültigen Eigenschafts- und Funktionsbeschreibung verwendet: »Die Übungsgruppen macht ihr selbstorganisiert«, »Wir stellen jetzt um auf selbstorganisierten Unterricht«, »Ab nächste Woche führen wir selbstorganisierte Teams ein«.   Diese Idee der Machbarkeit von Selbstorganisation ist auch in anderen Handlungsfeldern, wie Unternehmensführung und Organisationsentwicklung, ein gern verwendeter – und leider wenig präzisierter – Gemeinplatz. Paradoxerweise werden die verschiedensten Steuerungs- und Strukturie-

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rungsversuche unter dem Label Selbstorganisation subsumiert, obwohl der Theorie der Selbstorganisation die grundlegende Anerkennung der prinzipiellen Nichtsteuerbarkeit komplexer Systeme innewohnt (Haken u. Schiepek, 2010, S. 47 ff.).   Sucht man im Internet nach »Selbstorganisation im Unterricht«, »Selbstorganisation in der Schule« oder »Selbstorganisation im Unternehmen«, findet man Schlagzeilen wie1: »Selbstorganisation statt Verschulung.« »Selbstorganisation: gemeinsam Ziele definieren.« »Selbstorganisation: Zeitmanagement und Arbeitsplatzgestaltung in die eigene Hand nehmen!« »Wie Selbstorganisation funktionieren kann.« »Wozu braucht man Selbstorganisation?« »Selbstorganisation – DIE Organisationsform der Zukunft!«  u den Handlungsideen gehören dann vor allem Ideen des Abbaus von Z Hierarchien und der Beteiligung von Lernenden beziehungsweise Mitarbeitenden sowie die Eröffnung von Entscheidungsspielräumen. Gelegentlich werden dann aber auch »Sachzwänge« und Dynamiken der Globalisierung der Selbstorganisation zugerechnet, wodurch der Begriff dann auch noch genutzt wird, um gewollte Marktmechanismen zu verschleiern. Diese Fehlinterpretation und Umdeutung der Selbstorganisationstheorie sollten äußerst kritisch betrachtet werden (Göbel, 1998, S. 18 ff.).   Es ist sicherlich möglich, die Komplexität und Vernetzungsdichte von Organisationen weiter zu erhöhen, damit sich ihre selbstorganisierte Dynamik in einem größeren Rahmen entfalten kann. Als Folge sind sie aber auch instabiler und noch weniger beeinflussbar (Kruse, 2004, S. 41 f.). Zudem müssen wir in Betracht ziehen, dass in einer globalisierten und digitalisierten Welt in weiten Teilen ohnehin eine extrem hohe Vernetzungsdichte besteht. Bezogen auf viele Handlungskontexte kann es daher eine durchaus sinnvolle Strategie sein, Vernetzungsdichte zu reduzieren, um gewünschte Musterbildungen zu begünstigen. Selbstorganisation ist also weder »an sich« wünschenswert noch abzulehnen, sondern schlicht zu berücksichtigen, sobald man ziel- und ergebnisorientiert in die Dynamik komplexer Systeme eingreift. 1

Hier angeführt ohne Einzelnachweis. Die Web-Recherche nach »Selbstorganisation & Unterricht« ergab 227.000 Treffer, »Selbstorganisation & Schule« 1.030.000, »Selbstorganisation & Unternehmen« 1.060.000 Treffer.

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  Für einige sich selbst organisierende Prozesse kann man einen weiteren oder engeren Rahmen bereitstellen, mehr oder weniger Freiheitsgrade festlegen – kurz: die Komplexitätsgrade der Vernetzungsmöglichkeiten erhöhen oder eingrenzen (Probst, 1987, S. 12 f.). In darauf basierenden Handlungsstrategien kann die Reduktion von Freiheitsgraden für Selbstorganisationsprozesse ebenso zielführend sein, wie ihre Erhöhung. Die Eingrenzung oder Erweiterung des Rahmens bewirkt aber keine Selbstorganisation, sondern beeinflusst bestenfalls (oder schlimmstenfalls) die Möglichkeiten der Musterbildung. Je nachdem, welche Muster der eigenen Zieldefinition am besten entsprechen, erfolgt dann eine Bewertung. An Komplexität gewinnt diese Vorstellung zusätzlich, wenn man sich vor Augen hält, dass es nicht »das System an sich« ist, dessen Musterbildungen man beobachtet, sondern dass diese Systeme beobachterabhängig mit unterschiedlichen Schwerpunkten betrachtet und beschrieben werden. Eine wünschenswerte Musterbildung – z. B. bezogen auf ein ökonomisches System – mag daher mit einer unerwünschten Musterbildung – z. B. bezogen auf ein ökologisches System – einhergehen.   Nebenbei bemerkt: »paradoxe Interventionen« – eine der faszinierendsten Ideen systemischer Arbeit – würden gar nicht funktionieren, wenn eine Stärkung von Selbstorganisation im Sinne der Erhöhung von Freiheitsgraden die einzige heilbringende Handlungsoption wäre. Paradoxie geht oft bewusst den Umweg über eine strikte Begrenzung oder übermäßige Beschleunigung mit dem Ziel, bestehende Ordnungsmuster zu destabilisieren, ohne vorhersagen zu können, wie mögliche neue Musterbildungen aussehen könnten (Haken u. Schiepek, 2006, S. 174 f.).   In unseren Handlungen leitet uns in diesem Sinne nicht ein »mehr« oder »weniger« an Selbstorganisation, sondern der Wunsch nach anderen Musterbildungen und anderen Ergebnissen. Als handlungsleitende Elemente sind mit einer formativen Verwendung des Begriffs Selbstorganisation möglicherweise werteorientierte Aspekte gemeint wie: Selbstbestimmung, Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbstgestaltung, Selbststeuerung, Selbstverwaltung, Mitbestimmung, Partizipation, Teilhabe, Handlungsorientierung, Individualisierung, Verantwortungsübernahme, Dezentralisation, Vernetzung.  iese Werteorientierungen mögen im Einzelfall sinnvoll und erstrebenswert D sein. Sicherlich kann man auch überlegen, wie man diese handelnd unterstützen kann. Diese aufgeführten Begrifflichkeiten stammen aber nicht aus

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der Systemtheorie oder dem systemischen Denken, sondern sind – bezogen auf die Didaktik – schon in der Reformpädagogik thematisiert und – bezogen auf die Unternehmensführung – enthalten in den zahlreichen nachtayloristischen Organisationstheorien. Was aus systemtheoretischer Perspektive ergänzt werden kann, ist nicht die Handlungsorientierung oder eine bestimmte Methodik, sondern eine erklärende Perspektive:   Beachte, dass du komplexe Systeme nicht steuern kannst. Sie unterliegen der Selbstorganisation. Beobachte entstehende Muster, versuche diese zu stabilisieren oder zu destabilisieren, erhöhe oder verringere den Grad der Vernetzung und Komplexität, aber sei dir bewusst, dass du Systeme nur perturbieren und nicht steuern kannst. 3. Mit dem systemtheoretischen Modell der Selbstorganisation in keinerlei Zusammenhang steht die dritte Verwendungsvariante von Selbstorganisation, die schlichte Idee »Ordnung« zu halten, indem man diese »selbst organisiert«: »Der Schülertrainer: Selbstorganisation […] richtig gepackte Schultasche, eine ordentliche Federmappe mit angespitzten Buntstiften, die Hausaufgaben, das richtige und sorgfältige Führen von Heften und Schnellheftern oder das regelmäßige Aufräumen des Arbeitsplatzes. Ob im Klassenraum, Schulgebäude oder zu Hause am eigenen Schreibtisch: Überall ist Ordnung und Selbstorganisation wichtig« (Mönning, 2018, S. 5). Gegen eine formative Verwendung des Begriffes Selbstorganisation und eine damit verbundene Idee praktischer Organisation, wie sie im zweiten und dritten Anwendungsfall dargestellt wurden, lässt sich schwer etwas sagen. Sprache entwickelt sich nun einmal und Begriffe werden instrumentell verwendet. Wogegen aber entschieden argumentiert werden muss, ist, dass diese beiden Verwendungsformen und die damit in Verbindung gebrachte praktische Ausrichtung aus der Systemtheorie folgt oder sich gar aus ihr ableiten oder mit ihr »wissenschaftlich begründen« ließe.

3.3 Die missverständliche Verwendung des Begriffs »Konstruktion« Auch wenn man Lernende an ihren Stühlen festbindet und frontal belehrt, kon­ struieren sie ihre eigenen Wirklichkeiten. Sowohl ihre psychischen als auch biologischen Systeme sowie die sozialen Systeme, in die sie eingebunden sind, unterliegen der Selbstorganisation von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Entwicklungsprozessen. Zu jeder Zeit. In vollem Umfang.

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Folgt man den Aussagen und Darstellungen in den Grundlagentheorien, müsste konstatiert werden, dass kognitive Systeme immer ihre Wirklichkeit konstruieren und dass sich komplexe Systeme immer selbst organisieren, egal in welchem Setting. Man kann sicherlich unterschiedliche Grade der Selbstbestimmung, Mitsprache, Beteiligung, Aktivität, Bewegung, Eigeninitiative und dergleichen mehr feststellen. Konstruktion und Selbstorganisation hingegen sind unhintergehbare, uneinschränkbare Wirkmechanismen (Schmidt, 2005; S. 102 f.; Lindemann, 2006, S. 204 ff.). Die Kontexte und Entfaltungsmöglichkeiten der Konstruktion und Selbstorganisation sind veränderbar und begrenzbar, nicht jedoch Konstruktion und Selbstorganisation selbst. Und wer lehrend tätig ist, weiß, dass es nicht nur die Erweiterung von Möglichkeiten ist, die Lernprozesse unterstützt, sondern oft auch deren Begrenzung. Beobachtet man die Wirkung verschiedener Lehr-/Lernsettings, lässt sich feststellen, dass unterschiedliche Menschen unter unterschiedlichen Bedingungen unterschiedlich lernen. Der oft angeprangerte Frontalunterricht ist Formen des offenen Unterrichts von den Lernergebnissen her nicht prinzipiell unterlegen (Hattie, 2009, S. 88 f.). Vielmehr scheint es so zu sein, dass einige Menschen in dem einen Setting besser lernen, andere in einem anderen. Kontextuelle und methodische Wahl- und Differenzierungsmöglichkeiten scheinen sinnvoller als die Begründung und Legitimation einer scheinbar besseren Praxis. Die Forderung nach einer Abschaffung des Frontalunterrichts ist wahrscheinlich ebenso unsinnig, wie zu verlangen, man solle keine Filme mehr schauen, sondern dürfe nur noch Theater spielen. Ausschließlichkeit in den Lernmöglichkeiten – und dies lässt sich durchaus konstruktivistisch begründen – passt nicht zur Subjektivität und Vielfalt der Lernenden. Ohne situative Überprüfung der Passung beziehungsweise Anschlussfähigkeit lässt sich keine sinnvolle Methodenwahl treffen. »Eine Methodengläubigkeit ist unkonstruktivistisch« (Siebert, 1999, S. 141). Methodisch kann alles, auch die klassische Vorlesung oder die experimentelle Provokation, lehrreich oder lernreich sein. »Was ja letztlich im systemischen Denken fraglich wird, ist nicht eine einzelne Methode, sondern ihre normative und von konkreten Kontexten unabhängige Festlegung und somit eine Ausschließlichkeit pädagogischen Denkens« (Lindemann, 2003, S. 149 f.). Die Auffassung, dass man reformpädagogische Methoden aus konstruktivistischer Sicht favorisieren könne (Siebert, 1999, S. 141), ist meines Erachtens theoretisch nicht begründbar und auch nicht aus dem Konstruktivismus abzuleiten. Ebenso unsinnig wäre es zu behaupten, dass bestimmte Methoden die Konstruktion stärker anregen als andere. Es ist daher unsinnig von konstruktivistischen beziehungsweise konstruktiven Methoden oder gar von einem konstruktivistischen Lehrer zu reden (Reich,

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1998; Schüßler, 2005; Palmowski, 1999). Ob Lehr-/Lernsituationen zu Kon­ struktionen führen, die von Lernenden, Lehrenden und anderen Personen positiv bewertet werden und sich in ihrem Leben oder für die Gesellschaft als hilfreich erweisen, bestimmt sich durch zahlreiche Faktoren. Was aus konstruktivistischer Perspektive vorgetragen werden kann, ist nicht die Handlungsorientierung oder eine bestimmte Methodik, sondern eine deskriptive und erklärende Perspektive: Beachte, dass kognitive Systeme zu jeder Zeit ihre Wirklichkeit konstruieren. Dies tun sie nach den gleichen Prinzipien, aber in ihrem Vollzug und in den Ergebnissen sehr unterschiedlich. Neben individuellen Vorlieben, sozialem Kontext, materiellen, räumlichen und zeitlichen Aspekten spielen auch kulturelle und sozioökonomische Faktoren eine Rolle. Sei dir bewusst, dass du ein kognitives System in seiner Konstruktion von Wirklichkeit nur perturbieren und nicht steuern kannst. Was zum Lernen führt und woraus wichtige Impulse für Lernende entstehen, lässt sich nicht vorhersagen und nicht durch die Wahl bestimmter Methoden steuern. Wissen über soziale, kulturelle und psychische Selbstorganisationsprozesse ist ebenso hilfreich wie ein großes Handlungsrepertoire. Sei dir aber bewusst, dass sich jede Komplexitätsreduktion durch handelnde Eingriffe, methodische Vorgehensweisen und die Gestaltung von Lernumgebungen in ihrer Anschlussfähigkeit an das Denken und Handeln anderer sowie im Verlauf der Systemdynamik zeigen muss. Gleiches gilt für deine Hypothesen über die von dir beobachteten Zusammenhänge.

Die Idee der »Gewährung von Konstruktion« und der »Einführung von Selbstorganisation« beschränkt nicht nur Handlungsoptionen, sondern führt die Theorien der Konstruktion und Selbstorganisation ad absurdum.

3.4 Zusammenfassung Während die Begriffe Selbstorganisation und Konstruktion in ihrer deskriptiven Verwendung und der Begriff systemisch in einem Verständnis als systemreflexiv durchaus ein kritisches Potenzial entwickeln können, verschwimmt dieses Potenzial in einer formativen und pragmatischen Verwendung. Die Theorie und Haltung, die systemischer Praxis zugrunde liegen, sind zunächst erkenntnistheoretisch und reflexiv relevant. Sie können dazu dienen, Handlungspraxis zu hinterfragen. Handlungsentscheidungen können sie aber weder begründen noch rechtfertigen. Strategien, Handlungen und Werteorientierungen lassen sich vor diesem Hintergrund immer kritisch untersuchen, aber nicht präferieren, festlegen oder gar ableiten.

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Exkurs zum Label »systemisch« Um den Anschein der Beliebigkeit zu vermeiden, schlage ich vor, generell auf ein vorschnelles Labeling als »systemisch« zu verzichten. In der vorangestellten kritischen Reflexion könnte man zu dem Schluss kommen, dass man entweder »gar nichts« oder eben »alles« als systemisch bezeichnen könnte. Daher möchte ich Schwierigkeiten des Labeling hier an einem Beispiel reflektieren. Im Kontext eines Buches mit Beiträgen, die sich mit dem System Hochschule befassen, ist z. B. die Etikettierung »Systemische Forschung« von Interesse. Die vorhandenen Definitionsversuche Systemischer Forschung erweisen sich als sehr heterogen und setzen verschiedene Schwerpunkte (eine Zusammenfassung findet man auf der Gemeinschaftswebsite »www.systemisch-forschen.de« der Fachverbände SG u. DGSF, 2021). Systemische Forschung wird in verschiedenen dort zitierten Aussagen konzipiert als: ■ »Forschung über Systeme« oder »Forschung zu systemischer Therapie und Beratung«, also in Bezug zu spezifischen Forschungsgegenständen (inhaltsbezogenes Labeling), ■ eine spezifische »Art oder Praxis der Forschung«, also ein Bezug zu spezifischen Vorgehensweisen (handlungsbezogenes Labeling), ■ eine »erkenntnistheoretische Fundierung von Forschung«, also ein Bezug zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (theoriebezogenes Labeling). Die meisten Beiträge, die unter der Überschrift »Systemische Forschung« veröffentlicht werden, betreiben ein inhaltsbezogenes Labeling (Ochs, Borcsa u. Schweitzer, 2020). Hier ergibt sich auch tatsächlich ein Sinnbezug, ähnlich den Wortkombinationen »maritime Forschung« oder »sozial-ökologische Forschung«. Ähnlich wie beim hier thematisierten Handlungsfeld der Lehre, stellt sich jedoch auch bei der Forschung – möglicherweise in noch größerem Umfang – die Frage, ob es eine eigenständige Methodik gibt, die die Ausrufung eines handlungsbezogenen Labels »systemische Forschung« rechtfertigen würde und über die Markierung eines Inhaltsbezugs hinausgeht. Bezogen auf den dritten Zugang eines theoriebezogenen Labelings hinsichtlich einer zugrundeliegenden Forschungs- und Wissenschaftstheorie wären der Konstruktivismus oder die Systemtheorie letztlich sinnvollere Namenspatinnen als das Systemische. Überträgt man diese Einordnung von Bezeichnungsmöglichkeiten auf den Handlungsbereich der Lehre, werden einige Schwierigkeiten deutlich:

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In einem inhaltsbezogenen Labeling könnte man von »systemischer Lehre« sprechen, wenn es um systemische Inhalte geht. Dies ergibt aber nur wenig Sinn, da es dann auch Konstrukte, wie eine »psychopathologische Lehre«, »zellbiologische Lehre« oder eine »maschinenbautechnische Lehre« gäbe. In einem handlungsbezogenen Labeling müsste eine ausreichende methodische Eigenständigkeit nachgewiesen werden. Hierzu wurde im ersten Teil des Beitrags ausführlich Stellung bezogen. Bezieht man systemisch als theoriebezogenes Label lediglich auf eine »systemische Betrachtungsweise von X«, kann es inflationär auf alles Mögliche angewendet werden und somit jede Trennschärfe zunichtemachen. Ließe man die Fantasie spielen, käme man dann auch zu »systemischer Hochseefischerei«, »systemischer Modeindustrie« oder »systemischer Militärdiktatur«. Sicherlich ist es sinnvoll und nutzbringend nicht nur zu definieren, was systemisch ist, sondern auch, was es nicht sein soll. Es bleibt eine, vor allem für »systemische Fachleute« und ihre Fachverbände, wichtige Aufgabe, genau zu prüfen, was als systemisch bezeichnet werden sollte und was nicht, um einer inflationären Etikettierung entgegenzuwirken oder dieser zumindest selbst keinen Vorschub zu leisten. Als »systemische Praxis« oder »systemische Arbeit« sollte – trotz aller reflexiven Selbstauflösung der eigenen Pragmatik – gegebenenfalls eine im weitesten Sinne prozessorientierte, reflektierende und beratende Tätigkeit definiert werden, die mit einer spezifischen Haltung verbunden ist. Auch wenn dieser Praxis spezifische Methoden zugeordnet würden, müssten diese selbstkritisch hinterfragt werden. Systemische Praxis muss dann als integrativer Ansatz konzipiert werden und alle anderen möglichen Handlungsweisen ebenfalls in Betracht ziehen. Zu systemischer Praxis zählen dann primär alle Formen der Beratung, der Therapie, des Coachings und der Supervision. In Handlungsfeldern wie der Pädagogik (z. B. Soziale Arbeit, Schulpädagogik, Frühpädagogik) oder auch der Mitarbeiterführung wäre kritisch zu hinterfragen, ob mit systemisch nur die im weitesten Sinne prozessorientierten, reflektierenden und beratenden Tätigkeiten sowie ein gemeinsamer Bezug auf Grundlagentheorien verstanden werden soll, oder ob es ausreichende Alleinstellungsmerkmale gibt, um die Begriffe »systemische Soziale Arbeit«, »systemische Schulpädagogik«, »systemische Frühpädagogik« und »systemische Führung« zu rechtfertigen. Andernfalls könnte vielleicht besser von »systemischer Praxis in …« gesprochen werden.

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TEIL II: Systemische Beiträge zur Lehre 4 Was ist an der Lehre systemisch? Wenn man den Ausführungen des ersten Teils folgt, kann es so etwas wie »systemische Lehre« oder »systemische Didaktik« nicht geben. Aber Konstruktivismus, Systemtheorie und systemische Praxis – im Sinne einer prozessorientierten, reflektierenden und beratenden Tätigkeit, die mit einer spezifischen Haltung verbunden ist – können zu Lehre und Didaktik einen Beitrag leisten. Diesen Beitrag einer »systemischen Praxis in der Lehre« genauer zu erfassen, soll die Aufgabe des zweiten Teils sein. Trotz eines attestierten Mangels an Eigenständigkeit bezogen auf die Gestaltung von Lehr-/Lernprozessen, kann systemische Praxis Lehre und Didaktik bereichern. Die Idee, eine eigene pädagogische oder didaktische Richtung begründen zu können, wäre hierfür aufzugeben und das Systemische müsste als Ergänzung und bestenfalls Bereicherung bestehender Handlungsfelder und Modelle definiert werden. Um »systemische Impulse für die Lehre« genauer zu fassen, sollen nachfolgend einige Möglichkeiten und Einschränkungen aufgezeigt werden. Beginnen wir mit einem Gedankenspiel, das die Argumentation bezogen auf das Labeling aufgreift, indem wir zwei Bereiche unterscheiden, nämlich: ■ Lehre von »systemischen Inhalten« (Inhaltsbezug) und ■ Lehre auf eine »systemische Art« (Handlungsbezug). Die dritte Form des Labeling, den Theoriebezug, spare ich hier aus, da er sich, wie bereits ausgeführt, auf alles anwenden lässt, was man systemisch reflektieren kann. Was »systemische Inhalte« sind, kann man den curricularen Vorgaben der Fachverbände oder den Inhaltsverzeichnissen der Lehrbücher »systemischer Praxis« entnehmen: Neben den Bezugstheorien Konstruktivismus und Systemtheorie gehören hierzu Haltung, Auftragsklärung, Methoden der Therapie und Beratung. Ergänzt werden diese immer auch durch fachbezogene Theorien und Fallbeispiele, etwa der Sozialen Arbeit, Psychologie, Wirtschaftstheorie und dergleichen mehr. Spannender scheint die Frage nach der »systemischen Art der Lehre«. Unterstellen wir für dieses Gedankenexperiment, dass es diese Art der Lehre gibt. Rein kombinatorisch müsste es dann, von der gemachten Unterscheidung ausgehend, folgende Praxen geben: 1. »unsystemische Lerninhalte« auf »unsystemische Weise zu lehren«, 2. »unsystemische Lerninhalte« auf »systemische Weise zu lehren«,

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3. »systemische Lerninhalte« auf »systemische Weise zu lehren« und 4. »systemische Lerninhalte« auf »unsystemische Weise« zu lehren. Der erste Punkt ist für die nachfolgende Auseinandersetzung nicht relevant, da es hier um das Systemische in der Lehre gehen soll. Punkt zwei und drei setzen voraus, dass es so etwas wie eine »systemische Art der Lehre« gibt (handlungsbezogenes Labeling). Diese könnte man dann auf beliebige Lerninhalte anwenden. Fasst man in Punkt drei und vier alle »Formen der Lehre systemischer Inhalte« zusammen, ergäbe sich in Form eines inhaltsbezogenen Labelings eine dezidierte Fachdidaktik: eine Idee davon, auf welche Weise »systemische Inhalte« sinnvoll gelehrt werden können. Das könnten dann systemische und unsystemische Formen sein. Eine »Fachdidaktik der systemischen Arbeit« ist, abgesehen von überschaubaren Versuchen didaktisch aufbereitete Lehrbücher zu verfassen, nicht sichtbar und beschränkt sich eher auf Konzeptionen innerhalb von Instituten und Fachgruppen. Punkt vier würde hierbei die Grundannahme bedingen, dass man etwas (»systemische Inhalte«) lernen kann, dessen Lehr- und Lernform keine Selbstähnlichkeit zu den Inhalten aufweisen muss. Hierzu ein paar beispielhafte Fragen: »Kann man Autofahren lernen, indem man ein Buch liest?« »Kann man chirurgische Eingriffe lernen, indem man einen Vortrag hört?« »Kann man handlungsorientierte Didaktik lernen, indem man diese frontal präsentiert bekommt?« »Kann man systemische Inhalte lernen, indem man einen Film anschaut?« Didaktikerinnen und Didaktiker würden hierauf weitgehend übereinstimmend antworten, dass es auf die Lernorganisation ankommt, auf den Methodenmix und darauf, unterschiedliche Zugänge zu den Lerninhalten zu ermöglichen, den Lernstil und den Lehrstil der Beteiligten auszubalancieren. Hierbei ist keine Lernform oder Methode einer anderen überlegen. Erst die Vielfalt und situative Auswahl führen zum Lernerfolg. Nicht zu vernachlässigen sind hierbei die Rahmenbedingungen, in denen sich Lehr-/Lernkonstellationen entwickeln, ebenso wie die Gruppendynamik, in der sich bestimmte Formen gelingenden Lernens als Muster herauskristallisieren.

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Es bleiben nachfolgend zwei Fragen zu beantworten: ■ Welche Impulse können aus »dem Systemischen« für Didaktik und Lehre erfolgen? ■ Welche Impulse können aus der Didaktik und Methodik für die Lehre systemischer Inhalte erfolgen? Die Beantwortung dieser Fragen soll hier nachfolgend in Form von sechs Schlaglichtern erfolgen. Die zahlreichen Beiträge in diesem Band stellen weitere Fragen und liefern weitere Antworten.

5 Impulse »des Systemischen« für die Lehre – Impulse für lehrende Systemikerinnen und Systemiker 1. Kontextbezogene Vielfalt der Methoden und Rollen: Anything goes, if it works Der Fundus systemischer Praxis ist voller Methoden. Dies sind aber in der Regel Methoden für den Kontext Beratung und Therapie. Lehre in Weiterbildungen, Seminaren und Vorlesungen muss jedoch weitaus mehr und auch andere Methoden in Betracht ziehen, auch das Arbeitsblatt, das Rollenspiel, den Vortrag, Stationenlernen oder Visualisierungstechniken und vieles mehr. Systemische Arbeit sollte zwar als zutiefst integrativer Ansatz betrachtet werden, der die Integration und Nutzung vieler weiterer Herangehensweisen einschließt. Das bringt es aber – gerade in Handlungsbereichen außerhalb der Therapie und Beratung – mit sich, dass das Label »systemisch« der Gefahr anheimfällt, entweder Beliebigkeit zu suggerieren oder anderes zu vereinnahmen.   Kersten Reich bezieht in seine »Konstruktivistische Didaktik« alle möglichen Methoden ein. Sein »Konstruktiver Methodenpool« enthält einen – mit unter zehn Prozent vergleichsweise – kleinen Teil »Systemischer Methoden«, wie »Zirkuläres Fragen« oder »Reflecting Team« (Reich, 2002, S. 272 f.; http://methodenpool.uni-koeln.de/). Das »Kleine Methoden-Lexikon« von Wilhelm H. Peterßen zählt 114 Methoden, die hinsichtlich »Sachkompetenz«, »Sozialkompetenz«, »Methodenkompetenz« und »Moralkompetenz« reflektiert werden, dezidiert systemische Methoden noch nicht eingeschlossen (Peterßen, 1999). Die pädagogische Methodenvielfalt ist immens und übersteigt sogenannte systemische Vorgehensweisen um ein Vielfaches.   Lehre als Beratung, sich selbst als Coach von Lernenden zu betrachten, ist in diesem Kontext ein hilfreiches Reframing und erweitert die kontextuellen und methodischen Spielfelder. Hier liegt eine Stärke des Systemischen.

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Aber: Lehre ist nicht nur Beratung. Die beraterische Beziehung ist kein durchgängiges Muster in der Lehr-/Lerninteraktion. Neben »anderen Hüten«, die man trägt, ist der Beratungshut ein weiterer, der jedoch allein nicht ausreicht, um Lehre zu betreiben. Sich andere, allgemeindidaktische Herangehensweisen zu erschließen und für die eigene Lehre zu nutzen, ist eine wichtige Aufgabe von lehrenden Systemikerinnen und Systemikern. Ebenso eine klare, zumindest innere Markierung, wann man welche Rolle einnimmt. 2. Ungehörige und provokante Rollen Überlegt man einmal für sich selbst, von welchen Lehrkräften und Personen innerhalb und außerhalb von Bildungseinrichtungen man etwas gelernt hat, zeigt sich möglicherweise eine Fülle von Persönlichkeiten. Auch, und oft gerade diejenigen, mit denen man in keinem entspannten Verhältnis stand. Personen, die einen herausgefordert und genervt haben. Verbietet sich diese Rolle für lehrende Systemikerinnen und Systemiker? Oder geht es eher darum, selbstkritisch und reflexiv damit umzugehen? Oder wäre eine absolut freie, selbstreflexive Rollenflexibilität systemisch? Darf man unbequem und provokativ sein, oder muss Neutralität das eigene Rollenbild bestimmen? Darf man »paradox« intervenieren? »Paradox« lehren?   An einigen Beispielen lässt sich zeigen, welch einschneidende Wirkung ein Lehr-/Lernsetting haben kann, in dem die Lehrenden die Lernenden konsequent in eine verstörende und oftmals auch nicht transparente Musterunterbrechung führen: • Ron Jones, der 1967 als Lehrer das legendäre »Die dritte Welle«-Experiment durchgeführt hat. • Jane Elliot, die seit 1968 ausgehend von ihrem Schulunterricht ihre ebenso legendären »Blue Eyed«-Seminare gab (Peters, 1987). • Die verstörend genialen Inszenierungen der – explizit konstruktivistisch orientierten – »Story Dealer«, die ihre Rezipientinnen und Rezipienten bewusst über ihre Motive und den Hintergrund ihrer Aktionen im Unklaren lassen (Geißlinger, 1999).  äre die Einnahme einer derart unbequemen, provozierenden und auch W dogmatischen Rolle durch Lehrende mit einer systemischen Haltung vereinbar? Oder wären diese Praxen des Lehr-/Lernsettings nur systemisch legitimierbar, wenn der gewünschte Outcome, das erwünschte Ergebnis, auch eintritt?   In den genannten Beispielen wurde Lernen auf ungewöhnliche und provokante Art ermöglicht. Die Vorgehensweisen zeigten in ihrem didaktisch-

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methodischen Verlauf keinerlei Selbstähnlichkeit mit dem, was sie bei den Lernenden an Erkenntnis anregen wollten: Zum Beispiel sollen Gleichberechtigung und Teilhabe gelernt werden, indem Ungleichbehandlung und Ausgrenzung erfahrbar gemacht werden. Die Lehrenden haben Rollen gespielt, geschummelt, gelogen, so getan als ob. Darf man das? Oder ließe es sich nur rechtfertigen, wenn am Ende alles gut geht? Lehrende Systemikerinnen und Systemiker müssen andere Rollen einnehmen als diejenigen der Beratung und Therapie. Hierzu gehören auch Provokationen und die »vorbereitete Umgebung«. Hierbei muss viel Aufmerksamkeit der Kontextgestaltung gewidmet werden, ebenso wie der Beobachtung und Moderation von Gruppenprozessen. 3. Die Unhintergehbarkeit des Zwangskontextes Lehre zeigt sich in vielen Kontexten – auch in Weiterbildungen – als eine Form des Zwangskontextes. Sobald Lehre über einen Workshop hinausgeht, sich Teilnehmende über mehrere Jahre vertraglich binden, sollte dies Beachtung finden. Der Kontext bleibt – trotz aller Versuche der Umdeutung – ein hierarchisches Verhältnis, selbst wenn es kooperative und libertäre Züge entfaltet. Nicht nur, dass mit Weiterbildungs- oder Studienverträgen langfristige Verpflichtungen eingegangen werden, Lehrende sind auch für das »Zertifikat«, das »Bestehen« und für »Bewertungen« zuständig. Sie bestimmen, wie Berichte gestaltet sein sollen und werten, ob diese den Anforderungen genügen. Trotz Beteiligung und Individualisierung verbleibt die normative Kraft – beziehungsweise die Definitionsmacht – auf Seite der Lehrenden beziehungsweise der Organisation, für die sie tätig sind. Im Gegensatz hierzu sind Beratung und Therapie in der Regel nicht durch langfristige Verträge gekennzeichnet und letztlich auch wertungsfrei (es sei denn, dass sie mit einer Diagnose oder Attestierung, z. B. gegenüber einem Amt oder einer beauftragenden Behörde oder Führungsperson, einhergehen).   Der Zwangskontext der Lehre besteht auch hinsichtlich der Inhalte. Diese sind – im Gegensatz zu vielen Beratungen und Therapien – nicht in einem größeren Maße frei wählbar. In den Curricula und Modulhandbüchern ist, trotz erheblicher Freiheitsgrade, dennoch ein klarer thematischer Rahmen abgesteckt. Es gilt in curricularen Überlegungen und in der Didaktik demnach einerseits zu bestimmen, was aus Sicht der Lehrenden inhaltlich geboten ist und was durch die gewählten methodischen Vorgehensweisen an Wissen und Kompetenzen erworben werden soll. Sicherlich wird hierbei die Anschlussfähigkeit an die Einzelnen und an die Gruppe reflektiert.

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Störungen haben Vorrang, es wird wiederholt, es können Schwerpunkte gesetzt und Themenwünsche eingebracht werden.   Das Ausmaß des Zwangs und die Freiheitsgrade der inhaltlichen und prozeduralen Partizipation der Teilnehmenden ist – und darauf müssen didaktische Überlegungen abzielen – sehr unterschiedlich je nach Inhalt, Zusammensetzung der Gruppe und Bildungsort, wie Regelschule, Hochschule, Universität, Weiterbildung, Training. Die Situation der akademischen Lehre ist hierbei sehr heterogen und die Möglichkeiten unterscheiden sich nicht nur zwischen den verschiedenen Hochschulen, sondern auch zwischen Fachbereichen und Studiengängen. Andere Ausgangsbedingungen mögen in Gruppen bestehen, die in einer freien Rahmung zusammenkommen und ohne inhaltliche und curriculare Vorgaben in Klärungsprozesse einsteigen.   Lehrende Systemikerinnen und Systemiker müssen darauf eingestellt sein, strukturelle, inhaltliche und prozedurale Individual-, Gruppen- und Organisationsansprüche zu balancieren. Neben einer generellen Kontextsensibilität führt dies direkt zum nächsten Aspekt: Auftragsklärung. 4. Auftragsklärung im Rahmen formaler Bildung Ungeachtet der inhaltlichen und formalen Grenzen, die modularisierte Bildungsangebote in Weiterbildung und Hochschule mit sich bringen, ist die systemische Vorgehensweise der Auftragsklärung hervorzuheben. Zwar kann nicht völlig frei verhandelt werden, welche Inhalte zu bearbeiten sind und auf welche Weise dies geschehen soll, aber dennoch gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Schwerpunktsetzung und erst recht der Prozessgestaltung und methodischen Vorgehensweisen: • Was wissen und können Lernende schon und wie kann man dies im Rahmen der Lehre nutzen? • Welche parallelen individuellen oder kleingruppenbezogenen Aushandlungsprozesse sind in den Formen bestehender Bildungssettings möglich? • An welchen Themen oder Fallbeispielen soll gearbeitet werden? • Wie soll ein neues Vorgehen, eine Methode oder Theorie vermittelt werden? Als Übung, als Demonstration, als theoretischer Input, als Arbeit in parallelen Kleingruppen, als Einzelarbeit oder über einen Text oder Film? Welche Auswahl und Reihenfolge werden gewünscht? Welche sind didaktisch sinnvoll? • Wie genau können einzelne Lernende die an sie gestellten Ansprüche an Dokumentation und Praxis erfüllen? Welche Lern- und Entwicklungsaufgaben stellen sie sich?

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 ehrende Systemikerinnen und Systemiker müssen Auftragsklärung auch L hinsichtlich Aushandlungsprozessen in Gruppen konzipieren. Hierzu gibt es einen reichen Fundus anschlussfähiger Unterrichtsmethoden und didaktische Modelle der Individualisierung, Methodenvielfalt und der »vollständigen Handlung«, die versuchen, diesen Bezug zum Individuum herzustellen (Meyer, 2004; Konrad u. Traub, 1999, S. 79). 5. Haltung bewahren, aber den Kontext beachten Was systemische Arbeit auszeichnet ist maßgeblich die systemische Haltung. Hierzu gehört ein Welt- und Menschenbild, das sich skeptisch gegenüber Wahrheiten und Ausschließlichkeit verhält. Und es gibt weitere Elemente systemischen Denkens, wie Lösungs- und Ressourcenorientierung, die verallgemeinerbar sind und unabhängig vom Anwendungskontext funktionieren können.   Eine undogmatische und wertschätzende Haltung gegenüber verschiedenen Sichtweisen, Theorien und Begründungen ist beispielweise in der Lehre – auch bei Darstellung der eigenen Sichtweise durch Lehrende – durchaus möglich. Sie ist in allen Bereichen der Lehre gut umsetzbar, die sich auf Beobachtungen, Sichtweisen und Theorien sowie empirische Befunde bezieht und diese wertfrei nebeneinander zu stellen vermag. So sollten z. B. andere Ansätze der Beratung und Therapie als gleichwertige, ebenso mögliche und auch wirksame Praxisformen wertschätzend dargestellt werden. Die Fokussierung auf Lösungen und Ressourcen ist ein Grundelement des Systemischen, das »immer und überall« Anwendung finden kann.   Es ist jedoch zu bedenken, dass sich andere Aspekte systemischer Haltung in ihrer ursprünglichen Definition auf die Beziehung zwischen beratenden beziehungsweise therapierenden Personen und deren Klientinnen und Klienten beziehen. Lernende sind aber keine Klientinnen und Klienten. Und: Lehrende sind keine unabhängigen Beraterinnen und Berater oder Therapeutinnen und Therapeuten. Auch wenn beratende Tätigkeiten ein Teil von Lehre sein können.   Wo es im beratenden oder therapeutischen Kontext sinnvoll und auch möglich ist, Neutralität zu wahren, ist dies in der Lehre nicht immer machbar. Gleiches gilt für viele weitere Felder systemischer Arbeit, in denen die systemisch arbeitende Person nicht nur beratend tätig ist, sondern zudem eine weitere Position innehat, etwa als Kollegin, Einrichtungsleitung, Gruppenkraft, Jugendamtsmitarbeiter, Stationsärztin oder als Lehrkraft (Lindemann, 2020, S. 43).   In der beratenden Klientenbeziehung bedingt systemische Haltung Neutralität bezogen auf: Beziehung, Formen der Wirklichkeitskonstruktion,

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Problembeschreibungen, Lösungsideen und das Eintreten oder Ausbleiben von Veränderung (Hoffman, 1996, S. 67; Hanswille, 2016, S. 25 ff.; Lindemann, 2020, S. 42–52). Es lassen sich weitere Aspekte systemischer Haltung benennen, die sich z. B. mit Themen wie Macht, Emotionsregulation, Werteorientierung oder Vertrauen befassen (Barthelmess, 2016; Erpenbeck, 2018). Zur Illustration sollen hier die fünf Aspekte der Neutralität systemischer Haltung als Beispiel dienen. An ihnen lässt sich zeigen, dass sich die systemische Haltung – als Haltung in einem beraterischen und therapeutischen Kontext – nicht beliebig verallgemeinert auf andere Kontexte – wie z. B. die Lehrtätigkeit – anwenden lässt. Konstruktneutralität: Es geht in der Lehre in erster Linie darum, bestimmte Inhalte, Wissen und Kompetenzen zu vermitteln. Diese sind weder in der Wahl der Inhalte noch in deren Gehalt beliebig.   Beim Lerninhalt »zirkuläres Fragen« sollten Lehrende bezogen auf die Konstruktion von Lernenden nicht neutral sein. Wenn ein Lernender sagt: »Zirkuläres Fragen ist, wenn ich Fragen stelle und mich dabei auf der Stelle im Kreis drehe«, mag man dies wertschätzend hinterfragen und mit ihm bearbeiten. »Respektvolle Neugier« wird hier oft als Aspekt systemischer Haltung benannt. Erwartungshaltung eines Bildungsangebotes wäre es aber, dass sich Konstruktionen herausbilden, die – trotz individueller Ausprägung – eine hinreichende Ähnlichkeit zu dem aufweisen, was vermittelt werden soll.   Genauso ist es, wenn eine Lernende systemischer Therapie beharrlich bei der Ansicht bleibt, dass es sinnvoller sei, Klienten einfach klipp und klar zu sagen, was mit ihnen nicht stimmt und was sie tun sollen, anstatt lange herumzufragen und sie selbst Lösungen erarbeiten zu lassen. Neben neugierigem Nachfragen, beharrlichem Zeigen und Argumentieren kann es sinnvoll und notwendig sein, Konstruktionen von Lernenden als inkongruent zu den Lehrinhalten zu rahmen: »Ich kann verstehen, dass du das so denkst. Es ist deine Wirklichkeit, auch mag es dein Weg sein. Aber: Das ist nicht systemisch!« Gleiches gilt natürlich auch für unsystemische Inhalte.   Diese Ambivalenz von Konstruktneutralität – als wertschätzende Haltung – einerseits und dem transparenten Aufzeigen von Inkongruenzen zu den Lehr- und Lerninhalten andererseits, ist ein wichtiger Bestandteil einer lehrenden Haltung. Es geht in der Lehre auch darum, Differenzerfahrung und Konfrontation zu nutzen. Was eine Klientin oder ein Klient aus einer Beratung oder Therapie an Konstruktion mit nach Hause nimmt, muss nicht das Label »systemisch« tragen. Was Lernende aus einer Lehrveranstaltung

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mitnehmen, sollte jedoch das Label der dort behandelten Inhalte tragen können, z. B. »Kompetenz empirischer Analyse«, »Behandlungsformen von Blutkrebs«, »Wissen um sozialpädagogische Handlungsfelder«, »Wissen um Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung und Teilhabe« oder eben auch »Kenntnis systemischer Interventionen«, »Wissen über Grundlagen der Systemtheorie«, »Selbsterfahrung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Familie und Herkunft«, »Selbsterfahrung und Selbstreflexion eigener Beratungstätigkeit«. Weitere Lernerfahrungen und auch motorische und affektive Kompetenzen mögen hinzukommen. Im Zuge einer Kompetenzorientierung muss der Bereich der Konstruktneutralität in der Lehre zugunsten erwartbarer und überprüfbarer Konstruktionen eingeschränkt werden.  eziehungsneutralität: Lehrende sind Wissende, Könnerinnen und Könner. B Dass sie sich in einem spezifischen Bereich von Erfahrung, Können und Wissen von Lernenden unterscheiden, ist eines der Merkmale ihrer Profession. Sie geben Input, machen vor, leiten an, geben Tipps und bewerten. Bewertungen erfolgen an Hochschulen teilweise auch über Noten, zumindest aber  – wie auch im Kontext von Weiterbildungen  – durch eine Kategorisierung von Leistungen als »erledigt«, »bestanden« oder »ausreichend«, welche spätestens mit Erteilung eines Zertifikates erfolgt.   In der beraterischen oder therapeutischen Beziehung ist die Prozesskompetenz oft weitaus stärker gefragt als die Fachkompetenz. Auch sind die geforderten Prozesskompetenzen andere. Es geht weniger um das Vermitteln von Wissen oder das Trainieren von Fähigkeiten, weniger um die Moderation von Lerngruppen.   Bezogen auf die Lehr-/Lernbeziehung gibt es – trotz allem Bemühen um Augenhöhe – ein Macht- und Wissensgefälle, das in der Beratung und Therapie in anderen Ausprägungen zum Tragen kommt. Diese Unterschiede müssen in der Lehre anders reflektiert werden als in Therapie und Beratung. Eine beratende Person kann in vielen Fällen – ebenso wie der Klient oder die Klientin – die Zusammenarbeit, ohne größere Probleme oder Konsequenzen, abbrechen oder den Wechsel zu einer anderen beratenden Person anregen. Dies ist in organisationalen Zusammenhängen von Weiterbildung oder Studium nicht so einfach möglich, da ein längerfristiger Vertrag geschlossen wird, teilweise mit der Konsequenz, dass finanzielle Verpflichtungen im Falle eines Abbruchs oder Wechsels weiter bestehen bleiben. Im Rahmen eines Studiums ist eine Beendigung der Lehr-/Lernbeziehung durch die Lernenden oder ein Wechsel zu einer anderen Hochschule aufwendig. Vonseiten

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der Lehrperson kann die Beendigung einer Lehr-/Lernbeziehung sogar nur bei groben Verstößen der Gegenseite in Betracht gezogen werden. Problemneutralität: Was an Konstruktionen oder an Lerninhalten problematisch ist, bestimmt tatsächlich maßgeblich der Lernende. Der Problemkonstruktion Raum zu geben, steht Lehrenden im Sinne systemischer Haltung gut zu Gesicht. Lehrende sollten Möglichkeiten bereitstellen, Probleme zu benennen, kritisch zu reflektieren und diese lösungs- und ressourcenorientiert zu bearbeiten.   Beziehen sich Problemkonstruktionen hingegen auf die Lernorganisation und ist die Lehrperson aufgrund ihrer Position oder organisationalen Eingebundenheit Teil des Problems oder einer möglichen Lösung, kommt sie in eine Doppelrollendynamik, die ihrer Beziehungsneutralität entgegensteht.   Dieser Aspekt der eigenen Involviertheit taucht bei allen Formen systemischer Arbeit auf. Je nach Handlungsfeld ist die Gefahr (oder Chance) in diese hineinzugeraten mehr oder weniger groß und betrifft letztlich alle, die nicht nur unabhängig beratend tätig sind, sondern weitere Aufgaben bezogen auf ihr Gegenüber zu erfüllen haben. Lösungsneutralität: Die Lösungsneutralität ist in der Lehre nicht einfach einzuhalten. Für Lösungen im Kontext der Hochschullehre gibt es nicht immer große Spielräume. So mag eine Teilnehmerin einer Coachingweiterbildung strikt bei Fragetechniken bleiben, ohne komplexere Methoden anzuwenden und dennoch exzellente Ergebnisse damit erzielen. Ihre Lösungsstrategien sind dann Teil ihrer Persönlichkeitsentwicklung, selbst wenn man vorschlägt, andere und vielleicht ungewohnte Methoden auszuprobieren und nicht in bereits bekannten Strategien zu verharren.   In anderen Bereichen kann jedoch nicht jede Lösung als adäquat akzeptiert werden. In einem Seminar zu Forschungsmethoden kann bei der Aufgabenstellung des Rechnens einer Varianzanalyse nicht akzeptiert werden, wenn jemand sagt: »Gerechnet habe ich nichts. Aber ich habe ein Bild gemalt. Und das ist schön.« Prinzipiell ist Lehre natürlich ergebnisoffen und es können alle möglichen, auch kreative und seltsame Produkte, Lern- und Entwicklungsschritte entstehen. Auch ein Umentscheiden, ein Studiengangswechsel oder -abbruch sind Lösungen. Erfolgreiche Lehre und Ausbildung hat jedoch unabhängig von einer individuellen und gruppenbezogenen Auftragsklärung immer schon einen feststehenden Erwartungshorizont. Es gilt also bereits bei Aufgabenstellungen und der damit einhergehenden Auftragsklärung, die Leistungserwartungen und Grenzen, aber auch mögliche Freiheitsgrade, herauszuarbeiten.

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  Bezogen auf formale Anforderungen, die an Lernende gestellt werden, ist die Neutralität gegenüber möglichen Lösungen begrenzt. Wenn z. B. eine Liveberatung, ein Beratungsvideo, eine bestimmte Form der Dokumentation etc. gefordert sind, so sind diese zu erbringen. Sogenannte »adäquate Ersatzleistungen« müssten ausgehandelt werden und können nicht durch die Lernenden selbst bestimmt werden. Leistungserwartungen müssen transparent sein, ebenso wie die Toleranzgrenzen von Abweichungen und Individualität. Veränderungsneutralität: Da wir in jeglichen Ausbildungskontexten der Notwendigkeit einer Bewertung oder Zertifizierung unterliegen, ist die Veränderungsneutralität problematisch. Wenn es Kompetenzen zu erwerben gilt, müssten diese sichtbar und feststellbar gezeigt werden. Kompetenzorientierung  – oder überhaupt die Idee des Lernens  – steht der Veränderungsneutralität entgegen. Es sei denn, man zieht sich auf die Haltung zurück: »Ihr könnt hier lernen … oder nicht und am Ende bekommt ihr dann ein Zertifikat … oder nicht.«   Es wird davon ausgegangen, dass Teilnehmende nach einer Bildungsmaßnahme, einem Seminar oder einem Kurs »mehr« oder »anderes« wissen und können als vorher. Derartige Fortschritte sollten kommuniziert und im Sinne der jeweiligen Persönlichkeitsentwicklung reflektiert werden. Entwicklungsgespräche, Selbstreflexion und die Möglichkeiten des gegenseitigen Feedbacks in Gruppen sind hierbei notwendige Bestandteile.   Die zertifizierenden Fachgesellschaften retten sich aus diesem Dilemma dadurch, dass sie nicht den Erwerb von Kompetenzen beziehungsweise die Persönlichkeitsentwicklung oder »Veränderung« zertifizieren, sondern quantitative Messkriterien ansetzen, wie die bestätigte Anwesenheit unter Anleitung einer zertifizierten Lehrperson oder das Verfassen einer bestimmten Anzahl von Dokumentationen. Prinzipiell bedeutet dies, dass reine Anwesenheit und Erfüllung der formalen Vorgaben für einen Abschluss ausreichen und die qualitative Bewertung der direkten Lehrperson überlassen bleibt. Weder für das Bestehen noch für das Nichtbestehen gibt es andere Kriterien. 6. Feedback und Metakommunikation: Es geht nicht ohne Beobachtung zweiter Ordnung Zu lehren heißt, alle Möglichkeiten der Raum- und Materialgestaltung, Aufgabenstellung, Kommunikation und Interaktion in Betracht zu ziehen. Es heißt, selbstkritisch und selbstreflexiv alles tun zu können, was zu Musterunterbrechungen, Musterverstärkungen, Perspektivenwechsel und Perspektivenerweiterung beitragen kann. Und es heißt letztlich immer wie-

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der, die Veränderungen und Wechselwirkungen zu betrachten, die sich aus der Lehr-/Lerninteraktion ergeben. Systemisch lehren muss immer mit einer Beobachtung erster Ordnung (Lehrende, Lernende, Lerngegenstand, Räume etc.) und zweiter Ordnung (Beobachtung der Beobachtung, Metakommunikation, Metareflexion etc.) einhergehen. Ob ein Setting, Materialien, eine Strategie oder eine Intervention wirken, zeigt sich erst in Reflexion und Feedback. Die Erfolgsgeschichten der Lehre werden retrospektiv erzählt und lassen sich nicht prognostizieren.   Das Anregen von Feedback und Metakommunikation entlastet Lehrende von den zahlreichen Ansprüchen und Doppelfunktionen, die sie bezüglich systemischer Haltung und der Idee einer Balance von Form und Inhalt bedienen müssen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass Feedback und Metakommunikation zwischen den Lernenden einer Gruppe angeregt und moderiert werden.   Aber auch bezüglich der Organisation von Lehre ist Metakommunikation sinnvoll. Da jede inhaltliche sowie didaktisch-methodische Festlegung eine Komplexitätsreduktion bedeutet, muss ihre Anschlussfähigkeit fortwährend überprüft werden (Luhmann, 1988, S. 888). Anschlussfähigkeit ist hierbei auf mehreren Ebenen sicherzustellen: • bezogen auf die Lernenden, • bezogen auf die Lerngruppe, • bezogen auf die Lehrenden, • bezogen auf die Bildungsinstitution, wie z. B. Schule, Hochschule, Universität, Weiterbildungsinstitut und • bezogen auf die beteiligten Funktionssysteme, wie z. B. Wissenschaft, Wirtschaft, Pädagogik, Pflege oder Medizin.  eobachtung, Feedback und Metakommunikation sind daher ebenenB inhärent und ebenenübergreifend notwendige Bestandteile qualitativ hochwertiger Bildungsangebote. Letztlich können und sollen Lernende dabei in didaktische und organisationale Überlegungen einbezogen werden.

6 Fazit Mit unserem Sammelband zur systemischen Hochschullehre ist es uns – ebenso wie mir mit diesem Beitrag – ein Anliegen, einen Diskurs anzuregen. Ziel soll es sein, Möglichkeiten und Grenzen systemischer Arbeit im Handlungsfeld der Hochschule auszuloten. Letztlich geht es auch darum, das Profil systemischer Arbeit zu schärfen.

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In diesem Sinne steht am Beginn meines Fazits zu diesem Beitrag die Bitte, man möge die Grundlagentheorien Konstruktivismus und Systemtheorie nicht zur Legitimation heranziehen, sondern ihnen ihr kritisches Potenzial des fortwährenden Infragestellens belassen. So drängend der Wunsch nach Bestätigung des eigenen Handelns sein mag, sollte er aus einer anderen Quelle als der Referenz auf eine Grundlagentheorie erfüllt werden (Lindemann, 2019, S. 286–289). Zweitens scheint es mir wichtig, gängige Konzepte der Didaktik und Methodik zu rezipieren, bevor von systemischer Didaktik oder systemischer Lehre gesprochen wird. Nachfolgend könnte herausgestellt werden, was der systemische Beitrag hierzu sein soll. Eine reine Umetikettierung oder Inanspruchnahme, vornehmlich reformpädagogischer Ansätze, ist hierbei weder hilfreich noch rechtschaffen. Der systemische Beitrag zur Didaktik ist meines Erachtens weniger revolutionär, als dies bei der Entwicklung systemischer Ansätze in Therapie und Beratung der Fall war. Viele bestehende didaktische Modelle und methodische Überlegungen bieten konstruktivistischem Denken und systemischem Vorgehen sicherlich offene Türen. Ich möchte dafür plädieren, dass diese offenen Türen nicht nur dazu geeignet sind, etwas in die Didaktik hineinzugeben, sondern bestenfalls auch dazu, etwas herauszutragen und anzunehmen. Auf eine übermäßige Verwendung des Labels »systemisch« sollte – auch in anderen Kontexten – verzichtet werden. Drittens halte ich es für entscheidend, Vorgehensweisen und Haltungen systemischer Beratung im Kontext von Lehre kritisch zu reflektieren und anzupassen. Zu definieren, wo und wie Beratung im Kontext von Hochschulorganisation und Lehre stattfinden kann und soll, ist ein wichtiges Feld, das noch nicht hinreichend bearbeitet worden ist. Ich hoffe, dass dieser Band, ebenso wie dieser Beitrag, zu einer fruchtbaren und erkenntnisreichen Diskussion beitragen. Durch eine zunehmende Bedeutung systemischer Lehr- und Lernhalte an Hochschulen liegt hier ein wichtiges Entwicklungsfeld für die verschiedenen Formen systemischer Praxis.

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Systemischer Ansatz trifft Hochschullehre – Entwicklungsfelder und Antinomien der systemischen Hochschullehre Silke Trumpa

Eine Ausgangsfrage für diesen Band lautet, inwiefern in hochschulischen Kontexten anders gelehrt wird, wenn Lehrende über eine systemische Qualifikation verfügen. Dabei interessiert, ob es gegebenenfalls etwas Gemeinsames gibt, das eine systemische Lehre jenseits von guter Hochschuldidaktik kennzeichnet. In verschiedenen Gesprächen entstand der Eindruck, dass es durchaus einen Unterschied gibt, ohne dass dieser Umstand jemals analysiert worden wäre. Die Bezeichnung »systemische Hochschullehre« stellt dabei eine neue Wortkombination dar, die in den Diskussionen rund um den Aufruf, Beiträge für diesen Sammelband zu verfassen, bereits erste Irritationen, Rückfragen und Abstracts vor sehr unterschiedlichen Hintergrundfolien hervorriefen. Der systemische Ansatz hat sich seit den 1970er Jahren für vielfältige Arbeitsbereiche als nützlich erwiesen, sodass wir heute nicht nur von systemischer Therapie, sondern auch von systemischer Beratung, systemischem Coaching, systemischer Supervision und sogar von systemischer Pädagogik sprechen. Wieso also sollte nicht auch die Hochschullehre systemisch sein können? Implizit schwingt dabei die Erwartung mit, dass systemische Hochschullehre irgendwie besser, nützlicher – zumindest aber anders – sein könnte als herkömmliche (?) Hochschullehre. Um diesem diffusen Gefühl zu begegnen, stehen in diesem Beitrag die konstituierenden Merkmale des systemischen Ansatzes vor dem Erfahrungshintergrund als systemische Beraterin und Coach und der Hochschullehre im Mittelpunkt. Dabei kristallisieren sich auch Handlungs- respektive Spannungsfelder heraus, die sich aus der Kombination beider Ansätze ergeben. Ausdrücklich unberücksichtigt bleibt die Perspektive der systemischen Therapie, die mit ihren institutionellen und adressatenspezifischen Besonderheiten die Komplexität der Diskussion erhöht. Um sagen zu können, dass jemand systemische Hochschullehre anbietet, müssen zwei Komponenten ineinander fallen: eine lehrende Tätigkeit in einer Hochschule sowie Kenntnisse über den systemischen Ansatz. In den meisten Fällen wird es so sein, dass diese Qualifikationen nacheinander erarbeitet wer-

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den und eine der anderen vorausgeht. Entweder ist jemand erst in einer Hochschule lehrend tätig, und qualifiziert sich danach in einer systemischen Zusatzausbildung, oder umgekehrt. So kann man zu dem Schluss gelangen, dass sich die Integration beider Elemente als Entwicklungsaufgabe in der Berufsbiografie findet. Entwicklungsaufgaben fallen sowohl in beruflichen als auch in privaten Kontexten an. Sie stellen sich in Abhängigkeit zu gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, technologischen und persönlichen Veränderungen und Herausforderungen lebenslang. Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung stellt die Anerkennung dar, dass die eigene Entwicklung unabgeschlossen und eine Bereitschaft und Fähigkeit zum Lernen beziehungsweise zur Veränderung vorhanden ist (Gruber u. Harteis, 2016, S. 231). Bereits in den 1950er Jahren skizzierte Havinghurst Entwicklungsaufgaben, die aus biologischen Veränderungen aber auch aus gesellschaftlichen Erwartungen hervorgehen, auf die im Lebensverlauf reagiert werden muss. So entstehen je nach Lebensalter Entwicklungsaufgaben, wie z. B. die Abnabelung aus dem eigenen Elternhaus oder das Berufsleben zur eigenen Zufriedenheit gestalten. Neben den typischen Aufgaben, die in Abhängigkeit zum Lebensalter auftreten, gibt es auch plötzliche, sogenannte »kritische« Lebensereignisse, wie z. B. Arbeitslosigkeit, Krankheit oder auch positiv konnotierte Veränderungen, wie ein Lottogewinn. Diese sind unerwartet und erfordern besondere Flexibilität und ausgeprägte Lern- und Anpassungsleistungen (Filip, 1990, zit. n. Gruber u. Harteis, 2016, S. 234). Bezogen auf die Lehrtätigkeit stellen z. B. ein beruflicher Standortwechsel mit neuen und umfassenderen Lehraufgaben oder auch eine ad hoc Umstellung einer Präsenzlehre in virtuelle Räume solche kritischen Ereignisse dar. In der systemischen Beratung dienen z. B. die Annahmen über aktuelle oder unvollständig bearbeitete Entwicklungsaufgaben im Leben der Klientin/des Klienten die Grundlage für die Bildung von Hypothesen. Diese werden während der Zusammenarbeit auf ihre Nützlichkeit hin überprüft und sind bspw. für die Beraterin wegweisend für die Auswahl von Interventionen. Daher sind sie ein sehr wichtiges Element des systemischen Ansatzes. Das Modell der Entwicklungsaufgaben findet sich auch in der Bildungsgangforschung und in einem Ansatz der Lehrerprofessionalisierung als didaktische Ausgangslage wieder. Dabei geht es zum einen um die Entwicklungsaufgaben, mit denen Lernende sich konfrontiert sehen beziehungsweise die sie bearbeiten (sollen), die als Erklärungsmuster für je individuelle Lernwege dienen (Meyer, 2009, S. 1). Zum anderen sind sie als berufsbiografische, typische Entwicklungsaufgaben für den Einstieg in den Lehrberuf gefasst und können Aufschluss über die Professionalisierungsformen von Lehrpersonen geben (Hericks, 2006). Dabei

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wird von berufstypischen Anforderungen ausgegangen, deren Bearbeitung bei einer professionellen Haltung nicht zu umgehen sind. Die Annahme der Herausforderung ist dabei geprägt von Ge- und Misslingenserfahrungen, deren Reflexion Rückschlüsse auf die Deutungsmuster und den Grad der Bemühungen um professionelles Handeln zulässt (Hericks, Keller-Schneider u. Bonnet, 2018). Hinsichtlich der Frage, was die Besonderheit systemischer Hochschullehre sein könnte, erscheint es vielversprechend, auf die Entwicklungsaufgaben zu schauen, die sich durch die Integration systemischer Elemente in die Lehre ergeben. Dafür werden hier für eine systematische Betrachtung die Entwicklungsfelder zugrunde gelegt, die im Rahmen der Professionsforschung für den Lehrerberuf rekonstruiert wurden. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die Hochschullehre bei der Fragestellung – quasi als Hauptwort – die Federführung übernimmt, während das Systemische als Verb vorangestellt ist. Diese Entwicklungsfelder weisen Analogien zu den Elementen des Didaktischen Dreiecks auf, das auch als Grundlage für die Umrisse der Hochschuldidaktik dient (Wildt, 2002, S. 3). Es handelt sich um die Felder Person, Sache, Schülerin/Schüler, deren Handlungsrahmen durch eine Institution beeinflusst ist (Hericks et al., 2018). Bei einem ersten Übertragungsversuch auf eine systemische Hochschullehre fällt unmittelbar eine Schwierigkeit für den Bereich »Schülerinnen und Schüler« auf, der sogleich auf ein Strukturproblem des Vorhabens aufmerksam macht. Für den Bereich der Hochschullehre ließen sich die Begriffe »Studierende« oder »Lernende« einsetzen. Für die systemische Arbeit indessen erscheint es unpassend, die Menschen, mit denen gearbeitet wird, generell auf die Rolle einer lernenden Person festzulegen. Damit zeigt sich, dass der systemische Ansatz nicht als Lehrkonzept angelegt ist, bei dem etwas gelehrt oder gelernt wird. An dieser Stelle muss also ein Kompromiss eingegangen werden, der mit »Klientel« gefunden wurde, unter der sich auch Studierende fassen lassen. Entsprechend folgt nun die Betrachtung der Entwicklungsfelder Person, Sache, Klientel und Institution. In den Ausführungen werden die Hochschullehre und die systemische Arbeit in den Feldern Beratung und Coaching auf ihre spezifischen Merkmale in den Entwicklungsfeldern untersucht, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen werden muss, dass der systemische Ansatz ein beratungs- und therapiebezogenes Konzept darstellt und kein Lehr- und Lernkonzept. Nachfolgend erfolgt eine kurze Zusammenfassung der wesentlichen Unterschiede und eine Ableitung potenzieller Mehrwerte für die systemische Hochschullehre. In einem abschließenden Kapitel werden die stärksten Widersprüche als Antinomien der systemischen Hochschullehre herauskristallisiert.

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1 Entwicklungsfeld Person Im Entwicklungsfeld Person geht es darum, sich mit der anvertrauten Aufgabe beziehungsweise Position zu identifizieren und eine entsprechende Rolle anzunehmen. Daher stellt sich hier die Frage, wodurch sich z. B. die Personen, die auf den Call für dieses Herausgeberwerk mit einem Abstract reagiert haben, als systemisch Lehrende verstehen. Ist es dafür ausreichend, eine Tätigkeit in der Hochschullehre auszuüben und über eine systemische Zusatzqualifizierung zu verfügen, oder steckt mehr dahinter? Grundsätzlich können wir annehmen, dass es berufsbiografische Einflüsse und Überzeugungen sind, die diese Identität beeinflussen, wodurch eine tiefere Dimension wahrscheinlich wird. Ohne auf empirische Daten zurückgreifen zu können, wird hier zunächst auf die Qualifikationswege geschaut, mit denen man zu dem Schluss gelangen kann, man sei eine Person, die an einer Hochschule systemisch lehrt. Daraus entstehen Hypothesen darüber, was den Mehrwert einer Identifikation aus der Kombination von Hochschullehre und systemischem Ansatz ausmachen könnte. Die Bezeichnung Hochschullehrerin/Hochschullehrer ist im juristischen Sinne laut Hochschulrahmengesetz (§ 42 HRG) der Gruppe der Professorinnen und Professoren vorbehalten, die über die Mitwirkung in Selbstverwaltungsgremien die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre gewährleisten soll. Alles weitere Lehrpersonal besteht aus Lehrenden an Hochschulen, wobei dies alltagssprachlich nicht so genau voneinander getrennt wird. Die Gruppe der Lehrenden setzt sich sehr divers zusammen und es werden auch keine einheitlichen Qualifikationswege vorausgesetzt. Es lehren freiberufliche oder nebenamtliche Lehrbeauftragte, Mitarbeitende in (Drittmittel-)Projekten, Lehrkräfte für besondere Aufgaben, Personen im akademischen Mittelbau mit und ohne Qualifikationsphase zur Promotion oder Habilitation sowie Professorinnen und Professoren. Der Anspruch an das Kompetenzprofil von Lehrpersonen liegt dabei auf dem fachwissenschaftlich-disziplinären Wissen, das über einen akademischen Abschluss nachzuweisen ist. Der Erwerb didaktischer und pädagogischer Fähigkeiten ist trotz hauptamtlicher Lehrtätigkeit von untergeordneter Bedeutung (Tremp, 2009, S. 5). Bei einer Berufung auf eine Professur steht an erster Stelle die fachliche Expertise. Diese wird über einschlägige Studienabschlüsse, die Promotion sowie Forschungs- und Publikationstätigkeiten und eine Habilitation oder äquivalente wissenschaftliche Leistungen nachgewiesen. Die Eignung für die Hochschullehre wird ohne Standards über Teilnahmebescheinigungen hochschuldidaktischer Kurse oder über die Darbietung einer exemplarischen Lehrveranstaltung nachgewiesen, gegebenenfalls auch durch Evaluationsergebnisse. In der Summe ist

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damit die Hürde für den Nachweis einer didaktisch-methodischen Eignung für eine hauptamtliche Hochschullehre äußerst niederschwellig. Bei dem Qualifikationsweg für die Hochschullehre kann von drei wesentlichen Einflussfaktoren ausgegangen werden. Zunächst sind die Erfahrungen aus der eigenen Studien- und Schulzeit zu nennen, die prägend sind und durch die es zu unsystematischen Nachahmungs- und Abgrenzungsbemühungen in Abhängigkeit zu den Begegnungen mit positiven und negativen Vorbildern kommt. Feedback und Evaluationen zur Lehre von Studierenden führen dann gegebenenfalls zu zielgruppen- und veranstaltungsspezifischen Anpassungen. Je nach Bedeutungszuschreibung und Angebotsstrukturen kommt es zu informellen Lernprozessen und zur non-formalen hochschuldidaktischen Weiterbildung. Im Bereich der Hochschuldidaktik gibt es bislang keine staatlichen Anerkennungen. Auch die Suche nach entsprechenden Bachelor- und Masterstudiengängen bleibt für Deutschland ergebnislos. Die Konzeption hochschuldidaktischer Weiterbildungen weist vielfältige Schnittstellen zur Lehrerbildung auf. Entsprechend speisen sich hochschuldidaktische Konzepte und Methoden primär aus der Allgemeinen Didaktik, der Schulpädagogik und den Fach­ didaktiken. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Erziehungswissenschaft in diesem Feld nur sehr zurückhaltend als Bezugswissenschaft kenntlich zeigt (Huber u. Reiber, 2017). So verbleibt diese Qualifizierungsaufgabe im diffusen Weiterbildungssektor, in dem sich dennoch um Standardisierung und Qualitätssicherung bemüht wird. Erste hochschuldidaktische Weiterbildungen wurden durch die studentische Bewegung der 1968er angestoßen. In der Folge etablierten sich hochschuldidaktische Zentren mit bedarfsorientierten Angeboten. In den 1990er Jahren erhielten die Themen Qualitätssicherung und Evaluation zunehmendes Gewicht, was den Ausbau hochschuldidaktischer Weiterbildungen zur Folge hatte. Mit dem Bologna-Prozess, der Umstellung auf Bachelor- und Masterprogramme sowie Akkreditierungsverfahren zur Einführung und zum Erhalt von Studienprogrammen, etablierte sich die Hochschuldidaktik weiter. Heute gibt es ein beachtliches Netzwerk und Verbünde, an die alle wesentlichen Hochschulstandorte angeschlossen sind (Wildt, 2009, S. 28). Eine zentrale Rolle spielt dabei die Deutsche Gesellschaft für Hochschuldidaktik. Durch diese Verbandsarbeit entstanden 2013 »Qualitätsstandards für die Anerkennung von Leistungen in der hochschuldidaktischen Weiterbildung« (dghd, 2013), die als Folge vielfältiger Weiterbildungsangebote formuliert wurden und Vorläuferpapiere zusammenführte. Das Ziel ist eine bundesweite Angleichung und Anerkennung von Programmen und Mindeststandards über Regionen und Hochschulstandorte hinweg.

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Da sich das Selbstverständnis von Hochschullehrenden primär nicht über den Qualifikationsweg für die Lehre speist, wird hier der Zugang über das Rollenmodell von Wissensarbeit zusätzlich herangezogen. Dabei werden vier für Hochschullehrende relevante Aufgaben unterschieden (North, Güldenberg u. Dick, 2016, S. 133): 1. Wissensproduktion: Bei diesem Selbstverständnis geht es darum, sich um die Hervorbringung von Wissen zu kümmern. Dies kann durch neue Kombinationen oder Weiterentwicklung von bereits bekannten Aspekten, aber auch durch den Umgang mit Nichtwissen und der Aufstellung oder Überprüfung von Hypothesen geschehen. Dabei besteht eine gewisse Autonomie, aber zugleich auch eine Anbindung an eine Community, in deren Wissensbestand neue Erkenntnisse überführt werden. 2. Wissensvermittlung: Ohne den Anspruch, neues Wissen hervorzubringen, geht es um die zielgruppenbezogene Strukturierung und Aufbereitung von bereits vorhandenem Wissen. Dabei sind es vor allem didaktische Herausforderungen, die bewältigt werden müssen. Es geht darum, eine Passung zwischen fachlichem und methodischem Wissen sowie zwischen Zielgruppe und Situation herzustellen. 3. Wissensintensive Dienstleistung: In dieser Rolle kommt es darauf an, mittels spezifischer Expertise zur Lösung von Problemen beizutragen. Dabei besteht die Herausforderung im Finden situationsgerechter Antworten in direkten oder indirekten zwischenmenschlichen Kontakten. 4. Lernen: Die Rolle der Lernenden wird allen Personen zugesprochen, die sich mit Wissensarbeit auseinandersetzen. Dabei geht es darum, sich neues Wissen anzueignen, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und ein Kompetenzprofil zu schärfen. Dies geschieht kontinuierlich und setzt eine Auseinandersetzung innerhalb der Wissensgemeinschaft sowie Freiräume voraus. Übertragen auf die Lehre im Hochschulkontext treten alle vier Rollen in Abhängigkeit zum Studiengang, der Studienstufe und den Zielen der Veranstaltung mehr oder weniger deutlich hervor. Für das berufliche Selbstverständnis ist es ganz entscheidend, welche Aufgabenfelder bei der Ausfüllung einer bestimmten Position als relevant angesehen werden. Dabei kommt es insbesondere auf den Anspruch, den erwarteten Mehrwert sowie auf die investierte Zeit und Energie an. Auch das Bedürfnis nach sozialen Kontakten mit den Studierenden ist für das Selbstverständnis in der Hochschullehre mitentscheidend (Viebahn, 2009, S. 43 f.). Auf dem Weg zur systemischen Qualifizierung spielen vor allem Weiterbildungen und informelles Lernen eine wesentliche Rolle. Für unsere Diskussion

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um systemische Hochschullehre ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass Systemik ein Beratungs- und Therapieansatz ist und mit Lehre primär nicht im Zusammenhang steht. Etabliert hat sich das systemische Denken seit den 1950er Jahren, indem das Feld der Einzel- und Gruppentherapie verlassen und mit Paaren und Familien gearbeitet wurde. Es entwickelten sich zahlreiche systemtherapeutische Modelle, von denen von Schlippe und Schweitzer 16 verschiedene in ihrem Grundlagenlehrbuch vorstellen (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 34). Waren sie anfangs auf die Psychotherapie begrenzt, weiteten sie sich seit den 1990er Jahren auf die soziale Arbeit, schulische und außerschulische Pädagogik, Organisationsberatung, Coaching, Supervision und Mediation aus (S. 32). »Systemisch« beziehungsweise alle damit gebildeten Wortzusammensetzungen bilden keine geschützten Begriffe oder gar Berufsbezeichnungen. Entsprechend gibt es zahlreiche Wege, um dieses Label zu erlangen, wobei der einfachste darin besteht, sich einfach so zu nennen. Eine tatsächliche Qualifikation erfolgt zumeist in einer Weiterbildung und setzt implizit eine nicht näher definierte Tätigkeit mit Menschen voraus. Bei einer einfachen Internetrecherche zu dem Schlagwort »systemische Weiterbildung« erfolgt binnen weniger als einer Sekunde die Anzeige von 4,8 Millionen Treffern. An erster Stelle erscheinen Anzeigen von Weiterbildungsinstituten, die die Durchführung von Qualifikationskursen in Systemischer Beratung, Systemischem Coaching, Systemischer Supervision, Therapie, Organisationsentwicklung und Mediation als Geschäftsmodell für sich entdeckt haben. Zumeist handelt es sich um eine modular aufgebaute Weiterbildung, die mehrjährig ist und mit Erprobungs-, Intervisions- und Supervisionsphasen einhergeht. Es zeigt sich ein unüberschaubares Angebot, in dem sich die Anbieter versuchen, durch Alleinstellungsmerkmale und Zertifizierungen voneinander abzuheben. Die angebotenen Abschlusszertifikate reichen von institutseigenen Siegeln bis zu Mitgliedschaften in bundesweiten Verbänden oder Gesellschaften. Diese bemühen sich, die Qualität der Qualifikation über eigene Standards festzulegen und zertifizieren nach differenzierten Kriterien. Auf Verbandsebene wurden Weiterbildungsrichtlinien unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Beratung vereinheitlicht. Jedoch bieten die formulierten Standards einen nicht unerheblichen Auslegungsspielraum. Um sich als Einzelperson für z. B. systemische Beratung durch die DGSF zertifizieren zu lassen, bedarf es der Teilnahme an einer Weiterbildung im Umfang von 570 Unterrichts- und Lerneinheiten. Diese besteht neben Theorieeinheiten aus praktischen Übungen, Inter- und Supervision sowie Beratungspraxis. Die theoretischen Grundlagen speisen sich aus Konzepten des systemischen Denkens und Handelns, mit denen praktische Impulse und Methoden

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für die Begleitung von Klientinnen und Klienten theoretisch unterfüttert werden. Die Spezifität liegt darin, dass nicht das Individuum als defizitär angesehen wird, sondern das Verhalten immer als ein – mal mehr, mal weniger gelungener – Lösungsversuch für eine spezifische Lebenslage in einem sozialen Kontext verstanden wird. Diese Perspektive geht mit einer wohlwollenden, ressourcenund lösungsorientierten Haltung gegenüber der Klientel einher. Wenn es nun darum geht, die Person, die sich als systemisch arbeitend versteht, zu fassen, dann könnte man bei der Haltung fündig werden. Systemik ist nicht durch eine direkte Umsetzung systemtheoretischer Konzepte oder Techniken konstituiert. Stattdessen spielen Prämissen und Haltungen eine Rolle, die das konkrete Handeln beeinflussen. Als zentral kann »die gemeinsame Suche nach guten Beschreibungen angesehen [werden], die auf einem möglichst genauen Verstehen der Wünsche und Bedürfnisse der Ratsuchenden aufbaut« (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 200). Zudem wird das Schaffen einer vertrauensvollen Beziehung als fundamental angesehen, um hiervon ausgehend Möglichkeitsräume zu vergrößern. Dafür sind uneingeschränkte Wertschätzung und Respekt gegenüber den Lebensentwürfen und Lösungsversuchen wichtig. Das Selbstverständnis speist sich dabei aus der Rolle der Beobachtung (ohne Erteilung von Ratschlägen oder Mitteilung persönlicher Meinungen) und der Bildung von vielfältigen Hypothesen zur Ordnung und Anregung von Perspektiven. Zusammenfassend sind Ressourcen-, Lösungs- und Kundenorientierung als charakterisierend für die Haltung bei der systemischen Beratung festzuhalten (S. 200–209). Die beruflichen Eingangsvoraussetzungen für die Arbeit als systemische Beraterin sind sehr breit formuliert. Für eine Verbandszertifizierung, z. B. durch die DGSF, werden neben einem akademischen Abschluss auch Berufsausbildungen plus mindestens dreijährige Tätigkeit akzeptiert. Darüber hinaus wird erwartet, dass Praxiserfahrung im psychosozialen Bereich oder in Beratungskontexten – Ausnahmeregelungen sind explizit zulässig – und eine Anerkennung der Ethikrichtlinien des Verbandes vorliegen (DGSF, 2016). Unterm Strich geht eine solche Zertifizierung mit nicht unerheblichen finanziellen Aufwendungen einher, was gegebenenfalls eine größere Zugangshürde als einschlägige Vorkenntnisse darstellt. Da es sich jedoch nicht um eine staatlich anerkannte Ausbildung handelt, kann sich im Prinzip jeder – theoretisch sogar, ohne jemals eine Weiterbildung besucht zu haben – als Systemikerin oder Systemiker bezeichnen und sogar selbst Weiterbildungen anbieten. Einen großen Aufschwung hat der systemische Ansatz durch die wissenschaftliche Anerkennung systemischer Therapie 2008 erhalten, dem zehn Jahre später die sozialrechtliche Anerkennung folgte. Dadurch ist die systemische The-

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rapie für Erwachsene als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung möglich. Zudem gehört in der Psychotherapieausbildung die systemische Therapie zu einer der vier Vertiefungsgebiete. Die Bereiche der systemischen Beratung, der Supervision, der Organisationsentwicklung, des Coachings sowie Therapieansätze jenseits der Psychotherapie für Erwachsene bleiben jedoch bis auf Weiteres gesetzlich ungeregelt (SG, 2018). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass weder die Identifikation als Hochschullehrer/-in noch die Einschätzung, für die Arbeit mit dem systemischen Ansatz qualifiziert zu sein, mit einem klar definierten Werdegang einhergehen. Anders als bei staatlich anerkannten Berufen gibt es weder eindeutig formulierte Kompetenzen oder Abschlussprüfungen nachzuweisen noch eine etablierte Instanz, die auf die Einhaltung von Qualitätsstandards achtet, auch wenn Verbände und Netzwerke sich stetig um Konsensfindung bemühen. Während die Identifikation als Systemikerin oder Systemiker über die Haltung definiert werden könnte, erscheint eine Annäherung bei Hochschullehrenden über verschiedene Rollenmodelle der Wissensarbeit möglich, deren Selbstverständnisse sich jedoch stark voneinander unterscheiden können. Mehrwert systemischer Hochschullehre – Perspektive Entwicklungsfeld Person Zunächst einmal ist anzumerken, dass durch den unklar definierten Qualifikationsweg für die Hochschullehre und die verbriefte Freiheit für (Forschung und) Lehre ein Spielraum für individuelle Formate und Schwerpunktsetzungen vorhanden ist. So wird es auch möglich, mehrere identitätsstiftende Selbstverständnisse miteinander zu verknüpfen. Außerdem gibt es durchaus Gemeinsamkeiten, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind. Dazu gehört z. B. die Neutralität und Ergebnisoffenheit als Haltung, aber auch die Eröffnung von Möglichkeitsräumen und die Formulierung von Hypothesen, die für Wissensproduktion genauso zielführend sind wie für die Begleitung von Personen. Für die Aufgabe der Wissensvermittlung kann sich eine wertschätzende Haltung gegenüber den Studierenden als Mehrwert erweisen. Würdigende Äußerungen zur Anwesenheit und zu geleisteten Beiträgen tragen zu einer positiven Atmosphäre bei. Mit einer systemischen Haltung, die eine fehlende Mitwirkung als Lösungsversuch für ein Problem interpretiert, das nicht zwangsläufig mit der Seminargestaltung oder der spezifischen Aufgabenstellung zu tun haben muss, entsteht ein erheblicher Entlastungseffekt. Zudem tragen Rückfragen im Sinne eines Verstehenwollens zu einer konstruktiven Diskussion und dem Aufbau eines Arbeitsbündnisses bei.

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Auch das Selbstverständnis über wissensintensive Dienstleistung kann von einer lösungs- und ressourcenorientierten Haltung profitieren. Gilt es hinsichtlich Lernstrategien zu beraten, ist die gemeinsame Suche nach den Ausnahmen, in denen Lernen in der Vergangenheit gut gelang, eine hervorragende Ausgangslage. Geht es um das Finden situationsgerechter Antworten, hilft es, mit den Mitteln des systemischen Ansatzes eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, die von uneingeschränkter Wertschätzung und Respekt gegenüber den studentischen Lebensentwürfen und Lösungsversuchen geprägt ist. Aus dem Selbstverständnis einer lernenden Person heraus gibt es mehr als nur die eine richtige Lösung, was für die Wissenschaft ein stetiger Motor für neue Erkenntnisse ist. Werden dabei systemische Anteile integriert, schärft sich der Blick für Einflussgrößen, die jenseits von Ursache-Wirkungszusammenhängen zu finden sind. Zugleich bietet er zusätzliches Handwerkszeug und lädt zum kreativen Ausprobieren ein.

2 Entwicklungsfeld Sache Bei der Sache handelt es sich um die Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsfeld des Lerngegenstands, dem Inhalt beziehungsweise dem gemeinsamen Thema. Im Call für diesen Band wurde explizit darauf hingewiesen, dass es nicht um Seminarkonzepte gehen soll, in denen systemische Inhalte vermittelt werden. Damit sollte der Fokus weg vom spezifischen Thema, der systemischen Sache, hin zum grundlegenden Unterschied gelenkt werden. Doch was lässt sich themenunabhängig über den Gegenstand einer systemischen Lehrveranstaltung sagen? Aufgrund des angenommenen Selbstverständnisses Hochschullehrender als Wissensarbeitende ergeben sich Hinweise auf die Konstituierung der Lehrgegenstände. Aus dem Verständnis als Wissensproduzent/-in heraus, generiert die Lehrperson den Inhalt ihrer Lehrveranstaltung selbst. Dabei geht es neben vorläufig gesicherten Erkenntnissen auch um den Weg, der zur Wissensgenerierung führt. Dazu zählen z. B. die Entwicklung von relevanten Forschungsfragen, methodologische Abwägungen und methodische Zugänge. Aufgrund der Wissenschaftsfreiheit und dem Ineinandergreifen von Lehre und Forschung obliegt es der Hochschullehre damit auch, einen je eigenen fachdidaktischen Zugang für die Vermittlung zu finden (Wildt, 2009, S. 33). Die Freiheit der Lehre begrenzt sich z. B. durch modularisierte Studienstrukturen, in denen definierte Kompetenzen regelmäßig in Prüfungen nachzuweisen sind. Daher sind zwangsläufig auch Themen jenseits der eigenen

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Forschungsarbeiten der Lehrenden relevant. Aus dem Selbstverständnis als Wissensvermittler/-in heraus, rückt neben der Auseinandersetzung mit dem je spezifischen Fachgegenstand das Thema Didaktik als Handwerkszeug in den Blick. Dabei gilt es, die elementaren didaktischen Grundfragen zu beantworten: Wer soll was, von wem, wann, mit wem, wo, wie, womit und wozu lernen (Oelke u. Meyer, 2014, S. 17)? Damit wird deutlich, dass sich die Frage nach dem »was«, als originäre Frage nach dem Lerngegenstand, nicht isoliert betrachten lässt. Sie ist stets eingebettet in die je spezifischen Kontextbedingungen des Studienangebots und der angestrebten Kompetenzen. Aus dem Selbstverständnis heraus, wissensintensive Dienstleistung zu erbringen, gestaltet sich Lehre als Angebotsformat zur Unterstützung für Bildungsprozesse sowie für das Absolvieren von Prüfungen. Dabei weitet sich der Gegenstand der Lehre auf Lern- und Studienstrategien aus, für die Beratungskompetenz durchaus dienlich erscheint. Mit einer Identifikation als lernenden Lehrperson gestaltet sich der Gegenstand der Lehre dynamisch. Lebenslang lernende Hochschullehrende erweitern ihre Fachkenntnisse und didaktischen Fähigkeiten kontinuierlich. Dieser Umstand sollte dazu führen, dass sich die Sache der Lehre, auch bei wiederholter Ausbringung gleicher Veranstaltungsformate, verändert. Es kommen neue wissenschaftliche Erkenntnisse hinzu und Erfahrungswerte zu einmal getroffenen didaktisch-methodischen Entscheidungen führen zu einer veränderten Aufbereitung und Darbietung der Gegenstände. Geht man von einem konstruktivistischen Lernverständnis aus, ist Wissen als individuelle Kreation aus einer spezifischen Beobachterperspektive heraus auch ergänzt um Kokonstruktionen sozialer Prozesse (Terhart, 1999, S. 631 f.), wie sie gegebenenfalls in Lehrveranstaltungen stattfinden. Mit dieser Vorstellung einer individuellen Wirklichkeit, Erlebniswelt und Bedeutungszuschreibung offenbart sich eine große Schnittfläche zur Systemtheorie. Sie ist hier nicht im Sinne eines Gegenstands relevant, sondern vielmehr als Hintergrundkonstruktion für das Selbstverständnis lernender Lehrender und der Begegnung mit Studierenden. Das Bild vom Lernen entwickelte sich im letzten Jahrhundert von der Informationsverarbeitung hin zur Wissenskonstruktion mit einer vernetzten statt linearen beziehungsweise mechanischen Vorstellung vom Denken. Solches Lernen setzt an Vorerfahrungen oder bestehenden Wissensstrukturen an und wird als situations- und kontextabhängig verstanden. Für die Allgemeine Didaktik ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: (1) Aufgrund einer fehlenden objektiven Realität und Wahrheit beziehungsweise Wissen, erscheint es nicht möglich oder sinnlos, Lehren als Instruktion und Lernen als Aufnehmen gestalten zu wollen. (2) Die Verantwortung für das Lernen liegt entsprechend nicht beim

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Lehrenden, sondern beim Lernenden. (3) Die Aufgabe des Lehrenden besteht in der Bereitstellung von anregenden Umwelten, sodass sich die Wahrscheinlichkeit für Konstruktionen und De-Konstruktionen sowie Verstehensprozesse erhöht. Dabei gilt es Vorerfahrungen und -wissen zu berücksichtigen (Terhart, 1999). Bei einem Vergleich dieser Merkmale mit den Unterrichtsprinzipien allgemeindidaktischer Modelle fällt es schwer, das Spezifische einer konstruktivistischen Didaktik herauszukristallisieren. Wie im Eingangsbeitrag von Holger Lindemann in diesem Band deutlich wird, ist diese Perspektive für die Didaktik, insbesondere die durch die Reformpädagogik inspirierte, nicht neu. Kritisch zu diskutieren ist die Betonung der formalen Seite von Bildung, hinter der die materiale Bildung zurücktritt, wenn nicht sogar verschwindet. Denn wenn es keine objektive Wahrheit und kein entsprechend gesichertes Wissen geben kann, verliert alles Materiale seine orientierenden, verbindlichen und verbindenden Eigenschaften. Konsequenterweise müsste dann auch die Sache der Lehre entfallen. Dies wäre für die (Hochschul-)Lehre jedoch ungeeignet, da das Rad ja nicht immer wieder neu erfunden beziehungsweise entdeckt werden muss. Stattdessen ist die Generierung neuen Wissens auf der Grundlage vorhandener Denk-, Wissens- und Erfahrungsbestände ein angestrebtes Ziel. Daher wird eine Mischung aus Instruktion oder »nach-entdecken« und Konstruktion angestrebt. Zudem werden Tribute an weitere Funktionen unserer Bildungsinstitutionen gezollt, wie z. B. die Vergabe von Zugangsvoraussetzungen, die durch eine konsequente Orientierung am Konstruktivismus ad absurdum geführt würden. Denn dann wäre es kaum möglich, etwas als richtig oder falsch zu bewerten oder gar Leistungsvergleiche vorzunehmen. Häufig ist durchaus ein Graben zwischen theoretischen Erkenntnissen zur Didaktik und praktischen Umsetzungen in der Lehre zu verzeichnen. Zu einem grundlegenden neuen Ansatz verhilft der Konstruktivismus der Allgemeinen Didaktik jedoch nicht (Terhart, 1999). Für die Arbeit mit dem systemischen Ansatz hingegen entfällt aufgrund des Konstruktivismus als konsequente Ausgangslage die Sache beziehungsweise ein definierter Gegenstand für z. B. eine systemische Beratung. Wenn es neben der Systemtheorie als Hintergrundfolie so etwas wie einen Gegenstand des systemischen Ansatzes gibt, dann wäre dies am ehesten die Autonomie. Dies zeigt sich darin, dass die Sache oder das Thema immer von der Klientin/dem Klienten selbst bestimmt wird. Konsequenterweise steht dadurch eine Auftragsklärung zu Beginn der Arbeitseinheiten, die gegebenenfalls im Laufe eines längeren Arbeitsprozesses immer wieder auf Aktualität überprüft wird. Ob ein im Prozess entstehendes Angebot oder eine Intervention nützlich ist, entscheidet zudem allein die Klientin/der Klient, und zwar in Abhängigkeit zur Anschlussbereitschaft und -fähigkeit. Es gilt die Prämisse des Expertentums für das eigene

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Leben und Prozessvertrauen. Instruktion, manipulative oder autoritäre Einflussnahmen gehören entsprechend nicht zum Repertoire der systemischen Arbeit. Begrenzt wird die Autonomie nur durch ethische Richtlinien (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 201 ff.). Die Methodik der systemischen Praxis ist facettenreich und speist sich aus dem Spektrum der (familien-)therapeutischen Ansätze. Beispielhaft seien hier Genogrammarbeit, verschiedene Fragetechniken, wie zirkuläres oder rekursivhypothetisches Fragen, Skalierungen, Arbeit mit Geschichten, Metaphern und Timelines sowie Externalisierung und Familien-, Struktur- oder Organisationsaufstellungen genannt. Diese sind jedoch nicht mehr als ein Handwerkszeug, das in Abhängigkeit zum gewählten Gegenstand durch die Klientin/den Klienten mit Blick auf seine Nützlichkeit zum Einsatz kommt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Sache aufseiten der Hochschullehre durch Forschung generiert wird, auch Unterstützungsangebote für Studienerfolge zur Sache werden können und (durch Modulhandbücher) definierte Wissensbestände zum Gegenstand der Hochschullehre gehören. Zum anderen beeinflusst die Theorie des Konstruktivismus die Sicht auf die Wissensbestände, verweist auf die Unverfügbarkeit von objektiven Wahrheiten und hinterfragt damit definierte Inhalte als Lehrgegenstände. Für die Handhabung beziehungsweise Vermittlung dieser Gegenstände steht die Didaktik mit ihren vielfältigen Ansätzen zur Verfügung. Kompetenzorientierung und Koproduktion oder -kreation sind dabei ein angestrebtes Ziel. Bei der Arbeit als systemische Beraterin stellt der Konstruktivismus deutlich klarer als in der Lehre den Ausgangspunkt dar. Vor dieser Hintergrundfolie gibt es konsequenterweise keine Sache des systemischen Ansatzes. Stattdessen bestimmt die Klientel den Gegenstand der gemeinsamen Arbeit durch Auftragsklärung immer wieder neu. Das Handwerkszeug für die Bearbeitung der Anliegen speist sich dabei aus dem breiten Methodenrepertoire therapeutischer Ansätze. Mehrwert systemischer Hochschullehre – Perspektive Entwicklungsfeld Sache Der Konstruktivismus stellt sowohl in der Lehre als auch im systemischen Ansatz eine wichtige Hintergrundfolie dar. Allerdings wird diese an der Institution Hochschule deutlich weniger radikal hinterlegt und es werden auch einige Tribute an die Funktion der Institution gezollt. Dennoch liegt meines Erachtens genau an dieser Stelle der Mehrwert einer systemischen Hochschullehre. Auch wenn die Sache von Lehreinheiten nicht vollkommen von den Studierenden bestimmt werden kann, besteht die Möglichkeit, Gestaltungsräume zu

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eröffnen. Zumeist sind die Inhalte in Modulhandbüchern nur grob skizziert und auch eine begründete Abweichung geht nicht mit Sanktionen einher. So besteht die Möglichkeit, Studierende Anliegen für die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen formulieren zu lassen und strikte inhaltliche Vorgaben zu umgehen. Dies setzt Prozessvertrauen voraus und eine gewisse Gelassenheit, was den Seminarverlauf über das Semester hinweg anbelangt. Für eine solche Form der Mitbestimmung ist der Einsatz von Metakommunikation ein nützliches Hilfsmittel. Daneben gibt es eine Fülle an methodischen Tools aus der systemischen Arbeit, die den Handwerkskoffer der Hochschuldidaktik bereichern können. Dies fängt bei der Frage an: »Was müsste in diesem Seminar passieren, damit Sie am Ende des Semesters sagen, es hat sich gelohnt, es zu belegen?« Oder auch eine ähnlich gelagerte Frage bei der Ausbringung wissensorientierter Dienstleistung: »Wann hätte sich ein Besuch in meiner Sprechstunde für Sie heute gelohnt?« Ein weiteres Beispiel wäre eine Skalierungsfrage zur Zufriedenheit mit den bisherigen Arbeitsergebnissen. Selbst die kleine »Was noch?« Frage kann eine Seminardiskussion mit wenig Aufwand immer weiter entfachen. Wer eine Nachbereitungsveranstaltung für eine Praxisphase hat, kann auch von Aufstellungsarbeit oder Externalisierung von Problemen profitieren. Insgesamt besteht durch eine systemische Perspektive auf einen Lerngegenstand die Chance, neue Blickwinkel und Optionen zu entdecken, die Veränderungen in vielfältiger Hinsicht möglich machen können. Wahlmöglichkeiten zu eröffnen und sich dieser bewusst zu sein, mag einer der größten Mehrwerte der Kombination des systemischen Ansatzes mit Hochschullehre sein.

3 Entwicklungsfeld Klientel Die Klientel der Hochschullehre setzt sich aus Studierenden zusammen. Die Anzahl der Studierenden betrug im Wintersemester 2018/19 bundesweit 2.868.222 und hat sich damit trotz demografischen Wandels seit dem Jahr 1987 etwa verdoppelt (Statista, 2019). Die Gemeinsamkeiten bestehen in einem vorausgegangenen Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung und in dem Ziel, einen akademischen Abschluss durch formale Bildung zu erlangen, um in einem spezifischen Berufsfeld tätig werden zu können. Eine Hochschulzugangsberechtigung kann über eine allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife, über die Fachhochschulreife oder über eine berufliche Qualifikation, wie z. B. eine Meister- oder Begabtenprüfung, erworben werden. Durch diese unterschiedlichen Möglichkeiten setzt sich die Studierendenschaft zunehmend heterogener zusammen. Dabei wird zumeist versäumt, einen pro-

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duktiven Umgang mit den unterschiedlichen Ausgangslagen herzustellen und es wird eine einseitige Adaption der Studierenden an die kulturellen Normen der Hochschule erwartet (Seidel, 2014, S. 6). Dadurch bleibt ein nicht unerheblicher Teil der Studienanfängerinnen und -anfänger auf der Strecke. Die Abbruchquote im Erststudium lag 2018 für einen Bachelorstudiengang bei 27 Prozent und für einen Masterstudiengang bei 17 Prozent (BMBF, 2019). Neben einer Hochschulzugangsberechtigung gibt es für begehrte Studiengänge zusätzlich Zulassungsbeschränkungen. Dazu zählen neben Numerus Clausus vor allem differenzierte Assessment-Verfahren. Das Ziel ist die Feststellung der studentischen (fachlichen) Eignung für die Vergabe begrenzter Studienplätze. Zudem werden Vor- und Brückenkurse angeboten, mit denen die Studier- und Anschlussfähigkeit an das Studienangebot sichergestellt werden sollen. Vielfach wird beklagt, dass das Abitur zwar den Anspruch erhebt, eine allgemeine Studierfähigkeit zu vermitteln, dieser jedoch hinter den Erwartungen der Hochschullehrenden zurückbleibt. Zudem wird eine Noteninflation an Schulen und Hochschulen beobachtet, wodurch (Best-)Noten ihre Funktion als Mittel der Selektion verlieren (DHV, 2019, S. 3). Eine mangelnde Studierfähigkeit wird heute vielfach diskutiert, doch bereits Sokrates soll beklagt haben, dass Studierende immer schlechter werden. Ein Studium ist nach wie vor mit dem Anspruch eines Humboldt’schen Bildungsideals verbunden. Die Grundidee ist dabei, die Bildung des ganzen Menschen zu einem selbstbestimmten, freien und mündigen Bürger (Reiber, 2015, S. 1 f.). So wird entsprechend von Studierenden erwartet, dass sie Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen. Dadurch eignen sich für die Hochschullehre vor allem Konzepte des fall- und projektorientierten sowie problembasierten und forschenden Lernens. Insbesondere der forschende Zugang mit seinen spezifischen Arbeitsschritten kann als akademische Besonderheit bezeichnet werden, die eine Studierendenzentrierung eröffnet und die Chance bietet, dass Studierende die Rolle als Koproduzenten für wissenschaftliches Wissen erfüllen (Wildt, 2009). Folgt man dem Anspruch auf umfassende Bildung, muss es das Ziel Lehrender sein, Krisen gezielt herbeizuführen. Denn eine »Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Menschen« (Koller, 2012, S. 15 f.) erfolgt erst nachhaltig durch die Auseinandersetzung mit (neuen) Problemlagen. Entsprechend muss bei Studierenden eine Bereitschaft vorhanden sein, Krisen zuzulassen und die Fähigkeit entwickelt werden, sie zu bewältigen. Der Anspruch an ein Studium beziehungsweise an die Studierenden hat sich durch die Bologna-Reform stärker der Berufsbefähigung und dem Kompetenzerwerb zugewandt. Die Studierenden sind verpflichtet, der modularisierten

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Struktur ihres Studiums zu folgen. Die Aufteilung der Studieninhalte in Module führt dabei zu einer Verteilung von Prüfungsleistungen auf das gesamte Studium und entlastet die Phase der Abschlussprüfungen am Studienende. Zugleich geht sie mit dem Effekt einher, dass das Studium kontinuierlich von Prüfungs- und Leistungsdruck begleitet ist. Der Nachweis von (vermeintlichem) Kompetenzerwerb übt damit einen dauerhaften Druck auf die Studierenden aus. Dieser wird durch die Aussicht erhöht, mit dem Studienabschluss die gesellschaftlich anerkannte Zugehörigkeit zur Teilgruppe der Akademikerinnen und Akademiker zu erlangen (Reiber, 2015, S. 2). Um den Ansprüchen an ein Studium gerecht werden zu können, entwickeln Studierende unterschiedliche Strategien, die sich auf die Haltung und die Bereitschaft zur Mitarbeit in Lehrveranstaltungen niederschlagen. Es gibt eine Reihe an Versuchen, diese als Lerntypen1 voneinander zu unterscheiden. Genauso gibt es eine große Bandbreite von Studierenden(typen), die in einer Lehrveranstaltung aufeinandertreffen. Die Gruppenzusammensetzung ist von dem Interesse an der Ausrichtung des Studiengangs auf bestimmte Berufsfelder und dem Ziel gekennzeichnet, die Modulprüfung erfolgreich abzulegen. Arbeitszusammenhänge oder positive Abhängigkeiten können sich innerhalb von (Teil-)Gruppen bei der Bearbeitung von studienbezogenen Aufgaben bilden, sind aber keine zwingenden Voraussetzungen. Es entsteht allenfalls eine lose Kopplung der Gruppe für die Dauer einer Lehrveranstaltung beziehungsweise eines Moduls. Die Überführung einer Teilgruppe in ein System freundschaftlicher Verbundenheit ist dabei als Nebeneffekt zu beobachten, ist jedoch nicht konstituierend. Die Klientel für systemisch arbeitende Personengruppen ist formal nicht definierbar, da es prinzipiell keine Zugangsvoraussetzungen gibt. Üblicherweise handelt es sich jedoch um Personen oder um Auftraggeberinnen/Auftraggeber, die einem gewissen Leidensdruck durch bestimmte Lebensentwürfe oder Arbeitsumstände ausgesetzt sind. Dieser ist so groß, dass die Bereitschaft vorhanden ist, externe Hilfe zu beanspruchen und diese zumeist auch monetär zu vergüten. Die Klientel wird nach Steve de Shazer mit einem Modell von drei Kundentypen erfasst, die sich in ihrer inneren Haltung unterscheiden (SchubertGolinski u. Wandhoff, 2018, S. 37). Ein Typ ist der Besucher, der, gleichsam 1

Bei der Clusterbildung zur Bestimmung von Lerntypen spielen Lernstrategien, wie z. B. Wiederholung, Ressourcenmanagement, Organisation Metakognition oder Anstrengungsregulation, eine Rolle. Daneben erweisen sich Motivationsvariablen, wie intrinsische Zielorientierung, Wertschätzung der Lernaufgabe oder Kontrollüberzeugungen und lernbezogene Selbstwirksamkeit, als entscheidende Einflussgrößen (Aeppli, 2005, S. 28).

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wie ein Gast bei einer Essenseinladung oder bei einem Theaterbesuch, etwas geboten bekommen möchte, sich zurücklehnt und abwartet, was passiert. Sein Anliegen ist unterhalten oder gegebenenfalls überrascht zu werden, er möchte sich allenfalls unverbindlich informieren oder den Aufenthalt so kurz wie möglich gestalten. Dieser Typ ist häufiger zu beobachten, wenn es sich um Klientinnen oder Klienten handelt, die von Dritten, wie z. B. einer vorgesetzten Person, geschickt werden. Ein weiterer Typ ist der Klagende. Sein Problem übernimmt stabilisierende Funktionen und hat z. B. positive Effekte, wodurch die Bereitschaft zur Bearbeitung des Problems dahinter verschwindet. Er ist durch lange Ausführungen, warum sich nichts ändern kann, gekennzeichnet. Als dritter Typ ist der Kunde benannt. Er übernimmt Verantwortung für sein Handeln, hat eine Veränderungsbereitschaft und entsprechende Fähigkeiten. Wer systemische Beratung anbietet, ist darauf angewiesen, dass sich seine Klientel aus Kunden zusammensetzt. Handelt es sich zunächst um Besucher oder Klagende, gilt es zu prüfen, ob sie durch Interventionen zur Auftragsklärung in die Haltung eines Kunden zu überführen sind. Gelingt dies nicht, wird die gemeinsame Arbeit nicht fortgesetzt beziehungsweise wird nicht von Erfolg gekrönt sein. Das Modell sensibilisiert bei fehlenden Fortschritten für die Überlegung, dass es sich womöglich um keinen echten Kunden handelt, der Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Sofern bei einer systemischen Arbeit Menschen zusammenkommen, sind es Personen, die einem gemeinsamen System angehören. Es treffen keine Individuen aufeinander, die in ihrem Alltags- oder Berufsleben keine Beziehung zueinander haben. So werden Paare, Eltern und Kinder, Familien, Teams und Abteilungen eingeladen, gemeinsam auf ihre Praktiken, Gelingens- und Misslingenssituationen zu schauen und Anliegen und Wünsche für veränderte Lebensoder Arbeitsumstände herauszukristallisieren. Zwischen den Sitzungen begegnen sie sich und können neue Denk- und Verhaltensmuster erproben, die bei den nächsten Zusammentreffen reflektiert und um Alternativen gedanklich erweitert werden. So geschieht die Hauptarbeit nicht während, sondern in der Zeit zwischen den Sitzungen. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, ob es sich um ein familiäres oder um ein organisationales System handelt. Denn ein Familiensystem generiert sich über Geburt oder intime Beziehungskonstellationen, die nicht für einen über sie hinausweisenden Zweck gegründet wurden. Ein selbstbestimmter Ein- oder Austritt aus diesem System ist nicht möglich beziehungsweise bleibt für das System immer folgenreich. Im Gegensatz dazu können Mitglieder einer Organisation leicht ein- oder austreten. Sie gehören nur für die Dauer ihrer Beschäftigung des Systems an, Geben und Nehmen ist über Arbeitsergebnisse und Gehaltszahlungen definiert. Auch die Kommunikationswege und

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Hierarchien sind eindeutiger geregelt als in Familien und unterliegen einem unternehmerischen Zweck, der sich gegebenenfalls auch einmal veränderten Umständen anpassen muss (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 135 f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Klientel der Hochschullehre, der systemischen Beratung und des systemischen Coachings in ganz wesentlichen Aspekten voneinander unterscheidet. Grundlegend für die systemische Arbeit ist das Zusammentreffen nur derjenigen Menschen, die einem gemeinsamen System angehören. Bei ihrer Anwesenheit wird von einer Motivation beziehungsweise von einem Anliegen für die gemeinsame Arbeit ausgegangen. In hochschulischen Veranstaltungen indessen ist eine Anwesenheit von formalen Anreizen, wie das Interesse am Bestehen einer Modulprüfung, wesentlich beeinflusst. Das mittelfristige Ziel, einen akademischen Abschluss zu erreichen, geht dabei mit unterschiedlichen strategischen Verhaltensweisen der Studierenden einher, die facettenreiche Auswirkungen auf die Gestaltung(-s­mög­­lichkeiten) der Hochschullehre haben. Zudem stellt die Lösung von Krisen beziehungsweise eine Verringerung des Leidensdrucks bei der systemischen Arbeit das zentrale Interesse der Klientel dar. Im Kontrast dazu müsste die bildungsinteressierte Klientel der Hochschule an einer gezielten Herbeiführung von Krisen im Bildungsprozess interessiert sein. Denn erst durch eine Irritation, der eine Re- oder De-Konstruktion von (subjektiven) Theorien und Ansichten folgen, sind neue Erkenntnisse und eine fundierte Expertise zu erlangen. Mehrwert systemischer Hochschullehre – Perspektive Entwicklungsfeld Klientel Die Schwierigkeit, Parallelen zwischen der Klientel der Hochschullehre und der systemischen Arbeit zu finden, zeichnete sich bereits bei der Bezeichnung dieses Entwicklungsfeldes ab. Der Mehrwert, die konstituierenden Merkmale aus beiden Perspektiven miteinander zu verknüpfen, liegt auf den ersten Blick nicht auf der Hand, ist auf den zweiten Blick jedoch vielversprechend. Ein Vorteil kann mit der Einteilung von Studierenden in das Modell von Steve de Shazer entstehen. Auch unter den Studierenden gibt es Besucher, die kein ernsthaftes Bildungsanliegen haben. Sie schauen in der Veranstaltung mal vorbei und sondieren, was für sie Unterhaltsames oder für Prüfungsleistungen Verwertbares geboten wird. Ebenso gibt es Klagende unter den Studierenden: Prüfungslast und zu hoher Workload sind dabei häufig anzutreffen. Wenn es gelingt, auch nur einzelne Studierende mit den Mitteln der systemischen Arbeit als Kunden zu gewinnen, die mit eigenen Anliegen in die Lehrveranstaltung kommen, dann ist dies ein großer Mehrwert.

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Ansonsten ist allein das Wissen darum, dass der Studierendenstatus eine bestimmte Funktion in den relevanten Systemen der Studierenden übernimmt, eine hilfreiche Perspektive. Damit muss das gezeigte studentische Verhalten nicht als Reaktion auf die Gestaltung der Lehreinheit verstanden werden. Eine solche Perspektive übernimmt eine Entlastungsfunktion für die Lehrperson. Auch das Bewusstsein, dass Studierende, die zufällig die gleiche Lehrveranstaltung besuchen, kein relevantes System füreinander sind und nicht in einer Abhängigkeit zueinander stehen, verändert die Sicht auf die Ansprüche an Arbeitsgruppen. Nichtsdestotrotz kann es hilfreich sein, studentische Zusammenarbeit mit den Methoden der Weiterbildung zu rahmen, wie sie im systemischen Bereich Verwendung finden. Dazu zählen z. B. die Peergruppenbildung und die Intervisionsarbeit, die Handlungen erproben und selbstreflexive Aufgaben bearbeiten. Damit erhöht sich die Chance auf soziale Eingebundenheit und das Maß an Verantwortung für den Arbeitsprozess. Die letzten zehn Minuten eines Seminars dafür zur Verfügung zu stellen, sich in einer Peergruppe darüber auszutauschen, was subjektiv wichtig war, fördert den Lern- und Reflexionsprozess in mehrfacher Hinsicht.

4 Entwicklungsfeld Institution Hochschulen bezeichnet man als tertiäre Bildungsinstitutionen, die in Universitäten und in (Fach-)Hochschulen mit und ohne Promotions- und Habilitationsrecht in staatlicher und privater Trägerschaft unterschieden werden. Es handelt sich um Einrichtungen der Forschung und Lehre, in der es vornehmlich zur Verleihung akademischer Grade durch einen Studienabschluss kommt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Hochschulrahmengesetz des Bundes und in den Landeshochschulgesetzen geregelt und werden in der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) maßgeblich beraten. Die Studienangebote sind seit dem Bologna-Prozess modularisiert und zumeist an einer Bachelor- und Masterstruktur ausgerichtet. Sie unterliegen einem Akkreditierungsverfahren zur Qualitätssicherung und regeln z. B. dezidiert Studien- und Prüfungsordnungen sowie Modulstrukturen. Die fachspezifischen und bereichsübergreifenden Einrichtungen sind untereinander nur lose miteinander verkoppelt, sind von Gremienbeschlüssen abhängig und folgen bürokratischen Strukturen (HRK, o. J.). Entsprechend sind hochschuldidaktische Entscheidungen von ökonomischen, rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen beeinflusst, die die Institution Hochschule bietet, die jedoch in weiten Teilen über sie selbst hinausweisen (Wildt, 2002, S. 2).

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Die Institution Hochschule übernimmt für Deutschland die Funktion, ihre wichtigste Ressource, Bildung, zu erhalten, respektive zu vermehren. Es ist erklärter politischer Wille, die Abiturquote weiter zu erhöhen und die Hochschulzugangsberechtigung auch über berufliche Qualifizierung zu ermöglichen. Damit wird versucht, Anschluss an europäische Standards zu erhalten und eine Aufwertung bestimmter Berufsgruppen zu erreichen. Für die Bereitstellung von Studienangeboten wurden 2018 von staatlicher Seite 57,3 Milliarden Euro aufgewendet. Etwas mehr als die Hälfte der hochschulischen Ausgaben decken sich jedoch durch Eigenfinanzierung, wie z. B. wirtschaftliche Tätigkeit und Vermögen, Einnahmen aus medizinischen Einrichtungen sowie die Einwerbung von Drittmitteln (Statistisches Bundesamt, 2020). Die verschiedenen Finanzierungsquellen verweisen auf das strukturelle Problem einer chronischen Unterfinanzierung, durch die die Hochschulen Gefahr laufen, ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit an Drittmittelgeber zu verlieren. Besonders kritisch wird gesehen, dass die Grundfinanzierung sich nicht in Abhängigkeit zu den steigenden Studierendenzahlen entwickelt. So liegt die Betreuungsrelation von Professur und studierender Person im Schnitt über alle Hochschulen hinweg bei 1:66 (DHV, 2019, S. 2). Der wissenschaftliche Werdegang im Hochschulwesen ist durch Befristungen und Drittmittelfinanzierung hochgradig von Unsicherheit geprägt. Erst die Professur lockt in der Regel mit einem Beamtentum, das Freiheit in Forschung und Lehre verspricht. Die benötigten Qualifikationen, um diese Position zu erreichen, fokussieren sich dabei dominant auf Drittmittelvolumen und Publikationserfolge mit weitreichenden Nebenwirkungen für die weiteren hochschulischen Dienstleistungen (DHV, 2019, S. 3 f.). Die Lehre an Hochschulen ist von institutionsspezifischen Rahmenbedingungen geprägt. Die Bedeutung, die Lehrende ihr zuweisen, stehen in einem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis. Viebahn formuliert dies wie folgt: »Je einseitiger die Institution auf Forschung ausgerichtet ist,– je dominierender für den Berufseinstieg und -aufstieg, für den Status und die Mittelzuweisung der Erfolg in lehrfremden Bereichen ist,– je konkurrenzbetonter sich das soziale Klima zeigt und schliesslich (sic!) – je unpersönlicher die Ausbildung durch das Vorherrschen (1) von Massenveranstaltungen, (2) eines hohen Prüfungsgrades und (3) bürokratischen Aufwandes geprägt ist, desto schwieriger wird es im System Hochschule« (Viebahn, 2009, S. 48, Hervorhebung im Original), Lehre einen hohen Stellenwert zu geben. Im Gegensatz zur Hochschullehre, die maßgeblich von den Strukturen und Rahmenbedingungen der Hochschule abhängt, gestaltet sich die Arbeit in der (freiberuflichen) systemischen Beratung weitestgehend unabhängig von institutionellen Gegebenheiten. Eine institutionelle Anbindung stellt grundlegend

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keine zwingende Voraussetzung dar. Dennoch kann es zu Anbindungen an In­ stitutionen kommen, die in Abhängigkeit der Arbeitskontexte entstehen. Dazu gehört zum einen die Institution, an die z. B. ein systemisches Beratungs­angebot angeschlossen ist. Dies kann eine Beratungsstelle in öffentlicher oder privater Trägerschaft sein. Diese Institutionen unterliegen festgelegten Organisationsstrukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen z. B. hinsichtlich Abrechnungsmodalitäten oder zeitlich zur Verfügung gestellter Ressourcen. Zum anderen kann es über die Klientel zu einer Anbindung an Institutionen kommen. Dies ist z. B. bei systemischer Organisationsentwicklung oder Supervision der Fall. Dabei entscheiden in aller Regel Vorgesetzte über die zur Verfügung gestellten Ressourcen. Für diese Kontexte kann es besonders herausfordernd sein, eine Auftragsklärung durchzuführen und eine konstruktive Zusammenarbeit unter Berücksichtigung aller relevanter Personen zu erreichen. Bei der systemischen Beratung von Organisationseinheiten liegt der Fokus auf Ambivalenzen, Widersprüchen und Paradoxien, die mit der Institution verbunden sind und sich aus ihrem Zweck und ihrer Organisationsform speisen (Schubert-Golinski u. Wandhoff, 2018, S. 150 f.). Damit wird die Institution oder die Organisationseinheit selbst zum Gegenstand der systemischen Arbeit und vollzieht sich – zumindest bei einer externen Vergabe des Auftrags – weitestgehend unabhängig von Zugzwängen der Institution. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Einflussgröße der Institution auf die Hochschullehre im Vergleich zu systemischer Beratung und Coaching um ein Vielfaches höher liegt. Während systemische Arbeit ganz ohne Anbindung an institutionelle Rahmenbedingungen stattfinden kann, ist dies für Hochschullehre undenkbar. Entstehen bei der systemischen Arbeit Verpflichtungen gegenüber Institutionen, können die sich daraus ergebenden Einschränkungen zum Gegenstand des Arbeitszusammenhangs werden. Mehrwert systemischer Hochschullehre – Perspektive Entwicklungsfeld Institution Im Entwicklungsfeld Institution liegt der Mehrwert einer systemischen Hochschullehre in dem Bewusstsein, dass in Hochschulen vielfältige institutionelle Zugkräfte wirken. Mit diesem Wissen ist es möglich, diese Strukturen mit Abstand zu betrachten und sie als weniger belastend zu empfinden. Die Einnahme einer Metaperspektive und der Aufbau von Distanz zum Geschehen können dabei zur Gesunderhaltung von Hochschullehrenden beitragen. Im Einzelfall können Zwänge, die sich aus den Organisationsstrukturen heraus für die Hochschullehre ergeben, auch zum Gegenstand der Lehre werden.

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Da vergleichbare Strukturen auch in vielen Organisationseinheiten wirken, in denen Studierende später beruflich tätig werden, ist eine gemeinsame Analyse mit den Studierenden aufschlussreich und für ein Verständnis organisationaler Zusammenhänge nützlich.

5 Fazit: Antinomien der Kombination von Hochschullehre und systemischem Ansatz Bei der Betrachtung der Entwicklungsfelder, wie sie sich aus Sicht der Hochschullehre und der systemischen Beratung heraus ergeben, zeigen sich neben den herausgearbeiteten Mehrwerten auch Widersprüche und Antinomien, die sich durch die Kombination von Lehre mit einem Beratungs- und Therapieansatz ergeben. Pädagogische Antinomien sind als Spannungsfelder bereits empirisch gefasst (Helsper, 1996, 2004, 2012). Sie sind unhintergehbar und stellen sich allen Personen im Lehrberuf gleichermaßen als strukturelles Problem. Die Besonderheit von Antinomien besteht für Lehrende darin, dass sie sich nicht auflösen lassen, sondern immer nur situationsgebunden und reflexiv zu handhaben sind. Dadurch werden Reflexivität und spezifischer Fallbezug zu den zentralen Merkmalen pädagogischer Professionalität (Hericks et al., 2018). Als Beispiel für eine der elf empirisch dargelegten pädagogischen Antinomien sei die verordnete Autonomie, die sogenannte Autonomieantinomie, genannt. Sie verweist auf den Widerspruch, der in einer Aufforderung und gegebenenfalls auch Unterstützungsleistung zur eigenverantwortlichen Gestaltung von Lernprozessen steckt. Denn der Appell beziehungsweise die Folgeleistung an sich widerspricht dem Grundgedanken der Autonomie. Zugleich entsteht bereits durch das vorgegebene Lernsetting die Herausforderung, eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen und Weltbezügen unter einer bestimmten Zielvorgabe zu erreichen, die automatisch zu einer Engführung der Art der Auseinandersetzung und der Gewährung von Autonomie führt (Helsper, 2012, S. 33). Auf der Grundlage der zuvor skizzierten Entwicklungsfelder erfolgt hier eine heuristische Ableitung von vermuteten Antinomien, die sich aus einer Kombination des systemischen Ansatzes mit Hochschullehre strukturell ergeben. Aus dem Entwicklungsfeld Person ergibt sich eine Identitätsantinomie für die Ausbringung systemischer Hochschullehre. Diese deutet sich bereits bei der Verortung der Systemik als Beratungs- und Therapieansatz an. Lehraufgaben sind für eine systemische Arbeit grundlegend nicht vorgesehen. Selbst das Austeilen von Tipps und Ratschlägen gilt als kontrainduziert. Damit ist eine Identität

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als systemische Beraterin oder systemischer Berater, die mit einer Wissensvermittlung einhergeht, nicht vorgesehen. Eine Ausnahme stellen Veranstaltungen dar, in denen es um systemische Inhalte geht, die den Fortbestand einer systemisch arbeitenden Community sichern. Dann jedoch legitimiert sich die Systemik über ihre Funktion als Vermittlungsgegenstand. Andere Umstände, in denen sich Personen, die mit dem systemischen Ansatz arbeiten, konstituierend als Lehrperson identifizieren, schließen sich grundlegend aus. Die Betrachtung des Entwicklungsfelds Sache geht mit einer Gegenstandsbestimmungsantinomie einher. Systemische Arbeit ist dadurch legitimiert, dass die Klientel den Gegenstand der gemeinsamen Arbeit bestimmt. Dabei übernimmt die Beraterin oder der Berater lediglich die Aufgabe, Unterstützungsangebote für diese Festlegung und Bearbeitung selbst gesetzter Ziele bereitzuhalten. Er oder sie übt sich dabei ausdrücklich in Zurückhaltung eigener Themen. Dies steht in einem unauflöslichen Widerspruch zu der Lehraufgabe, Lernziele und angestrebte Kompetenzen zu formulieren und diese im Laufe der Auseinandersetzung auch hinsichtlich ihrer Erreichung zu überprüfen. Die Antinomie, die sich im Entwicklungsfeld Klientel zeigt, deutete sich bereits bei der dargelegten Umbenennung (Klientel statt Lernende) an. Die Klientel, mit der systemisch gearbeitet wird, kommt nicht mit dem Anliegen, etwas lernen zu wollen. Stattdessen wollen sie eine Krise bewältigen oder ihren Leidensdruck verringern. Damit gehen zwar Erkenntnisprozesse einher, was jedoch kaum als Lernergebnis – allenfalls als Veränderungsbereitschaft – bezeichnet werden mag. Tiefgreifende Bildungsprozesse hingegen erfordern das Auslösen von Krisen, ein Hinterfragen, De- und Rekonstruieren von Wissensbeständen. Das angestrebte Ziel von Lehre, die einen Bildungsanspruch erhebt, ist primär die Initiierung von Krisen. Damit haben wir eine Krisenantinomie. Während mittels systemischer Beratung Krisen bewältigt werden, ist für Bildungsprozesse zunächst das Auslösen von Krisen das Ziel. Bezogen auf das letzte Entwicklungsfeld, die Institution, zeigt sich eine Zugehörigkeitsantinomie. Hochschullehre kann nur jemand erbringen, der Teil des Hochschulsystems ist. Lehrende übernehmen eine relevante Funktion für die Institution Hochschule und üben Doppelrollen aus, indem sie Lehren und Prüfen und gegebenenfalls sogleich auch Widersprüche gegen Prüfungsverfahren in Prüfungsausschüssen bearbeiten. Systemische Beraterinnen und Berater hingegen dürfen kein Teil des Klienten- oder Problemsystems sein. Sollte es zu internen Beauftragungen kommen, sind sie stets um eine Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven und einer neutralen Haltung bemüht. Sollte die Herstellung einer Distanz nicht möglich sein, ist die Grundlage der Zusammenarbeit entzogen.

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Ausgehend von den analysierten konstituierenden Merkmalen mit ihren Unterschieden, ihrem Mehrwert und den strukturellen Antinomien erscheint es interessant zu fragen, wie die Autorinnen und Autoren dieses Bandes diese Handlungs- und Spannungsfelder handhaben. Welche Widersprüche thematisieren sie und wie gehen sie damit um? Worin sehen sie den Mehrwert der Kombination von Hochschullehre und einem Beratungs- und Therapieansatz? Eine besonders interessante Perspektive könnte dabei sein, welche Bearbeitungs- und Reflexionsstrategien sich andeuten. Inwiefern diese jedoch etwas über eine (de-)professionelle Bearbeitung aussagen, muss einer empirischen Untersuchung überlassen werden. So hoffen wir, mit diesem Band einen kon­ struktiven Beitrag für die Auseinandersetzung mit dem (vermeintlichen) Unterschied geschaffen zu haben, der sich bei Hochschullehrenden durch eine Qualifizierung mit dem systemischen Ansatz zeigen könnte, der zur Nachahmung anregt  – und vielleicht auch dazu verleitet, sich über persönliche Herausforderungen auszutauschen.

Literatur Aeppli, J. (2005). Selbstgesteuertes Lernen von Studierenden in einem Blended-Learning-Arrangement: Lernstil-Typen, Lernerfolg und Nutzung von webbasierten Lerneinheiten (Universitätsdissertation). Zürich: Zentralstelle der Studentenschaft der Universität Zürich. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.) (2019). Studienabbruchquote für deutsche Studierende im Erststudium nach Hochschularten und ausgewählten Abschlussarten. https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.5.90.html (03.06.2021). Deutsche Gesellschaft für Hochschuldidaktik (dghd) (Hrsg.) (2013). Qualitätsstandards für die Anerkennung von Leistungen in der hochschuldidaktischen Weiterbildung. https:// www.dghd.de/wp-content/uploads/2015/11/Qualit %C3 %A4tsstandards-Hochschuldidaktik-11.11.2013-2014.pdf (14.05.2021). Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) (Hrsg.) (2016). Richtlinien für die Zertifizierung der Weiterbildung »Systemische Beratung (DGSF)« https://www.dgsf.org/zertifizierung/dgsf/zertifizierung-richtlinien (14.05.2021). Deutscher Hochschulverband (DHV) (Hrsg.) (2019). Mut zur Reform. Empfehlungen des Deutschen Hochschulverbandes zur Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems. Resolution des 69. DHV-Tages. Berlin. https://www.hochschulverband.de/fileadmin/redaktion/download/pdf/resolutionen/Resolution_Mut_zur_Reform_Weiterentwicklung_des_Wissenschaftssystems_final.pdf (14.05.2021). Gruber, H., Harteis, C. (2016). Entwicklungsaufgaben im Erwachsenenalter. In M. Dick, W. Marotzki, H. A. Mieg (Hrsg.), Handbuch Professionsentwicklung (S. 231–239). Stuttgart: UTB. Helsper, W. (1996). Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In A. Combe, W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns (S. 521–570). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Helsper, W. (2004). Antinomien, Widersprüche, Paradoxien: Lehrerarbeit – ein unmögliches Geschäft? Eine strukturtheoretisch-rekonstruktive Perspektive auf das Lehrerhandeln. In B. Koch-Priewe, F.-U. Kolbe, J. Wildt (Hrsg.), Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung (S. 49–99). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

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Systemisch denken und handeln. Überlegungen zur Entstehung und Erfassung systemischer Könnerschaft Marc Weinhardt und Rebecca Hilzinger

Nun ist es passiert: Beschleunigt durch die sozialrechtliche Anerkennung systemischer Verfahrensweisen als psychotherapeutische Heilbehandlung hat das systemische Denken einen großen Sprung hinein in akademische Kontexte gemacht. Die Größe des Sprungs bemisst sich an zwei Parametern: Zum einen müssen sich die Systeme non-formaler Weiterbildung und formaler Hochschulbildung ab jetzt zwangsweise wechselseitig miteinander befassen, da für eine Übergangszeit hochschulische Psychotherapieausbildung und das klassische Institutswesen der Weiter- und Fortbildungslandschaft gleichzeitig bestehen werden. So entstehen neue Schnittstellen, an denen Prozesse der Konkurrenz, Kooperation und Koopkurrenz entstehen werden (Weinhardt, 2017). Diese Schnittstellen haben von Beginn an eine flächenmäßig enorme Ausbreitung: Neue Hochschulen und Studiengänge werden gegründet und bereits etablierte Studienangebote mehr und mehr mit systemischen Inhalten aktualisiert. In diesem Kontext einer Aufbruchsstimmung kann auch der Call zu diesem Sammelband verortet werden. Der vorliegende, darauf antwortende Beitrag ist konsequent aus der Perspektive akademischer Lehre und Forschung geschrieben, genauer: aus der akademischen Perspektive einer subjektorientierten Professionalisierungsforschung. Sie befasst sich damit, wie gelingendes Handeln psychosozialer Fachkräfte im Spannungsfeld zwischen individuellen Voraussetzungen von Lernenden und (Aus-)Bildungsstrukturen entsteht und wie die entsprechenden Prozesse der Wissensbildung modelliert werden können (Abbildung 1), also »wer was wann in welcher Form mit welcher Unterstützung lernen kann« (Weinhardt, 2018c, S. 71). Unser Beitrag geht dabei zunächst auf das Modell subjektorientierter Professionalisierung ein und klärt, weshalb der Begriff der systemischen Könnerschaft indiziert ist, um komplexe Relationierungen und Transformationen unterschiedlicher Wissensarten zu fokussieren. In einem zweiten Schritt skizzieren wir empirische und methodologische Herausforderungen, professionelles Handeln auf der Ebene des First-Person-Views der Lernenden sowie auf der Ebene der

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Third-Person-Views von Forschung, Evaluation, Prüfung und Zertifizierung zugänglich zu machen. Abschließend stellen wir praktische Vorgehensweisen aus der Lehre vor, die seit mehr als einer Dekade aus unserem Theorieprogramm hervorgegangen sind und zeigen auf dieser Basis, dass im Spiel um berufspraktische, verbandspolitische und akademische Anerkennung nicht nur Preise zu gewinnen, sondern auch zu zahlen sind, wenn es um die (Aus-)Bildung systemischer Fachkräfte in akademischen Kontexten geht.

1 Systemische Könnerschaft als Resultat subjektorientierter Professionalisierung Im Mittelpunkt des Modells subjektorientierter Professionalisierung (Abbildung 1) stehen Wissensbildungsprozesse psychosozialer Fachkräfte. Sie werden als komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Wissens- und Lernarten konzeptualisiert und von drei Kontextfaktoren modelliert: den strukturellen und individuellen Voraussetzungen des Lernens sowie des domänenspezifischen Zielhorizontes professionellen Handelns.

Abbildung 1: Modell subjektorientierter Professionalisierung (weiterentwickelt nach Weinhardt, 2019, S. 134; 2018, S. 51; Bauer et al., 2017)

Das Modell nimmt auf eine Reihe breit akzeptierter Prämissen der Professionalisierungsforschung Bezug (Dick, Marotzki u. Mieg, 2016; Henrich u. Weinhardt, 2018), die Mulder und Gruber (2011) als drei Seiten einer Medaille beschreiben. So klärt die klassische Professionsforschung, wie sich Strukturen der Verberuflichung auf Basis exklusiven Sonderwissens herausbilden und indivi-

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duelles Handeln steuern, während die Expertiseforschung sich mit der kognitiven Entstehung von Hoch- und Höchstleistung befasst und die Kompetenzforschung das situative Zustandekommen erfolgreicher Handlungen modelliert. Die Essenz dieser breit entfalteten Theorie- und Forschungslinien lässt sich in drei zentralen Argumenten bündeln: a) Die Struktur und Entstehung professionellen Handelns ist domänengebunden, d. h. auf konkrete Wissensgebiete bezogen. Für die Professionali­ sierung psychosozialer Fachkräfte bedeutet dies z. B., dass gute Beraterinnen und Berater nicht automatisch gute Lehrende oder Erziehende sind. b) Die Herausbildung professioneller Leistungsfähigkeit ist zeitgebunden und nur sehr begrenzt beschleunigbar, veranschlagt werden regelmäßig zehn Jahre beziehungsweise 10.000 Stunden intensiver Beschäftigung mit dem Lerngegenstand, in der Wissenserwerb, Praxis und Reflexion systematisch verbunden werden müssen (Deliberate Practice: Ericsson, Krampe u. TeschRömer, 1993; für Beratung und Therapie: Rousmaniere, Goodyear, Miller u. Wampold, 2017). c) Die primäre Qualität professionellen Handelns hat starken situativen Schöpfungscharakter, d. h. Wissen wird durch konkrete Handlungssituationen aufgerufen, relationiert und situationsadäquat neu hervorgebracht. Dieser Prozess ist durch übergeordnete Episoden und Skripte strukturiert, die nur zum Teil explizierbares Wissen sind und im Wesentlichen als körperliche Praxen konzeptualisiert werden müssen (Dreyfus u. Dreyfus, 1980; Polanyi, 2009; Ryle, 2000). Die Assemblage unterschiedlicher Wissensarten wird dabei als subjektgebundene »Könnerschaft« verstanden (Neuweg, 2004). Für das Verständnis von Lehr-/Lernprozessen in Beratung und Therapie bedeutet dies, dass weder Texte und andere Lernobjekte noch In-Vivo-Demon­strationen beraterisch-therapeutischer Gespräche in der Lage sind, die vollständige innere Qualität professionellen Wissens zugänglich zu machen (Neuweg, 2015). Die mit diesen Argumenten grob umrissenen spezifischen Qualitäten professionellen Wissens und seiner Entstehung sind im Modell subjektorientierter Professionalisierung in einem Spannungsfeld angeordnet, das sich in unterschiedlicher Prononcierung ebenfalls in der Professionalisierungsforschung findet. So konzipiert Dewe in seinem Modell reflexiver Professionalisierung (Schwarz, Ferchhoff u. Vollbrecht, 2014) dieses Spannungsmoment als Übersetzungsleistung zwischen wissenschaftlichem Wissen und lebensweltlicher Relevanz, während die Bildungsgangforschung davon ausgeht, dass im Wechselspiel zwischen individuellen Voraussetzungen und curricularen Strukturen jede (Aus-)Bildung

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zwar als objektiver Bildungsgang definiert werden muss, sich aber immer nur als subjektiver, also spezifisch angeeigneter Bildungsgang, realisieren kann.1 Im Modell der subjektorientierten Professionalisierung bildet sich das Spannungsfeld aus drei Faktoren, nämlich den strukturellen, individuellen und domänenspezifischen Polen.2 Sie bilden den Kontext, in dem sich die eigentlichen Lern- und Bildungsprozesse vollziehen. Diese erscheinen in der Lesart des Modells subjektorientierter Professionalisierung deshalb als Selbstvollzug von Lernen, der sich primär entlang der inneren Strukturen und Prozessmuster der je individuellen Wissens­ basis ausrichtet. In dieser Annahme treffen sich sowohl gemäßigt konstruktivistische Auffassungen aus der Erziehungswissenschaft (Wahl, 2013) als auch die Luhmann’sche Lesart (Luhmann, 1984), dass sich an Lernen immer nur weiteres Lernen anschließen kann. Einen besonderen Fokus legt das Modell dabei auf die Überkreuzung unterschiedlicher Wissens- und Lernarten, nämlich deren impliziter und expliziter Qualität. Gerade in professionellen Tätigkeiten, in denen ein Teil professionellen Handelns einerseits aus lebensweltlich bekannten Routinen besteht (z. B. des Begrüßens, Verabschiedens, der Tempobeschleunigung oder Minderung im Gespräch etc.) und andererseits neue Routinen erzeugt werden sollen (z. B. die kontrollierte Aufnahme einer Arbeitsbeziehung oder die In­struktion einer Hausaufgabe), ist dieser Aspekt wichtig. An dieser Stelle wird die Modellierung der Lernprozesse komplex, aber auch reichhaltig reflektierbar. Auf der Basis autostrukturierter Sequenzialität von Lernen und dem Einbezug impliziter und expliziter Wissensbestände und Lernprozesse wird z. B. verstehbar, dass Berater A zunächst eine habituelle, implizite Grundorientierung modifizieren muss (weil er ängstlich bezüglich des souveränen Übermittelns einer ungewöhnlichen Beobachtungsaufgabe ist), während Beraterin B mehr explizites Wissen darüber benötigt, wie und warum solche Aufgaben funktionieren (aber mutig genug wäre, eine solche anzuwenden). In 1 An welchen Stellen subjektivierende Momente dem Modell seinen Namen geben, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Ein Hinweis mag genügen: Der eigentliche Subjektivierungsprozess im Modell ist das je einzigartige Zusammenwirken aller vier Elemente. Strukturen, individuelle Voraussetzungen, Horizont des Lernens und sich konstellierende Wissensbildungsprozesse bringen in dieser Lesart das Fachkraftsubjekt erst hervor – womit im Übrigen nicht nur Prozesse des Lernens und Lehrens, sondern auch von Macht und (Selbst-)Führung (Weinhardt, 2018e) im Zuge von Professionalisierungsprozessen thematisiert werden. 2 Da das Modell als domäneninvariantes Professionalisierungsmodell angelegt ist, richtet sich die Operationalisierung individueller und struktureller Einflussfaktoren sowie des Zielhorizontes nach domänenspezifischen Befunden und Theoriekonzepten. Die hier aufgeführten Variablen sind entlang der allgemeinen Beratungsprofessionalisierungsforschung unter einer Berufslebenslaufsperspektive gewählt.

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beiden Fällen ist der nächste Lernschritt des professionellen Einsetzens von Beobachtungsaufgaben nur vermeintlich identisch, sondern besteht aus unterschiedlichen individuellen fachlichen Entwicklungsaufgaben.

2 Die Erfassung von Professionalität Mit der skizzierten Komplexität der Struktur professionellen Handelns und des ihm zugrundeliegenden Wissens ist die Frage gestellt, welche Zugangsmöglichkeiten im Rahmen der Gestaltung von Lehr-/Lernprozessen zur Verfügung stehen. Abbildung 2 systematisiert unterschiedliche Verfahren, die für Lehr-, Lernund Forschungszwecke prinzipiell genutzt werden können.

Abbildung 2: Erfassung von Professionalität (Weinhardt, 2019, S. 70; erweitert nach Petersen u. Schiersmann, 2012, S. 7 und Iller u. Wick, 2009, S. 199)

Folgt man den Annahmen (systemischer) Könnerschaft, so wird schnell deutlich, dass einfache Tests, z. B. zu Interventionswissen oder zum Vorhandensein bestimmter psychischer Dispositionen, keinesfalls hinreichend sind, um Professionalität erfassen zu können. Gleichwohl können solche einfach zu handhabenden Fragen zu explizitem Wissen hilfreich Grundlagen und Ergänzungen für umfassendere Erfassungsverfahren sein. Gängig sind deshalb komplexere Formen der Erfassung, die bereits auf Reflexion zielen und z. B. zugänglich

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machen können, wie die Innensicht von Lernenden bezüglich ihrer Entwicklungsaufgaben aussieht. Solche Formen finden sich in schriftlichen Fallbearbeitungen, wie sie im akademischen Bereich, z. B. als Open-Book-Klausuren als Leistungsnachweis bekannt sind, und in Forschungsprojekten als qualitativer Zugang genutzt werden. Zu diesen auf Reflexion abstellenden Verfahren zählen dabei auch Leitfadeninterviews und bestimmte Formen des Selbst-Assessments, wenn Fragebögen gezielt auf das Anstoßen von Reflexionsimpulsen hin angelegt sind (und nicht überwiegend eine Speed-Komponente tragen, wie dies z. B. in den meisten Multiple-Choice-Formaten der medizinischen Ausbildung der Fall ist). Ein qualitativer Sprung in der Erfassung von Professionalität geschieht dann, wenn nicht nur ex post durch Reflexion und Wissensabfrage gewonnene Daten erfasst werden, sondern das Handeln selbst im Mittelpunkt steht. Bei weit fortgeschrittenen Lernenden und im Bereich der qualitätssichernden Supervision sind solche Formate bereits üblich (in Form von Ambulanzarbeit oder Videosupervision), bezogen auf die Gestaltung früher Professionalisierungsphasen im Studium sind sie derzeit selten. Herzustellen ist dann aufgrund ethischer, aber auch forschungsmethodischer Überlegungen eine Simulationsumgebung, in der Lernprozesse unter Nutzung von Simulationsadressatinnen und -adressaten in einer hochimmersiven Lernumgebung unter stark realitätsangenäherten Bedingungen beobachtet werden können (Bauer u. Weinhardt, 2020b; Weinhardt, 2016a, 2018b, 2019). Eine solche Form der Arbeitsprobe findet sich bereits an einigen Standorten konsequent in der medizinischen Ausbildung (z. B. als Skillslab beziehungsweise Übungsklinik; Peters u. Thrien, 2018). Seltener wird dies in der Beratungs- und Psychotherapieausbildung gefordert, obwohl auch für systemische Beratung und Therapie bereits Beobachtungsinstrumente vorliegen, die hier eingesetzt werden können (Hilzinger, Schweitzer u. Hunger, 2016). Gesteigert werden kann die Erfassungstiefe, wenn zusätzlich zur Beobachtung tatsächlich vollzogenen Handelns die systematische Reflexion in Form einer ExPost-Perspektive auf das selbstbeobachtete Tun folgt (Hilzinger, 2013; Weinhardt, 2018a), z. B. als Think-Aloud-Studien mit Interviewimpulsen aus videografiertem Beratungshandeln. Solche komplexen Erfassungsformen ermöglichen dann auch, einen weiteren wesentlichen Aspekt professionellen Handelns aufzunehmen: Da es per se Handeln unter Risiko und Unsicherheit darstellt, ist auch die Reflexion von Scheitern Bestandteil von Professionalität. Nur in hochimmersiven Simulationen beziehungsweise in echter Fallarbeit ist dieser Aspekt zugänglich, der sonst in allen anderen Erfassungsarten lediglich als Fehler oder fehlendes Wissen etikettiert werden kann.

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3 Fazit und didaktische Konsequenzen Die berichteten Überlegungen zu einer theoretisch anspruchsvollen und praktisch herausfordernden Beschäftigung mit (systemischer) Handlungsorientierung an der Hochschule sind in einem mehr als eine Dekade umfassenden Prozess entstanden. Lehren, Lernen und Forschen mit Simulation hat darin einen gewichtigen Stellenwert, um realistische Handlungssituationen der psychosozialen Versorgung zu modellieren, Professionalisierungsprozesse an der Hochschule und in frühen Expertisestadien anzustoßen, empirisch zugänglich zu machen (Bauer u. Weinhardt, 2014, 2015, 2020a; Hilzinger u. Henrich, 2020) und mit passenden (Selbst)Lernmaterialien wie Portfolioaufgaben und speziellen Hausarbeitsformaten in die Lehre einzubinden.3 Die konkret genutzten Aufgaben und Formate sind dabei keine Raketentechnologie. Der Reiz des Zugangs, so ein erstes Fazit, besteht hier nicht in technisch ausgefallenen Materialien4, sondern in der konsequenten und modellgestützten Verzahnung von Theoriewissen, Übungserfahrung und Reflexion (Weinhardt, 2018c, 2018d). Aufgrund einer durchgehenden systemischen Orientierung der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschieht dies mit systemischen Konzepten, die wir gerade für die Sozialpädagogik als sinnvolles methodisches Handwerkszeug erachten (Weinhardt, 2016b). Erweiterungen hat das Konzept schon früh hinsichtlich digitaler Beratung erfahren (Weinhardt, 2012), die es durch Schriftlichkeit und Zeitversatz ermöglicht, Lernende jenseits der hohen Anforderungen persönlicher Gespräche früh an echte Fallarbeit heranzuführen. Die so entstandenen Zugänge (Tabelle 1 im Überblick) haben nur wenig mit üblichen Rollenspielen oder gängigen praktischen Übungen zu tun, sondern bringen systematisch den Ernstcharakter eines Beratungsansatzes auf den Plan, der sich insbesondere in komplexen Erbringungskontexten wie der Sozialen Arbeit nicht durch kleinschrittige Manualisierung didaktisch beliebig zergliedern lässt. Ein systemischer Beratungsprozess besteht zwar aus einzelnen Techniken und Elementen, seine professionelle Gestalt lässt sich nur durch Berücksichtigung des Prozesscharakters beraterischer Begegnungen und aller darin aufgerufenen Wissensformen zugänglich machen. 3 Diese Arbeit wurde von Marc Weinhardt und Maja Heiner 2007 in Tübingen begonnen und wird an der Universität Tübingen von Petra Bauer und Eva-Maria Lohner, an der Universität Trier von Marc Weinhardt, Carmilla Eder und Rebecca Hilzinger weiterentwickelt. Alle Kolleginnen und Kollegen verfügen über eine systemische Weiterbildung. 4 Die existierende Literatur zu Portfolioarbeit enthält einen großen Fundus an Konzepten, die es erlauben, individuelle Voraussetzungen, strukturelle Rahmungen und eigene Lernprozesse zu reflektieren.

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Bezogen auf den Call dieses Bandes lassen sich einige Impulse für die aktuelle Professionalisierungsdiskussion des systemischen Feldes gewinnen: Zunächst ist es aus unserer Perspektive heraus möglich, systemische Professionalisierungsprozesse didaktisch im Sinne echter Handlungsorientierung an der Hochschule zu gestalten und dies gleichzeitig auch in einer Form zu tun, die Lernenden und Lehrenden empirische Daten in die Hand geben, die ablaufenden Prozesse zu reflektieren und zu bilanzieren. So verfügen wir einerseits durch statistische Aggregation über Daten darüber, in welchem Tempo und auf welche Weise sich bestimmte Formen des Beratungslernens im Studium vollziehen, während andererseits unsere Studierenden einzelfallbasiert und höchst individuell mit ihren Videoaufzeichnungen und Fallarbeitsprodukten im Rahmen von Reflexionsaufgaben arbeiten. Unser Forschungs- und Lehrzugang ist dabei genau zu diesem Zweck entstanden: Um Professionalisierungsprozesse zu beschreiben, zu verstehen und zugänglich zu machen. Wir sehen deshalb davon ab, unser empiriebasiertes Vorgehen zur direkten Grundlage von Leistungsbeurteilungen zu machen. Interessant im Sinne einer evidenzbasierten Professionalisierung hingegen ist, ob und wie Lernende kriteriengeleitet fachliche Entwicklungsaufgaben reflektieren und bearbeiten. Wir möchten mit dieser Verweigerung des unmittelbaren Zertifizierens die Freude und den Freiwilligkeitsaspekt beim Lernen in unseren Simulationsumgebungen in einer zunehmend bolognaverschulten Welt aufrechterhalten – insofern entspringt diese Positionierung einem bestimmten Credo von Hochschulbildung. Tabelle 1: Übersicht über Lehren, Lernen und Forschen mit Simulation im Kontext systemischer Hochschullehre (gekürzt nach Weinhardt, 2019, S. 84)

BeraLab

Projektkontext

Modellierte Handlungssituation

Ausgestaltung der Merkmale Simulation

Erfassungs­ instrumente

kompletter Ablauf eines Erstgesprächs an einer psychosozialen Beratungsstelle

hochimmersive Simulation eines psychosozialen Beratungserstkontaktes

Videostudie, Videografien werden mit der TBKS (Tübinger BeratungskompetenzSkala) codiert (zusätzlich kommen im BeraLab je nach Vertiefungsstudie Datenerhebungen durch Fragebogen und Interviews zum Einsatz).

Trainierte und supervidierte Simulationssituationen stellen prototypische psychosoziale Beratungsanliegen aus der Sozialen Arbeit dar. Simulation umfasst die schriftliche Vorinformation zum Fall sowie Gestaltung des kompletten Ablaufes in einer räumlich voll ausgestatteten Beratungsstelle.

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BKIL (Beratungskompetenz im Längsschnitt)

Projektkontext

Modellierte Handlungssituation

Ausgestaltung der Merkmale Simulation

Erfassungs­ instrumente

Fallarbeit in der psychosozialen E-Mail-Beratung

TN bearbeiten standardisierte Erstanfragen, die als Lern- und Forschungsfälle aus Originalanfragen konstruiert wurden.

Inhaltsanalytische Codierung der entstandenen Antworten (in der Gesamtstudie kombiniert mit narrativen Interviews).

Freie Orts-, Zeitund Gerätewahl für die Bearbeitung der Aufgabe. Zugang nutzt damit handlungsentlastende Merkmale von Online-Beratung. Anfragen werden hier zeitversetzt, schriftlich und herausgelöst von institutionellen Kontexten bearbeitet. Somit Simulation eines realen Arbeitsfeldes als auch didaktische Komplexitätsreduktion.

Sobald systemisches Denken aber nicht nur wie in den hier dargestellten Projekten als Professionalisierungsmedium genutzt wird, sondern der zu zertifizierende Inhalt an sich ist (z. B. im Rahmen einer Approbationsausbildung), werden andere Logiken auf den Plan gerufen. Die Machbarkeit von Prüfungen bedeutet dann vor allem Komplexitätsreduktion und Anpassung an einen weitgehend standardisierten Hochschulbetrieb, was den Wegfall von Vielfalt, Breite und zeitlichem Umfang für Professionalisierung bedeuten dürfte. Es wäre möglich, das eine (Erhalt der Komplexität von Lern- und Bildungsprozessen und ihrer inhärenten Offenheit) und das andere (Zertifizierung derjenigen, die später im Hauptberuf beraten und dies von Anfang an können müssen) gleichzeitig zu tun. Zahlreiche und systematisch über den Studienverlauf verteilte, umfassend angelegte Erfassungen des bereits realisierten Professionalitätsniveaus wären theoretisch denkbare und bei methodisch kluger Anlage auch verlässliche Indikatoren für den personenbezogenen Nachvollzug der Entstehung systemischer Könnerschaft. Dieses Vorgehen würde dem systemischen Denken derzeit vermutlich einen Nachteil im institutionellen akademischen Gefüge einbringen, weil solche Prüfungen nicht üblich und darstellbar sind. Damit wird klar, was die eigentliche Herausforderung des systemischen Feldes im akademischen Kontext sein wird: Nämlich so viel akademische Street Credibility aufzu-

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bringen, um einerseits im Hochschulkontext ernst genommen zu werden und dort andererseits inhaltlich anspruchsvolle Standards und Prüfungsformate für einen Bildungsgegenstand zu etablieren, der durch hohe Kontingenz gekennzeichnet ist. Im Duktus des Calls: Die systemische Community hat sich auf ein Hochrisikospiel eingelassen.

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Spiel mit Hüten statt Hütchenspiel – Systemische Lehrpraxis als Spiel mit dem Lehr-/Lernkontext Marc Höcker, Robert Baum, Dirk Rohr und Clara Stein

Tochter: »Pappi, sind diese Gespräche ernst?« Vater: »Sicher sind sie das.« Tochter: »Sie sind nicht so eine Art Spiel, das du mit mir spielst?« Vater: »Gott bewahre … aber sie sind so eine Art Spiel, das wir zusammen spielen.« Tochter: »Dann meinst du es nicht ernst!« (Gregory Bateson, 1985, S. 45)

In diesem Beitrag beschreiben wir unsere Lehre als eine spezifische Form des systemischen Spielens. Auf die Analogie zwischen Spiel und Beratung beziehungsweise Therapie wurde im systemischen Diskurs in der Vergangenheit vielfach hingewiesen. Bereits Gregory Bateson konstatiert: »Die Ähnlichkeit zwischen dem Prozess der Therapie und dem Phänomen des Spiels ist in der Tat groß« (Bateson, 1985, S. 259). »Psychotherapie ist Spielen«, heißt es kurz und knapp bei David Keith und Carl A. Whitaker (1999, S. 117). Und für Arist von Schlippe ist das Spielen quasi die Würze beraterisch-therapeutischer Prozesse (von Schlippe, 2008). Das Spiel lässt sich als orientierende Rahmung für die systemische Praxis – und dementsprechend auch für systemische Lehre begreifen (Höcker, Hummelsheim u. Rohr, 2017). Der Reiz dieser Analogie vermag kaum zu verwundern. Denn es sind gerade die spielerischen Momente, in denen sich der Raum für kreative, schöpferische oder experimentierende Erfahrungen, durch die schließlich Neues entstehen kann, öffnet. Wenn wir unsere Lehre als eine Form des Spielens beschreiben, dann eben nicht im Sinne eines Wettbewerbs- oder Nullsummenspiels, in dem das Gewinnen oder Verlieren einen zentralen Bestandteil bildet. Vielmehr geht es um die Lust am Spiel im Modus der Begegnung mit unseren Studierenden, um das gemeinsame Driften als Lehr-/Lernsystem. Zusammen mit den Studierenden können wir experimentieren und improvisieren, d. h. in einem kreati-

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ven Prozess des »So-tun-als-ob« Verhaltens- und Erlebnisweisen erweitern und ausloten, um diese im Hinblick auf hilfreiche, nützliche oder passende Lernerfahrungen zu erkunden. Zunächst legen wir unser Verständnis systemischen Spielens dar, um im nächsten Schritt diese Art und Weise des Spielens auf den Kontext der universitären Lehre zu übertragen. Der Fokus wird dabei auf den Spielregeln, d. h. auf den organisationalen und institutionellen Rahmenbedingungen, liegen. Schließlich werden wir an konkreten Beispielen aus unserer Lehre, insbesondere anhand des Umgangs mit den unterschiedlichen, teils divergierenden Erwartungen an unsere Lehrendenrollen, darstellen, wie wir durch das konkrete »Spiel mit Hüten« systemische Praxis erlebbar machen.

1 Systemisch spielen Wer spielt hier überhaupt mit wem welches Spiel und worum geht es eigentlich in diesem Spiel? Wenn wir unsere Lehre als Spiel beschreiben, scheinen diese Fragen zumindest vordergründig bereits beantwortet. Wir als Lehrende an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln spielen mit unseren Studierenden mit und innerhalb eines universitären Lehr-/Lernsystems. Die Mitspielenden und das Spielfeld sind damit benannt. Klärungsbedürftig hingegen könnten an dieser Stelle noch die Fragen nach den Spielregeln, der Art und Weise und des Zwecks des Spiels sein. Genau hierin sind für uns die entscheidenden Punkte markiert, da es sich um Fragen nach der Beschaffenheit und den Regeln unseres Kontextes handelt und damit der Fokus auf eine systemische Perspektive des Spielens gerichtet wird.

1.1 Kontext und Kontextmarkierungen Aus systemischer Sicht lässt sich menschliches Verhalten nur unter Bezugnahme auf den jeweiligen sozialen Bezugsrahmen, d. h. den Kontext, begreifen (Mücke, 2009, S. 59). Das Spiel ist als soziale Interaktionsform deshalb interessant, da es laut Bateson zum einen Kontexte sichtbar macht und zum anderen einen neuen Bedeutungsrahmen erzeugt. Durch diese Rahmung, die den gesamten Systemzusammenhang einbezieht, erschafft das Spiel einen Möglichkeitsraum, in dem im Modus des »So-tun-als-ob« Verhaltens- und Erlebnisweisen experimentell erprobt und neu bewertet werden können. Durch dieses Kontextreframing wird die Analogie zur systemischen Praxis deutlich, denn die »Umdeutung ist vielleicht die wichtigste systemische Intervention überhaupt« (von Schlippe u. Schweitzer, 2007, S. 177).

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Zur Veranschaulichung der Kontextabhängigkeit von Verhaltensinterpretationen führt Bateson ein Beispiel aus dem Theater an. Wenn Hamlet auf der Bühne seinen Selbstmord ankündigt, so Bateson, wird niemand aus dem ­Publikum die Polizei anrufen oder die Krisenintervention kontaktieren. Sie wissen aus einer Reihe von Kontextmarkierungen (Eintrittskarten, Bühne, Zuschauerraum, Vorhang), dass es sich um ein Theaterstück handelt (Bateson, 1985, S. 375). Wenn ein Kind auf der Straße ein Seil hinter sich herzieht und beschwichtigend auf seinen imaginären Hund einredet, dann deuten wir diesen Kontext als Spiel. Wundern würden sich unsere Studierenden sicherlich, wenn wir in unseren Seminaren als Lehrende dieselbe Handlung vollzögen, sofern es uns nicht gelänge, dies als spielerische Handlung im Kontext Lehre zu markieren. Täte es wiederum ein Erwachsener auf einer Theaterbühne, um den Kreis zu schließen, würde niemand diese Person für »verrückt« halten, da der Kontext von den Zuschauern als Spiel klassifiziert wird. Kontexte existieren nicht an sich, sondern werden durch die Unterscheidungen von Beobachterinnen und Beobachtern fortlaufend konstruiert. Die Einordnung bestimmter Verhaltensweisen als Spiel erfolgt nach Bateson dabei über metakommunikative Kontextmarkierung, die den Bezugsrahmen durch die Mitteilung »Dies ist ein Spiel« herstellen. Wenn junge Hunde sich spielerisch beißen und damit Kampf simulieren, müssen sie gleichzeitig metakommunikativ signalisieren, dass der Biss nicht ernst gemeint ist und daher nicht als Aggression zu werten ist. Auf der logischen Ebene der Metakommunikation erfolgt nach Bateson folgende Mitteilung: »›Diese Handlungen, in die wir jetzt verwickelt sind, bezeichnen nicht, was jene Handlungen, die sie bezeichnen, bezeichnen würden.‹ Das spielerische Zwicken bezeichnet den Biß, aber es bezeichnet nicht, was durch den Biß bezeichnet würde« (Bateson, 1985, S. 244). Durch diese paradoxe Mitteilung wird ein Rahmen erschaffen, der die Interaktionen als ein Spiel markiert, das gleichzeitig das ist und nicht ist, wofür es steht. Metakommunikative Kontextmarkierungen sind Bateson zufolge Teil jeglicher Alltagskommunikation, sodass sich die Frage stellt, wie sich das soziale Interaktionsformat Lehre von der alltäglichen Interaktion abgrenzt, d. h. wie der Kontext »Dies ist Lehre« und die damit verknüpften Regeln, also Verhaltensweisen, die als kontextangemessen oder -unangemessen gewertet werden, von den Beteiligten aktiv konstruiert werden.

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1.2 Spielregeln – Game vs. Play In dem eingangs zitierten Metalog »Über Spiel und Ernst« lässt Bateson Vater und Tochter zu folgendem Gesprächsende kommen: Vater: »Ja. Der Punkt ist, daß der Zweck dieser Gespräche darin besteht, die ›Regeln‹ zu diskutieren. […]« Tochter: »Aber das bezeichne ich doch nicht als Spiel, Pappi.« Vater: »Vielleicht nicht. Ich würde es als ein Spiel bezeichnen oder zumindest irgendwie als ›spielen‹. Aber es ist sicher nicht wie Schach oder Canasta. Eher so wie das, was kleine Hunde und Kätzchen tun.« (Gregory Bateson, 1985, S. 52) Eine wesentliche Unterscheidung in der Betrachtung des Spiels wird hier deutlich: die zwischen Regelspiel (game) und freiem Spiel (play). Beim Regelspiel muss der Spielcharakter der Handlung aufgrund fixierter Regeln nicht permanent erwähnt werden. Wenn sich z. B. zwei Schachspieler zu einer Partie zusammensetzen, dann müssen sie sich nicht über das Regelwerk des Spiels verständigen. Sie können das Einverständnis der jeweils anderen Person über die Akzeptanz und Einhaltung der Regeln als Prämisse voraussetzen. Und in den seltensten Fällen wird es wohl während des Spiels zu einem Gespräch über die Regeln des Schachs kommen. Beim freien Spiel hingegen muss nicht nur zu Beginn über bestimmte Signale die Mitteilung »Dies ist ein Spiel« erfolgen, diese Rahmung muss auch fortlaufend kommunikativ vermittelt werden. Lehre lässt sich nach dieser Unterteilung als ein Regelspiel begreifen. Ähnlich wie beim bereits erwähnten Kontext Theater sind im Bezugsrahmen Lehre viele Kontextmarkierungen, die die Mitteilung »Dies ist Lehre« beinhalten, strukturell verankert (Universitätsgebäude, Seminarraum, Nennung im Vorlesungsverzeichnis etc.). Darüber hinaus existieren bei den Beteiligten zumeist Prämissen, die sich in Form von Bündeln von Erwartungs-Erwartungen darüber, wie eine Lehrveranstaltung an der Universität abzulaufen hat, manifestieren. Daraus resultieren schließlich Ideen darüber, welche Verhaltensweisen von den Mitgliedern des universitären Lehr-/Lernsystems als angemessen beziehungsweise unangemessen, als legitim beziehungsweise illegitim erachtet werden, und die Systemmitglieder verhalten sich entsprechend. Diese sich wiederholenden sowohl exklusiven als auch inklusiven Verhaltensweisen lassen sich laut von Schlippe und Schweitzer (2007, S. 60) mit dem Begriff der Regeln beschreiben, wobei Regeln immer als Beschreibungen einer Beobachterin oder eines Beobachters zu verstehen sind.

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Trotz der relativen Strukturiertheit und der daran geknüpften Regelhaftigkeit und Erwartbarkeit von Verhalten muss der Übergang von der Alltagskommunikation zur Markierung des Kontextes als Lehre auch immer wieder aufs Neue hergestellt werden. Im Gegensatz zum Theater, wo z. B. ein Gong, das Dämmen des Lichtes im Saal oder die Öffnung des Vorhangs diesen Übergang leisten, muss dieser in sozialen Interaktionen, die aufgrund von doppelter Kontingenz immer von Unbestimmtheit gekennzeichnet sind, interaktiv vollzogen werden. Roy Turner hat für die Eingangssequenz des gruppentherapeutischen Settings beschrieben, wie durch Äußerungen der Therapeutin oder des Therapeuten, wie z. B. »Lassen Sie uns beginnen«, »Ich würde gern anfangen« oder »Also, dann können wir starten«, der Schritt von der »freien« alltäglichen Interaktion in den geregelten Kontext Therapie vollzogen wird (vgl. Turner, 1976). Die Parallelen zum Beginn einer Lehrveranstaltung lassen sich leicht ziehen. Nonverbale Signale, wie z. B. die Herstellung von Blickkontakt zu den Studierenden, das Herumgeben der Anwesenheitsliste oder Schweigen der Lehrperson, können ebenfalls Kontextmarkierung sein, die die Mitteilung »Dies ist Lehre« transportieren. Auch wenn Kontexte und die damit verbundenen Regeln aufgrund sich wiederholender Strukturen relativ stabil sind, müssen sie permanent konstruiert werden, damit sie in der immer gleichen Weise aufrechterhalten werden. »Beständigkeit und Mangel an Veränderung bedürfen der Aktivität: Alles verändert sich, es sei denn, irgendwer oder -was sorgt dafür, dass es bleibt, wie es ist« (Simon, 2012, S. 29). Soziale Systeme, und so auch Lehr-/Lernsysteme, die aufgrund von Prämissen eine gewisse Regelhaftigkeit und Stabilität gewährleisten, sind dennoch darauf angewiesen, ihre Kontexte permanent interaktiv zu generieren. Als Lehrende machen wir uns eben diesen Umstand zunutze, um durch einen spielerischen Umgang mit den Konstruktionsprozessen unseres eigenen Kontextes systemische Praxis situiert erlebbar zu machen.

1.3 Prozesse statt Kategorien, oder: Vom Schach zum Go Wenn wir unseren Studierenden in der ersten Seminarsitzung oder Vorlesung begegnen, dann, so könnte man sagen, befinden wir uns zunächst auf einem Schachbrett. Auch wenn der Verlauf und der Ausgang des Spiels noch nicht feststehen, so gleichen die Erwartungen über die Spielregeln und über die Möglichkeiten der Spielfiguren denen eines relativ rigiden Regelspiels. Den Figuren des Spiels werden kategoriale Eigenschaften zugeschrieben, die ihre Handlungsmöglichkeiten bestimmen. Wir als Lehrende, so unsere Beobachtung, sind vonseiten der Studierenden mit bestimmten Erwartungen an unsere Lehrenden-

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rollen konfrontiert. Wir wiederum glauben, dass die Studierenden aufgrund monokultureller didaktischer Sozialisation eine sehr begrenzte Auffassung von universitärer Lehre und ihrer Studierendenrolle erlernt haben. In diese anfänglich starre Konstellation gilt es Bewegung zu bringen, um im systemischen Sinn einen »Spiel-Raum für mehr Spielraum« (Kriz, 2005, S. 38) zu kreieren. Dabei ist es für uns ein wesentliches Kriterium, das Spiel mit unserem Lehrkontext systemisch zu gestalten, sodass einerseits wir als Lehrende in unserer Haltung und unseren Handlungen gleichsam als systemische »Vorbilder« sichtbar und andererseits systemische Prinzipien für die Studierenden von Beginn an erfahrbar werden. Felix Guattari und Gilles Deleuze haben in »Mille Plateaux« die Unterschiede der inneren Logik zwischen identitär-kategorialen und nomadisch-prozesshaften Spielweisen anhand des Vergleichs der Spiele Schach und Go verdeutlicht. Schachfiguren sind dadurch gekennzeichnet, dass sie »ein inneres Wesen oder ihnen innewohnende Eigenschaften« besitzen (Deleuze u. Guattari, 1992, S. 484). Ein Turm bleibt ein Turm, ein Springer ein Springer und eine Dame eine Dame. Durch ihre Identität sind die Möglichkeiten der Schachfiguren im Vorhinein festgelegt, und auch während der Bewegung im Spielraum ist ihre Funktionalität nicht mehr veränderbar. Die Figuren stehen zwar in unterschiedlichen Konstellationen zueinander, bleiben jedoch stets ihren ursprünglichen Eigenschaften verhaftet. Durch das klar definierte Ziel, den gegnerischen König zu schlagen, verläuft das Spiel eher linear, von einem Punkt zum anderen (S. 484). Beim Go hingegen gibt es nur schwarze und weiße Spielsteine, die abwechselnd auf dem Feld platziert werden. Diese Spielsteine haben zunächst eine »anonyme Funktionalität« (S. 484) und entwickeln ihre Eigenschaften erst im Prozess durch komplexe Vernetzung und in Wechselwirkungen mit anderen Steinen. Die fluiden Identitäten der Go-Steine bilden sich quasi temporär in Relation zu den anderen Steinen aus und ihre Funktion verändert sich während des Spielverlaufs permanent. Jeder Stein entfaltet seine Wirkung als Teil eines Netzes, wobei jeder neue Stein eine Dynamik und neue Möglichkeiten ins Spiel bringt. Trotz der geringeren Regelkomplexität steigt beim Go die Komplexität durch immer wieder neu entstehende Spielvarianten im Spielverlauf, während sie beim Schach mit jeder geschlagenen Figur sinkt. Während beim Schach einer linearen Strategie gefolgt wird, müssen sich die Spielenden beim Go flexibel jeder neuen Spielsituation anpassen. Beim Go gewinnt schließlich die Person, die die größte Leere ihr Eigen nennen darf. Die Spielart des Go ähnelt der Art und Weise, systemisch zu spielen. Und während wir gern mit unseren Studierenden Go spielen würden, haben wir den Eindruck, dass sie zunächst lieber das gewohnte Schach spielen würden. Um

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den Bezugsrahmen von »Dies ist Lehre« zu »Dies ist systemische Lehre« zu verschieben und dadurch starre Strukturen und kategoriale Zuschreibungen zu verflüssigen, sind wir als Lehrende daher gefordert, anschlussfähige Angebote zu unterbreiten. Wir tun dies vornehmlich durch (1.) angemessen ungewöhnliche Irritation und durch (2.) Transparenz.

2 Spiel mit Hüten 1 – Irritationen Bedeutungsrahmen und die damit einhergehenden Regeln und Rollenerwartungen sind Konstrukte und dementsprechend immer auch veränderbar beziehungsweise anders konstruierbar. Ein Mittel, um Kontexte in Bewegung zu bringen, bietet der »kreative Regelbruch« (von Schlippe, 1997, S. 55). Wir tun dies, indem wir nach ganz anderen Regeln spielen, als von den Studierenden erwartet, ohne unsere Spielregeln zunächst offenzulegen. Im Sinne von Irreverenz verhalten wir uns dabei nicht respektlos zu den Studierenden, sondern agieren aus einer Haltung der gesunden Respektlosigkeit gegenüber starren Ideen und Vorstellungen von universitärer Lehre. Durch die letztlich entstehenden Irritationen können vermeintliche Regeln, die sowohl die Studierenden als auch wir als Lehrende in Form von Erwartungen oder Erwartungs-Erwartungen in uns tragen, auf diese Weise diskursiv zur Disposition gestellt werden. Aus konkreten Situationen lässt sich über das Spiel mit unseren »Hüten« somit unser Kontext als Lehrgegenstand reflexiv einholen. Zwei Situationen möchten wir an dieser Stelle vorstellen.

2.1 Hierarchie auf Augenhöhe Bezugsrahmen werden nicht nur durch verbale und nonverbale Mitteilungen der Beteiligten erzeugt, auch räumliche Settings markieren Kontexte auf spezifische Weise. Indem sie Menschen platzieren und relationieren, prädeterminieren räumliche Anordnungen die Art und Weise des In-Beziehung-Tretens und der Beziehungsgestaltung. Über Raumkonstellationen werden zudem hierarchische Verhältnisse, Macht- und Herrschaftsverhältnisse einerseits ausgehandelt (vgl. Massey, 2005) und andererseits sind sie bereits Ausdruck dieser Verhältnisse, wobei Räume, da sie im Handeln entstehen, immer als Konstruktionsleistung von Beobachtern zu verstehen sind (Löw u. Sturm, 2019, S. 17). Unser Seminarraum ist von Beginn an im Stuhlkreis eingerichtet, wodurch er sich von den meisten anderen Seminarräumen unserer Fakultät, die vorwiegend im »klassischen« Frontalsetting gestaltet sind, unterscheidet. Durch die kreisförmige Anordnung wird eine formale Gleichberechtigung etabliert, sodass eine

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Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht wird. Hierarchisch exponierte Positionen, wie z. B. ein vorn befindlicher Dozierendenplatz, fehlen. Allein der Stuhlkreis hebt die statusbedingte Hierarchie zwischen uns Dozierenden und den Studierenden freilich nicht auf, und das ist auch nicht unsere Intention bei der Wahl dieser Sozialform. Was der Stuhlkreis uns jedoch erlaubt, ist durch diese Musterunterbrechung dem gewohnten akademischen Lehr-/Lernsetting seine »naturgegebene« Selbstverständlichkeit zu nehmen, indem wir von Beginn an aufzeigen, dass Lehre an der Hochschule auch anders möglich sein kann. Die Veränderung der räumlichen Anordnung fungiert als »angemessen ungewöhnliche« Irritation der vertrauten Kontextmarkierung und macht die Erwartungen an unsere Lehrendenrollen und Verhaltensregeln sichtbar (Andersen, 1991, S. 46). Einer von uns hat dieses Rollenspiel in der Eingangssequenz des Seminars, insbesondere in jüngeren Jahren – auch das Alter kann eine Kontextmarkierung sein –, noch einen Schritt weiterverfolgt, indem er sich zunächst stillschweigend unter die Studierenden einreihte und eine Weile nicht als Dozent zu erkennen gab. Mit diesem so tun, als ob er ein Student sei und der damit verbundenen anfänglichen Weigerung, erwartete Kontextmarkierungen zu setzen, wie z. B. selbstverständlich das »Recht der ersten Rede« zu beanspruchen oder die Verantwortung der Seminarleitung zu übernehmen, erodiert die Gewissheit des vertrauten Bezugsrahmens. Das Spiel mit der symbolischen Inszenierung des Eingangsrituals nutzen wir schließlich als Reflexionsgegenstand, indem wir eine Metakommunikation über unseren Kontext in Form einer Auftragsklärung anregen. Über Fragen wie z. B.: »Was ist hier gerade passiert?«, »Wie haben Sie diesen Seminareinstieg erlebt?«, »Was sagt Ihnen das über die Erwartungen, die Sie vielleicht hatten?«, hin zu: »Wie wollen wir in diesem Seminar zusammenarbeiten?«, »Was muss passieren, damit Sie am Semesterende mit einem guten Gefühl aus dem Seminar gehen?« oder »Wie könnte ich als Seminarleitung erfolgreich verhindern, dass dieses Seminar gelingt?«, beginnen wir einen Klärungsprozess, in dem Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen über Rollen und Spielregeln thematisiert werden. Über diesen Aushandlungsprozess werden verfestigte Zuschreibungen verflüssigt und der kontextuelle Rahmen wird verändert. Durch neue Bedeutungen und Auslegungen der Rollen sowie andere Formen der Gestaltungen von Lehr-/ Lernbeziehungen konstituieren wir spielerisch den Bezugsrahmen »Dies ist systemische Lehre«. Der Stuhlkreis allein reicht sicherlich nicht aus, um unsere Lehre als »systemisch« zu markieren. Er öffnet jedoch für uns einerseits die Möglichkeit des Spiels mit unserem Kontext und andererseits erleichtert er die Etablierung einer

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Begegnungskultur, in der symmetrische Beziehungen zumindest in Bezug auf die Anerkennung aller Beteiligten als Expertinnen und Experten für das eigene Leben gestaltet werden können.

2.2 »Ich weiß es nicht und auch nicht besser« Studierende kommen also mit mehr oder weniger spezifischen Erwartungen in unsere Lehrveranstaltungen. Viele von ihnen haben vielleicht »gelernt«, sich dem Ablaufplan und den konkreten didaktischen Entwürfen der dozierenden Person geradezu »auszuliefern«. Einige setzen uns vielleicht von Beginn an den »Hut der Wissensvermittlung« auf und erteilen uns den Auftrag: »Bring’ mir etwas bei!« Andere Studierende haben sich hiervon vielleicht schon verabschiedet und bieten uns den »Hut der Prozessgestaltung« an, und viele begegnen uns gerade dann mit besonderer Ehrfurcht, wenn wir den »Hut der Leistungsbeurteilung« tragen. Es ließen sich noch zahlreiche andere »Hüte«, Rollen oder Bündel von (Erwartungs-)Erwartungen formulieren. Und nun setzen wir als Lehrperson uns zu Beginn der ersten Seminarsitzung also einmal direkt mit in den Stuhlkreis und führen gemeinsam mit den Studierenden – analog zu systemischen Beratungs- oder Therapieprozessen – die bereits beschriebene Auftragsklärung für das Seminar durch. Das ist bis hierhin keine Zauberei und sicherlich auch kein Kunstgriff systemischer Didaktik. Wenn wir hier aber »weiterspielen«, passiert noch etwas anderes: Antworten wir z. B. auf die Frage »Können Sie nicht erstmal selbst sagen, worum es hier geht?« mit »Woher soll ich das denn wissen?«, entsteht Irritation, die angemessene Verstörung. Wir machen an dieser Stelle ein Beziehungsangebot, bieten ganz bewusst »etwas anderes« an, als die Studierenden gewohnt sind beziehungsweise erwarten: Auf den Wunsch »Ich möchte lernen, wie man gut berät«, können wir antworten: »Oh, das möchte ich auch gerne!« oder – ein bisschen weniger provokativ – »Okay, ich denke, dass wir uns als Gruppe da ja mal auf die Suche machen können.« Werden die Anliegen und Aufträge der Studierenden diskursiv aufgegriffen und authentisch ernst genommen, geht ihnen möglicherweise auf, dass wir Dozierenden gerade höchstwahrscheinlich nicht den in seiner ursprünglichen Bedeutung recht direktiven »Hut der Wissensvermittlung« tragen. Um Transparenz bemüht, können wir das natürlich auch ganz explizit aussprechen: »Bitte denken Sie nicht, dass ich Ihnen beibringen kann oder möchte, was richtig oder falsch, gut oder schlecht, wichtig oder unwichtig ist.« So oder so, es entsteht Bewegung und es entsteht möglicherweise bereits der Eindruck, dass es um konkrete Kontexte, um einen situierten, selbstorganisierten und selbstver-

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antworteten Lernmodus gehen wird: Aus dem dichotomen »Schwarz/Weiß« der Gegensatzpaare (z. B. Expertin/Novizin, richtig/falsch etc.) wird das »Schwarz/ Weiß« des Go-Spiels. Vermeintlich starre Rollen und Beziehungen werden »verflüssigt«, zeigen sich in Kontext und Relation immer wieder neu und anders. Sie werden als Produkte sozialer Aushandlungsprozesse sicht- und besprechbar. Eine weitere Facette der »Erwartungen«, die mit dem »Hut der Wissensvermittlung« einhergeht, begegnet uns häufig im weiteren Seminarverlauf. Dabei geht es um die Validierung durch die Lehrperson: »Habe ich das richtig verstanden? Erklären Sie mir das mal bitte!« oder »Wir haben das in unserer Gruppenübung so diskutiert. Haben wir das richtig gemacht?« Nun haben wir als Hochschuldozierende in der Regel natürlich genügend kulturelles Kapital angesammelt, genug »gelernt« und erfahren, dass wir behaupten könnten, es tatsächlich (»besser«) zu wissen. Aus einer Haltung des Nicht(Besser-)Wissens – dem »Wissen, das Wissensrelativierung mit einschließt« (Barthel­mess, 2016, S. 24) – transportieren wir die Frage jedoch unmittelbar zurück in das konkrete Geschehen: »Habe ich das richtig verstanden?« – »Das weiß ich nicht. Wie sehen Sie das denn?« Wir können auch noch eine Schippe drauflegen und provokativ auf die Frage »Haben wir das richtig gemacht?« mit einem deutlichen, vielleicht geradezu theatralischen »Nein!« antworten und darauf dann bitten: »Aber erzählen Sie doch mal.« Die angemessene Irritation ist an dieser Stelle quasi garantiert. Es ist uns gleichzeitig wichtig zu betonen, dass diese hier exemplarisch beschriebene Spielweise keine reflexhafte Anti-Reaktion auf alle potenziellen Wünsche, Anliegen und Erwartungen der Studierenden sein soll. Gerade im humanwissenschaftlichen Feld glauben wir aber, dass auf die Frage »Haben wir das richtig gemacht/verstanden?« mit einer Gegenfrage wie »Was würde passieren, wenn Sie eine Bestätigung vom mir bekämen?« oder der Aussage »Das kann ich Ihnen ehrlich gesagt auch nicht beantworten, fragen wir doch mal die anderen!« eine stärkere, qualitativ andere »Bewegung« entstehen dürfte.

3 Spiel mit Hüten 2 – Transparenz Während wir in den beiden genannten Beispielen über angemessen ungewöhnliche Irritationen implizit die Spielregeln unseres Lehrkontextes verändern und die dadurch entstehende Sichtbarkeit des Kontextes reflexiv als Gegenstand des Lernens nutzen, wählen wir in anderen Situationen das Mittel der Transparenz, um unsere kontextuelle Eingebundenheit ohne Umschweife explizit zu thematisieren. Während die Methode der Irritation doch ein wenig dem Hütchenspiel gleicht, ist der Weg der Transparenz von Beginn an eher ein »Spiel mit offenen Karten«.

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Im ersten der beiden folgenden Beispiele laden wir unsere Familien als Mitspielende ein, sodass der Lehrkontext erweitert wird und die kontextuelle Relevanz biografischer Aspekte ersichtlich werden kann. Im zweiten Beispiel nutzen wir die Kommunikation über die Kommunikation im Seminar, um die Beobachtungsperspektiven unserer »Lehrendenhüte« zum Sprechen zu bringen.

3.1 »Und, zu wievielt bist du heute hier?«– Studieren mit Familie Es gibt Situationen in unseren Seminaren, in denen wir einen ganz besonderen Hut aufsetzen – oder vielleicht sogar erstmal alle Hüte absetzen. Dies sind Momente, in denen wir als »dreidimensionale« Person mit unseren eigenen Geschichten und Erfahrungen für die Studierenden sichtbar und transparenter werden. Ein besonders deutliches Beispiel für Situationen dieser Qualität ist die Genogrammarbeit, die wir gern anhand unseres eigenen Genogramms einführen. Indem wir uns derart als Teil unseres eigenen Familiensystems zeigen, markieren wir den Lehr-/Lernkontext als persönlichen und mitunter auch privaten Rahmen. Für die Studierenden, so unsere Beobachtung, scheint diese Offenheit zunächst ihren Erwartungen an eine sachlich-distanzierte Professionalität zwischen Lehrpersonen und Studierenden zu widersprechen. Und tatsächlich schenken wir dem professionellen Umgang mit Nähe und Distanz, der Wahrung der eigenen Grenzen und der Grenzen der anderen in diesen »fragilen« Phasen besondere Beachtung. Indem wir Persönliches preisgeben, so unsere Erfahrung, bahnen wir den Weg für eine Seminaratmosphäre, in der durch das Einbeziehen der Erfahrungen aus den jeweils eigenen Familien die kontextuelle Abhängigkeit subjektiver Deutungsmuster erlebbar wird. »Systemisch ist dies deswegen relevant, weil es um das Reflektieren persönlich erfahrener Systemzusammenhänge geht; das Ursprungs- oder Herkunftssystem bildet die emotional-soziale Grundlage des Verhaltens in den weiteren Systemen« (Zwicker-Pelzer, 2016, S. 91). Wenn wir die Studierenden einladen, sich mit ihrem eigenen Genogramm zu beschäftigen, so könnte eine erste Frage lauten: »Und, zu wievielt seid ihr heute hier?« Wenn es um das Eintauchen in das systemische Denken, in das Erfahrbar-Machen von Zirkularität und hier im engeren Sinne um die Erstellung des eigenen Genogramms, die Visualisierung und Rekonstruktion des eigenen Familiensystems geht, so sind eben nicht nur zwanzig Studierende mit von der Partie. Vielmehr sitzen wir mit zwanzig Studierenden und deren Eltern, Brüdern, Schwestern, Stiefeltern, Tanten, Onkeln etc. im Stuhlkreis. Selbstverständlich ist dies in jeder anderen Veranstaltung ebenso der Fall, das eigene So-Gewordensein, die familiären Beziehungen etc. schwingen im Hintergrund

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immer mit; hier aber haben wir die Möglichkeit, unser Spielfeld ganz konkret um den Familienkontext zu erweitern und die Familien gezielt mit in den Raum zu holen. Mit dieser veränderten Kontextmarkierung eröffnen sich uns neue Wege, um mit unseren Seminarteilnehmenden in Beziehung zu treten: Wir begegnen einander als Mitglieder einer Familie. Wir tun so, als ob Eltern, Geschwister etc. mit im Stuhlkreis sitzen würden, und wir bringen sie zum Sprechen, indem wir nach Aussagen wie »Als älteste Schwester habe ich mich immer verantwortlich für meinen kleinen Bruder gefühlt. Ich habe ihm z. B. oft bei den Hausaufgaben geholfen« nicht stehen bleiben, sondern genau hier neugierig weiterfragen: »Was würde denn dein Bruder dazu sagen, wenn er jetzt hier neben dir sitzen würde? Und wie würden deine Eltern eure Geschwisterbeziehung beschreiben?« Es ist das bekannte Spiel mit Perspektiven, in dem die Wirkung systemischer Fragen, die Wirkung der zirkulären »Brille«, am eigenen Leib erfahrbar wird und Kontexte sichtbar werden lässt. Sicherlich ist dies für die Systemikerin und den Systemiker vertrautes Terrain. Für die Studierenden aber erfolgt hier eine Musterdurchbrechung des gewohnten universitären Rahmens, in dem sie doch sonst als »Einzelpersonen« unterwegs sind und als »Einzelpersonen« einen Seminarraum betreten. Hier hingegen unterstreichen wir von Beginn an ihr Eingebundensein in Systemen und bringen dadurch zum Ausdruck, mit welcher »Brille« wir uns in einer systemischen Veranstaltung gegenseitig begegnen möchten. Als Expertin oder Experte für die eigene Familie wird für die Studierenden zunächst erlebbar: »Nur ich kann hier in diesem Raum über meine Familie Geschichten erzählen.« Nur ich entscheide, wen ich »mitbringe« und wen ich »zuhause lasse«, um in einem weiteren Schritt zu erfahren, dass diese Geschichten im Spiel mit den Möglichkeiten und in ständiger Wechselwirkung mit den anderen Mitspielenden auch neu erzählt werden können. Über die Genogrammarbeit werden schließlich nicht nur wir als Vorbilder transparenter, im besten Fall werden die Studierenden für sich selbst durchsichtiger, sodass sich für sie neue Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten ergeben.

3.2 Einladung zum Zusammenspiel In den Harry Potter-Romanen verteilt der »Sprechende Hut« am Schuljahresbeginn alle Erstklässlerinnen und Erstklässler auf eines der Häuser der vier Schulgründer. Ist er sich nicht sicher, wohin ein Schüler oder eine Schülerin passt, beginnt der Hut seine Überlegungen gedanklich mitzuteilen. Manchmal führt er auch einen gedanklichen Dialog mit dem Kind. Auch wir bringen unsere Hüte gelegentlich zum Sprechen, um Gedanken, Überlegungen, Vermutungen,

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Hypothesen etc. über das Geschehen im Seminar zu äußern. Hierzu nutzen wir reflektierende Positionen, die wir manchmal auch in formalisierter Form, z. B. dem Reflecting Team (Andersen, 1991; Kricke, Rohr u. Schindler, 2012) oder dem Inneren Team (Rohr, 2016) ins Spiel bringen. Reflektierende Positionen erzeugen einen Rahmen, in dem Selbstbeobachtung ermöglicht wird. Wir nutzen diese Beobachtung zweiter Ordnung manchmal, um unsere Gedanken zu inhaltlichen Aspekten anzubringen, häufig jedoch, um Überlegungen über den Prozess des Seminarverlaufs anzustellen. Im zweiten Fall thematisieren wir zum einen unsere eigenen Interpretationen unserer Lehrendenrollen und zum anderen vermutete Erwartungen an unsere Lehrendenhüte, sodass ein »Spiel der Ideen« (vgl. Hargens u. von Schlippe, 1998) über die gemeinsamen Spielregeln im Seminar in Gang gesetzt wird. Wir äußern dann z. B.: »Die Diskussion im Seminar erweckt bei mir den Eindruck, als würden einige von Ihnen mir gern den Hut der Wissensexpertise aufsetzen. Ich möchte Sie an dieser Stelle einladen, auf Ihre Selbstexpertise zu vertrauen, um mit allen zusammen zu erkunden, wohin uns die vielfältigen im Raum befindlichen Perspektiven führen. Was halten Sie davon?« Durch derartige Beziehungsangebote versuchen wir immer wieder Kontextmarkierungen zu setzen, die unseren Bezugsrahmen als systemischen Kontext konnotieren. Indem wir auf diese Weise unsere Lehrendenrollen beziehungsweise vermutete Erwartungen als Beobachtungsgegenstand zur Verfügung stellen, laden wir die Studierenden ein, zu unseren Reflexionen Stellung zu nehmen. So können sich im Plenumsgespräch weitere Perspektiven zu unseren Rollen und unseren Lehr-/ Lernbeziehungen entwickeln. Statt die Bandbreite an Möglichkeiten direktiv einzuschränken, nutzen wir die Vielfalt der Sichtweisen, um bewusst Komplexität zu erhöhen und Selbstorganisationsprozesse anzustoßen. Zudem bietet diese Art und Weise der Selbstreferenz auf besonders eindrückliche Art die Möglichkeit, unterschiedliche, überlappende, sich möglicherweise sogar widersprechende Perspektiven auf den Lehr-/Lernkontext sichtbar zu machen. Die kontextuelle Eingebundenheit wird hier ebenso zu einem besprechbaren Gegenstand wie die Tatsache, dass wir als Lehrende uns, wie bereits betont, oft zeitgleich zu unterschiedlichsten Rollenerwartungen und -anforderungen verhalten müssen. Im Austausch der verschiedenen Perspektiven und Ideen können nicht nur wir unsere Gedanken und Erwartungs-Erwartungen offenlegen, reflektieren und erweitern, auch die Studierenden werden dazu angeregt, ihre eigenen Erwartungen und vielleicht impliziten Aufträge, die sich möglicherweise nach einer anfänglichen Auftragsklärung auch verändert haben können, an das Seminar bewusster wahrzunehmen.

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Die transparente Inszenierung des Spiels mit Hüten über den Einsatz reflektierender Positionen eignet sich unserer Ansicht nach auch deshalb zum Erleben systemischer Praxis, da hierdurch ein »Kontext von Kooperieren« eröffnet, eine Transparenz des Geschehens hergestellt und eine »prinzipielle Gleichberechtigung aller in den Prozess Einbezogener« ermöglicht wird (S. 16).

4 »Es ist nicht mein Hut«, sagte der Hutmacher1 Zu guter Letzt wollen wir noch auf einen weiteren Hut eingehen: Den Hut der Leistungsbeurteilung. Wir mögen diesen Hut nicht wirklich, setzen ihn ungern auf. Er scheint nicht zu unserer übrigen Garderobe zu passen. Er sitzt zu eng, lässt nur wenig Spielraum. Er will, dass wir in Kategorien von 1–6 einteilen, dass wir komplexe Vielfalt auf Zahlen reduzieren. Mit diesem Hut spüren wir ein gewisses Unbehagen. Wie können wir einer geradezu »diagnostisch« anmutenden Beurteilungspraxis entsprechen und andererseits den subjektiven Lernwirklichkeiten der Studierenden gerecht werden? Aber müssen wir uns in diesem vermeintlichen Dilemma überhaupt für eine der Seiten entscheiden? »Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden. Warum? Einfach weil die entscheidbaren Fragen schon entschieden werden durch die Wahl des Rahmens, in dem sie gestellt werden, und durch die Wahl von Regeln, wie das, was wir ›die Frage‹ nennen, mit dem, was wir als ›Antwort‹ zulassen, verbunden wird« (von Foerster, 1993, S. 73). Als Hochschullehrende sind wir den Kriterien des Regelsystems »universitäre Lehre« und den damit verbundenen Selektions- und Allokationsmechanismen (Benotung, Graduierung) verpflichtet. Natürlich lässt sich auch dieser Rahmen infrage stellen, doch zuallererst haben wir uns bereits entschieden, die Bedingungen und die Funktionslogik des Hochschulsystems zu akzeptieren. Wir haben eine Wahl getroffen und übernehmen Verantwortung für die Konsequenzen dieser Entscheidung. Zwar können wir die Kontextbedingungen, d. h. die Vorgaben dieses Hutes, transparent machen. Wir können uns zusammen mit den Studierenden die Kriterien des Rahmens anschauen und über den Sinn von Notengebung und Prüfungen diskutieren. Wir können über Bildungsgerechtigkeit debattieren und vielleicht zu dem Schluss kommen, dass alle Studierenden eine eins bekommen oder Prüfungen abgeschafft werden sollten. Es liegt jedoch weder in unserer noch in der Verantwortung der Studierenden, die Regeln diesbezüglich grundlegend zu ändern. Wir können den Hut der Leistungsbeurteilung also 1

Lewis Carroll »Alice im Wunderland«.

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nicht absetzen. Insofern stellt sich für uns nicht die Frage, ob wir prüfen, sondern vielmehr, wie wir prüfen und wie wir die Leistungen der Studierenden beurteilen. Anschlussfähig an die Form unserer Lehre erscheint uns eine Leistungserbringung, bei der die Studierenden – analog zum Spiel mit dem Hochschulkontext im Seminar – die Spielräume ihrer eigenen Kontexte forschend-experimentell erkunden. Statt also schon entschiedene Fragen und bereits feststehende Antworten aus dem etablierten Lehrkanon zu reproduzieren, sind die Studierenden eingeladen, einen suchenden Prozess mit ergebnisoffenem Ende in Form einer persönlichen, kontextualisierten Auseinandersetzung »mit sich selbst« einzugehen. Als Prüfungsaufgabe reflektieren die Studierenden eine selbsterfahrene Schlüsselsituation unter Rückgriff auf Erfahrungen, Erkenntnisse und auch theoretische Perspektiven aus der Lehrveranstaltung. Die Betrachtung einer solchen je individuellen Schlüsselsituation, ebenso wie die den Studierenden überlassene Entscheidung über die Wahl der für ihre Reflexion geeigneten Methoden, Theorien etc., unterstreicht auch abschließend nochmals den eigenen Expertisestatus. Wir besprechen diese Aufgabe im Seminar und machen unsere Beurteilungskriterien transparent. Und obwohl wir betonen, dass wir keine subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen bewerten, sondern das »Wie« der Reflexionsarbeit beurteilt wird, sehen wir uns mit Erwartungen konfrontiert, die sich an der klassischen Form der Unterscheidung richtig/falsch orientieren, sodass hier wieder erfahrbarer Kontext, Beziehung und authentische Interaktion entstehen: »Bitte sagen Sie mir genau, was ich schreiben soll!« – »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Was glauben Sie denn, was Sie sinnvollerweise schreiben sollten? Welche Ansätze, Theorien oder Methoden könnten Ihnen helfen, Ihre Schlüsselsituation für Sie angemessen zu reflektieren?« Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Haltung, dieser »Umgang« mit dem Hut der Leistungsbeurteilung, Studierende ermutigt und diese infolgedessen Arbeiten verfassen, die sich akademischer Gleichförmigkeit entsagen. Im besten Fall begegnen sich die Studierenden über die Auseinandersetzung mit prinzipiell unentscheidbaren Fragen auf eine neue Weise selbst.

5 Fazit Wir haben versucht zu zeigen, wie sich das genuin systemische in unseren Lehrveranstaltungen zeigt und als Lehr-/Lerngegenstand erfahrbar wird. Jenseits von verlockenden Selbstattribuierungen – »Natürlich ist meine Lehre systemischkonstruktivistisch ausgerichtet« – glauben wir, dass systemisches Denken und

Spiel mit Hüten statt Hütchenspiel

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Handeln vor allem »im Kleinen«, in konkreten Interaktionen in ebenso konkreten sozialen Kontexten sichtbar wird. Diesen Versuch bezeichnen wir selbst gern als »pädagogischen Doppeldecker«: Wenn wir im humanwissenschaftlichen Kontext in systemische Theorie und Praxis (Lerngegenstand) einführen wollen, kann das gerade dann authentisch gelingen, wenn wir selbst systemisch denken und handeln, wenn wir mit Rollen, Kontexten, Aufträgen und Erwartungen »spielen« (Lehr-/Lernkontext). So werden wir als Lehrpersonen auf besondere Art und Weise transparenter und »sichtbarer«, platzieren uns selbst bewusst in einen Kontext und können so – jenseits des »Hutes der Wissensvermittlung« – vielleicht wirkliche »Vorbilder« sein. Die Beobachtung der Gruppenprozesse wird von einem weiteren, eher beiläufigen Organisationspunkt zu einem zentralen Gegenstand universitärer Lehrpraxis. Und noch etwas scheint sich einzustellen, wenn wir uns gemeinsam mit den Studierenden in zirkulärer Wechselwirkung auf die Suche begeben: von alten, vermeintlich bewährten Mustern abzuweichen und auch selbst mal etwas Neues auszuprobieren. Wenn wir uns gemeinsam mit den Studierenden auf ein GoSpiel einlassen, wenn wir also authentisch offen sind gegenüber neuen Ideen und Wirklichkeitskonstruktionen, die im gemeinsamen Driften, in der Begegnung in einem spielerischen Kontext entstehen, wird der »bittere Ernst« universitärer Lehrpraxis möglicherweise abgelöst von einer Leichtigkeit, die eine qualitativ andere Form der Zusammenarbeit ermöglicht.

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Systemisch Lernen und Lehren: Inhalte – Methoden – Erfahrungen Günter Schiepek

1 Was ist »systemisch«? Will man beschreiben, was systemische Lehre ausmacht und wie diese gestaltet werden kann, muss man zunächst definieren oder wenigstens umkreisen, was »systemisch« bedeutet. Dies ist allerdings nicht einfach, denn es sieht so aus, als ob es keine klaren Kriterien hierfür gäbe, zumindest wenn man »systemisch« mit einem bestimmten Therapie- oder Beratungsansatz in Verbindung bringt. Merkmale wie Ressourcenorientierung, Mehrpersonenperspektive (z. B. Fokus auf Familien), Festlegung auf einen bestimmten erkenntnistheoretischen Zugang (z. B. Konstruktivismus), auf eine bestimmte Haltung oder die Nutzung bestimmter Interventionstechniken scheinen weder hinreichend noch notwendig (Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013). Ressourcen werden inzwischen von fast allen Therapierichtungen geschätzt und aktiviert, auch paar- und familientherapeutische Ansätze gibt es in sehr unterschiedlichen Therapieschulen, wobei die Pionierarbeit von tiefenpsychologisch orientierten Therapeutinnen und Therapeuten geleistet wurde, z. B. von Alfred Adler oder Horst-Eberhard Richter (beide haben übrigens die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, also den »Kontext« psychischer Belastungen und Konflikte, deutlich herausgearbeitet). Umgekehrt ist systemische Einzeltherapie gang und gäbe (Grossmann, 2014). Konstruktivismus oder Kybernetik zweiter Ordnung sind zumindest nicht hinreichend für Systemische Therapie, denn ein Therapieansatz wird sich wohl noch durch andere Merkmale auszeichnen, z. B. ein bestimmtes Setting, Verfahren und Methoden, Fallkonzeptionen etc. Konstruktivistische Positionen sind aber auch nicht notwendig, denn es gibt verschiedene andere epistemologische und wissenschaftstheoretische Ansätze wie modellabhängigen Realismus, kritischen Rationalismus und seine Weiterentwicklungen, evolutionäre Erkenntnistheorien, dialektischen Materialismus, Phänomenologie und weitere, die zu systemischen Ansätzen ebenso passen und zur Kenntnis genommen

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werden sollten. Zudem gibt es sehr unterschiedliche Varianten von Konstruktivismen und vor allem eine ganze Reihe von philosophischen Themen, die für eine systemische Perspektive auf die Welt mindestens ebenso relevant sind wie erkenntnistheoretische Fragen, z. B. die Philosophie der Emergenz (Wie entsteht aus der Wechselwirkung von Teilen qualitativ Neues?), Geist-Hirn-Philosophie, Methodologie, Ethik. Nicht selten findet man den Hinweis, dass systemische Praxis durch eine bestimmte Haltung charakterisiert sei, z. B. eine Person nicht auf irgendetwas festzulegen (etwa eine bestimmte Diagnose, eine bestimmte Pathologie, eine bestimmte Hypothese zu den Funktionsmechanismen eines Symptoms). Eine solche Haltung mag in der Praxis ehrenwert sein, umfasst aber nicht annähernd das, was wir brauchen, um uns ein Verständnis für eine Orientierung in sowie Gestaltungsmöglichkeiten von komplexen Systemen zu verschaffen. Schließlich werden Therapieansätze oft durch eine Menge von Behandlungsund Interventionstechniken beschrieben. Allerdings stellen wir fest, dass es Teilansätze innerhalb des systemischen Feldes gibt, die sich hinsichtlich ihrer Vorgehensweisen kaum überschneiden (z. B. lösungsorientierte Kurzzeittherapie und strukturelle Familientherapie), und dass Methoden immer wieder neu erfunden werden oder aber aus der Mode kommen sowie ein reger Methodenimport und -export zwischen Therapieschulen betrieben wird. Eine Festlegung bestimmter Techniken zur Bestimmung eines Verfahrens scheint nicht nur für systemische, sondern auch für andere Verfahren (z. B. die kognitive Verhaltenstherapie) kaum möglich, was limitierende Konsequenzen für Metaanalysen zur Wirksamkeit der jeweiligen Verfahren hat (Wampold et al., 2017). Zudem scheinen Techniken und Therapiemethoden im Konzert aller Faktoren, die für Therapieeffekte eine Rolle spielen, am wenigsten bedeutend zu sein (Wampold, Imel u. Flückiger, 2018). Hinweis für die Lehre Für die Lehre bedeutet dies, sich in Pluralität und Multiperspektivität zu üben. Definitionsversuche des »Systemischen« sollten kritisch hinterfragt werden, wobei von den Lehrenden eine breite Kenntnis auch anderer Verfahren und der Psychotherapiegeschichte gefordert wird (z. B.: Wie wird Familientherapie in der Verhaltenstherapie, in tiefenpsychologischen Zugängen etc. praktiziert?). Eine Übung könnte darin bestehen, die Originalstudien, die zur wissenschaftlichen Anerkennung der »Systemischen Therapie« herangezogen wurden, kritisch auf ihre Vorgehensweisen zu prüfen und zu vergleichen. Ein relevanter Inhalt systemischer Lehre sollte die Wirkfaktorenforschung sein: Welche Personen-, Beziehungs-, Setting- und Technikfaktoren spielen eine

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Rolle (im Sinne von Effektstärken und erklärter Outcome-Varianz)? Daran schließt sich die Diskussion an, ob der systemische Ansatz (was immer das sein mag) eher als Therapieschule oder -verfahren oder als Beitrag zur Schulenintegration verstanden werden kann (vgl. Schiepek u. Schweitzer, 2021; Schiepek u. Pincus, im review). Welche Ansätze für die Integration von Therapieschulen gibt es (vgl. Norcross u. Goldfried, 2005)? Sehr relevant, aber nicht einführend sollte die Diskussion und Behandlung philosophischer Fragen des systemischen Zugangs zur Welt sein, z. B. eine offene und vergleichend abwägende Reflexion erkenntnistheoretischer (nicht nur kon­ struktivistischer) Positionen (z. B. Baumann, 2006; Gabriel, 1998; Schneider, 1998). Andere Themen sind die Philosophie der Emergenz, Positionen der Geist-HirnPhilosophie (Neurophilosophie), der Philosophie des Bewusstseins oder der Methodologie (z. B.: Wie ist Forschung möglich in nur begrenzt vorhersehbaren und teilweise intransparenten Systemen?; vgl. Kap. IV in Haken u. Schiepek, 2010).

2 Systeme und Systemdynamik Mit Bezug auf psychosoziale Praxisfelder kommt erschwerend hinzu, dass »systemisch« ein inflationäres Modewort geworden ist, das proportional zu seiner Verbreitung an Inhalt verloren hat. Es sei hier deshalb vorgeschlagen, das Adjektiv »systemisch« nicht zur Bezeichnung einer Therapie- oder Praxisrichtung zu benutzen, sondern schlicht als Adjektiv zum Subjektiv »System«. Was ist ein System? Eine generelle Beschreibung könnte lauten, dass es sich hierbei um eine Menge von Elementen oder Objekten handelt, die durch Wechselwirkungen oder Relationen untereinander verbunden sind (von Bertalanffy, 1968; Böse u. Schiepek, 2000; Hall u. Fagen, 1968; Schiepek, 1991). Dabei müssen nicht alle Elemente beziehungsweise Objekte mit allen anderen verbunden sein, und es sind auch Rückkopplungen der Elemente auf sich selbst möglich. Die Objekte können sehr unterschiedlicher Natur sein, z. B. physikalische Elemente wie Moleküle in einer Flüssigkeit, Neuronen im Gehirn, Menschen in einer Gruppe, es können Populationen von Elementen sein (z. B. Neuronenpopulationen, Populationen von Tieren), oder es können ideelle oder abstrakte Elemente sein (z. B. Größen beziehungsweise Variablen in Gleichungssystemen) oder psychologische Konstrukte wie Kognitionen, Emotionen, Motive etc. Die Elemente oder Objekte von Systemen müssen auch nicht homogen sein – man kann z. B. betrachten, wie Tierpopulationen in einem Ökosystem oder Chemikalien in Böden mit der Art der Bodennutzung (z. B. der Bewirtschaftung) und das wiederum mit dem Konsumverhalten und dem Lebensstil von Menschen zu-

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sammenhängen (vgl. Voigt, 2013), also ökologisch-ökonomisch-psychologische Systeme mit ihren Wechselwirkungen. Die Rekursivität von Wechselwirkungen hat in Systemen aller Art eine wesentliche Konsequenz – sie sind dynamisch, d. h. sie halten nicht still, sie sind in Bewegung und entfalten sich in der Zeit. Struktur und Dynamik von Systemen sind immer aufeinander bezogen: die Struktur eines Systems bedingt eine bestimmte Dynamik, und das Verhalten des Systems, also seine Dynamik, verändert die Struktur. Das Gehirn liefert dafür ein beeindruckendes Beispiel: Die Aktivität von Neuronen verändert die synaptischen Gewichte (Hebb’sche Synapsen) und über Second Messenger-Kaskaden und Genexpression auch die Struktur der dendritischen Verzweigungen der Neuronen, mithin auch die individuellen neuroanatomischen Strukturen, und umgekehrt bedingen diese Netzwerkstrukturen (das »Konnektom«) die neuronale Aktivität sowie deren dynamische Synchronisationsmuster (Deco, Jirsa u. McIntosh, 2013; Hansen, Battaglia, Spiegler, Deco u. Jirsa, 2015; McIntosh u. Jirsa, 2019; Ritter, Schirner, McIntosh, u. Jirsa, 2013). Die Betrachtung von Strukturen und Dynamiken kann als Herzstück der systemischen Perspektive auf die Welt gelten. »Zeit« ist somit ein essenzieller systemischer Begriff. Die Prozesse von Systemen entfalten sich auf unterschiedlichen Zeitskalen, d. h. schneller oder langsamer, in Dimensionen von Sekundenbruchteilen (z. B. neuronale Aktivität), Sekunden (z. B. soziale Mikrointeraktion, Kognitionen und Emotionen), Minuten (z. B. Gedankengänge, Stimmungen), Stunden (z. B. circadiane Rhythmen), oder Tagen, Wochen, Monaten, Jahren (z. B. persönliche Entwicklungsprozesse, Psychotherapien, Team- und Organisationsdynamik). Natürliche Systeme realisieren Dynamiken auf unterschiedlichen Zeitskalen gleichzeitig, was erhebliche Anforderungen an die Messung und Modellierung der Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Prozessen stellt. Systeme sind fast immer in Umwelten eingebunden, d. h. sie stehen mit anderen Systemen in Austausch und werden von diesen beeinflusst. Systeme, die untereinander in Austausch stehen, können selbst wiederum als Systeme höherer Ordnung betrachtet werden, was meist bedeutet, dass vom »Beobachter« definiert werden muss, was zum System und was zur Umwelt gehört, und auf welcher Auflösungsebene die Betrachtung (Beschreibung, Modellierung oder Messung) erfolgt. Eine »vollständige« Beschreibung eines Systems oder eines Realitätsausschnitts ist in der Regel nicht möglich und auch gar nicht notwendig und intendiert, sondern eine Beschreibung in Modellen, die immer selektiv, perspektivisch und abstrahierend sind (Schiepek, 1991; Stachowiak, 1978).

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Hinweis für die Lehre Für Lehr-/Lernprozesse bedeutet dies, möglichst viele Beispiele von Systemen kennenzulernen, etwa neuronale Netze auf der Ebene von synaptisch verbundenen Neuronen oder von funktionellen neuroanatomischen Strukturen, das individuelle Konnektom (erfasst mit Diffusions-Tensor-Imaging), Zusammenhänge zwischen Kognitionen, Emotionen, Motiven und Verhalten (veranschaulicht durch idiografische Systemmodellierung), interpersonelle Prozesse (soziale Mikroprozesse zwischen Mutter und Kind, Therapeutin und Klient, koordinierte Bewegung; Mesoprozesse: Gruppen, Teams; Makroprozesse: Organisationen, Meinungsbildung in Gesellschaften). Wenn möglich, sollten didaktisch anschauliche Beispiele gegeben werden. Interessant ist die Frage, wie sich während der Systemprozesse die Relationen zwischen den Elementen ändern (z. B. synaptische Gewichte, Ausknospung und Degeneration von Synapsen, Aktivierungen und Inhibierungen zwischen Kognitionen und Emotionen, intraindividuell und interindividuell). Die Vielfalt der Beispiele sollte auch verdeutlichen, dass sich ein systemischer Ansatz keineswegs auf Paare oder Familien beschränkt, sondern sehr universell ist. Die Bedeutung der Dynamik von Systemen und Inter-System-Prozessen hat zur Konsequenz, dass zu deren Veranschaulichung Texte und Bilder nicht ausreichen, sondern vor allem filmartige Darstellungen erforderlich sind. Ein Beispiel wären die hochdynamischen Verteilungen von Frequenzmustern im Gehirn, wie sie auf der Basis von EEG-Messungen konstruiert werden können (z. B. Singer, 2011; Müller, Preißl, Lutzenberger u. Birbaumer, 2011). Man sieht dabei, wie die Kommunikation im Gehirn über schnell wechselnde Synchronisationsmuster läuft, die sich auch über weite Entfernungen, also nicht nur in einzelnen Subregionen auf- und abbauen. Ein anderes Beispiel wären Sonifikationen von EEG-Verläufen oder von interaktionellen Mustern, z. B. von interaktionellen Plänen, wie sie mithilfe der Sequenziellen Plananalyse kodiert werden können (Animation 46 in Haken u. Schiepek, 2010). In dieser Animation werden die synchronen und diachronen Aktivierungsmuster von on-off-kodierten »Plänen« (Beziehungsbotschaften, getaktet in Einheiten von 10 Sekunden) eines Therapeuten und einer Klientin über 13 Therapiesitzungen hinweg in 16 Minuten zum Klingen gebracht und als »Notenpartitur« visualisiert (Realisation von G. Strunk). Dem Buch »Synergetik in der Psychologie« (Haken u. Schiepek, 2010) liegt eine DVD bei, die viele Kurzvideos zur Veranschaulichung von prozessualen Mustern in komplexen Systemen enthält. Wünschenswert wäre eine hochschul- und institutsübergreifende Didaktothek mit Filmen, Übungsvorschlägen, Klangreproduktionen und Musikstücken (z. B. die komplexen Klangstrukturen der Klavieretüden von G. Ligety, vgl. Peitgen u. Skouras, 2019), die für alle zum Download zur Verfügung stehen sollten.

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3 Komplexität Systeme können in verschiedener Weise komplex sein. Komplexität ist eine unausweichliche Konsequenz der Systemhaftigkeit unserer Welt, denn die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Elemente und (Sub-)Systeme, die Vielfalt der Vernetzungen und Wirkungspfade sowie die daraus resultierenden Dynamiken (oft auf verschiedenen Zeitskalen) führen unausweichlich an die Grenzen des linearen Denkens. Lineare Wirkungsannahmen, ein Denken in Abfolgen und Sequenzen sowie Prognosen durch Extrapolierung (Fortschreibung) erkennbarer Trends scheitern in der Regel. Ein Aspekt von Komplexität bezieht sich auf die Elemente und die Strukturen eines Systems. Mehr Elemente oder Subsysteme und mehr Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Elemente (Subsysteme) sowie der Relationen zwischen den Elementen – von linearen und proportionalen zu nichtlinearen Funktionen – bedeuten höhere Komplexität. Qualitative und quantitative (formale) Modellierungen sollten in der praktischen wie wissenschaftlichen Arbeit darüber Auskunft geben, welche Annahmen man diesbezüglich macht, was also das »System« ausmacht, mit dem man arbeitet und welches man begleitet. Hinweis für die Lehre Systemische Lehr-/Lernprozesse sollten erfahrungsnah sein – unabhängig davon, ob sie an Universitäten, Hochschulen oder in Aus- und Weiterbildungsinstituten stattfinden. Die in Therapie und Beratung/Coaching etablierte Methode der idiografischen Systemmodellierung vermittelt ein erfahrungsnahes Verständnis psychologischer Systeme. Die Methode kann auch in der Lehre eingesetzt werden, um Einflussgrößen und deren Wechselwirkungen in einem persönlichen Handlungsfeld zu beschreiben. Es wird dabei erarbeitet, welche Elemente (Kognitionen, Emotionen, Motive, Verhaltensweisen, soziale Beziehungserfahrungen, physiologischen Prozesse, Umweltbedingungen) in einem System (z. B. dem »Problemsystem« eines Klienten) eine Rolle spielen und wie diese aufeinander wirken. Bei Studierenden und Kursteilnehmern wird es weniger um »Problemsysteme« gehen als vielmehr um persönliche Entwicklungsprojekte, die im Leben eine Rolle spielen. Die Erarbeitung eines idiografischen Systemmodells mit anschließender personalisierter Prozesserfassung ist eine interessante Form der Selbsterfahrung. Das Vorgehen der idiografischen Systemmodellierung im klinischen Setting: Der Ausgangspunkt ist ein Interview zum Problemszenario eines Klienten, wobei auch Problemlöseversuche, Copingstrategien, Ausnahmen von Proble-

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men und konstruktive Umgangsformen mit diesen erfragt werden. Während der Erzählung macht sich der Therapeut oder die Therapeutin Notizen zu den Teilprozessen oder Begriffen, die als Komponenten des Systemmodells verwendet werden können. Dafür kommen »Variablen« infrage, deren Ausprägung sich in der Zeit ändert. Die Variablen bezeichnen intraindividuelle oder interpersonelle Aspekte eines Systems, z. B. Kognitionen, Emotionen, Motive oder Verhaltensweisen. Sie werden in Form von theoretischen Konstrukten der Psychologie oder/ und in der Alltagssprache des Klienten formuliert. Nach der Sammlung der Systemvariablen werden ihre Wirkungen aufeinander grafisch in Form von Pfeilen dargestellt, die im einfachsten Fall durch ein »+« oder »–« qualifiziert sind. »+« bedeutet eine gleichgerichtete Relation (z. B. »Je mehr Eigenstruktur im Tagesverlauf erlebt wird, umso gesünder das Essverhalten«), »–« bedeutet eine gegengerichtete Relation (Abbildung 1).

Abbildung 1: Beispiel für ein idiografisches Systemmodell1

Möglich sind direkte Wechselwirkungen, Schleifen, die mehrere Variablen einbinden, oder Rekursionen einer Variablen auf sich selbst (autokatalytische Effekte). Mit zunehmender Vernetzung werden Zusammenhänge deutlich, die vorher nicht gesehen wurden oder wo nur einseitige Ursache-Wirkungs-Relationen 1

Alle Abbildungen in diesem Beitrag: Günter Schiepek.

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denkbar waren (nach dem Motto: »x ist schuld an y«). Inzwischen steht ein Grafik-­ Tool für größere Bildschirme mit Touchscreen zur Verfügung, welches es auch erlaubt, einzelne Variablen und Verbindungen (Schleifen) farblich zu markieren und den Rest ausgegraut in den Hintergrund zu stellen (Schöller u. Schiepek, 2021, www.psysim.at). Damit kann ein vertieftes Verständnis von Teilsystemen und möglichen Effekten der Veränderung einzelner Variablen (z. B. Interventionen) erarbeitet werden. Im Anschluss daran wird man einzelne Zusammenhänge und Rekursionsschleifen noch einmal detailliert durchgehen, um die Dynamik und Rückkopplung in entsprechenden Teilsystemen zu verdeutlichen. Darauf aufbauend werden Lösungsszenarien durchgespielt und Ansatzpunkte für Veränderungen herausgearbeitet.

Neben der strukturellen Komplexität von Systemen gibt es auch eine dynamische Komplexität, also die Komplexität von Prozessen, konkret von Zeitreihen. Diese Komplexität liegt irgendwo zwischen einer geraden Linie oder einer Schwingung, z. B. einer Sinusschwingung auf der einen Seite, und Zufall oder Zufallsrauschen (noise) auf der anderen Seite (Strunk u. Schiepek, 2016). Schwingungen können allerdings sehr komplex werden, wenn sich nämlich mehrere Frequenzen überlagern und die daraus resultierende Dynamik dann noch, wie im richtigen Leben, von Rauschen (bedingt durch Messfehler oder unbekannte und unsystematische Umweltereignisse) beeinflusst wird. Daneben gibt es verschiedene Arten von Rauschen oder Zufälligkeit (z. B. pink noise), die eine innere Struktur (z. B. Verteilungsmuster der Werte) haben können, wie sie auch in komplexen Dynamiken auftreten. Der Zufall ist kein einfaches Thema; er hat viele Gesichter, Formen und Facetten, auch Interpretationsmöglichkeiten (Mainzer, 2007). In einem engeren Sinn bedeutet die Komplexität von Prozessen, dass diese ein Muster aufweisen, das oft mit bloßem Auge kaum erkennbar ist (Abbildung 2). Zudem bedeutet Komplexität, dass die dynamischen Muster von einem System und dessen Regeln generiert werden, z. B. von einer oder mehreren gekoppelten nichtlinearen Gleichungen. Damit ist die erzeugende Struktur, also das System, deterministisch, obwohl die Dynamik wie zufällig aussieht und in der Tat nicht prognostizierbar ist. Damit sind wir in der Welt des deterministischen Chaos – eine faszinierende Welt, die viele Facetten und Eintrittstüren hat, voller Ästhetik und scheinbarer Widersprüche. Eine dieser scheinbaren Widersprüche oder Ambiguitäten besteht darin, dass chaotische Prozesse durch deterministische Gleichungen

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a.b. Abbildung 2: (a) Dynamik der Variable Veränderungsmotivation (M) im chaotischen Regime. (b) Der Attraktor dieser Dynamik. Die Zeitreihe wurde dafür in einen Phasenraum mit Zeitverzögerungskoordinaten eingebettet und die diskreten Werte (Punkte im Phasenraum) mit einem kubischen Spline verbunden. Die Abbildung stammt aus einer Computersimulation, die auf einer mathematischen Theorie psychotherapeutischer Veränderungsprozesse beruht (Schiepek et al., 2017).

erzeugt, also berechnet werden, aber trotzdem nur sehr begrenzt vorhersehbar sind. In der linearen Welt (z. B. in unserem Sonnensystem) ist Berechenbarkeit gleichbedeutend mit Vorhersehbarkeit – von jetzt in die Zukunft und von jetzt in die Vergangenheit. In der nichtlinearen Welt sind die Prozesse berechenbar, in manchen Fällen durch sehr einfache Gleichungen, aber trotzdem nicht vorhersehbar. Der Vorhersagehorizont lässt sich sogar berechnen, aber dennoch nicht überschreiten. In chaotischen Systemen liegen Chaos und Regelhaftigkeit sehr eng beieinander. Wie bereits beschrieben, sind die nichtlinearen Funktionen, welche die Variablen eines Systems verbinden, von sogenannten »Kontrollparametern« in ihrer konkreten Form modifizierbar. Bei manchen Werten der Kontrollparameter zeigen nichtlineare Systeme komplett lineares oder regelmäßiges Verhalten, bei anderen Werten scheinbar irreguläres Verhalten (Abbildung 3). Kleine Unterschiede in den Werten der Kontrollparameter, aber auch in den Ausgangswerten der Variablen und in den Inputs auf die Dynamik können zu ganz verschiedenem Verhalten führen, wobei die Ausgangswerte oder die Inputs zunächst »nur« das konkrete Verhalten verändern, die Kontrollparameter dagegen das ganze Muster der Dynamik – das man in dieser Welt »Attraktor« nennt. Betrachtet man diese Muster oder Attraktoren, was man mit einem einfachen Trick machen kann, indem man nämlich die Zeitreihen eines Systems in eine Punktfolge in einem Koordinatensystem umwandelt, wobei jede Variable eine Koordinate liefert, so wird erkennbar, dass die Zeitreihen, die vorher so unregelmäßig aussahen, ein Muster, eben einen Attraktor bilden. Chaos ist deterministischer Quasi-Zufall, der auf den zweiten Blick einer komplexen Ordnung folgt. Unter bestimmten Bedingungen lässt sich die Komplexität die-

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ser Ordnung bestimmen und zwischen verschiedenen Systemen vergleichen. Chaos ist nicht nur spannend, weil es viele philosophische Fragen aufwirft und ästhetische Formen (z. B. Attraktoren und Fraktale) erzeugt, sondern weil es auch in psychotherapeutischen und Beratungsprozessen auftritt – in Computersimulationen wie im realen Leben – vorausgesetzt, wir haben eine Möglichkeit, diese Prozesse zu messen. Und die haben wir. Hinweis für die Lehre Es gibt sehr einfache und didaktisch ansprechende Beispiele für chaotische Systeme. Eines ist die sogenannte Verhulst-Dynamik, die von einer einzigen Gleichung erzeugt wird: xn+1 = rxn(1–xn), die der Grundstruktur einer Parabelgleichung entspricht: y = x(1–x). Die Coverstories für diese Gleichung können sehr unterschiedlich sein (vgl. Strunk u. Schiepek, 2016); meist wird x als Insektenpopulation verstanden, die in ihrer Größe von Jahr zu Jahr (also von n zu n+1) vorhergesagt wird, wobei ein Wachstumsparameter, die Reproduktionsrate r, eine wichtige Rolle spielt. Je nach Reproduktionsrate kann die Population aussterben, konstante Werte einnehmen (Fixpunkte), zwischen zwei Werten oder sukzessive zwischen 2, 4, 8, 16 etc. Werten schwanken (Periodenverdopplung), oder jede Art von Regelmäßigkeit verlassen und beliebige Werte einnehmen – alles in Abhängigkeit des Wertes von r, und alles erzeugt durch dieselbe einfache Parabelgleichung (Abbildung 3). Der Mathematiker Pierre François Verhulst hat uns im 19. Jahrhundert vielleicht kein realistisches, da sicher zu einfaches, Modell der Populationsdynamik von Insekten geliefert, aber ein Musterbeispiel für die Didaktik komplexer nichtlinearer Systeme. Wo ist die Nichtlinearität? Multipliziert man die obige Gleichung, so ist rxn  (­1–xn) gleich rxn–rxn2, und die Potenz 2 ist eine Nichtlinearität. Hier haben wir also die einfachsten Zutaten für ein chaotisches System: eine iterative Erzeugung von Zuständen (von n zu n+1), eine aktivierende (rxn) und eine inhibierende Komponente (−rxn2), eine Nichtlinearität, und einen Kontrollparameter r. Das System ist chaosfähig, aber nicht immer chaotisch – je nach Wert von r. Die sensible Abhängigkeit von den Ausgangswerten von x (der berühmte Schmetterlingseffekt), auch von kleinem Input auf x, und vom Parameter r kann man leicht selbst ausprobieren, wenn man das System z. B. in Excel programmiert, wobei x zwischen 0 und 1 liegen muss (0 < x < 1), und r zwischen 0 und 4 (0