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German Pages [432] Year 2009
HISTORY/HERSTORY
MUSIK - KULTUR - GENDER Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr, Dorle Drackle, Dagmar von Hoff, Susanne Regener und Susanne Rode-Breymann
Band 5
Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare Musik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik - Kultur - Gender ist ein Forum für interdisziplinäre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissenschaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kulturellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.
HISTORY/HERSTORY Alternative Musikgeschichten
Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Katrin Losleben
0 2009
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Mariann Steegmann Foundation, des Forschungsprojektes History|Herstory an der HfM Köln und des Fachbereichs 5: Musikpädagogik/Musikwissenschaft/Kirchenmusik/Chorleitung der HfM Köln, vertreten durch den Dekan Prof. Dr. Heinz Geuen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Christine de Pizan, Le Livre de h Cité des Dames, Buchillustration, 1405 Foto: © akg-images
© 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: MVR Druck GmbH Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-412-20243-9
»Das Schicksal jedes Volkes und jeder Zeit hängt von den Menschen unter 25 Jahren ab.« Johann Wolfgang von Goethe
Für
Vincent-Immanuel Herr (*1988) Anna-Zoä Herr(*1992) Anouk Ma] Losleben (*2002) Lucia Fani Losleben (*2004)
Inhalt Bauplanung Margarete Zimmermann Ein Buch mit Folgen Christine de Pizans Stadt der Frauen
XIII
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Grund und Boden Annette Kreutziger-Herr History und Herstory: Musikgeschichte, Repräsentation und tote Winkel
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Siri Hustvedt Being a Man
47
Stefan Horlacher Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung und ihre Notwendigkeit Historische Entwicklungen und aktuelle Perspektiven
53
Blaupausen für den Städtebau Beate Kutschke Musikgeschichte - Ethik - Gender
89
Christoph Müller-Oberhäuser Die Maske des Genies
105
Annegret Huber Meisterinnenwerke und Meisterwerkanalyse Überlegungen zum Musikanalysieren in kulturwissenschaftlichen Kontexten
125
Thomas Dietrich »Dein Will' ist mir Gesetz« und »Deine Liebe sey mein Lohn« Hegemoniale Geschlechterordnung, Musiktheorie und Haydns Schöpfung
140
VIII Susan Fast »Girls: Rock Your Boys!« The Continuing Non-History of Women in Rock Music
Inhalt
154
Vom Reißbrett zum Bauen Martina Löw Die Konstitution von Raum
177
Susanne Rode-Breymann Orte und Räume kulturellen Handelns von Frauen
186
Marion Fürst »Les Muses sont Soeurs« Die Histoire de la Musique (1823) von Alexandrine Sophie Baronne de Bawr (1773-1860) - eine frühe französische Musikgeschichte für Frauen
198
Thomas Jung Ariane sans Barbe-Bleue Genderperspektive als Aufklärung
217
Eva Rieger Wagners Einfluss auf Geschlechterrollen in der frühen Filmmusik
231
Räume, Gärten und Felder von Frauen und Männern Annette Kreutziger-Herr Kombinatorische Spiele Die Trobairitz und ihre Bedeutung für die Musikhistoriographie der Neuzeit
253
Christine de Pizan Le Livre de la Cité des Dames
273
Sabine Meine Blick ins Grüne Empfindsame Perspektiven in Giovanni Paisiellos Nina o la pazza per amore ( 1789)
279
Inhalt
IX
Peter Schleuning »Aber erst wiederhaben« Fanny Hensels langes erstes und kurzes zweites Leben
304
Robert Adelson und Jacqueline Letzter »For a woman when she is young and beautiful« The Harp in Eighteenth-Century France
314
Christine Siegert Joseph Haydn und Luigia Polzelli Perspektiven einer Beziehung
336
Marcia J. Citron Männlichkeit, Nationalismus und musikpolitische Diskurse Die Bedeutung von Gender in der Brahmsrezeption
352
Amanda Harris A Prickly Alliance Women Composers, the Press and Feminism at the Turn of the Twentieth Century
375
Florian Heesch Black Metal-Sirenen Mythenrezeption und Weiblichkeitsbilder bei Astarte
389
Erst Denken... ...dann Handeln Julia Cramer Neulich, im Wintergarten
409
Literaturempfehlungen
416
Institutionen
422
Was noch fehlt Nachwort und Dank
425
Abbildungen
428
Bauplanung* Musikgeschichte(n) erzählen. In Europa wird das Haus der Musikgeschichte seit jeher von Männern bewohnt. Das Geschlecht der Protagonisten, der Musiker und Komponisten wie auch der Geschichtsschreiber gleichermaßen, war offensichtlich die notwendige Eintrittskarte zum Vestibül. Gender (= kulturell geprägtes Geschlecht) erwies sich damit als stärkste soziale und kulturelle Auslesekategorie, die entschied und zum Teil immer noch entscheidet über Ausbildung, Förderung, Zuwendung und Bedeutsamkeit, Repräsentation und Erinnerungswürdigkeit. Während also Frauen idealerweise die halbe Welt und Männer das halbe Haus bewohnen sollten, gestalten Männer das Haus der Musikgeschichte bisher allein. Ein Haus, das im Wesentlichen jedoch aus Sprache gebaut ist. Denn Musikgeschichte kann man als Sprachhaus denken, eine allein mit Worten und Tönen konstruierte Einheit, Musikgeschichtsschreibung als Sprachspiel. Mehr ist es tatsächlich nicht, denn das Haus der Musik ist seit je ausgestaltet von Handelnden beiderlei Geschlechts, die Musik ausdenken, umsetzen, auffuhren, fördern, aufschreiben, hören und erinnern. Schon das Wort »Geschichte« meint Vergangenes und Erzählung zugleich, sowie history eben auch aus stories besteht. Geschichte meint: Wir waren nicht dabei und erzählen von der Vergangenheit immer wieder anders, immer wieder neu. Ein klingendes Museum der Meisterwerke europäischer Männer war immer nur eine Art, über Musikgeschichte zu denken, geleitet von polymorphen Bildern der Maskulinität und imaginierten Weiblichkeit. Wie könnte also eine andere Form von Musikgeschichtserzählung aussehen? Sollte das bestehende Gedankengebäude einen Westflügel bekommen, in dem Frauen Platz nehmen? Oder wird ein leer stehender Gartensaal bereitgestellt? Wir brauchen keinen neuen Anbau, sondern ein anderes Haus, das den Chancen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist und geöffnet sein kann für die ganze Vielfalt des musikalischen Lebens. Ein Haus, in dem asymmetrische Verhältnisse zwischen Menschen ausgeglichen und alle Arten von Musiken gewürdigt sind, in dem niemand in der Abstellkammer leben wird. Ein Haus, in dem ein Lichtkegel nicht nur auf die Erinnerungsbüste der Genies geworfen ist, sondern ein Gebäude, dessen Zimmer als Räume kulturellen Handelns hell erleuchtet sind. Im Zeitalter der Globalisierung ist es an der Zeit, Musik anders zu denken, anders zu erzählen und anders zu hören. Die Zeit ist reif für ein neues Musikhaus. Bauen Sie mit? +
Bauplanung beschreibt einen Vorgang, bei dem ein Bauvorhaben gedanklich entwickelt und gestaltet wird. Diese gedanklichen Überlegungen werden in Architekturzeichnungen und Bauzeichnungen festgehalten. Die Umsetzbarkeit wird in Berechnungen nachgewiesen. Die Bauplanung ist der erste Abschnitt des Bauprozesses.
Margarete Zimmermann
Ein Buch mit Folgen Christine de Pizans Stadt der Frauen
Christine de Pizan (um 1364 - um 1430), die in Frankreich aufgewachsene und lebende Tochter eines italienischen Gelehrten, ist eine kulturelle Mittlerin par excellence: zwischen Bologna und Paris, zwischen italienischer und französischer Literatur, zwischen der Malerei des italienischen Trecento in der Nachfolge Giottos und dem spätgotischen Stil. Ihre Werke bilden Orte des confluvium, des >Zusammenflussestransportieren< sie Verhaltensmodelle für Männer und Frauen, die in Christines Didaxen entwickelt wurden. Einige ihrer Schriften wurden zum Teil bereits zu Christines Lebzeiten übersetzt, in andere Länder gebracht und gehören auch heute noch zum kostbarsten Bestand verschiedener europäischer Bibliotheken. In dieser vielfachen Dynamik und Ausstrahlung liegt der Schlüssel fur das Verständnis der multiplen Wirkungsgeschichte des Werks dieser Schriftstellerin. In ihrem Livre de la Cité des Dames verdichten sich diese Prozesse in einer einzigartigen Weise. Dies zeigt sich zunächst an der ungebrochenen Wirkung des französischen, aber auch des deutschen Titels Das Buch von der Stadt der Frauen.1 Obwohl diese Übersetzung bereits seit Jahren vergriffen ist, bleibt der Titel des vor rund sechshundert Jahren entstandenen »Klassikers der Weltliteratur« 2 als fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses noch immer ungemein produktiv. So begegnet er in stets neuen Variationen, jedoch niemals ad nauseam, als Titel von Büchern oder Buchreihen, 3 von Buchkritiken, 4 von AusstelÜbersetzt und kommentiert von Margarete Zimmermann, Originalausgabe Berlin 1986.
So lautet der Titel der Reihe bei dtv, in der Das Buch von der Stadt der Frauen ab 1990 in einer Lizenzausgabe erschien. Im Verlag der Université de Saint-Etienne wurde 2004 von Eliane Viennot die Reihe »Cité des Dames« ins Leben gerufen, in der in loser Abfolge klassische Texte von Autorinnen der Frühen Neuzeit erscheinen. Beispiele für Buchtitel: Heide Wunder
(Hg.), Eine Stadt der Frauen. Studien und Quellen zur Geschichte der Baslerinnen im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit (13.-17. Jh.), Basel, Frankfurt a.M. 1995.
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Margarete Zimmermann
lungsrezensionen,5 ferner von Rezensionen zu Gender-Fragen6 oder als Bezeichnung kommunaler, künstlerischer und wissenschaftlicher Projekte.7 Auch tragen die verschiedensten Städte in den verschiedensten Epochen den Ehrentitel »Stadt der Frauen«: Die Palette reicht von dem Venedig des 14.-18. Jahrhunderts und dem Berlin der zwanziger Jahre bis zu dem mexikanischen Juchitän sowie dem Wien und Shanghai unserer Gegenwart.8 So unterschiedlich alle diese Kontexte auch sein mögen, in denen wir den vielen Varianten der Vorstellung einer Stadt der Frauen begegnen: Jeder dieser Verwendungen ist ein gegenwartskritisches, zukunftsweisendes und/oder utopisches Potenzial eigen. Diese ungebrochene Lebendigkeit und erstaunliche Fortüne eines Buchtitels sind unmittelbar verbunden mit dem starken Faszinationspotential der Autorin Christine de Pizan, »the First Lady of the Middle Ages«,9 einer Figur mit geradezu emblematischem Charakter für kulturwissenschaftliche Konfigurationen in den verschiedensten Domänen und Disziplinen. Dieses Gegenwartsphänomen ist zugleich ein eminent historisches, denn alle Epochen konstruieren sich gleichsam >ihre< Christine, wie stellvertretend ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert zeigt. Hier erscheint die große spätmittelalterliche Autorin als ein romantischverniedlichter Lockenkopf mit Federkiel und hinter Butzenscheiben (Abb. 1), als ein Wesen, dem man bestenfalls die Abfassung von Liebeslyrik zutraut.
Ein Beispiel: Anke Heimburg, »Stadt der Frauen. Ute Scheubs Kulturgeschichte der Frauen im Berlin der zwanziger Jahre«, in: Literaturkritik.de, Nr. 1, Januar 2001. Siehe hierzu zuletzt die Rezension von Nicola Kuhn zu der Biennale von Venedig unter dem Titel »Stadt der Frauen« im Tagesspiegel vom 9.6.2007. Anja Kühn, »Berliner Hochschulen. Die Stadt der Frauen«, Tagesspiegel vom 28.2.2008. So gibt es in Berlin die »Überparteiliche Fraueninitiative Berlin - Stadt der Frauen« als »Bündnis politisch engagierter Frauen aus den Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses, der Landesregierung, aus Gewerkschaften, Hochschulen, Medien, Frauenprojekten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens« (Quelle: http:// www.berlin-stadtderfrauen.de/). Weiterhin: Ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt: Stadt der Frauen. Spätmittelalterliche Geschichte aus Frauensicht. Ausstellungskatalog, hrsg. von Annette Kuhn und Marianne Pitzen, Zürich und Dortmund 1994. Siehe hierzu Ute Scheub, Kulturgeschichte der Frauen im Berlin der zwanziger Jahre, Reinbek 2000 (Berlin wird im Klappentext als »Stadt der Frauen« bezeichnet); Eva Gesine Baur und Thomas Klinger, Venedig - Stadt der Frauen. Liebe, Macht und Intrige in der Serenissima, München 2005; Marlen Schachinger, Wien. Stadt der Frauen. Eine Reiseführerin, Wien 2006; Veronika BennholdtThomsen (Hg.), Juchitän - Stadt der Frauen, Reinbek 1997. Barbara Altmann, »Christine de Pizan, First Lady of the Middle Ages«, in: Contexts and Continuities, hrsg. von Angus J. Kennedy u.a., Glasgow 2002, Bd. 1, p. 17-30.
Ein Buch mit Folgen
Abb. 1: Christine de Pizan. Kupferstich des 19. Jhs., Paris, BNF, Cabinet des Estampes
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Margarete Zimmermann
Mit Entwürfen anderer Art warten das 20. und 21. Jahrhundert auf, zunächst mit zahlreichen Fiktionalisierungen. So begegnen wir Christine de Pizan in Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) als die schattenhafte Verfasserin des Wegs des langen Lernens10 und damit eines Trostbuchs für den geistig verwirrten König Charles VI., der Christine als ein »von der starken Cumäa zu großen Wegen ergriffenes Herz«11 bezeichnet. Ebenfalls als Hofdame, nun aus dem Umkreis des Charles d'Orléans, tritt sie in Helga Haasses historischem Roman Wald der Erwartung (Het woud de verwachting, 1946) auf, während sie einige Jahrzehnte später in Dietrich Schwanitz' Der Campus (1995) zu einer maskuline Alpträume erzeugenden Ahnherrin des Gegenwarts-Feminismus mutiert. Alle diese Konfigurationen als Nebenfigur kündigen, so scheint es, den Auftritt Christines als Hauptfigur eines historischen Romans an - oder als Heldin eines jener biopics, die sich im Film der letzten Jahre großer Beliebtheit erfreuen. Dies zeigen zwei aktuelle Beispiele: Patricia Mazuys Film Saint-Cyr (2000) über das gleichnamige Mädchen-Pensionat des 17. Jahrhunderts und dessen Begründerin Madame de Maintenon (Isabelle Huppert)12 sowie Sophia Coppolas Marie Antoinette (2006) mit Kirsten Dunst. Zur Rezeptionsgeschichte der Christine de Pizan zählen aber auch ihre Beschwörung im europäischen Kontext des frühen Feminismus um 190013 sowie all jene Prozesse, die seit den 80er Jahren durch die späte Wiederentdeckung des Buchs von der Stadt der Frauen initiiert wurden. Weshalb sich diese frühfeministischen Streitschrift zu einem Bestseller entwickelte und weshalb mit den modernen Übersetzungen gerade dieses Buchs eine Vielzahl neuer Kapitel in den verschiedensten Domänen aufgeschlagen wurden, dazu im Folgenden einige Überlegungen Ein zweites Element mit einem intensiven Wirkungspotenzial resultiert aus dem Entwurf einer kühnen Raumutopie sowie aus einer neuartigen Verbindung von Raum, Körper und Macht.14 Christine de Pizan ist die erste Schriftstellerin
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Anspielung auf Christine de Pizans Livre du Chemin de Longue Étude von 1402, das 1887 in Berlin in einer ersten kritischen Ausgabe von Robert Püschel erschienen war. Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden, Bd. 3: Prosa, Frankfurt a.M. 1966, S. 310. Zu diesem Film: Rotraud von Kulessa und Dominique Picco, »Saint-Cyr (2000)«, in: Siècle classique et cinéma contemporain, Roswitha Böhm, Andrea Grewe und Margarete Zimmermann, Tübingen 2008. Siehe hierzu Margarete Zimmermann, »Christine de Pizan und die FeminismusDebatten des frühen XX. Jahrhunderts«, in: Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik. Theoretische Grundlagen - Forschungsstand - Neuinterpretationen, hrsg. von Renate Kroll und Margarete Zimmermann, Stuttgart und Weimar 1995, S. 156-185. Vgl. Judith L. Kellogg, »Le Livre de la cité des dames. Reconfiguring Knowledge
Ein Buch mit Folgen
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und Philosophin, die mit ihrer Frauenstadt einen ausschließlich von Frauen erbauten und bewohnten Ort imaginiert und in Worten konstruiert. Diesen versteht sie als eine räumliche wie auch philosophische Entgegnung auf all jene .Häuser' der (Kunst-, Musik-, Literatur- und vieler anderer)Geschichte(n), die allein von Männern bevölkert und allein auf deren Bedürfnissen zugeschnitten scheinen. Christine de Pizan imaginiert mit ihrer Frauenstadt auch einen Ort der Befreiung von Fremdbildern und als eine allein von Frauen bewohnbare Stadt, deren >Baumaterial< erzählende Texte sind - Exempla, die Beispielgeschichten vorbildlicher Frauen. Die Art und Weise, wie die spätmittelalterliche Autorin Gender und Raum - letzterer in Gestalt von Haus und Stadt - (zusammen-) denkt, unterscheidet sich damit diametral von der Art und Weise, wie dies bei der Malerin, Bildhauerin und salonnierexs Louise Bourgeois (*1911) geschieht. In ihren Femmes-maison, einer Bildserie der vierziger und fünfziger Jahre, verbindet die Künstlerin Frauenkörper und Häuser dergestalt miteinander, dass das Haus den Kopf der Frau oder sogar einen Teil ihres Körpers ersetzt und diesen gleichermaßen >erschlägtschlechten< Gegenwart, die Frauen zu Gefangenen privat-häuslicher Räume macht.
and Reimagining Gendered Space«, in: Christine de Pizan. A Casebook, hrsg. von Barbara K. Altmann und Deborah McGrady, Routledge: N Y 2003, S. 129-146. Kelloggs Ausgangspunkt ist: »exploring the gender implications of Foucault's observation that >Space is fundamental to any form of communal life; space is fundamental to any exercise of powerbesetzten< Studierzimmer zu tun, in dem die bildliche Repräsentation der Christine mit Minerva, der Göttin des Waffenhandwerks und der Weisheit, diskutiert. In der rechten Bildhälfte sehen wir das architektonische Zitat eines Hauses sowie eine von zwei rotbemützten Männern angeführte Schar von Kriegern. Hier öffnet sich im Medium des Gesprächs über das Kriegshandwerk der Innenraum eines Hauses zum Außenraum des Hundertjährigen Kriegs. Zugleich verbildlicht diese Miniatur einen Wissenstransfer von Minerva zu Christine und damit eine Form des translatio studii von der Antike zum Spätmittelalter.
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Allerdings ist diese vita activa im Erzählkontext der Stadt der Frauen erneut eine vom Intellekt bestimmte Tätigkeit, denn sie besteht in der allegorischen Konstruktion der Frauenstadt aus dem >Bausteinen< der Geschichten exemplarischer Frauenfiguren. Hannah Arendt, »Der Raum der Öffentlichkeit und der Bereich des Privaten«, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt a.M. 2006, S. 420-433, hier S. 422f. Ebd., S. 423. Siehe hierzu: »Christine de Pizan. Das Buch vom Fechten und von der Ritterschaft«, in: Patrimonia 254, hrsg. von der Kulturstiftung der Länder in Verbindung mit der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2005.
Ein Buch mit Folgen
Abb. 4: Christine de Pizan, Le livre des fais dormes et de chevalerie Ms.fr. 603, fol. 21 r.)
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(Paris, BnF,
Deutlich wird auch anhand dieser beiden Miniaturen, dass Raum, wie Ernst Cassirer hervorhebt, von einer ihm zugrundliegenden »Sinnstruktur« abhängig ist und keine »schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur« besitzt, sondern diese Struktur »erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs« gewinnt, »innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht.« 26 Diese Sinnstruktur des Räumlichen bei Christine de Pizan wird allerdings ohne einige Informationen zur Genese der Stadt der Frauen sowie Überlegungen zu deren utopischem Potenzial nicht deutlich genug erkennbar.
Das Buch von der Stadt der Frauen, ein dreiteiliger Prosatraktat, entsteht zwischen Dezember 1404 und April 1405. Zu diesem Zeitpunkt ist die FrankoItalienerin 27 bereits eine in Kreisen des europäischen Adels ebenso anerkannte wie gefragte Schriftstellerin, die 1399 mit Liebesgedichten und Witwenklagen Ernst Cassirer, »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in:, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt a.M. 2006, S. 485-500, hier S. 494. Zu ihren Lebenszusammenhängen und einem Überblick über ihr Gesamtwerk s. Margarete Zimmermann, Christine de Pizan, Reinbek 2002.
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Margarete Zimmermann
debütiert und seitdem zahlreiche Werke zu den Beziehungen von Männern und Frauen, zur Männer- und Frauenbildung und zu den politischen Verhältnissen im Frankreich des Hundertjährigen Kriegs veröffentlicht hatte. Außerdem war sie um 1400 mit dem von ihr entfachten Streit um den Rosenroman in die Öffentlichkeit getreten. 28 Über die Entstehungsumstände der Stadt der Frauen wissen wir nichts, außer dass die Empfanger der beiden kostbarsten Abschriften die Herzöge von Berry und Burgund waren. Die Stadt der Frauen ist heute in zahlreichen, oft aufwändig illuminierten Handschriften überliefert, die zum Teil auch adligen Frauen gehörten und in weiblicher Linie vererbt wurden. Im 15. und 16. Jahrhundert entstehen niederländische und englische Übersetzungen, bevor das Buch dann überraschenderweise in einen Jahrhunderte langen Dornröschenschlaf versinkt, der erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dank der Edition von Maureen C. Curnow 29 beendet wird. In deren Gefolge entstehen 1982-1997 die modernen Übersetzungen ins Englische, Niederländische, Deutsche, Neufranzösische, Katalanische, Spanische und zuletzt ins Italienische und verhelfen Christines Schrift am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer weltweiten Verbreitung. Zugleich findet auf diesem Wege eine Art >Demokratisierung< dieses Buches statt, das erst jetzt ein breites Publikum erreicht. Christine errichtet mit der Stadt der Frauen den Raum einer mittelalterlichen Stadt mit Festungscharakter, und zwar sowohl im allegorischen als auch im architektonischen Sinn. Es handelt sich zunächst um ein Text-Gebäude, ein Buch, dessen Entstehung sich Schritt für Schritt nachvollziehen lässt, eine TextFestung, erbaut aus Bausteinen in Form von beispielhaften Geschichten, die um verschiedene Formen idealer Weiblichkeit kreisen. Zeitgleich mit deren Erzählung in schneller Wechselrede zwischen dem Text-Ich Christine und den drei Allegorien Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Vernunft (Justice, Droiture, Raison) entsteht ein femininer »Wunschraum«, 30 der den »Beginn eines neuen Reiches der Frauen« (»nouvel royaume de femenie« 31 ) in der Nachfolge der
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Zu diesen Zusammenhängen siehe ausführlicher: Margarete Zimmermann, > Wirres Zeug und übles GeschwätzFunktionieren< der Frauenstadt nach bestimmten Regeln. Auf welche Weise ist nun der Zugang zu dieser idealen Stadt geregelt? Tugend (vertu) ist das vorrangige Auswahlprinzip für seine Bewohnerinnen, sozusagen das >Eintrittsbi 11 etTugend< liegt allerdings ein Verständnis zugrunde, das im Mittelalter und ganz besonders bei Christine de Pizan keineswegs jenen »sauertöpfischen Beigeschmack« besitzt, der ihr heute eigen ist, sondern sie war »ein höchst anmutiges, anlockendes und charmantes Wesen«,33 bedeutete ein »dauernd lebendiges, glückseliges Könnens- und Machtbewußtsein zum Wollen und Tun eines in sich selbst und gleichzeitig für unsere Individualität allein Rechten und Guten«34 und kann am ehesten mit der antiken virtus verglichen werden. Wenn wir dies in eine uns vertrautere Begrifflichkeit übersetzen, so ließe sich Christines Tugendbegriff umschreiben mit einer Form höchster Selbstverwirklichung. Die Stadt der Frauen als unzerstörbare Festung, als wehrhafte, zudem kostbar ausgestattete Stadt ist zudem eine Art gesteigertes Amazonenreich, eine Vollendung dieses historischen Entwurfs eines »royaume de femenie«, in dessen Nachfolge Christine sie immer wieder stellt. Allerdings löst sie ihre Idealstadt vollkommen aus allen heterosexuellen Zusammenhängen, denn im Unterschied zu den Amazonen vermehren sich die Bewohnerinnen durch eine Art intellektueller Parthenogenese, das heißt durch die >Anwerbung< weiterer tugendhafter Frauen und über das >Lockmittel Buchgeschlossenen< und einer >offenen< Gruppe der Bewohnerinnen der Stadt der Frauen zu tun: Sie ist geschlossen im Hinblick auf die kanonisierten Frauengestalten in den Katalogen der dames illustres, offen im Hinblick auf die mögliche Perfektibilität eines jeden weiblichen Wesens. Hierfür wiederum spielen die Exempla als Spiegel weiblicher Vollkommenheit eine wichtige Rolle. Der Grundgedanke einer solchen >Auserwähltheit via Tugend< macht ferner und konsequenterweise die normative Regulierung des Gemeinwesens überflüssig. Im Vergleich zu späteren Formen utopischen Denkens ist Pizans Frauenstadt eine extrem abstrakte Form. Aber gerade diese Eigenschaft macht sie extrem widerstandsfähig, geschichtsresistent und bis ins 21. Jahrhundert immer wieder aufs Neue aktualisierbar. Christine hat zudem mit der Stadt der Frauen einen gewaltigen Gedächtnisraum errichtet, ein frühes Archiv und einen Erinnerungsraum 4 0 weiblicher Kultur, die heute bis in zahlreiche Bereiche - Geschichte, Literatur, Musik- und Kunstgeschichte, Theologie - hineinwirken. Dieser Ort weiblicher Memoria antwortet auf die immer noch aktuelle >Gedächtnislosigkeit< weiblicher Kultur. Überhaupt liegt eine Besonderheit der Pizanschen Utopie in ihrer komplexen Zeitlichkeit. Sie zeigt zwar zunächst, wie alle utopischen Entwürfe, Wege aus einer >schlechten< Gegenwart und ist ausgerichtet auf die Wunschzeit, die Vollendung der Frauenstadt in der Zukunft. Zugleich aber bezieht diese Konstruktion ihre Fundamente in erster Linie aus der Vergangenheit: Immer wieder wird in den Dialogen der Stadt der Frauen und in der fast
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Vgl. hierzu Otto Gerhard Oexle, »Utopie«, in: Lexikon des Mittelalters, München 1997, S. 1345-1348, sowie ders., »Wunschräume und Wunschzeiten. Entstehung und Funktionen des utopischen Denkens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne«, in: Die Wahrheit des Nirgendwo: zur Geschichte und Zukunft des utopischen Denkens, hrsg. von Jörg Callies, Loccum 1994, S. 33-83. Zu diesem Genre vgl. Mario Klarer, Frau und Utopie: feministische Literaturtheorie und utopischer Diskurs im anglo-amerikanischen Roman, Darmstadt 1993; Vgl. Bettina Ross, Politische Utopien von Frauen: von Christine de Pizan bis Karin Boye, Dortmund 1998. Der Begriff verweist auf Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.
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ritualisierten Abrufung der Exempla an die Leistungen großer Frauen vergangener Zeiten erinnert, deren Gesamtheit einen gewaltigen Gedächtnisort weiblicher Kultur bildet. Christines Raumutopie findet unterschiedliche >Fortsetzungen< und Realisierungen in Gesellschaft, Literatur und Kunst der nachfolgenden Jahrhunderte, zunächst in den zahlreichen Schriften der Querelle des Femmes, deren Verfasser ebenfalls oft mit räumlichen Vorstellungen arbeiten. 41 Ferner ist an die weiblich geprägten Räume und >Schaltstellen< des Kulturtransfers 42 zu erinnern, an die Höfe und Bibliotheken von Mäzeninnen wie Margarete von Navarra, Margarete von Valois 43 oder der Herzogin Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar. Räume von ähnlicher Bedeutung sind die Salons, wie sie seit dem 16. Jahrhundert in Europa entstehen, Orte der Konversation, der Frauenbildung und des spielerischen Austauschs. In der frühneuzeitlichen Literatur wäre unter anderem an jenen venezianischen Garten zu denken, in dem Ende des 16. Jahrhunderts Moderata Fonte die Gespräche von sieben Venezianerinnen über Das Verdienst der Frauen44 situiert, oder aber an die Bibliothek der Zilia in Françoise de Grafignys Roman Briefe einer Peruanerin,45 Von hier aus lassen sich filigranartige Linien erkennen, Spuren, die zu neuartigen Formen der Kunst-, Musik- oder Literaturgeschichte, der Kanonbildung und zu der Konstruktion neuer Räume des kulturellen Gedächtnisses fuhren: 46 eines lichtdurchfluteten, nach allen Seiten offenen Gebäu-
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Siehe zum Beispiel Titel von Traktaten aus dem 16. Jahrhundert wie Symphorion Chanpiers La Nef des Femmes Vertueuses oder François de Billons Le Fort inexpugnable de ¡(honneur femenin. Zu diesen Fragen vgl. Gesa Stedman, Margarete Zimmermann (Hg.), Höfe - Salons Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neuzeit, Hildesheim und New York 2006. Portraits dieser beiden Mäzeninnen und Autorinnen des 16. Jahrhunderts von Andrea Grewe bzw. Claudia Probst in: Französische Frauen der Frühen Neuzeit. Malerinnen - Mäzeninnen - Dichterinnen, hrsg. von Margarete Zimmermann und Roswitha Böhm, Darmstadt 1999, S. 29-45 und S. 109-127. In Daniela Hackes Übersetzung erschienen bei Beck, München 2001.- Zu dieser Autorin s. Margarete Zimmermann, »Moderata Fönte«, in: Frauen der italienischen Renaissance. Mäzeninnen - Dichterinnen - Malerinnen, hrsg. von Irmgard OsolsWehden, Darmstadt 1999, S. 93-105. Françoise de Grafigny, Briefe einer Peruanerin, hrsg. und übers, von Renate Kroll. Frankfurt a.M. 1998. Generell zu dieser Autorin und ihrem Roman: Rotraud von Kulessa, Françoise de Grafigny. Lettres d'une Péruvienne, Stuttgart und Weimar 1997. Zur Frage einer weiblichen memoria vgl. Margarete Zimmermann, »Literarischer Kanon und Geschlecht. Zum Verhältnis von Literaturgeschichte und weiblicher memoria«, in: Horizonte. Italianistische Zeitschrift für Kulturwissenschaft und Gegenwartsliteratur 1 (1996), S. 41-59.
Ein Buch mit Folgen
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des, eines avantgardistischen Museumsbaus, in dem die Geschichte und das Gedächtnis von Frauen wie von Männern endlich angemessen repräsentiert sein wird. In seinem Eingangsbereich wäre Platz für eine Statue der Christine de Pizan, als Erinnerung an die Inspiratorin einer auf den Dialog der Geschlechter ausgerichteten historischen Kulturwissenschaft - und an ihr ungemein folgenreiches Livre de la Cité des Dames, das Buch von der Stadt der Frauen.
Annette Kreutziger-Herr
History und Herstory Musikgeschichte, Repräsentation und tote Winkel Im November 1933 setzte sich Rose Arnold Powell ihren besten Hut auf, betrat die Eingangshalle des Willard Hotels in Washington D.C., eilte vorbei an Auslagen mit Uhren und Seidentüchern und erreichte schnurstracks ihr Ziel: Das Zimmer von Gutzon Borglum, jenem Bildhauer, der dabei war, am Mount Rushmore Portraits berühmter Amerikaner in den Felsen zu hauen (Abb. 1).
Abb. 1 : Mount Rushmore im Bau Mrs. Powell klopfte an die Tür und kam ohne Umschweife zur Sache: Sie überbrachte eine Botschaft verschiedener Frauenverbände, die vorschlugen, das Antlitz von Susan B. Anthony aufzunehmen, jene überragende amerikanische Feministin, die mit zähem Engagement bis zu ihrem Tod 1906 dafür gekämpft hatte, dass Frauen das Wahlrecht und andere Menschenrechte zugestanden sein mögen. 1 Der Bildhauer, dem sowohl der Fortschritt der Arbeiten als auch der Mangel an Geld Sorgen bereiteten, hörte sich das Anliegen an und begleitete mit einem gebrummelten »Noch einmal darüber nachdenken« Mrs. Powell zur Tür, 1920 wurde durch den 19. Verfassungszusatz in den meisten Staaten der USA Susan B. Anthonys Vision Wirklichkeit.
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die dies als Aufforderung empfand, an der Sache dranzubleiben. Das Engagement schwoll zu einer Kampagne an, und im Wahljahr 1936 setzten sogar Senatoren und Kongressabgeordnete ihren Namen unter einen Gesetzesentwurf, in dem Susan B. Anthony einen Platz auf dem Mount Rushmore erhalten sollte. Aber es kam alles anders: Nach der gewonnenen Wahl ging das Frauenthema im Trubel der Ereignisse unter, in einem Verkehrsunfall wurde Mrs. Powell verletzt und fiel als Aktivistin für das Anliegen aus. Und was noch schwerer wog, die treibende und Geld besorgende Kraft, der Bildhauer selbst, zeigte, dass er von Anfang an kein Verständnis für die Idee gehabt hatte (Abb. 2).
Abb. 2: Gutzum Borglum bei der Arbeit Er schrieb an Eleanor Roosevelt, dass ihm zwar sein Leben lang »sämtliche Formen von Abhängigkeit oder Zweitrangigkeit zuwider« gewesen seien, die »Bei einem Mann, der das Zurechtschnitzen von Bergen als höchst männlichen Akt der Inbesitznahme betrachtete, war es nicht wahrscheinlich, dass er die Einbeziehung von Amerikas berühmtester Suffragette in seine Felsgalerie von Helden begrüßen würde. [...] der Entschluss, der [Borglums] frühe Entwicklung als Bildhauer am tiefsten prägte, war der von Auguste Rodin, den er in seinen Jahren in Paris gut gekannt hatte und der selbst weit davon entfernt war, mit dem Feminismus zu sympathisieren.« Simon Schama, Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, München 1996, S.422f.
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»unseren Müttern, unseren Gattinnen oder unsern Töchtern aufgezwungen wurden«, er hatte aber bei diesem Vorschlag einfach »das Gefühl, dass es ein ganz eindeutiger Übergriff« ist, der »dem besonderen Ziel des Denkmals Schaden zufügen wird.« 3 Die Frage, inwiefern die Präsenz der bedeutendsten amerikanischen Frauenrechtlerin für ein Land, das sich als Wiege der Demokratie begreift, »dem Denkmal Schaden zugefügt hätte«, drängt sich auf. Konnte deshalb kein Frauenkopf aufgenommen werden, weil durch die Aktivitäten von Susan B. Anthony und anderen Frauen deutlich geworden war, dass Thomas Jeffersons Declaration of Independence4 keineswegs allen Amerikanern gegolten hatte, sondern nur den männlichen Weißen, also die Anwesenheit Susan B. Anthonys Thomas Jefferson und die amerikanische Selbsterzählung von »Demokratie für alle« in Frage stellen würde? Oder liegt es eher daran, dass Frauen prinzipiell immer nur sich selbst repräsentieren können, nicht jedoch eine Nation oder etwas Allgemeines, wie die Menschheit? Vielleicht sind es beide Fragen, die erklären, warum jetzt vier Präsidentenköpfe Mount Rushmore zieren und kein anderes Arrangement von nationaler oder historischer Identität spricht. Dass Borglum von der Überlegenheit der »weißen Rasse«, im Gegensatz zu Juden, Asiaten, Negern, wie er ausführte, überzeugt war, dass er die versuchte Ausrottung der Indianer durch die ersten Siedler für kein relevantes historisches Faktum hielt und dass er innerhalb der weißen Rasse ein klares Gefälle von Männern und Frauen sah, soll ebenfalls nicht unerwähnt bleiben wie auch die Ansicht Frank Lloyd Wrights, Mount Rushmore erwecke heute den Eindruck, als habe der Berg auf menschliche Gebete reagiert. 5
Minoritär-Werden, historiographiewürdig sein Ob Frauen als das Sekundärgeschlecht grundsätzlich nicht als repräsentativ für das Ganze - als »verallgemeinerungswürdig« - gelten oder ob das Problem eher die Mischung der Repräsentanzen ist, ist nicht ausgemacht. Dass die Taxonomie westlicher Kultur männlich geprägt ist, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz der Kulturwissenschaften, den der Philosoph Gilles Deleuze mit dem Begriff des
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Ebd., S. 421. »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed
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[-]« Schama, Traum, S. 428f.
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Minoritär-Werdens fasst. 6 Die Mehrheit ist in seiner Lesart von Kultur männlich - und männlich wird nicht, männlich ist. Frauen, so Deleuze, sind immer die Minderheit, egal, wie hoch ihre Zahl ist. Das Normale, so Deleuze, wird nicht, es ist. Das Weibliche hingegen ist immer im Werden. Deleuze bezeichnet deshalb Frauen konsequenterweise als eine kulturelle Gruppe, die immer in der Minderheit ist - ein Subsystem innerhalb eines patriarchalen Systems. 7 Unter dieser Prämisse verschwinden Frauen in der postulierten Einheit von Geschichte als minoritäres Element und sind nicht historiographiewürdig, im Kern also nicht geschichtsmächtig und des Erinnerns wert. Der Status des Minoritären - und damit des Nicht Repräsentativen - und die Historiographiewürdigkeit sind aneinander gekoppelt. So kann es nicht verwundern, dass der Mangel an Repräsentationspotential ein Ergebnis ist von universal gedachten, ahistorischen Geschlechterdefinitionen mit ihren inhärenten Hierarchien und Legitimationsmustern - und es folgt daraus, dass allein ein Abschied von universal gedachten Geschlechterdefinitionen Chancen eröffnet, das Weibliche aus dem toten Winkel zu holen, die Geschichtsmächtigkeit auch methodologisch zu untermauern und mit historischer Aufarbeitung eine Annäherung zu wagen an Momente, in denen Geschlechterdefinitionen an der Peripherie oder im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen standen. 8 Wesentliche Momente historischer Auseinandersetzungen um Geschlechterzuschreibungen sind die Querelles des Femmes, die seit dem späten 14. Jahrhundert aufflammen und als europäische Geschlechterdebatten eine Diskursivierung von Weiblichkeit bedeuten. Es ist allein das Nicht-Repräsentative, das als Vehikel geeignet ist, den Konstruktionscharakter des Repräsentativen ans Licht zu befördern. Christine de Pizan erschließt für das Weibliche um 1400 eine erste, historiographisch motivierte Antwort. Sie bezieht sich hierbei auf Boccaccios Darstellung und Sammlung berühmter Frauenportraits De claris mulieribus (1361-1375), die seinerseits die berühmte Sammlung großer Männerportraits von Francesco Petrarca De viris illustribus zum Vorbild hatte (Abb.3).
Gilles Deleuze, »Philosophie et minorité«, in: Critique 369 (Februar 1978), S. 154f. Ein analytischer Kommentar von Rosie Braidotti zu Deleuzes Konzept des Minoritär-Werdens ist das Kapitel »Deleuze and the Becoming-Minority of Women« in: Rosie Braidotti, Patterns of Dissonance: A Study of Women in Contemporary Philosophy, New York 1991, S. 108-123. Vgl. Christiane Eifert u.a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a.M. 1996, S. 8f.
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Abb. 3: Penthesilea aus De claris mulieribus. Deutsche Inkunabel von Johann Zainerund Heinrich Steinhöwel, erschienen 1473.
Boccaccios 106 neulateinische Portraits berühmter Frauen aus der Antike fungierten vom Ende des 14. bis zum 16. Jahrhundert als Nachschlagewerk für antikes, mythologisches Wissen. Ein Kompendium, das für die unterschiedlichsten Autoren und Diskurstypen Material und Argumentationsstrategien bereithielt, die nur sekundär vom Interesse an den klassischen Studien bestimmt waren.9 Denn das Frauenbild, das De claris mulieribus vermittelt, ist ambivalent. Man findet hier sowohl frauenfeindliche topoi und gesellschaftliche Binsenweisheiten wie das Lob von Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes im Witwenstand bleiben, als auch ein Herausarbeiten der historischen Bedeutung von Frauen, die zu dem aus Boccaccios Sicht ansonsten flatterhaften und schwachen Geschlecht als Ausnahmeerscheinungen und Ideale vorgestellt werden. So liegt der Nutzen und die historische Bedeutung von Boccaccios Sammlung in dem Fundus, den der Text bereitstellt: Es macht die unsichtbare Geschichte weiblichen Handelns sichtbar und kann für Christine de Pizan zur Voraussetzung ihrer Stadt der Frauen werden, in denen die Stärken der Frauen unterstrichen und profiliert werden. Gemeinsame Anthologien großer Männer und Frauen sind weiterhin nicht in Sicht. Giovanni Boccaccio, De claris mulieribus, Nachwort von Irene Erfen und Peter Schmitt, Leipzig 1995, S. 262. Die Gebrauchskontexte der Schrift reichen von der gelehrten humanistischen Literatur über Ehedidaxe, Schauspielvorlagen, Moralliteratur bis hin zur Satire und Karikatur.
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Separate Anthologien sind ein Teil der Querelles des femmes,10 die in Martin Le Francs Le Champion de Dames (1440) als Begriff zuerst benannt werden, deren Anfange aber im Diskurs um den Rosenroman (um 1400) liegen und sich um zentrale Geschlechterfragen drehen. Christine de Pizan ist die erste Frau, die an dieser Debatte beteiligt ist. Margarete Zimmermann schreibt: Christine errichtet mit der Stadt der Frauen den Raum einer mittelalterlichen Stadt mit Festungscharakter, und zwar sowohl im allegorischen als auch im architektonischen Sinn. Es handelt sich zunächst um ein Text-Gebäude, ein Buch, dessen Entstehung sich Schritt fiir Schritt nachvollziehen lässt, eine Text-Festung, erbaut aus Bausteinen in Form von beispielhaften Geschichten, die um verschiedene Formen idealer Weiblichkeit kreisen. Zeitgleich mit deren Erzählung in schneller Wechselrede zwischen dem Text-Ich Christine und den drei Allegorien Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Vernunft (Justice, Droiture, Raison) entsteht ein femininer >WunschraumBeginn eines neuen Reiches der Frauen« (>nouvel royaume de femenie< ) in der Nachfolge der Amazonen markiert. Immer wieder wird bei der Entstehung dieses Konstrukts die allegorische mit der real-konkreten Ebene verbunden. Zugleich vollzieht (das Text-Ich) Christine den Übergang von einem weiblichen Mikro- zu einem Makro-Raum: Zu Beginn der Stadt der Frauen inszeniert sie sich als Intellektuelle in ihrem Studierzimmer, und im Dialog mit den drei Tugendallegorien Vernunft, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Dem entspricht als Abschluss der große Raum der Stadt, die den Frauen aller Zeiten übergeben wird. Sie baut eine Cité des Dames auf Boccaccios Sammlung von Frauenportraits auf, und auch ihre literarische Stadt wird allein von Frauen bewohnt. Ausgangspunkt fiir ihre Schrift ist die Auseinandersetzung mit der frauenfeindlichen Literatur des 14. Jahrhunderts, und ihre Frauenportraits sollen der misogynen Literatur ihrer Zeit kontrapunktisch gegenüber gestellt sein. Sie sieht einen Mangel an weiblicher Präsenz im kulturellen, gelehrten Dialog ihrer Zeit: Allzu lange schon stehen die edlen Frauen ganz allein, sind ungeschützt wie ein Feld ohne Hecke, ohne einen Kämpfer, der sich ihrer Sache in angemessener Weise Vgl. Margarete Zimmermann, »Querelle des Femmes«, in: Renate Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies - Geschlechterforschung, Stuttgart und Weimar 2002, S. 329f. Alfred Dören, »Wunschräume und Wunschzeiten« (1927), in: Utopie und Begriff des Utopischen, hrsg. von Amhelm Neusüss, Neuwied und Berlin 1968, S. 123-177. Christine de Pizan, Das Buch von der Stadt der Frauen, hrsg. und übers, von Margarete Zimmermann, Berlin 1986, München 1990, S. 148; Christine de Pizan, La città delle dame/La cité des dames, hrsg. von Patrizia Caraffi und Earl Jeffrey Richards, Rom 1998, S. 250. Siehe den Beitrag »Ein Buch mit Folgen: Christine de Pizans Stadt der Frauen«, von Margarete Zimmermann im vorliegenden Band.
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annähme; von Rechts wegen hätten sie eigentlich die Edelleute verteidigen müssen, aber sie haben es aus Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit geduldet, dass man mit den Frauen übel umsprang. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, wenn ihre missgünstigen Gegner und die hämischen Finsterlinge, die auf die Frauen alle möglichen Pfeile abgeschossen haben, diesen Krieg für sich entscheiden konnten, fehlte es doch ganz einfach an einer angemessenen Verteidigung. Welche Stadt, ganz gleich, wie stark ihre Befestigungen sind, ließe sich nicht einnehmen, wenn es an Widerstand mangelt? Und welcher noch so eindeutig zu entscheidende Streitfall würde, bei Abwesenheit der Gegenpartei, nicht von demjenigen gewonnen, der den Prozess ohne Gegenspieler führt? Dass Anthologien aus der Verteidigungsposition heraus zusammengestellt und publiziert werden, ist an vielen Stellen deutlich, ein weniger bekanntes, aber für die Musikgeschichtsschreibung interessantes Beispiel ist Georg Christian Lehms' Anthologie Teutschlands Galante Poetinnen. Mit ihren sinnreichen und netten Proben}5 Der Romanautor, Hofbibliothekar und Hofpoet Georg Christian Lehms (1684-1717) publiziert 1715 eine Sammlung von Textproben und kurzen biografischen Notizen zu 111 deutschen und 166 ausländischen Dichterinnen der verschiedensten Epochen, wobei er in einer umfangreichen Vorrede auf 88 Seiten gelehrte Frauen aller Fachrichtungen vorstellt und berühmten Theologinnen, Juristinnen, Ärztinnen, Philosophinnen, Mathematikerinnen, Astronominnen, Arithmetikerinnen, Rednerinnen, Malerinnen, Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen und Musikerinnen namentlich nennt. Er führt auf neun Seiten die verschiedensten mit Musik vertrauten Frauen aus Geschichte und Gegenwart an und konzentriert sich dabei auf Komponistinnen, Sängerinnen und Instrumentalistinnen. Die Informationen untermauert er mit Fußnoten und Belegen, die seinem Werk eine solide Materialbasis geben sollen: 5. Margaretha Carthauserin/eine Nümbergische Nonne/welche 8 Musicalische ChoralBücher geschrieben/so in der Stadtbibliothek zu Nürnberg noch im Manuskript gezeigt werden. (Paullin. l.c.p.l lOO.it.Saubertus Otat.II. de Bibliothek Norimb.p.95) 12. Sophia Elisabeth, Herzogin zu Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzogs Augusti dritte Gemahlin, so als Wittib auf dem Schloß Lüchow ihre meiste Zeit mit Musicalischer Composition zugebracht, in welcher Wissenschaft sie hocherfahren gewesen. (97: Johann Hübner in seinen kurzen Fragen aus der Politischen Historie, p. 265, T. VI.). Sie hat über eines Pommerischen von Adel sehr schlechte Lieder gute Melodien gemacht. (98: Vid. Specimen, Historico-Critcae de poesie Germ.)
Christine de Pizan, Das Buch von der Stadt der Frauen, übersetzt und kommentiert von Margarete Zimmermann, Berlin 1986, S. 42. Georg Christian Lehms, Teutschlands Galante Poetinnen. Mit ihren sinnreichen und netten Proben, Frankfurt a.M. 1715.
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Annette Kreutziger-Herr 13. Maria Amalia, Herzogin von Sachsen-Zeiß, so sich zuweilen gleichfalls in der Composition geübet, und von dero hohen Arbeit ich einstens selbst eine Ouvertüre zu hören glücklich gewesen bin. 24. Friderica Margaretha Töpferin aus Wolfenbüttel, die ich mit Verwunderung und ohne allen Anstoß den schwersten General-Baß habe wegspielen hören.
Aber sein Projekt ist nicht allein eine Frauen-Anthologie. Schon der Untertitel seines Buches ist Programm: »Nebst einem Anhang ausländischer Dames, so sich gleichfalls durch schöne Poesien bey der curieusen Welt bekannt gemacht, und einer Vorrede, dass das weibliche Geschlecht so geschickt zum Studieren als das Männliche.« Lehms reiht sich mit seinem Werk ein in die Kette derjenigen Männer, die für die Menschenwürde und Gleichberechtigung von Frauen argumentiert haben. Dabei läuft Lehms Anthologie als Beitrag zur Geschlechterdiskussion parallel zu den Ideen seines Zeitgenossen Poullain de la Barre (1647-1723). Dieser hatte in seinem Werk De l'Egalité des deux Sexes (1673) die Frage zu klären gesucht, wie es dazu hatte kommen können, Frauen als minderwertige Menschen darzustellen. Die natürliche Gleichheit der Geschlechter sei durch geschichtliches Wirken aus dem Gleichgewicht geworfen, da sich im Laufe der Geschichte eben leider nicht die Vernunft, sondern la loix du plus fort durchgesetzt habe. Lehms argumentiert im Vorwort seiner Anthologie auf kulturphilosophische Weise, wendet sich ebenfalls gegen eine biologistische Argumentation und fordert Eltern auf, beide Geschlechter gleichermaßen zu fordern: [...] es erhellet aber nunmehro sattsam und ist einem jeden bereits in die Seele geschrieben: dass dem weiblichen Geschlechte an Tapferkeit, Klugheit, Gelehrsamkeit und andern Haupt-Tugenden gar nichts fehle. Kann man gleich keine so große Anzahl derselben anfuhren, als der Männer, so kann ihnen deßwegen doch nicht der billige Ruhm abdisputiret werden. Denn, dass viele schöne Ingénia nicht zu der Vollkommenheit gelangen, als sie gelangen könnten, ist niemand anders als der leydigen Missgunst oder einem absurden Praejudicio der Eltern zu zuschreiben.
Sich-Wundem über die Geschichte Die separierten und separierenden Anthologien verweisen auf die hierarchisierende Erzählung von Geschichte, die als Ganzes nur männlich gedacht werden kann und die als Erbe männlicher Herrschaft, wie Pierre Bourdieu analysiert, eine zirkuläre Darstellung geschichtsmächtigen Tuns ist. Männliche Herrschaft,
Interpunktion und Rechtschreibung wurden in den Zitaten der besseren Lesbarkeit halber leicht angepasst. Zitat: ebd., S. b4v/b5r.
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so Bourdieu, scheint für die Gesellschaft »in der Natur der Dinge« zu liegen und ist im Habitus aller präsent, als universelles Prinzip des Sehens und Einteilens, ein System von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien. Auch im Historiographischen. 17 Und zwar durch das Postulat einer Einheit der Geschichte, in der allein männliches Tun als repräsentativ und erinnerungswürdig gilt. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Geschichte ist also ein Aufbrechen dieser vermeintlichen einheitlichen Geschichte, in der allein das kulturelle Handeln von Männern relevant erscheint, ein historiographisches Mittel, um die Vielfalt historischen Tuns zum Vorschein zu bringen. Karin Hausen analysiert beispielhaft Schillers Antrittsvorlesung »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte« von 1789 und arbeitet heraus, dass Schiller allein Männer meint, wenn er sagt: »Zu den Menschen eben redet Geschichte«. Das »fraglich Allgemeine der allgemeinen Geschichte« mündet in die »wirkungsmächtige Fiktion einer Einheit der Geschichte«, in der geschichtsmächtig erinnerungswürdig, darstellenswert, anerkennend - allein männliches Wirken im Sinne einer gesellschaftlich-öffentlichen Relevanz wird. »Alle Menschen werden Brüder«. Weiterdenkend schlägt Hausen vor, statt der »bisherigen Einheit die Vielfalt der Geschichte als wohldurchdachtes, historiographisches Programm« 18
auszugestalten. Dabei gehe es darum, bisher ausgegrenzte und abgedrängte Bereiche, die nachgeordnet seien, zum Zuge kommen zu lassen: Bislang hat die geschichtswissenschaftliche Favorisierung bestimmter Analyse- und Deutungskonzepte große Bereiche möglicher Geschichte konsequent zum Verschwinden gebracht oder zum allenfalls sinnigen Beiwerk degradiert. Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Geschichte wurde beiläufig mitentschieden, bestimmte Bereiche, die zweifellos zur Geschichte gehören, gleichsam dem Naturzustand anheimzugeben. Obwohl diese hierarchisierenden historiographischen Ordnungsverfahren schon längst ihre ideologische Legitimierung eingebüßt haben, funktionieren sie in der Praxis der Geschichtsforschung und Geschichtsübermittlung weiter, ohne prinzipieller Kritik ausgesetzt zu sein.
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Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M. 2005. Karin Hausen, »Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte«, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, hrsg. von Hans Medick und Anne-Charlott Trepp, Göttingen 1998, S. 1555, hier: S.35. Hausen, »Die Nicht-Einheit der Geschichte«, S. 54.
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Wie kann der Einstieg in eine andere Form der Geschichtsschreibung beginnen? In dem Sich-Wundern. Genau dies fordert Hartmut Böhme in seiner Definition von Kulturwissenschaft. »[...] eine Grundausbildung im Sich-Wundern«. Diese Forderung zielt auf Abenteuergeist, auf Neugier und Entdeckungslust, SichWundern meint Selbstreflektion, es ermuntert etwas Erlebtes oder etwas Erfahrenes unter dem Blickwinkel des Nicht-Selbstverständlichen zu betrachten. Dieses Denk-Training fuhrt dazu, Mount Rushmore beispielsweise - eine Wand mit vier markanten Herrenköpfen - weder anzubeten noch die Auswahl der vier Herrenköpfe für repräsentativ zu halten, sondern zu fragen, wie es zu diesen vier Köpfen kommen konnte, welche Funktion die »weiße Versessenheit auf sichtbaren Besitz, auf das Hinterlassen sichtbarer Zeichen, auf das Zurecht20
schneiden von Bergen auf den Maßstab eines menschlichen Kopfes« im Kulturkontext einnimmt, welche Bilder von Nation und Vaterland befördert und welche dadurch unterdrückt werden (z.B. die Erinnerung an die Sklaverei, die Tatsache, dass die Unabhängigkeitserklärung nur Männern gegolten hatte oder auch die versuchte vollständige Ausrottung der Indianer). Die Elementarfragen danach, was man in einem bestimmten Medium (Schrift oder Bild, Film oder Handschrift, Noten, Aufnahmen) überhaupt vor sich hat, leiten über zur Aufmerksamkeit auf das »Gemachtsein« von allem, worauf der analytische Blick fällt. Kulturen sind Taxonomien, und gendersensible Geschichtsforschung fragt danach, inwiefern Geschlechterbeziehungen Repräsentationen sind.
Metahistory und Geschichte als Story seit dem 19. Jahrhundert Wenn das Geschlecht weniger mit Natur und mehr mit Kultur zu tun hat, rücken Auslesemechanismen in den Mittelpunkt, und zentrale Auslesemechanismen im Kulturbereich sind Erinnerung und Wissen. Historiographie entscheidet über Erinnerungswürdigkeit und Erinnerungsfähigkeit und ist geprägt von Sprachmustern und sprachlichen Tropen, wie Hayden Whites Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa beschreibt. In seinen Textanalysen, die in erster Linie dem sprachlichen Ausdruck gewidmet sind, entfalten sich seine Thesen. Mit einer Beschreibung verschiedener Ebenen von historischer Darstellung unternimmt White das Schreiben einer Geschichte des europäischen Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert, während seine Untersuchung gleichzeitig ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion über das Problem 21 der historischen Erkenntnis ist. Er nähert sich den Schreibstilen der vorge20
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Schama, Traum, S. 429. Hayden White, Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe, Baltimore und London 1973. Deutsche Ausgabe: Metahistory. Die histo-
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stellten Historiker und arbeitet ihren Beitrag zur Diskussion heraus, wie über Geschichte zu schreiben sei, die er als »Auseinandersetzungen über stilistische 22
Variationen innerhalb eines einzigen Diskursuniversums« deutet. Die Untersuchung Hayden Whites hat eine lebhafte Diskussion unter Historikern ausgelöst, die andauert und in die Debatten um den linguistic turn und die Krise der Geschichtswissenschaften eingeflossen ist. Das Buch erschien 1973 und hat in den achtziger und neunziger Jahren, in denen die Debatten um Postmoderne und Dekonstruktion eine gründliche Auseinandersetzung mit White 23 vorbereitet hatten, zu zahlreichen kritischen Reaktionen gefuhrt. Den Beginn machte 1975 eine detaillierte Rezension von John S. Nelson, 24 gefolgt von einem Beiheft der einflussreichen historiographischen Zeitschrift History and Theory. Studies in the Philosophy of History, das25 1980 als Ergebnis einer Konferenz über Hayden Whites Metahistory erschien. Als 1987 die gesammelten Aufsätze Whites aus den Jahren 1979 bis 1985 in dem Buch The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation'6 veröffentlicht wurden, folgte eine weitere Welle der Auseinandersetzungen. Sämtliche kritischen Beiträge haben zwar einzelne Details von Whites Position relativiert, jedoch den Kern seiner These nicht berühren können. Die Debatten u m Metahistory haben vielmehr verdeutlicht, dass Geschichte eine Story ist, die gegenwartsbezogen erzählt und tropologisch konstruiert ist. »Dass Geschichtsschreibung durch die Gegenwart, in der die Historiker leben, mitgeprägt wird, ist ein Gemeinplatz, an
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rische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1994, S. 15. White, Metahistory, S. 554. Als kleine Auswahl aus den neunziger Jahren vgl. z.B. Nr. 24 (1993) der italienischen Zeitschrift Storia della Storiografia mit Beiträgen von Hermann W. von der Dunk, Nancy S. Struever, J. L. Gorman, Hans Kellner, Mark Philipps, Ann Rigney. Vgl. ferner Nr. 25 (1994) mit Beiträgen von Susan A. Crane, Wolfgang Ernst, Wolfgang Weber. Ferner folgen- und einflussreich: Oskar Köhler, »Im Hiatus der Geschichte«, in: Saeculum 43, Nr. 2/3 (1992), S. 256-272, C. Behan McCullagh, »Metaphor and Truth in History«, in: Clio 23, Nr. 1 (1993), S. 23-49, »On the Historicity of High Culture«, in: Journal of the History of Ideas 55, Nr. 1 (1994), S. 159-173, Wulf Kansteiner, »Hayden White's Critique of the Writing of History«, in: History and Theory 32, Nr. 3 (1993), S. 273-295, Paul A. Roth, »Hayden White and the aesthetics of historiography«, in: History of the Human Sciences 5, Nr. 1 (1992), S. 17-35. John S. Nelson, »Rezension von White, Metahistory«, in: History and Theory 14, Nr. 1 (1975), S. 74-91. History and Theory. Studies in the Philosophy of History, Vol. 19, Nr. 4 (1980), Beiheft 19. Hayden White, The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore und London 1987. Deutsche Ausgabe: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1991.
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32 dem fügt dass dass
niemand zweifelt«, bemerkte in den 1970er Jahren schon Carl Dahlhaus und einschränkend hinzu, dass dieser Gemeinplatz »keineswegs besagen muss, die Vergangenheit verzerrt und umgefärbt werde. Er kann auch bedeuten, nicht jede Einsicht in jedes Stück Vergangenheit zu jeder Zeit möglich 27
ist.« Welches Gegenargument wird vorgebracht, wenn man mit kulturwissenschaftlichem Werkzeugkasten, auf Hayden Whites Überlegungen zur Geschichtsschreibung in Metahistory aufbauend, die Musikgeschichtsschreibung Europas unter Genderblickwinkel auf ihren Konstruktionscharakter hin durchleuchtet und Auslesemechanismen und Kriterien am Beispiel weiblicher Handlungsfelder analysiert? Musikgeschichte, eine Nicht-Einheit? 1838 bittet Robert Schumann zeitgenössische Komponistinnen für ein Sonderheft der Neuen Zeitschrift für Musik um Beiträge, unter anderem auch Johanna Mathieux, spätere Kinkel, die die Gelegenheit nutzt, um dem Stereotyp der »Damenkomposition« nicht zu entsprechen. Sie reicht ein Trinklied für Männerchor ein und schreibt an Schumann: Da Sie mir mittheilen, dass das nächste Heft mehrere Beiträge von Damen enthalten und also vermuthlich das Sanfte, Zarte, mehr darinnen vorherrschen wird, so habe ich ein anderes Genre diesmal gewählt, weil ich glaubte, es würde ihnen nicht unlieb seyn, wenn ein bisschen Schatten auf diese Mondlichter fiele.
Was Schumanns Motive für ein »Damenheft« gewesen sein mögen und ob Separation oder Integration der Wahrnehmung von Komponistinnen mehr dienlich ist, ist nicht die Frage. Das herausgegriffene, nicht von feiner Ironie freie Beispiel ist eines von vielen, die zeigen, dass die Separierung von männlichen und weiblichen künstlerischen Aktivitäten ein übliches Denkmuster ist. Zu dieser Einsicht haben musikwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung neben strukturalistischen, sozialgeschichtlichen, phänomenologischen und semiotischen Ansätzen seit etwa dreißig Jahren beigetragen und zu anderen Einsichten 29 in Aspekte der Vergangenheit geführt. Historiographische Prämissen durch-
Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977, S. 170. Ann Willison Lemke, »Robert Schumann und Johanna Kinkel: Musikalische Stimmen der Revolution 1848/1849«, in: Umbruch der Kulturen - die europäischen Revolutionen von 1848/1849, Berlin 2000, S. 179-196, hier: S. 181. Für einen Überblick vgl. Sigrid Nieberle und Eva Rieger, »Frauenforschung, Geschlechterforschung und (post-) feministische Erkenntnisinteressen: Entwicklungen der Musikwissenschaft«, in: Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, hrsg. von Hadumod Bußmann
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ziehen musikvermittelnde Literatur. Dass jedoch im 20. Jahrhundert, nach gesellschaftlichen und historischen Umbrüchen, nach Wellen weiblicher Emanzipation und der Auflösung scheinbar natürlicher Weiblichkeitsstereotype,30 nach rechtlicher Gleichstellung und methodisch radikal geänderter Perspektiven, nach Jahrzehnten historiographischer Reflexion, intensiver historischer Debatten und einer Fülle an historischer Aufarbeitung einer weiblichen Musikgeschichte weiterhin in zentralen Publikationen Frauen unsichtbar bleiben, verwundert und kann heute nur als defizitäre Musikgeschichtsschreibung gelten. Die Abwesenheit von Frauen im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft fallt hier ebenso auf (weder in den Kapiteln »Spätzeit der musikalischen Moderne«, noch in den Teilen über »Pluralistische Musikkultur« oder »Sprach- und Klangkomposition«) wie die Abwesenheit von Komponistinnen in den cremefarbenen MusikKonzepte-Bänden, die seit Jahren das Selbstverständnis deutscher Musikgeschichtsschreibung in der Adorno-Nachfolge prägen. Kein einziger Band ist einer Komponistin gewidmet - Germaine Tailleferre, Lili Boulanger, Myriam Marbe, Sofia Gubaidulina, Adriana Hölszky, Olga Neuwirth, Isabel Mundry, um einige Namen zu nennen - aber nein, nicht ganz. Ein lilafarbener Band, ausgewiesen als Sonderausgabe, ist Fanny Hensel gewidmet. Dass Frauen als Komponistinnen/Musikerinnen nicht integrierbar sein sollen in »normale« Darstellungen von Musikgeschichte, ist weiterhin eine unausgesprochene Prämisse und verbindet in bemerkenswerter Kontinuität als separierende Geschichtsschreibung historiographische Zugänge des 20. Jahrhunderts mit Beispielen der frühen Neuzeit. Als wären weiterhin nur separierende Anthologien denkbar. Die Musikgeschichtsschreibung Europas schließt zudem explizit seit den Zeiten Kiesewetters und Ambros' musizierende Frauen aus dem historiographiewürdigen musikalischen Kanon aus. Sowohl Kompositionen von Frauen als auch das musikgeschichtliche Handeln von Frauen kommen in der Erzählung europäischer musikalischer Entwicklung nicht vor. Wie Elena Ostleitner in einer Untersuchung an österreichischen Schulbüchern festgestellt hat, ist die »Musik« sogar 31 auf anderen Ebenen männlich. Es sind Männer, die Bilder von Orchestern und Kammermusikformationen illustrieren, deren Lebensläufe ausführlich geschildert werden, deren Biographien Muster vorgeben. Braucht der Nachweis, dass die Musikgeschichte Europas in der historiographischen Repräsentation und Darstellung männlich ist, wirklich noch weitere Belege? Aber Musikwissenschaft erforscht das vom Menschen hervorgebrachte kulturelle Produkt und Renate Hof, Stuttgart 2005, S. 262-294. Vgl. Therese Frey Steffen u.a., »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, S. 9-17. Elena Ostleitner, Ist die Musik männlich? Die Darstellung der Frau in den österreichischen Lehrbüchern für Musikerziehung, Wien 1991.
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>Musik< und begreift Musikgeschichte im 21. Jahrhundert als kulturelles Handeln. Sie untersucht medial vermittelte Handlungs- und Konfliktformen, identifiziert deren Werte- und Normenhorizonte und erforscht die Bedeutung, die Geschlechtszuschreibungen für die Musikgeschichte haben. Sie entwickelt Theorien der Musikkultur(en) und materiale Arbeitsfelder, die historisch wie systematisch untersucht werden. Und Musikwissenschaft nimmt Vermittlung und Wissensbestände in den Blick. So ist eine der musikhistorischen Pioniertaten einer Annäherung einer Herstory an die History die siebte Auflage von A History of Western Music von Grout/Palisca, die von Peter Burkholder überarbeitet wurde und, wie auch ihre Vorgängereditionen, an den meisten angelsächsischen Colleges und Universitäten als Basis- und Referenzmusikgeschichte eingesetzt ist. Burkholder platziert Frauen in der Musikgeschichte, bzw. thematisiert die Abwesenheit von Frauen. Die Tatsache, dass Frauen nicht zur Chorausbildung in der Renaissance zugelassen waren und daher von einer kirchlichen oder hö32
fischen Karriere von vornherein ausgeschlossen wurden, wird ebenso erwähnt wie im Zusammenhang einer Diskussion des italienischen Madrigals auf gemischte Ensembles verwiesen und auf die aus männlicher Perspektive formulierten Texte hingewiesen ist. Und dann widmet sich der Text Vittoria Colonna, Veronica Franco und Gaspara Stampa, die als Dichterinnen im 16. Jahrhundert tätig waren. Als Beispiel für eine Komponistin des 16. Jahrhunderts wird Maddalena Casulana vorgestellt. Im Anschluss an eine Präsentation der Biografie und ihres Madrigalbuches von 1568 widmet sich der Text weiblichen Ensembles, den von Alfonso d'Este begründeten Concerto delle donne - und geht dann über zu einer Würdigung des Madrigals im Wandel von geselliger Musik, die zur Unterhaltung der Sänger gedacht ist, hin zu einer Konzertmusik, 33 die einem Publikum gefallen soll. Sogar im Kapitel zu deutschen Komponisten des Spätbarocks gelingt es Burkholder, Anna Amalia (1723-1787), die Schwester von Friedrich dem Großen, als Cembalistin, Organistin, als Komponistin von Vokal- und Instrumentalmusik und Sammlerin von Musikalien zu würdigen. Auch die Nichte Anna-Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar (17391807) als Pianistin, Komponistin und Mäzenin für Musik und Literaturproduktion wird genannt. Diese erwähnten Frauen sind nur Beispiele für den Versuch einer anderen Form von Historiographie. Leerstellen werden deutlich gemacht, das Leitmotiv kulturellen Handelns zieht sich durch die Darstellung von Musikgeschichte, Konstruktionsprinzipien und historiographische Tropen werden bloßgelegt. 34 Das beobachtende und beschreibende Individuum ist nicht
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J. Peter Burkholder, Donald J. Grout, Claude V. Palisca, A History of Western Music, New York 720 06, S. 156. Ebd., S. 252. Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur
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nur hier in das Blickfeld gerückt, das Individuum, das erzählt und mit seiner Sprache Geschichte(n) erzählt und Geschichte baut. Und dieses Individuum hat im 21. Jahrhundert nicht nur andere historische Kenntnisse und einen deutlich erweiterten Materialbestand zur Verfugung, sondern auch andere Fragen.
History und Herstory: Zwei Nahaufnahmen Wie die Herstory die History bereichert, wie die Schärfung des Blicks auf Frauen im historischen Kontext nicht separierend, sondern integrierend zu einer anderen Lesart von Geschichte fuhren kann, sollen zwei Nahaufnahmen zeigen. Im ersten Fall wird die Anreicherung der kanonisierten und historiographisch nobilierten Figur »Mozart« als Beispiel gewählt, im zweiten Fall der Komplex »Historische Auffuhrungspraxis« als Beispiel für ein Diskursfeld vorgestellt, in dem eine mögliche andere Perspektive die Kontextualisierung und argumentativen Muster Historischer Auffuhrungspraxis im 20. Jahrhundert in ein neues Licht stellt und als Baustelle historischer Forschung, nicht als abgeschlossene Geschichte herausgearbeitet werden kann. Die unter den Prämissen der Gendermethodik postulierte Einheit der Geschichte wird durch eine Änderung des Blickwinkels die Komplexität historischer Faktizität erhellen und gleichzeitig Kategorisierungen von Musikgeschichtserzählung entlarven. Zugleich bleibt der Konstruktcharakter von Geschichtserzählung deutlich - der Inhalt der Musikgeschichtserzählung verschiebt sich phasenweise.
Wolfgang Amadeus Mozart und die musikalische Professionalisierung von Frauen im 18. Jahrhundert Mozart hat mehr als zwanzig Konzerte für ein Klavier und Orchester komponiert, und zwar den größten Teil in der Wiener Zeit von 1782-1791. Das Klavierkonzert, wie es heute als Gattung den Kanon musikalischer Formen bewohnt, ist undenkbar ohne Mozart, seine Klavierkonzerte sind in doppeltem Sinne 35
tatsächlich exempla classica. Mit seinen Klavierkonzerten formte Mozart aus der im Wien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch jungen und unbekannten musikalischen Gattung einen bedeutenden Faktor für das Wiener Musikleben. Besonders in den Wiener Klavierkonzerten zeichnet sich eine künstlerische Strategie ab: Stück für Stück lotet Mozart das Verhältnis von Tropologie des historischen Diskurses (= Sprache und Geschichte 10), mit einer Einleitung von Reinhart Koselleck, Stuttgart 1991. Martin Geck, Mozart. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 339-361.
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Klavier und Orchester aus, die Klavierkonzerte sind durchweg keine Auftragswerke, sondern Experimentierfelder und kompositorische Aussagen eines Komponisten sind, der weiß, dass er mit »superieuren Talenten« gesegnet ist und als freischaffender Künstler in der Welt seine eigene Stimme erhebt. In seinem berühmt gewordenen Brief an seinen Vater lässt Mozart anhand der ersten Wiener Klavierkonzerte eine Strategie aufleuchten, die bereits vorher, im EsDur-Konzert von 1780, umgesetzt wurde, die er aber jetzt erst formuliert, am 28. Dezember 1782: Die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht - sind sehr Brillant - angenehm in den ohren - Natürlich, ohne in das Leere zu fallen - hie und da - können auch kenner allein satisfaction erhalten - doch so - dass die nichtkenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum. - um beyfall zu erhalten muss man Sachen schreiben, die so verständlich sind, das ein fiacre nachsingen könnte, oder so unverständlich - dass es ihnen, eben weil es kein vernünftiger Menschen verstehen kann, gerade eben deswegen gefällt... Ich hätte Lust ein Buch - eine kleine musicalische kritick mit Exemplen zu schreiben [...]
Ein Buch über Fragen des musikalischen Geschmacks hat Mozart nie geschrieben - aber wenn man die Klavierkonzerte unter diesem Blickwinkel betrachtet, kommt man zu interessanten Ergebnissen. In einem Überblick über seine Klavierkonzerte kann man kompositorische Strategien herausarbeiten, mit denen Mozart arbeitet, die Gattung systematisch formt und immer auch das Verhältnis von Künstler und Publikum symbolisch überhöht zu Musik werden lässt, anhand der Beziehung von Klavier und Orchester. Martin Geck, Peter Gülke und andere haben diesen Prozess anschaulich nachgezeichnet. Das Es-Dur-Konzert entsteht noch in Salzburg, ein Jahr vor dem Umzug der Familie Mozart nach Wien - und ich möchte eine Lesart vorschlagen, die das Klavierkonzert als Respektsbekundung vor weiblicher Professionalisierung hört. Maria Anna, die viereinhalb Jahre ältere Schwester von Wolfgang, auch genannt Nannerl, erhielt bereits früh Klavier- und Theorieunterricht und wurde gemeinsam mit ihrem Bruder quer durch Europa auf Wunderkindtournee geschickt. Die gemeinsame Ausbildung ist ablesbar an den Notenbüchlein, die zum Teil erhalten sind - hier finden sich z.B. Kompositionsversuche Wolfgangs auch in Nannerls Heften. Die gemeinsamen Reisen werden von leuchtenden Kritiken über die musikalischen Fähigkeiten beider Kinder begleitet, der gemeinsame Unterricht wird jedoch 1767 abgebrochen, da Nannerl, so Leopold, jetzt »zimlich gross und fast schon heiratsmässig geworden« sei und auf ein Leben als Hausfrau, nicht als Künstlerin, vorbereitet werden soll - Maria Anna ist in die
Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hrsg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Bd. III, 1780-1786, Kassel 1987, S. 245f.
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Pubertät gekommen, die als Statuspassage im 18. Jahrhundert die oft glänzende Ausbildungssituation von Mädchen unterbricht. Die Wege trennen sich, Leopold Mozart bereitet seinen Sohn ab jetzt gezielt auf den Beruf als Kapellmeister vor, Maria Anna wird hingegen auf den Beruf als Mutter und Haushälterin vorbereitet. Ihre Wunderkindjahre sind vorbei. Melanie Unseld zeigt in ihrem Buch Mozarts Frauen überzeugend, wie Reiseverbot und Ausbildungsabbruch für die 37
Schwester in der Familie zu Diskussionen führten, und unterstreicht, dass immerhin ein Familienmitglied fortfahrt, an die musikalische Expertise von Nannerl zu glauben: ihr Bruder. Mozart ermuntert seine Schwester, zu komponieren, wünscht ihr zum Namenstage »[...] in der octav alles mögliche gute und erspriessliche was ein aufrichtiger seine schwester von herzen liebender bruder 38 immer wünschen kann [...]« und äußert später, er sei betrübt, dass seine Schwester »Nannerl viele Stunden beym Flügl sollte zugebracht haben, ohne nützlichen Gebrauch davon machen zu können«. Mozart konnte sich Nannerl, anders als sein Vater, sehr wohl als professionelle Musikerin vorstellen. »Hier ist doch gewis das Clavierland!«, jubelt er in einem Brief an den Vater vom 2. Juni 1781.39 Mozart lässt nicht nach, den Vater am 19. Mai 1781 zu überreden, Maria Anna nach Wien ziehen zu lassen, wo man »ein frauenzimmer aber sehr gut bezahlen würde« und es seiner Schwester »besser anstehen« würde als in Salzburg. 40 Auch wenn er dieses Argument nicht nur selbstlos anführt und die Schwester für sein Anliegen argumentativ ins Boot holt, mit dem er auf die vom Vater gemachten Vorhaltungen ethischer, vor allen Dingen jedoch ökonomischer Art, zu antworten versucht, spricht hieraus auch Wertschätzung. Ein weiteres Beispiel für die Hochachtung ist ein Brief aus der Wiener Zeit, den ich anfuhren möchte als Beleg für die Kontinuität des engagierten Gesprächs zwischen Bruder und Schwester. Mozart schreibt am 7. Juni 1783 aus Wien an seinen Vater: Nun muss ich meiner Schwester wegen der clementischen Sonaten ein paar worte sagen; daß die komposizion davon nichts heisst, wird Jeder der sie spiellt, oder hört, selbst empfinden; - Merkwürdige oder auffallende Passagen sind keine darin ausgenommen die 6:ten und 8:ven - und mit diesen bitte ich meine schwester sich gar nicht zu viel abzugeben, damit sie sich dadurch ihre ruhige, satte hand nicht verdirbt, und die hand ihre natürliche leichtigkeit, gelengigkeit und fliessende geschwindigkeit dadurch nicht verliert.
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Melanie Unseld, Mozarts Frauen. Begegnungen in Musik und Liebe, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 36-40. Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Bd. III, 1780-1786, Kassel 1987, S. 142. Ebd., S. 125. Ebd., S. 119. Ebd., S. 272.
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Mozart hatte seine Schwester bereits in Salzburg nach Kräften unterstützt, als es um die Annahme eines Heiratsantrags ging, der Nannerl gemacht worden und der vom Vater abschlägig beschieden worden war, und hatte sowohl Verdienstais auch Auftrittsmöglichkeiten für seine Schwester in Wien gesehen, »private accademien« und »lectionen«. Aus dem allen wird jedoch nichts werden, denn ohne den zu versorgenden, verwitweten Vater kann Maria Anna nicht reisen. Am 27. Juni 1781 schreibt Wolfgang Amade an seinen Vater nicht über seine Schwester, aber er schildert ihm ein Vorhaben, das seine Schülerin Josepha Auemhammer als Konzertpianistin entwickelt: Sie hat mir ihren Plan |:als ein geheimnüss:| entdeckt, der ist noch 2 oder 3 Jahr rechtschaffen zu studiren, und dann nach Paris zu gehen, und Metier davon zu machen. - denn sie sagt, ich bin nicht schön-, o contraire hässlich. einen kanzley Helden mit 3 oder 400 gülden mag ich nicht heurathen, und keinen andern bekomme ich nicht; mithin bleib ich lieber so, und will von meine talent leben, und da hat sie recht; sie bat mich also ihr beyzustehen, um ihren Plan ausführen zu können. - aber sie möchte es niemand vorher sagen.
Ein anderer Lebensentwurf wird vor Leopold Mozart entfaltet, wie er in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zumeist Männern vorbehalten ist, hier jedoch von einer Frau erdacht wird. Josepha Auemhammer, unterstreicht Melanie Unseld, strebte eine künstlerisch profunde Ausbildung an, um sich dann an einem fremden Ort als professionelle Musikerin niederzulassen. Nannerl hingegen lebte zu diesem Zeitpunkt noch unverheiratet beim verwitweten Vater in Salzburg. Man könnte die Bemerkung Wolfgangs als versteckten Hinweis an den Vater deuten, nach dem Motto: Es gibt sie, die modernen musizierenden Frauen, die »von ihrem Talent« leben. Mozart, so kann man lesen, bleibt also im Frühjahr 1781 hart am Thema mit seiner Aufforderung an Maria Anna, zu ihm nach Wien zu kommen, um als Pianistin, respektive Klavierpädagogin zu arbeiten. Diese Aufforderung spricht für die Hochachtung, die Wolfgang Amade für seine Schwester hatte. Aber auch etwas anderes spricht für diese Wertschätzung, eben das Salzburger Klavierkonzert KV 365. So rücken in diesem Lichte besehen einige Besonderheiten des Es-Dur Klavierkonzertes in der Wahrnehmung nach vorne. Mozart ist nicht nur der erste Komponist, der Kompositionen für Klavier zu vier Händen vorgelegt hat, er testet auch in seinem Konzert für zwei Klaviere und Orchester nicht nur kompositorische Möglichkeiten aus, sondern komponiert in Gleichrangigkeit der Virtuosität. Dass Mozart das Konzert mehrfach zusammen mit seiner Schülerin Josepha Auemhammer aufgeführt hat - und dass diese Aufführungen der Öffentlichkeit Madame Auemhammer als professionelle Künstlerin präsentiert haben, so zum Beispiel am 3. November 1782 im Wiener Kärntnertortheater - , verwun42
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dert nicht. Das Klavierkonzert fungierte als Eintrittskarte für zwei Personen ins »Clavierland« Wien. Klarinetten, Trompeten und Pauken verstärkten bei den Wiener Aufführungen den Orchesterpart und sprechen für die Bedeutung, die Mozart diesem Konzert beimaß - besonders die Klarinettenstimmen winden sich sehr sorgfältig um die Stimmführung der bereits existierenden Holzbläserstimmen. Erfolgreich meistert Mozart zwei Herausforderungen: Auf der einen Seite werden zwei etwa gleich professionalisierte Solisten in einen Orchesterapparat integriert, auf der anderen Seite müssen die beiden Klavierparts ausbalanciert sein. Das Resultat ist ein Klavierkonzert, das einem Dialog unter Partnern gleicht. Beide Teile stellen gleich hohe pianistische Anforderungen und bieten ein nicht unerhebliches Aufgebot an Virtuosität mit Akkordtremoli im ersten Satz und Oktavmelodien im dritten Satz. Das Klavierkonzert als Ausdruck der Wertschätzung Mozarts von weiblicher Professionalisierung, auch als Strategie im Versuch, der Schwester trotz des Ausbildungsabbruchs deutlich zu zeigen, dass eine Laufbahn als Pianistin und Klavierlehrerin nicht außer Reichweite war, ist eine Lesart, die dem so intensiv erforschten Historiographieobjekt »Mozart« eine neue Seite hinzufügen kann.
Historische Aufführungspraxis als herstory. Yvette Guilbert Historische Aufführungspraxis ist, trotz historistischer Bemühungen um eine Wiederbelebung vergangener Musik seit dem 18. Jahrhundert, im Kern eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Im Kern steht bei Historischer Aufführungspraxis immer der Widerspruch von historischer Akkuratesse und Vermittlungsoptionen, zwischen Faktizität älterer Quellen und künstlerischem Potential zur Debatte, und hier ist die Sängerin Yvette Guilbert (1867-1944) ein bisher im toten Winkel verstecktes Phänomen. Ihr kulturelles Handeln in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht als Kontrapunkt zum »aufführungspraktischen Mainstream« zu deuten, sondern intrinsischer Teil einer musikhistorisch relevanten Bewegung, deren umfassendere Geschichte noch erzählt werden muss. Für Yvette Guilbert ist Aufführungspraxis ein didaktisches Anliegen, das zugleich in den ans Licht gebrachten Musikstücken unerreichte Kunstwerke erblickt. Yvette Guilbert begann ihre Karriere zunächst als Schauspielerin am Théâtre Bouffe du Nord in Paris und entwickelte sich zur gefeierten Künstlerin im Kleinkunstfach, das sie als Diseuse 43 und Kabarettistin aus der Zweitrangigkeit herausholt. Ihre Chansons sind Sittenbilder der Belle Epoque, und um die Jahrhundertwende wird sie ein Star nicht nur in Frankreich, sondern auch in Dieser Begriff stammt von Yvette Guilbert. Der übliche Ausdruck war »Chanteuse«.
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Deutschland - hier besonders in Berlin - , England, Italien und seit dem 17. Dezember 1895 in Nordamerika, wo sie, von Oscar Hammerstein eingeladen, am Olympia Theater in New York mit großem Erfolg debütiert. Sie bildet sich kontinuierlich fort, recherchiert, studiert, analysiert,44 und in den Jahren um die Jahrhundertwende vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel ihres Repertoires: Sie »desertiert« vom café-concert zum anspruchsvollen historischen Lied: Die Guilbert des sogenannten ersten Repertoires hatte ihre naturalistischen und gesellschaftskritischen Chansons - zu denen zum Beispiel La Fille à ma Tante, Le P'tit Cochon, Les Vieux Messieurs und Visite à Ninon gehören45 - in einfarbigen, ärmellosen Kleidern und bis zum Ellenbogen reichenden schwarzen Handschuhen vorgetragen, wobei sie sowohl die Sprechais auch die Gesangsstimme eingesetzt hatte, um das Chanson als drame condensé vorzutragen. Aber nun geht es um etwas anderes: Sie löst 1900 ihre Verträge und zieht sich von der Öffentlichkeit zurück, um »dem Zauber der alten Bücher nachzugehen und um endlich dem >Chanson< von Frankreich eine Atmosphäre zu schaffen, die seiner würdig wäre.«46 Sie überarbeitet ihr gesamtes Repertoire und stellt es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts auf Tourneen in Europa vor - 1906 auch in den USA47. Intellektuelle und Künstler wie Peter Altenberg, Pierre Louys, Claude Monet, Henri de Toulouse-Lautrec, Catulle Mendès und Emile Zola erblicken ihn ihr eine fuhrende Künstlerin der Zeit. Sie entwirft eine eigene Ästhetik der Vortragskunst sowie eine Methode der Gesangs- und Schauspieldidaktik, die ihr u.a. 1917 einen Lehrauftrag an der David Mannes School in New York einbringt und sie veranlasst, ihre School for artistic Theatre in New York zu gründen.48 Zusätzlich zu ihren didaktischen Schriften erscheinen schließlich Autobiographien, so La chanson de ma vie. Mes mémoires (Paris 1927),49 L'art de chanter un chanson (Paris 1928),50 La passant émerveillée (Paris 1929), Mes lettres d'amour (Paris 1933), und posthum Autres temps - autres chants (Paris 1946). Daneben erscheint noch La Vedette (Paris 1902).
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Karl Lahm, »Musiquette, Operette, Le cocq und Yvette Guilbert«, in: Opernwelt 5 (1961), S. 4-11, hier: S. 10. Aus der Reihe Répertoire Yvette Guilbert, deutsch von Heinrich Bolten-Bäckers, Berlin, o.J. Helmut Hanke, Yvette Guilbert: Die Muse von Montemartre, Berlin 1974, S. 99. Ebd., S. 108. Ebd., S. 125. Yvette Guilbert, Chanson de ma vie. Deutsche Ausgabe: Lied meines Lebens Erinnerungen, Berlin 1928. Yvette Guilbert, Die Kunst, ein Chanson zu singen, hrsg. von Walter Rösler, Berlin 1981.
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Guilberts sogenanntes zweites Repertoire ist eine Mittelalterrezeption besonderer Art: In diesem Repertoire historischer Lieder Frankreichs verwirklicht Guilbert sich auf einzigartige Weise, während sie Geschichte vermittelt und sich Anerkennung bei einem kleineren, intellektuellen Publikum erwirbt, was durch die zahlreichen Auftritte in amerikanischen Colleges und internationalen Universitäten, Gesellschaften für Alte Musik und anderen gebildeten und spezialisierten Kreisen belegt ist. Im Mittelpunkt steht »alte französische Vokalmusik«.
Abb.4: Yvette Guilbert, gezeichnet von Henri de Toulouse-Lautrec
Ihre Entdeckungen veröffentlicht sie in mehreren Folgen: In der Collection Yvette Guilbert avec les airs originaux anciens erscheinen - ohne Jahresangabe, vermutlich 1906 - insgesamt vier Bände, unter denen der erste Band Lieder aus
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Mittelalter und Renaissance, Chansons du Moyen Age à la Renaissance, enthält31 und 1911 separat erneut unter Chansons anciennes veröffentlicht wird, die »Originalmelodien« diesmal harmonisiert von Gustave Ferrari. Die insgesamt sechs Bände der Reihe Chansons anciennes recueillies et reconstituées sowie die Bände der Légendes dorées (1914), deren Edition primär ihr langjähriger Begleiter Gustave Ferrari besorgt, werden in den Jahren 1911 bis 1914 ver52
öffentlicht. Im Zentrum des zweiten Repertoires der Yvette Guilbert steht die Invokation vergangener Zeiten, die sie auf allen Ebenen zu erreichen sucht: Zusätzlich zu ihren Liederausgaben strebt sie, auf die Liedkunst des 12. bis 15. Jahrhunderts bezogen, eine Art »mittelalterliches Gesamtkunstwerk« an, das aus speziellen Bühnenbildern, Kostümen und besonders Gesten und Vortragsweisen besteht: Das überfüllte Auditorium maximum [der Columbia University, New York] war kaum wiederzuerkennen. An der hinteren Schmalseite stand eine Bühne. Als der purpurne Vorhang aufgezogen wurde, ging ein Raunen der Bewunderung durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Raum. Die anwesenden Romanisten wähnten, in eine der bebilderten Pergamentseiten der berühmten Troubador-Handschrift Cantigas de Santa Maria zu schauen. Vor der malerischen Kulisse eines altprovenzalischen Schlosses stand unbeweglich eine Gruppe von Troubadors mit ihren Gauklern in der historischen Tracht ihres Standes. Plötzlich löste ein einzelnes Händeklatschen einen Beifall aus, der sich rasch zu Ovationen steigerte. Er galt einer Frau, die soeben im prachtvollen Schleppenkleid und Tütenhut der vornehmen Provenzalinnen des 12. Jahrhunderts die Bühne betreten hatte. Kurz vor der Rampe verhielt sie im Schritt, den linken Fuß etwas vorgestellt, während der lange, seltsam flexible Hals, auf dem die Schatten der Ohrringe zitterten, leicht nach rechts geneigt war. Das Publikum unterbrach seine Sympathiebezeigungen in dem Augenblick, als die Frau ihre Arme hob und ihre Lippen zu bewegen begann. Die Lieder, die sie anstimmte, beschworen den Geist der provenzalischen Minnelyrik. Doch wesentlicher als das Was war das Wie ihres Vortrages. [...] Als sie in ihrer imposanten Kostümierung vor den namhaftesten amerikanischen Philologen, Kulturhistorikern, Musikwissenschaftlern und Romanisten auftrat, verloren die Gelehrten das Gefühl für Zeit und Raum. Vor dem geistigen Auge des Publikums verwandelten sich plötzlich die Bühnenkulissen in die Schloßtürme des troubadorfreundlichen Grafen von Baux und die Guilbert in die Mäzenin der altprovenzalischen Dichter-Sängerin Eleonore von Poitiers, die hin und wieder selbst eine Kanzone interpretiert hatte.
Vol. I: Du Moyen-Age à la Renaissance, 12 Chansons; Vol. II: »Bergers et Musettes«, 12. Chansons; Vol. III: »Chansons de tous les Temps«, 12 Chansons; Vol. IV: Chansons et Rondes Anciennes, 14 Chansons, alle erschienen bei Schott und Söhne in Mainz. Karl-Josef Kutsch und Leo Riemens (Hg.), Großes Sängerlexikon, Erster Band: A-L, Bern und Stuttgart 1987, Bd. I, Sp. 1193.
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An dem besagten Abend trug die Guilbert im Rahmen szenischer Arrangements Lieder aus dem Chansonnier du Roi (13. Jahrhundert), Pastorellen von Marcabru und Stücke von Adam de la Halle vor. Jedesmal schickte sie einen kurzen Auszug aus den Vidas voran, jenen altüberlieferten Troubador-Biographien, die zur Wiege der nachantiken europäischen Prosa werden sollten.
Die Bemühungen um historische Akkuratesse werden von den anwesenden Mediävisten nicht als Versuche einer Künstlerin gewertet, authentisch zu erscheinen, sondern als willkommene Ergänzung zur eigenen Arbeit um eine Wiederbelebung des Alten empfunden. Auf Einladung von Charles Bordes tritt die »princesse de nos chansons de France«, wie es in der Tribune de Saint-Gervais heißt, mehrfach in der Schola Cantorum in Paris auf und gibt Konzerte fur die Société Les Chansons de France.5* Die Société war 1906 von Pierre Aubry, Charles Bordes, Gabriel Fauré, André Hailays, Pierre Lalo, Vincent d'Indy, Julien Tiersot und anderen gegründet worden, und die Konzerte, die sie gemeinsam mit den Chanteurs de Saint-Gervais durchfuhrt, haben den Zweck »à la remise en honneur des chansons de nos pères dont tant de délicieux spécimens sont encore enfouis dans nos bibliothèques«. Die Société des Instruments anciens und die Pariser Gesellschaft für Blasinstrumente begleiten Yvette Guilbert auf den verschiedensten Auslandstourneen. 55 Und die Bemühungen sind von Erfolg gekrönt: »C'est une façon comme une autre de rester gothiques avant tout.« 56 Die Beschäftigung mit den »choix esthétiques explicites« 57 gibt der Analyse der Entwicklung Historischer Auffiihrungspraxis eine frische Fragestellung. Im Mittelpunkt steht hier das »mittelalterliche Repertoire« einer Diseuse der Jahrhundertwende, in dem die ästhetischen Präferenzen in der Auseinandersetzung zwischen Publikum und Künstlerin, dem Sich-Wieder-Finden in einem bestimmten Repertoire oder auch in dem Ablehnen eines anderen deutlich werden. In diesem Sinne bleibt die Wiederbelebung des mittelalterlichen französischen Chansons durch Yvette Guilbert die Sache einer intellektuellen Minderheit, de-
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Hanke, Guilbert, S. 103 f. Yvette Guilbert gastierte ab 1906 regelmäßig alle zwei Jahre in den USA, wobei sie allein von der Columbia University insgesamt sieben Mal eingeladen wurde. Gallus, »La Société Les Chansons de France«, in: La Tribune de Saint-Gervais. Bulletin mensuel de la Schola Cantorum, No. 1,12. Jg. (Januar 1906), S. 18-20. Es ist unklar, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt. Zwei andere Artikel werden mit »Jean de Muris« unterzeichnet. Hanke, Guilbert, S. 110. Ebd., S. 18. »Les choix esthétiques explicites se constituent en effet souvent par opposition aux choix des groupes les plus proches dans l'espace social, avec qui la concurrence est la plus directe.« Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979, S. 64.
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ren Einfluss auf die Formung Historischer Aufführungspraxis erst noch zu bestimmen ist. Im Ringen um die adäquate Form der Vermittlung von Geschichte und geschichtlicher Authentizität trägt im 20. Jahrhundert die »Wissenschaft zum Sehen« einen Sieg davon und weist der Kreativität einen Platz außerhalb ihrer selbst zu. Die Historische Aufführungspraxis, ebenfalls um »historische Reinheit« bemüht, konstruierte das künstliche Konzept des »Authentischen« und wird aus diesem Grund Yvette Guilberts Zugang zum altfranzösischen Chanson in der Nachkriegszeit historiographisch ausradieren. Guilberts Postulat »lebendiger Geschichte« gewinnt aber dann an Attraktivität, wenn künstlerisches Einfühlungsvermögen zum adäquaten Vehikel für die Ver58
mittlung von Geschichte in der Gegenwart wird - und die Suche nach Authentizität zugunsten des Anliegens, Geschichte vermitteln zu wollen, zurücktritt.
History und Herstory zusammendenken - curricular Die Musikgeschichte Europas kann vieles sein, sie ist auf jeden Fall auch eine Geschichte, eine Story, die interessengeleitet erzählt und in der die Vergangenheit mit Bedeutung belebt wird. Eine Erzählung, die bewusst erinnert. Man könnte dies als musikbezogene Produktion von historischem Sinn beschreiben. So offenbart eine Geschichtsschreibung, die history und herstory gleichermaßen bedenkt, die Abwesenheit von Frauen in der Musikgeschichte als Verschweigen und entdeckt Musikgeschichtsschreibung als story, die im Sinne einer Heroengeschichtsschreibung einem männlichen Erinnern huldigt, während künstlerische Leistungen von Frauen offensichtlich irrelevant sind. Eine Kulturwissenschaft, die ohne eine Genderperspektive auszukommen sucht, verliert den Status der Wissenschaftlichkeit und ist auf einem Auge blind: Denn auch sie hat nur zwei Augen und nur mit zwei Augen ist mehrdimensionales Sehen möglich. Es ist bemerkenswert, dass Peter Burke seine Studie Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft mit einem Blick auf die Geschlechterfrage beschließt. In einem Vergleich zweier Texte - Woman not Inferior to Man einer anonymen Autorin von 1739 und dem bereits erwähnten Text De l'Egalité des deux Sexes von François Poulain de la Barre von 1673 - blickt Burke nach vorne und stellt eine bemerkenswerte Kontinuität der Wissenssoziologie fest, die zwischen Positionen der frühen Neuzeit und dem 20. Jahrhundert besteht. 59
Ein künstlerisch intuitiver Zugang zu mittelalterlicher Musik wurde beispielsweise mit anderen Konsequenzen - von Thomas Binkley und seinem Studio der Frühen Musik gesucht. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2000, S. 248.
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Stufen
Fragsn
Anreite
MUtet
Ergebnisse
Das Fehlen von Frauen wird gar nicht bemerkt
Wer sind die wirklich großen Denker/ Akteure in der Geschichte?
Erhalt von ausgezeichneten Standards
Zurück zu den ursprünglichen Grundlagen
Vor-1960er ausschließender Kanon Studierende als Trichter
Suche nach den Ausnahmen
Wer sind die großen Frauen - die weiblichen Shakespeares, Napoleons, Darwins?
Gleichstellungsmaßnahmen/ Ausgleichungsmaßnahmen
Hinzufügen zu den vorhandenen Informationen innerhalb der vorherrschenden Sichtweisen
»Ausnahmefrauen« im männlichen Kanon Beachten studentischer Bedürfnisse
Frauen als benachteiligte Gruppe
Warum gibt es so wenig führende Frauen? Warum sind Frauenrollen abgewertet?
Arger/Soziale Gerechtigkeit
Protest gegen die vorherrschenden Paradigmen, aber innerhalb der Sichtweisen der herrschenden Gruppen
Vorstellungen von Frauenkursen, Frauenpolitik Anfänge von Frauenstudien Verbindungen zu ethnischen, multikulturellen Studien
Autonome Frauenstudien entwickeln sich
Was waren/sind Frauenerfahrungen? Welche Unterschiede gibt es zwischen Frauen (Beachten von Ethnie, Klasse, kulturellen Differenzen)
Interkulturell
Außerhalb existierenden Paradigmen; Entwicklung einer eigenen Perspektive
Frauenbezogene Kurse Interdisziplinäre Kurse Studierende wertschätzen die eigenen Erfahrungen
Frauen fordern die herkömmlichen Disziplinen heraus
Wie gültig sind die gegenwärtigen Definitionen von Geschichtsepochen, Größe, Verhaltensnormen? Wie müssen sich unsere Fragen ändern, damit sie den Erfahrungen von Frauen, der Vielfalt und Differenz Rechnung tragen?
Erkenntnistheorie
Infragestellen der Paradigmen Gender als Analysekategorie
Anfänge von Integration Theoriekurse Studierende wirken beim Lernen mit
Es gibt ein verändertes ausbalanciertes Curriculum
Wie können die Erfahrungen von Frauen und Männern zusammen verstanden werden? Wie sind Klasse und Ethnie mit Geschlecht verbunden?
Gesamtsichten von menschlichen Erfahrungen, basierend auf Differenzen und Vielfalt, nicht auf Gleichheit und Generalisierungen
Verändern der Paradigmen
Neukonzeptualierung eines umfassenden Kanons Veränderte Einführungsveranstaltungen Ermächtigung der Studierenden
Abb. 5: Ein neues Curriculum (Schuster/Van Dyne 1993 (1984), S. 536)
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Unter dem Blickwinkel dieser Kontinuität des Wissens, die auch eine Kontinuität des Minoritär-Schreibens ist, steht heute die Sicherung der Wissensbestände ganz oben auf der Tagesordnung. Der weibliche Beitrag an der (Musik-) Geschichte kann aus dem toten Winkel geholt werden, da jahrzehntelange, gezielte historische Forschung einen gigantischen Materialbestand bereitgestellt hat und bereitstellt. Es hapert derzeit an der Verstetigung und der dauerhaften Integration von History und Herstory, auch methodologisch. Der Weg dahin ist die historiographische Nobilitierung der Herstory, um zu einer facettenreicheren Geschichtskonstruktion zu gelangen. In diesem Sinne ist ein Überdenken von Curricula nötig, wie es Marilyn Schuster und Susan Van Dyne mit einem Stufenmodell vorgeschlagen haben: Werfen wir erneut einen Blick in Christine de Pizans Stadt der Frauen und fragen nach den Möglichkeiten, 600 Jahre später zu einer zeitgemäßen Form historischer Bildgenerierung zu gelangen. Die Nobilitierung der Herstory ist unabdingbare Voraussetzung für ein anderes Geschichtsbild, wie es im ausbalancierten Curriculum angedeutet ist. Margarete Zimmermann folgert aus Christine de Pizans Buch von der Stadt der Frauen: Von hier aus lassen sich filigranartige Linien erkennen, Spuren, die zu neuartigen Formen der Kunst-, Musik- oder Literaturgeschichte, der Kanonbildung und zu der Konstruktion neuer Räume des kulturellen Gedächtnisses führen: eines lichtdurchfluteten, nach allen Seiten offenen Gebäudes, eines avantgardistischen Museumsbaus, in dem die Geschichte und das Gedächtnis von Frauen wie von Männern endlich angemessen repräsentiert sein wird. Wir brauchen heute eine Geschichtsschreibung, die sich der Grenzen und der Parteilichkeit von Wissensbeständen bewusst ist und zugleich die reichen Schätze an kulturellem Erbe und musikhistorischem Beitrag von Frauen aus dem historiographische toten Winkel holt. Der History die Herstory an die Seite zu stellen, um schließlich zu einer gemeinsamen Story zu gelangen, ist nicht nur das Bemühen verstetigter Genderperspektiven in der Musikwissenschaft, sondern sollte hohe Verpflichtung und Aufgabe einer kulturwissenschaftlichen Disziplin sein, die auch im 21. Jahrhundert - mehr als hundert Jahre nach ihrer Gründungsphase - auf der Höhe ihrer Zeit bleiben möchte. Viel gewonnen ist, wenn gemeinsam über Erich Frieds Diktum zur Geschichtsschreibung sowohl nachgedacht als auch herzlich gelacht werden kann: »Es ist nicht wahr, dass Geschichte gefälscht wird. Sie hat sich großenteils wirklich falsch zugetragen. Ich kann das bezeugen. Ich war dabei.« 61 Margarete Zimmermann, »Ein Buch mit Folgen: Christine de Pizans Stadt der Frauen« im vorliegenden Band. Erich Fried, »Die Engel der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach, Bd. 2, Berlin 1993, S. 491.
Siri Hustvedt
Being a Man Im wachen Zustand bin ich eine Frau, aber in meinen Träumen bin ich manchmal ein Mann. Meine Männlichkeit ist selten eine Frage der Anatomie. Ich entdecke nicht etwa, dass mir ein Penis gewachsen und ein Bart gesprossen ist, sondern ich merke erst, dass ich ein Mann bin, wenn ich von der vagen Erinnerung beunruhigt werde, früher eine Frau gewesen zu sein. Mein Geschlecht wird im Traum erst wichtig, wenn es in Zweifel gezogen wird. Zweifel, nicht Gewissheit, ruft zuerst die Frage nach meiner sexuellen Identität hervor und dann das Bedürfnis, das eine oder das andere zu sein, Mann oder Frau. Obwohl es heutzutage chic ist, Träume als bedeutungsloses neurologisches Geplapper abzutun, habe ich, um mich dem anzuschließen, im Schlaf zu viel entdeckt. Es ist offensichtlich, dass meine Träume von Männlichkeit, die zu einem Moment der Verwirrung fuhren, Aufschluss über geheime Winkel meiner eigenen verkorksten Psyche geben, aber ich glaube, sie können auch als Schlüssel für das Verständnis des größeren kulturellen Terrains dienen, wo die Grenze zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit verhandelt wird. Die meisten von uns akzeptieren die biologischen Gegebenheiten ihres Geschlechts und leben recht und schlecht damit, aber es gibt Zeiten, da wird der Körper wie eine Einschränkung erlebt. Für eine Frau vielleicht dann, wenn sie einen herablassenden Ton in der Stimme eines Mannes hört und sich der Tatsache stellen muss, dass nicht das, was sie sagte, diesen Ton erzeugt hat, sondern ihr Geschlecht. Solch ein Moment ist natürlich nicht leicht zu erkennen, weil jedes soziale Zusammentreffen aufgeladen ist mit Ungesagtem und Ungesehenem. Zwischen zwei Menschen entsteht zwangsläufig ein dritter Bereich, in dem das Geschlecht nur eine einzigen Kraft in einer Myriade wirksamer Kräfte ist, und doch kann sexuelle Voreingenommenheit - genauso wie Neid, Groll, Dünkel oder Rassismus - in einem Raum wie ein Geruch aufgespürt werden, und wenn der Geruch zu stark wird, weckt er eine Fluchtphantasie: Was hätte er wohl gesagt, wenn er mich als Mann gesehen hätte? Ich bin mir sicher, dass es in meinen Männlichkeitsträumen zumindest teilweise um eine Flucht aus den kulturellen Erwartungen geht, die auf der Weiblichkeit lasten, aber ich glaube, sie sind auch etwas Komplexeres, ich glaube, die Träume erkennen eine Wahrheit, dass in mir ebenso ein Mann wie eine Frau ist und dass diese Dualität tatsächlich Teil des Menschseins ist, aber kein Teil, der leicht zu vereinbaren wäre. In meinen Träumen werde ich von meinem wirklichen Körper nicht eingeschränkt. Ich kann fliegen und habe telekinetische Kräfte. Mir ist ein Fell ge-
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wachsen, ich habe klaffende Wunden davongetragen, meine Zähne verloren und genug Blut vergossen, um darin zu ertrinken. Auch beim Schreiben erzählender Prosa lasse ich meinen wirklichen Körper zurück und werde jemand anderes, eine andere Frau oder ein Mann, wenn ich möchte. Für mich war künstlerisches Schaffen immer so etwas wie bewusstes Träumen. Der Stoff für eine Geschichte stammt nicht aus dem, was ich weiß, sondern aus dem, was ich nicht weiß, aus Impulsen und Bildern, die oft ohne mein Zutun aufkommen, ein ganz und gar seltsamer Prozess, der ins Spiel kommt, wenn ich in meinem Werk eine andere Person werde. Dabei besteht der Akt des Schreibens nur in einem: Wörter zu Papier bringen, die von jemand anderem gelesen werden sollen. Am Ende sind die Wörter alles, und streng genommen sind sie geschlechtslos. Im Englischen haben die Nomen, anders als in vielen anderen Sprachen, kein Genus, doch es ist interessant, die Frage aufzuwerfen, ob ein Text männlich oder weiblich sein kann und was ihn zu dem einen oder dem anderen machen würde. Eltern und alle, die sich länger mit kleinen Kindern befasst haben, wissen, dass es eine Weile dauert, bis eine sexuelle Identität sich verfestigt, und dass Kleinkinder selten wissen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind. Als meine Tochter drei Jahre alt war, fragte sie meinen Mann, ob sie einen Penis bekommen würde, wenn sie älter wäre. Sie stellte diese Frage in einem Abschnitt ihres Lebens, den ich die Tutu-Stöckelschuh-Phase nenne, eine Ära von Glitter und Gold, Strasskrönchen und Schuhen mit hohen Absätzen aus Plastik. Während die kleinen Jungs ihre Brust aufbliesen und Superheld spielten, trippelte meine Tochter wie eine verrückte, ziemlich verschmierte Ausgabe von Titania durchs Haus. Im selben Alter setzte die Tochter einer meiner Freundinnen eine platinblonde Marilyn-Monroe-Perücke auf und weigerte sich, sie abzunehmen. Sie aß, spielte, ging in den Park, auf die Toilette und ins Bett und hatte immer diese zunehmend versiffte weiße Perücke auf, mit der sie ihrer Mutter zufolge mehr wie Rumpelstilzchen aussah als wie eine blonde Sexbombe. Wie komisch sie für Erwachsene auch aussehen mögen, Kinder spielen mit aller Kraft, um herauszufinden, was sie sind - Junge oder Mädchen - , und sie durchleben den Unterschied über ein oft heftiges imaginäres Geschlechterrollendrama. Trotz des Optimismus einiger Forscher ist eine Antwort auf die Frage, wo die Biologie endet und die Kultur beginnt, wahrscheinlich jenseits der Wissenschaft. Sogar Säuglinge, deren unbegrenzte Existenz die Frage nach sexueller Identität von innen her absurd erscheinen lässt, sind in eine Welt hineingeboren, in der die Jungeoder-Mädchen-Frage von außen ausschlaggebend ist, lautet doch die erste Frage nach der Geburt: »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?« Mit anderen Worten: Wir wissen es, bevor sie es wissen. Und was wir wissen, ist Teil eines weiten symbolischen Feldes, in dem die Linien zwischen dem einen und dem anderen durch den linguistischen Akt der Namensgebung gezogen werden. Sobald Kinder sich ihrer selbst als Jungen oder Mädchen sicher sind, tritt androgynere Kleidung an
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die Stelle der Zorro-Capes, Superman-Trikots, Krönchen und Prinzessinnenkostüme. Die äußerlichen Abzeichen von Weiblichkeit und Männlichkeit können in dem Moment abgelegt werden, wenn das Wissen um die sexuelle Identität verinnerlicht wurde, und ein Teil dieser inneren Gewissheit äußert sich in Sprache. Ein sechsjähriges Kind kann normalerweise zuversichtlich behaupten, dass er oder sie ein Junge oder ein Mädchen ist, zu einem Mann oder einer Frau heranwachsen wird und, außer er oder sie lässt sich operieren, unterwegs nicht das Geschlecht wechseln wird. Zugleich sind die tiefgreifenderen Bedeutungen von Weiblichkeit und Männlichkeit entschieden zweideutiger. Männlich und weiblich sind Wörter, die so dichte, so alte, so öffentliche, aber auch so private Assoziationen enthalten, dass es extrem schwierig ist, zwischen beiden eine klare Linie zu ziehen. Allerdings sind die Kategorien männlich und weiblich in der Sprache überaus lebendig und befrachtet mit unseren eigenen kulturellen und persönlichen Geschichten, die sich entwickeln und verändern, so dass es haarsträubend naiv ist anzunehmen, zum Beispiel Ombudsmann durch Ombudsfrau zu ersetzen, werde die Sprache von ihren Geschlechterkonnotationen reinigen. In meiner Familie waren wir vier Töchter. Meine Eltern hatten vor jeder Geburt den Namen Lars im Kopf, aber es stellte sich heraus, dass sie noch eine Generation auf ihn warten mussten. Der erste Sohn meiner Schwester bekam zu Ehren unseres Großvaters und des nie geborenen Hustvedt-Jungen den Namen Lars. Ich habe oft gedacht, es war einfacher, dass wir alle Mädchen waren. Wäre ein Junge dabei gewesen, wären wir womöglich mit ihm verglichen oder ihm entgegengesetzt worden, und die Unterschiede hätten uns alle eingeschränkt. Wir wurden paarweise geboren. Ich war die Erste. Neunzehn Monate später wurde meine Schwester Liv geboren. Dann folgte ein Abstand von fünf Jahren, bevor Asti kam und nur fünfzehn Monate später Ingrid. Wir vier waren als Kinder sehr eng verbunden und loyal zueinander und sind auch als Erwachsene treue Freundinnen, was für uns mehr oder weniger selbstverständlich war. Andererseits fand mein Mann unsere Harmonie immer bemerkenswert, aber auch irgendwie rätselhaft. Warum gibt es zwischen uns so wenige Konflikte? Als Liv und ich klein waren, spielten wir gerne Katastrophen: Schiffbrüchige, Tornados, Überschwemmungen und Krieg. Liv war immer John und ich immer Mary, was gewöhnlich bedeutete, dass John Mary retten musste. Ich wurde gern gerettet, und wie im Spiel war meine Schwester auch im Leben die Tapfere, nicht ich, und verteidigte mich mehrmals gegen Angriffe anderer Kinder, obwohl ich die Ältere war. Die beiden jüngeren Schwestern waren ein ähnliches Paar. Asti zog im Allgemeinen beim Spielen die Mädchenrolle vor, Ingrid war lieber der Junge. Liv und Ingrid lernten reiten und wurden beide Champions im Amateurrodeo. Liv wurde später Geschäftsfrau, Ingrid Architektin. Asti und ich promovierten, sie in Romanistik, ich in Anglistik.
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Dieser kurze Abriss trägt dazu bei, wenn auch bei weitem nicht ausreichend, zu erklären, warum mein Mann nach zehnjähriger Ehe sich eines Morgens im Bett aufsetzte und sagte: »Jetzt ist mir alles klar. Du bist die Frau. Liv ist der Mann. Asti ist das Mädchen, und Ingrid ist der Junge.« Wir sind inzwischen alle erwachsen, verheiratet und haben Kinder, aber meine Schwestern und ich haben in dieser Feststellung etwas Wahres über unsere Familie erkannt, die vorher nie jemand ausgesprochen hatte. Obwohl wir alle Mädchen waren, stellten wir ein Muster abwechselnd weiblicher und männlicher Eigenschaften unter uns Schwestern her. Bemerkenswert daran war, dass die jeweils Jüngere in jedem Paar jeweils den etwas maskulineren Part übernahm, was dazu beitrug, das Altersdefizit auszugleichen. Die Wirkung war einfach. Die zwischen fast gleichaltrigen gleichgeschlechtlichen Geschwistern typische Rivalität wurde in jedem Paar weitgehend verringert. Man kann unmöglich miteinander wetteifern, wenn man nicht dasselbe Spiel spielt. Einige Jahre nach dieser prägnanten Einschätzung von mir und meinen Schwestern las ich ein Buch mit gesammelten Aufsätzen von D. W. Winnicott, dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker, und stieß darin auf einen Vortrag »Über die abgespaltenen männlichen und weiblichen Elemente«, den er 1966 vor der British Psycho-Analytical Society hielt. Einleitend heißt es: »Als Grundlage für die Idee, die ich hier vorstellen möchte, behaupte ich, dass Kreativität einer der gemeinsamen Nenner von Männern und Frauen ist. In einer anderen Sprache indes ist Kreativität das Vorrecht der Frauen, und in wieder einer anderen Sprache ist es ein männliches Merkmal. Die letzte der drei Varianten soll uns hier beschäftigen.« Winnicott berichtet nun, wie er eines Tages, während eines Gesprächs mit einem männlichen Patienten, das Gefühl hatte, ein Mädchen zu hören, und an dieses Mädchen gewandt sagte er: »Ich höre einem Mädchen zu. Ich weiß ganz genau, dass Sie ein Mann sind, aber ich höre einem Mädchen zu... « Der Patient erwiderte: »Wenn ich jemandem von diesem Mädchen erzählen würde, würde man mich für verrückt erklären.« Winnicott tat den nächsten Schritt: »Nicht Sie haben das irgendwem gesagt, sondern ich sehe und höre das Mädchen reden, während eigentlich ein Mann auf meiner Couch liegt. Der Verrückte bin ich selbst.« Der Patient antwortete: »Ich selbst könnte nie sagen: >Ich bin ein Mädchen< (denn ich weiß ja, dass ich ein Mann bin). Ich bin nicht so verrückt. Aber Sie haben es gesagt, und Sie haben zu meinen beiden Teilen gesprochen.« Winnicotts Deutung dieses außergewöhnlichen Dialogs (bei dem es, wie er betont, nicht um Homosexualität geht) gründet in der Auffassung, dass die verstorbene Mutter des Mannes, die schon einen Sohn hatte, als sie ihr zweites Kind bekam, sich ein Mädchen gewünscht hatte und dem zweiten Baby hartnäckig ein falsches Geschlecht zuschrieb. Die Verkehrung war durch die »Verrücktheit« der Mutter, nicht die des Sohnes, herbeigeführt worden. Der Wunsch der Mutter war eine Lüge, die dann in dem Sohn ein quälendes Ge-
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spenst hervorbrachte: die gewünschte Tochter. Meine Schwestern und ich litten nicht wie Winnicotts Patient unter der Rolle, die wir in unserer Familie spielten; das lag wahrscheinlich daran, dass meine Mutter keine Illusionen hatte. Sie liebte ihre Babys als Mädchen. Ich nehme an, das, was mit uns geschah, kam später und hing mit unserem Vater zusammen. Wir vier lachen noch immer darüber, dass unser Vater, wenn er in der Garage Hilfe benötigte, Liv oder Ingrid rief. Ich habe sechs Jahre an einem Buch gearbeitet, dessen Erzähler ein siebzigjähriger Mann namens Leo Hertzberg ist. Als ich anfing, den Roman zu schreiben, machte es mir etwas Angst, einem Mann Gestalt zu geben und mit einer männlichen Stimme zu sprechen. Nach kurzer Zeit fiel diese Nervosität von mir ab, und mir wurde klar, dass ich etwas anderes machte, dass dieser Sprechende aus sich selbst heraus lebte, anders als ich, und trotzdem war ich er. Ich schöpfte aus einem männlichen Anteil meiner selbst. Ich hatte schon vorher in meinem Werk mit sexueller Zweideutigkeit gespielt. Die Heldin meines ersten Romans, Die unsichtbare Frau — in der ersten Person Singular erzählt - , schneidet sich das Haar kurz, nimmt den Namen eines Jungen aus einer Geschichte an, die sie übersetzt hat, und wandert in einem Herrenanzug durch die Straßen von New York. Als ich den Text schrieb, wusste ich, dass Iris diesen Anzug anziehen musste, aber ich wusste überhaupt nicht, wieso, außer dass ihr cross-dressing mit ihrer Übersetzung der deutschen Novelle Der brutale Junge zusammenhing eine Bewegung von einer Sprache in eine andere, und dass sie, indem sie so tat, als wäre sie ein Mann, Verletzbarkeit verliert und Macht gewinnt, die sie unbedingt braucht. Bisher ist mir nie aufgefallen, dass das Einnehmen einer männlichen Position als Überlebenstechnik in meiner eigenen Familie wurzelt, dass Iris im Anzug die Dualität und Unsicherheit meiner Träume auslebt und dass sie, indem sie sich als männliche Figur neu erfindet, imstande ist, sich ihre eigene Rettung auszudenken. Als »Klaus« spricht sie auch anders, flucht und legt sich etwas überheblich Angeberisches zu, das sie mit Männern assoziiert. Vor einiger Zeit lernte ich eine Psychoanalytikerin kennen, die mir erzählte, sie gebe manchen ihrer weiblichen Patientinnen Die unsichtbare Frau zu lesen. »Geht es ihnen danach nicht schlechter?«, fragte ich, halb ernst, halb zum Spaß. »Nein«, sagte sie. »Es hilft ihnen einzusehen, dass es wichtig ist, sich abzugrenzen.« Iris' cross-dressing ist defensiv, eine Flucht aus der Offenheit, Fragilität und Grenzenlosigkeit, die sie mit ihrer Weiblichkeit verbindet. Leo zu sein war kein Akt der Übersetzung. Nach einer Weile hörte ich ihn. Ich hörte einen Mann. Es ist wohl unerklärlich, woher er kam, aber ich bin davon überzeugt, dass ich ihn aus der Erfahrung bezog, den Männern zuzuhören, die ich geliebt habe und liebe, besonders meinen Vater und meinen Mann, aber auch anderen, die entscheidend für meine intellektuelle Entwicklung waren - jene körperlosen männlichen Stimmen in den zahllosen Büchern, die ich im Lauf der
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Jahre gelesen habe. Ihre Worte sind in mir, aber genauso die Worte von Schriftstellerinnen: Jane Austen, Emily und Charlotte Bronte, George Eliot, Emily Dickinson, Gertrude Stein, Djuna Barnes haben meine Phantasie ebenso verändert, und ich meine damit nicht sexuelle Unterschiede im körperlichen Sinn, sondern wiederhole Winnicott: »Ich dachte nicht mehr an Jungen oder Mädchen oder Männer und Frauen«, schreibt er, »sondern ich dachte in Begriffen wie männliche und weibliche Elemente in beiden.« Nach langjähriger Erfahrung lernte Winnicott, seinen Patienten in einer die Anatomie überschreitenden Art und Weise zuzuhören. Lesen heißt, den Schreiber nicht sehen. Marian Evans wurde George Eliot, um ihr Geschlecht zu verstecken, und es funktionierte eine Weile. Flauberts Erklärung »Madame Bovary, c'est moi« ist so ernst gemeint wie alles, was er je gesagt hat. Als Leserin von Büchern bin ich davon überzeugt, dass Wörter eine nahezu magische Kraft haben, nicht nur weitere Wörter zu erzeugen, sondern flüchtige Bilder, Gefühle und Erinnerungen. Manche Romane und Gedichte hatten die Kraft, rohe, unbekannte Teile von mir aufzudecken, spiegelten etwas, wovon ich vorher nichts gewusst hatte. In jedem Buch fehlt der Körper des Schreibers, und diese Abwesenheit macht die Buchseite zu einem Ort, an dem wir wirklich frei sind, dem Mann oder der Frau zuzuhören, die spricht. Wenn ich ein Buch schreibe, höre ich auch zu. Ich höre die Figuren sprechen, als wären sie außerhalb von mir, statt in mir. In einem Buch hörte ich eine junge Frau, die spielte, ein Mann zu sein; in einem anderen hörte ich einen Mann. In meinen Träumen werde ich zwischen den Geschlechtern hin- und hergerissen und frage mich, welches meins ist. Dass ich es nicht weiß, lässt mir keine Ruhe, aber wenn ich schreibe, wird eben diese Ambivalenz meine Befreiung, und ich bin frei, mich in Männer und Frauen hineinzuversetzen und ihre Geschichten zu erzählen.
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Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung und ihre Notwendigkeit Historische Entwicklungen und aktuelle Perspektiven Für Doris Grimm-Horlacher ( f )
Auf den ersten Blick mag es vielleicht erstaunen, dass es in einer sich aufgeklärt, tolerant und liberal gebenden Gesellschaft notwendig scheint, Gender Mainstreaming1 in einem Vertrag festzuschreiben (Amsterdam 1997) und zum offiziellen Ziel der Gleichstellungspolitik der Europäischen Union zu machen. Auf den zweiten Blick wird die dringende Notwendigkeit, verstärkt an der Gleichstellung der Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu arbeiten, jedoch mehr als evident: So verdienen Frauen nach einer aktuellen Studie der Europäischen Kommission in der Europäischen Union je Arbeitsstunde etwa 15 Prozent weniger als Männer, wobei in Deutschland das Gefalle mit 22 Prozent noch deutlich größer ist. Wirft man einen Blick auf die deutsche Universitätslandschaft, so stellt man fest, dass beim Zugang zum akademischen Milieu< zwar nahezu Gleichberechtigung herrscht, der Frauenanteil aber schwindet, je weiter der Karriereweg fuhrt: Unter den Promotionen beträgt der Frauenanteil 39,6 Prozent, unter den Habilitationen 23 Prozent. Nur 14,3 Prozent der Professorenstellen in Deutschland werden von Frauen bekleidet, unter den gut bezahlten Lehrstuhlinhabern stellen sie gar nur 9,7 Prozent [...]. Von 355 Rektoren- und Präsidentenposten sind nur 31 von Frauen Als deutsche Übersetzungen von Gender Mainstreaming gelten »Integration der Gleichstellungsperspektive«, »durchgängige Gleichstellungsorientierung« oder auch »gleichstellungsorientierte Politik«. Vgl hierzu Elisabeth Holzleithner, »Gender mainstreaming«, in: Renate Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies - Geschlechterforschung, Stuttgart und Weimar 2002, S. 142f. Vgl. Werner Mussler, »Der Wettbewerb hilft den Frauen«, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.08.2007, Nr. 32, S. 34. Untersuchungen der Bundesregierung kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Für einen Überblick über konkrete Gehaltsunterschiede in den unterschiedlichen Berufsgruppen vgl. Marion Meyer-Radtke, »Löhne und Gehälter: Warum Frauen weniger als Männer verdienen«, Welt online, http:// www.welt.de/wirtschaft/articlel902985/Warum_Frauen_weniger_als_Maenner_verdienen.html, letzter Zugang: 15. April 2008.
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besetzt. [...] In den Spitzenpositionen der Helmholtz-Gemeinschaft finden sich neben 206 Männern nur 7 Frauen, das entspricht einem Anteil von 3,3 Prozent, und die Max-Planck-Gesellschaft hat neben 247 Männern 15 Frauen an die Spitze von Instituten berufen. Bei der Leibniz-Gemeinschafil beträgt der Frauenanteil in Führungspositionen 6,5 Prozent. Insgesamt stehen bei den großen Forschungsor^anisationen einer Übermacht von 612 Männern gerade einmal 33 Frauen gegenüber. Wendet man sich ergänzend der Wirtschaft zu, so gilt es zu konstatieren, dass bei »den 80.000 (sie) größten deutschen Unternehmen [ . . . ] 10,43 Prozent der Führungspositionen« von Frauen eingenommen werden und von den rund 190 Vorstandsposten der 30 DAX-Unternehmen 189 mit Männern besetzt sind. 4 Angesichts dieser Tatsachen erscheint es fast schon normal, dass auch in dem für den vorliegenden Band zentralen Bereich der Musik eklatante Ungleichheiten existieren. So schreibt Elke Mascha Blankenburg: Im Jahre 2002 gibt es in Deutschland 76 Opernhäuser, die regelmäßig bespielt werden, die Festspielhäuser nicht mit einbezogen. Von den 76 Generalmusikdirektoren sind zwei weiblich: Das sind 2,5%. Dazu kommen 34 Symphonieorchester, die unabhängig von einem Theaterbetrieb arbeiten. Von diesen 34 Generalmusikdirektoren ist einer weiblich. Diese Angaben sind umso erstaunlicher, als in weiten Kreisen einer sich zunehmend postfeministisch verstehenden Gesellschaft die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern als eigentlich schon verwirklicht gilt und feministische Strömungen nicht selten als uncool und anachronistisch abgestempelt werden. D o c h auch ein zweiter Blick auf die Welt der Orchester und ihrer Dirigentinnen offenbart Eindeutiges: Der Orchesterdirigent repräsentiert in der Musikwelt die höchste Position der Konzert- und Opernhierarchie. Mit ihm verbindet man besondere musikalische Fähigkeiten, aber ebenso die Vorstellung von Macht, Durchsetzungsvermögen, Führungswillen und Autorität. Eigenschaften, die Gesellschaft und Musikbetrieb dem Mann zugeordnet haben und noch immer zuordnen. Durch die gesellschaftlichen Einschränkungen und Prägungen der Vergangenheit entsprechen Frauen diesem Bild nicht. Am Pult könnten sie dem Heroenkult sogar schädlich sein und müssen selbst bei außergewöhnlicher Qualifikation bis heute hinter ihren Kollegen zurückstehen.
Andreas Senkter, »Die exotische Frau Professor«, DIE ZEIT 15.02.07, Nr. 08, http://www.zeit.de/2007/08/Frauen-in-der-Wissenschaft, letzter Zugang: 28. April 2008, sowie http://www.frauenbuero.uni-wuerzburg.de/news/meldungen/single/artikel/aktuelles/, letzter Zugang: 28. April 2008. »Frauen studieren falsche Fächer«, Hamburger Abendblatt 26.06.2006, http://www. abendblatt.de/daten/2006/06/26/578449.html, letzter Zugang: 28. April 2008. Elke Mascha Blankenburg, Dirigentinnen im 20. Jahrhundert. Porträts von Marin Alsop bis Simone Young, Hamburg 2003, S. 12. Ebd., S. 13 sowie ebd., S. 19: »Mit der Demonstration und in der Kombination von
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Doch wenn die Frauenbewegung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen bis heute scheinbar spurlos an der >Welt der Musik< vorbeigegangen ist, wie verhält es sich dann erst mit deren Vergangenheit? »In Europa«, so schreibt Annette Kreutziger-Herr, »wird das Haus der Musikgeschichte seit jeher von Männern bewohnt. Das Geschlecht der Protagonisten, der Musiker und Komponisten wie auch der Geschichtsschreiber gleichermaßen war offensichtlich die notwendige Eintrittskarte zum Vestibül.« Und wenn Kreutziger-Herr weiter argumentiert, »[e]in klingendes Museum der Meisterwerke europäischer Männer war immer nur eine Art, über Musikgeschichte zu denken, geleitet von polymorphen Bildern der Maskulinität und imaginierten Weiblichkeit«, so erinnert dies in fast schon fataler Weise an die in der Literaturwissenschaft in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts geführte Diskussion um imaginierte Weiblichkeit und männg liehe Kanonbildung. Mit dem Unterschied jedoch, dass es in der Musikgeschichtsschreibung sogar noch um einiges »patriarchaler« zuzugehen scheint. Warum und mit welchen Argumenten, so muss man sich fragen, wurden und werden Frauen (nicht nur) in diesem Bereich derart diskriminiert? Eine von vielen möglichen Argumentationen speist sich aus dem Anstands- und Sittlichkeitsdiskurs: Streichinstrumente waren über Jahrhunderte verpönt. Die sinnliche Ausstrahlung durch den engen Körperkontakt zum Instrument, die große Bewegungsgestik beim Spielen wurde nicht geduldet. Sie widersprach dem Bild der Sittlichkeit, das eine Frau auszustrahlen hatte. Cellospielen war durch die den Anstand verletzende Sitzhaltung mit gespreizten Beinen völlig indiskutabel. [...] Es war ein enger Spielraum, in dem Frauen musikalisch agieren konnten. Durch die vorgegebene Instrumentenauswahl war ihnen der häusliche Rahmen zugewiesen. Wer kann schon ein Spinett, ein Klavier, oder eine Harfe ohne weiteres vom Platz bewegen! Durften sie andere Instrumente erlernen, begrenzten die Vorstellungen einer sittsam, bewegungsarmen
Macht und Musik konnten Frauen nicht Fuß fassen. Das über Jahrhunderte festgelegte Bild weiblichen Seins und Wirkens verkörperte geradezu das Gegenteil. Dirigierende Frauen stellen bis heute die tief verwurzelten Leitbilder der Geschlechter in Frage. Zusätzlich waren die Orchester ausschließlich mit Männern besetzt. Männer dirigierten Männerorchester. Welche Rolle sollte eine Frau da einnehmen?« Annette Kreutziger-Herr, »Zum Geleit«, in: Begleitbuch zur Ringvorlesung HISTORY/HERSTORY, Hochschule für Musik Köln 2007, S. 2f„ hier: S. 2; vgl. auch im vorliegenden Band »Bauplanung«. Selbstverständlich gibt es diese Debatte um und unter Komponistinnen schon länger. Für den Bereich der Literatur vgl. Gudrun Loster-Schneider und Gaby Pailer, »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen {1730-1900), Tübingen 2006, S. v-xii. Siehe den Beitrag »History und Herstory: Musikgeschichte, Repräsentation und tote Winkel« von Annette Kreutziger-Herr im vorliegenden Band.
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Gestik das Handeln der Frau. Einschränkungen, die der Entwicklung eines freien künstlerischen Ausdruckfs] zuwider standen.
Angesichts dieser Art von Argumentation stellt sich die Frage, aus welchen älteren, hegemonialen und übergreifenden Diskursen und Denksystemen sie sich speist, welcher Logik sie folgt, welchen häufig uneingestandenen Interessen sie dient und wie sie sich rechtfertigt. Dabei stellt sich der Verdacht ein, dass diese Argumentationsstruktur weniger musikspezifisch ist, als vielmehr Teil einer weit verbreiteten patriarchalen Logik, die es aufzudecken und deren Quellen es deutlich zu machen gilt. Aufgabe der folgenden Ausfuhrungen ist es deshalb, in einem ersten Teil auf einer kulturhistorisch übergreifenden Ebene anhand historischer Beispiele und ausgewählter Diskurse von Aristoteles und der Bibel bis zum viktorianischen Zeitalter die generelle Notwendigkeit eines gewöferspezifischen Ansatzes aufzuzeigen. In einem zweiten, chronologisch direkt anschließenden Teil erfolgt dann ein kritischer Überblick über die wichtigsten Entwicklungen im Bereich der Geschlechterforschung des 20. Jahrhunderts, wobei besonders auf die Literatur- und Kulturwissenschaften eingegangen wird, da diesen (nicht nur) im Bereich gender eine Vorreiterrolle zukommt. 11 Beide Teile dieses Aufsatzes gehen stark selektiv vor, arbeiten exemplarisch-paradigmatisch und versuchen signifikante Entwicklungen aufzuzeigen, um in ihrer Gesamtheit als geschichtliche und theoretische Hintergrundskizze für die Einzelanalysen dieses Sammelbandes zu fungieren. Um klarere, wenn auch notwendigerweise simplifizierte Entwicklungslinien sowie eine größere Kohärenz der Beispiele zu garantieren, werden diese in der Regel aus dem anglistischen Bereich genommen, doch finden selbstverständlich auch kontinentaleuropäische und amerikanische Entwicklungen Berücksichtigung.
I Geschlechterkonzeptionen aus diachroner Sicht In ihrem Buch Geschlechtsrollenwandel und Sexismus argumentiert Herrad Schenk, dass »> Männlichkeit [offensichtlich] das ursprünglichere (und positiv Krista Warnke, »Gender Studies verändern den Blick: Gedanken zu einer neuen Forschungsperspektive«, in: Musik. Frau. Sprache. Interdisziplinäre Frauen- und Genderforschung an der Hochschule fiir Musik und Theater Hannover, hrsg. von Kathrin Beyer und Annette Kreutziger-Herr, Herbolzheim 2003 (= Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik, Bd. 5), S. 13-25, hier: S. 17. Für eine stärker ausdifferenzierte Betrachtung vgl. Therese Frey Steffen u.a. (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, sowie die insgesamt 17 Kapitel »Gender-Studien in einzelnen Disziplinen«, in: Gender Studien: Eine Einfuhrung, hrsg. von Christina von Braun und Inge Stephan, Stuttgart und Weimar 2000, S. 117-344.
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gewertete) Konzept, >Weiblichkeit< dagegen, sowohl im Sinne eines >wenigerals-männlich< als auch im Sinne eines >anders-als-männlichbiologistische< Medizin-Diskurse. Selbst wenn populärwissenschaftliche Darstellungen auch heute noch häufig dem Mythos folgen, »dass der Umgang der Geschlechter in der Moderne stets freier und die sexuellen Normen viel freizügiger geworden sind«, so zeigt doch ein kritischer Blick, dass die Geschlechtsgegensätze vor allem seit dem 17. Jahrhundert [...] immer deutlicher polarisiert worden [sind]. Gerade die Zeit zwischen Spätantike, frühem Christentum und Mittelalter [...] ist durch höchst wechselnde Zuschreibungen von Macht, Politik, Körper und Männlichkeit geprägt eine Dynamik der Geschlechterpolitik, die unserem modernen, meist auf Biologismen und Geschlechterstereo typen eingeübten Blick oftmals verborgen bleibt.
Rückt man die konkrete Konzeption von Körper und Geschlecht in den Vordergrund, so belegen vor allem medizinhistorische Untersuchungen, »dass >Geschlecht< im antiken und vormodernen Denken noch nicht in bipolare Geschlechtsgegensätze gespalten« und »das körperlich sichtbare >Geschlecht< sehr 18
viel abhängiger von anderen politischen und sozialen Status-Merkmalen« ist. Statt Männlichkeit und Weiblichkeit als binäre Opposition aufzufassen, herrscht ein »Ein-Geschlecht-Modell« vor, nach dem der weibliche Körper nur eine (unvollkommene) Variante des männlichen ist. Zwar wird ihm die gleiche biologische Ausstattung zugeschrieben, doch gilt er in »der kosmischen Ordnung [...] als der unterlegene«, und noch in der Renaissance dient »der männliche Körper 19 als Vorbild bei der Darstellung anatomischer Eigenschaften von Frauen.« Ein für die Gegenwart entscheidender Einschnitt erfolgt im 16. Jahrhundert, wenn auch die größeren Auswirkungen für Männlichkeit und Weiblichkeit erst im 17.
Zur Rede von Königin Elizabeth I an das Parlament von 1559 siehe Suerbaum, Das elisabethanische Zeitalter, S. 193. Walter Erhart u. Britta Herrmann, »Der erforschte Mann?«, in: dies. (Hg.), Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart 1997, S. 3-31, hier: S. 20 (Herv. d. Verf.), sowie Jonathan Walters »>No More than a Boyradikale Unterschied< zwischen den Geschlechtern betont und das alte 21vom neuen Modell zweier einander entgegen gesetzter Geschlechter abgelöst: Im Zuge der Industrialisierung [...] wurde nach biologischen Begründungen einer Geschlechterdifferenz gesucht, zugleich aber auch nach Rechtfertigungen der klar abgegrenzten Geschlechterrollen. In Umkehrung des vorangegangenen Modells erscheint jetzt der Körper als das Reale und die kulturellen Bedeutungen als Epiphänomene. Die Biologie wird die epistemologische Grundlage sozialer Regeln. Der Uterus und die Ovarien, die Organe, welche die Frau als solche bestimmen, sanktionieren ihre Funktion als Mutter und machen 23 sie zu einem Wesen, das in jeder Hinsicht ihrem Gefährten konträr ist. Folglich dient auch das neue Modell dazu, den Mann als »Bezugsgröße, an der man die Frau mißt«, beizubehalten: Er ist das Eine, verständlich, durchschaubar, vertraut. Die Frau ist das Andere, fremd und unverständlich. Schließlich stellt sich, unabhängig davon, welches Geschlechtermodell man im Auge hat - Ähnlichkeit oder Verschiedenheit - , der Mann immer als das vollkommenere Exemplar der Menschheit dar, als das Absolute, von dem ausgehend die Frau einzuordnen ist.
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Siehe Robert W. Connell, Masculinities, Cambridge 1995, S. 186ff.; Elisabeth Badinter, XY. Die Identität des Mannes, München 1993, S. 23ff., die auf die Rolle der französischen Précieuses »als erster Ausdruck des Feminismus« eingeht. »With the eighteenth century, in seaboard Europe and North America at least, we can speak of a gender order in which masculinity in the modern sense - gendered individual character, defined through an opposition with femininity and institutionalized in economy and state - had been produced and stabilized.« Connell, Masculinities, S. 189. Bis dahin wurden die Bedeutungen von Mann (vir) und Mensch {homo) einander angeglichen und das Geschlecht oder der Körper als ein >Epiphänomen< aufgefaßt, »während die Gattung, die wir als kulturelle Kategorie betrachten, die erste und vorrangige Gegebenheit war«. Ein Mann oder eine Frau zu sein, »bezeichnete in erster Linie einen Rang, einen Platz in der Gesellschaft, eine kulturelle Rolle und nicht ein dem anderen biologisch konträres Lebewesen.« Badinter, XY. Die Identität, S. 19; vgl. ebd., S. 23ff. und Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben, Frankfürt a.M. 1992. Labado, »Ein-Geschlecht-Modell«, S. 79. Badinter, XY. Die Identität, S. 20 (Herv. d. Verf.); vgl. Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben; Annelise Maugue, L'identité masculine en crise au tournant du siècle, Paris 1987, S. 7. Badinter, XY. Die Identität, S. 21.
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Allerdings fuhrt die Veränderung der Geschlechtermodelle vielfach auch zu einer regelrechten »Suche nach dem sicheren Geschlecht« und zeitigt als Ergebnis, »dass im 19. Jahrhundert (und bis heute) die Grenzen der Geschlechter auf neue und rigide Weise befestigt worden sind, und zwar mit Theorien, die das biologische Geschlecht neu definiert und die privaten und öffentlichen 25
Tätigkeitsbereiche genau auf die zwei Geschlechter [...] verteilt haben.« Hält man sich die Dauer und das Ausmaß der Asymmetrie zwischen den Geschlechtern vor Augen, so ist es erstaunlich, wie spät erst feministisches Gedankengut tatkräftig ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit tritt. Selbstverständlich finden sich von der Kritik häufig äußerst kontrovers diskutierte protofeministische Ansätze schon früh in der Literatur, beispielsweise bei Marie de France, Christine de Pizan oder aber Geoffrey Chaucer (»Wife of Bath«), selbstverständlich sind auch die Frauenfiguren bei John Webster, sei es die Duchess of Malfi oder Vittoria Corombona, nicht als stereotyp zu bezeichnen, und selbstverständlich gibt es auch frühe »Frauenrechtlerinnen« wie Marie de Gournay oder Olympe de Gouges, doch dringt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Ungleichheit der Frau erst während des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nachhaltig als Problem in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Vor allem in Frankreich entstehen im Zeitalter der Aufklärung erste Ansätze einer Frauenrechtsbewegung, wird den Frauen doch 1793 vom Konvent das Bürgerrecht abgesprochen, was sie auf eine Stufe mit Kindern, Geisteskranken und Kriminellen stellt. Auch Rechtssysteme wie der Code Napoléon bzw. Code civil und das Allgemeine Preußische Landrecht, die für die Sattelzeit und ihre Auswirkung auf die historische Moderne zentral sind, erweisen sich als stark androzentrisch. So steht in Artikel 213 des in Frankreich immerhin bis zur Verfassung der Volksfrontregierung von 1938 gültigen Code Napoléon: »Der Mann ist seiner Frau Schutz, die Frau ihrem Mann Gehorsam schuldig«. Mit der Eheschließung wird die Vormundschaft des Vaters, dem nach Art. 373 die alleinige elterliche Gewalt sowie das Zuchtrecht - also Züchtigungsrecht - zusteht, oder anderer männlicher Verwandter über die Frau aufgehoben und dem Ehemann übertragen. Die Frau begibt sich in die Obhut ihres Mannes, dem damit das uneingeschränkte Verfügungsrecht über ihre Person und ihr Vermögen zufällt. Das heißt, selbst wenn sie über ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen verfügen will, verlangt Art. 217 die Zustimmung des Ehemannes. Gemäß Art. 373 muss sie sich allen Entscheidungen ihres Mannes beugen, auch wenn es sich dabei um die Erziehung und Ausbildung der gemeinsamen
Erhart, Herrmann, »Der erforschte Mann?«, S. 21; vgl. Karin Hausen »Die Polarisierung der >GeschlechtercharaktereMann und Weib, und Weib und Manne Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995.
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Kinder handelt. Eine verheiratete Frau - selbst die Handel oder Gewerbe treibende Frau - ist in jeder Beziehung geschäftsunfähig, denn: [S]ie ist keine selbständige Rechtsperson.
In Deutschland setzt die erste Welle der modernen Frauen- bzw. Frauenrechtsbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts ein - Ziele sind die grundsätzlichen politischen und bürgerlichen Rechte der Frauen wie beispielsweise das Frauenwahl27
recht, das Recht auf eine Erwerbstätigkeit und das Recht auf Bildung - , und in den USA ist die Frauenbewegung im Zusammenhang mit der Anti-SklavereiBewegung zu sehen, befinden sich unter den >Abolitionistinnen< doch viele, oft religiös motivierte Frauen, die erkennen müssen, dass nicht nur die Bürgerrechte der Afroamerikaner, sondern auch die der Frauen nicht denen der weißen Männer entsprechen (»Seneca Falls Declaration«, 1848). Auch in England, auf das im Folgenden exemplarisch eingegangen werden soll, entstehen die »Frauenbewegungen und feministische Praxis im Kontext der Aufklärung, der demokratischen Revolutionen und der aus ihnen resultierenden 28 Reformbewegungen«. Bezüglich der Forderung nach elementaren Verbesserungen der Frauenrechte kann als früher Text Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Woman (1792) angesehen werden. Wichtig wegen seines Einflusses auf die viktorianische 29 Frauenbewegung ist auch John Stuart Mills On the Subjection of Women (1869), der geradezu antizipatorisch und prototypisch fur feministische Strömungen des 20. Jahrhunderts auf die Existenz und den Konstruktcharakter von gender verweist: What is [...] called the nature of women is an eminently artificial thing - the result of forced repression in some directions, unnatural stimulation in others. [...] [A]ny of the mental differences supposed to exist between women and men are but the natural
Siehe Gudrun Loster-Schneider, »Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Einfuhrung in die feministische Literaturwissenschaft«, unveröffentl. Vorlesungsmanuskript, Universität Mannheim 1997/2003. Namentlich genannt seien hier nur Louise Otto-Peters, Hedwig Dohm, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und Marie Juchacz. Grob wird zwischen drei Phasen der Frauenbewegung unterschieden: a) 1848-1914/33; b) seit 1960/69 sowie c) seit 1990 (vor allem in den USA, doch ist dies auch die Zeit des einsetzenden Postfeminismus). Vgl. ausführlich Elke Brüns, »Frauenbewegung (deutsche)«, in: Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies, S. 117-119. Sabine Sielke, »Anglo-amerikanischer Feminismus«, in: Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies, S. 11-13, hier: S. 12. Sielke, ebd., die auf die in der Regierungszeit von Elizabeth I entstandenen feministischen Schriften von Margaret Tyler und Jane Anger (Pseudonym) verweist, vertritt einen früheren Ansatz.
62
Stefan Horlacher effect of the differences in their education and circumstances, and indicate no radical difference, far less radical inferiority, of nature.30
In der Regel unterscheidet man bei den feministischen Bestrebungen im England des 19. Jahrhunderts zwischen der frühen Frauenrechtsbewegung (first-wavefeminism ab ca. 1850), dem Auftauchen der New Woman (ab ca. 1880) sowie den Suffragetten um Emmeline und Christabel Pankhurst (1903 Gründung der Women 's Social and Political Union), wobei unterschiedliche, manchmal durchaus widersprüchliche Ziele existieren und die Gruppierungen untereinander heterogen und deutlich weiter ausdifferenziert sind als hier dargestellt werden kann. In Bezug auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern kristallisieren sich bereits sehr früh zwei grundlegend verschiedene Auffassungen heraus: eine dualistische bzw. differenzialistische und eine generalistische bzw. egalitäre Sichtweise. Einig sind sich die Frauenrechtlerinnen höchstens darüber, »[that] women were legally, socially, and economically oppressed and that this was an unjust 31 State of affairs which required a remedy.« Statt jedoch auf die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker werdende feministische Bewegung und ihre Ausdifferenzierungen einzugehen, scheint es für eine Überblicksdarstellung mit Blick auf die Gegenwart sehr viel lohnenswerter zu verdeutlichen, wogegen überhaupt protestiert wurde, wobei sich Analogien zwischen England, Deutschland, Amerika und Frankreich genauso einstellen wie Ähnlichkeiten zur eingangs dargestellten Argumentation im Bereich der Musik: Die viktorianische Weiblichkeitsideologie ist von der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau, von sozialdarwinistischen Überzeugungen, von biologischem Determinismus sowie von einem zur damaligen Zeit mit viel positivistischer Autorität ausgestatteten, aus heutiger Sicht als pseudo-medizinisch zu bezeichnender Diskurs geprägt. Die Rollen von Sozialisation und kultureller Prägung werden ignoriert, statt dessen erscheinen die vermeintliche biologische Determiniertheit der Frau, das heißt unter anderem ihre Gebärfahigkeit und die damit verbundenen maternal instincts, ihre angeblich geringere Gehirngröße - angesiedelt zwischen Kind und Mann - und ihre körperliche Schwäche als völlig ausreichend, um ihr einen untergeordneten Platz in der evolutionären Entwicklung zuzuschreiben. Zugleich sind Stereotype wie die Spaltung in den akzeptierten angel in the house und die sozial geächtete, aber heimlich begehrte fallen woman oder femme fatale zu konstatieren. Die Frau wird als relative creature definiert, der nur als Funktion für andere, als Mutter oder Ehefrau, Bedeutung zukommt.
30
31
John Stuart Mill, On the Subjection of Women, hrsg. von George E.G. Catlin, London 1929, S. 238, 263. Zu den Differenzen vgl. Barbara Caine, Victorian Feminists, Oxford 1992.
Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung
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Theorien wie die der separate spheres verherrlichen ein weibliches domestic ideal, das der Frau im Sinne der domestic theory den häuslichen und dem Mann 32
den öffentlichen, kulturschaffenden Bereich zuerkennt. Weigert sich die Frau, diese angeblich biologisch determinierte soziale Position einzunehmen, so trifft sie der Vorwurf widernatürlichen Verhaltens. Wie gut dieses System der Indoktrination des domestic ideal funktioniert, zeigt sich anhand der zahlreichen von Frauen verfassten, einen cult of true womanhood propagierenden Handbücher für Mädchen. Als typisch weibliche Charakteristika tauchen Demut, Bescheidenheit, Liebes- und Aufopferungsfähigkeit, Selbstverleugnung sowie moralische Reinheit und Religiosität auf. Selbstlos hat die Frau dem Mann zu gehorchen und wird gemäß der pedestal theory als asexuelles, reines und moralisch überlegenes Wesen auf ein Podest gestellt. Ihre Aufgabe liegt in der Veredelung des Mannes. Sexualität ist der Frau im Rahmen der intention-of-nature theory nur zugunsten der Reproduktion erlaubt, doch verfugt sie angeblich über keine Art von eigener Lust. Paradoxerweise wird der Frau einerseits jegliche Körperlichkeit und Sexualität abgesprochen, während sie andererseits - als Mutter - gerade auf ihre Körperlichkeit reduziert und ihr aufgrund ihrer Gebärfahigkeit die Gabe zu selbständigem Denken aberkannt wird. Reproduktionsfahigkeit und Intelligenz schließen sich nach medizinischen Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts aus: »[I]f women expended their energies on higher education, they must expect to find their reproductive abilities stunted, if not destroyed - to become the mothers of >a puny, enfeebled, and sickly racec >When Nature spends in one direction, she must economise in another directions« 33 Diese Logik erweist sich als international, argumentiert doch beispielsweise kein geringerer als Max Planck, dass »Amazonen [...] auch auf geistigem Gebiete naturwidrig« sind und fügt hinzu: [M]an kann nicht stark genug betonen, dass die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter und Hausfrau vorgeschrieben hat und dass Naturgesetze unter keinen Umständen ohne schwere Schädigung, welche sich im vorliegenden Falle besonders an dem nachwachsenden Geschlecht zeigen würden, ignoriert werden können.
Siehe Merryn Williams, Women in the English Novel 1800-1900, London 1984, S. 23; vgl. Eva Wester, »Das Dilemma des Emanzipationsstrebens der Sue Bridehead im Spannungsfeld von weiblicher Autonomie und Sexualität«, unveröffentl. Magisterarbeit, Universität Mannheim 1998, S. 9. Phillip Mallet, »Sexual Ideology and Narrative Form in Jude the Obscure«, English 38, 162 (1989), S. 211-224, hier: 215; vgl. Wester, »Das Dilemma des Emanzipationsstrebens«, S. 13; vgl. Christina von Braun, »Gender, Geschlecht und Geschichte«, in: von Braun, Stephan (Hg.), Gender Studien, S. 16-57, hier: S. 32-34. Max Planck zitiert nach von Braun, »Gender, Geschlecht und Geschichte«, S. 33.
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Stefan Horlacher
Dies fuhrt, um den Bogen zurück zur Musik zu schlagen, im Extremfall sogar so weit, dass, wenn auch zeitlich deutlich vor Planck, Gesang für Frauen sogar von Medizinern als unnütz und aufgrund ihrer vermeintlich schwächeren Konstitution sogar als potentiell tödlich eingestuft wird: [Am] wenigsten darf ich die außerordentliche Leidenschaft für den Gesang, die sich unserer Mitbürger bemeistert hat, wegen der traurigen Folgen auf die Gesundheit der Sängerinnen, rühmen. Wie oft hab' ich Vater und Tochter beklagt, wenn die Eine alle ihre Kräfte bis zum Blutsturz aufbot, sein Ohr und sein Herz zu bezaubern, und der Andere sich dem melodischen Zauber ohne Nachdenken überließ, und mittelbar den 35 Tod, den unvermeidlich frühen Tod seiner Tochter beförderte.
Selbstverständlich treten neben diese »medizinischen Grundlagen diejenigen des - für Frankreich bereits exemplarisch aufgezeigten - juristischen Diskurses, geht doch auch in England eine Frau durch Heirat lediglich vom Besitz des Vaters in den des Ehemannes über. 36 Auch hier erhält der Mann mit der Heirat die Verfügungsgewalt über den Körper sowie die finanziellen Einnahmen der Frau, die vor allem in der Arbeiterklasse nicht selten als »inexpensive servant« angesehen wird. Das »gesetzlich sanktionierte Recht des Ehemanns, seine trennungswillige Frau nach einem Fluchtversuch unter Gewaltanwendung ins eheliche Heim zurückzuholen und gegen ihren Willen in einem Zimmer gefangen zu halten«, verliert erst 1891 seine Gültigkeit, zu einem Zeitpunkt, zu dem auch »die uneingeschränkte sexuelle Verfügungsgewalt des Mannes über den Körper der 37
Ehefrau« aufgehoben wird. Zudem sind die separate spheres Theorie und der double Standard der Sexualmoral, der männliche Sexualität gestattet, weibliche Sexualität aber verbietet, immer schwerer zu verteidigen. Eine häufig gewählte Argumentation bedient sich der Strategie, Frauen, die aus den für sie reservierten Bereichen ausbrechen und Unabhängigkeit, Kontrolle über den eigenen Körper oder Bildung fordern, Vermännlichung vorzuwerfen und sie als pervertiert zu brandmarken. Wie übersteigert diese Reaktionen sowie die ihnen zugrunde liegenden Ängste sind, zeigt sich daran, dass viele Feministinnen und New Women zwar eine Antipathie gegen das traditionelle Ehe- und Rollenverständnis aufweisen, in Wirklichkeit die Ehe jedoch nicht abschaffen, sondern reformieren wollen. Dessen ungeachtet wird die Sexualität gerade im vermeintlich prüden Viktorianismus zu einem zentralen Thema und erfährt, wie nicht zuletzt Michel Konrad Friedrich Uden (1754-1823), zitiert nach Eva Rieger, Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluss der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung, Frankfurt a.M. 1981, S. 54. Siehe Joan Perkin, Women and Marriage in Nineteenth-Century England, London 1989, S. 13. Wester, »Das Dilemma des Emanzipationsstrebens«, S. 15.
Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung
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Foucault gezeigt hat, als »an object of great suspicion« eine Multiplikation von Diskursen. So handelt es sich, um nur ein Beispiel zu geben, bei dem im Schnittfeld literarischer und extra-literarischer Diskurse angesiedelten und deshalb umso schwerer fassbaren Phänomen der New Woman um einen eindeutigen und 38
während der »decades of sexual anarchy« auch so empfundenen Ausdruck der am fin de siècle zunehmend auftretenden Verwischung etablierter Geschlechtergrenzen, wobei 39 das dabei entstehende Bild einer »male effeminacy and female mannishness« - ich verweise nur auf Oscar Wilde und die Figur des Dandy zu extremen Befürchtungen hinsichtlich einer drohend bevorstehenden völligen Auflösung von Geschlechterkategorien Anlass gibt. Gleichzeitig treibt die feministische Kritik an der Ehe fast schon automatisch »a critique of masculinity« hervor,40 wird das angeblich natürliche beast within (des Mannes) nicht mehr akzeptiert und macht sich die bereits angesprochene Verlagerung »from the mere discussion of >proper< female roles to the questioning of >true< maleness« zunehmend bemerkbar.41 Dies geht im philosophischen und wissenschaftlichen Diskurs mit einer signifikanten Spaltung einher, liegen die vorgeschlagenen Heilmittel in »eine[r] Rückkehr zu einer gesunden Polarität der Geschlechter«42 oder aber - wie eine weitgehend ignorierte Minderheit mit Otto Groß oder Georg Groddeck argumentiert - darin, dass sich die Männer »von einer künstlichen und knechtenden Virilität frei [...] machen und so schnell wie möglich zu ihrer ursprünglichen Weiblichkeit« zurückfinden sollen.43 Die um sich greifende Unsicherheit und Angst um die männliche Position trägt auch dazu bei, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Flut von Werken entsteht, die das weibliche Geschlecht diffamieren. Neben Philosophen wie Nietzsche und Schopenhauer »stellen auch die Psychologen und Biologen sowie die Historiker und Anthropologen einen extremen Antifeminismus unter Beweis«, wenn sie sich darum bemühen, »die ontologische Minderwertigkeit der Frau zu beweisen«.44 Dabei findet sich die These, dass die Frau dem Tier und dem >Neger< nahe stehe genauso wie die Sicht, dass sie von »ihren primitiven Instinkten, Eifersucht, Eitelkeit und Grausamkeit getrieben« werde. Während Darwin 1871 in The Descent of Man eine natürliche Überlegenheit des Mannes über
39
42 43 44
Elaine Showalter, Sexual Anarchy: Gender and Culture at the Fin de Siècle, London 1991, S. 3. Linda Dowling »The Decadent and the New Woman in the 1890's«, in: NineteenthCentury Fiction 33, 4 (1979), S. 434-453, hier: S. 445. Cornelia Schulze, The Battle of the Sexes in D.H. Lawrence's Prose, Poetry and Paintings, Heidelberg 2002, S. 29. Siehe Terry Lovell, Consuming Fiction, London 1987, S. 119. Badinter, XY. Die Identität, S. 31. Ebd. Ebd., S. 229, Anm. 52.
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die Frau diagnostiziert und George Romanes 1887 in »The Mental Differences between Men and Women« über Differenzen im männlichen und weiblichen Gehirn spekuliert, binden Patrick Geddes und Arthur Thomson 1889 in The Evolution of Sex Männlichkeit an die Attribute von Sperma (aktiv, schnell etc.) und Weiblichkeit an die Attribute der Eizelle (passiv, wartend etc.).45 Betonen dementsprechend viele Untersuchungen über die Sexualwissenschaft der Viktorianer, »how comparative anatomists, biologists, gynaecologists and physiologists confirmed the rigid categorisation of men and women as fundamentally different and provided authority for the culture's narrow ideals and ideological formulations«,46 so gestaltet sich, wie mit den Namen Otto Groß und Georg Groddeck bereits angedeutet, die Sachlage bei genauem Hinsehen differenzierter, sind die »biomedical responses to the question of sexual difference [...] never unanimous or univocal«.47 Havelock Ellis betont beispielsweise in The Psychology of Sex die »mutability of sexuality«, wenn er schreibt: »We may not know exactly what sex is [...] [but] we do know that it is mutable, with the possibility of one sex being changed into the other sex, that its frontiers are often mutable, and that there are many stages between a complete male and a complete female.« 48 Doch indem der biologisch-medizinische Diskurs zunehmend verschiedene und widersprüchliche »versions of sexual difference and female sexuality« anbietet und dabei »very much concerned with the instability of that 49
difference [between the sexes]« ist, überträgt sich diese Unsicherheit einmal mehr auf die Konzeption von Männlichkeit - von der ebenfalls virulenten Frage nach Homosexualität bzw. danach, »ob sexuelle Orientierung und die Zugehörigkeit zum jeweiligen Geschlecht die Frage einer Wahl oder eines Zwangs, ob sie >naturgegeben< oder >gewolltSexualität< und >Geschlecht< kulturelle oder geistige, psychische Kategorien werden konnten. [...] Gegen Ende des 19. Jahrhunderts - und der Kampf um das Frauenstudium und das weibliche Wahlrecht war nur ein Symptom dafür - trat neben die traditionelle biologische Definition des Geschlechts eine kulturelle oder psychologische, die besagte, dass man zwar biologisch ein Mann sein, aber wie eine Frau empfinden (also auch denken) könne und umgekehrt. Das Individuum an sich erschien nicht mehr biologisch definierbar.
II
Perspektiven der Geschlechterforschung im 20. und 21. Jahrhundert
11.1 V o n Virginia Woolf zur französischen »Differenztheorie« Nachdem bisher die Notwendigkeit wie auch die >Wurzeln< und wichtigsten Ziele der feministischen Strömungen im Vordergrund standen, gilt es nun vom diachronen und politisch-sozialen stärker in den wissenschaftlichen Bereich, also in die Geschlechterforschung und ihre Entwicklung im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert zu wechseln. Diese Veränderung des Fokus darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Asymmetrien im Geschlechterverhältnis noch lange nicht >Geschichte< sind. In der Regel unterscheidet man - wenn auch sehr vereinfacht - zwischen einer u.a. mit Virginia Woolf (A Room of One's Own 1929; Three Guineas 1938) und Simone de Beauvoir (.Le deuxième sexe 1949) einsetzenden, politische Ansprüche vertretenden frühen Phase des Feminismus, den amerikanischen Women Studies der 60er Jahre, der deutschen Frauenforschung und der feministischen Literaturwissenschaft der 70er Jahre, den sich vor allem in den 80er Jahren etablierenden Gender Studies sowie dem dekonstruktiven Feminismus bzw. der dekonstruktiven Geschlechterforschung seit dem Ende der 80er Jahre. 53 Allerdings überlappen sich viele dieser Phasen, da es nicht nur eine Koexistenz verschiedener Forschungsrichtungen, sondern stellenweise auch gemeinsame Fragestellungen und analytische Instrumente gibt. So reicht Woolfs, vor allem aber Beauvoirs Einfluss weit über ihre Zeit hinaus: Beauvoir liefert »der 52
53
Ebd., S. 36. Zur Datierung siehe Heike Fleßner, »Women's Studies«, in: Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies, S. 408-410; Waltraud >Wara< Wende, »Literaturwissenschaft, feministische«, in: ebd., S. 240-242; Elke Brüns, »Frauenforschung«, in: ebd., S. 119-121; Doris Feldmann und Sabine Schülting, »Gender Studies/Gender Forschung«, in: ebd., S. 143-145.
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Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre ein entscheidendes theoretisches Rüstzeug«, wird »von den essentialistisch orientierten feministischen Strömungen der 70er und 80er Jahre reklamiert« und antizipiert mit ihrem theoretischen Ansatz »die gewcfertheoretischen Positionen der 90er Jahre«. 54 Auch der kontinuierliche, wenn auch wegen Patriarchatsverdacht häufig kontrovers diskutierte Einfluss der Psychoanalyse von Sigmund Freud über Jacques Lacan bis in die Gegenwart darf nicht unterschätzt werden. 55 Zudem gilt es zu beachten, dass die Diskussion in Deutschland den amerikanischen Debatten um bis zu 20 Jahre >hinterherhinkt< und sich dadurch weitere Überschneidungen ergeben, wurden doch differenzierte »Gender-Debatten in den USA bereits zu einer Zeit geführt [...], als in Deutschland der Feminismus noch um seine universitäre Anerkennung zu kämpfen hatte.« 56 Wichtige Ziele der seit den 1960er Jahren aufkommenden feministisch orientierten Forschungsrichtung sind die Gleichstellung der Frau, das Aufdecken patriarchaler Strukturen, deren Veränderung sowie die Analyse des Ortes der Frau bzw. des Weiblichen in der Gesellschaft. 57 In der Kultur- und Literaturwissenschaft ist für diese frühe Phase des Feminismus die Frage nach Bildern und Konzeptionen von Weiblichkeit prägend, sei es als Images of Women58 Critique/Feminist Critique oder aber Gynocriticism (Elaine Showalter). In der
Siehe Heike Paul, »Beauvoir, Simone de«, in: Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies, S. 34f. Zur Freud- und Lacan-Diskussion siehe Christa Rohde-Dachser, Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin 2 1992; Sander L. Gilman, Freud, Race and Gender, Princeton 1993; Jane Gallop, Reading Lacan, Ithaca 1985; Elizabeth Grosz, Jacques Lacan: A Feminist Introduction, London und New York 1990. Siehe auch die ausfuhrlichen bibliographischen Angaben in Stefan Horlacher, Masculinities: Konzeptionen von Männlichkeit im Romanwerk von Thomas Hardy und D.H. Lawrence, Tübingen 2006, S. 63f., Anm. 192. Inge Stephan, »Gender, Geschlecht und Theorie«, in: von Braun, Stephan (Hg.), Gender Studien, S. 58-96, hier: S. 63. Siehe Gabriele Rippl, »Feministische Literaturwissenschaft«, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg. von Miltos Pechlivanos u.a., Stuttgart und Weimar 1995, S. 230-240; vgl. Bildersturm im Elfenbeinturm, hrsg. von Karin Fischer u.a., Tübingen 1992, S. 19. »Während in der revisionistischen Feminist Critique die stereotypen Weiblichkeitsbilder in der von Männern produzierten Literatur sowie die Ausblendung von Autorinnen aus Literaturgeschichte und -theorie erfasst werden, hat der Gynocriticism, der von einer gendered difference, von spezifisch weiblichen Erfahrungen als historischen Kategorien in der Literatur von Frauen ausgeht, die Untersuchung der Literatur schreibender Frauen als distinkter Gruppe zum Gegenstand.« Ursula Jung, »Gynocriticism«, in: Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies, S. 170f., hier: S. 170.
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Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung 59
Regel gehen die frühe Frauenforschung und die Women Studies »von einer einheitlichen, homogenen Gruppe von Frauen mit identischer Erfahrung [aus], die biologisch bestimmt ist«. 60 Sie setzen sich mit Texten von Frauen und Repräsentationen von Frauen in literarischen Texten auseinander, orientieren sich an den Forderungen des liberalen Feminismus 61 und beziehen Teile ihrer theoretischen Grundlagen von Simone de Beauvoir. Wie Gabriele Rippl zu Recht argumentiert, liegt der Nachteil vieler aus der feministischen Frauenforschung stammender Ansätze gerade darin, dass weibliche Erfahrung als Basis der Interpretation betrachtet wird und häufig eigene ideologische Voraussetzungen nicht mitreflektiert werden, wie beispielsweise die Annahme einer »Kontinuität zwischen der weiblichen Erfahrung familiärer und sozialer Strukturen und der Erfahrung als Leserin«. 62 Zudem wird häufig, wenn auch implizit, »Frau als metaphysische Kategorie begriffen« und übersehen, »dass >weibliche Erfahrung< immer schon kulturell geprägt ist.« 63 Jenseits radikaler Positionen, wie sie bspw. von Mary Daly 64 vertreten werden, ist diese Phase in der Literaturwissenschaft, der eine Vorreiterrolle zukommt und auf die sich die folgenden Ausführungen konzentrieren, von der Suche nach vom Kanon ignorierten Autorinnen und dem Versuch der Etablie-
62
Siehe die beiden Einträge bei Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies, S. 119-121 und S. 408-410. Rippl, »Feministische Literaturwissenschaft«, S. 230; vgl. Brüns, »Frauenforschung«, S. 119-121. Vereinfacht dargestellt kann man laut Ilona Ostner im Feminismus zwischen drei Positionen unterscheiden, die sie mit >EgalitätDifferenz< und >Vielfalt der Differenzen umschreibt. Vgl. Ilona Ostner, »Einleitung: Differenzen unendlich ungleiche?« in: Feministische Vernunftkritik: Ansätze und Traditionen, hrsg. von Ilona Ostner und Klaus Lichtblau, Frankfurt a.M. 1992, S. 8f. Jonathan Culler, Dekonstruktion, Reinbek 1988, S. 49. Rippl, »Feministische Literaturwissenschaft«, S. 232. Eine relativ frühe Ausprägung feministischen Denkens ist der radikale Feminismus einer Mary Daly, der die Differenz zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit betont. Daly bejaht und überhöht Stereotype von Weiblichkeit, so bspw. die vermeintliche Nähe der Frau zur Natur, die später auch in einigen Strömungen des Ecofeminism/ Ecocriticism wieder aufgenommen wird. Nicht selten propagieren radikalfeministische Strömungen auch Separationsbestrebungen wie die Errichtung einer spezifisch weiblichen Gesellschaft und einen Ausschluss der Männer. Hiermit gehen ein Hang zu zyklischen Schreibformen und eine Theoriefeindlichkeit einher, da diese als männliche Diskursform angesehen wird. In einigen Varianten dieses Denkens findet sich auch die Auffassung, dass die moderne okzidentale Kulturentwicklung durch den fortschreitenden Prozess der Mechanisierung und Intellektualisierung völlig einseitig durch das »männliche Prinzip« geprägt sei und dass die Entwicklung einer utopischen, feminisierten Gegenwelt diesem soziokulturellen Prozess ein Ende bereiten könne.
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rang eines Gegenkanons geprägt. Weiblichkeit wird in der Regel biologisch definiert und als Identifikationspunkt für Frauen funktionalisiert, wobei die Betonung des biologischen Geschlechts und der häufig biographischen Perspektive die literarische Qualität der Texte nicht selten in den Hintergrund treten lässt und die Suche nach einer sich in den Texten niederschlagenden spezifisch weiblichen Realitätserfahrung dominiert. Dabei wird Weiblichkeit von vielen Kritikerinnen als in der patriarchalen Kultur eingeschlossen und unterdrückt, als Mangel und Devianz definiert.65 So argumentieren Inge Stephan und Sigrid Weigel, »dass das Wissen über Frauen und ihre Geschichte durch Verschweigen, Vergessen, durch Täuschungen und Trugbilder ebenso verstellt ist wie durch die realen Mauern, die Frauen vor der Öffentlichkeit und vor >der Geschichte< abschirmten und heute noch trennen.«66 Der Mann als Herrscher versagt der Frau die Ehre, sie zu individuieren. Die einzelne ist gesellschaftlich Beispiel der Gattung, Vertreterin ihres Geschlechts und darum, als von der männlichen Logik ganz Erfaßte, steht sie für Natur, das Substratum nie endender Subsumtion in der Idee, nie endender Unterwerfung in der Wirklichkeit. Das Weib als vorgebliches Naturwesen ist Produkt der Geschichte, die es denaturiert. Das, was in der Wirklichkeit das gebärende und schrubbende Opfer der männlichen Überlegenheit und obendrein der Verachtung ist, wird in der Imagination zum funkelnden Edelstein, zum luxurierenden Kultgegenstand, zum Medium vielfältiger Vorstellungen, die sich auf ein solchermaßen unzerstörtes Ganzes richten.
Bei der Rekonstruktion weiblicher Kulturgeschichte gehen Stephan und Weigel davon aus, dass »die Frau in der männlichen Ordnung ausgegrenzt und beteiligt zugleich ist, dass sie kulturell als »anderes Geschlecht< (Beauvoir) definiert ist und auch lebt.«69 Silvia Bovenschen hält eine Genealogie des Weiblichen für allenfalls noch auf der Ebene der Bildproduktion - als einziger kultureller und gesellschaftlicher Manifestation des Weiblichen - ermittelbar, weil sich »[d]ie Morphogenese der imaginierten Weiblichkeit [...] im Rückblick an die Stelle der Vgl. Inge Stephan und Sigrid Weigel, »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Die verborgene Frau: Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft, Berlin 3 1988, S. 5-14, hier: S. 5. Ebd. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2 1973, S. lOOf. Silvia Bovenschen, Die Imaginierte Weiblichkeit: Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M. 1979, S. 37. Stephan, Weigel, »Vorwort«, S. 5; vgl. Weigel, »Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis«, in: Stephan, Weigel (Hg.), Die verborgene Frau, S. 83-137.
Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung
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weiblichen Geschichte« schiebt.70 Dementsprechend verfolgt die feministischkritische Analyse den Zweck, die in literarischen Werken abgebildeten weiblichen Lebensentwürfe zu rekonstruieren und zu entschlüsseln. Da es äußerst fraglich ist, ob es innerhalb des Kontextes ästhetischer Gestaltung überhaupt eine unverfälschte, >authentische Weiblichkeit geben kann, wird der literarische Diskurs, in dem Weiblichkeitsmuster und Metaphern des Weiblichen eine traditionsund materialreiche Quelle männlicher Wunsch- und Ideologieproduktion darstellen, durch die männliche Verzerrung hindurch ideologiekritisch und sozialpsychologisch rekonstruiert. Als wichtige Perspektiven dieser Phase kristallisieren sich »der ideologiekritische, der sozialpsychologische und psychoanalytische, der sozialgeschichtliche und der matristisch-mythengeschichtliche« Forschungsansatz heraus,71 wobei in Anlehnung an Klaus Theweleits Terminus 72
»Männerphantasien« literarische Frauenbilder häufig als Ausdruck männlicher Wunschproduktion gelesen werden. Immerhin bemerkt bereits Flaubert nicht ohne Grund: Die Frau ist ein Erzeugnis des Mannes. Gott hat das Weibchen geschaffen und der Mann die Frau. Sie ist ein Resultat der Zivilisation, ein künstliches Wesen. In den Ländern, in denen jede geistige Kultur fehlt, existiert sie nicht, denn sie ist ein Kunstwerk im menschlichen Sinn.
Diese Parallele zu de Beauvoirs »Man wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht», verdeutlicht die Negation einer Essenz von Weiblichkeit und führt in der Forschung zur Analyse von Stereotypen, in denen Männlichkeit und Weiblichkeit als relationale, aufeinander bezogene Konstrukte betrachtet werden. Geschlechterdifferenz leitet sich bei diesen Ansätzen weniger aus biologischen, denn aus machtpolitischen Interessen ab, die der Verteidigung patriarchaler Interessen dienen, wobei die Ansichten über den Zusammenhang von biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechtsrolle differieren: Auf der einen Seite steht die Vorstellung, dass Menschen aufgrund ihres unterschiedlichen biologischen Geschlechts unterschiedliche psychische Dispositionen haben, die im Lauf ihres Lebens dazu fuhren, dass sie geschlechtsspezifxsche Interessen und Aktivitäten entwickeln und unterschiedliche Rollen im sozialen Leben übernehmen. Auf der anderen Seite steht die Vorstellung, dass Menschen als relativ
Bovenschen, Die Imaginierte Weiblichkeit, S. 40f. Stephan, »>Bilder und immer wieder Bilder...acceptable< form as man's specularized Other. 87
Letztlich dient die >Andersartigkeit< oder >Differenz< der Frau der negativen Identitätsbestimmung und »Selbstaffektion« des spekulierenden männlichen Subjekts, das im Gegensatz zum weiblichen Subjekt zur Selbstreflexion - und das bedeutet einer narzisstischen männlichen Selbstbespiegelung (»spéculari88 sation«) - fähig ist, während die Frau zum Nicht-Mann >degeneriert< und als Rippl, »Feministische Literaturwissenschaft«, S. 233. Ebd. Ebd., S. 234; vgl. Gudrun Loster-Schneider, Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 24. Grimm-Horlacher, Weiblichkeitsmuster und Geschlechtsrollenstereotype, S. 57. Toril Moi, Sexual/Textual Politics: Feminist Literary Theory, London und New York '1990, S. 133f. Vgl. Grimm-Horlacher, Weiblichkeitsmuster und Geschlechtsrollenstereotype, S. 57; Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979, S. 128.
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Symbol von Mangel und Kastration fungiert. Dieser männlich-spekularen Logik setzt »Irigaray ein positiv gefasstes Mimikry und Mimen, den hysterischen und mystischen Diskurs der Frau entgegen«. Wie Cixous, so geht auch Irigaray von »einer anderen Sprache der Frau aus, die sich durch labile Signifikationsverhältnisse, metonymische Verfahren und differente Sinnbildungsprozesse 89
auszeichnet«. Gerade anhand der Arbeiten dieser beiden Theoretikerinnen wird auch deutlich, welche Gefahren (nicht nur) aus ideologiekritischer Sicht darin liegen, >Weibliches< als > Metapher des Metonymischem (Jacques Derrida) zu definieren, kehrt doch, wie Gudrun Loster-Schneider argumentiert, mit diesem metaphorischen Gebrauch des Weiblichen, der Frau, gar des weiblichen Körpers für >all das, was der abendländischen Logik entgegengesetzt gedacht wirdebenso alte und bewährte universelle Bildfunktion des Weiblichem für das >A-Logische, das Dezentrische, das Uneindeutige und Uneinheitliche, für das NichtFestlegbareWeiblichen< identische >chora< des Ichs, die sich mit Eintritt in die symbolische Ordnung bildet, artikuliert sich besonders beim Sprechen und beim poetischen Schreiben: gestisch, mimisch, rhythmisch, in Intonation, Artikulation, Lautmalereien, Melodie, Echolalien und Reimen. Die Begriffe >weiblich< und >männlich< und damit die Definition eines >weiblichen< und >männlichen< Schreibens sind nun von dem konkreten Geschlecht losgelöst und beziehen sich auf die Phasen der Subjektkonstitution [...].
Im Gegensatz zur écriture féminine (Cixous) oder einem parler femme (Irigaray) gibt es für Kristeva keine spezifisch weibliche Schreibweise, »weil es keinen >anderen Ort< gibt, von dem aus die Frau spricht, höchstens einen von der herrschenden symbolischen Ordnung marginalisierten Ort, der nicht geschlechtsspezifisch ist, sondern gerade auch von Avantgarde-Künstlern [...] eingenommen wird.« 95
11.2 Dekonstruktiver Feminismus, Men's Studies und die Aufhebung der Dichotomien Seit den späten 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wird in den Arbeiten von Judith Butler, Barbara Vinken, Shoshana Felman, Mary Jacobus, Gayatri Spivak u.a. die für weite Teile der Gender Studies charakteristische Dichotomie zwischen sex und gender zugunsten von Performativität hinterfragt. Ein vom dekonstruktiven Feminismus inspirierter Forschungsansatz erlaubt es, die Geschlechtsidentität nicht mehr als angeboren oder biologisch determiniert zu sehen, sondern als ein soziokulturell über diskursive Zuschreibungen erworbenes, immer auch sprachliches Konstrukt. Nicht nur, dass eine als historisch konstruiert und dementsprechend als wandelbar und unabschließbar-prozessual konzipierte Geschlechtsidentität essentialistischen Auffassungen von Geschlecht den Boden entzieht, hinzu kommt auch, dass den Geschlechtern ihre Rollen nicht einfach ansozialisiert werden, sondern dass die Geschlechtsidentität aus dem Akt der Affirmation (oder Negation) kulturell vorgegebener Weiblichkeits- und Männlichkeitsmuster resultiert, so dass die Attribute der Geschlechtsidentität einen performativen Charakter aufweisen und die Identität, die sie auszudrücken scheinen, in Wirklichkeit erst konstituieren. Dekonstruktive Ansätze hinterfragen somit
Loster-Schneider, Sophie La Roche, S. 27. Rippl, »Feministische Literaturwissenschaft«, S. 236. Für eine Kritik vgl. ebd., S. 237, sowie den Verweis auf Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (Stichwort: vordiskursive, psychotische Homosexualität).
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die Oppositionsbildung männlich/weiblich und die essentialistische Vorstellung der Geschlechtsidentität, sei sie nun als biologische, gesellschaftliche, historische oder kulturell geprägte Positionalität gedacht. >Weiblichkeit< ist weder eine natürliche Gegebenheit noch eine >selbstidentische EntitätEffekt kultureller, symbolischer Anordnungen^ die in Texten lesbar werden [...] und wird durch kulturelle Performanz, Sprechakte, d.h. durch wiederholte mtuelle gesellschaftliche Inszenierungen erzeugt [...], die den >Effekt des Natürlichen, des Ursprünglichen und Unvermeidlichem hervorbringen. Geschlechtsidentität bezeichnet man [...] >als Ursprung und Ursache [...], obgleich sie in Wirklichkeit Effekt von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfaltigen und diffusen Ursprungsorten< [...], also gesellschaftliche Konstruktion ist, die den Glauben an ihre Natürlichkeit und Notwendigkeit fordert.
Veranschaulichen lässt sich dies mit der rhetorischen Figur der Metalepse: Gender produziert erst das vermeintlich ursprüngliche biologische Geschlecht, um sich dann als dessen Konsequenz auszugeben, so dass die Geschlechterdifferenz nicht essentiell, sondern rhetorisch begründet ist und Essentialität als Illusion der Sprache erscheint. Hierdurch wird auch ein traditioneller Identitätsbegriff höchst 97
problematisch, erweist sich doch der Ort, an dem Menschen zu Frauen oder Männern werden, als ein offenes Kraftfeld umstrittener und widerstreitender Bedeutungen. Geschlechtsidentität entpuppt sich aus dieser Perspektive als ein Prozess der phantasmatisch-imaginären Annahme von Subjektpositionen, als performative Bedeutungsgeneration sowie als das Resultat einer instabilen, vorübergehenden und sich potentiell verändernden Verschmelzung der separaten Kategorien von sex, gender und desire (verstanden als Praxis und Struktur des sexuellen Begehrens). Das Subjekt erscheint hierbei nicht mehr als eine in der Tradition des Humanismus selbstmächtig->authentischeFraubiologische Geschlecht< zu so etwas wie einer Fiktion, vielleicht auch einer Phantasie wird, die rückwirkend an einem vorsprachlichen Ort angelegt wird, zu dem es keinen unmittelbaren Zugang gibt. 105 Der als dem Zeichen vorgängig gesetzte Körper, wird immer als vorgängig gesetzt oder signifiziert. Diese Signifikation produziert als einen Effekt ihrer eigenen Verfahrensweise den gleichen Körper, den sie nichtsdestoweniger zugleich als denjenigen vorzufinden beansprucht, der ihrer eigenen Aktion vorhergeht. Wenn der als der Signifikation vorgängig bezeichnete Körper ein Effekt der Signifikation ist, dann ist der mimetische oder repräsentative Status der Sprache, demzufolge die Zeichen als zwangsläufige Spiegelungen auf die Körper folgen, überhaupt nicht mimetisch. Der Status der Sprache ist dann vielmehr produktiv, konstitutiv, man könnte sogar sagen performativ, insoweit dieser signifizierende Akt den Körper abgrenzt und konturiert, von dem er dann behauptet, er fände ihn vor aller und jeder Signifikation vor. In der Tat spricht einiges dafür, dass das >Sein< von Mann und Frau als Effekt einer nie abgeschlossenen Serie performativer Akte und Stilisierungen des Körpers begriffen werden kann, der seinerseits nie als »natürlichen, sondern immer nur als kultureller Körper zugänglich ist bzw. gefasst werden kann. Scheinbar festgeschrieben werden die Geschlechtsidentitäten durch performative Akte als Effekte des Geschlechterdiskurses, der sich in der nicht abschließbaren Wiederholung oder Re-Inszenierung von Normen äußert und auf diese Weise Identitäten konstituiert: Der in diesen konstruktivistischen Erkenntnispositionen vollzogene Perspektivwechsel bedeutet, alltagsweltliche wie wissenschaftliche Vorstellungen von einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit und damit (kausal) verbundene Verhaltensweisen als soziale Konstruktionen zu analysieren. Die Askription eines natürlichen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit rückt hier als achievement ins Blickfeld, Geschlecht wird als ein fortlaufender sozialer Prozeß verstanden, als interaktive Praxis der Darstellung und Attribution von Geschlechtszugehörigkeit, mit der ein Alltagswissen
104 Judith Butler, »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der >PostmoderneGleichursprünglichkeit von Differenz und Hierarchie^ d.h. eine Rekonstruktion dessen, wie vorgeblich >natürliche< Geschlechterdifferenzen interaktiv hergestellt und über institutionelle Reflexivität abgesichert die Geschlechterdifferenz als Ungleichheit naturalisieren und legitimieren. Geschlecht wird auch hier als interaktive Episode gefasst^deren Vollzug permanent durch institutionelle Sozialarrangements katalysiert wird.
Hieraus folgt jedoch nicht notwendigerweise, dass einem als dezentriert und von sich selbst entfremdet, weil als von der Sprache gespalten gedachten Subjekts die Möglichkeit zur agency - genannt seien hier nur die theoretischen Ansätze von Elizabeth Deeds Ermarth, Julia Kristeva, Chantal Mouffe und Judith Butler 108
genommen wäre. Da die regulierten Wiederholungsprozesse variabel sind, ist im Rahmen repetitiver Bezeichnungen immer auch die Subversion der Geschlechtsidentität möglich, kann das Subjekt in einem Prozess der Resignifizierung bereits bestehende Diskurse subversiv umdeuten. Deutlich wird dies bspw. anhand des sich in den letzten zwanzig Jahren zunehmend etablierenden Feldes der Men 's Studies, auf das im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Nach Jahrzehnten, in denen der weiblichen Lebenswelt und Psyche vollkommen zu Recht verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde, rückt nun 109 die männliehe Psyche in den Blickpunkt wissenschaftlicher Beobachtung. Natürlich könnte man sich nun fragen, ob die zunehmende Relevanz der Men 's Studies wie auch ihre Berücksichtigung in diesem Überblick nicht einen fast schon perfidekonservativen backlash darstellt, und in der Tat scheinen einige Ausprägungen der Men's Studies diesem Verdacht Vorschub zu leisten. Es gilt allerdings auch festzuhalten, dass viele Natur- und Humanwissenschaften auch heute noch auf uneingestandenen Grundannahmen basieren, Männlichkeit mit Menschlichkeit bzw. Universalität gleichsetzen und dadurch weiterhin patriarchale Machtverhältnisse festschreiben, ohne jedoch ein spezifisches Wissen über Männlichkeit produzieren zu können. Genau darum aber geht es den Men's Studies, die in ihren anspruchsvolleren Ausprägungen keineswegs gegen die Gender Studies und deren Erkenntnisse gerichtet, also nicht als Abgrenzungsversuch konzipiert sind, bieten letztere doch gerade jene Verstehensmöglichkeiten für Sexualität, 107 Ilse Hartmann-Tews, »Konstruktivismus«, in: Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender 108 Studies, S. 210-212, hier: S. 211. Vgl. Horlacher, Masculinities: Konzeptionen von Männlichkeit, S. 81-102, bes. S. 109 81-87. Vgl. Horlacher, ebd.; ders., »Men 's Studies and Gender Studies at the Crossroads (I): Überlegungen zum aktuellen Stand von Geschlechterforschung und Literaturwissenschaft«, in: LWU - Literatur in Wissenschaft und Unterricht xxxvii.2 (2004), S. 169-188.
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die bisher noch gar nicht gewinnbringend auf männliche Identität angewandt wurden. In Contemporary Perspectives on Masculinity differenziert Kenneth Clatterbaugh zwischen sechs Ausprägungen der Men's Studies,110 wobei sich die wissenschaftlich anspruchsvollste, häufig auch New Men's Studies genannte Forschungsrichtung u.a. an den Erkenntnissen des dekonstruktiven Feminismus, der Diskursanalyse sowie der postfreudianischen Psychoanalyse orientiert und versucht, Männlichkeit als eine jeweils historisch verschieden verkörperte variable Anzahl kultureller Normen zu fassen. 111 Aus dieser Perspektive gibt es keine zwingenden Argumente mehr, männliche Identität bzw. Maskulinität am biologischen Geschlecht festzumachen, ja es ist sogar fraglich, ob es überhaupt ein Untersuchungsobjekt für eine positivistische Wissenschaft von Männlichkeit (und somit auch von Weiblichkeit) gibt, »[since t]here is no masculine entity 112
whose occurrences in all societies we can generalize about.« Sowohl kulturhistorische als auch kulturanthropologische Untersuchungen legen nahe, dass es sich bei Maskulinität nicht um einen »monolithischefn] Kodex« 113 handelt, sondern um ein »Kontinuum von Männlichkeitsbildern und -systemen«. Positivistisch lässt sich diese Variabilität kaum begründen, so dass Männlichkeit vor allem als eine kulturell-diskursive Produktion sowie ein variierendes sowohl phylo- als auch ontogenetisch immer wieder neu zu entwerfendes Merkmalsbündel verstehbar wird. 114 Gestützt wird dieser Ansatz auch durch zahlreiche neuere Ausprägungen der Psychoanalyse, die die Bedeutung des biologischen Geschlechts stark relativieren. One thing most contemporary critics and psychoanalysts would agree upon is that biological differentiations are inadequate, too many people seeming to cross over, at the psychical level, the >hard and fast< lines of biologically determined sexual difference. We thus begin with the hypothesis that there are males with feminine structure [...] and females with masculine structure. Analysands demonstrate day in and day out that their biomedically/genetically determined sex (genitalia, chromosomes, etc.) can be at odds with both socially defined
110
112
Siehe Kenneth Clatterbaugh, Contemporary Perspectives on Masculinity. Men, Women, and Politics in Modern Society, Boulder 1990. Für eine Zusammenfassung siehe Horlacher, Masculinities: Konzeptionen von Männlichkeit, S. 41-47. Siehe Feldmann, Schülting, »Männlichkeit«, in: Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 399.
Connell, Masculinities, S. 43. Siehe David Gilmore, Mythos Mann: Rollen, Rituale, Leitbilder, München und Zürich 1991, S. 244. 114 Siehe Feldmann, Schülting, »Männlichkeit«, S. 399. Bruce Fink, The Lacanian subject: between language and jouissance, Princeton 1995, S. 123.
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Stefan Horlacher notions of masculinity and femininity and their own choice of sexual partners (still assumed by many people to be based on reproductive instincts). Analysts are thus daily confronted with the inadequacy of defining sexual difference in biological terms.
Vor allem im Bereich der Queer Studies sowie der Gay and Lesbian Studies ist »längst nicht mehr entschieden, daß eine Frau nur oder überhaupt >weiblich< und ein Mann >männlich< sein muß, daß es nicht auch verschiedene Grade und Abstufungen zwischen den Polen >WeiblichkeitMännlichkeit< gibt und wie viele >Geschlechter< eigentlich zu unterscheiden sind.« 117 In Anlehnung an Walter Erhart und Britta Herrmann kann man deshalb festhalten, dass zumindest in Fachkreisen alle eindeutigen Antworten auf die Frage >Wann ist der Mann ein Mann?< und >Wann ist die Frau eine Frau?< in Auflösung begriffen sind, dass »die Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Identitäten und Körpern durchlässiger geworden« sind und dass sich »das Bewußtsein davon [...], dass die Geschlechter nicht auf Naturgegebenheiten beruhen, sondern mit kulturellen Zeichen und Apparaten, eben mit >Männlichkeiten< und >Weiblichkeiten< versehen, beschriftet und gezeichnet werden«, in uns eingegraben hat. Erhart und Herrmann diagnostizieren weiter, dass das »vielleicht wichtigste Ergebnis der Geschlechterforschung« darin zu liegen scheint, »dass sich >Männlichkeit< und >Weiblichkeit< endgültig von ihren früher zumeist eng und biologisch mit ihnen regelrecht verschweißten Trägern, von Männern und Frauen also, gelöst 118 haben«. Dadurch wiederum tritt der kulturelle Konstruktcharakter, mit dem Geschlecht, vor allem aber auch Begehren und seine Gerichtetheit versehen worden sind, deutlicher hervor, wie Carrigan, Connell und Lee am Beispiel des Konstruktes >Heterosexualität< gezeigt haben: The most important feature of [...] masculinity, alongside its connection with dominance, is that it is heterosexual. [...] Psychoanalytic evidence goes far to show that conventional adult heterosexuality is constructed, in the individual life, as one among a number of possible paths through the emotional forest of childhood and adolescence. It is now clear that this is also true at the collective level, that the pattern of exclusive adult heterosexuality is a historically constructed one. Its dominance is by no means universal. For this to become the hegemonic form of masculine sexuality required a historic redefinition of sexuality itself, in which undifferentiated >lust< was turned into specific types of >perversion< - the process documented, from the underside, by the historians of homosexuality [...]. A passion for beautiful boys was compatible with hegemonic masculinity in Renaissance Europe, emphatically not so at the end of the nineteenth century.
116
117 118
119
Ebd., S. 105. Erhart, Herrmann, »Der erforschte Mann«, S. 25. Ebd., S. 24. Carrigan u.a., »Toward a new Sociology of Masculinity«, S. 93, Herv. d. Verf.
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Wenn zudem - wie bereits angesprochen - die Einteilung in einen männlichen und einen weiblichen Körper ein historisch-kulturelles und wandelbares Konstrukt darstellt - Stichwort: »Ein-Geschlecht-Modell« versus »Zwei-Geschlechter-Modell« - , die Variabilität innerhalb eines Geschlechts nachweisbar größer ist als die Variabilität zwischen den Geschlechtern, auch die Naturwissenschaften Männlichkeit und Weiblichkeit nicht (eindeutig) am biologischen Körper festmachen können und es im Bereich der Inter- und Transsexualität immer wieder Fälle gibt, die konkret belegen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit nicht nur auf der psychischen, sondern bereits auf der physischen Ebene ein Kontinuum statt eine Dichotomie darstellen und die somit die vermeintliche Regel der Bi-Polarität der Geschlechter falsifizieren, dann stellt sich in der Tat die Frage, welche überzeugenden Gründe noch existieren, weiterhin an der Dichotomie männlich versus weiblich festzuhalten - und dies in einer Zeit, in der angesichts der enormen Fortschritte moderner Reproduktionstechnologie selbst das Argument nicht mehr greift, dass die Heterosexualität für die Fortpflanzung, die bisher als ihre elementare Existenzberechtigung galt, unabdingbar ist. Auf die hieran beteiligten bzw. sich anschließenden Forschungsrichtungen wie die technosciences, den Cyberfeminismus oder den Ökofeminismus in seinen verschiedenen Spielarten, aber auch auf wichtige Entwicklungen im Bereich der 120 Queer andLesbian Studies kann hier abschließend nur verwiesen werden.
120
Vgl. Horlacher, Men's Studies and Gender Studies at the Crossroads (II), S. 267-286.
Beate Kutschke
Musikgeschichte - Ethik - Gender I Musik und Ethik Die Vorstellung, dass Musik und Ethik1 in (irgend-)einem Zusammenhang miteinander stünden, überspannt die Musikgeschichte seit ihren Anfängen. Hatte Piaton im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der Musik Effekte für das sittliche Verhalten der Jugend unterstellt, so wies Theodor W. Adorno der Musik (wie ästhetischen Artefakten generell) aufgrund ihres mimetischen Charakters eine soziopolitisch kritische Funktion zu, mittels derer Musik mittelbar die Rolle einer ethischen Instanz übernehmen könne. Indem er die durchsystematisierte Musik, wie die streng seriellen Werke von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen zu Beginn der 1950er Jahre z.B., als Analogie (Exemplifikation im Sinne Nelson Goodmans) zu einer zunehmend durchrationalisierten und systematisierten Welt und deren drohender Stagnation begriff, legte er sie zugleich als eine Warnung vor der Verwirklichung eines solchen Weltzustandes aus.3 Gerade im Kontext der katastrophischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (zwei Weltkriege, Holocaust) und der wiederholten Durchsetzung diktatorischer, menschenverachtender Systeme (Drittes Reich, Sowjetkommunismus u.v.m.) stellte sich - und stellt sich noch heute - die Frage nach der ethischen Dimension und Bedeutsamkeit von Musik verschärft: Wie ist es möglich, so lautet eine der Standardfragen in diesem Zusammenhang, dass Menschenverächter und -schlächter, wie der KZ-Arzt Josef Mengele, glühende Verehrer der Musik, einschließlich derjenigen Beethovens sein konnten, der von Musikschriftstellern und -kritikern, allen voran Adorno, traditionell die Eigenschaft zugeschrieben wird, Humanität zum Ausdruck zu bringen oder im Hörer zu >induzieren