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German Pages 318 [320] Year 2006
Linguistische Arbeiten
504
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Klaus von Heusinger, Ingo Plag, Beatrice Primus und Richard Wiese
Eva-Maria Remberger
Hilfsverben Eine minimalistische Analyse am Beispiel des Italienischen und Sardischen
Max Niemeyer Verlag T)bingen 2006
n
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-30504-5 ISBN-10: 3-484-30504-5
ISSN 0344-6727
* Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2006 Ein Unternehmen der K.G. Saur Verlag GmbH, Mnchen http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul;ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf;ltigungen, SEIN sard. Juanne s’est vistu in s’isprecu. (Jones 1993: 131) => SEIN dt. Moritz hat sich im Spiegel gesehen. => HABEN
Während also im Italienischen und Sardischen bei Reflexivkonstruktionen das Hilfsverb SEIN steht, erscheint im Deutschen weiterhin das Hilfsverb HABEN, obwohl auch das Deutsche über das temporale Hilfsverb SEIN verfügt. Selbst das Sardische und das Italienische verhalten sich aber in den Reflexivkonstruktionen nicht immer gleich, vgl. die folgenden Beispiele: (1-6) (1-7)
it. La bambina si è bruciata il dito. => SEIN sard. Su pitzinnu s’at brujatu su póddike. (Jones 1993: 131) => HABEN
Sobald es sich nämlich bei dem Reflexivum um ein dativisches und nicht mehr um ein akkusativisches Element handelt, erscheint im Sardischen nicht mehr das Hilfsverb SEIN, sondern das Hilfsverb HABEN. –––––—– 5
Für eine übersichtliche Gesamtdarstellung des Forschungsstandes sei hier auch besonders auf Heine (1993) verwiesen.
4 Ein weiteres Phänomen des Italienischen, das u.a. auch die Hilfsverbselektion betrifft, ist das der Restrukturierung (Restructuring). Die italienischen Modalverben können in zwei verschiedenen Strukturen erscheinen, im Sardischen dagegen nur in einer, vgl. die folgenden Sätze: (1-8) (1-9)
a. b. a. b.
Hanno voluto fermarsi. Non si sono voluti fermare. *No ant cherfidu si frimmare. No si sunt cherfidos frimmare. (Sa-Limba 1999–2002: Martis)6
Im Italienischen kann in diesen Modalverbkonstruktionen das Klitikum auch im eingebetteten Satz verbleiben: Die Hilfsverbselektion ist von dem Modalverb, hier volere, selbst bestimmt. Im Sardischen dagegen muss das Klitikum immer proklitisch vor dem finiten Modalverb stehen, wobei das eingebettete Verb die Hilfsverbselektion bestimmt und sich auch Partizipialkongruenz ergeben kann. Ein weiterer Punkt, bei dem es im Italienischen und im Sardischen Besonderheiten zu beobachten gibt, ist die analytische Passivbildung. Neben dem passivischen Hilfsverb SEIN können auch andere Hilfsverben in passivischen Strukturen auftreten, vgl. die folgenden Sätze: (1-10) (1-11) (1-12) (1-13)
it. it. sard. sard.
Questa casa è stata costruita da un sardo. I compiti vanno fatti subito dopo la scuola. Custa domo est istata fraicata dae un’Italianu. (Jones 1993: 124) Cussas faínas keren fattas prima de nos corcare. (Jones 1993: 125)
Die beiden passivischen Hilfsverben andare (im Italienischen, vgl. (1-11)) und kérrere (im Sardischen, vgl. (1-13)) kodieren hier eine deontische Modalität, wie sie in der Passivkonstruktion mit SEIN nicht zu finden ist. Konstruktionen dieser Art sind bisher in der generativistischen Forschungsliteratur kaum behandelt worden.7 Eine ausführliche Darstellung der Hilfsverbkonstruktionen in den beiden hier behandelten romanischen Sprachen ist dringend nötig. Es existieren zwar Analysen der italienischen Phänomene im Rahmen des Minimalist Program (vgl. Kapitel 3), eine umfassende minimalistische Darstellung und Analyse aller Hilfsverbkonstruktionen steht aber noch aus. Für die sardischen Hilfsverbkonstruktionen liegen die generativistischen Arbeiten von Jones (besonders 1988a) vor, die dem Prinzipien- & Parametermodell verpflichtet sind. Rein minimalistische Analysen sind mir allerdings nicht bekannt. In Bezug auf Hilfsverbkonstruktionen kann eine minimalitische Analyse sardischer Strukturen einen großen Beitrag leisten, da in dieser Sprache dieser Typus prominent hervortritt. Die umfassenden Daten des Italienischen und Sardischen, die im Laufe der vorliegenden Arbeit untersucht und im Rahmen des Minimalist Program erklärt werden, betreffen die Konstruktionen mit der Kopula SEIN, welche hier als Hilfsverb behandelt wird, die temporalen Hilfsverben HABEN und SEIN + Partizip, die Reflexivkonstruktionen und die unpersönlichen Kon–––––—– 6 7
Zu den sardischen Beispielen aus Sa-Limba, vgl. Kapitel 7, Fn. 2. Mir ist nur Ledgeway (2000a) bekannt, der vergleichbare Konstruktionen im Süditalienischen detailliert untersucht.
5 struktionen in den zusammengesetzten Zeiten mit dem Hilfsverb SEIN, die Passivkonstruktionen mit passivischem SEIN, aber auch mit GEHEN, KOMMEN und WOLLEN, die Modalverbkonstruktionen mit den restrukturierenden Verben WOLLEN, MÜSSEN und KÖNNEN sowie die aspektuellen Gerundialkonstruktionen mit SEIN und STEHEN. Die theoretischen Fragen, die diese Arbeit rechtfertigen, ergeben sich in aller Deutlichkeit aus den in diesem Kapitel dargestellten Grundlagen, besonders aber auch aus dem in Kapitel 3 gegebenen generativistischen Forschungsüberblick: Hilfsverben haben in der Generativen Grammatik schon immer eine wichtige Rolle gespielt, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit den funktionalen Kategorien stehen, die Tempus, Aspekt und Modus bzw. Modalität einer Satzstruktur bestimmen. Dennoch bleibt in den meisten generativistischen Ansätzen – das gilt auch für das Minimalist Program – ungeklärt, wo die Hilfsverben eigentlich ihren syntaktisch-strukturellen Ursprung haben und warum sie in manchen Strukturen erscheinen müssen und in anderen wiederum nicht. Der direkte Zusammenhang zwischen der Funktion der Hilfsverben und den grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt und Modus bzw. Modalität, der in der vorliegenden Arbeit besonders herausgearbeitet wird, ist im Rahmen der Generativen Grammatik bisher nicht genügend explizit gemacht worden.8 Einer Klärung all dieser Fragestellungen im Rahmen des Minimalist Program ist diese Arbeit gewidmet.
1.3
Auxiliare als sprachliche Universalien
Während das Auftreten von Hilfsverben sicherlich nicht als sprachliche Universalie zu bezeichnen ist, da es ja durchaus Sprachen ohne Hilfsverben gibt (vgl. Steele 1978), kann man das die Hilfsverben einschließende Phänomen der Auxiliarität von sprachlichen Elementen, seien es nun Verben, Partikel oder auch andere Kategorien, sprachübergreifend beobachten. Diese sprachlichen Elemente werden in der allgemeinen Sprachwissenschaft oft unter dem Etikett AUX besprochen, wie diese Kategorie seit Chomsky (1957) bezeichnet wird (vgl. z.B. auch Akmajian et al. 1979 oder Steele et al. 1981). Die Möglichkeit, die Universalität einer solchen Kategorie AUX feststellen zu können, hängt allerdings von der jeweiligen Definition sowohl des Begriffs der Auxiliarität als auch des Begriffs der Universalität ab (vgl. Heine 1993: 9–11). Greenberg (1966) bespricht in seiner Darstellung sprachlicher Universalien vornehmlich syntaktische und morphologische Phänomene, die er anhand von Untersuchungen an einer als Muster geltenden Auswahl von 30 Einzelsprachen feststellen konnte. Da es sich hier sehr oft um Wortstellungsphänomene bzw. daraus ableitbare Bedingungen mit universal geltenden Folgen handelt, hat er auch in Bezug auf auxiliare Elemente universale Geltung feststellen können. Greenbergs Universalie Nummer 16 sagt nun das Folgende: In languages with dominant order VSO, an inflected auxiliary always precedes the main verb. In languages with dominant order SOV, an inflected auxiliary always follows the main verb. (Greenberg 1966: 111)
–––––—– 8
Eine Ausnahme stellen z.B. Giorgi & Pianesi (1991, 1996, 1997) dar (vgl. 4.1).
6 Es geht hier also bereits um Hilfsverben, d.h. verbhafte Formen von Auxiliaren.9 Italienisch als typische SVO-Sprache wird von dieser Universalie nicht direkt erfasst. Für das Deutsche, als dessen dominante Wortstellung die des finiten Nebensatzes gilt, findet sich diese Universalie natürlich bestätigt: (1-14) (1-15)
..., weil Johann einen Apfel isst. ..., weil Johann einen Apfel gegessen hat.
Diese Universalie ist eine Paraphrasierung der Feststellung, dass die Anordnungsfolge von Verb (= Kopf) und Objekt (= Komplement) der Anordnungsfolge von finitem Hilfsverb und infinitem Verb entspricht. Damit sind nun auch die SVO-Sprachen erfasst. Wie das Verb links vom Objekt steht, ist auch das Hilfsverb links von der infiniten Vollverbform zu finden, vgl. die folgenden italienischen Beispiele: (1-16) (1-17)
Giovanni mangia una mela. Giovanni ha mangiato una mela.
Ein Aufsatz in der Nachfolge von Greenberg (1966), nämlich Steele (1978), beschäftigt sich ausschließlich mit der Beweisführung für die Existenz der Kategorie AUX. Steele stellt dabei anhand einer Musterauswahl an Sprachen fest, dass es zwei Typen von AUX gibt, nämlich einmal verbales AUX und zum zweiten nicht-verbales AUX: Jede Sprache gehört zu dem einen oder dem anderen Typ, wobei hier Korrelationen mit dem Wortstellungstyp bzw. der Freiheit der Wortstellung der Einzelsprachen festgestellt werden können. Steele erweitert Greenbergs Universalie Nummer 16 dergestalt, dass sie die folgenden universal relevanten Restriktionen feststellt: a. No language of the AUXV type which has subject agreement will not include it in the AUX. b. No language of the AUXV type will exist in which the AUX does not take what is usually verbal inflection. c. No language with free word order will have a clause final AUX. d. No language with SVO or VSO basic word order will have a clause final AUX. e. No language will exist where AUX does not potentially include tense; that is, in a sentence with tense and an AUX, tense will always be part of the AUX. (Steele 1978: 42)
Diese Restriktionen treffen auch auf die hier behandelten romanischen Sprachen, typische SVO-Sprachen, zu: Der Zusammenhang von Subjekt-Verb-Kongruenz, overten Flexionsmerkmalen, der Zeitkodierung und möglichen Hilfsverbpositionen wird in dieser universalen Prinzipien verpflichteten Arbeit eine wichtige Rolle spielen.
–––––—– 9
Greenbergs Definition einer Hilfsverbkonstruktion sei hier gegeben: “For present purposes, such a construction will be defined as one in which a closed class of verbs (the auxiliaries) inflected for both person and number is in construction with an open class of verbs not inflected for both person and number” (Greenberg 1966: 84).
7
1.4
Hilfsverben vs. Vollverben
Es gibt mehrere “logische Möglichkeiten” (Steele 1999: 50), Hilfsverben syntaktisch zu erfassen; Steele nennt die folgenden Optionen: a. b. c. d.
Interpretation als eigene Verbalphrase VP; Hilfsverben als VP-interne Elemente; Finite Hilfsverben als Bestandteil der Subjekts-DP;10 Hilfsverben als außerhalb der VP (inklusive Subjekt) stehende eigene Kategorie. (vgl. Steele 1999: 51–52)
Bis auf die (hier abwegig erscheinende11) Option c haben diese Interpretationen Eingang in die sprachwissenschaftliche Literatur gefunden. In den folgenden Unterpunkten sollen einige Argumentationsgänge vorgestellt werden, wobei hier der Hilfsverbhypothese (vgl. Punkt d) die Vollverbhypothese (vgl. Punkt a) gegenübergestellt werden soll, um schließlich in den weiteren Unterpunkten eine Betrachtungsweise zu vertiefen, die in gewisser Weise eine Synthese beider Hypothesen darstellt: die Interpretation von Hilfsverben als Erscheinungsformen verschiedener Entwicklungsstufen (vgl. Punkte a, b und d), die auf einer graduellen Skala zwischen lexikalischer und funktionaler Kategorie liegen und in der jüngsten Forschungsliteratur sehr oft unter dem Schlagwort des Grammatikalisierungsprozesses behandelt werden. In der hier vorliegenden Arbeit soll die Betonung sehr stark auf die dynamischen Aspekte eben dieses Prozesses gelegt werden. 1.4.1 Hilfsverben als Vollverben (VP) Den Ansatz, dass Vollverben und Hilfsverben nur in engem Zusammenhang gesehen werden können, beide derselben Kategorie angehören und sich nur durch den Konstruktionstypus oder eine Merkmalsspezialisierung unterscheiden, wird z.B. von Beneviste (1966), Ross (1969), Pullum & Wilson (1977) und Gazdar, Pullum & Sag (1982) vertreten. Beneviste (1966) befasst sich v.a. mit HABEN und SEIN: Beide sind für ihn statische Verben, wobei SEIN eine intrinsische Beziehung der Identität und HABEN eine extrinsische Beziehung zwischen Besitzer und Besessenem ausdrückt.12 Diese Beobachtung lässt sich auch auf den auxiliaren Gebrauch der Verben übertragen, wo es für die Hilfverbselektion ausschlaggebend ist, ob die Beziehung des Subjekts zu dem im Partizip kodierten Er–––––—– 10 11
12
Seit Abney (1987) werden nominale Argumente als DPs (Determiniererphrasen) und nicht mehr als NPs (Nominalphrasen) interpretiert. Steele bezieht sich hier auf eine Arbeit von Schmerling (1983), deren Analyse aber wohl stark von den Idiosynkrasien des Englischen abhängig ist. Die Darstellung des generativistischen Ansatzes der Theory of Government and Binding in Steele (1999: 52) zeigt keine (aktuellen) theoriekonformen Baumstrukturen und erklärt wenig. HABEN ist in jedem Fall sekundär und eine Besonderheit der indoeuropäischen Sprachen: “De fait avoir comme lexème est, dans le monde, une rareté; la plupart des langues ne le connaissent pas. Au sein même des langues indo-européennes, c’est une acquisition tardive, qui mit longtemps à s’imposer et qui reste partielle” (Beneviste 1966: 194).
8 eignis intern (prototypisch unakkusativisch13) oder extern (prototypisch transitiv) ist. HABEN und SEIN haben also sowohl in ihrem Vollverbgebrauch als auch in ihrem Hilfsverbgebrauch die gleiche Funktion, wobei sich die Unterschiede der beiden Verben nur im Verhältnis des Subjekts zu den besessenen Argumenten bzw. dem zu ihm gehörigen Ereignis zeigen. Ross (1969) führt in dezidierter Abgrenzung zu Chomskys Aspects (Chomsky 1965, vgl. auch 2.1) zehn Regeln dafür an, dass Hilfsverben wie Vollverben zu behandeln seien. Allerdings illustrieren diese Regeln nur die Verbhaftigkeit von Hilfsverben sowie die Tatsache, dass finite Hilfsverben im Englischen und Deutschen an der selben Satzposition zu finden sind, einer Satzposition, die man in der weiteren Entwicklung als INFL (später I bzw. T für Tempus ) bezeichnen wird. Pullum & Wilson (1977) vertreten ebenfalls die Ansicht, dass Hilfsverben keine eigene von Vollverben zu unterscheidende Klasse Aux oder auch M(odal) darstellen. Auch ein als arbiträr einzuschätzendes Merkmal [Aux] würde für Eigenschaften verschiedenster Art stehen (Pullum & Wilson 1977: 744, Fn. 3) und könne nur durch Lücken oder Zusätze im jeweiligen Flexionsparadigma des zur Diskussion stehenden Verbs definiert werden. Alle Kriterien, die im Englischen zur Diagnostik von Hilfsverbhaftigkeit herangezogen werden, lassen sich in ihrer Phänomenologie auf autonome syntaktische Prinzipien zurückführen. Die Anordnung der verbalen Kategorien untereinander ist allein durch diese Prinzipien und die Tatsache bestimmt, dass das Formeninventar mancher Verben defektiv ist. Gazdar, Pullum & Sag (1982) vertreten ebenfalls die Vollverbhypothese, indem sie davon ausgehen, dass Hilfsverben ebenso wie Vollverben zur selben Kategorie [+V -N] gehören. Allerdings werden Kategorien als Merkmalskomplexe beschrieben, die hinsichtlich ihres Kopfmerkmals grob identisch sind (Gazdar, Pullum & Sag 1982: 593).14 Es wird hier also kein kategorialer Knoten AUX angenommen, dafür aber ein Merkmal [+AUX], das im Grunde genommen Hilfsverben als eigene Gruppe zusammenfasst; definiert wird dabei [AUX] nicht, es sei denn durch die Gesamtheit der im Zusammenhang mit [+AUX] auftretenden Merkmale. Die Ansätze, die keine eigene Kategorie für Hilfsverben annehmen, führen den auxiliaren Gebrauch von Vollverben also entweder auf die syntaktische Umgebung oder morphologische Eigenheiten oder aber auf eine Unterscheidungsmöglichkeit in der funktionalen Merkmalszusammensetzung dieser Verben zurück. 1.4.2 Hilfsverben als eigene Kategorie (AUX) Das Leben der Kategorie AUX beginnt im Grunde mit den Anfängen der Generativen Grammatik, d.h. 1957 mit Chomskys Syntactic Structures. Hier seien nur exemplarisch einige wenige Darstellungen von Arbeiten, die Hilfsverben als eigene Kategorie behandeln, genannt: Akmajian et al. (1979), Palmer (1979) und Steele et al. (1981). –––––—– 13 14
Hier wird der Begriff ‘unakkusativisch’ statt des möglicherweise missverständlichen Begriffs ‘ergativ’ verwendet. Gazdar, Pullum & Sag (1982) arbeiten mit einem der GPSG (General Phrase Structure Grammar) verpflichteten Ansatz.
9 Akmajian et al. (1979) gehen davon aus, dass AUX eine syntaktische Kategorie ist, die sich von anderen syntaktischen Kategorien klar abgrenzen lässt und die Elemente umfasst, die Tempus und/oder Modalität kodieren. Diese Elemente müssen keinesfalls verbal sein: So werden z.B. die flexionslosen englischen Modals nicht als Verben betrachtet, have und be dagegen schon. Das englische Auxiliarsystem wird zudem sowohl mit Hilfe eines kategoriellen Knotens AUX als auch eines Merkmals [+Aux] abgeleitet. Der Knoten AUX ist eine Konstituente, die in ihrem Verhalten genau von anderen Kategorien unterscheidbar ist und Tempus und Modalität ausdrückt (Akmajian et al. 1979: 51). Die aspektuellen Hilfsverben, die Kopula und das die Diathese betreffende Hilfsverb dagegen sind spezielle Instanzen der Kategorie V, die ein [+Aux]-Merkmal tragen. Für das Englische bestimmen Phrasenstrukturregeln eine feste Abfolge der auxiliaren Elemente. Auch Palmer (1979) argumentiert für eine klare Unterscheidungsmöglichkeit von Hilfsund Vollverben anhand mehrerer für das Englische bekannter syntaktischer Tests, wobei er aber eine graduelle Anordnung der unterschiedlichen Hilfsverben in den unterschiedlichen Sprachen auf einer Skala der Hilfsverbhaftigkeit innerhalb eines Kontinuums vom reinen Hilfsverb zum reinen Vollverb zulässt. Steele et al. (1981) behandeln – in Nachfolge des grundlegenden Artikels von Steele (1978) – AUX ebenfalls als eigenständige, nicht nur auf Verben beschränkte Kategorie: Given a set of language-internal analyses, those constituents which may contain only a specified (i.e. fixed and small) set of elements, crucially containing elements marking tense and/or modality, will be identified as nondistinct. We could use any term to label the definition, that is, to refer to the set of constituents subsumed under the definition, but AUX is the term introduced by Chomsky (1957) […]. (Steele et al. 1981: 21)
Es gibt nur eine kleine festgelegte Menge an Elementen, die die Mitglieder dieser als AUX etikettierten, konstituentenhaften Kategorie beinhalten können: Diese Elemente sind grammatischer Natur, z.B. Modus- oder Tempusmarker. Einzelsprachliche Instantiierungen dieser so definierten Kategorie können verschiedene Formen annehmen und unter verschiedenen Bezeichnungen (hier z.B. Particle Complex, Affix, Enclitic Sequence) oder auch als Leerelement geführt werden (Steele et al. 1981: 114–5). Für die so definierte allgemeine Kategorie AUX werden einzelsprachliche Vorkommen nachgewiesen. Anhand dieser einzelsprachlichen Vorkommen wird die Definition von AUX erweitert und verfeinert. Die nachgewiesene Existenz einer sprachübergreifenden Equivalenzklasse wie AUX führen Steele et al. (1981) schließlich auf definitorische Eigenschaften menschlicher Sprache an und für sich zurück: “Aux is that part of a sentence which makes possible a judgement regarding its truth value” (Steele et al. 1981: 157). Es ist also eine definitorische Eigenschaft des Elements AUX, die für die logische Evaluierung einer Satzstruktur nötigen grammatischen Kodierungen zur Verfügung zu stellen. Diese Kodierungen betreffen wiederum Tempus (zeitlogische Werte), Modus (satzlogische Werte) und Aspekt (Zeitkonturen betreffende Werte). Steele et al. haben also mit dieser Definition einen universalgrammatischen Rahmen gesetzt, der einzelsprachliche Vorkommen unterschiedlichster Art erfassen möchte. Auch die Forschungsansätze, die von einer Kategorie AUX ausgehen, müssen weiterhin verfeinernde Merkmalsstrukturen oder graduierbare Skalen annehmen, um der Heterogenität auxiliarer Elemente gerecht zu werden.
10 1.4.3 Hilfsverben innerhalb der VP Neben den bisher genannten Ansätzen gibt es einige, die zwischen den einzelnen Hilfsverbtypen v.a. starke distributionelle und funktionale Unterschiede feststellen. Dies führt einerseits zu der Annahme, dass die einzelnen Hilfsverben in unterschiedlichen Positionen basisgeneriert werden (wie eigentlich in den meisten der bisher skizzierten Ansätze), andererseits aber auch zu der Annahme, dass manche Hilfsverben als fester Bestandteil der Verbalphrase betrachtet werden können. Jackendoff (1972) unterscheidet bei den englischen Hilfsverben zwischen solchen, die zu der Kategorie AUX gehören, und solchen, die Bestandteil des Verbs sind, so nämlich have und be. Unter der Kategorie AUX befinden sich die temporalen Flexionsmerkmale sowie die Modalverben. Have und be dagegen werden innerhalb der VP basisgeneriert. Wenn unter AUX nun kein modales Hilfsverb steht, kommt es zu Have-Be-Raising (vgl. die Darstellung in Aikmajian & Wasow 1975: 239–240). Aikmajian & Wasow (1975) nehmen ebenfalls die Kategorie AUX für Hilfsverben an. Eine Reihe ihrer Überlegungen zu Hilfsverbkonstruktionen im Englischen ergeben, dass zumindest die Endungen -en (für das Partizip) und -ing im Ablauf der Derivation vor einer eventuellen Tilgung oder einer Voranstellung der VP an das Verb gelangt sein müssen, während die anderen Flexionsendungen danach affigiert werden können (Aikmajian & Wasow 1975: 211). Partizipien sind also Bestandteile der VP. Darüber hinaus muss auch angenommen werden, dass ein passivisches be innerhalb der VP basisgeneriert wird, da es mit von der VP-Tilgung betroffen ist; dennoch kann passivisches be auch eindeutig in der höheren AUX-Position erscheinen, ein Phänomen das Aikmajian & Wasow (1975) auf BEShift zurückführen. In Emonds (1978) wird für das Französische angenommen, dass sich Hilfsverbkonstruktionen VP-intern gestalten, wobei hier Hilfsverben weiterhin V-Kategorien darstellen, die in einer Position links von V° basisgeneriert werden. Die so entstandenen verbalen Komplexe haben damit einen Status zwischen VP und V, nämlich V'. Emonds (1985) nimmt an, dass die meisten grammatischen Kategorien in Spezifikatorpositionen stehen: Determinierer stehen im Spezifikator der Nominalphrase, so genannte Intensivierer im Spezifikator der Adjektivphrase und dementsprechend auch die Hilfsverben im Spezifikator der Verbalphrase. Die Spezifikatoren der Verbalphrase umfassen modale und temporale Hilfsverben (Emonds 1985: 18–19). Den lexikalischen Kategorien, die in Kopfposition erscheinen, entsprechen demnach eine Reihe grammatischer Kategorien (Disguised Lexical Categories), die in Spezifikatorposition stehen und jeweils eine geschlossene Klasse darstellen. Grammatische Kategorien können anderen Transformationen unterliegen als die lexikalischen Kategorien und unterscheiden sich daher auch in ihrer Distribution (Emonds 1985: 162). Durch die Unterscheidung zwischen lexikalischem V und grammatikalischem Formativ V benötigt Emond keine eigene Kategorie AUX und auch kein eigenes Merkmal [Aux]. Jedes grammatische Verb ist ein repräsentatives Element einer offenen Untergruppe der Verben, die durch ein gemeinsames Merkmal F gekennzeichnet sind. Syntaktische Regeln, die dieses Merkmal F betreffen, werden immer nur an dem grammatischen Verb der Gruppe umgesetzt (Emonds 1978: 173–175). Daher ergibt sich die unterschiedliche Distribution. Jedes so genannte Hilfsverb hat ein einzigartiges Verhalten, das es von den anderen grammatischen Verben unterscheidet.
11 1.4.4 Vom Vollverb zum Hilfsverb: Grammatikalisierung Verbindungen zwischen den unter 1.4.1, 1.4.2 und 1.4.3 exemplarisch dargestellten Standpunkten und Argumentationen liefern v.a. durch diachrone Überlegungen entstandene Ansätze. Alle Hilfsverben haben eine Vergangenheit als Vollverb, die auch synchron weiterbestehen mag. Stufenmodelle, die diese Entwicklung nachzuzeichnen versuchen, stehen v.a. im Zeichen der Grammatikalisierungstheorie. Viele der bisher dargestellten Ansätze zeigen bereits, dass Hilfsverben keine einheitliche Katalogisierung erlauben. Vielmehr muss von Hilfsverb zu Hilfsverb und von Sprache zu Sprache unterschieden werden, welche Funktion das zur Diskussion stehende Element innehat. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Einordnung von Hilfsverben stellen, sind auf verschiedenste Weise zu lösen versucht worden: In den meisten Fällen werden Hilfsverben besondere Merkmalszusammensetzungen zugesprochen, die sich entweder in einem Mehr (das allgemeine [Aux]-Merkmal) oder einem Weniger (Defektivität des Flexionsparadigmas, fehlende oder reduzierte semantische Merkmale) äußern. Auch wird versucht, Hilfsverbhaftigkeit durch Bewegung aus einer lexikalischen in eine funktionale Position zu erklären. Darüber hinaus lassen sich durch die Unterscheidung in die Kategorie AUX einerseits und das Merkmal [Aux] andererseits Übergänge in der Einordnung von Hilfsverben modellieren. Eine einleuchtende Erklärung für den oszillierenden Status von Hilfsverben findet sich im Rahmen grammatikalisierungstheoretischer Überlegungen. Sobald Hilfsverben (oder auch andere auxiliare Elemente) diachron betrachtet werden, stellt sich heraus, dass es sich um dynamische Kategorien handelt. Hilfsverben entwickeln sich aufgrund kognitiver Muster in der menschlichen Sprachverarbeitung aus dafür prädestinierten Vollverben. Die ausführliche Arbeit von Heine (1993) stellt diesen Grammatikalisierungsprozess unter verschiedensten Gesichtspunkten und mit Beispielmaterial aus vielen Sprachen der Welt dar. Ausgehend von der Annahme, dass Auxiliare typischerweise die grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt und Modus stützen, führt er so genannte Ereignisschemata (Basic Event Schemas) an, die typischerweise temporale, aspektuelle und modale Verhältnisse und Konzepte in menschlicher Sprache kodieren. Die für diese Ereignisschemata typischen Verben, aus denen sich Hilfsverben abgeleiteter grammatischer Formen entwickeln können, sind dabei im Grammatikalisierungsprozess nie isoliert zu sehen, sondern im Zusammenhang mit den involvierten syntaktischen Mitspielern: Perhaps the most famous example is that of the Latin verb habere, “have,” which in the Romance languages has given rise to perfect markers on the one hand and to future markers on the other. What accounts for this divergent development is the fact that it was not the verb habere that was grammaticalized; rather grammaticalization involved entire periphrastic constructions: The construction habere + perfect passive participle gave rise to perfect expressions, while habere + infinitive periphrasis was responsible for the development of future constructions in French and Spanish. (Heine 1993: 30)
Wichtig ist, dass es sich bei der Entwicklung zu einem Hilfselement um einen Prozess handelt, der verschiedene Stufen der konzeptuellen Verschiebung durchläuft. Grammatikalisierung ist nur möglich, wenn es synchrone Stufen gibt, die Ambiguitäten in der Interpretation syntaktischer Ableitungen erlauben. So kann z.B. bei der folgenden Realisierung eines Grammatikalisierungsprozesses des konzeptuellen Bewegungsschemas die zweite Stufe als zweideutig interpretiert werden:
12 (1-18)
1. Stufe: 2. Stufe: 3. Stufe:
John is going to town soon. John is going to work soon. John is going to get sick soon. (Heine 1993: 49)
Dieses Überlappungsmodell (Overlap Model) macht konzeptuelle Verschiebungen synchron fassbar. Die verschiedenen Grammatikalisierungsstufen, die sich daraus diachron ergeben, nennt Heine (1993: 53) Grammatikalisierungsketten (Grammaticalization Chains, vgl. auch Heine 1992). Nicht alle Grammatikalisierungsketten betreffen Verben. Dennoch ist eine der gängigsten Grammatikalisierungsketten die Verb-to-TAM-Chain (Heine 1993: 2.4, 53f.), die den Entwicklungsprozess von Vollverben zu Tempus-Aspekt-Modus-Markern (TAM) darstellt. Grammatikalisierungsketten haben sowohl eine diachrone Dimension, nämlich die der Sprachentwicklung und -veränderung, als auch eine synchrone Dimension, d.h. den Aspekt der Gleichzeitigkeit von variierendem oder auch mehrdeutigem Sprachgebrauch (Heine 1993: 53).
1.5
Kriterien zur Definition von Hilfsverbhaftigkeit
Die Kriterien zur Diagnostik von Hilfsverben sind vielfältig und stark diskutiert worden. Heine stellt 22 Eigenschaften von Auxiliaren (als Obergruppe der Hilfsverben) zusammen, wie sie in unterschiedlichen Ansätzen in der Forschungsliteratur genannt werden (vgl. Heine 1993: 22–24). Im Folgenden soll kurz auf die für diese Arbeit relevanten Kriterien für Hilfsverbhaftigkeit hingewiesen werden. Die vier folgenden Abschnitte gliedern sich nach semantischen, syntaktischen, morphologischen und phonologischen Eigenheiten von Hilfsverben. 1.5.1 Semantische Kriterien: Desemantisierung Hilfsverben sind durch fehlende oder reduzierte semantische Merkmale gekennzeichnet: Sie werden oft als semantisch leer bezeichnet. Im Rahmen der Generativen Grammatik haben Hilfsverben kein θ-Raster, d.h. sie haben keine thematischen Rollen an Argumente zu vergeben. Heine beschreibt auch mögliche Abläufe der Desemantisierung vor dem Hintergrund der konzeptionellen Verschiebung. Eine typische Entwicklung vom lexikalischen Verb zum Hilfsverb ist z.B. dadurch gekennzeichnet, dass ursprünglich nur ein das Merkmal [+human] tragendes (meist agentives) Subjekt des Verbs zugelassen ist, während bei fortschreitender Grammatikalisierung schließlich alle Arten von Subjekten in der Konstruktion erscheinen können (Heine 1993: 54). Wenn nun aber hilfsverbhaften Elementen keine eigene lexikalische Bedeutung zugeschrieben werden kann, kann man dennoch bestimmte funktionale Bedeutungen festmachen, deren Träger Hilfsverben sein können. Coseriu (1976) beschreibt die Bedeutung von Verbalperiphrasen als Zusammenspiel von Bedeutung des Hilfsverbs und Form des lexikalischen Vollverbs (Partizip, Infinitiv, Gerundium sowie Konjunktiv und Supin im Rumäni-
13 schen). Die im Romanischen üblichen Hilfsverben tragen immer durch ihre ehemalige lexikalische Bedeutung zur Bedeutung der Hilfsverbkonstruktion bei, z.B.: HABERE (TENERE) bringt durch seine eigene lexikalische possessivische Bedeutung die grammatische Bedeutung einer Zugehörigkeit mit, also der Beziehung zu einem Zeitpunkt, in irgendeiner der beiden möglichen Richtungen (retrospektiv oder prospektiv). [...] In beiden Fällen besteht der Bezug auf den Zeitpunkt Präsens. Das Verb HABERE (TENERE) bringt also die grammatische Bestimmung mit “von einem Augenblick an bis zu einem betrachteten Zeitpunkt” oder “von diesem Zeitpunkt an.” [...] STARE drückt an sich einen Zustand, eine Lage ohne Bewegung aus und eignet sich durch diese statische Bedeutung als Instrument für die statische, partialisierende Schau oder für einen statischen Blick auf eine noch nicht begonnene oder schon vergangene und abgeschlossene Handlung. [...] Nur ist hier zu bemerken, dass man eine grammatische Periphrase erst dann hat, wenn diese Verben ihre Bedeutung als solche verlieren, nicht aber, wenn sie sie beibehalten. (Coseriu 1976: 123–125)
Konkrete Bedeutungen, die Basiskonzepten menschlicher Kognition entsprechen, verblassen und erhalten neue funktionale Bedeutung.15 Mögliche Bedeutungen für die von ihr angenommene Kategorie AUX, die man als typisch für die Untergruppe der Hilfsverben betrachten kann, fasst Steele (1978: 10) folgendermaßen zusammen: AUX contains a certain notional set, a set containing tense, aspect, and modality elements; [...] This notional set involves elements which are sentential in scope, i.e. they place the situation described in the sentence in a certain time (tense), ascribe a temporal contour to it (aspect), and assess its reality (modality).
Diese direkte Verbindung von (verbalen) Auxiliaren auf der funktional-semantischen Ebene zu TAM ist essentiell. 1.5.2 Syntaktische Kriterien: Distribution Ein Kriterium rein syntaktischer Art, das Hilfsverben von Vollverben unterscheidet, ist ihre unterschiedliche Distribution. Oft sind Hilfsverben durch weitreichendere oder andere Bewegungsmuster gekennzeichnet: So können die englischen Hilfsverben im Gegensatz zu den Vollverben in einer Position über der Negation und bei der Fragesatz-Bildung auch über dem Subjekt (in C°) stehen. Die italienischen Hilfsverben avere und essere dürfen in so genannten Aux-to-Comp-Konstruktionen (vgl. Rizzi 1982, Ambar 1994, Mensching 2000) in einer Position vor dem Subjekt stehen. Nur die Hilfsverben dürfen im Sardischen bei dem so genanntem VP-Fronting in einer tieferen Position verbleiben (vgl. 7.1.3). Andererseits gibt es Vollverbpositionen, in denen dementsprechend die Hilfsverben nicht erscheinen dürfen: In infiniten Sätzen kann das englische Stützverb do nie in seiner Hilfsverbfunktion auftreten. Auch das italienische stare + Gerundium darf im heutigen Sprach–––––—– 15
Als mögliche Mechanismen der Desemantisierung nennt Heine (1993: 95) die folgenden Modelle: (i) ab > b => Bleaching Model; (ii) ab > bc => Loss-and-Gain Model; (iii) ab > bc > cd => Implicature Model.
14 gebrauch nie im Infinitiv stehen (vgl. 6.5). Die temporalen Hilfsverben avere und essere können nicht zur Bildung absoluter Partizipialkonstruktionen herangezogen werden. Einzelsprachabhängig gibt es eine Reihe von Tests, die Hilfsverbhaftigkeit auf syntaktischer Ebene konstatieren. Die meisten syntaktischen Überprüfungsmethoden laufen darauf hinaus, die Monoklausalität einer ein Hilfsverb enthaltenden Derivation nachzuweisen. 1.5.3 Morphologische Kriterien: Dekategorisierung Werden Verben als Hilfsverben gebraucht, weisen sie immer ein unvollständiges Konjugationsschema auf. Oft ist ihr Verbalparadigma auf finite Formen beschränkt, oft auf bestimmte Tempora: Sie erscheinen z.B. nur in den Formen des Präsens, wie das sardische áere a, das zur Futurbildung benutzt wird. Die meisten Hilfsverben können nicht mehr in Diathese oder im Imperativ erscheinen, können nicht mehr nominalisiert oder individuell negiert werden. Manche Verben sind so auxiliarisiert (d.h. so weit grammatikalisiert), dass sie keinerlei Flexionsendungen mehr haben (vgl. die englischen Modalverben). Dekategorisierung bedeutet, dass die Hilfselemente nicht mehr als zu der Kategorie gehörig empfunden werden, aus der sie ursprünglich entstanden sind, sondern nur mehr als grammatische Marker. In einer weiteren Entwicklung können sie auch ihren Status als eigenständiges Wort verlieren (vgl. Heine 1993: 55–56).
1.5.4 Phonologische Kriterien: Erosion Neben ihrer Einschränkung bzw. Defektivität hinsichtlich des Konjugationsparadigmas neigen Hilfsverben dazu, in ihrer lautlichen Form reduziert zu erscheinen. Hilfsverben im Englischen z.B. können mit adjazenten Elementen kontrahiert werden (vgl. I’ve gone etc.), d.h. klitische Formen bilden. Oft bilden bei ‘Doppelgängern’, die sowohl als Hilfsverb als auch als Vollverb erscheinen können, kontrahierte Kurzformen das Paradigma für den Hilfsverbgebrauch: Ein Beispiel dafür ist HABEN im Rumänischen, das als Hilfsverb Kurzformen aufweist16 oder das für Konditional und Futur verwendete dévere im Sardischen.17 Bei Heine (1993: 56–57) werden diese Phänomene unter dem Stichwort der lautlichen Erosion zusammengefasst. Ein Beispiel für fortgeschrittene Erosion aus der Diachronie der romanischen Sprachen ist die Entwicklung des neuen Futurs oder der Konditionalformen aus einer Hilfsverbkonstruktion mit HABEN.18 Hier sind Hilfsverben zu Flexionsaffixen geworden. Eine Zwischenstufe stellen dagegen die altspanischen und portugiesischen Futurformen dar, bei denen die ehemaligen Hilfsverben noch nicht reine Verbendungen darstellen, sondern, wie das zwischen Verb und Futurmarker tretende Personalpronomen, klitischen Charakter haben.19 –––––—– 16 17 18 19
3.P.Sg.: a statt are, 1.P.Pl.: am statt avem, 2.P.Pl.: aţi statt aveţi. 2.P.Sg.: des statt deves, 3.P.Sg.: det statt devet, 1.P.Pl.: demus statt devímus, 2.P.Pl.: dedzis statt devítes, 3.P.Pl.: den statt deven, vgl. Jones (1993: 90). CANTARE HABEO / HABUI > it. canter-ò / canter-ei. Port. ver-me-ás ‘du wirst mich sehen.’
15
1.6
Zusammenfassung
Im ersten einführenden Kapitel wurde die Zielsetzung dieser Arbeit skizziert; es wurden einige allgemeine Daten und Phänomene aufgezeigt, welche spezifische Probleme des Italienischen und seiner Hilfsverbkonstruktionen betreffen, die es im Laufe dieser Arbeit zu lösen gilt. Des weiteren wurde die Frage der Universalität von Auxiliaren sowie das Verhältnis von Vollverben und Hilfsverben dargestellt. Zuletzt wurde die Grammatikalisierungstheorie als günstiges Ausgangsmodell für eine Analyse von Hilfsverben genannt. Die in diesem Rahmen genannten Kriterien der Hilfsverbhaftigkeit – Desemantisierung, syntaktische Distribution, morphologische Dekategorisierung und phonetische Erosion – werden in der gesamten Arbeit immer wieder an gegebener Stelle angeführt werden. Da v.a. der Versuch einer syntaktischen Einordnung von Hilfsverben gemacht werden soll, haben syntaktische Kriterien natürlich eine vorrangige Relevanz. Die Heinesche Verb-to-TAM-Chain, d.h. die Vorstellung von einer Grammatikalisierungskette mit einer graduellen Entwicklungstendenz, wird auch in der vorliegenden minimalistischen Interpretation der Hilfsverben im Italienischen und Sardischen eine fundamentale Rolle spielen. In diesem Sinne mag also die allgemeine Definition für Auxiliarität nach Heine auch für die hier zu untersuchenden Hilfsverben gelten: “An auxiliary is a linguistic item concerning some range of uses along the Verb-to-TAM chain” (Heine 1993: 70).20 Vor dem Hintergrund dieser Definition können Untersuchungen zur Syntax von Hilfsverben kein einheitliches Bild ergeben. Auch im nächsten Kapitel, das den Forschungstand der Arbeiten zu Hilfsverben in der Generativen Grammatik reflektiert, wird die fehlende Homogenität bei der Interpretation von Hilfsverben offensichtlich.
–––––—– 20
Eine ausführlichere Version der Definition findet sich bei Heine (1993: 131): “Auxiliaries may be defined as linguistic items located along the grammaticalization chain extending from full verb to grammatical inflection of tense, aspect, and modality, as well as a few other functional domains, and their behaviour can be described with reference to their relative location along this chain, which is called the verb-to-TAM chain in the present work.”
2
Stand der Forschung
In der Generativen Grammatik ist der Status von Hilfsverben selten ein zentrales Thema von Untersuchungen, obwohl diese in der Argumentation oft eine entscheidende Rolle spielen: Die in den Anfängen von Chomsky (1957) angenommene, auf der Position von Hilfsverben basierende AUX-Phrase (vgl. 2.1) entwickelt sich bald zur Flexionsphrase IP des Prinzipien- und Parameter-Modells (P&P-Modell, Chomsky 1981, 1986a, vgl. 2.2). Die IP wiederum wird seit Pollock (1989) und seiner Split-Infl-Hypothese in mindestens zwei weitere funktionale Kategorien aufgeteilt (vgl. 2.3 sowie die Zusammenfassung in 2.4). Im stark auf Reduktion und Ökonomiekriterien beruhenden Minimalist Program (MP, Chomsky 1995) schließlich werden die vielfältigen Kategorien der aufgespalteten IP wiederum in einem einfachen T-Knoten zusammengeführt (vgl. 2.5). Die Arbeiten in der Nachfolge von Chomsky (1957) übernehmen die Kategorie AUX, wenn auch oft an recht unterschiedlichen Positionen in der syntaktischen Ableitung. Diese Entwicklung spiegelt Sichtweisen der unter 1.4 im Zusammenhang mit der Vollverb-Hilfsverb-Diskussion dargestellten Ansätze wieder. Insgesamt bietet das vorliegende Kapitel ein heterogenes Bild an Forschungsansätzen. Viele davon gehen weiterhin von der englischen Sprache aus. Dennoch ist zu beobachten, dass die romanischen Sprachen und verstärkt das Italienische als wichtiger Bezugspunkt für die Weiterentwicklung des Modells dienen: Gerade auch die Ergebnisse von Pollock (1989) sind nur durch kontrastive Untersuchungen anhand der romanischen Sprachen möglich geworden. Zu den Besonderheiten der italienischen Syntax publizieren Rizzi (1982), Burzio (1986) und Belletti (1990) grundlegende Studien. Auch zur sardischen Syntax erscheinen die essentiellen Arbeiten von Jones, der hier mit einem Aufsatz zur Auxiliarsyntax des Sardischen vertreten ist (vgl. Jones 1988a).
2.1
Hilfsverben in der Entwicklung der Generativen Grammatik
Die Geburt der Kategorie AUX in der Generativen Grammatik kann in Chomskys Syntactic Structures von 1957 gesehen werden.1 Dort stellt Chomsky die folgenden Phrasenstrukturregeln für das Englische auf: (2-1)
Verb → AUX + V AUX → C(M) (have + en)(be + ing)(be + en) M → will, can, may, shall, must [...] (Chomsky 1957: 39)
AUX steht dabei für alle im Zusammenhang mit Auxiliarität behandelten Verben des Englischen, das Symbol C (≠ das spätere C für Complementizer) für mögliche Flexionsendungen –––––—– 1
Für einen Überblick vgl. Radford (1997: 124–125), für eine einführende Darstellung der Entwicklung vgl. Lasnik et al. (2000: Kap. 1 und 2).
18 (im Englischen beschränkt auf -s in der 3.P.Sg. sowie die Imperfektendung auf -ed – ansonsten ist dieses Symbol leer), M für Modalverben, -en für die Partizipien und -ing für die Gerund-Formen. Jeder Satz enthält AUX:2 (2-2)
If S1 is a grammatical sentence of the form NP1 – AUX – V – NP2 then the corresponding string of the form NP2 – AUX + be + en – V – by + NP1 is also a grammatical sentence. (Chomsky 1957: 43)
Es ergibt sich also z.B. die folgende syntaktische Struktur (in Teilen nach Radford 1997: 124), wobei AUX essentiell ist, da es immer das Symbol C, also die (hier leeren) Flexionsendungen enthält:3 (2-3)
Chomsky (1957) S NP
VP VERB
PRN AUX
He C Ø
M might
NP V
PERF
PROG
have
been
N
watching television
In Chomsky (1965) wird dagegen AUX und damit auch die Flexionsendung aus der Verbalphrase herausgenommen. AUX erhält damit den Status eines eigenständigen, von der Verbalphrase unabhängigen syntaktischen Knotens: (2-4)
S → NP Predicate-Phrase Predicate-Phrase → AUX VP (Place) (Time) AUX → Tense (M) (Aspect) (Chomsky 1965: 106–108)
Vollverben und Auxiliare sind vielmehr getrennte Kategorien. Die englischen Auxiliare scheinen hier nicht unbedingt als Verben interpretiert zu werden (nach Palmer 1979: 2). AUX und VP sind jedoch einem gemeinsamen Knoten, nämlich der Prädikationsphrase untergeordnet. Das externe Argument (= Subjekt) befindet sich in einem Schwesterknoten dieser Prädikationsphrase. Die Flexionsendungen sind nun als Tense charakterisiert, –––––—– 2
3
Der Bestandteil (be + en), der für passivisches be + Partizip steht, wird allerdings bald aus der Regel für AUX herausgenommen und als spätere optionale Transformationsregel (vgl. Chomsky 1957: 111) wiedereingeführt. Weitere Ansätze, die sich hauptsächlich auf das Englische berufen und die Hilfsverben, teilweise nach Typen differenziert, innerhalb der VP ansiedeln, so z.B. Jackendoff (1972) oder Emonds (1978, 1985), wurden bereits in Kapitel 1.4.3 erwähnt.
19 gehören aber weiterhin unter den Knoten AUX. Perfect und Progressive, also have und be, stehen hier nun unter einem eigenen, von Modality getrennten Aspect-Knoten (nach Radford 1997: 124, vgl. auch Chomsky 1975): (2-5)
Chomsky (1965) S NP
PREDP
PRN
VP
AUX TENSE
He
Ø
M
might
ASPECT PERF
PROG
have
been
V
NP N
watching television
Durch die Auslagerung von AUX aus der lexikalischen Verbalkategorie in einen übergeordneten syntaktischen Knoten ist der Weg für die erste wichtige funktionale Kategorie, die Flexionsphrase IP, gelegt.
2.2
Das Prinzipien- & Parameter-Modell
Das Prinzipien- und Parameter-Modell (P&P-Modell) ist eine wichtige Stufe in der Entwicklung der Generativen Grammatik Chomskyanischer Ausprägung: Im Rahmen dieses Modells entstanden viele grundlegende einzelsprachliche Arbeiten, die über das Englische hinausgehen, sowie eine große Anzahl komparativer Analysen. Das P&P-Modell hat im Grunde auch heute seine theoretische Gültigkeit behalten, da selbst die Weiterentwicklungen des Minimalistischen Programms nach Chomsky (1995) auf universalsprachlichen Prinzipien und einzelsprachlicher Parametersetzung beruhen. Der Beginn des P&P-Modells ist in Chomsky (1981) und der Rektions- und Bindungstheorie zu sehen,4 die jedoch als solche im MP keine Gültigkeit mehr hat. 2.2.1 Chomsky (1981, 1986a): INFL Zur Unterscheidung von finiten und infiniten Sätzen wird in Chomsky (1981:18–19) der INFL-Knoten eingeführt. Die Ableitung eines eingebetteten Satz lautet z.B.: –––––—– 4
D.h. der Theory of Government and Binding (kurz GB). Das Modell der Prinzipien und Parameter ist jedoch der GB übergeordnet, insofern als letztere die Instanz bestimmter theoretischer Prinzipien bedeutet. GB wurde in der Forschung oft als allgemeine Bezeichnung dieser Entwicklungsstufe innerhalb der Generativen Grammatik übernommen; für einen aktuellen Überblick zu dem P&P-Ansatz vgl. das erste Kapitel aus Chomsky (1995) [= Chomsky & Lasnik 1993].
20 (2-6)
S' → COMP S S → NP INFL VP
Jeder Satz beinhaltet INFL. INFL hat ein Merkmal [± Tense]. Falls es sich um [+Tense] handelt, treten weitere Merkmale für Person, Numerus und Genus hinzu, zusammengefasst in dem nominalen Komplex AGR. AGR ist in Kombination mit INFL außerdem für die Kasusvergabe an die Subjekt-NP zuständig. Morphonologisch erscheint INFL in Form von verbalen Flexionsendungen (Chomsky 1981: 52). Die Bewegung von AGR, d.h. der Flexionsendungen zum Verb, kann morphophonologisch oder syntaktisch ausgeführt werden (Chomsky 1981: 256–257). Chomsky bleibt in seinen Aussagen vage darüber, ob auch die Hilfsverben unter INFL basisgeneriert werden. Die englischen Modalverben können sich eventuell ebenso wie to unter INFL befinden (Chomsky 1981: 140, Fn. 28). In Chomsky (1986a) schließlich wird auf die beiden funktionalen Kategorien COMP und INFL, ab nun C und I genannt, die X-Bar-Theorie angewendet: C und I sind Köpfe maximaler Projektionen, CP und IP, und projizieren eigene Spezifikatorpositionen. Bis Pollock (1989) gilt also im P&P-Modell die folgende Ableitung eines Satzes (vgl. auch die Darstellung in Radford 1988: 512): (2-7)
Derivation des P&P-Modells vor Pollock (1989) CP C'
Spec
IP
C°
I'
Spec I°
VP
Hilfsverben scheinen in diesem Modell von den Vollverben unterschieden zu werden.5 Sie bewegen sie sich aber aus einer anderen Position heraus nach I,6 d.h. sie werden in einer von I subkategorisierten Position, wahrscheinlich einer defektiven VP, basisgeneriert. Spätere Arbeiten allerdings nehmen an, dass zumindest für manche der englischen Hilfsverben eine Basisgenerierung direkt in I angenommen werden kann (vgl. 2.2.6 zu Radford 1988).
–––––—– 5
6
Vgl. Chomsky (1986a: 73): “For concreteness, let us assume that do is inserted to bear the features of AGR under the familiar conditions and that the aspectual elements are ‘defective’ verbs that select but do not θ-mark VP.” Dasselbe gilt für die Kopula, vgl. Chomsky (1986: 78 sowie 94, Fn. 51). Vgl. Chomsky (1981: 73): “[...], though when an aspectual element raises to I [...].”
21 2.2.2 Rizzi (1982): Hilfsverbselektion und Restrukturierungsverben Als Standardwerk, was die Einordnung und Charakterisierung des Italienischen innerhalb der Generativen Grammatik betrifft, beschreibt Rizzi (1982) gleich mehrere wichtige Phänomene der italienischen Syntax, die für eine Behandlung der Hilfsverben relevant sind, und liefert dazu grundlegende Erklärungsansätze. Als eine frühe Anwendung des P&P-Modells (auch noch ohne Annahme VP-interner Subjekte) sind Rizzis Analysen dennoch auch im Rahmen des MP wiederverwertbar. Die wichtigsten Punkte betreffen die Hilfsverbselektion, vor allem bei den so genannten Restrukturierungsverben (in diesem Zusammenhang besonders bei den Modalverben), sowie so genannte Aux-to-Comp-Konstruktionen, die hier aber nicht behandelt werden. Rizzis Ergebnisse seien hier kurz zusammengefasst. Restrukturierung betrifft die Uminterpretation einer syntaktischen Struktur, die über eine Phase der Zweideutigkeit schließlich zu einer grammatischen Umordnung führen kann.7 Die in Zusammenhang mit den Modalverben (etwa volere, potere oder dovere) zu beobachtenden Phänomene betreffen die Hilfsverbselektion, Clitic Climbing und allgemein zwei unterschiedliche zugrunde liegende syntaktische Strukturen, von denen die eine als biklausal, die zweite als monoklausal (‘restrukturiert’) bezeichnet werden kann. Für die genauere Untersuchung der verschiedenen zugrunde liegenden syntaktischen Strukturen lassen sich einige bekannte Tests (Wh-Bewegung, Spaltsatzbildung, Right-Node-Raising, vgl. Rizzi 1982: 6–11) anführen, die die Monoklausalität bzw. die Biklausalität der entsprechenden Konstruktion belegen. Unter Monoklausalität versteht man die von Rizzi demonstrierte Konstituentenhaftigkeit von Modalverb und Infinitiv plus den entsprechenden durch Klitika realisierten Argumenten der Gesamtstruktur: Diese Konstituentenhaftigkeit tritt nur in restrukturiertem Kontext auf und kann nicht durchbrochen werden. Es gibt keine Mischformen von restrukturierten und nicht-restrukturierten Kontexten (vgl. Rizzi 1982: 21). Alle Restrukturierungsverben sind entweder Subjektkontroll- oder Anhebungsverben (der umgekehrte Schluss gilt natürlich nicht), also Verben, bei denen zwischen dem Subjekt des eingebetteten Satzes und dem Oberflächensubjekt des Matrixverbs ein referentieller Zusammenhang besteht. Rizzis Analyse nun schließt die Hypothese, Restrukturierungsphänome könnten auf doppelten Lexikoneinträgen der entsprechenden Verben unter verschiedenen Kategorien (einerseits als Vollverb mit Satzkomplement, andererseits als Hilfsverb) beruhen, aus (Rizzi 1982: 33): Ob in restrukturiertem Kontext oder nicht, die entsprechenden Konstruktionen zeichnen sich laut Rizzi durch keine konstruktionsabhängige Bedeutungsveränderung aus. Daher schlägt Rizzi vor, dass Restrukturierungsphänomene im Grunde als die Bildung eines neuen Verbalkomplexes aus Restrukturierungsverb und eingebettetem Verb interpretiert werden können, wobei das Subjekt des eingebetteten Satzes und das Oberflächensubjekt zu einem Subjekt zusammengeführt werden: Diese Möglichkeit der Neuanalyse (Re-Analyse) z.B. eines Modalverbs wie volere als Bestandteil eines komplexen Verbs stellt somit einen Schritt in Richtung syntaktischer Hilfsverbhaftig-
–––––—– 7
Restrukturierung (auch als Re-Analyse bezeichnet, vgl. Bußmann 1990: 627 und 646) ist daher ein Grammatikalisierungsphänomen. Rizzi selbst sieht hinsichtlich dieser Phänomene jedoch noch keine Veranlassung, Modalverben im Romanischen als eine eigene von V° abgegrenzte Kategorie (z.B. M) zu betrachten (vgl. Rizzi 1982: 40, Fn. 5).
22 keit eben dieses Modalverbs dar.8 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Rizzis Beobachtung, dass in restrukturiertem Kontext nur noch ein perfektives Hilfsverb auftauchen kann, nicht mehr zwei, wie es in biklausalen Strukturen der Fall ist: (2-8) (2-9)
A quest’ora, Mario avrebbe dovuto averlo già finito, il suo lavoro. *A quest’ora, Mario lo avrebbe dovuto aver già finito, il suo lavoro. (Rizzi 1982: 39)
Rizzi nimmt keine klare Kategorisierung von Hilfsverben vor: Die perfektiven Hilfsverben erscheinen bei ihm als nicht weiter definierte Kategorie Aux (Rizzi 1982: 39). Die als V kategorisierten Modalverben siedelt er offensichtlich (seiner Analyse der Restrukturierungsverben zufolge, der ja praktisch eine Hilfsverbstruktur zugrunde liegt) auf einer Zwischenstufe an. 2.2.3 Haider (1984), Haider & Rindler-Schjerve (1987): Die Blockierungs-Deblockierungs-Hypothese Einen zunächst auf die Hilfsverbselektion im Deutschen bezogenen Ansatz stellt Haider (1984) dar. Er soll hier kurz skizziert werden, da im Laufe der Arbeit darauf Bezug genommen wird. Haider sieht die Hilfsverben HABEN und SEIN als phonologisch realisiertes INFL. Er geht zunächst von den Partizipialformen aus, wobei er feststellt, dass Partizip Perfekt und Partizip Passiv identische Formen haben. Bei attributivem Gebrauch eines solchen Partizips ist in jedem Falle die ursprüngliche Argumentstruktur des Verbs reduziert. Ähnlich verhält es sich im Deutschen bei dem von Haider so genannten ‘zu-Infinitiv’ in attributivem Gebrauch. Sowohl die Partizipialform als auch das Element zu scheinen in bestimmten Kontexten blockierend auf die verbalen Argumente zu wirken. Auffällig ist es, dass beide Formen durch Zusammentreten mit HABEN deblockiert9 werden können, sodass das blockierte Argument wieder reaktiviert wird: (2-10) (2-11)
der vernichtete Brief der zu vernichtende Brief
Er hat den Brief vernichtet. Er hat den Brief zu vernichten.
–––––—– 8
9
Vgl. Rizzi (1982: 38): “In conclusion, the facts presented in this section seem to suggest that Restructuring creates a syntactic constituent ‘verbal complex’, and that this constituent cannot be simply a V. If this is correct, we are led to conclude that Italian syntax makes use of a syntactic category, distinct from V, dominating nonlexical verbal compounds. Such a category is independently needed for the basically complex verbal structures Aux + past participle, which allow intrusion of adverbs, as well as the application of Restructuring.” An anderer Stelle gibt Haider die folgende Definition für den Deblockierungsmechanismus: “Deblocking is the effect of merging the argument structure of the blocked verb with the argument structure of the auxiliary” (Haider & Rindler-Schjerve 1987: 1040).
23 SEIN10 dagegen kann nicht deblockieren. SEIN kann aber ein internes Argument als Subjekt realisieren: (2-12) (2-13)
der Brief ist vernichtet der Brief ist zu vernichten
Das Element zu scheint anders zu blockieren als das Partizip: (2-14) (2-15)
der Brief ist angekommen *der Brief ist anzukommen
Bei dem unakkusativischen Verb ankommen ist das einzige (interne) Argument, das zum Subjekt angehoben werden könnte, durch zu blockiert, sodass SEIN wirkungslos bleibt.11 Diese unterschiedlichen Beobachtungen in Zusammenhang mit Hilfsverben führen Haider zu den folgenden Schlussfolgerungen: − − − −
Das Partizip blockiert ein externes Argument (das Subjekt der Basiskonfiguration). Das Element zu blockiert ein externes Argument, auch ein virtuell deriviertes (das Oberflächensubjekt). HABEN kann das blockierte externe Argument reaktivieren. SEIN kann das interne Argument als Subjekt realisieren.
Als Nachteil zu Haiders Ansatz ist zu nennen, dass er sich nicht ausführlich mit den Mechanismen der Kasuszuweisung auseinandersetzt, die im Zusammenhang mit den von ihm angeführten Konstruktionen eine Rolle spielen. Wichtig an seinem Ansatz aber ist, dass er das Zusammenspiel zwischen Argumentstruktur des Hauptverbs und Funktionsweise des Hilfsverbs sehr gut darstellt: Nicht alle Kombinationen lizensieren gültige Derivationen.12 In einem weiteren Aufsatz wird kontrastiv auch das Italienische hinsichtlich der Hilfsverbselektion untersucht (Haider & Rindler-Schjerve 1987). Das Italienische weist bekanntermaßen in der Hilfsverbselektion große Ähnlichkeiten mit dem Deutschen auf, mit einer Ausnahme: Reflexivkonstruktionen selegieren im Deutschen HABEN, im Italienischen SEIN: (2-16) (2-17)
dt. it.
Das Kind hat sich gewaschen. Il bambino si è lavato.
–––––—– 10 11
12
Ebenso WERDEN im Falle des Ereignispassivs. Es sei denn, es tritt ein Expletivsubjekt auf: (i) Es ist pünklich anzukommen. Das Element zu blockiert nicht im satzwertigen Infinitiv: (ii) Ich habe versprochen, PRO den Brief zu vernichten. In dieser Kontrollstruktur ist das blockierte Element deblockiert, nämlich in PRO vorhanden. Haider erklärt das dadurch, dass infinites INFL deblockierend wirken kann. Auf weitere Ausführungen muß hier leider verzichtet werden. Vgl. hierzu auch Haider & Rindler-Schjerve (1987: 1042): “The function of an auxiliary is twofold: it bears the agreement and tense features and / or it is an operator on the argument structure of the verb it governs.”
24 Das Reflexivum wird hier als Operator betrachtet, der das externe Argument des Verbs aufnimmt. Im Deutschen muss dieses von der Partizipialmorphologie blockierte Argument aber erst durch HABEN deblockiert werden: Erst wenn HABEN deblockiert, kann das externe Argument an das Reflexivum sich gelangen. Im Italienischen verhält es sich anders, da si ein klitisches Reflexivpronomen ist: Als solches verbindet es sich mit dem Hilfsverb. Das Hilfsverb SEIN kann aufgrund seiner Funktionen das blockierte Argument nicht selbst reaktivieren. Durch das Klitikum aber kann SEIN ähnlich wie HABEN eine weitere Argumentposition bereitstellen: So kann das blockierte Element direkt, ohne weiteren Deblockierungsmechanismus, an si gelangen (vgl. Haider & Rindler-Schjerve 1987: 1043). Die Intuition, dass sich der klitische Charakter des Reflexivums (und seine Merkmalszusammensetzung, vgl. 3.5.2) auf die Hilfsverbslektion auswirken kann, wird sich in der minimalistischen Analyse der Reflexivkonstruktionen bestätigt finden (vgl. 5.4.2). 2.2.4 Burzio (1986): Hilfsverben, Restrukturierung und Reflexivkonstruktionen Basierend auf Rizzi (1982) entwickelt Burzio (1986) einige der von Rizzi gelieferten Analysen weiter. Mithilfe seiner Klassifizierung von Verben in transitive, (unergative) intransitive und unakkusativische13 Verben, die v.a. auf dem Phänomen der Ne-Klitisierung beruht,14 stellt Burzio Regeln innerhalb des P&P-Modells zur Hilfsverbselektion im Italienischen auf, erarbeitet eine eigene Analyse der von Rizzi dargestellten Restrukturierungsphänomene und versucht eine Einordnung der bei der Hilfsverbselektion relevanten Reflexivkonstruktionen. Essentiell sind Burzios Regeln zur Hilfsverbselektion von essere und die damit verbundene Partizipialkongruenz: (2-18)
Hilfsverbselektion und Partizipialkongruenz nach Burzio (1986: 55/56; 63) ESSERE ASSIGNMENT: The auxiliary will be realized as essere whenever a ‘binding relationl’ exists between the subject and a ‘nominal contiguous to the verb’. PAST PARTICIPLE AGREEMENT: A past participle will agree (in gender and number) with an element holding a ‘binding relationl’ with its ‘direct object’. A ‘nominal contiguous of the verb’ is a nominal which is either part of the verb morphology, i.e. a clitic, or a ‘direct object’. A ‘direct object’ is a NP in an A-position governed by the verb. A ‘binding relation’ is a binding relation other than a relation between elements of independent θ-roles.
–––––—– 13 14
Burzio (1986) benutzt den Terminus ‘ergativ’; in dieser Arbeit wird, wie bereits erwähnt, der sprachwissenschaftlich unmissverständlichere Begriff der Unakkusativität verwendet. Vgl. Burzio (1986: 30): “Ne-Cl is possible with respect to all and only direct objects.” Tests zur ne-Klitisierung erlauben es, die Gruppe der intransitiven Verben, in unakkusativische und intransitive unergative Verben zu trennen, eine Unterscheidung, die Rizzi noch nicht gemacht hatte.
25 Das Hilfsverb essere wird immer dann gewählt, wenn das Subjekt der Konstruktion in einer Bindungsrelation zu einem nominalen internen Argument des Verbs (eben meist das direkte Objekt) oder zu einem klitischen Pronomen steht. Als Bindungsrelation gilt auch das Verhältnis zwischen Subjekt und reflexivem si, da beide mit dem direkten Objekt und dadurch auch miteinander in Beziehung stehen. Daher gilt bei Reflexivkonstruktionen immer die Hilfsverbselektion essere. Subjekte von unakkusativische Verben ebenso wie von Passivkonstruktionen sind interne Objekte; daraus folgt die Hilfsverbselektion essere: (2-19) (2-20) (2-21)
Maria si è accusata. Maria è arrivata. Maria è stata accusata.
Die Hilfsverbselektion avere gilt genau dann, wenn es diese Bindungsrelation zum direkten Objekt nicht gibt: (2-22) (2-23) (2-24)
Maria ha telefonato. Maria ha accusato Gianni. Maria ha accusato se stessa.
Im ersten Fall gibt es kein direktes Objekt, zu dem eine Bindung möglich wäre. Im zweiten Fall gibt es das direkte Objekt, beide, Subjekt und Objekt, erhalten aber voneinander völlig unabhängige θ-Rollen. Im dritten Fall ist das direkte Objekt zwar reflexiv, aber kein Klitikum, das Subjekt Maria ist nach Burzios Definition unabhängig von der direkten Objektsposition (Burzio 1986: 63). Was die Partizipialkongruenz betrifft, ist sie parallel zur essereSelektion zu sehen, mit dem Zusatz, dass es einen Fall der Kongruenz gibt, wo das Element, mit dem das Partizip kongruiert, zwar eine Bindungrelation in Burzios Sinne zum direkten Objekt beinhaltet, aber dennoch nicht das Subjekt darstellt: Klitische Personalpronomina lösen im Italienischen ebenfalls Partizipialkongruenz aus, auch wenn zwischen Subjekt und Objekt des Verbs keine Bindung besteht. Auch wenn Burzio keine Einordnung von dem Phänomen ‘Hilfsverb’ in das P&P-Modell vornimmt, wird durch seine Analysen dennoch deutlich, dass Hilfsverben zumindest im Italienischen stark mit der Argumentstruktur der jeweiligen Vollverben zusammenhängen. Essere und avere sind von den von ihm dargestellten Kontexten abhängig. Anders als Rizzi (1982) erklärt Burzio (1986) die mit den Restrukturierungsverben verbundenen Erscheinungen (Clitic-Climbing, Long Object Preposing, veränderte Hilfsverbselektion etc.) nicht durch die Bildung monoklausaler Strukturen in Form von Verbalkomplexen aus biklausalen Strukturen, sondern durch die Möglichkeit der Verbbewegung, die bei der Gruppe der Restrukturierungsverben gegeben ist. Allerdings ist auch diese Gruppe nochmals in drei Untergruppen zu unterteilen: So gibt es Restrukturierungsverben, die unakkusativisch sind (andare (a), venire (a)), solche, die als Anhebungsverben (Raising-Verben) (dovere, potere, cominciare, continuare, stare (per), sembrare), und andere, die als Kontrollverben (volere, sapere, cominciare, continuare) zu bezeichnen sind. Da in der hier vorliegenden Arbeit die Modalverben noch behandelt, weitere aspektuelle Verben aber ausgeschlossen werden sollen, werden im Folgenden nur Beispiele genannt, die volere, potere und dovere betreffen.
26 Zunächst prüft Burzio drei Hypothesen: die reine Modalverbhypothese (a), die VP-Komplement-Hypothese (b) und die Verbalkomplex-Hypothese (c) (Burzio 1986: 331). Wie schon auch bei Rizzi (1982) festgestellt, beruht die Tragfähigkeit einer Analyse v.a. auf der Tatsache der Koindizierung des Subjekts des Matrixsatzes mit dem Subjekt des eingebetteten Satzes (Burzio 1986: 325). Burzio allerdings weist nach, dass es nicht sein kann, dass beide Subjekte zu einem einzigen Subjekt eines Verbalkomplexes zusammengeführt werden können, da das Subjekt des eingebetteten Satzes auch noch auf der Ebene der Oberflächenstruktur thematisch/semantisch präsent ist. Damit scheidet praktisch Hypothese (a) bereits aus: Würde es sich bei den italienischen Restrukturierungsverben um reine Modalverben im Sinne der englischen Modalverben (z.B. can, will, may usw.) handeln, also um Verben, die in ihrer Hilfsverbhaftigkeit soweit fortgeschritten sind, dass sie in der Literatur oftmals unter INFL oder einem eigenen MOD-Knoten basisgeneriert werden, gäbe es keine von ihnen bestimmte Selektionsrestriktionen. Verben wie volere haben aber (im Italienischen, vgl. aber auch 7.4. für das deontische Passiv im Sardischen) eine klare thematische Subjektrolle zu vergeben. Ebenso scheidet die VP-Komplement-Analyse (b) aus:15 Ein Subjekt von volere muss immer auch den Selektionsrestriktionen für ein Subjekt des eingebetteten Verbs genügen. Die Verbalkomplex-Hypothese (c), wie sie von Rizzi (1982) vorgeschlagen wurde (vgl. 2.2.2), möchte Burzio ebenfalls von vorneherein ausschließen, da die Restrukturierungsverben ihre individuellen Kontroll- bzw. Raising-Eigenschaften auch in rekonstruiertem Zusammenhang beibehalten. Man würde bei der Bildung von Verbalkomplexen laut Burzio nicht erwarten, dass das betreffende Modalverb seine Selektionsrestriktionen behalten kann (vgl. Burzio 1986: 332). Burzio schlägt also vor, alle Restrukturierungsphänomene durch VP-Bewegung zu erklären: Bewegt sich das eingebettete Verb zum Matrixverb, bleibt die Position des eingebetteten Subjekts weiterhin erhalten und damit auch die Möglichkeit, durch Rekonstruktion auf LF alle θ-Relationen aufrecht zu erhalten. Ebenso bleiben die Kontrollbzw. Raising-Beziehungen bestehen (Burzio 1986: 337/338). Burzios Analyse ist die folgende:16 (2-25) (2-26)
Noii avremmo voluto [SPROi andare ti] (nicht restrukturiert) Noii saremmo voluti [VP andare ti][SPROi - - - ] (restrukturiert) (Burzio 1986: 351)
Die eingebettete VP darf sich in (2-26) bewegen, obwohl sie eine Spur ti enthält, die durch die Bewegung ihre Antezedens-Rektion durch PROi verlieren könnte. Das bedeutet also, dass es ein anderes Antezedenz geben muss, welches garantiert, dass die Spur c-kommandiert bleibt. Dieses Antezedenz stellt nun das Subjekt des Matrixverbs noi dar. Durch diese Beziehung sind nun die Kriterien gegeben, die Burzio für die Hilfsverbselektion von essere festgelegt hat: Es besteht eine Bindungsbeziehung zwischen dem Subjekt des Matrixverbs und einem Element in direkter Objektposition des eingebetteten Verbs, das durch V-Bewegung auch als Objekt des Matrixverbs fungiert. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich als weitere Folge auch die Partizipialkongruenz. In Burzios Analyse kommt es also nicht zu einer Löschung eines der Subjekte (Subject Deletion), vielmehr werden interne Argumente des eingebetteten Verbs nach VP-Bewe–––––—– 15 16
Diese wird von Burzio auf die als Vergleich herangezogenen Kausativkonstruktionen angewendet. Burzio arbeitet natürlich noch nicht mit der VP-internen Subjekthypothese.
27 gung als Argumente des Restrukturierungsverbs neu analysiert. Burzio nennt dieses Phänomen Subject Substitution (Burzio 1986: 356), d.h. Beziehungen des Subjekts des eingebetteten Satzes zu seinen Argumenten können durch das Subjekt des Matrixsatzes übernommen werden, aber eben nur, wenn beide Subjekte, wie in Kontroll- und Raising-Konstruktionen, koindiziert sind. Alle weiteren Phänomene, so auch das Clitic Climbing, folgen aus dieser Neu-Definition der Subjekt-Argument-Beziehungen. Burzio behandelt auch die Reflexivkonstruktionen, bei denen ebenfalls das Hilfsverb essere selegiert wird. Abgesehen von der außerhalb der Reflexivkonstruktionen stehenden unpersönlichen Konstruktion mit si unterscheidet er die Gruppe der Reflexivkonstruktionen in echt reflexive (a), in unakkusativische (b) und in inhärent reflexive Konstruktionen (c). Echt reflexive Konstruktionen haben eine transitive Entsprechung, bei der das reflexive Klitikum dem (in-)direkten Objekt entspricht (lavarsi – lavare qualcuno). Unakkusativische Reflexivkonstruktionen haben keine echt reflexive, sondern nur unakkusativische Bedeutung (rompersi), auch falls es eine transitive Konstruktion mit demselben Verb gibt (rompere qualcosa). Inhärent reflexive Konstruktionen haben keine transitive Entsprechung und müssen als solche mit reflexivem Klitikum im Lexikon vermerkt sein (pentirsi).17 Letztere sind von Natur aus unakkusativisch, wie der Test auf ne-Klitisierung ergibt. Alle Konstruktionen mit si erfordern als Hilfsverb essere (Burzio 1986: 57): (2-27) (2-28) (2-29)
Mariai sii è accusata [e]i. [La tazza]i si è rotta ti. Mariai si è sbagliata ti.
(a)18 (b) (c)
Gemäß Burzios Regeln (vgl. (2-18)) wird dabei die Hilfsverbselektion von essere in (a) durch die Beziehung zwischen reflexivem Klitikum und seinem Antezedenz, dem Subjekt, ausgelöst. Die (b) und (c) zugrunde liegenden Strukturen entsprechen der von unakkusativischen oder Passivkonstruktionen: Das interne Objekt wird zum derivierten Subjekt, sodass die erforderliche Bindungsrelation gegeben ist. Die Partizipialkongruenz ergibt sich aus der Beziehung zwischen Klitikum und direktem Objekt in (a), zwischen Subjekt und direktem Objekt in (b) und (c). Auch unpersönliche Konstruktionen erfordern als Hilfsverb essere, mit transitiven und unergativen Verben allerdings gibt es im Gegensatz zu den Reflexivkonstruktionen (a–b) keine Partizipialkongruenz (vgl. (2-30)). Unpersönliche Konstruktionen können auch im Passiv auftreten (vgl. (2-32)). Unpersönliches si steht für ein unpersönliches Subjekt,19 das als solches sowohl das Subjekt einer transitiven oder intransitiven Konstruktion als auch das abgeleitete Subjekt einer unakkusativischen Konstruktion sein kann (vgl. (2-31)): (2-30) (2-31) (2-32)
Si è telefonato a Giovanni. (Burzio 1986: 55) Si è arrivati stamattina. Si è stati invitati. (Burzio 1986: 44/45)
–––––—– 17 18
19
Vgl. Burzio (1986: 36f.); auch GGIC, I (1988: 101, 600–602). Im Italienischen ist es bei dieser echt reflexiven Konstruktion gleichgültig, ob es sich bei dem reflexiven Element um ein direktes oder ein indirektes Objektklitikum handelt. Nicht so in anderen romanischen Varietäten wie z.B. dem Sardischen (vgl. 7.2.1). Si wird als Subjektklitikum behandelt (Burzio 1986: 45); zu den klitischen Pronomina, vgl. 3.5.
28 Die zugrunde liegenden Strukturen sieht Burzio folgendermaßen: (2-33) (2-34) (2-35)
[ei] sii è telefonato a Giovanni. [ei] sii è arrivati ti stamattina. [ei] sii è stati invitati ti.
Auf der Oberflächenstruktur ist unpersönliches si bei Burzio immer mit einer leeren (weil unpersönlichen) Subjektposition gelinkt, woraus sich nach der Regel essere-Selektion ergibt. Die Partizipialkongruenz in der dritten Person Plural20 ergibt sich nur bei unakkusativischen Verben und in der passivischen Konstruktion (also den unakkusativischen Konstruktionen), d.h. in Fällen, wo zudem auch noch eine Beziehung zwischen dem direkten Objekt (vgl. die Spur ti) und dem Oberflächensubjekt (hier [ei] bzw. si) besteht.21 Im Spezialfall des bei Burzio so genannten Object Preposing (sonst Long-NPMovement) entsteht aus einer ursprünglich unpersönlichen si-Konstruktion durch Anheben des Objekts in Subjektposition mit daraus folgendem Subjekt-Verb-Agreement eine weitere, passivisch-mediale Reflexivkonstruktion: (2-36)
Alcuni articoli si leggeranno volentieri.
Diese Konstruktion ist nicht echt passivisch, da die Subjekt-θ-Rolle nicht durch eine PP overt ausgedrückt werden kann, sondern bereits durch die Präsenz des weiterhin unpersönliche Bedeutung tragenden si gegeben ist. Darüber hinaus ist diese Konstruktion nur mit Objekten in der dritten Person möglich (vgl. Burzio 1986: 48/49). In einer Hilfsverbkonstruktion ergibt sich essere-Selektion: (2-37)
Alcuni articoli si sono già letti.
Die Konstruktion hat die folgende Struktur: (2-38)
[Alcuni articoli]i sii sono già letti ti. (Burzio 1986: 52)
Die Partizipialkongruenz mit dem Oberflächensubjekt ergibt sich also durch das Anheben des Objekts, die essere-Selektion durch die Bindungsrelation zwischen Subjekt und si, gemäß der Regeln (vgl. (2-18)).
–––––—– 20
21
Hier tritt ein Widerspruch zwischen grammatischem Numerus, nämlich Singular, bei der SubjektVerb-Kongruenz und semantischem Numerus, nämlich unpersönlichem Plural, bei der Partizipialkongruenz auf. Dies bietet einen Hinweis auf die Notwendigkeit, dass man einerseits stark zwischen semantischen und formalen Merkmalen und darüber hinaus besonders zwischen Agreement und Kongruenz unterscheiden muss, vgl. 3.4. Es gibt also den Fall, in dem nur die Regel der essere-Zuweisung ohne die Partizipialkongruenz greift, vgl. (i), ebenso wie den Fall, in dem nur die Partizipialkongruenz greift, das Hilfsverb aber avere ist, vgl. (ii): (i) Si è telefonato a Giovanni. (essere ohne Partizipialkongruenz) (ii) Giovanni la ha accusata. (avere mit Partizipialkongruenz) (Burzio 1986: 58)
29 2.2.5 Jones (1988a): Kriterien der Auxiliarsyntax Der Aufsatz von Jones (1988) ist insofern einzigartig, als er die folgenden drei Dinge unternimmt: Zum einen stellt er detaillierte Kriterien für eine Auxiliarsyntax auf, zum zweiten schlägt er mögliche strukturelle Repräsentationen für Hilfsverbkonstruktionen vor und zum dritten evaluiert er diese Strukturen anhand einer in der Generativen Grammatik zuvor nicht behandelten Einzelsprache, nämlich des Sardischen. Grundsätzlich geht er davon aus, dass Hilfs- und Vollverb sich in einer einzigen Satzstruktur befinden, während andere Satzkonstruktionen mit zwei Verbelementen immer auch zwei Satzstrukturen bilden. Als Testkriterien, die es erlauben, monoklausale Strukturen zu diagnostizieren und damit Hilfsverben zu erkennen, schlägt Jones die folgenden vor (alle Beispiele stammen aus dem Sardischen): Clitic Climbing: Nur in echten Hilfsverbkonstruktionen kommt es zur Proklise der zum Vollverb gehörigen Klitika an das finite Hilfsverb: (2-39)
L’appo fatto.
vs. *Appo lu fattu./*Appo fattulu. (Jones 1988a: 174)
Passivisch-mediale Konstruktionen mit si: Nur in Hilfsverbkonstruktionen kann und muss das direkte Objekt des Vollverbs zum Subjekt werden und dabei Agreement mit dem Hilfsverb hervorrufen: (2-40)
Si poten/*potet cantare cussas cathones. (Jones 1988a: 178)
Intervenierende Adverbien: Zwischen Hilfsverb und Vollverb dürfen – mit wenigen Ausnahmen wie semper oder dza – keine adverbialen Bestimmungen treten: (2-41)
Appo semper/*dondzi die/*como travallatu. (Jones 1988a: 179)
Negation: Die Negation steht ebenso wie die Klitika immer vor dem Hilfsverb, nicht vor dem verneinten Vollverb: (2-42)
*Appo a non pippare prus. (Jones 1988a: 181)
Transparenz des Hilfsverbs hinsichtlich der Hilfsverbselektion: Die Hilfsverbselektion ist immer von dem Vollverb bestimmt. Echte Hilfsverben sind also transparent für Hilfsverbselektion: (2-43)
Juanne est/*at potitu andare incue. (Jones 1988a: 183)
Fronting: Nur in Hilfsverbkonstruktionen ist es möglich, dass die infiniten Vollverben nach links an den Anfang der Satzstruktur versetzt werden (vgl. auch 7.1.3): (2-44)
Fattu l’as? Dorminde ses? (Jones 1988a: 185)
30 Bare Infinitives: In infinitiven Hilfsverbkonstruktionen erscheint vor dem Vollverb mit Infinitiv kein nebensatzeinleitender Komplementierer (wie z.B. a): (2-45)
Devo semper travallare. (Jones 1988a: 179)
Nicht alle diese Kriterien haben die gleiche Beweiskraft und nicht alle Kriterien treffen immer gleichzeitig auf ein hilfsverbhaftes Element zu. Für das Sardische stellt Jones eine Reihe möglicher Kandidaten für den Hilfsverbstatus auf (vgl. Jones 1988a:174): a. b. c. d. e. f.
die temporalen Hilfsverben mit áere und éssere, die progressiven Hilfsverben éssere und istare, die Hilfsverben des dem Sardischen eigenen analytischen Futurs,22 die Modalverben z.B. kérrere, pótere, dévere, die aspektuellen Verben z.B. cumintzare, accabare, weitere Verben, die in Infinitivkonstruktionen verwendet werden z.B. provare.
Aus dieser Liste von Kandidaten können die Verben unter (f) sofort ausgeschlossen werden, da kein einziges der oben genannten Kriterien auf sie zutrifft. Die temporalen Hilfsverben (a) und die Modalverben (d) dagegen genügen (soweit die Tests im Einzelnen angewendet werden können) allen Kriterien, sind daher als genuine Hilfsverben des Sardischen zu bezeichnen. Der Hilfsverbstatus gilt außerdem auch für das im Futur gebrauchte aere a23 (c). Die Kandidaten unter (b) und (e) dagegen haben einen Zwischenstatus, da sie sich bei manchen Kriterien zweideutig verhalten, also sowohl als Hilfsverben als auch als Vollverben benutzt werden können.24 Auf der Suche nach den Strukturen, die den einzelnen Hilfsverbkonstruktionen zuzuordnen sind, greift Jones auf die in der Hilfsverbdiskussion gängigen Vorschläge zurück (vgl. 1.4) und überprüft die folgenden Repräsentationen (vgl. Jones 1988a: 189): A. B. C. D.
[S NP [INFL Vaux] [VP V complement(s)]] [S NP [VP Vaux] [VP V complement(s)]] [S NP [VP Vaux] [V' V complement(s)]] [S NP [VP [V# Vaux V] complement(s)]]
(Vaux VP-extern) (Vaux in eigener VP) (Vaux VP-intern) (Vaux V als verbaler Komplex25)
Es stellt sich heraus, dass die Hilfsverbkonstruktionen im Sardischen nicht einer einzelnen dieser Strukturen, sondern unterschiedlichen Strukturen zugeordnet werden müssen. Die Formen von morphologisch defektivem aere des analytischen Futurs entsprechen semantisch den Flexionsendungen des Futurs der anderen romanischen Sprachen, haben aber ihren Status als Verb behalten und sind nicht zum Suffix geworden. Dementsprechend ordnet Jones dieses Hilfsverb unter INFL ein, d.h. er spricht den sardischen Futurkonstruktionen die Struktur A (Vaux als VP-externes Element) zu (vgl. Jones 1988a: 198–201). Die –––––—– 22
23 24 25
Jones (1988a) behandelt hier eigentlich nur aere a und geht auf die weiteren futurischen Hilfsverben sowie den analytischen Konditional, die beide mit Kurzformen von dévere gebildet werden, nicht ein (vgl. 7.3). Also trotz des komplementiererähnlichen a. Für eine Beschreibung der Phänomene im Einzelnen vgl. Kapitel 7. Der verbale Komplex ist hier durch # gekennzeichnet.
31 temporalen Hilfsverben und die Modalverben können durch Fronting des Vollverbs isoliert stehen und durch bestimmte Adverbien von dem Vollverb getrennt sein, was nach Jones auf eine eigene Konstituentenstruktur, also VP-Status der Hilfsverbphrase hinweist. Daher kommen für diese Konstruktionen die Strukturvorschläge A und C nicht in Frage. Sie können außerdem, wenn nicht durch semantische Faktoren behindert, in beliebiger Reihenfolge vor dem Vollverb erscheinen. Dies weist auf eine rekursive Struktur hin. Es bleibt also nur die Option B (Vaux als eigene VP), die rekursiv formuliert folgendermaßen aussieht: (2-46)
VP → Vaux VP (Jones 1988a: 191)
Schließlich gelingt es Jones, dieser Struktur auch die progressiven und die aspektuellen Hilfsverbkonstruktionen zuzuordnen. Für beide Konstruktionen gibt es Vollverbvarianten. Bei den aspektuellen Verben kann die Vollverbkonstruktion durch Reanalyse als Hilfsverbkonstruktion restrukturiert werden (vgl. auch Rizzi 1982), sodass sie ebenfalls dem Format B entspricht (vgl. Jones 1988a: 197). Die progressiven Konstruktionen mit Hilfsverbstatus (d.h. die Konstruktionen, die Clitic Climbing aufweisen) ordnet Jones letztlich auch der Struktur B zu, obwohl sich damit nicht alle Phänomene, die diese Konstruktionen aufweisen, erklären lassen (vgl. Jones 1988a: 194–195). Da in Kapitel 7 ausführliche Analysen der einzelnen Hilfsverbkonstruktionen des Sardischen unternommen werden, sind hier in der Kurzskizze zu Jones (1988a) die Sprachdaten nicht im Detail wiedergegeben worden. Zu den Mechanismen der Hilfsverbselektion selbst schreibt Jones (1988a) im Übrigen wenig oder nichts. Wichtig ist auf jeden Fall festzustellen, dass Jones (1988a) die sardischen Hilfsverbkonstruktionen differenziert betrachtet und durch seine unterschiedlichen Analysen der einzelnen Konstruktionen deutlich macht, dass das Phänomen der Hilfsverbhaftigkeit auch einzelsprachlich heterogen bleibt. Er entwickelt Kriterien, mit denen sich Hilfsverben erkennen lassen, und Argumentationen, mit denen ihre strukturelle Positionen systematisch erfasst werden können. Außerdem setzt er die sardischen Hilfsverbkonstruktionen nicht nur von den englischen, sondern auch dezidiert von denen der anderen (großen) romanischen Sprachen ab. 2.2.6 Radford (1988): Hilfsverben unter I Die romanistische Literatur innerhalb der Generativen Grammatik widmet sich den Besonderheiten von romanischen Einzelsprachen und behandelt daher naturgemäß andere Themen als die auf das Englische bezogene Literatur. Dennoch bleibt die strukturelle Basisposition von Hilfsverben auch in diesen Arbeiten in den meisten Fällen unklar oder vage. Es wird auch nicht systematisch zwischen den verschiedenen Hilfsverbkonstruktionen differenziert. Jones (1988a) stellt hier, wie beschrieben, eine auf das Sardische bezogene Ausnahme dar. Auch Radford (1988) bietet keine klaren Erkenntnisse hinsichtlich der strukturellen Herkunft der Hilfsverben. Allerdings versucht er, die englischen Hilfsverben anhand ihrer Merkmalszusammensetzungen zu systematisieren und gelangt dabei zu der folgenden Ausdifferenzierung der englischen Hilfsverben (auxiliaries):
32 (2-47)
Systematik der englischen Hilfsverben (nach Radford 1988: 154–155) Verben [+V,-N]
Nicht-Auxiliarverben [+V,-N,-AUX]
Auxiliarverben [+V,-N,+AUX]
Nicht-modale Auxiliarverben [+V,-N,+AUX,-M]
Modale Auxiliarverben [+V,-N,+AUX,+M]
Modalverben und do sind im Englischen immer unter I basisgeneriert (Radford 1988: 402; 508–515). Die Hilfsverben have und be stehen auch unter I, was Adverbstellung, Stellung der Negation und die lautliche Kontraktionsmöglichkeit beweisen, allerdings stammen sie im Gegensatz zu den Modalverben aus einer eigenen VP oder dem Spezifikator einer VP (Radford 1988: 417) und bewegen sich erst von dort aus nach I. Der genaue Status der Hilfsverben HABEN und SEIN bzw. der VP, aus der heraus sie sich in die Flexionsphrase bewegen, ist auch bei Radford (1988) wie schon bei Chomsky (1986a) nicht geklärt. Allerdings bietet der von Radford vorgeschlagene merkmalsbasierte Ansatz eine gute Möglichkeit, das Phänomen der Hilfsverbhaftigkeit in seiner Heterogenität in den Griff zu bekommen. Es bleibt aber weiterhin zu untersuchen, welche Funktionen oder Eigenschaften von Hilfsverben die von ihm genannten Merkmale [AUX] oder [M] nun tatsächlich kodieren.
2.3
Nach der Split-Infl-Hypothese
Innerhalb des P&P-Modells stellt die Split-Infl-Hypothese von Pollock (1989) einen bedeutsamen Schritt in der Entwicklung der Phrasenstruktur dar: Die in der Flexionsphrase verorteten grammatischen Funktionen werden auf mehrere funktionale Kategorien verteilt, nicht zuletzt weil theorieintern weitere syntaktische Positionen für Verbbewegungen – auch Hilfsverbbewegungen – benötigt werden. Diese Aufsplittung der IP führt in der Nachfolge von Pollock (1989) zu einem starken Anwachsen des postulierten Inventars der funktionalen Kategorien.26 Auch die folgenden Forschungsskizzen lassen diese Tendenz erkennen (vgl. z.B. 2.3.3 zu Ouhalla 1990, 1991, oder 2.3.6 zu Kayne 1993). Das Minimalist Program von Chomsky (1995) dagegen schränkt die Anzahl der funktionalen Kategorien wieder ein (vgl. besonders 2.5). –––––—– 26
Nach Cinque (1999:106) ergibt sich dabei eine wahre Explosion funktionaler Kategorien: [Moodspeechact [Moodevaluative [Moodevidential [Modepistemic [T(Past) [T(Future) [Moodirrealis [Modnecessity [Modpossibility [Asphabitual [Asprepetitive(I) [Aspfrequentative(I) [Modvolitional [Aspcelerative(I) [T(Anterior) [Aspterminative ... ]]]]]]]]]]]]]]]]
33 2.3.1 Pollock (1989): Die Split-Infl-Hypothese Der grundlegende Aufsatz von Pollock (1989) schlägt vor, die aus der Hilfsverbposition entwickelte IP in mehrere funktionale Projektionen aufzuteilen. Argumentiert wird dabei mit kontrastiven Daten v.a. aus dem Englischen und Französischen, die die Satzstellung in finiten und infiniten Sätzen bezüglich bestimmter Adverbien und der Negation untersuchen. Nimmt man bestimmte Adverbstellungen als Fixpositionen an, stehen das französische Vollverb und das englische Hilfsverb in einer höheren Position als das englische Vollverb. In negierten finiten Sätzen allerdings müssen finite Verben sowohl im Französischen als auch im Englischen immer vor der Negation (also vor pas bzw. not) stehen. Englische Vollverben verbleiben aber stets in einer unteren Position, sodass bei dazwischentretender Negation das Hilfsverb do die Funktion des finiten Verbs vor der Negation übernehmen muss. In französischen Infinitivsätzen kann sich das Vollverb in eine höhere Position bewegen, allerdings befindet sich diese höhere Position immer noch unter der angenommenen Negationsphrase. Französische Hilfsverben können sich dagegen auch über die NegP hinweg bewegen. Da französische Verben immer, auch als Infinitiv, aus der VP herausbewegt werden, was die Adverbstellung zeigt, ergibt sich die Annahme einer funktionalen Kategorie sowohl über als auch unter der NegP. Pollock fordert daher (gemäß den morphologischen Flexionsendungen der Verben) die Aufsplittung der IP in eine für die Subjekt-Verb-Kongruenz zuständige Agreement-Phrase (Agr) und eine Tempus-Phrase (T), sodass sich die folgende (später von Belletti 1990, vgl. 2.3.2, und Chomsky 1991 modifizierte) Anordnung ergibt (vgl. Pollock 1989: 397): (2-48)
C – T – Neg – Agr – V
Im Englischen verbleiben Vollverben in der VP und erhalten ihre Flexionsendungen durch das Affix-Hopping. Nur Hilfsverben können (oder müssen, z.B. bei dazwischenliegender Negation) in Agr° und schließlich T° erscheinen. Dabei nimmt Pollock an, dass auch die Hilfsverben aus einer unter Neg° generierten Position nach oben bewegt werden müssen (Pollock 1989: 421); diese Position scheint eine zweite, über der Phrase des Vollverbs gelegene VP zu sein (vgl. die Graphik bei Pollock 1989: 415). Im Französischen bewegen sich Hilfsverben und Vollverben in finiter Form erst nach Agr° und schließlich nach T°. In infiniter Form dagegen bewegen sich Vollverben nur nach Agr°, während die Hilfsverben sich weiter nach T° bewegen können. Hilfsverben haben einen θ-theoretischen Sonderstatus: Sie haben keine θ-Rollen zu vergeben. Die genannten Verbbewegungen werden bei Pollock (1989) dadurch erklärt, dass funktionale Kategorien ‘stark’ oder ‘schwach’ sein können erklärt. So ist ein französisches finites Agr° z.B. ‘stark’ und kann daher auch semantisch gehaltvolle Verben aufnehmen, wogegen ein englisches finites Agr° ‘schwach’ (und auch in seiner Morphologie defektiv), also für θ-vergebende Verben opak ist und daher nur semantisch leere Hilfsverben aufnehmen kann. Hilfsverben werden zwar bei Pollock (1989) in einer eigenen VP basisgeneriert, ihre weitreichenderen Bewegungsmöglichkeiten aber leiten sich von ihrem θ-theoretischen Sonderstatus im Zusammenspiel mit einzelsprachlichen Besonderheiten der Eigenschaften der funktionalen Kategorien ab.
34 2.3.2 Belletti (1990): Verbbewegung In Belletti (1990) wird die Split-Infl-Hypothese von Pollock (1989) auf das Italienische angewandt. Zunächst einmal stellt Belletti die Reihenfolge der neuen funktionalen Kategorien um: Üblicherweise stehen die Tempusmorpheme innerhalb der Flexionsendungen vor den Person- und Numerusmorphemen. Nach der Inkorporationstheorie von Baker (1988) und dem Spiegelungsprinzip (Mirror Principle) ergibt sich also (hier anhand eines italienischen Beispiels) die folgende Anordnung: (2-49)
Agr (– Neg) – T – V
vgl.
-no
-va-
mangia-
Auf das Italienische angewandt ergibt die Pollocksche Analyse, dass sich dort immer alle Verben, ob finit oder nicht, bis hoch nach Agr bewegen, vgl. die folgenden Beispiele (die Position der Negation ist im Italienischen durch das in [Spec, Neg] verbliebene adverbiale Element più oder mai erkennbar): (2-50) (2-51)
Gianni non parla più. a. Gianni potrebbe non aver parlato mai. b. Gianni potrebbe non aver mai parlato.
Was die zusammengesetzten Zeiten angeht, ist die Bewegung der Partizipien nicht so eindeutig, wie (2-51) und das folgende Beispiel zeigen: (2-52)
a. Gianni non ha parlato più. b. Gianni non ha più parlato.
Belletti möchte diese unterschiedlichen Stellungsmöglichkeiten nicht auf Verbbewegung, sondern auf die Möglichkeit unterschiedlicher Positionen des unteren negativen Adverbs zurückführen. In der Nachfolge der Aufsplittung der IP und der Annahme eines AgrO (für die Partizipialkongruenz) von Kayne (1989b) nimmt sie daher auch bei Verben in Partizipialform für alle Flexionsmorpheme weitere funktionale Projektionen an: So ergibt sich eine Aspektphrase (AspP) für das -t- in mangia-t-o sowie eine partizipiale AgrP für die Flexionsendungen, die bei der Partizipialkongruenz im Italienischen eine Rolle spielen. Die Hilfsverben in zusammengesetzten Zeiten, von Belletti meist als “aspectual auxiliaries” bezeichnet, werden in einer eigenen AuxP basisgeneriert und bewegen sich danach in die beiden Positionen der gesplitteten IP. Für die Sätze in (2-52) ergibt sich also die folgende Anordnung der funktionalen Kategorien (vgl. Belletti 1990: 33–34): (2-53)
Agr – Neg – T – Aux – Agr – Asp – V
In den Anfängen der Generativen Grammatik wurde die IP aus einer Auxiliarphrase entwickelt. Durch die Anwendung der Split-Infl-Hypothese wird nun über die aus der IP entstandenen neuen funktionalen Kategorien hinaus also erneut eine Auxiliarphrase eingeführt.
35 2.3.3 Ouhalla (1990, 1991): Parametrisierte Anordnung der funktionalen Kategorien Auch Ouhalla (1990) behandelt Hilfsverben als eigene Kategorien. Außerdem betrachtet er, im Gegensatz zu den Standardannahmen des P&P-Modells, die Anordnung der funktionalen Kategorien nicht als universalgrammatisch fixiert, sondern als einzelsprachlich parametrisiert. Einzelsprachliche Parametrisierungen hängen allein von den Eigenschaften funktionaler Kategorien ab.27 Funktionale Kategorien können c-selegieren (d.h. eine bestimmte syntaktische Kategorie auswählen), aber nicht s-selegieren (d.h. die Auswahl kann nicht durch semantische Kriterien bestimmt sein; vgl. auch Chomsky 1986b: 90). Eine funktionale Kategorie kann außerdem frei oder gebunden sein. Im Englischen sind aspektuelle Elemente, so das Hilfsverb have, als freie Morpheme realisiert. Diese aspektuellen Elemente können außerdem T- und Agr-Merkmale tragen, können also auch m-selegieren (‘m’ für morphologisch, vgl. Ouhalla 1991: 15). Die funktionalen Kategorien werden im Übrigen nur projiziert, wenn sie tatsächlich gebraucht werden. So kann sich im Englischen das Verb bei nicht projizierter NegP bis T hochbewegen, während bei vorhandener NegP keine Verbbewegung zu T möglich ist, da Neg im Englischen keinen Affix-Status hat (Ouhalla 1991: 61). Im Französischen ist im Infinitivsatz kein AgrS zu finden (Ouhalla 1991: 66– 67), was die Verbposition unter der Negation sowie die generelle Abwesenheit eines overten Subjekts erklärt.28 In Ouhalla (1991) wird die Split-Infl-Hypothese tiefgreifend modifiziert und erweitert: Je nach Derivation kann sich die ehemalige IP in AgrP, TP, AspP, ModP, PassP manifestieren. Die ModP kann Modalverben beherbergen (vgl. Ouhalla 1991: 71), wenn diese, wie im Englischen, nur mehr Hilfsverbstatus haben.29 Die PassP entspricht in ihrer Funktion der AgrOP nach Kayne (1989b) und selegiert eine VP (Ouhalla 1991: 93f).30 Unter Asp kann nun im Englischen nicht nur das temporale Hilfsverb have stehen, sondern z.B. auch die Flexionsendung -ing, wie sie im Progressive verwendet wird. Das Hilfsverb be dagegen kommt in diesem Zusammenhang erst unter T als Expletivum in die Derivation.
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Die Reihenfolge von T und Agr bestimmt z.B. der Agr/T-Parameter (Ouhalla 1991: 113), der praktisch ausschlaggebend dafür ist, ob eine Sprache zum Typ SOV oder zum Typ VSO gehört. Die Position und die Eigenschaften von Neg bestimmen zwei Neg-Parameter (Ouhalla 1991: 138 und 141), wobei hier der erste für den englisch-französischen Kontrast verantwortlich ist, der zweite für die Möglichkeit der Realisierung von Neg als gebundenem Morphem wie im Türkischen. Die Eigenschaften von T als gebundenem oder freiem Morphem bestimmt der T-Parameter (vgl. Ouhalla 1991: 149). Alle klausalen Strukturen müssen eine T-, nicht aber unbedingt eine Agr-Projektion haben (vgl. Ouhalla 1991: 124). Die Entwicklung von den altenglischen Modalverben mit eigener Argumentstruktur und daher Vollverbstatus zu den heutigen englischen Modalverben analysiert Ouhalla als Restrukturierungsprozess mit Ausschluss dieser Verben aus der Prädikatphrase und Bildung einer neuen funktionalen Kategorie (1991: 73–74). Ob das Passiv in einer Sprache analytisch oder synthetisch gebildet wird, hängt daher vom PassParameter ab (Ouhalla 1991: 95): (i) Pass ist verbal, d.h. [+V] => synthetisches Passiv; (ii) Pass ist nominal, d.h. [+N] => analytisches Passiv (möglicherweise mit Partizipialkongruenz).
36 Auch innersprachlich können also funktionale Kategorien je nach Kontext affixalen Charakter haben. 31 Alle θ-Beziehungen werden innerhalb der Prädikatsphrase verwirklicht. Mögliche Prädikatsphrasen sind eine VP, aber auch eine AP, NP oder PP (vgl. Ouhalla 1991: 29–33). Da Hilfsverben weder mit dem Prädikat noch seinen Argumenten in eine thematische Beziehung treten, können sie nur in Positionen außerhalb der VP liegen. Sie müssen daher in eigenen funktionalen Kategorien basisgeneriert werden, von denen aus sie schließlich auch weiterbewegt werden können. 2.3.4 Rutten (1991): Verbale θ-Markierung und Tempusdomänen Hilfsverben im weitesten Sinne behandelt Rutten (1991): Seine Arbeit über Hilfsverben und Infinitivkomplemente geht v.a. auf Restrukturierungsphänomene im Italienischen und vergleichbare Erscheinungen im Niederländischen ein. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen Hilfs- und Vollverben liegt darin, dass Hauptverben θ-Rollen und Kasus an NPs vergeben und, im Falle von eingebetteten Infinitivkonstruktionen, vollständige Satzprojektionen als Komplemente haben. Hilfsverben dagegen haben, gleich ob Infinitiv- oder andere Konstruktionen, Komplemente, die keine autonomen Satzprojektionen darstellen. Komplemente von Hilfsverben sind in Ruttens Ansatz entweder TPs oder VPs (verbale Komplemente), die von Hauptverben dagegen immer CPs (bei Rutten: nominale Komplemente). Hilfsverben haben immer auch ein Vollverb-Pendant, von dem sie sich dadurch unterscheiden, dass sie ein verbales Komplement (anstatt eines nominalen Komplements) θ-markieren können. Diese verbale θ-Rolle findet zudem, gemäß der Sichtbarkeitsbedingung nach Chomsky (Visibility Condition, vgl. Chomsky 1986b), Ergänzung in verbaler Kasus-Markierung. Folge der θ-Markierung ist die Vergabe eines Tempus-Indexes. Durch diesen Mechanismus sind Matrixsatz und verbale Komplement-Phrase tempus-koindiziert. Dadurch ergibt sich eine erweiterte bindungsrelevante Domäne, die Tempus-Domäne, die durch eine Tempus-Kette festgelegt ist. Diese Tempus-Kette32 enthält die Matrix-TP, T°, alle darin vorkommenden Hilfsverben sowie das Vollverb (die Vollverb-TP). Der Kopf der Tempus-Kette ist der Kopf der Matrix-TP (Rutten 1991: 103). Hilfsverben spielen beim Aufbau der Tempus-Kette eine essentielle Rolle.33 Alle weiteren Phänomene (wie –––––—– 31
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Auch dies entspricht einer Parametrisierung, nämlich der durch den Asp-Parameter (Ouhalla 1991: 79): (i) Asp ist verbal, d.h. [+V] => have; (ii) Asp ist nominal, d.h. [+N] => -ing Vgl. Rutten (1991: 213/214): “A Tense domain is the maximal projection containing both the head of the Tense-chain and a Tense-governor of the anaphor or pronoun. A Tense-governor is a governor which is a member of the tense-chain.” Vgl. Rutten (1991: 213): “It is assumed that temporal structure is interpreted from a verbal θ-grid, and that the syntactic features of tense reflect the underlying temporal structure of the sentence. Tense may be compositional. All auxiliaries contribute to the temporal structure of the sentence and the composition of temporal structure is reflected in syntax by Tense indexing. Tense is a referential notion and tense-indexing has the effect that verbs and verbal heads [...] which are
37 Hilfsverbselektion in Abhängigkeit von dem eingebetteten Verb, das Anheben der Klitika und deren Klitisierung an das finite Hilfsverb bzw. NP-Bewegungen aus der Komplementdomäne in die Matrixdomäne) sind eine Folge der Erweiterung der Tempus-Domäne durch die verbale θ-Markierung durch das Hilfsverb. Die italienischen Restrukturierungsverben können entweder Hilfsverben oder Vollverben sein. Somit muss angenommen werden, dass sie als Vollverb, d.h. ohne Restrukturierung, eine CP selegieren, als Hilfsverb, d.h. mit Restrukturierung, eine TP oder VP. Im allgemeinen geht Rutten davon aus, dass es sich um eine TP handelt.34 Die temporalen Hilfsverben dagegen bewirken immer Restrukturierung, da sie obligatorisch eine VP selegieren und beide Projektionen zu einer klausalen Domäne vereinigen (Rutten 1991: 102). Restrukturierung im Italienischen stellt sich also strukturell recht einfach dar (mit dem Index ‘R’ ist das restrukturierte Vollverb angezeigt): (2-54)
θ-markiert [VP VAUX … [TP … [T° VR] [VP tR …]]] (Rutten 1991: 100) Bewegung
Alle Hilfsverben gehören also zur Kategorie V und projizieren eine eigene VP. Im Gegensatz zu Hauptverben sind sie dadurch gekennzeichnet, dass sie nur so genannten verbalen Kasus und eine verbale θ-Rolle vergeben können. Allein dadurch bewirken sie Monoklausalität. Das durch Hilfsverben vorgegebene verbale θ-Raster bestimmt die zeitliche Organisation der Konstruktion. Die so entstandene Tempus-Domäne ist gleichzusetzen mit der Bindungsdomäne. Hilfsverbhaftigkeit ist bei Rutten v.a. durch θ-Eigenschaften von Hilfsverben, weniger durch strukturelle Veränderungen, etwa durch Zugehörigkeit zu einer eigenen Hilfsverbkategorie, bestimmt. 2.3.5 Roberts (1993a): Diachronie der Modalverben Ein Kapitel von Roberts (1993a) widmet sich ausführlich dem System der Hilfsverben im Englischen in diachroner Sicht; HABEN und SEIN und die damit verbundenen aspektuellen Hilfsverbkonstruktionen finden allerdings nur am Rande Behandlung. Im Englischen gibt es klare Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Hilfsverben (Auxiliaries) und Vollverben: Hilfsverben lassen sich immer an negierten Sätzen und Interrogativsätzen diagnostizieren, da nur sie sich in den über der Negation gelegene Agr-Kopf oder gar C-Kopf be–––––—–
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tense-coindexed belong to one and the same tense. This tense is then expressed by a tense-chain of which T° is the anchor.” Die Problematik, dass ein Restrukturierungsverb wie volere eine Kontrollstruktur mit PRO subkategorisiert, löst Rutten durch eine Erweiterung des PRO-Theorems: Ist PRO unregiert, so z.B. in einem CP-Komplement, so gilt die Kontrolltheorie. Kommt es aber durch eine erweiterte TempusDomäne, die ja auch eine Bindungsdomäne darstellt, nun doch zur Rektion von PRO, verhält sich dieses PRO wie eine Anapher und sucht sich in der erweiterten Tempusdomäne sein Antezedens (Rutten 1991: 115).
38 wegen können. Hier hat das Englische auch das prototypische Hilfsverb do entwickelt, das keine Funktion etwa hinsichtlich Tempus, Aspekt oder Modus hat, sondern nur der Träger der von Agr° und T° gelieferten Flexionsendungen ist.35 Die englischen Modalverben befinden sich auf einer sehr viel weiter fortgeschrittenen Stufe der Hilfsverbhaftigkeit als etwa die deutschen (aber auch die italienischen) Modalverben (vgl. 1.4.4 und Heine 1993). Im Mittelenglischen, das eine V2-Sprache darstellt, sind Vollverben noch in einer höheren Position als Neg, also in Agr oder C erlaubt. Im späten Mittelenglisch und frühen Neuenglisch jedoch ist bereits freies Einfügen von do auch in nicht emphatischen Kontexten erlaubt. Ebenso hatten die Modalverben noch einen dem der deutschen Modalverben vergleichbaren Status, denn sie konnten auch in infiniten Formen erscheinen oder ein direktes Objekt zu sich nehmen (vgl. Roberts 1993a: 239–242). Da die Hilfsverben HABEN und SEIN im Neuenglischen auch in nicht finiter Form erscheinen können, nimmt Roberts an, dass diese in einem eigenen V-Kopf basisgeneriert werden und eine eigene VP projizieren (Roberts 1993a: 244, 312). Modalverben und do dagegen, die nicht in infiniter Form auftauchen und keine nominalen Argumente subkategorisieren können, sind in T° basisgeneriert (Roberts 1993a: 245). Die Herausbildung der Hilfsverben im Neuenglischen ist nun damit zu erklären, dass Agr und T nicht mehr den Bar-Status -1 (also Agr-1, T-1)36 haben können, was auf morphologischer Ebene mit der Neutralisierung der Flexionsmorpheme korreliert.37 Agr und T können also keine Affixe, d.h. Flexionsmerkmale mehr tragen; die einzigen Flexionsmerkmale des Englischen, -s und -ed, haben keinen paradigmatischen -1-Bar-Status, sondern sind selbst als (wenn auch gebundene) Köpfe zu betrachten, vergleichbar klitischen Elementen. Daher kann im Neuenglischen keine Inkorporation der Verbstämme in ihre Flexionsendungen stattfinden (Roberts 1993a: 244), sondern es kommt zu einem Absenken von Agr° und T° nach V° und einer nachträglichen LF-Bewegung von Agr/T/V, um die ungebundene, von der Absenkung zurückgelassene Spur zu binden. Tritt nun aber eine Negationsphrase zwischen diese Bewegungen oder trägt T° ein Wh-Element, das sich weiter nach Agr° und schließlich C° bewegen muss, kommt es zum obligatorischen Einsetzen von dem im Neuenglischen semantisch völlig leeren do, um die zu bindenden Flexionsendungen zu stützen (vgl. Roberts 1993a: 276f). Die englischen Modalverben (vgl. Roberts 1993a: 309f) haben sich, wie in anderen Sprachen auch, aus modale Bedeutung tragenden Vollverben mit ursprünglichen Raising- und Kontrolleigenschaften herausgebildet. In ihrer syntaktischen Distribution entsprechen sie im heutigen Englisch aber Hilfsverben, haben ihre lexikalisch-semantische Bedeutung größtenteils auf rein epistemische Modalität reduziert und können keine θ-Rolle mehr vergeben. Hilfsverben werden bei Roberts – ob, wie (aspektuelles) have und be, in eigenem V° generiert oder, wie do und die Modalverben (und to), in T° eingesetzt – als besondere verbale Elemente interpretiert: Sie haben aufgrund ihres fehlenden θ-Rasters freiere Inkorporations- und Bewegungsmöglichkeiten, da sie als argumentlose Verben nicht dem –––––—– 35 36
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Oft ist do dennoch als aspektuelles Hilfsverb bezeichnet worden, was diachrone Gründe hat. Der Status -1-Bar eines Knotens bedeutet, dass sich das Element in diesem Knoten auf einer Ebene unter der Kopf-Ebene eines eigenständigen terminalen Elements befindet: -1-Bar-Elemente sind also gebundene Morpheme. Roberts (1993a: 256): “‘Rich’ agreement is a manifestation of Agr-1.” Im Mittelenglischen ist das verbale Flexionsparadigma noch nicht erodiert, daher ‘reich(haltiger)’.
39 Projektionsprinzip folgen müssen. Diese Definition von Hilfsverben gilt sprachübergreifend.38 Im Neuenglischen nun kann eine Bewegung in eine funktionale Kategorie X° (T°, Agr° oder C°) nur erfolgen, wenn es sich um ein θ-loses Verb handelt, da sich bei der freien Verbindung von X° und V° eine hybride Kategorie (X/V)° ergäbe, die Argumentpositionen projizieren würde. Bei einem -1-Bar-Status ergäbe sich keine solche hybride Kategorie, es müsste nicht projiziert werden und das θ-Raster des inkorporierten Verbs wäre also irrelevant. Daher können sich im Englischen nur alle Hilfsverben, ihrer θlosen Definition entsprechend, nach Agr° (bzw. T° bzw. C°) bewegen, obwohl dieses keinen -1-Bar-Status mehr hat (vgl. Roberts 1993a: 255). 2.3.6 Kayne (1993): HABEN und SEIN modular Kaynes Aufsatz steht in der Tradition derjenigen, die HABEN und SEIN in ihrem Gebrauch als Vollverb nicht von ihrem Gebrauch als Hilfsverb unterschieden wissen wollen (vgl. 1.4.1). Ein Verständnis des auxiliaren Gebrauchs von HABEN setzt bei ihm ein Verständnis seines Gebrauchs als possessives Vollverb voraus (vgl. Beneviste 1966 sowie Freeze 1992). Ausgehend von Possessiv-Konstruktionen im Ungarischen39 und parallelen DP-Konstruktionen im Englischen stellt Kayne eine neue Kopfposition fest, in deren Spezifikator die possessive DP bewegt werden kann. Aus diesen Beobachtungen leitet er schließlich für Possessivkonstruktionen eine im Englischen nicht overte D° mit präpositionalem Charakter ab, dargestellt als D/Pe. Deren Spezifikatorposition nun ist eine A'-Position, die damit nicht als Zwischenlandeplatz für angehobene Argumente zur Verfügung steht. Einen Ausweg bietet daher die Inkorporation der D/Pe in das Verb SEIN/BE, sodass sich für [Spec, D/Pe] ein abgeleitetes [Spec, D/Pe/j + BE] und somit eine A-Position ergibt. Letztere Inkorporationsstruktur äußert sich schließlich als HABEN/HAVE (Kayne 1993: 7). Kayne postuliert also auch eine Identität von SEIN und HABEN, wobei ersteres die primäre Ausgangsform (vgl. Beneviste 1966, Freeze 1992), letzteres das Ergebnis von Inkorporation einer abstrakten Präposition darstellt. Demzufolge gibt es auch keine Hilfsverbselektion in dem Sinn, dass zwischen verschiedenen Möglichkeiten selegiert wird. Vielmehr sind strukturelle Möglichkeiten zur Inkorporation der abstrakten Präposition P gegeben oder nicht. Diese Möglichkeiten sind allein durch das partizipiale Komplement und dessen Eigenschaften bedingt, so wie es von dem primären SEIN/BE selegiert wird.40 Das Partizi–––––—– 38
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“Verbs which have no thematic properties at all, i.e. auxiliaries, will not cause any violations if they undergo ‘free’ incorporation. This is why verbs which do not assign θ-roles i.e. auxiliaries, raise more freely that θ-assigning verbs” (Roberts 1993a: 47). “The question which now arises is; why are avoir and être able to move to Agr? The answer is, as non θ-assigners, they are not forced to leave traces in their base position. So, as in English, the distributional differences between auxiliaries and main verbs can be traced to the fact that the Projection Principle treats auxiliaries differently, as they are not θ-assigners” (Roberts 1993a: 50). Kayne arbeitet dabei mit Forschungsergebnissen von Szabolcsi (1981, 1983). Vgl. Kayne (1993: 9): “From this perspective, the distribution of auxiliary have becomes partly a question of what kind of verbal structures can be embedded in a DP sister of BE, and partly a question of what kind of verbal structures can move into the Spec of the larger DP, and when.”
40 pialkomplement stellt “a particular kind of nominalization, i.e. a verbal (participial) structure embedded in a DP that is akin to a CP” dar (Kayne 1993: 8). Die Bedingungen der Auxiliarselektion in den romanischen Sprachen sind sehr komplex; hier tritt auch das Phänomen der Partizipialkongruenz auf, das in indirektem Zusammenhang mit der Auxiliarselektion steht.41 Die beiden Agr-Projektionen, besonders aber AgrO spielen dabei eine wichtige Rolle in der Derivation. Die von Kayne angenommene Grundstruktur sieht folgendermaßen aus: (2-55)
… BE D/P° AgrO T AgrS V …
Partizipialkongruenz hängt davon ab, ob ein Argument des Verbs die Position [Spec, AgrO] passiert oder nicht.42 Die Realisierung von HABEN hängt davon ab, ob D/P° in SEIN/BE inkorporiert wurde oder nicht. Eine solche Inkorporation kann allerdings auch blockiert werden, sodass es Fälle gibt, in denen die Wandlung von [Spec, D/P] in eine A-Position stattgefunden hat, ohne dass zwingend eine Inkorporation in SEIN/BE erfolgt. Dies hängt wiederum von den einzelsprachlichen Eigenschaften der funktionalen Kategorien des partizipialen Komplements ab. Eine eigene partizipiale AgrS-Projektion z.B. wird dann relevant, wenn die Hilfsverbselektion von personalen Merkmalen abhängt: Es gibt einige italienische Dialekte, bei denen nur in der 1. und 2. Person SEIN/BE erscheint, während in der dritten zu HABEN steht.43 Ein bestimmtes personales Merkmal, hier 1. oder 2. Person, scheint daher AgrS laut Kayne aktivieren zu können, sodass es nach [Spec, D/P] angehoben werden kann und dadurch D/P° bereits in eine A-Position verwandelt hat. Das Merkmal der 3. Person dagegen belässt AgrS inaktiv, sodass D/P° in BE inkorporiert werden muss, um dessen Spec in eine A'Position verwandelt zu können: Das Ergebnis ist HABEN. Ebenfalls wichtig ist AgrS für die Hilfsverbselektion bei Reflexivkonstruktionen: Nur durch reflexive, also mit dem Oberflächensubjekt in Beziehung stehende Klitika kann AgrS nach D/P° angehoben und [Spec, D/P] in eine A-Position verwandelt werden: Das Ergebnis bleibt SEIN. Ähnliches gilt für Konstruktionen mit unpersönlichem si: Gerade dieses Merkmal von si, unpersönlich zu sein, hat den erwünschten syntaktischen Effekt, dass AgrS aktiviert und dafür BE bestehen bleiben kann. Eine partizipiale T-Projektion wird deshalb angenommen, weil Hilfsverbselektion auch von Tempus abhängig sein kann: In einigen italienischen Dialekten erscheint das Hilfsverb im Perfekt als HABEN, im Plusquamperfekt dagegen aber als SEIN (Kayne 1993: 17/18).44 –––––—– 41 42
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44
Für eine graphische Darstellung der Struktur vgl. Tortora (1994: 373). AgrO wird bei Kayne offensichtlich, zumindest für die romanischen Sprachen, immer projiziert, auch wenn es bei der Perfektbildung keine overte Partizipialkongruenz gibt: Im Spanischen z.B. wird AgrO einfach nicht passiert, bleibt also inaktiv. Außerdem gelten unergative intransitive Verben bei Kayne auch als versteckte transitive Verben. Z.B. im zentralitalienischen Dialekt von Cori. Für eine systematische Darstellung der Partizipialkongruenz in den romanischen Sprachen, vgl. Loporcaro (1998). Dieser hält beide Phänomene strikt voneinander getrennt. Weitere Beispiele für von der Person des Subjekts abhängige Hilfsverbselektion in bestimmten süditalienischen Dialekten finden sich in Cocchi (1998: 92) Von Tempus abhängige Hilfsverbselektion findet sich ebenfalls in bestimmten süditalienischen Dialekten, vgl. Ledgeway (2000: 202/203).
41 Ist T° in gewisser Hinsicht stark, ist es also aktiviert, dann kann es sich nach D/P° bewegen und die erwünschte Wandlung in eine A'-Position bewirken: SEIN/BE kann also SEIN bleiben. Für die unakkusativischen Verben nun wird das Dilemma der unerlaubten Bewegung aus einer A'-Position folgendermaßen gelöst: SEIN/BE subkategorisiert bei unakkusativischen Verben gar keine solche volle D/P°-Projektion mit AgrS, sondern direkt eine AgrOP, sodass sich das Problem gar nicht erst stellt. Die Struktur sieht daher für unakkusativische Verben folgendermaßen aus: (2-56)
… BE AgrO V…
Dadurch ist HABEN als Hilfsverb von vorneherein ausgeschlossen. Im Spanischen kommt es dagegen zu Inkorporation von SEIN/BE + D/P° und damit zu HABEN, weil sich spanisches SEIN/BE von italienischem SEIN/BE dadurch unterscheidet, dass es keine reine AgrOP subkategorisieren kann. Hilfsverbselektion ist also inner- und übereinzelsprachlich von mehreren Faktoren abhängig, die in den folgenden Fragestellungen erfasst sind: − −
−
Wie sieht das von dem übereinzelsprachlich angenommenen primären SEIN subkategorisierte Partizipialkomplement aus: Handelt es sich um eine vollständige D/P°-Projektion (=> HABEN oder SEIN) oder nur um AgrO (=> SEIN)? Welche Eigenschaften haben die funktionalen Kategorien des partizipialen Komplements: Reagiert AgrS auf bestimmte Merkmale von Elementen (Person, reflexiv, unpersönlich etc.), die seinen Spezifikator passieren (DPs) bzw. an es adjungiert (Klitika) werden? Ist T° defektiv oder stark? Wie geschieht die Umwandlung der störenden A-Bar-Eigenschaft von [Spec, D/P]: durch Inkorporation einer darunterliegenden funktionalen Kategorie in den D/P-Kopf (=> SEIN) oder durch Inkorporation des D/P°-Kopfes selbst in SEIN/BE (=> HABEN)?
Die Möglichkeiten, die sich aus diesen Faktoren ergeben, können auch als Baumstruktur visualisiert werden:
42 (2-57)
Visualisierung der modularen Hypothese nach Kayne (1993) Abstraktes SEIN/BE seligiert
seligiert
AgrO-Komplement
SEIN
D/P-Komplement
Ital.: Alle unakkusat. Verben Frz.: Best. unakkusat. Verben
AgrO wird passiert Bei Anheben der Subjekt-DP in den Matrixsatz:
Partizipialkongruenz
SEIN
Ital.: Passiv, Reflexiv Span.: Passiv
AgrS kann aktiviert werden
Inkorporation in D/P°
SEIN
Ital.: Passiv, Reflexiv Ital.: Impersonal Span.: Passiv Ital. Dialekte mit Personal-Sensitivität
T kann aktiviert werden
Inkorporation in D/P°
SEIN
Ital. Dialekte mit Tempus-Sensitivität
[Spec, D] bleibt A'-Position
Inkorporation von D/P° in SEIN
HABEN
Ital.: Transitive, unergative Verben Span., Engl.: Alle Verben außer Passiv
Kaynes Ansatz wird von vielen weiteren Forschungsarbeiten als Grundlage für die Analyse des Phänomens der Hilfsverbselektion genommen, so z.B. Cocchi (1994), Tortora (1994) und Ledgeway (2000a).45 2.3.7 Cocchi (1994, 1995): Parameter der Hilfsverbselektion Eine konzentrierte und auch umfassende Analyse des spezifischen Phänomens im Italienischen (mit Ausblick auf einige süditalienische Varietäten) bietet Cocchi (1994, 1995). Bei Cocchi (1995) handelt es sich um eine ausführliche Arbeit innerhalb des P&P-Modells in der Nachfolge Kaynes (1993, vgl. 2.3.6), zu der Cocchi (1994) eine Kurzfassung darstellt. Cocchi behandelt ausschließlich die Hilfsverbselektion. Dabei geht sie von Burzios Analyse zur Hilfsverbselektion aus (vgl. Burzio 1986, vgl. 2.2.4), welche sie teilweise neu interpretiert. Auf ihre Ergebnisse wendet sie Kaynes modulare Analyse in modifizierter Form an, um schließlich klarere Parametrisierungen feststellen zu können. Die Gegenstands–––––—– 45
Kaynes Aufsatz selbst arbeitet leider ohne graphische Darstellung und ist daher in Teilen sehr schwierig nachzuvollziehen. Kurzzusammenfassungen von Kayne (1993) bieten, neben der hier illustrierten Kurzskizze, auch die gerade genannten Arbeiten.
43 sprachen ihrer Betrachtungen sind das Italienische und diejenigen der mittel- und süditalienischen Dialekte, welche die Wahl des Hilfsverbs von der Person des Subjekts abhängig machen. Cocchi (1995) behandelt in ihrem zweiten Kapitel alle Konstruktionen des Italienischen, welche die zusammengesetzten Zeiten mit essere bilden. Nach einer Charakterisierung der unakkusativischen, bei ihr ergativ46 genannten Verben und des Passivs als Konstruktionen, die ein internes (direktes) Argument in Subjektposition anheben, geht sie auf die ebenfalls essere selegierenden Reflexivkonstruktionen über. Dabei modifiziert sie die Ansätze von Burzio (1986) dahingehend, dass sie auch Reflexivkonstruktionen als echt ‘ergative’ Konstruktionen analysiert, d.h. als Konstruktionen, deren Oberflächen-Subjekt eigentlich ein internes Argument ist, das angehoben wurde. Diese Analyse als ergativ gilt nicht nur für echt reflexive Konstruktionen, die eine transitive nicht-reflexive Konstruktion erlauben (vgl. (2-58)), sondern natürlich auch für die inhärent reflexiven (lexikalisch reflexiven) Verben, die ein solches Gegenstück nicht erlauben (vgl. (2-59)): (2-58) (2-59)
a. b. a. b.
La tazza si é rotta X ha rotto la tazza. Maria si è pentita. *X ha pentito Maria.
La nave è affondata. X ha affondato la nave. Maria è arrivata. *X ha arrivato Maria. (nach Cocchi 1995: 26)
Genauso wie arrivare im Lexikon als unakkusativisch notiert sein muss, muss auch pentirsi und die ergative (unakkusativische) Lesart von affondare im Lexikon markiert sein. Si könnte hier also ein overter Marker von Ergativität (Unakkusativität) im Lexikon sein. Parallel zu den obigen Beispielen lässt sich nun auch die echt reflexive Konstruktion als ergativ analysieren: (2-60) (2-61)
a. b. a. b.
Maria si è lavata. => X si è lavata. Giovanni ha lavato Maria. => Y ha lavato X. (nach Cocchi 1995: 26) Giovanni si è scritto una lettera. => X si è scritto una lettera. Maria ha scritto una lettera a Giovanni. => Y ha scritto una lettera a X. (Cocchi 1995: 45)
Das Oberflächensubjekt ist also sowohl in der direkt reflexiven als auch in der indirekt reflexiven Konstruktion ein angehobenes internes Argument. Weitere Argumente, besonders was den attributiven Gebrauch von Reflexivverben als Partizipien in reduzierten Relativsätzen betrifft sowie die Analyse indirekter Reflexivsätze, untermauern Cocchis Analyse der Reflexivkonstruktionen als ergativ.47 Zu den Konstruktionen, in denen keine externe θRolle an eine DP vergeben werden kann, gehören bei Cocchi auch die Konstruktionen mit unpersönlichem und passivisch-medialem si. Die Hilfsverbselektion essere im Italienischen kann dadurch auf einen gemeinsamen Nenner der fehlenden externen θ-Rolle gebracht werden: –––––—– 46
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Cocchi sieht Ergativität einer Konstruktion als unabhängig von der Fähigkeit der Akkusativvergabe; daher ist die Bezeichnung ‘unakkusativisch’ für die von ihr vorgeschlagene Analyse tatsächlich unangebracht. Es gibt auch Forschungsansätze, die diese Analyse ablehnen, z.B. Reinhart & Siloni (1999).
44 La selezione dell’aux E [= essere] in italiano si riscontra in tutti i casi in cui, per motivi diversi, un V non assegna ruolo θ-esterno ad alcun DP in Spec(VP), e in conseguenza di ciò ha luogo il movimento di un DP interno al VP alla posizione di Spec(AGRsP), oppure, in situazioni marcate, si realizza un accordo flessionale di default. La mancata assegnazione di ruolo-θ esterno può essere strutturale (V strutturalmente inaccusativi) o limitata a determiante configurazioni di V che in altri casi ammettono l’argomento esterno e selezionano regolarmente l’ausiliare A [= avere]; si tratta di tutte le situazioni in cui è presente un morfema supplementare che rivece esso stesso il ruolo-θ esterno impedendone l’assegnazione a qualsiasi DP soggetto: passivi, medi, riflessivi, impersonali. (Cocchi 1995: 65)
In einem weiteren Kapitel untersucht Cocchi (1995) diejenigen spezifischen Eigenschaften von HABEN und SEIN, die diese Hilfsverben für den skizzierten Kontext der Hilfsverbselektion prädestinieren, wobei sie sich v.a. auf die Darstellungen von Beneviste (1966), Vikner & Sprouse (1988), Freeze (1992) sowie Kayne (1993) beruft. Kaynes Analyse der Hilfsverbkonstruktionen als biklausale Derivation bildet schließlich den Grundstock für Cocchis syntaktische Interpretation der Hilfsverbselektion. Dabei nimmt sie an, dass die primäre Hilfsverbform SEIN nicht in einer eigenen VP, sondern direkt in T° basisgeneriert wird (Cocchi 1995: 77). Im Gegensatz zu Kayne geht Cocchi davon aus, dass SEIN immer und völlig unabhängig von dem Konstruktionstyp ein Kaynesches D/P° subkategorisiert, also auch in den ergativen Fällen. In allen nicht-ergativen Konstruktionen nun, in denen eine DP mit externer θ-Rolle nach [Spec, AgrS] bewegt wird, kommt es unumgänglich zur Inkorporation von D/P° in SEIN/BE (d.h. T°), um deren Barrierenstatus aufzuheben. Inkorporation von D/P° bedeutet eine Realisierung als HABEN. Die ergativen Konstruktionen haben in den Sprachen mit Hilfsverbselektion die Eigenschaft, dass sie nur ein AgrO und kein AgrS in dem von SEIN/BE subkategorisierten Partizipialsatz aufweisen: Dieses AgrO ist sowohl für die Akkusativvergabe als auch für die Partizipialkongruenz zuständig. Dadurch dass das interne Argument einer ergativen Konstruktion durch [Spec, AgrO] bewegt wird, wird AgrO aktiviert und kann in D/P° inkorporiert werden. Somit ist der Barrierenstatus von D/P° aufgehoben, ohne dass es zur Realisierung von HABEN kommen muss. Parallel zu sehen sind die Reflexivkonstruktionen, die bei Cocchi nie eine DP mit externer θ-Rolle enthalten, daher wie die anderen ergativen Konstruktionen deriviert werden müssen. Sprachen ohne Auxiliarselektion, wie das Englische oder Spanische, dagegen haben nie ein partizipiales AgrO, sondern immer nur ein partizipiales AgrS, sodass immer Inkorporation von D/P° in T° (= SEIN/BE) stattfinden muss und daher immer HABEN als Hilfsverb realisiert wird (Cocchi 1995: 160). Bei unpersönlichen Konstruktionen wird die externe θ-Rolle von dem Klitikum si aufgenommen, das sich aufgrund seines Status als Kopf ungeachtet des Barrierenstatus von D/P°
45 nach [Spec, AgrS] bewegen kann. Da also keine Inkorporation von D/P° in T° stattfindet, bleibt SEIN/BE in seiner Realisierung als Hilfsverb erhalten (Cocchi 1995: 160).48 Insgesamt liefert Cocchi (1995) eine ausführliche Diskussion der Analyse von Kayne (1993) mit umfassenden Anwendungsversuchen auf alle Typen von syntaktischen Derivationen, die Hilfsverbselektion aufweisen. Die von ihr angebrachten Modifizierungen von Kayne (1993) dienen (ebenso wie ihre Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Analyse reflexiver Konstruktionen nach Burzio 1986) v.a. einer Vereinheitlichung des Analysemodells. 2.3.8 Roberts (1997): Nicht-overte Inkorporationen Der Aufsatz von Roberts (1997) steht bereits dem Minimalismus nahe; er behandelt v.a. Restrukturierungsphänomene, wobei einige frühe minimalistische Prinzipien (vgl. Chomsky & Lasnik 1993) in den Erklärungsansatz eingearbeitet sind. Restrukturierte Modalverben und Hilfsverben werden in einen engen Zusammenhang gebracht; hier macht Roberts einige allgemein für Hilfsverben geltende Aussagen: (13) Each occurrence of T must be in an extended projection of a θ-role assigner. [...] Auxiliaries are not θ-role assigners, but they are typically associated with T; in fact, if we regard auxiliaries and main verbs as each projecting full clausal structure with a full set of functional categories, then auxiliaries will of course always be associated with T. (13) can thus derive the fact that auxiliaries form an extended projection with main verbs from the fact that auxiliaries lack θroles whereas main verbs have them. The functional heads that make up the clausal system (T, Neg, Agr, etc.) resemble auxiliaries in lacking θ-roles, and so we can link the possession of Vfeatures to the absence of θ-roles. That gives the result that any verbal category is either V, in which case it assigns θ-roles and incorporates with the nonthematic heads in its extended projection (either overtly or at LF), or V-related and nonthematic, in which case V incorporates with it. (Roberts 1997: 430)
–––––—– 48
Was die süditalienischen Dialekte betrifft, die ihre Hilfsverbselektion unabhängig von der Argumentstruktur des Verbs allein von der Person des Subjekts abhängig machen, schlägt Cocchi mit Kayne (1993) vor, dass das partizipiale AgrS durch bestimmte personale Eigenschaften der Subjekts-DP aktiviert werden kann. Diese Eigenschaften betreffen die erste und zweite Person und können mit deren stärkerer Belebtheit in Verbindung gebracht werden. Durch die Aktivierung kann AgrS in D/P° inkorporiert werden, sodass der Barrierenstatus aufgehoben ist und die Hilfsverbselektion als SEIN realisiert wird. In der dritten Person dagegen ergibt sich HABEN. Da bei ergativen Konstruktionen weiterhin auch Partizipialkongruenz erscheint, muss für diese im Süditalienischen angenommen werden, dass, anders als im Italienischen, doch beide Köpfe, sowohl das partizipiale AgrS als auch das partizipiale AgrO, projiziert werden (Cocchi 1995: 161). Abweichend von Kayne (1993) schlägt Cocchi aber vor, dass man in diesen Dialekten von einem Ergativitäts-Split (vgl. Cocchi 1998) ausgehen könnte: Demnach wird bei Subjekten in der dritten Person immer ein AgrS projiziert, die damit auch als sprachübergreifend inaktiv gilt und daher nicht inkorporiert werden kann, sodass D/P° seinerseits in T° inkorporiert werden muss (=> HABEN). Bei Subjekten in der ersten und zweiten Person dagegen gilt die Derivation immer als ergativ, d.h. es wird nur ein AgrO projiziert, das aktiviert und in D/P° inkorporiert wird und somit SEIN als Hilfsverb zulässt (Cocchi 1995: Kap.4 sowie 162).
46 Hilfsverben stehen aufgrund ihrer θ-Losigkeit und ihrem T-Bezug funktionalen Kategorien nahe. Hilfsverbkonstruktionen werden von Roberts (1997) als Inkorporationsstrukturen interpretiert, vergleichbar den Vollverbkonstruktionen, bei denen das Vollverb in die funktionalen Kategorien inkorporiert werden kann und dadurch Flexionsendungen erhält. Damit aber alle Hilfsverben durch diese Aussagen erfasst werden können, muss Roberts die Prinzipien der Relativized Minimality (RM, vgl. Rizzi 1990) um ein eigenes Prinzip erweitern, das z.B. die Interpretation restrukturierter Modalverbkonstruktionen als monoklausale Inkorporationsstrukturen möglich macht, obwohl zwischen Hilfsverb und Vollverb oft andere Elemente (spesso, proprio etc.) offen auftreten können, was gegen solch eine reine Inkorporationsstruktur sprechen würde, die ja Adjazenz fordern würde. Hilfsverben und inkorporierte Vollverben werden daher nach Roberts (1997) bei Spell-Out49 wieder getrennt, wenn der Satz gilt: (2-62)
*[X° W1 W2], where Wn are morphological words. (Roberts 1997: 426)
Roberts nimmt für Hilfsverbkonstruktionen immer eine durch Vereinigung zweier Projektionen (Clause Union) entstandene monoklausale Struktur an, die im Einzugsbereich einer T-Phrase steht. Wenn es sich in der Ableitung allerdings ergibt, dass zwei morphologisch unabhängige Köpfe in einer Inkorporationsstruktur stehen, gilt die Erweiterung von RM von (2-62). Daher wird das inkorporierte Hauptverb bei Spell-Out nur an der höchsten Lbezogenen50 Position, die es vor der Inkorporation eingenommen hat, phonologisch overt (d.h. AgrS des eingebetteten Satzes) und nicht an seiner eigentlichen Inkorporationsposition (Roberts 1997: 426). Damit vermeidet Roberts v.a. Exkorporation sowie für RM unzulässige Bewegungen. Restrukturierungsverben haben also die Eigenschaft, optional monoklausale Strukturen zu bilden, indem sie die Bewegung des eingebetteten T° in den Matrixsatz und seine Inkorporation in V°/T° auslösen können. Durch diese Bewegung können die AgrO-Projektionen des eingebetteten und des Matrixsatzes die bekannten Restrukturierungsphänomene hervorrufen, da sie nun in der gleichen erweiterten Projektion liegen. Im Falle der Hilfsverbselektion umfasst die Domäne für Restrukturierungsphänomene sogar drei relevante AgrOProjektionen und deren Zusammenspiel. Roberts geht mit Kayne (1993) von der modularen Analyse der traditionellen Hilfsverben HABEN und SEIN aus: Auch hier haben Hilfsverb und Matrixverb jeweils eine eigene vollständige Satzprojektion (mit allen funktionalen Kategorien), die allerdings in einem weiteren Schritt durch Inkorporation oder damit in Zusammenhang stehende Mechanismen monoklausal wird (vgl. Roberts 1997: 434).51 Das Archi-Hilfsverb SEIN kann dabei durch Inkorporation von D/P° wieder als HABEN in Erscheinung treten. Anders als bei den italienischen Modalverben ist aber im Falle der traditionellen Hilfsverben der Mechanismus zwingend.
–––––—– 49 50 51
Die Trennung von semantischem und phonologischem Material im MP, vgl. 3.1.1. Eine L-bezogene Position ist eine für lexikalische Kategorien relevante Position. Vgl. Roberts (1997: 434): Pieroj [AgrOP t''j è [PROi [AgrSP t'j [VP tj voluto [AgrOP t'i venire ti ]]]]] Je nachdem, ob das (untere) AgrS aktiv oder inaktiv ist, kommt es zum Verbleiben oder zur Bewegung von PRO in den Matrixsatz, d.h. zu Restrukturierung oder nicht.
47
2.4
Zusammenfassung des präminimalistischen Forschungsstandes
In den Abschnitten 2.1 bis 2.3 wurde ein Überblick über die präminimalistische Forschungsliteratur zu Hilfsverbkonstruktionen gegeben. Dabei wurden die beschreibenden Forschungsskizzen in zwei großen Blöcken, nämlich dem der zeitlich vor Pollock (1989) und dem der zeitlich nach Pollock angesiedelten Arbeiten angeordnet. Die einzelnen Ansätze stellen nur eine Auswahl dessen vor, was zu funktionalen Kategorien im Allgemeinen und Hilfsverben im Besonderen gesagt worden ist. Oft sind in den hier versammelten Darstellungen die romanischen Sprachen nicht Hauptuntersuchungsgegenstand. Die Anfänge der Generativen Grammatik untersuchen v.a. die Besonderheiten der englischen Auxiliaries, wobei die englischen Modal Auxiliaries oft gesondert behandelt werden. Als ausschließlich auf das Englische bezogene Untersuchungen wurden hier aufgeführt: Chomsky (1981, 1986a, vgl. 2.2.1), Radford (1988, vgl. 2.2.6), Roberts (1993a, vgl. 2.3.5). Die auch romanische Sprachen behandelnden Arbeiten von Pollock (1989, vgl. 2.3.1), Belletti (1990, vgl. 2.3.2) und Ouhalla (1990, 1991, vgl. 2.3.3) betreffen funktionale Kategorien und/oder Verbbewegungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Hilfsverben stehen. Nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung von Pollock (1989) zeigt sich in der Forschung eine starke Tendenz zur Vermehrung funktionaler Kategorien. Was Hilfsverben betrifft, werden diese bei Pollock (1989) noch in einer eigenen VP basisgeneriert, bei Belletti (1990, vgl. 2.3.2) unter einem eigenen Aux°, während bei Ouhalla (1990, 1991, vgl. 2.3.3) den Hilfsverben entsprechend ihrer Funktion eine der vielen funktionalen Kategorien außerhalb der VP zugeordnet wird. Bei Kayne (1993, vgl. 2.3.6) schließlich verdoppeln sich die funktionalen Kategorien, da Hilfsverbkonstruktionen als biklausale Strukturen mit jeweils eigener potentiell vollständigen Hierarchie an funktionalen Kategorien behandelt werden, wobei die Hilfsverben selbst wieder in einer eigenen VP basisgeneriert werden. Die biklausale Analyse wird in den hier genannten Ansätzen von Cocchi (1994, 1995, vgl. 2.3.7) weitergeführt. Meilensteine in der Untersuchung der Hilfsverben in den romanischen Sprachen, sowohl der Hilfsverbselektion als auch der Modalverbkonstruktionen mit Restrukturierung, sind Rizzi (1982, vgl. 2.2.2) und Burzio (1986, vgl. 2.2.4); außer Haider (1984) für das Deutsche untersuchen Haider & Rindler-Schjerve (1987, vgl. 2.2.3), Kayne (1993, vgl. 2.3.6) und Cocchi (1994, 1995, vgl. 2.3.7) die Hilfsverbselektion in romanischen Sprachen. Für die Behandlung der Hilfsverbselektion bei den Reflexivkonstruktionen sind von den hier genannten Analysen, neben Burzio (1986, vgl. 2.2.4), Haider & Rindler-Schjerve (1987, vgl. 2.2.3) und v.a. Cocchi (1994, 1995, vgl. 2.3.7) relevant. Modalverbkonstruktionen und Restrukturierungsphänomene werden außerdem von Rutten (1991, vgl. 2.3.4) und Roberts (1997, vgl. 2.3.8) für das Italienische weiter untersucht. Für eine systematische Diagnostik aller Hilfsverbkonstruktionen des Sardischen bietet Jones (1988, vgl. 2.2.5) eine solide Grundlage. Die Argumentstruktur einer Konstruktion bzw. einer Prädikation spielt eine Schlüsselrolle bei der Behandlung der Hilfsverbselektion (vgl. 2.2.3 zu Haider 1984, 2.3.7 zu Cocchi 1994, 1995). Vielen Ansätzen ist gemeinsam, dass die ausschlaggebende Eigenschaft eines Hilfsverbs ein fehlendes oder defektives (vgl. 2.3.1 zu Pollock 1989, 2.3.5 zu Roberts 1993a, 2.3.7 zu Cocchi 1994, 1995 sowie 2.3.8 zu Roberts 1997) oder auch ein besonderes
48 θ-Raster ist (verbale θ-Markierung bei Rutten 1991, vgl. 2.3.4). Dies entspricht einem der Hauptkriterien für eine Tendenz zur Hilfsverbhaftigkeit in der Grammmatikalisierungstheorie, und zwar dem Kriterium der Desemantisierung (vgl. 1.5.1). Die fehlenden θEigenschaften werden zudem oft in engem Zusammenhang mit funktionalen grammatischen Kategorien, z.B. Stärke/Schwäche, Opazität oder Status einer funktionalen Kategorie gebracht (vgl. 2.3.1 zu Pollock 1989, 2.3.5 zu Roberts 1993a). Daher können sich die Hilfsverben oft weiter (nach Agr°, nach T°, nach C°) bewegen als die Vollverben (vgl. 2.2.2 zu Rizzi 1982, 2.3.1 zu Pollock 1989, 2.3.2 zu Belletti 1990), oder sie rufen sogar selbst Verbbewegung hervor (vgl. 2.2.4 zu Burzio 1986). Oft sind v.a. Tempus und die Zeitorganisation einer Derivation hilfsverbrelevant: Hilfsverben bestimmen Tempusdomänen und sind wichtig als Tempusmarker bei der Bildung von Tempus-Ketten (vgl. 2.3.4 zu Rutten 1991, 2.3.8 zu Roberts 1997). Manche Gedanken der hier dargestellten Analysen nach dem P&P-Modell werden an anderer Stelle in der minimalistischen Analyse dieser Arbeit wieder verwendet und teilweise modifiziert werden. Darunter fallen die folgenden Überlegungen: −
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Hilfsverbselektion lässt sich in einen Zusammenhang mit möglichen Bindungsbeziehungen zwischen Oberflächensubjekten bzw. Klitika und internen Argumenten bringen (vgl. 2.2.4 zu Burzio 1986), die sich in Agreement-Phänomenen manifestieren. Dabei kann Bewegung eine Rolle spielen (vgl. 5.2 und 6.2). Bei der Hilfsverbselektion ist die Argumentstruktur des Vollverbs ausschlaggebend (vgl. 2.2.3 zur Blockierung-Deblockierungs-Hypothese von Haider 1984). Hilfsverben stehen daher in engem Zusammenhang mit dem θ-relevanten lexikalischen Komplex der Phrasenstruktur (vgl. besonders die zentrale Analyse in 5.2). Funktionale Kategorien, welche die Argumentstruktur einer Prädikation bestimmen, werden auch gerade im Zusammenhang mit der Hilfsverbselektion eingeführt. Bei der Hilfsverbselektion sind auffällige Parallelen zur Argumentstruktur von HABEN und SEIN in ihrer Vollverbfunktion zu beobachten. Die modulare Analyse von Kayne (1993, vgl. 2.3.6 sowie 2.3.7 zu Cocchi 1994, 1995) macht diese Zusammenhänge von Argumentstruktur und Hilfsverbselektion durch explizite funktionale Kategorien (zweifaches Erscheinen von AgrO und AgrS) besonders deutlich. Eine minimalistische Analyse wird nicht mit einer Erweiterung der funktionalen Kategorien arbeiten, sondern Positionen und Eigenschaften der Hilfsverben mit Argumentpositionen und Eigenschaften der Prädikation selbst in direkten Zusammenhang bringen (vgl. dazu besonders die grundlegenden Ausführungen in 3.2). Die Einführung einer allgemeinen Prädikatsphrase scheint nicht nur semantisch, sondern auch syntaktisch sehr interessant zu sein (vgl. Chomsky 1965, 1975, dann auch Ouhalla 1990; vgl. die Weiterentwicklung nach Bowers 1993, 2001 in 3.2). Ein merkmalsbasierter Ansatz könnte ein flexibles Analyseinstrument zur Systematisierung der in ihren Eigenschaften und Funktionen auch einzelsprachlich sehr heterogenen Hilfsverben sein (vgl. 2.2.6 zu Radford 1988). Die Diachronie der Modalverben (vgl. 2.3.5 zu Roberts 1993a) sowie synchrone Restrukturierungsphänomene (vgl. 2.2.2 zu Rizzi 1982, 2.2.4 zu Burzio 1986, 2.3.4 zu Rutten (1991) sowie 2.3.8 zu Roberts 1997) lassen vermuten, dass durch Veränderungen in der Merkmalszusammensetzung bestimmter Verben neue abstrakte oder reduzierte syntaktische Subkategorisierungsrahmen entstehen können (vgl. die Behandlung der Modalverben in 6.4 und 7.5). Hilfsverbkonstruktionen sind tempusrelevant: Hilfsverben können als Tempusmarker interpretiert werden; sie bilden zusammen mit den zugehörigen Vollverben einheitliche zeitorganisatorische Tempusdomänen (vgl. 2.3.4 zu Rutten 1991 und 2.3.8 zu Roberts 1997). Eine
49
−
verstärkte Konzentration auf die Untersuchung von Tempusphänomenen im Zusammenhang mit Hilfsverben ist unbedingt erforderlich (vgl. Kapitel 4). Funktionale Kategorien, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Tempus, Aspekt und Modus stehen, sind mitbestimmend für die Syntax der Hilfsverben. Innerhalb des P&P-Modells nach Pollock (1989, vgl. 2.3.1) werden mehrere neue funktionale Kategorien gerade auch im Zusammenhang mit Hilfsverbpositionen angenommen (vgl. neben Pollock 1989 auch 2.3.2 zu Belletti 1990 sowie 2.3.3 zu Ouhalla 1990, 1991). Auch in der minimalistischen Analyse dieser Arbeit werden die funktionalen Kategorien eine tragende Rolle spielen. Die sie betreffenden Merkmalszusammensetzungen hinsichtlich von Tempus, Aspekt und Modus/Modalität werden daher eingehend untersucht (vgl. v.a. die grundlegenden Klärungen in Kapitel 4).
Insgesamt kann noch einmal festgestellt werden, dass Hilfsverben im P&P-Modell auch verstärkt in den romanischen Sprachen detailliert untersucht werden. Dennoch bleibt die Frage des positionellen Ursprungs der einzelnen Hilfsverben oft nur angedeutet. Die Arbeiten, die explizit strukturelle Vorschläge für die Hilfsverbkonstruktionen machen (z.B. Jones 1988, vgl. 2.2.5 oder Cocchi 1993, 1994, vgl. 2.3.7), erklären nicht, warum bestimmte Hilfsverben nur in bestimmten Konstruktionen in der Satzstruktur erscheinen müssen. Auch wird der Status eines hilfsverbhaften V-Kopfes von dem eines vollverbhaften V-Kopfes in den meisten Analysevorschlägen nicht deutlich abgegrenzt und bleibt damit vage. Ähnliches gilt für die manchmal in die Diskussion eingeführten generischen [Aux]-Merkmale. Eine ausführliche Klärung all dieser Fragen in einem minimalistischen Rahmen (vgl. Kapitel 3) wird in der vorliegenden Arbeit geleistet. Zunächst soll aber noch der Forschungsstand um die bereits bestehenden minimalistischen Forschungsansätze ergänzt werden.
2.5
Bestehende minimalistische Erklärungsansätze zur Analyse von Hilfsverben
Es liegen bereits einige minimalistische Analysen zu verschiedenen Hilfsverbkonstruktionen vor. Diese sollen aber hier nicht (mit Ausnahme der Darstellung in Chomsky 1995) im einzelnen besprochen werden. Denn zum einen wird das eigene Kapitel zur Klärung des theoretischen Rahmens des Minimalistischen Programms selbst erst die notwendigen konzeptuellen Werkzeuge und Begrifflichkeiten zur Verfügung stellen können (vgl. Kapitel 3). Zum anderen werden Details der bestehenden minimalistischen Interpretationen im Anwendungsteil dieser Arbeit noch zur Sprache kommen. Minimalistische Ansätze zur Erklärung von Hilfsverben finden sich z.B. an verschiedenen Stellen in Radford (1997), in dem Aufsatz von Roberts (1998), in den Arbeiten von Manzini & Savoia (1998), Cocchi (1998), López (1999), dem Buch von Lasnik (1999), dem ausführlichen Werk von Ledgeway (2000a) oder auch punktuell in Zagona (2002).52 Für die meiste minimalistische Forschungsliteratur gilt jedoch, dass Hilfsverben dort zwar überall im Gesamtzusammenhang relevant sind, oft aber dabei nur am Rande oder nebenbei erwähnt werden. Viele der Analysen beruhen meist noch auf dem ganz frühen Minimalismus (Chomsky 1995, Kapitel 1–3). Oft sind sie nur auf das Englische bezogen –––––—– 52
Diese Liste ist als rein exemplarisch anzusehen.
50 oder bieten lediglich Analysen von Einzelphänomenen (Ausnahmen hierzu sind Ledgeway 2000a und Cocchi 1998). Viele Analysen legen sich nicht eindeutig fest, unter welcher bzw. als welche Kategorie Hilfsverben zu behandeln sind. Sie behandeln mögliche Merkmalszusammensetzungen von Hilfsverben, sagen aber nicht, warum Hilfsverben überhaupt in der minimalistischen Derivation erscheinen müssen. Meist werden fehlende semantische Merkmale für die syntaktische Distribution der Hilfsverben angeführt. Viele der Analysen führen weitere funktionale Kategorien (à la Pollock 1989) ein oder aber arbeiten mit Kaynes modularer Hypothese (vgl. Kayne 1993), die im Grunde genommen Komplemente von Hilfsverben als eigene (wenn auch defektive) Satzprojektionen analysiert und dadurch die funktionalen Kategorien zwar nicht von ihrer Qualität her, dennoch aber von ihrer Quantität her verdoppeln (z.B. Ledgeway 2000a, Cocchi 1998, Manzini & Savoia 1998). Auch Chomsky (1995) selbst behandelt Hilfsverben nicht ausführlich. Um zu erklären, warum sich die englischen Hilfs- und Modalverben bei Spell-Out in ihrer lautlichen Erscheinungsform doch in einer höheren syntaktischen Position als die entsprechenden Vollverben, nämlich unter T° befinden, argumentiert er in seinem dritten Kapitel folgendermaßen: Hilfsverben können in LF nicht sichtbar sein, da sie semantisch leer sind.53 Daher wird eine Derivation scheitern, wenn die Merkmale der Hilfsverben nicht vor der koverten Syntax und LF, also vor Spell-Out overt überprüft worden sind (Chomsky 1995: 198). Das bedeutet, dass sich die Hilfsverben im Englischen, obwohl kein starkes Merkmal es fordert, sichtbar bewegen müssen, um die Derivation zu retten. Chomsky geht also nicht von einem direkten Einfügen der Hilfsverben unter T° aus, sondern nimmt an, dass sich Hilfsverben, wie Hauptverben auch, in einer eigenen Verbalphrase befinden (vgl. Chomsky 1995: 350). Die Annahme Chomskys ist allerdings leicht kritisierbar und v.a., was die Nicht-Interpretierbarkeit von Hilfsverben in LF angeht, mit dem vierten Kapitel des MP schwer vereinbar: Hilfsverben und erst recht Modalverben beinhalten sehr wohl Merkmale, die für die Interpretation der Derivation von Bedeutung sind (vgl. u.a. auch die Kritik von Roberts 1998: 116). Interpretierbare Merkmale dürfen gar nicht, nicht-interpretierbare Merkmale müssen gelöscht werden. Es ist jedenfalls selten möglich, Hilfsverben als reine Lautgestalt in PF ohne irgendeine Bedeutung, sei es auch nur eine funktionale, zu interpretieren.54 Da Fragen dieser Art für die Interpretation aller hilfsverbhaften Verben relevant sind und auch von Chomsky (1995) selbst nicht ausreichend geklärt sind, soll nun im Folgenden der theoretische Rahmen des Minimalistischen Programm selbst ausführlich dargestellt, um notwendige theoretische Konsequenzen erweitert und hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf Hilfsverbphänomene modifiziert werden.
–––––—– 53
54
Diese Argumentation ist bereits bekannt und betrifft das Kriterium der θ-Losigkeit von Hilfsverben (vgl. 1.5.1); vgl. z.B. Pollock (1989, vgl. 2.3.1), der ebenfalls auf den fehlenden semantischen Gehalt von Hilfsverben zurückgreift, um die Bewegung der englischen Hilfsverben zu rechtfertigen: Da englisches AGR und T für θ-Interpretationen opak sind, können sich nur θ-irrelevante Verben, eben Hilfsverben, dort befinden. Selbst das prototypische Hilfsverb do hat funktionale Aufgaben, die interpretiert werden können.
3
Methodischer Rahmen: Konzepte und Konsequenzen des minimalistischen Ansatzes
Die methodische Einbettung der vorliegenden Arbeit ist der Generativen Grammatik insgesamt verpflichtet, den engeren Rahmen wird aber ausschließlich das Minimalist Program bilden, so wie es in Chomsky (1995) formuliert wurde. Hier werden besonders die tiefgreifenden Neuerungen des vierten Kapitels1 als Ausgangspunkt genommen. Dabei soll möglichst mit Hilfe der minimalistischen Grundprinzipien des Programms versucht werden, einzelsprachliche Variation allein durch (formale) morphologische Eigenschaften, wie sie im Lexikon als minimalistische Merkmale (Features) kodiert sein müssen, zu erklären. Auf die weiteren Entwicklungen von Chomsky (1998) sowie Chomsky (1999, 2001a) soll hier nicht oder nur am Rande eingegangen werden. Das Minimalist Program (MP) stellt keinen Bruch mit dem Prinzipien- und Parametermodell (P&P) nach Chomsky (1981) dar: Vielmehr ist es eine vom P&P ausgehende und darauf aufbauende Weiterentwicklung, die minimalistische Aspekte in den Vordergrund stellt, um den im P&P teilweise bis zur Unübersichtlichkeit und oft auch Redundanz angewachsenen Regelapparat der Nachfolgearbeiten zu reduzieren und somit auf streng lokale, dem Ökonomie- und Optimalitätsprinzip verpflichtete Bedingungen zu beschränken. Die Prinzipien sind also neu und restriktiver formuliert, während die syntaktische Parametrisierung auf lokale Eigenschaften der in ihrer Anzahl reduzierten funktionalen Kategorien festgelegt ist. Der Aspekt der Kontinuität spiegelt sich auch im Aufbau der Einzelkapitel von Chomsky (1995) wider, die, jedes für sich genommen, jeweils eine Weiterentwicklung des vorangehenden darstellen. Die minimalistischen Prinzipien und deren folgenreiche Neuerungen führen allerdings auch, besonders im bereits genannten vierten Kapitel, zu starken Veränderungen des bisherigen Modells: Though the general framework remains, modifications at each point are substantial. Concepts and principles regarded as fundamental in one chapter are challenged and eliminated in those that follow. These include the basic ideas of the Extended Standard Theory that were adopted in the P&P approaches: D-Structure; S-Structure; government; the Projection Principle and the θ-Criterion; other conditions held to apply at D- and S-Structure; the Empty Category Principle; X-bar theory generally; the operation Move α; the split-I hypothesis; and others. All are eliminated or substantially revised in successive chapters, particularly the last. (Chomsky 1995: 10)
–––––—– 1
Chomsky (1995) besteht aus vier Kapiteln, von denen die ersten drei bereits an anderer Stelle erschienen sind: Kapitel 1, “The Theory of Principles and Parameters”, in Ko-Autorschaft mit Howard Lasnik, als Chomsky & Lasnik (1993); Kapitel 2, “Some Notes on Economy of Derivation and Representation”, als Chomsky (1991); Kapitel 3, “A Minimalist Program for Linguistic Theory”, als Chomsky (1992) bzw. Chomsky (1993). Diese drei Kapitel stellen den so genannten “frühen Minimalismus” dar. Das vierte Kapitel mit der Überschrift “Categories and Transformations” beschreibt den der vorliegenden Arbeit zugrunde liegenden Minimalismus.
52 In den folgenden Unterkapiteln nun werden die Konzepte des MP im Überblick dargestellt (vgl. 3.1);2 dabei werden für die Analyse von Hilfsverbkonstruktionen relevante Konsequenzen gezogen, die sich hinsichtlich zu klärender struktureller (vgl. 3.2), grammatiktheoretischer (vgl. 3.3 und 3.4) und Einzelphänomene betreffender Problemstellungen (3.5) ergeben.3 Weitere Annahmen (vgl. 3.6) und eine Zusammenfassung (vgl. 3.7) schließen das Kapitel ab.
3.1
Das Minimalist Program
3.1.1 Die syntaktische Derivation Im MP gibt es die terminologischen Begriffe Tiefenstruktur (D-Structure) und Oberflächenstruktur (S-Structure) nicht mehr. Syntaktisch relevant ist nur mehr, was auch an den so genannten Schnittstellenebenen (Interface Levels) des linguistischen Systems zu anderen Systemen der menschlichen Kognition fassbar zu machen ist.4 Diese Ebenen sind die PF, d.h. die phonologische Form, welche die Schnittstelle zum artikulatorisch-perzeptiven System (A-P) bildet, und die LF, d.h. die logische Form, welche die entsprechende –––––—– 2
3
4
Mittlerweile gibt es mehrere Arbeiten, die eine knappe und übersichtliche Einführung in den späteren Minimalismus des vierten Kapitels des MP bieten, oft in Gegenüberstellung zum P&P Modell: Eine sehr gute Rezension von Chomsky (1995) ist Zwart (1998); ähnlich Poole (2000), der Uriagereka (1998), eine umfassende Auslegung von Chomsky (1995) in Dialogform, rezensiert; Radford (1997) stellt ein gutes Arbeitsbuch für das MP und seine mögliche Anwendung auf das Englische dar. Allerdings geht Radford kaum auf die Neuerungen des besagten vierten Kapitels ein. Ähnliches gilt für Marantz (1995) und Schmidt (1995), die natürlicherweise nur den frühen Minimalismus darstellen. Eine gut verständliche Einführung in den Minimalismus in Form einer Projektskizze zu einer umfassenderen minimalistischen Syntax der romanischen Sprachen gibt Mensching (2003); des weiteren wären ein- und weiterführende Kapitel von minimalistisch vorgehenden Arbeiten zu nennen, wie Van Gelderen (1997: 1–15), Kitahara (1997: 1–19), Carstens (2000: 319–327), sowie Ledgeway (2000a: 3–16); vgl. auch modifizierende Weiterentwicklungen, wie Ura (2000), Collins (1996); starke Kritik an den Derivationsmechanismen des MP auf rein abstrahiert-theoretischer Basis – v.a. mit dem Vorwurf un-minimalistischer Prinzipien – übt Chametzky (2000: 113–154); eine fundierte kritische Untersuchung aus anwendungsbezogener Perspektive bieten Johnson & Lappin (1997). Mit Grewendorf (2002, Kapitel 4–6) ist eine deutsche Einführung in den Minimalismus erschienen. Grewendorf berücksichtigt in seinem Werk außerdem die Publikationen Chomskys bis 2001. Das MP ist, wie der Name schon sagt, ein Programm, das als solches von seinen möglichen Implementierungen unterschieden werden muss: Als Programm beinhaltet es durchaus Widersprüche, die im Fall der Anwendung natürlich theoretisch zu klären und praktisch festzulegen sind; vgl. auch Chomsky (1998: 5): “One should bear in mind that it is a program, not a theory, even less so than the P&P approach.” Hier wird versucht, die minimalistische Terminologie, soweit möglich, adäquat in die deutsche Sprache zu übertragen. Meine terminologischen Äquivalente stimmen nicht unbedingt mit denen von Grewendorf (2002) überein. Chomsky (1995: 312): “The interface levels are the only levels of linguistic interpretation.”
53 Schnittstelle zum konzeptionell-intentionalen (K-I) System darstellt. Die Derivation einer bestimmten sprachlichen Äußerung stellt somit ein Paar, notiert als (π,λ), dar, welches bestimmten Bedingungen genau dieser Systemschnittstellen genügen muss. Die Kombination (π,λ) als erfolgreiches Ergebnis des Ableitungsmechanismus (Computation) einer natürlichen Sprache (CHL) stellt im Grunde den auf Satzebene erweiterten saussureschen Doppelaspekt des sprachlichen Zeichens als Signifiant und Signifié dar. Es gibt zahlreiche Bedingungen (Output Conditions), denen eine Ableitung in der PF und LF genügen muss, um zu konvergieren. Ansonsten wird sie nicht lizensiert, sie scheitert (Crash)5 (Chomsky 1995: 219-220). Diese Bedingungen sollen allgemeinen Ökonomieprinzipien menschlicher Kognition genügen und eine optimale Ableitung garantieren. Die Ökonomieprinzipien der Repräsentationsebenen (Economy of Representation) seien wie folgt kurz dargestellt. Zum einen gilt der Grundsatz der vollen Interpretierbarkeit (Principle of Full Interpretation): An element can appear in the representation only if it is properly ‘licensed’; there can be no superfluous symbols in representations. (Chomsky 1995: 151)
An den Schnittstellen dürfen also nur dort gültige und lizensierte Elemente auftauchen, während uninterpretierbare Elemente verboten sind.6 Zum anderen gilt das Prinzip der Inklusivität (Inclusiveness Principle): Any structure formed by the computation (in particular π and λ) is constituted of elements already present in the lexical items selected for N; no new objects are added in the course of computation apart from rearrangements of lexical properties (in particular, no indices, bar levels in the sense of x-bar theory...). (Chomsky 1995: 228)
D.h. im Laufe der Derivation darf nichts hinzugefügt werden, was nicht schon in den Lexikoneinträgen, so wie sie in die Enumeration N (Numeration) gelangen, vorhanden ist. Schließlich gilt es noch, das Ökonomieprinzip hinsichtlich der Ableitung (Economy of Derivation) einzuhalten, so dass sich im Falle mehrerer möglicher konvergierender Derivationen (lokal7) immer die ökonomischste Derivationsmöglichkeit durchsetzt, während dagegen die anderen Derivationen durch die Existenz der ökonomischeren blockiert werden (Chomsky 1995: 220). Der Ableitungsmechanismus wird von morphologischen Eigenheiten gesteuert,8 wobei diese hier als rein formale, d.h. abstrakte Merkmale zu verstehen sind, die vorerst nicht unbedingt lautlich sichtbare Entsprechungen haben müssen. Die rein syntaktische Ableitung –––––—– 5 6 7
8
Bei Grewendorf (2002: 108): “Sie kollabiert.” Wie ein Element lizensiert wird, beschreibt die Checking Theory, die Theorie vom Abgleich der Merkmale, vgl. 3.1.4. Vgl. Chomsky (1995: 220): “In syntax, crucial relations are typically local, but a sequence of operations may yield a representation in which the locality is obscured.” Auch Chomsky (1995: 227): “At a particular stage Σ of a derivation, we consider only continuations of the derivation already constructed – in particular, only the remaining parts of the numeration N.” Von einem auf globaler Ebene geltenden Ökonomieprinzip, wie es Johnson & Lappin (1997) für das MP annehmen, ist also nicht auszugehen. Vgl. Chomsky (1995: 312): “UG provides a unique computational system, with derivations driven by morphological properties to which syntactic derivation of languages is restricted.”
54 wird in sichtbare (overt) und verdeckte (covert) Syntax unterteilt. Beide werden durch den Zeitpunkt Spell-Out voneinander abgesetzt: Spell-Out bedeutet gewissermaßen die Fixierung allen lexikalischen Materials, das ab diesem Zeitpunkt nicht mehr durch Lexikonzugriffe (bzw. Zugriffe auf die Enumeration N) erweitert werden kann,9 sowie die Übergabe alles somit in seiner Position ebenfalls fixierten phonologischen Materials an das Modul Morphologie (hier im Sinne eines Moduls, das wortähnliche Einheiten schafft10) und an das Modul Phonologie, das schließlich die PF an die Schnittstelle A-P übergibt. Während vor Spell-Out in overter Syntax sichtbare Bewegung von Elementen möglich ist, ist nach SpellOut nur mehr verdeckte Bewegung von nicht-phonologischem Material möglich. Nach Spell-Out kann nicht mehr projiziert werden. Koverte Syntax findet also nach Spell-Out auf dem Weg zur LF statt, welche wiederum das Übergabeformat für die Schnittstelle K-I darstellt. Falls es also vor Spell-Out zu Bewegung kommen muss (vgl. das Prinzip Last Resort unter 3.1.4), gilt diese Bewegung immer für das dementsprechende Element als vollständigem Merkmalsbündel; nach Spell-Out dagegen ist diese quasi-atomare Einheit aufgehoben. Die Ableitung nach dem MP lässt sich also graphisch wie folgt darstellen:
–––––—– 9
10
Es wird – ebenfalls aus Ökonomiegründen – nicht mehr auf das Lexikon als Ganzes zugegriffen, sondern auf vorher selegierte und herauskopierte Teilmengen desselben, die Enumeration (vgl. dazu 3.1.2). Allerdings gibt es Ausnahmen, vgl. Chomsky (1995: 232): “Selection of LI [= Lexical Item] must be overt, unless LI has no phonological features. In this case LI can be selected covertly and merged.” Zu solchen Ausnahmefällen, wie z.B. verdecktem Merge von C, vgl. auch Fn. 43 und 49. Genau hier wird Chomskys Modell, was die Verortung der Morphologie betrifft, problematisch: “We call the subsystem of CHL that maps Σ to π the phonological component, and the subsystem that continues the computation from ΣL to LF the covert component. The pre-Spell-Out computation we call overt. Let us assume further that Spell-Out delivers Σ to the module Morphology, which constructs wordlike units that are then subjected to further phonological processes that map it finally to π, and which eliminates features no longer relevant to the computation” (Chomsky 1995: 229). Einerseits ist minimalistische Syntax morphologiegetrieben: Lexikalische Einträge kommen morphologisch voll spezifiziert in die Derivation. Andererseits wird das ‘Morphologie’ genannte Modul erst zwischen Spell-Out und dem phonologischen Modul verortet. Diese Fragen der Rolle und Definition dessen, was morphologisch ist, scheinen also nicht recht geklärt zu sein.
55 (3-1)
Die syntaktische Derivation im MP
Enumeration overte Syntax Spell-Out Morphologie koverte Syntax Phonologie PF
LF
3.1.2 Lexikon und Enumeration Das minimalistische Lexikon wurde bereits in Zusammenhang mit der Bedingung der Inklusivität angesprochen: Im Laufe der Derivation darf nichts hinzugefügt werden, was nicht bereits in den einzelnen Lexikoneinheiten zu finden ist, so dass auf den einzig relevanten Ebenen der PF und der LF alle im Lexikon vertretenen Merkmale im Grunde nur neu geordnet erscheinen.11 Diese Inklusivität ist allerdings nicht umkehrbar; zum einen befinden sich im Lexikon auch die funktionalen Kategorien als selbständige Einträge: Gängige funktionale Kategorien sind nur noch C, T und D und in gewissem Maße das kleine v der VP-Shell.12 Diese können aber nun sehr wohl Merkmale haben, die an den Schnittstellen nicht mehr auftauchen dürfen und im Laufe der Derivation gelöscht werden müssen. Zum anderen tragen auch die terminalen Symbole der lexikalischen Kategorien, so wie sie in die Derivation gelangen, bestimmte Merkmale, wie z.B. Kasus, die formal in der LF nicht interpretierbar sind und daher verschwunden sein müssen. Für die Generierung einer bestimmten sprachlichen Äußerung gelangen nun die einzelnen in ihr enthaltenen funktionalen und lexikalischen Kategorien als Instanzen von Merk–––––—– 11 12
Vgl. Chomsky (1995: 225): “The interface levels consist in nothing more than arrangements of lexical features.” Funktionale Kategorien sind eine in ihrer Anzahl geschlossene Gruppe. Sie haben keine rein lexikalisch-semantischen Merkmale, allerdings bedeutungsbestimmende Wirkung durch ihre Funktion als Informationsträger hinsichtlich zeitlicher, aspektueller, modaler, polaritätsbezogener, illokutionärer, definitsheitsbedingter, relationaler etc. Festlegungen. Sie sind nicht θ-relevant (im eigentlichen Sinne). Sie tragen Merkmale, die mit den formalen Merkmalen der lexikalischen Kategorien abgeglichen werden müssen. Sie können, müssen aber nicht phonologisch overt realisiert sein. Im MP ist eine eigene für Agreement zuständige Kategorie genommen hinfällig geworden, da sich Agreement-Phänomene über Merkmalsabgleich regeln lassen, vgl. 3.1.4. Während nämlich Tempusmerkmale selbstverständlich in T° stehen, Wh- oder allgemein den Satzmodus betreffende Merkmale natürlich in C° anzusiedeln sind und D° der Träger von Definitheitsmerkmalen ist, hat Agr° semantisch schlicht keine interpretatorische Relevanz (Chomsky 1995: 349).
56 malsbündeln in die so genannte Enumeration,13 d.h. eine Art Feld (Array)14 im Arbeitsspeicher, auf den im Laufe der Ableitung durch eine der syntaktischen Operationen, genannt Select, kontinuierlich zugegriffen werden kann. Mit jedem Zugriff wird das Feld reduziert, bis es schließlich leer ist.15 Die Frage, warum Select nicht direkt auf das gesamte Lexikon zugreift, kann damit beantwortet werden, dass nur durch die Beschränkung auf eine genügend kleine, sich beständig reduzierende Referenzmenge bestimmt werden kann, welche Derivation die ökonomischste ist. Ansonsten wäre der Rechenaufwand enorm, ähnlich als wollte man sich für jeden kleinen Rechenvorgang erst den Inhalt der gesamten Festplatte in den Arbeitsspeicher laden (Chomsky 1995: 227).16 Die einzelnen Lexikoneinträge bestehen aus formalen, phonologischen und semantischen Merkmalen (Features). Die phonologischen Merkmale sind syntaktisch nicht relevant und könnten dementsprechend auch einfach durch Identifikatoren ersetzt und erst im Modul der Phonologie als lautliche Merkmale eingefügt, d.h. manifest werden (dies ist ein Alternativvorschlag in Chomsky 1995: 239, der offensichtlich eine lexikalistische Phonologie bevorzugt). Ausschlaggebend für syntaktische Operationen in der Derivation sind die formalen Merkmale und ebenso die semantischen Merkmale, die in der syntaktisch relevanten θ-Theorie (vgl. Punkt 3.3) und bei der s-Selektion eine wichtige Rolle spielen. Mögliche θ-Rollen sind durch die semantischen Merkmale konditioniert, sie ergeben sich aber aus der syntaktischen Konfiguration im Zusammenspiel mit der Argumentstruktur von Prädikaten und erscheinen deshalb als solche nicht in einem Lexikoneintrag. Die treibenden Merkmale der Derivation sind die formalen Merkmale.17 Die formalen Merkmale nun lassen sich in verschiedene Typen unterteilen, nämlich: (3-2)
(a) (b) (c)
intrinsische vs. optionale Merkmale starke vs. schwache Merkmale interpretierbare vs. nicht-interpretierbare Merkmale
Die Unterscheidung (3-2)a betrifft Lexikon und Enumeration, (3-2)b und (3-2)c die syntaktische Derivation und deren Konvergenz. Die Typunterscheidung (3-2)a hat mit der abstrakten Seite der regelmäßigen Flexionsmorphologie zu tun: Während nämlich intrinsische Merkmale explizit im Lexikoneintrag stehen müssen oder durch diesen unmittelbar bedingt sind,18 werden optionale Merkmale, gesteuert durch universalgrammatische Prinzipien, dem Eintrag hinzugefügt. Die Auswahl dieser optionalen Merkmale ist durch die Sprecherintention bedingt; universalgrammatisch –––––—– 13 14 15
16 17 18
Bei Grewendorf (2002: 123): “Numeration.” Bei Grewendorf (2002: 122): “Lexikalische Kollektion.” Vgl. Chomsky (1995: 225):“Let us take numeration [N] to be a set of pairs (LI,i), where LI is an item of the lexicon and i is its index, understood to be the number of times that LI is selected. [...] CHL maps N to (π,λ). The procedure CHL selects an item from N and reduces its index by 1, then performing permissible computations [...]. The numerations of CHL recursively construct syntactic objects from the items in N and syntactic objects already formed.” Vgl. dazu die exponentiell ansteigenden Berechnungsergebnisse in Johnson & Lappin (1997). Genau diese werden von Chomsky (1995) auch als ‘morphologisch’ bezeichnet. Chomsky (1995: 231): “Listed explicitly in the lexical entry or strictly determined by properties so listed.”
57 ist, dass sie getroffen werden muss (Chomsky 1995: 237). Alle kategoriellen Merkmale, die Kasusvergabeeigenschaften19 von Prädikaten sowie die Genus und Person betreffenden Merkmale von Nomina sind intrinsisch. Tempus und ϕ-Merkmale von Verben (die für Kongruenzerscheinungen verantwortlich sind) sowie Numerus- und Kasusmerkmale von Nomen sind optional, d.h. nicht durch den Lexikoneintrag als solchen, sondern durch allgemeine derivationelle Prinzipien20 bedingt. Chomsky (1995) geht zunächst von einer Art Vollformenlexikon, genauer gesagt, von Vollformen in der Enumeration21 aus: In die Derivation gelangen alle Lexikonelemente (LI – Lexical Items), die sich als Vollformen, d.h. voll spezifizierte Merkmalsbündel in der Enumeration befinden. Dementsprechend muss angenommen werden, dass optionale Merkmale auf irgendeine nicht näher beschriebene Weise auf dem Weg vom Lexikon in die Enumeration zu den einzelnen Einträgen gelangen.22 Eine Alternative wäre, gerade diese optionalen Merkmale erst in der Ableitung selbst den Einträgen hinzuzufügen. Dies wird z.B. in der theorienahen Distributed Morphology (DM)23 angenommen, würde aber Chomskys Prinzip der Inklusivität widersprechen. Eventuell könnte man zumindest das Hinzufügen der phonologischen Widerspiegelung mancher Merkmale in das Modul Morphologie und Phonologie verlegen (vgl. Fn. 10).
–––––—– 19
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Als kasusvergabefähige Prädikate sind sowohl Verben als auch Nomen, Adjektive und Präpositionen anzusehen. Mit Kasus ist hier immer abstrakter Kasus gemeint, die morphophonologische Realisierung von Kasus gehört in andere Module des sprachlichen Systems. Z.B.: Alle NPs/DPs müssen Kasusträger sein (vgl. 3.3); finite Verben müssen T-gebunden sein (vgl. Kapitel 4); es gibt Verb-Subjekt-Kongruenzerfordernisse; Nomen sind mit [±Numerus] spezifiert etc. Versteht man das Lexikon, wie Chomsky es explizit tut, als “a list of ‘exceptions’, whatever does not follow from general principles” (1995: 235), dann dürfen die optionalen Merkmale dort nicht erscheinen. Direkt von Vollformenlexikon spricht Chomsky eigentlich nicht (1995: 237): “It is possible (and has been proposed) that nouns are automatically selected along with broader nominal configurations (involving Case, perhaps ϕ-features). That is a possibility but would require positive evidence. I will assume here the null hypothesis: case and ϕ-features are added arbitrarily as a noun is selected for the numeration.” Siehe auch Chomskys Bemerkungen zu Lexikoneinträgen von Verben (Chomsky 1995: 238–239). Vgl. Chomsky (1995: 236/237): “Suppose that book is chosen as part of the array from which a derivation proceeds to form PF and LF representations. I have described the choice of book as a two-step process: (1) form a numeration that includes ( book, i), with index i, and (2) introduce book into the derivation by the operation Select, which adds book to the syntactic objects generated and reduces its index by 1. The optional features of a particular occurrence of book (say, [accusative], [plural]) are added by either step (1) or step (2) – presumably by step (1), a decision that reduces reference sets and hence computability problems. [...] N will include [book, [accusative], [plural], 2].” Natürlich stellt sich hier die Frage nach der Rolle der Enumeration in Bezug auf das Lexikon: Stellt sie eine weitere syntaktische Darstellungsebene dar? Ein theoriekonsistenter Ansatz würde darin bestehen, E (Enumeration – Numeration) parallel zu LF für K-I und PF für A-P als Schnittstellenrepräsentation des Lexikons gelten zu lassen. Vgl. Halle & Marantz (1993). Natascha Pomino verdanke ich den Hinweis, dass es sich bei der Distributed Morphology eigentlich eher um Distributed Access to the Lexicon handelt.
58 Die Typunterscheidung (3-2)b betrifft im Grunde nur funktionale Kategorien (vgl. 3.1.4), denn nur hier kann es starke Merkmale geben.24 Diese spielen bei der Checking Theory, der Theorie vom Merkmalsabgleich (vgl. 3.1.4), eine Rolle. Bei lexikalischen Kategorien können bestimmte Merkmale nur auftauchen oder nicht, aber es gibt keine weitere Differenzierung nach Stärke und Schwäche. Die Typunterscheidung (3-2)c betrifft das Prinzip der Full Interpretation, der vollständigen Interpretierbarkeit: Interpretierbare Merkmale sind an den jeweiligen Schnittstellen relevant und sichtbar. Daher dürfen in der PF nur mehr die phonologisch interpretierbaren Merkmale auftauchen, in der LF nur mehr die logisch interpretierbaren. Interpretierbare Merkmale bleiben von der Enumeration bis zu den Schnittstellen A-P und K-I erhalten, werden im Verlauf der Derivation nicht gelöscht und unterliegen dadurch einer gewissen Zyklizität im Rahmen der Checking Theory. Nicht interpretierbare Merkmale dagegen dürfen an den Schnittstellen nicht mehr auftauchen, müssen daher also gelöscht worden sein, woraus sich auch ergibt, dass sie nur einmal überprüft werden können. Hier eine Übersicht über mögliche Merkmalstypen (nur formale Merkmale, die für die hier behandelten Sprachen angenommen werden): (3-3)
Typen von formalen Merkmalen
Typ intrinsisch
Merkmale - Alle kategoriellen Merkmalsbezeichner: V, N, P, A, D … - Bei N: Person, Genus - Bei V: Kasus
optional
- Bei N: Numerus, Kasus - Bei V: ϕ, Tempus, ...
stark
- Starke kategorielle Merkmale in den funktionalen Kategorien
schwach
- Alle anderen kategoriellen Merkmale in den funktionalen Kategorien
interpretierbar
- Alle kategoriellen Merkmalsbezeichner: V, N, P, A, D ... - Bei N: Person, Genus, Numerus, inhärenter Kasus
nicht-interpretierbar
- Starke kategorielle Merkmale in den funktionalen Kategorien - Bei N: struktureller Kasus - Bei V: ϕ
Auf eine Matrix von voll spezifizierten Lexikoneinträgen, die sich in der Enumeration befinden, kann durch die Operation Select ständig zugegriffen werden, um syntaktische Objekte bzw. Projektionen aufzubauen, bis die Enumeration leer ist und der Zeitpunkt Spell-Out gekommen ist. Genau damit ist der Zugriff auf Material aus dem Lexikon in der Enumeration abgeschlossen, die atomare Einheit der Merkmalsbündel kann aufgehoben werden und die Verzweigung zu den beiden relevanten Schnittstellenrepräsentationen der PF und der LF zum Tragen kommen. Zum Zeitpunkt Spell-Out darf außerdem nur mehr ein einzelnes syntaktisches Objekt vorhanden sein. Zum Aufbau desselben sind weitere –––––—– 24
Vgl. auch Chomsky (1995: 231): “If F is strong, then F is a feature of a nonsubstantive category.” Und Chomsky (1995: 277): “Strong F when F is categorial.”
59 syntaktische Operationen nötig, nämlich Merge und Move, die im Folgenden beschrieben werden. 3.1.3 Die syntaktischen Operationen Merge und Move Die einzelnen Lexikonelemente der Enumeration können bei Bedarf projizieren, d.h. neue leere syntaktische Positionen zur Verfügung stellen. Maximale Projektionen projizieren nicht weiter.25 Die durch Projektion entstandenen Phrasen werden mit Hilfe der syntaktischen Operationen Merge und Move zu immer neuen syntaktischen Objekten verbunden. Merge26 bedeutet das Einsetzen der durch Select aus der Enumeration geholten Elemente in die syntaktische Derivation, wobei durch Verbindungen zweier syntaktischer Objekte neue syntaktische Objekte entstehen. Merge ist eine Operation, die stets an der Wurzel eines Phrasenstrukturbaumes zum Einsatz kommt (Chomsky 1995: 248). Sie ist ebenso wie die Operation Select mit keinem ‘Kostenaufwand’ verbunden, daher als syntaktische Operation ökonomisch27 und allen anderen mit Aufwand verbundenen Operationen vorzuziehen (Chomsky 1995: 226). Es gibt nun für Merge zwei Möglichkeiten, nämlich Merge durch Substitution (vgl. (3-4)a: hier substituiert YP den Spezifizierer der XP) und Merge durch Adjunktion (vgl. (3-4)b: hier adjungiert Y° bzw. YP an X° bzw. XP). Beide Möglichkeiten sind insofern asymmetrisch, als an der Wurzel des neuen syntaktischen Objekts28 immer nur der kategorielle Name eines der beiden durch Merge verbundenen Objekte stehen kann:29 –––––—– 25
26
27 28
29
Nach der Philosophie der Bare Phrase Structure (vgl. Chomsky 1995b) gibt es keine maximalen Projektionen im Sinne der X-Bar-Theorie mehr; es gibt nur Phrasenstrukturen, die nicht mehr projizieren und Phrasenstrukturen, die noch projizieren können; vgl. Chomsky (1995: 220): “There are no conditions relating lexical properties and interface levels, such as the Projection Principle.” Projektion ist also kein universelles und allgemeines Prinzip mehr, sondern ein fakultativer Mechanismus, der nach Bedarf zum Einsatz kommt. Aus Gründen der Lesbarkeit der Strukturen werden in der vorliegenden Arbeit die einzelnen Bar-Ebenen weiterhin entsprechend dem X-Bar-Schema markiert. Bei Grewendorf (2002: 121): “Verkettung.” Diese Bezeichnung ist aus folgenden Gründen unglücklich gewählt: Zum einen drückt ‘Verkettung’ die Involviertheit mehrerer Elemente aus, während doch Merge ein strikt binäres Prinzip darstellt; zum anderen ist der Terminus der ‘Kette’ in der Generativen Grammatik schon belegt. Aber jedoch nicht absolut ökonomisch, da auch bei Merge, wenn möglich, das Prinzip des Hinauszögerns (Procrastinate) gilt. Eine durch Adjunktion affigierte Phrasenstruktur bleibt in ihrer Projektionsstruktur unverändert, d.h. sie stellt kein wirklich neues Objekt dar, sondern ein zweifach segmentiertes (Chomsky 1995: 190–191; 248). Eine natürliche Entsprechung dieser Projektionsmechanismen ist das Linear Correspondence Axiom (LCA) nach Kayne (1994), das aus binär verzweigenden Strukturen eine feste lineare Reihenfolge der terminalen Symbole der Ableitung herleitet. In Kaynes Antisymmetry wird allerdings auch der strukturelle Unterschied zwischen Spezifikator- und (maximalen) Adjunktpositionen aufgehoben, indem nur noch Linksadjunktion erlaubt ist und von einer universalen Reihenfolge Spezifikator-Kopf-Komplement ausgegangen wird (vgl. dazu auch Chomsky 1995: 334–340; 248).
60 (3-4)
Merge durch Substitution vs. Merge durch Adjunktion (a)
X°
(b)
XP
X°
Y° YP
X XP X°
ZP YP
XP
Die zweite für den Aufbau von syntaktischen Objekten relevante Operation ist Move. Diese ist dafür verantwortlich, dass sich bereits in der Derivation befindliche terminale Elemente innerhalb des bereits abgeleiteten syntaktischen Objekts aufsteigend30 bewegen können.31 Diese terminalen Elemente bestehen, so wie sie aus der Enumeration kommen, aus Merkmalsbündeln. Es hängt nun von dem Zeitpunkt ab, zu dem Move stattfindet, ob alle Merkmale oder nur Teile des Bündels bewegt werden: Vor Spell-Out müssen unweigerlich alle Merkmale in ihrer Gesamtheit bewegt werden, da sich das Bündel noch in einer Art atomaren Zustand befindet. Es handelt sich also um sichtbare Bewegung (overte Syntax). Nach Spell-Out können nur mehr semantische und formale Merkmale bewegt werden, die phonologischen Merkmale sind bereits positionell fixiert; es handelt sich daher um verdeckte Bewegung (koverte Syntax). Move betrifft in jedem Fall nur das Bewegen von Merkmalen, denn andere als aus Merkmalen bestehende Elemente dürfen sich nicht in der Derivation befinden. Diese Operation wird daher auch Move F genannt (mit ‘F’ für Feature, vgl. Chomsky 1995: 265). Auch für Move gibt es zwei Möglichkeiten, nämlich Move durch Substitution und Move durch Adjunktion. Im Gegensatz zu Merge entstehen durch Move keine neuen Objekte; es wird auch kein weiteres Element in die Derivation gebracht, d.h. das syntaktische Objekt bleibt dasselbe. Das bewegte Element in seiner neuen Position und die Position, aus der es bewegt wurde, (bzw. die dort verbliebene Kopie) bilden eine Kette (Chain).32 Move ist keine ökonomische Operation; deshalb wird sie vermieden oder, so lange es geht, hinauszögert (Procrastinate33) und nur als letzte Rettungsmöglichkeit (Last Resort34) der Derivation eingesetzt. –––––—–
30 31
32 33
Durch die hier vorliegenden aus dem MP übernommene Unterscheidung in kategorielle Position vs. Segmentierung bleiben Spezifikatoren und Adjunkte strukturell unterscheidbar. Eine Art Lowering, wie das Affix Lowering im P&P für das Englische, ist also nicht möglich; die Gründe dafür erklärt die Checking Theory (vgl. 3.1.4). Mensching (2003) erklärt Move derart, dass es als eine weitere Möglichkeit von Select gesehen werden kann: Statt eines erneuten Zugriffs auf die Enumeration wird nun eben auf das schon bestehende syntaktische Objekt durch Select zugegriffen; das selegierte Objekt wird durch einen Kopiermechanismus gedoppelt und an neuer Stelle in der Derivation wieder eingesetzt. Wichtig ist diese Doppelung in jedem Falle auch für die Interpretation auf LF: Bleibt in der Originalposition eine Kopie vorhanden, erübrigt sich das aufwendige Rekonstruieren der semantischen Merkmale, die sich ja mit bewegt haben, aber in der Basisposition interpretiert werden müssen; zur Interpretation von Move als Kopiermechanismus vgl. auch Chomsky (1995: Kap. 3.5). Für eine detailliertere Diskussion, vgl. Chomsky (1995: 252). Bei Grewendorf (2002): “Verzögerungsprinzip.”
61 Move ist morphologie-, d.h. merkmalsgetrieben.35 Merkmale müssen je nach Typ überprüft, eventuell auch aus der Derivation gelöscht werden. Die Bedingungen, die für den Merkmalsabgleich eine Rolle spielen, werden in der Checking Theory (vgl. 3.1.4) beschrieben. Wichtige Bedingungen für Move und die daraus entstehenden Ketten sind: (3-5) (3-6) (3-7) (3-8)
C-Kommando36 Minimal Link Condition (MLC)37 Chain Uniformity38 Last Resort39
Eine weitere Neuerung des vierten Kapitels von Chomsky (1995) ist die Annahme, dass die funktionalen Kategorien mehr als einen Spezifikator projizieren können. Das Projektionsprinzip gemäß dem X-Bar-Schema ist im MP aufgehoben: Spezifikatorpositionen werden nur projiziert, wenn sie für Merge oder Move durch Substitution tatsächlich gebraucht werden. Da für offensichtliche Fälle von Objektanhebung, d.h. die Positionierung des Objekts vor der VP, eine weitere syntaktische Position über dem Subjekt benötigt wird,40 geht Chomsky von der Annahme aus, dass ebenso wie keine einzige auch zwei Spezifikatorposi–––––—– 34 35 36
37
38
39
40
Zur Definition von Last Resort, vgl. Fn. 48. Mit morphologischen Merkmalen sind weiterhin immer nur die syntaktisch relevanten formalen Merkmale gemeint. Dies ist eine altbekannte Bedingung: Das bewegte Element muss seine Spur c-kommandieren (vgl. Chomsky 1995: 253); Abwärtsbewegung ist daher von vorneherein ausgeschlossen. Aufgrund der binären Struktur der Ableitung, so wie sie durch kontinuierliches Anwenden der Operationen Select, Merge und Move entsteht, kann das C-Kommando auch durch das “Prinzip des unzweideutigen Pfades”, der zwischen bewegtem Element und Spur bestehen muss, ersetzt werden (vgl. Kayne 1981). Die MLC schränkt Bewegungen auf so kurz wie möglich zu haltende Pfade ein: Ein Element kann nur in eine bestimmte Zielposition bewegt werden, wenn es keine weitere legitime Bewegung eines anderen Elements in diese Zielposition gibt, das näher an der Zielposition liegt (vgl. Chomsky 1995: 311). Dabei gilt aber auch die Bedingung, dass zwei Zielknoten als gleichberechtigt in ihrer Entfernung (äquidistant) zu dem sich bewegenden Element gelten, wenn sie sich in derselben minimalen Domäne befinden (Chomsky 1995: 184). Die Definition einer minimalen Domäne lautet in etwa: Man nehme die kleinste Untermenge der Mitglieder einer auf einen Kopf X bezogenen Funktion (maximalen Projektion, d.h. zu diesem Kopf gehörigen Domäne), die zu Mitgliedern dieser Funktion in reflexiv dominiertem Verhältnis stehen (vgl. Chomsky 1995: 178; 299); kurz: man nehme alle Knoten, die von irgendeinem Teil von X dominiert werden. In Chomskys Verständnis der minimalen Domäne allerdings kann diese auch derivationell durch Bewegung extendiert werden; zu einer Position, die diese Möglichkeit ausschließen möchte, vgl. z.B. Ura (2000). Diese Bedingung ist auch bereits aus dem P&P-Modell bekannt (vgl. Chomsky 1986a) und fordert, dass der formale und die Kategorie betreffende Informationsgehalt der Elemente einer Kette identisch sein muss (vgl. Chomsky 1995: 91). Last Resort besagt, dass Bewegung nur aus dem Grund erfolgen darf, dass dadurch eine Konstellation zustande kommt, in der Merkmale überprüft werden können, die überprüft werden müssen (vgl. Chomsky 1995: 280). Last Resort betrifft damit eines der Grundprinzipien der Theorie vom Abgleich der Merkmale, die in 3.1.4 dargestellt werden wird, vgl. auch Fn. 48. So genannte Multiple Subject Constructions (MSC), vgl. Chomsky (1995: 341).
62 tionen projiziert werden können (Chomsky 1995: 354–356). Anstatt also immer weitere funktionale Knoten anzunehmen, die weitere Spezifikatorpositionen als Landeplätze nach Bewegung zur Verfügung stellen, wie es im P&P-Ansatz gemacht wurde, bleibt das MP bei der minimalen Lösung, mehrfache Spezifikatoren in der Projektion einer einzigen funktionalen Kategorie zuzulassen. Mehrfachspezifikatoren kann es nur bei funktionalen Kategorien geben, da nur diese mehrere starke Merkmale haben können, die in solchen Positionen abgeglichen werden müssen (vgl. 3.1.4). Die Struktur einer Konstruktion mit mehreren Spezifikatoren sieht folgendermaßen aus: (3-9)
Mehrfachspezifikatoren XP Spec2
X' X'
Spec1 X°
ZP
Multiple Spezifikatorpositionen schaffen also im Rahmen des MP weitere Landeplätze für maximale Projektionen in der Derivation.41 3.1.4 Checking Theory – Die Theorie vom Merkmalsabgleich Die Checking Theory, die Theorie vom Abgleich der Merkmale, ist das Kernstück des MP. Auch Move hängt unmittelbar mit der Notwendigkeit zusammen, dass Merkmale überprüft, d.h. gegeneinander abgeglichen werden müssen. Denn der Abgleich kann nur in einer dafür geeigneten lokalen Konfiguration (Checking Configuration)42 und nur nach Bewegung erfolgen.43 –––––—– 41 42
43
Sie ersetzen dadurch auch die durch die Abschaffung von Agr verlorengegangenen Positionen. Die Checking Domain eines Knoten α ist die maximale Domäne (“the least full-category maximal projection dominating α”) des Knotens ohne den Knoten selbst (“set of nodes contained in Max(α) that are distinct from and do not contain α”) minus seiner Komplementdomäne (“subset of the domain reflexively dominated by the complement of the construction”) (vgl. Chomsky 1995: 177–179, d.h. das dritte Kapitel). Überprüfen eines Merkmals eines Knotens geschieht vornehmlich in dessen Spezifikatorpositionen (bei maximalen Projektionen) oder eben in Adjunkt- bzw. Inkorporationsstrukturen (bei Köpfen). Relevant für den Merkmalsabgleich sind also Spezifikator-Kopf- und Kopf-Kopf-Konfigurationen. Diese Aussage muss dahingehend differenziert werden, dass sie nur für Argumente gilt: “Arguments (and operator phrases constructed from them) satisfy the Chain Condition nontrivially; an argument is a nontrivial chain CH = (α, t) where α has raised for feature checking and t is in a θposition” (Chomsky 1995: 311/312). Merkmalsabgleich in Zusammenhang mit Argumenten geht also nur nach (overter oder koverter) Bewegung. Dies ist schließlich vor allem für das Subjekt im Spezifikator der VP-Shell (vgl. dazu 3.2) relevant. Nicht-Argumente (v.a. Elemente ohne semantischen Gehalt) können auch durch Merge überprüft werden, vgl. Chomsky (1995: 235), z.B. beim
63 Wenn zwei gegeneinander abzugleichende Merkmalsbündel ganz oder in Teilen nicht zusammenpassen (Match), weil sie sich widersprechen (Mismatch), ist die Derivation endgültig fehlgeschlagen (Cancelled) und es ergibt sich eine ungrammatische Äußerung. Wenn dagegen Merkmale, die notwendigerweise überprüft werden müssen, in einer Derivation nicht abgeglichen werden konnten (Nonmatch), konvergiert die Derivation nicht, sondern es kommt zum Crash, d.h. einem vorläufigen Scheitern der Derivation; die Derivation ist aber hier noch nicht endgültig fehlgeschlagen, denn es kann mit alternativen syntaktischen Operationen versucht werden, eine andere schließlich konvergierende Derivation aufzubauen (Chomsky 1995: 309). Das Überprüfen von Merkmalen hat in manchen Fällen auch deren Löschen zur Folge. Dabei gilt es folgende Unterscheidungen zu treffen: − − −
−
Interpretierbare Merkmale können (auch mehrmals), müssen aber nicht abgeglichen werden, da sie in der LF sichtbar sein dürfen; eben deshalb werden sie auch nach einem eventuellen Überprüfen nicht gelöscht.44 Nicht-interpretierbare Merkmale müssen abgeglichen und gelöscht werden, da sie in der LF nicht sichtbar sein dürfen.45 Starke Merkmale müssen abgeglichen und gelöscht werden, und zwar vor Spell-Out, denn starke Merkmale wären im Gegensatz zu den ‘schwachen’ auch in PF sichtbar, was zum Scheitern führen würde (Chomsky 1995: 198). Die Folge ist overte Bewegung. Starke Merkmale können nur kategorielle Merkmale der funktionalen Kategorien sein,46 so z.B. ein starkes [V]-Merkmal in T, das Verbbewegung hervorruft. Starke Merkmale sind immer nicht-interpretierbar. Nicht-interpretierbare schwache Merkmale werden spätestens nach Spell-Out, d.h. verdeckt abgeglichen (wenn nicht vorher als Free Riders, d.h. als mit der Operation Move mitlaufendes Material).
Alle in der Enumeration befindlichen Merkmale gelangen in die Derivation, aber nicht alle sind an den Schnittstellen sichtbar. Es gilt weiter die Bedingung der Full Interpretation, d.h. in der PF und der LF dürfen keine nicht an den entsprechenden Schnittstellen interpretierbaren Merkmale mehr vorkommen. Select bringt nun also immer weitere Merkmalsbündel in die Derivation. Durch Merge werden diese zu syntaktischen Objekten zusammenge–––––—–
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46
Einsetzen eines Expletivums in There arrived a letter, um das starke [D]-Merkmal in T° abzugleichen (vgl. Ledgeway 2000a: 144). Chomsky (1995: 280) macht die etwas missverständliche Unterscheidung zwischen Delete (als Folge jeden Merkmalsabgleichs) und Erase (eine weitere Operation, die das Merkmal endgültig oder ‘stärker’ löscht). Ähnliches gilt natürlich für die PF: Auch hier dürfen phonologisch nicht-interpretierbare Merkmale nicht mehr sichtbar sein, sondern nur rein phonologisch interpretierbare, s. den folgenden Punkt. Was “phonologisch interpretierbar” im Detail bedeuten mag, kann hier nicht geklärt werden. “If F is strong, then F is a feature of a nonsubstantive category and F is checked by a categorial feature. […] nouns and main verbs do not have strong features, and a strong feature always calls for a certain category in its checking domain” (Chomsky 1995: 232). Die Frage ist, ob diese starken kategoriellen Merkmale reine kategorielle Namen darstellen oder ob sie auch noch spezialisiert sein können, d.h.: Kann es anstatt eines starken [V]-Merkmals z.B. auch ein starkes [V]Merkmal mit der Eigenschaft [+T] geben?
64 fügt. Sobald ein starkes Merkmal in dem selegierten Merkmalsbündel vorkommt, muss es abgeglichen werden: Es löst also eine weitere syntaktische Operation aus, entweder weiteres Merge47 oder Move (Chomsky 1995: 235). Move unterliegt der Bedingung von Last Resort: Es darf nur operieren, um eine geeignete Konfiguration für Merkmale zu schaffen, die überprüft werden müssen, ohne Bewegung aber nicht überprüft werden können. Der Auslöser für sichtbare und verdeckte Bewegung von Merkmalen liegt also allein in der Tatsache, dass sie in einer geeigneten Konstellation überprüft werden müssen, die ohne Move nicht gegeben ist.48 In jedem Fall wird versucht, Move solange wie möglich hinauszuzögern (Procrastinate49). Ein starkes Merkmal muss jedoch immer an der Wurzel,50 d.h. solange die es beinhaltende Kategorie noch projizieren kann, abgeglichen werden,51 kann daher nicht weiter auf die koverte Syntax verschoben werden: Falls nicht das ‘kostenlose’ Merge (im Falle von Nicht-Argumenten) Abhilfe schafft, bleibt nichts anderes als Move. Ein typischer Fall von sichtbarer Bewegung liegt im finiten italienischen Hauptsatz vor: Nehmen wir an, dass die gesamte VP52 schon erfolgreich mit Hilfe von Select und Merge aufgebaut worden ist und nun finites T° aus der Enumeration selegiert und die VP in dessen projizierte Komplementposition eingesetzt wird. T° hat aber ein starkes [D]-Merkmal und ein starkes [V]-Merkmal. Das letzte sich in der Enumeration befindliche Element, C°, kann aber keines dieser Merkmale abgleichen und würde zudem, wenn es selbst eine Komplementposition projizierte, in die die vorhandene TP durch Merge eingefügt werden könnte, overten Merkmalsabgleich in T° verhindern, da T° selbst so nicht mehr projizieren kann. Die Derivation würde scheitern. Also muss mit Last Resort das entsprechende starke Merkmal durch Move überprüft werden: Das starke [D]-Merkmal wird durch Substitution einer projizierten [Spec, T] durch die aus der VP herausbewegten Subjekt-DP abgeglichen, das starke [V]-Merkmal durch Verbbewegung mit Kopf-Adjunktion (Inkorporation) an T°. Da eigentlich das starke Merkmal selbst als Auslöser für diese Operation verantwortlich ist, wird statt von Move auch von Attract gesprochen. Aber nicht nur das für den Abgleich notwendigerweise bewegte [D]- oder [V]-Merkmal wird angezogen, sondern es werden aufgrund der Unzerteilbarkeit des Merkmalsbündels vor Spell-Out alle anderen formalen, phonologischen und semantischen Merkmale mitbewegt (auch Pied-Piping – das Ratten–––––—– 47
48 49
50 51
52
Dies steht zu der verallgemeinernden Behauptung im Widerspruch, dass nur nach Bewegung abgeglichen werden kann. Die Auflösung dieses Widerspruchs ist, dass Nicht-Argumente auch direkt durch Merge eingefügt werden können, um Merkmale abzugleichen. Vgl. auch Fn. 43. Chomskys Definition von Last Resort: “Move F raises F to target K only if F enters into a checking relation with a sublabel of K” (Chomsky 1995: 280). Procrastinate gilt auch für Merge; kovertes Einfügen durch Merge ist aber ein Sonderfall, da ja nach Spell-Out nicht mehr auf die Enumeration per Select zugegriffen werden kann – es sei denn, es handelt sich um ein Merkmalsbündel mit leeren phonologischen Merkmalen (Chomsky 1995: 232), vgl. Chomsky (1995: 292): “Furthermore, covert insertion is necessary on ground of economy, if we assume that Procrastinate holds for Merge as well as Move.” Dies spielt eventuell eine Rolle bei dem Einfügen durch Merge von C. Gemeint ist natürlich die Wurzel (im Gegensatz zu den Zweigen) von Strukturbäumen. Chomsky (1995: 234): “Nothing can join to a nonprojecting category.” Chomsky (1995: 235): “If α has a strong feature F, it triggers an operation OP that checks F before the formation of a larger category that is not a projection of α. The operation may be Merge or Move.” Chomsky (1995: 294): “Let us assume, then, that covert insertion of strong features is indeed barred.” Zum Aufbau der VP bzw. ihrer Shell, vgl. 3.2.
65 fängersyndrom – genannt). Diese overten Bewegungen bedeuten also immer Bewegung des gesamten Merkmalsbündels. Dadurch werden ‘nebenbei’ (als so genannte Free Riders) auch andere Merkmale abgeglichen: Diejenigen der ϕ-Merkmale, die für Subjekt-VerbKongruenz zuständig sind, können mit der Subjekt-DP in [Spec, T] und dem an den Kopf T° adjungierten V° abgeglichen werden, da sie sich so in einer geeigneten lokalen Konfiguration (Checking Domain, vgl. Fn. 42) befinden. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Merkmale nicht inkompatibel sind, denn sonst würde die Derivation endgültig scheitern und es ergäbe sich eine ungrammatische Äußerung. Ebenso kann auch der Nominativkasus der Subjekts-DP mit dem Nominativmerkmal in T° (das als finites T° für Nominativkasus zuständig ist) abgeglichen werden. Die nicht-interpretierbaren Merkmale werden dabei nicht nur abgeglichen, sondern auch gelöscht, d.h. sie sind für weitere syntaktische Operationen nicht mehr sichtbar (ebensowenig also in der LF): Neben den starken Merkmalen von T° sind das hier auch die ϕ-Merkmale des Verbs sowie die Kasusmerkmale. Die temporale Bedeutung von T° selbst dagegen ist interpretierbar. Ebenso sind die kategoriellen Merkmale des Verbs und der DP in der LF interpretierbar, können daher sichtbar bleiben und sogar mehrmals überprüft werden. Im Falle verdeckter Bewegung stellt sich der Merkmalsabgleich folgendermaßen dar: Im Englischen z.B. hat finites T° nur ein starkes Merkmal, nämlich das [D]-Merkmal, das, wie im Italienischen, durch Subjektbewegung abgeglichen wird, während das [V]-Merkmal schwach (bzw. nicht stark) ist. Die für Verb-Subjekt-Kongruenz zuständigen Merkmale bleiben zunächst ungeprüft, da sich das Verb nicht aus der VP herausbewegt. In der LF dürfen diese Merkmale aber nicht mehr sichtbar sein, da sie nicht-interpretierbar sind. Daher müssen sie verdeckt in der koverten Syntax abgeglichen werden. Dann ist die atomare Einheit der Merkmalsbündel aufgehoben, die phonologischen Merkmale sind fixiert, so dass sich nur noch die formalen und semantischen Merkmale bewegen können. Genau diese Merkmale des Verbs bewegen sich also verdeckt nach T° und werden dort an T° adjungiert, abgeglichen und, falls nicht-interpretierbar, gelöscht. Koverter Abgleich kann nur durch Adjunktion passieren (Chomsky 1995: 271). Offensichtlich gilt allerdings auch hier eine Art Pied-Piping, obwohl es eigentlich nur die ϕ-Merkmale sind, die tatsächlich abgeglichen werden müssen.53 3.1.5 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde versucht, in möglichst textnaher Auslegung an Chomsky (1995) eine Darstellung der wichtigsten Konzepte des MP zu liefern. Es wurden die Grundprinzipien des minimalistischen Syntaxmoduls herausgearbeitet: Die aus dem Lexikon in der Repräsentationsform der Enumeration erhaltenen Informationen werden mit Hilfe syntaktischer Operationen auf die Schnittstellenrepräsentation LF für das Moduls K-I und die Schnittstellenrepräsentation PF für das Moduls A-P abgebildet. Dabei gelten bestimmte Wohlgeformtheitsbedingungen, die auch auf den Schnittstellenebenen erfüllt sein müssen. –––––—– 53
Vgl. auch Chomsky (1995: 266) selbst sowie Chametzky (2000), der zu Recht meint, dass dies eigentlich dem geforderten Ökonomieprinzip des MP widersprechen würde. Pied-Piping ist auch in den anderen Fällen nicht ökonomisch, aber notwendig zur Konvergenz, vgl. Chomsky (1995: 266).
66 Das MP stellt eine Fortsetzung des P&P-Modells dar, auch wenn bestimmte Konzepte als nicht mehr gültig verworfen wurden. Im Grunde versucht das MP, eine Fixierung der syntaktischen Algorithmen in Form von wenigen, stets dem Ökonomieprinzip genügenden Operationen zu erreichen. Kritik am MP wendet sich oft einerseits eben gegen dieses Ökonomieprinzip als der menschlichen Sprache nicht angemessen (vgl. z.B. Johnson & Lappin 1997), andererseits aber auch gegen die Komplexität der Checking Theory als nicht wirklich minimalistisch (vgl. Chametzky 2000). Das MP kann jedoch keinesfalls als fertiges theoretisches Modell betrachtet werden: Viele Punkte bedürfen einer weiteren Klärung, oft auch Modifikation. Eine Kritik des MP soll und kann hier nicht versucht werden. Vielmehr soll das MP – immer vor dem Hintergrund bereits vorliegender Forschungen – einen theoretischen Ausgangspunkt bieten, mit Hilfe dessen Hilfsverben syntaktisch untersucht und formalisiert werden können, sodass einzelsprachliche (vorerst synchrone) Parametrisierungen lokal herausgearbeitet werden können. Der Status des MP als programmhafte Darlegung hat zur Folge, dass in den nächsten Unterkapiteln für die Analyse der Hilfsverbkonstruktionen relevante Probleme und Konsequenzen des MP genauer untersucht und dargestellt werden müssen. Dabei werden auch Modifikationen des MP vorgeschlagen.
3.2
Die VP-Shell als Prädikationsphrase
Larson (1988) führte mit seiner Untersuchung von Doppelobjekt-Konstruktionen im Englischen eine so genannte Shell für die Verbalphrase ein: Hierbei handelt es sich um ein Schalenmodell, bei dem sich die Verbalphrase in zwei Schichten darstellt, einer eigentlichen VP und einer zweiten darüberliegenden VP, welche die untere als Komplement nimmt. Jeder der beiden V-Köpfe kann nur ein Komplement haben (Single Complement Hypothesis).54 Der Grundgedanke ist, dass die VP selbst bereits eine satzartige Struktur darstellt, wobei die internen Argumente des Verbs nun innerhalb der VP-Shell quasi Satzfunktionen übernehmen, und zwar das direkte Objekt Subjektfunktion im Spezifikator, das indirekte (PP-)Objekt Objektfunktion als Komplement der unteren VP, während das externe Argument als Spezifikator der oberen VP die gesamte VP als Prädikat hat (vgl. Larson 1988: 342). Darüber hinaus muss sich das Verb aus Gründen der θ-Rollenvergabe an das Subjekt in [Spec, V] aus der unteren VP in die obere V-Kopfposition bewegen (Larson 1988: 343). So genannte Dative-Shift-Phänomene erklärt Larson mit einer zum Passiv parallel gesetzten Kasusabsorption für das indirekte Objekt: Ein präpositionsloses indirektes Objekt ist zunächst kasuslos. Es erhält erst Kasus, wenn es sich in die Position des direkten Objekts bewegt, nämlich die des Spezifikators der unteren VP, einer Position mit subjektähnlichen Eigenschaften. Das direkte Objekt selbst muss dann, wie das logische Subjekt beim Passiv, in einer – allerdings nicht optionalen – Adjunktposition erscheinen. Diese VP-Shell-Darstellung wurde von Chomsky (1995) in das MP übernommen: Im ersten Kapitel, das noch das P&P-Modell rekapituliert, gibt er eine kurze Darstellung von –––––—– 54
Diese Hypothese ist heute in Form der Forderung, dass es nur binäre Strukturen geben darf, allgemein anerkannt (vgl. auch Kayne 1994).
67 Larsons These, wobei er explizit auch auf einen weiteren von Larson entwickelten Aspekt verweist. Die VP-Shell selbst ist zwar der Ort der Vergabe der θ-Rollen, dennoch muss die Komplementposition eines Verbs nicht unbedingt immer θ-relevant sein. Sie ist zwar eine mögliche, aber nicht immer eine tatsächliche θ-Position.55 Das hat zur Folge, dass es durchaus legitim ist, dass in dieser lokalsten Relation zum Verb ein Adverb oder auch eine adverbiale Bestimmung stehen kann.56 Larsons Vergleich mit dem Passiv hingegen wird von Chomsky nicht übernommen. Im vierten Kapitel des MP wird aber die VP-Shell wieder aufgenommen und, basierend auf Baker (1988) und Hale & Keyser (1993b), die im folgenden kurz skizziert werden, als Grundlage für die weitere Entwicklung des späteren Minimalismus genommen (Chomsky 1995: 180–186; 305–316).57 Baker (1988) behandelt die Phänomene und Prinzipien der Inkorporation: Inkorporationsstrukturen sind Kopf-zu-Kopf-Adjunktionen. Das Ergebnis der Adjunktion hat natürlicherweise den selben Kopf-Status des inkorporierenden Kopfes. Der inkorporierte Kopf wurde meist vor seiner Inkorporation bewegt. Innerhalb des P&P-Modells ergab sich durch Inkorporation die Möglichkeit, den Barrierenstatus der maximalen Projektion eines bewegten und inkorporierten Elements aufzuheben. Im MP dagegen, wo Rektion und damit auch durch Barrieren verhinderte Rektion kein gültiger Mechanismus mehr ist, kann durch Bewegung und Inkorporation die minimale und dadurch auch die Überprüfungsdomäne einer Konstellation extendiert werden. Durch Bewegung des unteren V-Kopfes und Inkorporation desselben in das obere V° kann also die Domäne von VP auf die gesamte VP-Shell erweitert werden. In diesem Zusammenhang ist auch Bakers Uniformity of Theta Assignment Hypothesis (UTAH) zu sehen: θ-Relationen zwischen syntaktischen Objekten bleiben auf allen Ebenen erhalten. Während im P&P-Modell damit die Unveränderlichkeit der θ-Beziehungen der D-Struktur festgelegt war, kann im Minimalismus, der keine eigentliche D-Struktur mehr kennt, die Unveränderlichkeit der θ-Relationen innerhalb der VP-Shell gesehen werden: Sie umfasst alle für V° θ-relevanten Argumente in einer Domäne. Hale & Keyser (1993b) beschreiben die Argumentstruktur von Verben, indem sie ebenfalls VP-Shell-Strukturen annehmen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Argumentstruk–––––—– 55
56 57
Die Unterscheidung zwischen A- und A'-Positionen des P&P-Modells ist im MP nicht mehr gegeben, da Bewegung dort tatsächlich nur merkmalsgetrieben unter der Bedingung von Last Resort vorkommen kann. Chomsky spricht nun von Positionen, die L-related sind, d.h. Spezifikator- und Komplementpositionen von Kategorien, die Merkmale eines lexikalischen Kopfes L beinhalten (so z.B. auch ein [V]-Merkmal in T). Diese Positionen schließen auch nicht θ-markierte Elemente wie Adverbien mit ein (Chomsky 1995: 64), vgl. auch Punkt 3.3. Vgl. Chomsky (1995: 63) sowie Larson (1988: 345, Fn. 1), Larson (1990: 624). Auch Radford führt die VP-Shell-Analyse beispielhaft vor, wobei er Chomskys v-loser Interpretation unakkusativischer Verbkonstruktionen folgt (vgl. Radford 1997: 367–421). Doch im Gegensatz zu Chomsky (1995) siedelt Radford auch die funktionale Kategorie AgrO, die für VerbObjektkongruenz zuständig sein soll, innerhalb der VP an (vgl. Radford 1997: 431–439). Eine zweite Kategorie AgrO, formal eingeführt von Kayne (1989b), gehört im ersten Kapitel von Chomsky (1995) genau wie AgrS noch zu den funktionalen Kategorien, die für Agreement und auch Kasus zuständig sind: AgrS ist für Verb-Subjekt-Kongruenz und Nominativkasus und AgrO für Verb-Objekt-Kongruenz und Akkusativkasus verantwortlich (Chomsky 1995: 59–60). Im MP aber werden Kasusvergabe und Agreement alleine über den Merkmalsabgleich geregelt, sodass am Ende des vierten Kapitels von Chomsky (1995), wie bereits gesagt, Agr generell seine Daseinsberechtigung als funktionale Kategorie verloren hat (Chomsky 1995: 349–355).
68 turen von Verben nicht rein lexikalisch sind, sondern Relationen syntaktischer Natur darstellen und diese auch projizieren (Lexical Relation Structure). Denominale Verben z.B. entstehen derivationell durch Kopfbewegung eines N° und dessen Inkorporation in ein leeres V°. Ähnlich wird bei Verben, die ein agentives Subjekt fordern, ein leeres kausatives V° angenommen, welches das V° des unteren VP-Komplements nach Bewegung desselben inkorporiert. Auch wird eine parallele lexikalisch-syntaktische Argumentstruktur von intransitiven (unergativen) und transitiven Verben angenommen: Während bei transitiven Verben das Komplement NP Variablenstatus hat, besteht es bei intransitiven Verben aus einer inkorporierten Konstante.58 Diese Annahme von intransitiven Verben als verkappte transitive Verben wird von Chomsky (1995: 315–316) ebenfalls als Möglichkeit in Betracht gezogen (vgl. auch Kayne 1993: 12). Die vorgeschlagenen Inkorporationsprozesse müssen mehr als nur Lexikonrelevanz haben, da sie auch auf der Ebene der Syntax sichtbar sind und Effekte haben.59 Syntaktische Projektionen sind also in unzweideutiger Weise durch ihre lexikalischen Köpfe bestimmt (Hale & Keyser 1993b: 66–67). Für die VP-Shell-Analyse muss nun zwischen drei Verbklassen grundsätzlich unterschieden werden. Die Unterscheidung betrifft v.a. die zweite höhergelegene VP, ab hier nun ‘kleines’ vP genannt.60 Es geht um die folgende Klassifizierung: (3-10) (3-11) (3-12)
(di)transitive Verben intransitive (unergative) Verben unakkusativische (ergative) Verben
Die Verben der Gruppe (3-10) projizieren in ihrem Grundaufbau eine Shell im Sinne Larsons. Angepasst an das MP gibt es dafür in der Enumeration eine funktionale Kategorie v°, welche bestimmte Merkmale enthalten kann, so z.B. das bei Hale & Keyser (1993b) hergeleitete Kausativmerkmal [caus], das für die Agentivität einer DP in der Argumentstruktur des Verbs verantwortlich ist. Dieses kleine v° nimmt, nachdem es durch Select aus der Enumeration geholt worden ist, die VP als Komplement und verbindet sich mit ihr durch Merge zu einem neuen syntaktischen Objekt; dabei projiziert v°, da VP bereits maximal ist: Die Komplement- und Spezifikatorpositionen der VP wurden zuvor, je nach Argumentstruktur des Verbs, mit Hilfe der Operation Merge durch kompatible maximale Projektionen ersetzt, die sich als syntaktische Objekte in der Derivation befinden. Dieses kleine v° trägt des weiteren ein starkes [V]-Merkmal (Vst), das vor Spell-Out und solange v noch keine maximale Projektion ist, überprüft werden muss; daher bewegt sich der Kopf der eigentlichen, nun unteren Komplement-VP dorthin und bildet durch Kopf-Ad–––––—– 58 59
60
Z.B. We had a good laugh vs. The child laughed, vgl. Hale & Keyser (1993b: 73-74), sowie kontrastive Beispiele aus anderen Sprachen (vgl. Hale & Keyser 1993b: 55). Hale & Keyser unterscheiden hier zwischen l- und s-Syntax, d.h. lexikonbezogener und syntaxbezogener Syntax (vgl. Hale & Keyser 1993b: 94–99). Diese Unterscheidung spielt v.a. bei der Unterscheidung zwischen internen und externen Subjekten eine Rolle (vgl. Hale & Keyser 1993b: 99–103). Es scheint sich die Bezeichnung ‘(kleines) v’ in der Literatur durchzusetzen; in Kapitel drei wurden bereits Forschungsansätze angesprochen, die mit v arbeiten. Die Bezeichnung Light Verb wird in Chomsky (1995: 305), aber auch schon in Hale & Keyser (1993b: 96), jedoch in leicht anderem Zusammenhang, verwendet.
69 junktion an das kleine v°, d.h. Inkorporation, einen funktionalen Komplex Vb (Verbal Complex – Chomsky 1995: 356, 360). Das Subjekt, als externes Argument, gehört nicht zur Argumentstruktur der inneren VP, sondern wird in den von dem kleinen v° projizierten Spezifikator durch Merge eingefügt. Die dazugehörige Struktur61 sieht folgendermaßen aus: (3-13)
Beispiel: dare (una mela a Gianni) – mit dem direkten Objekt in der internen SpezifikatorPosition und dem indirekten Objekt in Komplement-Position62 vP Spec
v'
Externes Argument
Vb V°
VP v°
'dare' Vst
Spec Internes Argument 'una mela'
V' V°
XP Internes Argument 'a Gianni'
Die Verben der Gruppe (3-11) haben, da man annimmt, dass es sich um versteckt transitive Verben handelt, ebenso ein kleines v in ihrer Projektion. Auch hier wird V° zu v° bewegt und das Subjekt in [Spec, v] durch Merge eingesetzt. Der einzige Unterschied ist, dass die von V projizierten möglichen Positionen leer sind bzw. die dortigen Argumente durch Kopfbewegung (auf Wortbildungsebene) ebenfalls inkorporiert worden sind, vgl. die folgende Darstellung:63 –––––—– 61 62
63
Die meisten und v.a. die schönsten Strukturbäume in dieser Arbeit sind mit VisualGBX © erstellt worden, vgl. Lalande (1997). In dieser Arbeit wird ein direktes Objekt immer als direkt in [Spec, V] eingesetzt betrachtet (vgl. auch Bowers 2001: 302), obwohl es in der Literatur auch andere Ansätze gibt: Denen zufolge befindet sich das direkte Objekt nur in ditransitiven Konstruktionen in [Spec, V], ansonsten aber wie gewohnt in der Komplementposition von V (vgl. zu dieser Thematik auch Mensching 2003). Um dieser Variation gerecht zu werden, müsste eine Hierarchie der thematischen Rollen aufgestellt werden, was die Reihenfolge ihres Erscheinens in der Derivation betrifft, vgl. dazu wiederum UTAH von Baker (1988). Im Ansatz der folgenden Arbeit kann das Komplement einer transitiven VP auch von nicht-θ-bezogenen Elementen besetzt (z.B. Adverbien, vgl. die folgende Fußnote) oder auch scheinbar leer sein (in diesem Falle kann eventuell ein implitzites Argument angenommen werden, das adverbiale Default-Werte hat). Im Folgenden wird die VP-Komplementposition, wenn dort nicht ein internes Argument oder eine explizite adverbiale Ergänzung erscheint, immer als durch eine neutrale XP belegt gekennzeichnet. Hale & Keyser (1993b: 76) nehmen an, dass intransitive unergative Verben kein internes ‘Subjekt’ (in [Spec, V]) haben. Die in das Verb inkorporierte NP/DP steht demnach ursprünglich in der Komplementposition. Geht man aber von Larsons Anordnung innerhalb der VP-Shell aus, befindet sich ein direktes Objekt in eben dieser [Spec, V]-Position, während die Komplementposi-
70 (3-14)
Beispiel: sognare als denominales Verb, wobei sogno in ein Nullverb bzw. -are inkorporiert wird64 vP Spec Externes Argument
v' Vb V°
VP v° Vst
Spec Ø
V' V° N°
N V°
Ø/-are
Internes Argument 'sogn-'
Bei den wichtigen unakkusativischen (ergativen) Verben der Gruppe (3-12), bei denen das overte Subjekt im Grunde ein internes Objekt ist, ist im MP einfach keine VP-Shell vorgesehen. Das bedeutet also, dass unakkusativische Verben keine Argumentstruktur haben, in der ein kleines v projizieren kann: Damit erklärt sich auch der bei manchen Verben beobachtete Wechsel zwischen Unakkusativität und Transitivität: Ein und dasselbe Verb, z.B. affondare, kann eine unakkusativische oder eine transitive Argumentstruktur haben. Im ersten Fall gibt es kein kleines v, d.h. kein agentives Merkmal und keine mögliche Spezifikatorposition für ein externes Subjekt, so dass das interne Subjekt später (aus Kasusgründen im P&P-Modell, aufgrund eines starken [D]-Merkmals in T im MP) direkt aus der VP angehoben wird. Im Falle einer transitiven lexikalischen Argumentstruktur muss auch das kleine v in die Derivation kommen, es gibt somit ein agentives externes Subjekt und das interne Subjekt (bzw. direkte Objekt) verbleibt in der VP. Eine ähnliche wie die folgende Struktur in (3-15) müsste auch für passivische Konstruktionen gelten, mit dem Unterschied, dass hier ein Passivmerkmal die Argumentstruktur eines sonst transitiven Verbs insofern verändert hat, als das externe Argument unterdrückt wurde:
–––––—–
64
tion der VP weiteren Argumenten oder auch Adverbien zur Verfügung steht (vgl. Larson 1988: 345, Fn. 11 und Larson 1990: 624, sowie Chomsky 1995: 64). Allerdings könnte dann das direkte Objekt nicht in V° inkorporiert werden (wegen dem Head Movement Constraint, vgl. Baker 1988: 53). Die Idee von unergativen Verben als versteckten transitiven Verben taucht auch bei Kayne (1993: 12) auf. Vgl. fare dei sogni/un sogno; das inkorporierte Element wurde hier als N bzw. N° dargestellt, d.h. gerade der mögliche Kopfstatus des Arguments ermöglicht seine Inkorporation.
71 (3-15)
Beispiel: affondare (una nave) – mit dem direkten Objekt in der internen Spezifikatorposition: In unakkusativischen Konstruktionen gibt es bei Chomsky (1995) kein v°, daher auch kein agentives externes Subjekt. VP Spec
V'
Internes Argument
V°
XP
'una nave' 'affondare' z.B. PP, Adverb...
Von den hier dargestellten Strukturen (3-13), (3-14) und (3-15) wird in diesem Kapitel nur vorerst ausgegangen. Daneben möchte ich auch auf Strukturen verweisen, die Bowers (1993, 2001) universal als Grundstruktur jeder Prädikation annimmt, sei sie nun durch eine VP, eine NP, eine AP oder eine PP charakterisiert. Bowers’ Struktur ist der VP-Shell-Analyse sehr ähnlich und hat den Vorteil, dass sie über die Argumentstruktur von Verben hinausgeht und somit auch einen Erklärungsansatz für die in ihrer Struktur sehr unterschiedlich interpretierten und umstrittenen Small-Clause-Konstruktionen bietet.65 Auf Bowers’ Analyse wird auch bei der Behandlung von Kopulativkonstruktionen zurückgegriffen werden (vgl. 5.1). Bowers’ universale Grundannahme zur syntaktischen Prädikation sieht folgendermaßen aus (Bowers 1993: 595): (3-16)
Die Prädikationsphrase nach Bowers (1993, 2001) PrP NP
Pr' Pr
XP
X = {V,A,N,P}
‘Pr’ steht für die Prädikation. Eine Prädikationsphrase PrP stellt einen vollständig funktionalen Komplex im Sinne von Chomsky (1986b) dar (Complete Functional Complex – CFC), d.h. eine eigenständige Informationseinheit (Bowers 1993: 598). Nimmt man nun als X ein V an, erhält man eine VP-Shell-Struktur. Die VP alleine ist kein CFC, daher sind bei Bowers auch die maximalen Projektionen unakkusativischer Verben Komplemente von Pr.66 Während in [Spec, Pr] das primäre Subjekt basisgeneriert wird (Bowers 1993: 596), ist [Spec, V] die typische Position für Objekte, die auch hier, parallel zu Larson (1988), als –––––—– 65
66
Der Ansatz von Bowers zur Prädikationsphrase ist von besonderer Relevanz für die Untersuchung der Kopula- sowie der dazu parallelen Small-Clause-Konstruktionen: Small Clauses (SC) sind reine, verblose Prädikationsphrasen, die von bestimmten, lexikalisch dafür markierten Verben selegiert werden können (z.B. considerare). Auch Kopulativkonstruktionen werden üblicherweise als Small-Clause-Konstruktionen analysiert, d.h. Kopulativverben selegieren ebenfalls reine Prädikationsphrasen als Komplement. Auch andere minimalistische Arbeiten nehmen ein kleines v für alle Verbkonstruktionen an, so z.B. Collins (1996), Ledgeway (2000a).
72 sekundäre Subjekte gesehen werden (Bowers 1993: 598).67 Die Bedeutung von Pr° ist primär, aber nicht ausschließlich, die der Prädikation: Pr° stellt eine Ereignisposition zur Verfügung. Diese Ereignisposition kann als Davidsonsches Argument betrachtet werden (vgl. Davidson 1967): Ein V°, A° oder N° wird erst durch diese Erweiterung durch ein ereignishaftes, d.h. Zeit- und Raumbezüge zur Verfügung stellendes Argument zu einer Prädikation. Das Ereignisargument ist allerdings in den hier behandelten Sprachen nicht in einer typischen Argumentposition (Spezifikator oder Komplement) verwirklicht, sondern nur implizit durch die Position Pr° gegeben. Wichtig ist, festzuhalten, dass Pr° dadurch eine bedeutungstragende bzw. bedeutungsschaffende Kategorie ist. Bowers fordert konsequenterweise auch für unakkusativische Verbkonstruktionen eine solche Prädikationsphrase. Sieht man die Prädikationsphrase als allgemeine Form einer VPShell, bedeutet dies, dass die Vorstellung von der unakkusativischen VP als v-loser Phrase, wie in Chomsky (1995) vertreten, verworfen werden muss. Es wäre unhaltbar, für transitive und intransitive unergative Verben eine Prädikationskopf zu fordern, der Ereignisse oder Zustände in ihrer Bedeutung kodiert, d.h. z.B. eine Verbalphrase zu einer Prädikation macht, unakkusativische Konstruktionen aber als ‘prädikationslos’ zu betrachten.68 Unterschiedliche Subjekt-Objekt-Relationen dürfen daher alleine durch Merkmals-Parametrisierung des Prädikationskopfes (der in dieser Arbeit immer als ein generalisierender Überbegriff gelten soll, der das kleine v miteinschließt) zum Ausdruck kommen, nicht aber durch seine Existenz oder Nicht-Existenz. Eine unakkusativische Konstruktion wird hier demzufolge denselben strukturellen VP-Shell-Aufbau haben wie die transitive und intransitive unergative Konstruktion, allerdings mit unterschiedlichen Merkmalszusammensetzungen: (3-17)
Beispiel: affondare (una nave) – Auch unakkusativische Konstruktionen brauchen Pr°/v°: Daher die zusätzliche Annahme eines starken [D]-Merkmals in v°69 PrP/vP Spec
Pr'/v'
'una nave' VP
Pr°/Vb V° Pr°/v° Spec
Internes Argument
Pr Vst Dst
V' V°
XP
'affondare' z.B. PP, Adverb...
–––––—– 67 68
69
Das primäre Subjekt ist also bei unakkusativischen Verben nicht vorhanden. Vgl. auch Bowers (2001: 302): Die Prädikationsphrase repräsentiert die “predicational function” eines Satzes; diese bewirkt die Umwandlung der Eigenschaft von XP in eine propositionale Funktion, die erst durch eine Subjektsentität saturiert ist. Dadurch ergibt sich in natürlicher Weise das EPP, dass kein Satz ohne Subjekt sein darf (vgl. auch Bowers 2001: 329, Fn. 3). Als Folge für unakkusativische Verben ergibt sich hierbei die Anhebung des internen Arguments in Subjektposition. Die Kategorie Pr° hat natürlich ein kategorielles [Pr]-Merkmal.
73 Wie in der Graphik offensichtlich, möchte ich hier ein starkes [D]-Merkmal ([Dst]) in dem unakkusativischen v° annehmen, so wie es bei den im Zusammenhang mit Object Shift auftretenden multiplen Spezifikatorkonstruktionen von Ledgeway (2000a, 2000b) gefordert wird: Anhand von Daten aus dem Süditalienischen, die den präpositionalen Akkusativ (PA) betreffen, macht Ledgeway deutlich, dass sich diese speziellen Objekt-DPs70 in einer weiteren Spezifikatorposition von vP befinden müssen, da sie seiner Meinung nach nur auf diese Weise von einem klitischen Akkusativpronomen gedoppelt werden können. Bewegung erfolgt aber nur aufgrund eines starken Merkmals: Dieses muss eben ein [D]-Merkmal in v° sein.71 Da es also offensichtlich Fälle gibt, in denen sich ein direktes Objekt in die Spezifikatorposition von v° bewegen muss, kann dies für die Subjekte von unakkusativischen Konstruktionen, die dieselbe strukturelle Ausgangsposition besetzen wie direkte Objekte, auch gefordert werden. Für den süditalienischen Satz Isso (’o) verette a Ciro (vgl. Ledgeway 2000a: Kapitel 2) darf man also nach Ledgeway die folgende (nicht vollständige) Merkmalsstruktur für v° als Spezialisierung von Pr° annehmen: (3-18)
Mermale für Isso (’o) verette a Ciro.
Konstruktionstyp transitiv mit PA
Argumente in Enumeration externes Argument, internes Argument
Merkmalsstruktur von Pr°/v° [Pr,Vst,Dst,akk]
Ähnlich sieht die Merkmalsstruktur für unakkusativische Konstruktionen im Allgemeinen aus, mit der Einschränkung, dass in diesen natürlich kein Akkusativmerkmal zu überprüfen ist. Die Position von beweglichen Quantifikatoren (Floating Quantifiers – FQ) spricht ebenfalls dafür, auch in unakkusativischen Konstruktionen eine weitere Position, nämlich [Spec, Pr/v] als Zwischenlandeplatz für das derivierte Subjekt anzunehmen, vgl. die folgenden italienischen Beispiele:72 (3-19) (3-20) (3-21)
I bambini sono andati via. [Subjekt in Spec, T] Sono tutti andati via. [Subjekt in Spec, v] Sono andati via tutti. [Subjekt in Spec, V]73
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71
72 73
Speziell, da sie Merkmale der Definitheit und Animiertheit aufweisen, durch präpositionalen Akkusativ markiert sind und darüber hinaus durch klitische Pronomen gedoppelt werden können; vgl. Ledgeway (2000b: 70). Vgl. Ledgeway (2000b: 79); diese Phänomene gehören zu dem umfangreichen Forschungsbereich der Definitheitseffekte, wobei “the basic insight of this research has been to propose that the specific and definite [...] interpretation of NPs is transparently linked to their syntactic position, typically occuring in a derived position” Ledgeway (2000b: 77-78). Ledgeways Analyse beruft sich auf Torrego (1998). Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob sich die Floating Quantifier in der Argumentposition selbst oder in einer daran adjungierten Position befinden, vgl. u.a. die Diskussion in Sportiche (1988). Hier wird Inkorporation von via als Kopfelement in V° angenommen.
74 Der Unterschied zwischen einer unakkusativischen und einer transitiven Verwendung des Beispielverbs affondare liegt nun allein daran, welche Elemente sich in der Enumeration befinden. Das zeigt folgende Tabelle: (3-22)
Enumerationsmöglichkeiten für das italienische Verb affondare
Konstruktionstyp
Argumente in Enumeration
transitiv
externes Argument, internes Argument
Merkmalsstruktur von Pr°/v°74 [Pr,Vst,D,akk]
unakkusativisch
internes Argument
[Pr,Vst,Dst]
Das starke [D]-Merkmal bewirkt eine overte Bewegung einer DP nach [Spec, v]. Merge ist kostenfrei, wenn sich in der Enumeration ein weiterer [D]-Merkmalsträger befindet. Allerdings befinden sich die Merkmale einer (nicht expletiven) DP direkt nach ihrem Erscheinen in der Derivation noch in keiner Abgleichsrelation, da sie sich noch nicht bewegt haben (vgl. Chomsky 1995: Kapitel 2).75 In unakkusativischen Konstruktionen muss also in jedem Fall das interne Argument in [Spec, V] in eine dafür projizierte [Spec, v] bewegt werden, in der das starke [D]-Merkmal von v° schließlich nach dem Merkmalsabgleich gelöscht werden kann. Das kleine v° als Spezialisierung eines allgemeineren Pr-Kopfes hat einen Zwitterstatus, obwohl es explizit als funktional bezeichnet wird (Ledgeway 2000a: 11). Einerseits bietet Pr° eine neue Position in der syntaktischen Derivation, die auch die nicht mehr existenten Agr-Positionen in Teilen ersetzen kann. Andererseits hängt Pr°/v° stark von der Argumentstruktur eines Verbs ab bzw. bestimmt sie durch seine Existenz mit: Durch Bewegung von V° nach Pr°/v° und deren Verbindung zu einem verbalen Komplex Vb (bzw. ein projizierendes Pr°) kann ein externes Subjekt, das in die projizierte [Spec, Pr/v]-Position durch Merge eingesetzt wird, seine θ-Rolle erhalten. Erst die Konfiguration [VbV, v] bzw. [PrV, Pr] gibt sozusagen die θ-Rolle des Subjekts frei.76 Damit hat Pr°/v° neben seinem starken [V]-Merkmal, welches es wiederum als funktionale Kategorie ausweist, auch weitere Merkmale, sei es nun ein kausatives oder performatives, sei es ein agentives Merkmal etc., die als θ-Rollen in der LF interpretierbar sind. Pr°/v° ist gewissermaßen die syntaktische Seite des Lexikons für Verben, eine Art in den Produktionsmechanismus der Wortbildung involvierte Instanz, die lexikalische Prozesse von syntaktischer Relevanz und damit einen Übergang vom Lexikon zur Syntax darstellt. Ähnliche Kategorien wird man mit Bowers (1993, 2001) für sämtliche Prädikate annehmen können (also ein kleines a, eine kleines p, eine kleines n bzw. d). Die theoretische Annahme eines allgemein gültigen Pr°/v° für alle Verbkonstruktionen wird im Datenteil dieser Arbeit weiter ausgebaut werden. Schon jetzt lässt sich jedenfalls ersehen, dass ein kleines v° als spezifischere Variante eines prädikativen Kopfes Pr° à la
–––––—– 74 75 76
Die Merkmalsstruktur ist natürlich auch hier nicht vollständig. Bei Expletiva ist eine Aufhebung des Prinzips möglich (vgl. Chomsky 1995: 311-312). Vgl. Chomsky (1995: 347): “If a configuration [v-VP] is formed with [Spec, v], that configuration just is an external θ-role.”
75 Bowers (1993)77 es erlaubt, die verschiedenen Verbkonstruktionstypen auf lokale Variation in der Merkmalsstruktur der verschiedenen Lexikoneinträge für Pr°/v° zurückzuführen. Dies schafft gute Voraussetzungen, sprachübergreifende und einzelsprachliche Variation auf kontrastiv-vergleichender Ebene minimal zu halten.
3.3
Kasustheorie und θ-Vergabe
Im MP gibt es keinen Kasusfilter im Sinne des P&P-Ansatzes mehr: Kasusvergabe wird auch hier durch Merkmalsabgleich geregelt, da die entsprechenden DPs bzw. NPs schon durch ihre formalen (d.h. abstrakt morphologischen) Merkmale für Kasus spezifiziert aus der Enumeration in die Derivation gelangen. Kasus muss nur noch überprüft werden. Das internen Argument des Verbs in Komplementposition wird innerhalb der VP-Shell verdeckt abgeglichen. Hier handelt es sich um inhärenten Kasus. Das Argument in [Spec, V], d.h. der Objekt-Position, gleicht Kasus mit Pr°/v° ab.78 Das externe Argument in [Spec, Pr/v] wird in T° ‘nebenbei’ kasusüberprüft, wenn T ein starkes [D]-Merkmal sowie Nominativ trägt: Das ist z.B. für finites T° im Italienischen und Englischen der Fall. Infinites T hat zwar möglicherweise ein starkes [D]-Merkmal (das durch PRO überprüft werden müsste), aber dafür kein Nominativmerkmal. Kasus kann hier nicht überprüft werden, so dass kein sichtbares, ein kasusmerkmaltragendes Subjekt in die Derivation gelangen darf, sondern nur ein nicht kasusmarkiertes PRO. Die Sichtbarkeitsbedingung (Visibility Condition) des P&P-Modells besagt, dass alle overten DPs Kasus erhalten müssen, um für die θ-Markierung sichtbar zu sein.79 PRO ist jedoch auch θ-markiert, obwohl es in keiner gängigen Kasusposition, sondern in [Spec, T[-finit]] steht.80 Aufgrund der θ-Relevanz wird nun im MP für PRO ebenfalls ein Kasusmerkmal angenommen: PRO trägt abstrakten Nullkasus,81 der z.B. von einem kontrollierenden C° abgeglichen werden kann.82 –––––—– 77
78
79 80 81
Vgl. auch Bowers (2001: 302), wo explizit die Parallele zwischen Pr, v und einer entsprechenden nominalen Kategorie gezogen wird. Eine andere Arbeit von Bowers, Bowers (2002), führt noch eine weitere VP-Shell-interne funktionale Kategorie, nämlich eine so genannte Transitivitätsphrase ein, die zwischen der PrP/vP und der VP liegt. Dadurch verteilen sich die Aufgaben θ-RollenVergabe, Kasusabgleich und Partizipialkongruenz auf zwei Kategorien. Hier arbeitet Bowers bereits mit neueren minimalistischen Modellen einschließlich Chomsky (2001a). Eine Einführung einer weiteren funktionalen Kategorie widerspricht jedoch wiederum der minimalistischen Reduzierung funktionaler Kategorien nach Chomsky (1995). Im P&P-Modell wurde aus Gründen der Parallelität, aber auch aufgrund empirischer Tatsachen (wie z.B. der Partizipialkongruenz im Italienischen) eine eigene Agreement-Phrase für das Objekt eingeführt (vgl. Kayne 1989b); minimalistisch ist diese Annahme so nicht mehr haltbar. So auch im ersten Kapitel von Chomsky (1995: 46): “Every argument chain must be headed by a Case position and must terminate in a θ-position.” “A chain is visible for θ-marking if it contains a Case position (necessarily, its head) or is headed by PRO.” (Chomsky 1995: 116) PRO ist θ-Rollenträger, erhält aber keinen Kasus, sodass es nach dem P&P-Ansatz nur in unregierten Kontexten vorkommen darf. Rektion ist aber im MP kein gültiges Kriterium mehr,
76 Kasus ist im MP nicht mehr, wie noch im P&P-Ansatz, das die Subjektbewegung erzwingende Moment: Bewegung wird allein durch die starken Merkmale der funktionalen Kategorien hervorgerufen und diese Merkmale sind kategoriell, d.h. [V]- oder [N/D]-Merkmale. Kasus muss nichtsdestotrotz abgeglichen werden, da Kasusmerkmale, sofern sie strukturellen Kasus betreffen, zu den nicht interpretierbaren Merkmalen gehören, die auf LF nicht mehr sichtbar sein dürfen. Bleiben also Kasusmerkmale unüberprüft, scheitert die Derivation. Passen die Kasusmerkmale einer funktionalen Kategorie und der DP nicht zusammen, kommt es zu einer nicht gültigen, d.h. ungrammatischen Derivation. Kasus muss also entweder ‘nebenbei’ overt oder, gemäß dem Verzögerungsprinzip Procrastinate, durch verdeckte Merkmalsbewegung überprüft werden. Mit inhärentem Kasus allerdings verhält es sich anders. Dieser ist nicht vom Merkmalsabgleich betroffen: In isolation, the noun appears with a language-specific default case, which presumably need not be checked. Recall that Case theory as discussed here is concerned only with structural Case. Inherent Case, which is assigned only in a θ-relation to the case assigner, is a different phenomenon. It is assigned and also realized, typically within the domain of the θ-marker. (Chomsky 1995: 386, Fn. 55)
Inhärenter Kasus ist, im Gegensatz zu strukturellem Kasus, an bestimmte θ-Rollen und immer an einen bestimmten Subkategorisierungsrahmen gebunden. Durch seinen θ-Bezug ist er interpretierbar, darf also in LF erscheinen.83 Inhärenter Kasus steht als Merkmal im Lexikoneintrag rein lexikalischer Kategorien, während struktureller Kasus sich in Konfigurationen des Merkmalsabgleichs mit funktionalen Kategorien manifestiert:84 Der Kasus des externen Arguments, also des Subjekts, wird in [Spec, T] mit dem Kasusmerkmal von T° abgeglichen, struktureller Kasus von internen Argumenten durch Bewegung oder Merkmalsadjunktion in der Überprüfungsdomäne von Pr°/v°. Inhärenter Kasus als lexikalisch–––––—–
82
83 84
sodass für PRO struktureller Nullkasus angenommen werden kann (Chomsky 1995: 119–120); vgl. auch Mensching (2000: 62) zu Nullkasus bei emphatischen Subjektspronomina, sowie die Modifizierungen des PRO-Theorems bei Ledgeway (2000a: 66–69), der im Grunde genommen die Unterscheidung zwischen PRO und pro aufhebt und Kontrollphänomene über strukturellen vs. inhärenten Kasus regelt. In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass nicht T°, sondern immer ein C° für den Nullkasusabgleich mit PRO zuständig ist, wobei gleichzeitig auch Kontrolle aus dem Matrixsatz vermittelt werden kann. Chomsky (1995: 120) allerdings nimmt an, daß infinites I (also T°) Nullkasus überprüft: Wie finites T° Nominativ-Kasus mit einem overten oder pro-Subjekt abgleicht, so lizensiert infinites T° das leere Element PRO. Allerdings stellt sich die Frage, warum z.B. in RaisingKonstruktionen, von denen angenommen wird, dass sie eine TP subkategorisieren, kein Nullkasus überprüft werden muss; in Chomsky (1998, 1999) wird diese Frage dadurch beantwortet, dass ein infinites Raising-T sich gerade durch dieses fehlende Nullkasusmerkmal von infinitem KontrollT° unterscheidet; hier wird der Ansatz vertreten, dass C° nicht zuletzt als Nullkasusträger essentiell in Kontrollstrukturen ist. Vgl. auch Ledgeway (2000a: 44): “We take inherent case to be an interpretable Case, a sort of ‘semantic’ case in which syntactic Case and θ-role are rolled into one.” Nominativ und Akkusativ werden im Allgemeinen als struktureller, Dativ und Genitiv als inhärenter Kasus angesehen. Ledgeway (2000a) allerdings hat Grund zur Annahme, dass sowohl Akkusativ als auch Dativ als struktureller oder inhärenter Kasus erscheinen können; vgl. Ledgeway (2000a), besonders Kapitel 1: “Case-marking.”
77 interpretierbarer Kasus muss nicht überprüft85 werden, gehört also, wie die θ-Relation, in die Basisprojektion von lexikalischen Köpfen. Bezieht man strukturellen Kasus mit ein, so können die formalen Merkmalsstrukturen für transitive, ditransitive, (unergative) intransitive und unakkusativische Verb-Shell-Typen für das Italienische im Überblick folgendermaßen dargestellt werden: (3-23)
Merkmalszusammensetzungen für Pr°/v°
Funktionale Kategorie Pr°/v°
Konstruktionstyp (di-)transitiv
Merkmale [Pr,Vst,D,akk]
Pr°/v°
intransitiv unergativ
[Pr,Vst]
Pr°/v°
unakkusativisch
[Pr,Vst,Dst]
Ambigue Verben wie affondare können also verschiedenen Shell-Typen angehören, je nachdem mit welchem Pr°/v° sie zusammentreten. Kann das interne Argument in [Spec, Pr/v] Akkusativ abgleichen, ergibt sich eine transitive Konstruktion, ist Akkusativ-Abgleich nicht möglich, handelt es sich um ein unakkusativisches Pr°/v°. θ-Rollen dagegen sind im MP nicht als Merkmale repräsentierbar, d.h. es gibt keine θMerkmale, die überprüft werden müssen.86 Möglichen θ-Rollen hängen auch mit den semantischen Merkmalen eines Lexikoneintrages zusammen. Sie ergeben sich jedoch meist aus der syntaktischen Konfiguration, d.h. eine DP wird z.B. genau dann als agentiv interpretiert, wenn sie durch direktes Merge in [Spec, v] eingefügt worden ist. In diesem Sinne können lexikalische Elemente durch die syntaktische Konstellation eine Erweiterung ihrer semantischen Möglichkeiten erhalten. Wie auch Hale & Keyser (1993b) argumentieren, ist das Inventar der θ-Rollen in natürlicher Weise durch die Anzahl möglicher syntaktischer Konstellationen und damit Interpretationen begründet. Es gibt keine autonome Existenz von θ-Rollen. θ-Rollen sind durch die LRS (Lexical Relation Structure) bedingt, oder, wie im Falle von externen Subjekten, z.B. bei transitiven und intransitiven unergativen Verben, rein konfigurationell (vgl. dazu Hale & Keyser 1993b: 65, a. Kap. 2.2). Aufgrund der syntaktischen Relevanz von θ-Rollen nehmen manche (auch hilfsverbrelevante) Ansätze eine stark beschränkte Anzahl eigener aspektueller Argument-Phrasen außerhalb der VP an, die die Relationen der θ-Rollen kodieren sollen (z.B. Tenny 1994, Arad 1996, Manzini & Savoia 1998, Cocchi 1998). In dem in der vorliegenden Arbeit vertretenen Ansatz des MP bleiben θ-Rollen weiterhin nur basisrelevant. Sie müssen den durch Merge eingefügten Argumenten innerhalb der (zur PrP extendierten) Basisprojektion des –––––—– 85
86
Mit dem lexikalischen Kopf, in dessen Projektion er steht, muss er aber kasuskompatibel sein, d.h. es gilt hier einerseits zwischen Merkmalsabgleich und eventuellem Löschen nach Bewegung (struktureller Kasus) und andererseits Kompatibilität ohne Bewegung (bei θ-Vergabe und inhärentem Kasus) zu unterscheiden. Vgl. Chomsky (1995: 312): “Under any approach that takes Attract/Move to be driven by morphological features [...] there should be no interaction between θ-theory and the theory of movement. θ-roles are not formal features in the relevant sense; typically they are assigned in the internal domain, not in the checking domain.”
78 lexikalischen Elements, welches das Prädikat darstellt,87 zugewiesen werden und konfigurationell der Argumentstruktur des Prädikats entsprechen. Sie sind daher komplementär zum Merkmalsabgleich zu sehen, der erst nach Bewegung erfolgen kann.88 Funktionale Kategorien sind nicht θ-relevant. Eine doppelte Ausnahme scheint dabei wieder der verbale Komplex Vb bzw. V°-Pr°/v° darzustellen, der als solcher für die agentiv-kausative Subjektθ-Rolle zuständig ist: Zum einen entsteht Vb erst durch, wenn auch shell-interne, Verbbewegung und ist daher nicht mehr rein basisbezogen. Zum anderen gilt Pr°/v° als funktionale Kategorie und dürfte somit keine θ-Rollen vergeben können. Es ist daher weiterhin von einer Art Zwitterhaftigkeit von Pr°/v° auszugehen, um diese Ausnahmen zu rechtfertigen. Der Ausnahmestatus von Pr°/v° lässt sich möglicherweise mit dem Ansatz von Bowers (1993), nämlich der Annahme einer oder auch mehrerer Prädikationsphrasen, auflösen: Bei Bowers werden die einzelnen θ-Rollen innerhalb einer Prädikationsphrase kompositionell zur Argumentstruktur der Prädikation zusammengesetzt, wobei die strukturellen Bedingungen der θ-Rollen-Zuweisung (Spezifikator-Kopf oder Kopf-Komplement) denen der Kasuszuweisung entsprechen (Bowers 1993: 599–600), vgl. das folgende Beispiel aus dem Italienischen: (3-24)
Gianni da la mela a Maria. [PrP Gianni [Pr' Pr dai [VP la mela [V' ti [ θ3 [ θ2 [
a Maria ]]]] θ1 ]]]
Eine VP allein stellt noch keine Prädikation dar, sondern nur einen Funktionsausdruck, ein Ausdruck logischer Eigenschaft(en) (Property Expression(s)) (Bowers 1993: 598), dem ein primäres Subjekt fehlt. PrP ist hier der Ort, an die Eigenschaftsausdrücke mit einem erforderlichen Subjekt kombiniert werden. Die θ-Relevanz liegt aber beim Verb (dem Prädikativum), das sich aus genau diesem Grund auch bei Bowers aus der VP in die PrP bewegen muss (Bowers 1993: 599).
3.4
Agreement und Kongruenz
Dieses Kapitel betrifft die so genannten ϕ-Merkmale, die in Chomsky (1995) meist als nicht näher in ihrer Zusammensetzung spezifizierte Bündel behandelt werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Zusammensetzung eines solchen Bündels einzelsprachabhängig ist: Manche Sprachen unterscheiden dort nach bestimmten Merkmalen, wo andere Sprachen entweder keine Unterscheidung treffen oder Default-Werte setzen. So ist es im Arabischen z.B. relevant, ob eine Verbform in der 3. Person in seinem Bündel von ϕ–––––—– 87
88
Auch wenn hier meist von VPs die Rede ist, gelten diese konfigurationellen Bedingungen genauso für andere Prädikate, nämlich D/NPs und APs. Prädikate sind immer Darstellungen von Relationen und θ-Rollen sind nichts anderes als interpretierbarer Ausdruck dieser Relationen. Vgl. Chomsky (1995: 313): “A raised element cannot receive or assign a θ-role. θ-relatedness is a ‘base property’, complementary to feature checking, which is a property of movement. More accurately, θ-relatedness is a property of the position of merger and its (very local) configuration.”
79 Merkmalen ein Feminin- oder ein Maskulinmerkmal hat, eine Unterscheidung, die es in den romanischen Sprachen bei der Verb-Subjekt-Kongruenz nicht gibt. Allerdings taucht diese Unterscheidung bei der Partizipialkongruenz (z.B. im Italienischen), die auch als VerbObjekt-Kongruenz bezeichnet werden kann, auf. Dies führt zu einem weiteren Gesichtspunkt: Es gilt nicht nur, die Merkmalszusammensetzung der allgemein als ϕ-Merkmale bezeichneten Gruppe einzelsprachlich genauer zu differenzieren, vielmehr muss auch zwischen mindestens zwei Arten des allgemein in der Generativen Grammatik als Agreement bezeichneten Phänomens unterschieden werden. ϕ-Merkmale sind für Kongruenz zuständig, d.h. sie kodieren bestimmte Eigenschaften, die durch Übereinstimmung Beziehungen ausdrücken können. Diese Übereinstimmung bezieht sich auf die Bündel der ϕ-Merkmale zweier in syntaktischem Zusammenhang stehender Elemente. Syntaktischer Zusammenhang kann hier z.B. eine Subjekt-Beziehung sein, aber auch die Zugehörigkeit zweier Elemente zu derselben Konstituente. Wegen dieser Verschiedenheit syntaktischer Zusammenhänge muss also als erstes zwischen der Übereinstimmung unterschieden werden, die ein verbales Element involviert, d.h. Agreement im engeren Sinne, und der Übereinstimmung, die nur mit [+N] gekennzeichnete Elemente betrifft. Für das letztgenannte Phänomen hat Carstens (2000) die Bezeichnung Concord gewählt, um sich von dem verbalen Agreement abzusetzen. Im Zusammenhang mit den Hilfsverben soll uns hier im weiteren lediglich das verbale Agreement interessieren. Offensichtlich sind hier, wie bereits erwähnt, auch innersprachlich unterschiedliche Typen von Übereinstimmung zu beobachten: Man kann z.B. zwischen Agreement im Verb-Subjekt-Zusammenhang und Kongruenz im Verb-Objekt-Zusammenhang unterscheiden, zumindest in den romanischen Sprachen. Verb-Objekt-Kongruenz betrifft dort, wo sie im Romanischen vorkommt, eine infinite Verbform, nämlich das Partizip. Partizipien sind kategoriell auf einer Zwischenstufe anzusiedeln: Sie stellen zwar eine Verbform dar, d.h. sie haben ein kategorielles [V]-Merkmal, sie haben aber auch nominale Eigenschaften, so dass sie, ähnlich wie Adjektive, mit der Merkmalsmatrix [+V +N] gekennzeichnet werden können (vgl. Radford 1997). Gehört also die Partizipialkongruenz im Romanischen auch zu Concord nach Carstens (2000)? Dies gilt es näher zu untersuchen: Eine These ist, dass Agreement-Phänomene, die verbale Elemente involvieren, etwas mit der Argumentstruktur des verbalen Elements zu tun haben. So kongruiert im Italienischen das Oberflächen-Subjekt und externe Argument des Verbs mit dem finiten Verb, das interne Argument oder direkte Objekt aber nur in bestimmten, v.a. Hilfsverbkonstruktionen betreffenden Fällen mit dem Partizip:89 (3-25)
Maria [3.sg.f] le [3.pl.f] ha [3.sg] mangiate [pl.f] tutte [pl.f] [le mele [3.pl.f]].
Betrachtet man die romanischen Beispiele mit overten oder phonologisch nicht realisierten Expletiva, kann man feststellen, dass Übereinstimmung in Numerus nicht unbedingt zwischen Argument und Verb bestehen muss, sondern auch zwischen dem Expletivum in der Subjektposition und dem Verb bestehen kann:90 –––––—– 89
90
Konkrete Elemente von Merkmalsbündeln werden im Folgenden, wenn sie nicht kategorielle Merkmale betreffen, immer klein geschrieben. Variablen (Numerus, Genus etc.) und kategorielle Merkmale (V, D etc.) werden groß geschrieben. Die Endung 3.Sg. kann hier auch eine vom Expletivum unabhängige Default-Form sein.
80 (3-26)
frz. Il [3.sg] arrive [3.sg] trois hommes [3.pl.m].
Agreement scheint also eher eine strukturelle Beziehung auszudrücken, die nicht direkt abhängig von Argument-Beziehungen gesehen werden kann. Zwar betrifft Agreement lexikalische Kategorien, eine wichtige Rolle scheinen jedoch die involvierten funktionalen Kategorien zu spielen. So ist der Ort des Subjekt-Verb-Agreement (im Romanischen) in eben jener funktionalen Kategorie zu suchen, die in finiten Sätzen auch für den NominativAbgleich zuständig ist und ein starkes [D]-Merkmal trägt: in finitem T°. Ebenso ist der Ort der Objekt-Verb-Kongruenz in der funktionalen Kategorie zu suchen, die für den Akkusativ-Abgleich zuständig ist und ebenfalls ein starkes [D]-Merkmal tragen kann: in der verbalen Prädikationsphrase. Allerdings scheinen bei der Prädikationsphrase nicht die Kasusvergabefähigkeiten ausschlaggebend zu sein, sondern vielmehr die Möglichkeit eines vorhandenen starken [D]-Merkmals: Wie in der französischen Expletivkonstruktion (3-26) bereits gezeigt, trägt das postverbale Subjekt Nominativ, ohne dass es zu verbalem Agreement kommt.91 In unakkusativischen Konstruktionen kann sich Partizipialkongruenz ergeben, ohne dass Akkusativ abgeglichen werden darf, da ein unakkusativisches Pr° per definitionem kein Akkusativmerkmal hat, vgl. das italienische Beispiel in (3-27): (3-27)
[La mela [3.sg.f]] è caduta [sg.f] dal tavolo.
Ein noch interessanterer Fall besteht dann, wenn sich die Agreement-Phänomene zu widersprechen scheinen: (3-28)
A volte si è [3.sg] stanchi [m.pl].
Hier handelt es sich zwar nicht um Objekt-Verb-Kongruenz (Partizipialkongruenz), sondern um Kongruenz zwischen einem prädikativen Adjektiv und seinem Subjekt, also nominale Kongruenz in engerem Sinne. Diese Kongruenz ergibt sich aber auch hier innerhalb der Prädikatsphrase und ist daher mit der verbalen Kongruenz unter Pr°/v° vergleichbar, wie das folgende Beispiel zeigt: (3-29)
Quando si è [3.sg] arrivati [m.pl] in ritardo, ....
Die jeweils in T° (Subjekt-Verb-Agreement) bzw. Pr°/v° (Objekt-Verb-Kongruenz bzw. Kongruenz in der nominalen Prädikatsphrase) überprüften ϕ-Merkmalsbündel haben hier offensichtlich entweder eine unterschiedliche Zusammensetzung oder die Relevanz der einzelnen in einem ϕ-Merkmalsbündel zusammengefassten Merkmale ist danach zu unterscheiden, ob es sich um Agreement/Kongruenz in T° oder in Pr°/v° handelt: Unpersönliches si hat zwar offensichtlich das grammatische Merkmal [sg], die arbiträre Referenz aber, auf das es verweist, hat das semantische Merkmal [pl]; umgekehrt hat z.B. die Höflichkeitsform vous das grammatische Merkmal [pl] und das semantische Merkmal [sg] (vgl. Burzio 1986: 59 sowie 80f: Fn. 47). In beiden Fällen scheint das grammatische Merkmal das ausschlag–––––—– 91
In der entsprechenden italienischen Konstruktion kommt es dagegen zu Agreement, dies muss allerdings durch verdeckte Merkmalsbewegung nach T° überprüft werden.
81 gebende für die Kongruenz in T° zu sein, das semantische das ausschlaggebende für die Kongruenz in Pr°/v°. Ich möchte also im Folgenden, was das verbale Agreement betrifft, für das Romanische zwischen zwei Typen von ϕ-Merkmalen unterscheiden: Einmal die für Subjekt-VerbAgreement zuständigen Agr-ϕ-Merkmale (Agreement Features), zum zweiten die für Objekt-Partizip-Kongruenz zuständigen Con-ϕ-Merkmale (Concord Features). Agr-ϕ-Merkmale werden in der Domäne von T, Con-ϕ-Merkmale in der Domäne von Pr/v gecheckt. Einzelsprachliche Unterschiede gibt es aber dabei, welche strukturellen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit das Überprüfen der ϕ-Merkmale vonstatten gehen kann. Ein möglicher Faktor, der dabei zumindest für das Romanische eine Rolle spielen könnte, ist das jeweils in T° bzw. Pr°/v° wirkende [D]-Merkmal und seine Schwäche/Stärke. Innerhalb der VP-Shell bzw. PrP scheint Agreement mit dem Verb im Italienischen z.B. nur überprüft werden zu müssen, wenn die von Burzio konstatierte Bindungsbeziehung besteht (vgl. 2.2.4), die indirekt mit einem starken [D]-Merkmal als bewegungsauslösendem Moment zusammenhängt: Das Verb kongruiert mit einem Element, das in einer Bindungsbeziehung zu dem direkten Objekt steht, nicht mit dem overten direkten Objekt in [Spec, V] selbst. Diese Unterscheidung in den Typ ‘Agr’ und ‘Con’ soll nur für die ϕ-Merkmale der verbalen und der für verbale Elemente relevanten funktionalen Kategorien gelten, während nominale Elemente und für sie relevante funktionale Kategorien weiterhin als ϕ-Merkmale (ohne Zusatz) geführt werden. Es gilt also folgende Aufstellung (für das Romanische): (3-30)
ϕ-Merkmale
Relevante Kategorien
Typ der ϕ-Merkmale
V°, T°
Agr-ϕ-Merkmale
Numerus, Person
Pr°/v°
Con-ϕ-Merkmale
Numerus, Genus
D°, N°, A°
ϕ-Merkmale
Numerus, Genus, Person
Merkmale
Weitere zu klärende Fragen, die hier aber nicht mehr diskutiert werden können, wären, wie das Überprüfen von ϕ-Merkmalsbündeln genau vor sich geht, ob der Abgleich von ϕ-Merkmalen z.B. auch mehr als nur zwei involvierte Elemente auf einmal erfassen kann und ob man auch von Kasuskongruenz (z.B. bei rein nominalem Concord) sprechen sollte.
3.5
Die Analyse von Klitika
Die Stellung von klitischen Pronomina im MP, ja in der Generativen Grammatik allgemein, ist alles andere als geklärt.92 Ihr syntaktisches Verhalten ist eng mit der Analyse von Hilfs–––––—– 92
Hier kann kein umfassender Forschungsüberblick gegeben werden; wichtige Arbeiten sind die Aufsatzsammlung von Borer (1986) sowie die grundlegenden Arbeiten zum Romanischen von Kayne (1989a, 1991); zu neueren Arbeiten, vgl. Kaiser (1992), der Klitika als unter V° generierte Affixe betrachtet, die Kongruenz mit Nullsubjekten (im gesprochenen Französischen) bzw. Null-
82 verben verbunden, so dass ihr Status und ihre mögliche Merkmalszusammensetzung hier geklärt werden müssen. In Chomsky (1995) wird nur auf den Zwitterstatus von Klitika hingewiesen: Sie stellen, gemäß der Bare Phrase Structure, Projektionen dar, die minimal und maximal zugleich sind; sie sind Köpfe, können aber nicht projizieren (Chomsky 1995: 249). Möglicherweise können sie aufgrund ihres Sonderstatus zunächst in Spezifikatoroder Komplementposition durch Merge eingefügt werden, bevor sie als klitische Elemente an Akzent tragende Elemente adjungiert werden. Tatsache ist, dass Klitika syntaktisch anders positioniert sind als die an sie paradigmatisch oder referentiell gebundenen maximalen Projektionen. Minimalistisch stellt sich die Frage, welche Merkmalszusammensetzung Klitika haben können: Stellen sie eine Verkörperung von Kasus, Con-ϕ-Merkmalen, rein nominalen ϕMerkmalen (als D°) und/oder ein, eventuell starkes, [D]-Merkmal dar? Bekommen sie eine θ-Rolle zugewiesen? Werden sie direkt durch Merge in ihre Position eingefügt oder an der Stelle eingesetzt, an der die DP stehen würde, an die sie referentiell gebunden sind? Steht in der betreffenden Argumentposition nun eine Spur, eine leere Kategorie oder gar nichts? Sind Klitika funktionale Kategorien? Ihre gängige Darstellung als D° ließe das annehmen. Im Folgenden werden allerdings nur die im Rahmen der vorliegenden Arbeit relevanten Aspekte der klitischen Pronomen, zunächst der Personalpronomen, besprochen und als Arbeitsgrundlage festgelegt. 3.5.1 Klitische Personalpronomina Folgt man Salvi (2001) und seiner Interpretation der historischen Entwicklung der klitischen Personalpronomina, kann man Folgendes feststellen: Latein war nicht nur eine ProDrop-Sprache, was Subjekte in [Spec, T] betrifft, sondern es konnten auch pronominale Objekte, die nicht fokussiert waren oder in Kontrast standen, durch eine leere Kategorie ausgedrückt werden.93 Gerade dies ist in den meisten romanischen Sprachen nicht mehr möglich.94 Die schwachen, atonalen Pronomina, die im Lateinischen noch keinen ausge–––––—–
93 94
objekten (im Französischen und Portugiesischen) markieren; Sportiche (1996), der für jedes Klitikum eine eigene Projektion annimmt, in dessen Spezifikator sich eine (meist leere) XP bewegt; Everett (1996), der Klitika als späten Spell-Out von ϕ-Merkmalen betrachtet; Monachesi (1999), die einen ausführlichen lexikalischen Erklärungsansatz der italienischen Klitika im Rahmen der HPSG (Head Driven Phrase Structure Grammar) liefert; Salvi (2001), der diachrone Überlegungen zur Entwicklung der romanischen Klitika aus dem Lateinischen anstellt; Manzini & Savoia (1998) argumentieren bei der Hilfsverbselektion mit einer über I° angesiedelten Clitic-Shell, einem Schalenmodell für klitische Personalpronomina. Für eine zusammenfassende Darstellung gängiger Ansätze der Analyse von klitischen Personalpronomina anhand des Spanischen vgl. Zagona (2002); eine Enzyklopädie zu Klitika in den Sprachen Europas stellt Riemsdijk (1999) dar, darin besonders Cardinaletti & Starke (1999). Vgl. den Beispielsatz bei Salvi (2001: 303): “Demetrius venit ad me… Tu eum videlicet non potuisti videre; cras aderit; videbis igitur” (Cicero: Epistulae ad familiares, XVI, 17.2). Eine Ausnahme ist das europäische und brasilianische Portugiesische, welches wie das Lateinische Konstruktionen mit leerem spezifischen Objekt erlaubt, vgl.: (i) eur. port. Quem é que viu o filme? O Manel viu. (Raposo 1986: 377) (ii) bras. port. Vi um homem e beijei. (Keller & Lapata 1998: 372)
83 prägten klitischen Charakter hatten, übernehmen diese Funktion in der Entwicklung zum Romanischen. Man könnte also sagen, dass z.B. das Italienische und das Sardische zwar Subjekt-Pro-Drop, aber keine Objekt-Pro-Drop Sprachen (mehr) sind. Eine solche Betrachtungsweise, wie sie hier vertreten wird, geht also davon aus, dass klitische Pronomina keinen rein affixalen Charakter haben, d.h. dass sie keine Flexionsendung darstellen.95 Für pro kann die folgenden Merkmalszusammensetzung angenommen werden: (3-31)
Merkmalszusammensetzung für italienisches pro
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
pro
{Ø
[θ]
[D,ϕ[Numerus,Person],nom]}
Im Lateinischen scheinen dagegen noch weitere pro-Elemente zu existieren: (3-32)
Merkmalszusammensetzungen für lateinisches pro
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
pro
{Ø
[θ]
[D,ϕ[Numerus,Person,Genus],akk]}
pro
{Ø
[θ]
[D,ϕ[Numerus,Person,Genus],dat]}
...
...
...
...
Wie nun sieht aber die Merkmalszusammensetzung der Nachfolger dieser pro-Elemente aus? Verteilen sich die in der folgenden Tabelle (3-33) angegebenen Merkmale auf ein oder mehrere Elemente? (3-33)
Merkmale für mögliche Nachfolge-Elemente
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
?
{?
[θ]
[D,ϕ[Numerus,Person,Genus],Kasus]}
Unter den vielen Hypothesen, die es zur Erklärung der romanischen Klitika gibt, soll im Folgenden nur die für die vorliegende Arbeit entwickelte Annahme vorgestellt werden, –––––—–
95
Im Italienischen sind nur Beispiele mit generischer (nicht spezifischer) Referenz oder reduzierter Argumentstruktur möglich, vgl.: (i) Capisco. (ii) Tu capisci questa frase? Io non *(la) capisco. Laut Müller et al. (2002: 181) können spezifische Objekte im Italienischen in marginalem Rahmen weggelassen werden, wenn es sich dabei um ein Topic handelt. Diese Erscheinung ist allerdings lexikalisch beschränkt auf Verben wie connoscere, vedere u.ä. Das Italienische ist eigentlich keine Topic-Drop-Sprache. Klitika befinden sich vielleicht in einem Grammatikalisierungsprozess auf dem Weg zum Flexionsaffix. Dennoch stehen sie nicht dort, wo im Romanischen im allgemeinen die Flexionsaffixe stehen, nämlich durchgängig rechts. Klitika sind also syntaktisch, aber noch nicht morphologisch (das beträfe eine andere Komponente des sprachlichen Systems) inkorporiert.
84 nämlich dass Klitika bestimmte Merkmale tragen, die mit einem in der Argumentposition stehenden Objekt-pro kongruieren. Zunächst halte ich die Beobachtung für wichtig, dass im Italienischen ein leeres Objektpro allein nicht möglich ist: Ein Satz, in dem ein overter θ-Träger des Verbs fehlt, würde automatisch so interpretiert, als ob ein arbiträrer, nicht-spezifischer indefiniter θ-Träger in der Verbbedeutung angenommen werden müsste. Die folgenden eigentlich zweistelligen Prädikate sollen das veranschaulichen: (3-34)
Mangia proobjekt. Ho capito proobjekt.
Vedo proobjekt. (mit proobjekt: [akk,-def,arb])
Es ist gut möglich, dass im Italienischen, anders als im Lateinischen, kein spezifisches, definites leeres pro in Objektposition erscheinen kann, sondern nur ein indefinites bzw. arbiträres pro.96 Daher muss in den definiten Fällen ein Spezifizität und Definitheit ausdrückendes Element in der Derivation erscheinen: das klitische Pronomen, das immer auf quantifizierte, spezifische, definite Argumente verweist.97 Mit dieser Argumentation kann also die Position vertreten werden, dass das in der Argumentposition stehende leere Element, mit dem das Klitikum koindiziert ist, selbst auch Kasus, aber kein oder nur ein arbiträres Definitheitsmerkmal trägt. Es hat sozusagen ein defektives [D]-Merkmal. Definitheit ergibt sich erst durch das Einfügen eines klitischen Pronomens, das mit dem leeren Argument in Numerus, Kasus und Genus kongruieren muss: (3-35)
La mangia (la minestra). L’ho capito (il problema). Li vedo (i bambini).
Die Annahme für PRO als von einem klitischen Personalpronomen kontrollierten Element kann also vermieden werden. Ein leeres kasustragendes Argument kann nur pro sein. Dieses pro im Akkusativ oder Dativ kann aber, im Gegensatz zu seinem Gegenstück im Nominativ, nie definit sein, sondern bleibt indefinit bzw. arbiträr (vgl. (3-34)). Wenn nun das leere Argument nicht arbiträr, sondern spezifisch interpretiert werden soll, kann es diese Definitheit immer nur im Zusammenhang mit einem Klitikum erreichen, da spezifische Interpretationen ein komplettes, nicht defektives [D]-Merkmal verlangen, das mit dem (schwachen) [D]-Merkmal in einem (z.B. transitiven) Pr° abgeglichen werden kann. Ich möchte also davon ausgehen, dass Klitika ein [+def]-Merkmal tragen, Objekt-pro dagegen mit [-def, arb] unterspezifiziert ist:98 –––––—– 96
97
98
In Subjektposition ist ein arbiträres kleines pro in unpersönlichen Konstruktionen mit dem Verb in der 3. Person Plural auch im Italienischen möglich: (i) proarb dicono che le mele fanno bene alla salute. Auch Sportiche (1996) stellt fest, dass Spezifizität in Konstruktionen mit Klitika eine essentielle Rolle spielt; ebenso vermuten Kaiser & Meisel (1991: 128) für die französischen Subjektklitika ein Merkmal [+definit]. Dass Definitheit und Spezifizität mit den Eigenschaften der Prädikationsphrase zusammenhängen, ergibt sich auch für das Sardische, vgl. 7.2.2. Ob nun die Defektivität von pro in einem [-def]Merkmal oder besser vielleicht in einem nicht instantiierten oder gar nicht vorhandenen Merkmal bestehen mag (z.B. Definitheit: [-def] vs. Definitheit: X oder ∅), kann nur eine genauere Untersuchung des Abgleichsmechanismus von Merkmalen im MP herausarbeiten. Wahrscheinlich sollte man die Klitika als Definitheitsoperatoren verstehen, die durch Koindizierung die arbiträre, indefinite Lesart verhindern.
85 (3-36) (3-37) (3-38)
Gianni mangia pro[-def, arb]. Gianni mangia *pro[+def]. Gianni la[+def] mangia pro[-def, arb].
Dementsprechend sieht die nun vorhandene Merkmalsverteilung, z. B. für das italienische Klitikum la, folgendermaßen aus: (3-39)
Merkmalsverteilung für das it. Klitikum la und defektives pro in der Basis:
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
la pro
{/la/klit
∅
[D,+def,ϕ[sg,3,f],akk]}
{∅
[θ]
[Ddefekt,-def,arb,ϕ[sg,3,f],akk}
Nun gilt es endgültig zu klären, an welchen verbalen oder funktionalen Kopf das klitische Personalpronomen durch Merge adjungiert wird. Hier gibt es drei mögliche Kandidaten, nämlich Pr°, T° oder V° selbst. Die Möglichkeit einer Adjunktion an V° selbst möchte ich hier nicht weiterverfolgen und höchstens lexikalisierten Verb-Klitikum-Kombinationen, in denen es kein pro mehr geben kann, vorbehalten (etwa farcela, cavarsela etc.). Manzini & Savoia (1998) vertreten den Ansatz einer Clitic-Shell über I°, d.h. die ganze Serie der möglichen Klitika wird erst in Zusammenhang mit derjenigen Projektion direkt durch Merge eingefügt, die der minimalistischen TP entspricht. Die Annahme dieser Clitic-Shell hängt mit der Tatsache zusammen, dass Klitika im Allgemeinen (abgesehen von oben erwähnten Ausnahmen) in Clustern und möglichst an finiten Verben auftreten. Wenn sie nicht bei finiten Verben, also unter T° erscheinen, sind sie zumindest in den hier behandelten Sprachen immer unter funktionalen Kategorien zu finden, die relevant für ϕ-Merkmale sind. In dem hier vertretenen minimalistischen Ansatz hängt die Argumentstruktur des Verbs eng mit den Eigenschaften von Pr° zusammen. Pr° ist im Grunde auch die funktionale Nachfolgekategorie der durch Kayne (1989b) gerade aufgrund der Partizipialkongruenz in Zusammenhang mit Klitika eingeführten AgrO. Klitika haben ϕ-Merkmale, die innerhalb der PrP/vP-Shell überprüft werden (nominales Agreement, Abgleich der Con-ϕ-Merkmale eines Partizips, vgl. 6.2). Daher möchte ich die Basisposition von Klitika innerhalb der PrP/vP-Shell annehmen: Klitika adjungieren durch direktes Merge an Pr°. Die Derivation einer einfachen Konstruktion mit Klitikum stellt sich also folgendermaßen dar:
86 (3-40)
Maria la mangia (la mela). PrP Spec 'Maria' D nom ϕ akk θ
Pr' VP
Pr° D° 'lak' D ϕ akk def
Spec prok
Pr° V° 'mangia' V agr-ϕ
Pr° Pr Vst D akk
D -def arb θ ϕ akk
V' V°
XP
Das Klitikum wird also in die Derivation gebracht, um ein Definitheitsmerkmal in Pr°/v° (bzw. in dem [D]-Merkmal von Pr°/v°) abzugleichen, wozu pro[-def, arb] nicht in der Lage ist. In diesem Sinne spezifiziert das Klitikum dadurch das leere Objekts-pro. Da das Klitikum aber keine eigene semantische Bedeutung hat, also ein expletives Element ist, darf es auch ohne vorangegangene Bewegung abgleichen. Das Klitikum muss zudem mit dem leeren Objekt-pro, das es spezifiziert, kongruieren. Durch den Abgleich der ϕ-Merkmale des Klitikums mit pro ergibt sich eine Konstellation, die auch den Abgleich weiterer eventuell vorhandener ϕ-Merkmale fordert. Dies kann z.B. die verbalen Con-ϕ-Merkmale betreffen, falls es sich bei V° um ein infinites Verb in Partizipialform handelt. Im Italienischen ergibt sich hier Partizipialkongruenz mit dem direkten Objekt-pro, nie aber mit einem indirekten Objekt-pro.99 Dies mag daran liegen, dass im Italienischen immer die näherliegende Argumentposition (also [Spec, V]) die Kongruenz bestimmt bzw. nur direkt transitive Konstruktionen ein für das direkte Objekt zuständiges kongruenzauslösendes [D]-Merkmal in Pr° haben. Weitere Untersuchungen diesbezüglich, die an dieser Stelle nicht durchgeführt werden können, stehen noch aus. Im weiteren Verlauf wird sich der verbale Komplex, also die gesamte Inkorporationsstruktur von Pr° nach T° bewegen, wenn letzteres finit ist, also ein starkes V° bzw. Pr°/v°Merkmal hat. Auf diesem Wege kommen die Klitika immer vor dem finiten Verb unter T° zu stehen. Bei infiniten Verbformen und dem Imperativ gelten dagegen andere Bewegungsmuster. So muss sich in allen Fällen, in denen das Klitikum enklitisch an eine Verbform anlehnt, die entsprechende Verbform aus verschiedenerlei Gründen ohne das Klitikum –––––—– 99
Anders ist dies z.B. in Varietäten des Korsischen sowie Dialekten des nordwestlichen Latiums (vgl. Loporcaro 1998: 172–174), wo auch indirekte Objektsklitika Partizipialkongruenz auslösen. Die Beispiele des Rätoromanischen (vgl. Salvioni 1911: 376–378) dagegen müssen genauer untersucht werden, da nicht klar ist, ob die Argumente der dort auftauchenden Verben nicht vielleicht doch zwischen indirekten und direkten Objekten oszillieren (wie etwa die Argumente des sardischen faeddare, vgl. Jones 1993: 97, 132).
87 weiterbewegt haben.100 Diese Gründe können die Infinitheit von T°,101 aber auch reine Verb-Kopf-Bewegung etwa nach C° betreffen. Hier ist einzelsprachliche Variation zu beobachten, die bei Bedarf an gegebener Stelle bei der Untersuchung einzelsprachlicher Besonderheiten besprochen werden soll. Für das Italienische möchte ich annehmen, dass sich bei infinitem T° in den meisten Fällen102 nur der verbale Kopf V° allein nach T° (und evtl. weiter) bewegt, um das starke [V]-Merkmal zu überprüfen. Somit ergibt sich die enklitische Position der Pronomina. Minimalistisch bedeutet das aber auch, dass in finiten Kontexten ein starkes Merkmal, etwa ein [Pr]-Merkmal in T°, obligatorisch Bewegung des gesamten Pr°/v°-Komplexes bewirken muss, so dass die ursprünglich proklitische Basisposition erhalten bleibt. Finite Kontexte seien hier von nun an zusätzlich durch ein [±finit]Merkmal ausgedrückt. Es ergibt sich also folgende Parametrisierung für das Italienische: (3-41)
Pr°/v°-Bewegung in Abhängigkeit von finitem (a) und infinitem (b) T° TP T'
Spec T°[+finit]
T +finit Vst Prst Dst nom
TP
a
PrP
PrP
T°[-finit]
Spec
Pr' Pr° D° 'KLITIKUM'
b T'
Spec
Spec VP
Pr° V° 'VERB[+finit]'
Pr°
T -finit Vst Pr Dst
Pr' Pr° D° 'KLITIKUM'
VP Pr°
V° 'VERB[-finit]'
Pr°
Eine Darstellung der Parametrisierung erhält man durch die Eigenschaften von T°, vgl. die folgende Tabelle:
–––––—– 100 101
102
Dabei muss es sich wohl um Fälle von Exkorporation handeln. Kayne (1989b) umgeht diese Problematik, indem er Klitika beispielsweise erst in T° basisgenerieren lässt. Infinitive bewegen sich im Italienischen ebenfalls nach T°: Klitika dürfen aber im Italienischen nicht zusammen mit Pr°/v° an infinites T adjungieren. Ein Grund dafür könnte sein, dass infinites T° im Italienischen grundsätzlich keinerlei ϕ-Merkmale haben kann. Ein anderer Grund könnte sein, dass sich in Infinitivsätzen, die eine eigene klausale Struktur bilden, nur V° nach T° bewegen muss und Pr°/v° in der Grundposition verbleibt. Dies wird hier durch ein schwaches [Pr]-Merkmal in T° zum Ausdruck gebracht. Ähnliches könnte für die anderen Fälle der Enklise gelten, bei denen T-zu-C-Bewegung auftritt, z.B. die absoluten Partizipialkonstruktionen. Im Sardischen dagegen, wo sich Infinitive ebenfalls unter T° bewegen, scheinen Klitika links unter infinitem T° möglich zu sein, sodass man annehmen muss, dass sie sich mit dem gesamten verbalen Komplex mitbewegen können (vgl. Kayne 1991: 66): pro lu fachere (vgl. die Darstellung in 7.1.1). Ausnahmen bilden hierbei die Konstruktionen mit Restrukturierungsverben, vgl. 6.4.
88 (3-42)
Merkmalszusammensetzung von T°[+finit] vs. T°[-finit]103
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
finites T
{∅
[Tempus]
[T,+finit,Vst,Prst,Dst,nom]}
infinites T
{∅
[Tempus]
[T,-finit,Vst,Pr,Dst]}
Diese kontextuelle Abhängigkeit von T° trifft daher für die Position aller klitischen Elemente zu, das unter Pr°/v° durch Merge eingefügt werden.104 3.5.2 Reflexive Personalpronomina Ebenso klitische Elemente, aber völlig anderer Natur, was die Koindizierung mit Argumenten angeht, sind das reflexive und das unpersönliche si. Bei den reflexiven Pronomina unterscheidet man gewöhnlich (vgl. Burzio 1986 sowie 2.2.4) zwischen drei verschiedenen Konstruktionstypen, nämlich der echt reflexiven (3-43)a und (3-43)b, der ergativ-reflexiven (3-44) und der inhärent reflexiven (3-45) Verwendung des Klitikums: (3-43)
a. b.
(3-44) (3-45)
Maria si lava. Maria si lava le mani. Il piatto si rompe. Maria si meraviglia.
Die Verben in den Beispielsätzen (3-44) und (3-45) sind lexikalisierte ergativ-reflexive (also unakkusativische) Verben; der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass es nur zu (3-44) zufällig auch eine transitive Version des entsprechenden Verbs ohne si gibt. Si entspricht daher in beiden Fällen einem overten lexikalischen Merkmal für Unakkusativität, welches bei dem ambiguen Verb affondare im Fall der unakkusativischen Konstruktion nur indirekt bemerkbar ist (vgl. Cocchi 1994). Da si in beiden Fällen auf kein θ-tragendes Argument des Verbs verweist, kann man annehmen, dass es ein lexikalisch an V° durch Adjunktion generierter Schwesterknoten ist. Daher wird sich ein solches Klitikum mit dem Verb nach Pr°/v° bewegen und sich von da an genau wie die klitischen Personalpronomen verhalten, was die Bewegungsmuster betrifft. Die zu diesem Klitikum gehörigen unakkusativischen Verben werden in die Komplementposition einer unakkusativischen PrP durch –––––—– 103 104
Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Außerdem gilt: Klitika gehören zwar der D-Kategorie an, scheinen aber keine starken [D]-Merkmale in funktionalen Kategorien abgleichen zu können, an die sie adjungieren. Sie können nur Definitheit bestimmen. Obwohl ein Klitikum unter Pr°/v° bzw. T° erscheint, wird im folgenden Beispiel das interne Argument des unakkusativischen Restrukturierungsverbs, Gianni, in den Matrixsatz angehoben, um das starke [D]-Merkmal in T° des Matrixsatzes abzugleichen: (i) Gianni le è andate a prendere (le mele). Das Klitikum le konnte hier also das starke [D]-Merkmal in T° nicht selbst überprüfen. Das mag daran liegen, dass Klitika keine maximalen Projektionen darstellen, anders als etwa pro und PRO (auch als Expletiva). Es gilt also der folgende Satz: (ii) Eine D°[klit] kann kein starkes [D]-Merkmal funktionaler Kategorien abgleichen.
89 Merge eingefügt werden, genau wie andere unakkusativische Verben auch. Einer genaueren minimalistischen Analyse müssen nun die echten Reflexivkonstruktionen unterzogen werden, d.h. die Konstruktionen unter (3-43), bei denen das reflexive Klitikum anaphorisch auf ein Argument des Verbs verweist. Ich möchte mich hier der Argumentation von Cocchi (1994, 1995) anschließen, die Argumente dafür anführt, dass auch eine echt reflexive Konstruktion eine unakkusativische Derivation darstellt. Das bedeutet, dass das Oberflächensubjekt aus einer tieferliegenden Position heraus angehoben worden ist:105 (3-46)
a. b.
Mariai si lava ti. Mariai si lava le mani ti.
Die Anhebung des direkten oder auch des indirekten Objekts lässt sich auf die Annahme zurückführen, dass si selbst der Träger des starken [D]-Merkmals ist. Gleichzeitig ist si auch an eine Argumentleerstelle für die Subjekt-θ-Rolle gebunden. Durch das Anheben einer DP aus [Spec, V] nach [Spec, Pr/v] wird diese DP gedoppelt und dadurch eine Referenzidentität zwischen Subjekt-θ-Rolle und der angehobenen DP hergestellt. Des Weiteren muss si entweder ein Akkusativ- oder ein Dativmerkmal in Pr°/v° überprüfen können, da die angehobene DP selbst dagegen Nominativ-Träger ist. Die möglichen Merkmalszusammensetzungen für si sehen nach diesem Vorschlag folgendermaßen aus: (3-47)
Vorschlag der Merkmalszusammensetzungen für reflexives si im Italienischen
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,dat]}
Si ist ein funktionales Element. Die anaphorische θ-Rolle, die hier angezeigt ist, bedeutet eigentlich nur die Doppelung, die zum Ausdruck bringt, dass zwischen dem Empfänger dieser θ-Rolle und der angehobenen DP eine Referenzidentität besteht.106 Da es theorieintern aber nicht möglich ist, dass eine DP zwei θ-Rollen erhält, erscheint si als θ-RollenVermittler. Über si erhält die Subjekts-DP Maria schließlich doch eine Assoziation mit der übrigen θ-Rolle des hier ditransitiven Verbs bzw. die anaphorische θ-Rolle von si wird durch Maria gebunden:
–––––—– 105
106
Zugrunde gelegt wird also nicht die übliche Parallelität (i), sondern (ii) (zu Cocchi 1994, 1995 vgl. auch 2.3.7): (i) a. Maria lava se stessa. b. Maria si lava. (ii) a. La madre lava Maria. b. Maria si lava. D.h. es handelt sich hier nicht um θ-Rollen-Zuweisung an das Klitikum, sondern um eine Assoziation mit der θ-Rolle (im Sinne Jaegglis 1986b: 26), die durch das reflexive Klitikum wieder auf das Subjekt rückverweist.
90 (3-48)
Maria si lava le mani.107 PrP Spec
Pr' k
'Maria '
D nom θ ϕ
Pr° D° k 'si '
Dst dat θana
VP Pr°
V° 'lava' V agr-ϕ +finit
V'
Spec Pr°
Pr Vst D akk
Spec 'le mani'
D akk θ
V' V°
DP
ϕ
Reflexives si hat also einen dem kontrollierten PRO vergleichbaren Status. Die klitischen Personalpronomina sind als pronominale Elemente mit einem argumentellen pro koindiziert, das sie binden bzw. spezifizieren. Reflexiva dagegen können nicht selbst binden, sondern müssen, da sie anaphorische Elemente sind, gebunden werden. Diese Bindung besteht bei reflexiven Elementen immer zur Subjektposition.108 Die Eigenschaft von reflexivem si als anaphorischem Element, das immer mit der θ-Rolle des OberflächenSubjekts koindiziert ist, wird, minimalistisch gesehen, durch seine Eigenschaft als Anapher in Zusammenspiel mit seinem starken [D]-Merkmal ausgedrückt.109 3.5.3 Unpersönliches si Konstruktionen mit unpersönlichem si haben viele Gemeinsamkeiten mit den Reflexivkonstruktionen: Auch hier wird die θ-Rolle des externen Arguments an si vergeben. Allerdings verursacht unpersönliches si keine Anhebung von internen Verbargumenten, was daran er–––––—– 107
108 109
Bei den indirekten Reflexivkonstruktionen muss man Dative-Shift mit Mehrfachspezifikatoren annehmen; d.h. das indirekte Objekt wird zunächst nach [Spec, V] angehoben. Ansonsten könnte man nicht erklären, was in einer ditransitiven Konstruktion verhindert, dass das näherliegendere direkte anstatt das indirekte Objekt in die Subjektposition nach [Spec, T] angehoben wird, um das starke [D]-Merkmal zu überprüfen. Reflexives si ist also eine overte, kasustragende Version von nullkasustragendem leeren PRO; dieser Gedanke findet sich außerdem auch in Manzini (1986: 248). Das Prinzip der Bindungstheorie, dass si innerhalb seiner Rektionskategorie gebunden sein muss, wird daher durch die durch eine geeignete, durch Bewegung entstandene Konstellation innerhalb einer minimalistischen Domäne abgelöst. Diese Konstellation beinhaltet auch, dass si immer an ein ganz bestimmtes Element, nämlich das Subjekt der Domäne, gebunden sein muss.
91 kennbar ist, dass unpersönliches si in allen Konstruktionstypen, sogar im Passiv auftreten kann: (3-49) (3-50) (3-51)
Allora si dormiva in letti più grandi. (intransitiv) Allora si arrivava solo a piedi in questa valle. (unakkusativisch) In passato da piccoli si veniva spesso picchiati. (passivisch)
Was die transitiven Konstruktionen betrifft, gibt es allerdings varietätenabhängige Unterschiede zu beobachten: (3-52) (3-53)
%Allora si mangiava le mele senza sbucciarle. (transitiv) Allora le si mangiava senza sbucciarle. (transitiv)
(3-52) wird nur von manchen SprecherInnen des Italienischen (v.a. aus dem toskanischen Raum) akzeptiert, (3-53) von allen (vgl. GGIC, I, 1988: 102). Ein Ausweg aus der sich eventuell in (3-52) ergebenden Ungrammatikalität ist ein Anheben des Objekts in Subjektposition, wie es in der weiter unten behandelten passivisch-medialen si-Konstruktion (vgl. (3-66)) geschieht (vgl. 3.5.4). Mit welchen Merkmalsstrukturen lassen sich nun die Beispiele von (3-49) bis (3-53) erklären? Da das Erscheinen des unpersönlichen Klitikums (fast110) konstruktionstypunabhängig ist, muss man keine Veränderung an dem jeweiligen von der Konstruktion abhängigen Eintrag für Pr°/v° annehmen; dies ist minimalistisch auch vorzuziehen. In der Literatur ist allgemein anerkannt,111 dass si ein Argument des Verbs und das Subjekt der Konstruktion darstellt (es kann nicht Subjekt des subjektlosen sembrare sein, vgl. (3-54)), Nominativ trägt (es kann nur in Zusammenhang mit finitem T° erscheinen, vgl. (3-55)) und eine arbiträre Lesart parallel zu unkontrolliertem PROarb aufweist (vgl. (3-56)). Außerdem scheint es (als zur Kategorie D gehörig) dieselben ϕ-Merkmale wie PROarb zu tragen (vgl. (3-57)), nämlich [m,pl] (in manchen selteneren Fällen auch [f,pl]). (3-54) (3-55) (3-56) (3-57)
a. b. a. b. a. b.
*Si sembra che andiamo via. Si va via. *Sembra tornarsi a casa. È importante che si parta adesso. È importante PRO partire adesso. È importante che si sia felici nella vita. È importante PRO essere felici nella vita.
Hier wird daher vorgeschlagen, das unpersönliche si, ähnlich wie das reflexive si, als Anapher zu betrachten, mit dem Unterschied, dass unpersönliches si auf ein arbiträres Oberflächensubjekt verweist statt auf ein referentielles Argument, das sich bereits (in derselben –––––—– 110
111
Bei den SprecherInnen des Italienischen, die (3-52) nicht akzeptieren, scheint es problematisch zu sein, dass si sich neben einer overten Akkusativ tragenden DP in der Derivation befindet. Beispiele mit einer overten Dativ-DP dagegen werden akzeptiert: (i) Non si parla a tutti. Zu unpersönlichem si vgl. die entsprechenden Stellen bei Rizzi (1982) und Burzio (1986) sowie Hyams (1986), Manzini (1986), Cinque (1988), Dobrovie-Sorin (1994).
92 Domäne) in der Derivation befindet. Dieses arbiträre Argument ist leer und hat keinen Kasus, da si immer Kasusträger ist. Eben durch dieses Argument muss si gebunden sein, damit seine anaphorische θ-Rolle referenziert. Ein solches Element könnte grundsätzlich PROarb selbst sein. Wenn in einem gängigen eingebetteten Nebensatz mit PROarb auch ein (reflexives) si im Akkusativ oder Dativ anaphorisch auf dieses PROarb verweisen kann, warum sollte dies dann nicht auch in einem finiten Satz mit einem (unpersönlichen) si im Nominativ möglich sein, wenn gesichert ist (nämlich durch si), dass PRO keinen (oder höchstens Nullkasus) bekommt: (3-58) (3-59)
È bello PROarbk lavarsik. Oggi PROarbk sik lava.
Wenn PROarb in [Spec, Pr/v] als Argument durch Merge in die Derivation eingesetzt wird, geht das nur, wenn es keinen Nominativ abzugleichen gibt, weil ein anderes Element bereits Nominativträger ist oder weil Nominativ gar nicht überprüft werden kann. Die Aufgabe, Nominativ in finiten Sätzen zu überprüfen, erfüllt unpersönliches si. In infiniten Sätzen gibt es keinen Nominativ, so dass dort nie unpersönliches si erscheinen kann (vgl. auch (3-55)): (3-60)
*È bello essersi felici.
Aufgrund dieser Tatsachen möchte ich annehmen, dass sich der Lexikoneintrag von unpersönlichem si nur in Kasus und der Stärke des [D]-Merkmals von reflexivem si unterscheidet. Der ausschlaggebende Unterschied zwischen reflexiven und unpersönlichen Konstruktionen liegt also nicht nur an den klitischen Elementen, sondern auch an der Tatsache, dass ein arbiträres PRO in die Derivation gelangt. Ich möchte die folgenden Merkmalseintragungen vorschlagen: (3-61)
Vorschlag für die Merkmalszusammensetzung unpersönlicher Konstruktionen mit si
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[D,nom,ϕ[3,sg,Genus]]}
PROarb
{Ø
[θ]
[D,null,ϕ[pl,Genus]]}
Durch die unterschiedliche Zusammensetzung der ϕ-Merkmale, besonders was den Wert für Numerus betrifft, wird klar, warum es zu den bereits angesprochenen Phänomenen der Merkmalsspaltung kommen kann: In unakkusativischen Konstruktionen und beim Passiv wird das arbiträre PRO in [Spec, V] basisgeneriert und dann durch ein starkes [D]-Merkmal in unakkusativischem bzw. passivischem Pr°/v° nach [Spec, Pr/v] bewegt, wo der Merkmalsabgleich stattfindet und das starke [D]-Merkmal gelöscht werden kann. Dabei werden, wenn die entsprechende Verbform es erlaubt (d.h. wenn sie mit Con-ϕ-Merkmalen ausgestattet ist),112 auch ϕ-Merkmale abgeglichen: Es kommt zu Partizipialkongruenz mit –––––—– 112
Handelt es sich um ein adjektivisches Prädikat, kommt es natürlich auf jeden Fall zur Kongruenz mit PROarb. Diese rein nominale Kongruenz kann nur mit Parametrisierungen der Eigenschaften
93 PROarb, sichtbar an der Pluralendung des Partizips. Si selbst überprüft seine ϕ-Merkmale aber erst nach Bewegung unter T°, so dass hier Agreement mit dem Verb erfolgt: Dies ist sichtbar an der Singularendung des Hilfsverbs (vgl. (3-62)a und (3-62)b). In den intransitiven unergativen Konstruktionen dagegen wird PROarb erst in [Spec, Pr/v] eingesetzt, so dass es nur zu Agreement, nicht aber zu verbalen Kongruenzerscheinungen kommen kann (Default-Form des Partizips auf -o, vgl. (3-63)a), es sei denn, diese sind durch Partizipialkongruenz mit einem klitischen Personalpronomen entstanden (daher nicht unbedingt im Plural, vgl. (3-63)b sowie 6.2): (3-62)
a. b. a. b.
(3-63)
Si è arrivati. (unakkusativisch) Si viene picchiati. (passivisch) Si è dormito. (unergativ) La si è mangiata. (transitiv)
Die dementsprechende strukturelle Darstellung der Derivation soll hier nur anhand von Beispielen in einfachen (nicht analytischen) Zeiten demonstriert werden, da die Analyse der Hilfsverben erst im Hauptteil der Arbeit erfolgen wird (vgl. Kapitel 5–7). Da hier also keine Verbformen mit Con-ϕ-Merkmalen auftauchen, wird auch keine Kongruenz sichtbar: (3-64)
Si arriva (a) / Si dorme (b). PrP
PrP
a Spec k 'PROarb '
D θ
Spec k 'PROarb '
Pr°
ϕ null
b
Pr'
D° k 'si '
D θ
VP Pr°
D V° Pr° nom 'arriva' θana Pr ϕ V Vst agr-ϕ Dst +finit
Pr'
Spec
ϕ null
V' V°
XP
Pr° D° k 'si '
VP Pr°
V°
XP
V° Pr° D nom 'dorme' Pr θana V Vst ϕ
agr-ϕ +finit
Die minimalistische Interpretation von unpersönlichem si als überprüfendem Element für Nominativ-Kasus im Falle einer arbiträren Referenz des externen Arguments (des Subjekts) erklärt auch, warum unpersönliches si nie in infiniten Sätzen vorkommen kann: Infinites T° hat kein Nominativmerkmal, daher kann PROarb die Subjektposition füllen, ohne dass No–––––—– der adjektivischen Prädikatsphrase zu tun haben: Im Italienischen kommt es hier zu Kongruenz, im Deutschen dagegen nicht.
94 minativ überprüfendes si erscheinen muss.113 Ein PRO mit arbiträrer Referenz muss nicht kontrolliert werden; si allerdings muss, als anaphorisches Element, ein Antezedens haben, durch das es gebunden ist. Die gängige Argumentation, dass PRO nur in infiniten Sätzen angenommen werden darf (z.B. auch Martin 2001: 141), ist in dem hier vorliegenden Ansatz aufgehoben: PRO kann auch in finiten Sätzen angenommen werden, allerdings nie als kontrolliertes PRO (finite Sätze können nicht von außen kontrolliert werden), sondern nur als universal gebundenes, d.h. arbiträres Element. Die hier gelieferte Argumentation berührt die Kontrolltheorie daher nicht. Ein weiteres Definitionsmerkmal für PRO ist üblicherweise die Forderung, dass es nicht regiert sein darf. Im MP gilt das Prinzip der Rektion nicht mehr. Daher ist diese Forderung so zu interpretieren, dass PRO nie einen anderen Kasus als Nullkasus überprüfen kann, d.h. es kann nie den Nominativ-, Akkusativ- oder Dativkasus eines Verbs abgleichen.114 Wie der im Minimalismus geforderte Nullkasus nun abgeglichen werden kann, ist hier unklar. Klar ist jedoch, dass er als Merkmal nicht interpretierbar ist und daher nicht auf der LF erscheinen darf.115 Ein Alternativvorschlag muss allerdings noch diskutiert werden: Auffällig ist, dass unpersönliches si Nominativkasus und ansonsten kein für die PrP/vP-Shell relevantes Merkmal trägt. Daher ist es nicht unbedingt notwendig anzunehmen, dass dieses unpersönliche si genauso wie die reflexiven Typen von si bereits so früh in die Derivation gelangt. Nichts spricht dagegen, dass si erst unter T° als Expletivum durch Merge eingefügt wird, da arbiträres PRO kein oder eben Nullkasusträger ist, finites T° aber seinen Nominativkasus abgleichen muss. Würde es sich um ein infinites T° handeln, das keinen Nominativ abgleicht, könnte PRO ohne weiteres ohne kasusunterstützendes si bestehen.116 Der –––––—– 113
114
115
116
Dass infinites T immer für den Nullkasus von PRO zuständig ist, wie von Chomsky & Lasnik (1993) vorgeschlagen und Martin (2001: 141) als allgemeingültig angenommen, möchte ich, wie bereits erwähnt, in Frage stellen: In Kontrollstrukturen, in denen PRO vom Matrixsatz aus kontrolliert wird, bietet sich das von Kontrollverben subkategorisierte C° für den Nullkasusabgleich an. Wegen nicht abgeglichener (struktureller) Kasusmerkmale auf der LF sind die folgenden Sätze ungrammatisch: (i) *PROarb lavora. (Nominativ ist nicht abgeglichen) (ii) *Considero PROarb intelligenti. (Akkusativ ist nicht abgeglichen) (iii) *Prometto che *PROarb lavora. (Nominativ ist nicht abgeglichen) Es gibt also (zumindest im Italienischen) auch kein arbiträres (kleines) pro mit Nominativmerkmal, es sei denn als allgemeine Referenz in der 3. Pers. Pl., die nur zustande kommt, wenn pro nicht durch den Kontext gebunden werden kann: (iv) pro hanno cambiato la legge. Der Unterschied zwischen der Merkmalszusammensetzung von pro und PRO ist Kasus: pro trägt Nominativ, PRO dagegen keinen oder Nullkasus. Ein kasustheoretischer Ansatz für PRO, der gänzlich auf die Bindungstheorie verzichtet, findet sich in Martin (2001). Eventuell könnte er mit C° abgeglichen werden: Unpersönliche Konstruktionen haben sehr oft modale Lesarten (vgl. questo non si fa), und da Modus C-relevant ist, wäre es nicht abwegig, auch ein Nullkasusmerkmal in C° anzunehmen (vgl. auch Fn. 113). Diesbezügliche Überlegungen seien hier nicht weiter ausgeführt. Weitere Zusatzannahmen in Bezug auf das PRO-Theorem im Falle einer arbiträren Referenz finden sich in Kapitel 5.3 bei der Behandlung des Passivs. Der Nullkasus von PRO könnte auch hier mit einer Nullkasustragenden infiniten C° abgeglichen werden.
95 Alternativvorschlag sei hier kurz demonstriert (vgl. (3-65)) und erst im weiteren Verlauf bei der Hilfsverbselektion (vgl. 5.4.4) entscheidend weiterdiskutiert:117 (3-65)
Si arriva.118 TP Spec 'PROarbk'
T' T°
D θ ϕ null
T°
D° 'sik' D nom θana
PrP
V° 'arriva'
ϕ
V agr-ϕ +finit
Spec
Pr'
T° T Vst Dst nom
Pr° V°
VP Pr° Pr Vst Dst
V'
Spec V°
XP
3.5.4 Passivisch-mediales si Zu guter Letzt gilt es noch einen Fall von si-Konstruktion zu analysieren, anhand dessen sich die bisher erzielten Ergebnisse gut zusammenfassen lassen. Diese Konstruktion kursiert unter mehreren Namen: als “passive si” (Belletti 1982), “Object preposing” (Rizzi 1982), “middle si” (Manzini 1986). Man vergleiche (3-52) und (3-53) mit der folgenden Konstruktion (3-66): (3-66)
Allora le mele si mangiavano senza sbucciarle.
Das Klitikum si in (3-66) wird manchmal zum unpersönlichen (wie (3-52) und (3-53)), manchmal zu reflexiven Typ gezählt; vgl. auch zweideutige Beispiele wie das folgende: (3-67)
I bambini si picchiano.
–––––—– 117
Der Vorschlag, dass zumindest unpersönliches si erst unter I basisgeneriert wird, ist in der Literatur auch vertreten, vgl. z.B. Manzini & Savoia (1998). 118 Es bleibt zu diskutieren, warum sich PRO nach [Spec, T] bewegen sollte. Dafür könnte es die arb folgenden Gründe geben: 1) Es muss die anaphorische θ-Rolle von si binden. 2) Es muss overt Nullkasus mit C° abgleichen. Diese Diskussion kann hier nicht weiter verfolgt werden.
96 In der reflexiv-reziproken Lesart schlagen sich die Kinder hier gegenseitig, während in der passivisch-medialen Lesart die Kinder von einer nicht näher bestimmten unpersönlichen, den Sprecher vielleicht einschließenden Instanz geschlagen werden bzw. (mit deontischer Modalität) generell zu schlagen sind, vgl. die disambiguierten Beispiele: (3-68) (3-69)
I bambini si picchiano a vicenda. I bambini si picchiano quando non ubbidiscono.
Es handelt sich also hier für zwei verschiedene Lexikoneinträge für si, die sich nur minimal unterscheiden: Im ersten Fall wird eine Assoziation bzw. anaphorische Bindung zwischen si und dem (durch si angehobenen, also derivierten) Subjekt gelesen; im zweiten Fall wird diese anaphorische Bindung zu einem arbiträren Element hergestellt, was bereits als PROarb analysiert wurde. Die Lexikoneinträge für beide Lesarten von si sehen daher identisch aus (vgl. (3-47), erster Eintrag, hier wiederholt als (3-70)): (3-70)
Lexikoneintrag für reflexives si mit Akkusativ
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
si
{/si/klit
[θana]
[Dst,akk]}
Der Unterschied ergibt sich bei den vorliegenden, manchmal zweideutigen Konstruktionen nur dadurch, dass in der passivischen Lesart ein weiteres leeres Element in die Derivation gelangt, nämlich arbiträres PRO: (3-71)
Lexikoneintrag für arbiträres PRO
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
PROarb
{∅
[θ]
[D,null,ϕ[pl,3,genus]]}
Gerade bei den zweideutigen Beispielen wie (3-67) wird deutlich, dass eine Interpretation mit arbiträrem PRO eine modale Lesart mit sich bringt: Die Hypothese, dass das modale C° in solchen Konstruktionen das Nullkasusmerkmal von PROarb überprüfen kann, scheint weiterhin plausibel. Die strukturelle Ableitung des zweideutigen Beispiels sieht dann für beide Interpretationen folgendermaßen aus:
97 (3-72)
I bambini si picchiano. PrP
PrP Spec k 'i bambini '
D nom θ ϕ
a
Pr'
Spec
b
Pr'
'i bambini' Pr°
Spec
VP
Pr' k
'PROarb ' Pr°
D° k 'si '
Dst akk θana
Spec
V° Pr° 'picchiano' V agr-ϕ +finit
V' V°
XP
D nom θ
Vst D akk
ϕ
Pr°
D θ
ϕ null
D°
VP Spec
Pr°
V'
k
'si '
Dst akk θana
V° 'picchiano' V agr-ϕ +finit
Pr° Vst D akk
V°
XP
Durch diese Analyse ist eine Verbindung zwischen reflexivem und unpersönlichem Gebrauch von si hergestellt: Reflexives (hier reziprok-reflexives) si ist v.a. durch ein starkes [D]-Merkmal gekennzeichnet (vgl. (a)), unpersönliches si dagegen ist anaphorisch an PROarb gebunden (vgl. (3-65)). Der passivisch-mediale Gebrauch kommt dadurch zustande, dass ein reflexives si auch in einem finiten Hauptsatz zusammen mit einem arbiträren PRO auftritt und an dieses gebunden werden kann (vgl. (b)).119 Zusammenfassend sei hier nochmals ein Gesamtüberblick über die Merkmalszusammensetzungen der in diesem Kapitel behandelten Klitika gegeben:
–––––—– 119
Auch Manzini (1986) hat die verschiedenen Typen von si zu einem Lexikoneintrageintrag zusammengefasst, nämlich si: Variable, Argument, N, Third Person, Unspecified Number and Gender, Clitic on a Verb, Bound to its Subject, (Passivizer) (Manzini 1986: 257, 259); die Parameter, die für die verschiedene Verwendung verantwortlich sind, stellt sie so dar: Free variable
Dependent variable
Nonpassivizer
Impersonal SI
Reflexive SI
Passivizer
Middle SI
Middle-Reflexive SI
Der hier vertretene Ansatz unterscheidet sich von dem Manzinis dadurch, dass auch Reflexivkonstruktionen als solche Konstruktionen analysiert werden, in denen das Objekt angehoben wurde. Dadurch fallen die Gruppen Reflexive und Middle-Reflexive zusammen. Die so genannte Passivizer-Eigenschaft Manzinis wird hier minimalistisch durch ein starkes [D]-Merkmal in si ausgedrückt.
98 (3-73)
Merkmalsüberblick zu den klitischen und leeren Elementen120
Typ
Element
Personalpronomen
la, lo, le, {/la,lo,le,li/klit ∅ li
{phonolog.
[D,+def,ϕ[Numerus,3,Genus],akk]}
Personalpronomen
le, gli
∅
[D,+def,ϕ[Numerus,3,Genus],dat]}
{/le,¥i/klit
semant.
formale Merkmale}
In diesem Zusammenhang auftretende leere Kategorien: Leere Kategorie
pro
{∅
[θ],arb
[D,-def,ϕ[Numerus,3,Genus],kasus]}
Typ
Element
{phonolog.
semant.
formale Merkmale}
Reflexivpronomen
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
Reflexivpronomen
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,dat]}
Unpersönlich
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[D,nom,ϕ[3,sg,Genus]]}
Passivisch-medial
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
In diesem Zusammenhang auftretende leere Kategorien: Leere Kategorie
PROarb
{∅
[θ],arb
[D,-def,ϕ[pl,3,Genus],null121]}
Zu beachten ist hierbei, dass die Einträge für reflexivisches si im Akkusativ und für passivisch-mediales si identisch sind. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den personalen Klitika und si ist der, dass si-Klitika anaphorisch wirken sowie mit einem starken [D]Merkmal versehen sind; die einzige Ausnahme bildet hierbei unpersönliches si, das im Zusammenhang mit Hilfsverbkonstruktionen genauer untersucht wird (vgl. 5.4). Eventuell haben alle Klitika ϕ-Merkmale, bei reflexivischem und passiv-medialem si sind diese aber empirisch nicht nachweisbar. Festzuhalten bleibt, dass unpersönliches si immer ein Singular-,122 arbiträres PRO immer ein Pluralmerkmal hat. PROarb kann in finiten Sätzen nur im Zusammenhang mit unpersönlichem und passivisch-medialem si erscheinen,123 welches den sonst auf der LF störenden Nominativ bzw. Akkusativ überprüft. Passivisch-mediales si ist meiner Meinung nach aus einer Neuinterpretation des unpersönlichen si als Reflexivum entstanden; es ruft varietätenabhängig nicht eindeutige syntaktische Erscheinungen hervor und muss daher als unstabil erscheinen.
3.6
Weitere Annahmen
Eine weitere der traditionellen funktionalen Kategorien des P&P-Modells, auf die hier noch nicht eingegangen worden ist, stellt die Negations- oder Polaritätsphrase (bei Laka 1994 –––––—– 120 121 122 123
Phonologische Varianten oder Ersatzformen (glielo, ci si) sowie der Spezialfall des zweisilbigen Klitikums loro werden hier nicht aufgeführt. Für PROarb ist hier der Vollständigkeit halber auch ein [-def]-Merkmal aufgeführt. Man könnte den Singular natürlich auch als Default-Numerus erklären, der auftritt, wenn es gar keine ϕ-Merkmale gibt. Dieser Anwendungsbereich wird später noch für das Passiv erweitert werden, vgl. 5.3.
99 auch Σ-Phrase) dar. Anstatt eine immer vorhandene Polaritätsphrase zu postulieren, wird aus Ökonomieprinzipien angenommen, dass eine Negationsphrase nur dann projiziert wird, wenn sich eine Negation in der Enumeration befindet. Negierte Elemente sind skopusrelevant, ähnlich wie Quantifikatoren und Wh-Merkmale. Negationen können die verschiedensten Teilbäume einer Derivation negieren. Negation ist LF-relevant. Chomsky (1995) geht auf die Negationsphrase gar nicht ein. Es stellt sich also die Frage, welche Rolle die Negation und wohl anzunehmende [Neg]-Merkmale im MP spielen. Wenn man non (im Gegensatz zu Laka 1994 u.a.) als klitischen Kopf ansieht, so muss im MP keine eigene Projektion einer funktionalen Kategorie für diesen Kopf angenommen werden. Statt dessen kann minimalistisch mit Merkmalen und Inkorporation gearbeitet werden. Ähnlich wie Agreement kann auch Negation allein über Merkmalsabgleich abgewickelt werden.124 Daher erscheint es natürlich, die Negation als einfaches Merkmal in die Tempusphrase zu verlagern, das dann ‘nebenbei’, als Free Rider, von dem ebenfalls mit [neg]125 spezifizierten verbalen Komplex [V°, Pr°/v°] überprüft werden kann: (3-74)
Merkmalssetzung bei negierter Derivation
Kategorie V°
Merkmalsstruktur [V,neg]
Pr°
[Pr,Vst,D,akk]
T° C°
[T,Vst,Dst,nom,neg] ...
An dieser Stelle kann keine ausführliche Diskussion von Negation vorgenommen werden. Dennoch gibt es im Zusammenhang mit Hilfsverben aufschlussreiche Phänomene zu beobachten. Im Englischen kann man feststellen, dass negierte Sätze das Einfügen von Hilfsverben notwendig machen bzw. dass die englische Negation nur an Hilfsverben, hier sogar meist klitisiert, auftauchen darf. Innerhalb des P&P-Modells wurde dies mit der Präsenz der NegP erklärt, die das im Englischen notwendige Affix Hopping unmöglich macht, so dass die finiten Flexionsmerkmale nicht am Hauptverb realisiert werden können. Innerhalb des MP könnte man derart argumentieren, dass ein negiertes T° den koverten Merkmalsabgleich der englischen ϕ-Merkmale sowie den des (schwachen) [V]-Merkmals in T° unmöglich macht. Interessanterweise taucht im Englischen nicht nur dann das ‘Dummy Do’ auf, wenn die Derivation negiert ist, sondern auch wenn es um markiert affirmative Sätze geht. Die hier behandelten romanischen Gegenstücke können diese betonte Markiertheit der Affirmation nur durch Betonung/Intonation ausdrücken. Negation kann also durchaus auch als reines Merkmal in V° bzw. in T° angesehen werden, das ähnlich wie die Flexionsendungen, d.h. ϕ-Merkmale, abgeglichen werden muss. Der Unterschied zwischen dem Italienischen und dem Englischen bestünde dann darin, dass im Englischen nur die Hilfs–––––—– 124
Denn so wie Agreement-Phänomene morphologisch als verbale Flexionsendungen erscheinen können, gibt es auch viele Sprachen, z.B. das Türkische, in denen die Verbnegation als morphologisches Flexionssuffix erscheint. 125 [neg] ist von nun ab klein geschrieben, da es nicht mehr ein kategorielles Merkmal wie [Neg] darstellt.
100 verben, nicht aber die Vollverben [neg]-Merkmale tragen und überprüfen können. In den romanischen Sprachen dagegen sind abstrakte [neg]-Kennzeichnungen oder intonatorisch overte affirmative Merkmale an den Vollverben realisiert (vgl. auch López 1999). Der entsprechende minimalistische Strukturbaum für einen einfachen finiten Satz des Italienischen im Präsens, der zum Abschluss dieses theoretischen Kapitels noch gezeigt werden soll, sieht folgendermaßen aus: (3-75)
Gianni non mangia delle mele. CP
C°
TP
Spec 'Gianni'
T'
PrP
T° D ϕ
Neg° 'non'
T°
neg
Pr°
V° 'mangia' V neg Agr-ϕ
Spec
Pr'
T°
Pr°
T Prst Vst Dst neg nom +finit
VP
Pr°
V°
Pr°
Pr Vst D akk
Spec 'delle mele' D akk ϕ
V'
V°
XP
Ein T-Kopf einer negierten Derivation hat ein [neg]-Merkmal, das mit einem [neg]-Merkmal in der negierten PrP (hier in V°) übereinstimmen muss.126 Zudem erscheint das overte Negations-Klitikum non; es kann hier nicht genau geklärt werden, ob non bereits in der Prädikationsphrase oder erst in der TP in die Derivation gelangt. In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass non im Italienischen bei Satznegation erst unter T° durch Merge eingesetzt wird, weil es nie an anderer Stelle als vor T° erscheint. Non muss genauso wie ein klitisches Personalpronomen vor dem finiten Verb stehen und erklärt sich als Manifestation eines (hier) verbalen [neg]-Merkmals; genauso hat sich ein klitisches Personalpronomen als Manifestation eines speziellen D-bezogenen Merkmals erklären lassen (vgl. 3.5).127 Eine eigene Negationsphrase soll jedenfalls im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit ebenso wie die Agreement-Phrasen nicht mehr angenommen werden. –––––—– 126 127
Die Annahme, dass das V° auch ein [neg]-Merkmal trägt, darf als eine Art Negations-Kongruenz verstanden werden. Die Stellung von klitischem Personalpronomen und klitischer Negation sind aber nicht immer parallel, sodass es sehr wahrscheinlich ist, dass non an anderer Stelle eingefügt wird, vgl. z.B. Infinitivkonstruktionen: (i) per non mangiarla
101
3.7
Zusammenfassung
Im diesem Kapitel wurden die Rahmenbedingungen des MP dargestellt (vgl. 3.1), weiter ausgeführt und in unklaren Fällen präzisiert (vgl. 3.2 bis 3.6). Als Konsequenz ergaben sich in manchen Fällen auch Erweiterungen des minimalistischen Ansatzes. Die hierbei erzielten Ergebnisse, auf denen der weitere Verlauf der Arbeit aufbauen wird, sind die folgenden: −
−
−
− −
−
−
Im MP gilt die Checking Theory, welche den Merkmalsabgleich der durch die syntaktischen Operationen Merge und Move aufgebauten syntaktischen Objekte regelt. Bei diesem dynamischen Strukturaufbau sind Mehrfachspezifikatoren erlaubt. Alle lexikalischen Einträge gelangen als Vollformen (d.h. mit vollspezifizierten phonologischen, formalen und semantischen Merkmalsbündeln versehen) in die Derivation. Die gültigen funktionalen Kategorien in dem vorliegenden minimalistischen Rahmen sind auf ein Minimum reduziert. Die VP-Shell kann als eine Spezialisierung einer allgemeineren Prädikationsphrase interpretiert werden. Eine PrP wird für jede Prädikation angenommen. Die Aufgaben von Pr° bestehen u.a. in der Bereitstellung einer impliziten Ereignisposition, der Vermittlung einer agentiven θ-Rolle, dem Abgleich von Akkusativ-Kasus, der Steuerung der Anhebung interner Argumente etwa in unakkusativischen Konstruktionen. Kasus wird ebenfalls durch Merkmalsabgleich geregelt: Struktureller Kasus muss in den funktionalen Kategorien überprüft und gelöscht werden, inhärenter Kasus ist lexikalisch und interpretierbar und darf daher auch in der LF sichtbar sein. Ein leeres PRO muss Nullkasus abgleichen. Die θ-Vergabe stellt einen zum Merkmalsabgleich komplementären Mechanismus dar: θ-Rollen sind keine Merkmale, die abgeglichen werden können. θ-Rollen ergeben sich durch syntaktische Beziehungen lexikalischer Elemente und sind streng basis- und PrP-bezogen. Es muss einzelsprachlich zwischen verbaler und nominaler Kongruenz unterschieden werden. Die verbalen ϕ-Merkmale, die Subjekt-Verb-Kongruenz betreffen, wurden als Agr-ϕ-Merkmale bezeichnet. Diejenigen, die Objekt-Verb-Kongruenz betreffen, wurden als Con-ϕMerkmale bezeichnet. Die TP ist Domäne für den Abgleich von Agr-ϕ-Merkmalen, die PrP für den Abgleich von Con-ϕ-Merkmalen. Klitika sind zwitterhafte Elemente mit starkem funktionalem Charakter. Die klitischen Personalpronomen sind besonders durch ein Definitheitsmerkmal gekennzeichnet. Für die reflexiven Klitika sowie das passivisch-mediale und das unpersönliche si können Merkmalszusammensetzungen angenommen werden, die sich nur in leichter Variation voneinander unterscheiden. Das gemeinsame Kennzeichen ist, dass alle si-Klitika anaphorische θ-Fähigkeiten haben. Negation wird ebenfalls als abgleichsrelevantes Merkmal verbaler Formen behandelt; daher muss keine eigene funktionale Kategorie angenommen werden.
4
Hilfsverben und sprachliche Zeitorganisation
Das folgende Kapitel wird die grundlegenden hilfsverbrelevanten grammatikalischen Kategorien Tempus und Aspekt (und am Rande auch Modus/Modalität) in syntaktischem Zusammenhang behandeln. Es werden dabei einige wenige Merkmale herausgearbeitet, die im Rahmen des MP und den darin gegebenen strukturellen Möglichkeiten sinnvoll eingesetzt werden können, um das Phänomen der Hilfsverben in einem merkmalsbasierten Ansatz zu beschreiben und zu erklären. Das Kapitel kann nicht detailliert auf alle Ansätze der zeitlinguistischen Forschung eingehen, sondern nur unmittelbar relevante Forschungsergebnisse aufgreifen und für das MP und die Behandlung der Hilfsverben in diesem Rahmen adaptieren. Nach einem kurzen Überblick über Möglichkeiten der sprachlichen Zeitorganisation, die in diesem Zusammenhang stehenden Zeitrelationen (vgl. 4.1) und Zeitkonturen (vgl. 4.2) werden Tempus und Aspekt minimalistisch formalisiert (vgl. 4.3).1 Es folgt eine Diskussion des Begriffs der Finitheit sowie eine Darstellung der Eigenschaften der im Hilfsverbzusammenhang relevanten infiniten Verbformen (vgl. 4.4). Den Abschluss des Kapitels bildet ein zusammenfassende Übersicht des auch in den folgenden Kapiteln verwendeten zeitsemantischen Instrumentariums (vgl. 4.5).
4.1
Sprachliche Zeitorganisation und Zeitrelationen
Innerhalb der sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zu Tempus gibt es unterschiedliche Ansätze. In der Zeitlogik werden Tempuselemente als Operatoren (z.B. als Vergangenheitsoperator oder als Zukunftsoperator) behandelt, die Aussagen zeitlich modifizieren. Dieser Ansatz, der z.B. von Guéron & Hoekstra (1995), Lohnstein (1996) u.v.a. vertreten wird, soll hier nicht explizit weiterverfolgt werden. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, eine Verbindung der Behandlung von Tempusgegebenheiten als referentiellen Elementen (vgl. Enç 1987, Stowell 1982, Giorgi & Pianesi 1991, 1996, 1997) und dem MP herzustellen. Dennoch sollen dabei keine eigenen argumentellen Positionen für zeitliche Gegebenheiten angenommen werden (vgl. etwa Demirdache & Uribe-Etxebarria 2000, Julien 2001, Stowell 1996), sondern die minimalistisch gängigen funktionalen Kategorien um die entsprechenden formalen und semantischen Merkmale ergänzt werden, die eine zeitliche Ausdifferenzierung der sprachlichen Äußerungen und damit deren Interpretation auf LF ermöglichen.
–––––—– 1
Die romanischen Sprachen können mit ihrem Tempussystem sowohl Zeitrelationen als auch Aspektualität darstellen. Zur heterogenen Verwendungsweise des Terminus ‘Aspekt’ sowie der damit in Zusammenhang stehenden Aktionsarten vgl. den Kurzüberblick in Heinecke (1999: 12f).
104 Jede sprachliche Derivation muss in der LF in Bezug auf Tempus2 interpretierbar sein. Die zeitliche Organisation einer Äußerung mag syntaktisch (d.h. grammatikalisch) oder lexikalisch explizit sein (oft sogar beides). Hilfsverben sind unter anderem als ein Mittel des Ausdrucks von Zeitverhältnissen durch grammatikalische Mittel zu sehen. Tempus ist eine in verbalem Zusammenhang realisierte Kategorie. Äußerungen ohne explizites formales Tempus – man betrachte z.B. die verblosen finiten Kopulativsätze des Arabischen – können durch eine Art semantische Default-Instantiierung der Zeitbezüge hinsichtlich des deiktischen Zeitpunkts des Sprechaktes festgelegt werden: Dieser Default-Fall ist dann der zeitliche Bezug auf die Gegenwart des Jetzt der Sprech- bzw. Äußerungssituation, ebenso wie der räumliche Bezug im Default-Fall auf das lokale Hier des Kontextes verweist. Zunächst wird nun die relationale Darstellung von Zeitgegebenheiten nach Reichenbach (1947) vorgestellt: Die zeitliche Gegebenheit3 S der Sprechzeit (Speech Time) stellt die außersprachliche Referenz auf die Jetzt-Zeit des Sprecherkontextes dar. Sie ist immer der indirekte Bezugspunkt für die zeitliche Gegebenheit E des Ereignisses4 (Event Time), welche in der Derivation durch das Prädikat (d.h. dessen Event Position, vgl. Bowers 1993 sowie 3.2) instantiiert wird. S und E hängen deshalb nur indirekt voneinander ab, weil eine innersprachliche zeitliche Referenz R (Reference Time)5 gegeben sein muss, die beiden, S und E, als direkter Bezug dient. Diese innersprachliche Referenzzeit wird besonders bei komplexen Satzgefügen, aber auch formal bei den zusammengesetzten Zeiten (z.B. dem Perfekt und Plusquamperfekt im Italienischen) offensichtlich. In Reichenbachs Darstellung ist Präsens z.B. dadurch charakterisiert, dass Sprechzeit, Referenzzeit und Ereigniszeit zusammenfallen, notiert durch S,R,E. Im Imperfekt fallen Referenz- und Ereigniszeit zusammen, wobei beide zeitlich vor der Sprechzeit liegen, daher die Darstellung R,E_S. Im Perfekt dagegen fallen Sprech- und Referenzzeit zusammen (daher wird oft von der Gegenwartsrelevanz des Perfekts gesprochen); beide liegen somit nach der Ereigniszeit, also E_S,R. Da durch diese Relationen manche Zeitverhältnisse (v.a. die verschiedenen Interpretationen des Futur II, vgl. (4-1)e nicht eindeutig dargestellt werden konnten, haben Arbeiten in der Nachfolge Reichenbachs, u.a. Vikner (1985) und Hornstein (1990), das Modell modifiziert. Sie nehmen an, dass der Bezug zwischen E und S auch nicht indirekt über –––––—– 2
3
4
5
Ob die Kategorie Tempus universal ist, kann man in Hinblick auf manche Sprachen nicht mit Sicherheit annehmen, für die in dieser Arbeit behandelten Sprachsysteme aber auf jeden Fall; manche Sprachen kommen mit einem Aspektsystem, d.h. mit sprachlichen Ausdrücke für ‘vollendet’ vs. ‘unvollendet’ aus. Interpretiert man Aspekt und Tempus als “verschiedene Interpretationen ein und desselben Systems,” wie es auch hier geschehen soll, ist die Differenzierung zwischen ausgeprägten Tempus-Sprachen und Sprachen mit Aspektsystem hinfällig (Vater 1991: 38). Für eine Einführung in die “Zeit-Linguistik,” vgl. Vater (1991) sowie Comrie (1976, 1985). Es ist klar, dass es absolut punktuelle Zeit nicht geben kann. Die hier verwendete Bezeichnung Zeitgegebenheit kann sich sehr wohl über größere und kleinere Quanten an Zeit erstrecken, ähnlich wie auch ein Moment nicht als punktuelle Einheit verstanden werden würde. Ein Ereignis wird hier wie bei Reichenbach nicht nur als ereignishafte Handlung, sondern auch als Prozess oder Zustand verstanden; vgl. auch den Begriff der 'Situation' (situation) bei Comrie (1985). Die vorliegende Arbeit möchte sich die Reichenbachschen Zeitrelationen zunutze machen und verwendet daher E, R und S, was zeitliche Konturen betrifft, zunächst undifferenziert. Bei Klein (1994): “Topic Time.”
105 eine Referenzzeit hergestellt werden kann,6 sondern dass es nur Einzelrelationen von E und S jeweils zu R geben kann. Reichenbachs drei Zeitgegebenheiten werden daher durch zwei zeitliche Beziehungen ersetzt. Diese beiden Zeitrelationen werden schließlich durch relationale Komposition verbunden (hier dargestellt durch •). Eine Gegenüberstellung von Vikner (1985) bzw. Giorgi & Pianesi (1991) und Reichenbach (1947) ist in folgendem Zeitenschema dargestellt:7 (4-1)
Die Zeitrelationen nach Vikner (1985) und Reichenbach (1947) Tempus
Vikner
Reichenbach
a.
Präsens
[S,R]•[R,E]
S,R,E
b.
Imperfekt8
[R_S]•[R,E]
E,R_S
c.
Futur
[S_R]•[R,E]
S_R,E
d.
Perfekt9
[S,R]•[E_R]
E_R,S
e.
Futur II
[S_R]•[E_R]
E_S_R
f.
Plusquamperfekt
[R_S]•[E_R]
E_R_S
S,E_R
S_E_R
Ein sehr interessanter Ansatz, der die Reichenbachschen Zeitrelationen nach den Modifikationen von Vikner (1985) und Hornstein (1990) verwendet, findet sich in Giorgi & Pianesi (1991, 1996, 1997). Diese unterstreichen, dass für die syntaktische Repräsentation der Zeitrelationen neben den Adverbien als lexikalischen Bezugspunkten10 v.a. die morphologischen Realisierungen, d.h. die Tempusflexion und die Hilfsverben, verantwortlich sind. Ihre Ansätze sind teilweise minimalistisch (Giorgi & Pianesi 1996, 1997), basieren aber auf dem –––––—– 6
7
8
9
10
Vater (1991: 53) unterscheidet zwischen der kontextuellen Beziehung zwischen S und R einerseits und der intrinsischen Beziehung zwischen R und E andererseits. Allerdings geht er nicht von einer semantischen Komposition dieser beiden Relationen aus, sondern nimmt an, dass sie zu einer einzigen deiktischen Relation aufsummiert werden. Dieses Schema wird hier gekürzt (d.h. ohne die anderen Futurformen) nach Giorgi & Pianesi (1991: 211 sowie 217, Fn. 3) wiedergegeben. Vikners Aufstellung selbst stellt sich formal nicht so systematisch dar, da er drei Relationen (S/R1, R1/R2 und R2/E) annimmt, ihre Kombinationen aber nicht vollständig durchspielt; zur Kritik an Vikner (1987) vgl. u.a. Julien (2001: 139). Die Bedeutungsunterscheidung z.B. zwischen Imperfekt und Passato remoto im Italienischen ist aspektueller Natur. Für beide gilt die gleiche relationale Komposition. Allerdings kann diese noch nach Imperfektivität (=> Imperfekt) und Perfektivität (=> Passato remoto) unterschieden werden. Das italienische Passato Prossimo hat diesen starken Gegenwartsbezug nicht in der Form wie etwa das englische Present Perfect; dennoch bleibt der Gegenwartsbezug auch im Italienischen empirisch nachweisbar (für das Deutsche, vgl. Lohnstein 1996: 216). Zu einer ausführlichen Diskussion vgl. Giorgi & Pianesi (1997: 87f). In der Komposition der Zeitrelationen entsprechen sich das englische und das italienische Perfekt; die unterschiedlichen Lesarten im Englischen ergeben sich aus aspektuellen Eigenheiten hinsichtlich der Zeitkonturen. Beispiele für lexikalische Repräsentationen (hier ohne aspektuelle Differenzierungen) sind z.B. das deiktisch-referentielle ieri für [R_S], domani für [S_R], das rein relationale tre giorni fa für [E_R] oder alle cinque für absolutes R.
106 ‘frühen’ Minimalismus, da die Agreement-Projektionen essentiell für ihre Analyse bleiben. Giorgi & Pianesi gehen davon aus, dass je nach overter morphologischer Realisierung bis zu zwei Agr- und zwei T-Phrasen in einer Derivation eines Satzes erscheinen können. Die beiden T-Phrasen enthalten nun die entsprechenden T-Relationen, wie die folgende Graphik verdeutlicht (Giorgi & Pianesi 1997: 38): (4-2)
Die T-Phrasen nach Giorgi & Pianesi (1997) AGR1-P AGR1
T1-P T1
VP
S/R V
Agr2-P Agr2
T2-P T2
R/E
VP V
...
Diese hier dargestellten funktionalen Kategorien werden allerdings nur dann projiziert, wenn es auch tatsächlich morphophonologische Realisierungen (als Hilfsverb oder als Flexionsendung) dafür gibt.11 In der LF werden die Relationen zwischen den syntaktischen Einheiten S, R und E in Ausdrücke der logischen Form überführt. Bei fehlender overter Realisierung von Tempusrelationen, d.h. bei fehlender Projektion von T1 und/oder T2, gilt der jeweilige semantische Default-Fall ([E,R] für die erste T-Relation und [R,E] für die zweite T-Relation), da eine temporale Verankerung (Temporal Chain) unabdinglich für eine logische Repräsentation ist.12 Die verschiedenen Möglichkeiten der Bedeutung von T1 und T2 stellen sich bei Giorgi & Pianesi (1997: 27) folgendermaßen dar:
–––––—– 11
12
Vgl. Giorgi & Pianesi (1991: 191): “Biunique Mapping Principle (BMP): Temporal morphemes and T-relations are biunique in correspondence.” Ein italienischer Satz, der alle in (4-2) dargestellte Kategorien tatsächlich realisiert, wäre z.B.: (i) Erano arrivate tre giorni fa. Sowohl erano als auch arrivate sind beide durch morphologische Agreement- und Tempusmerkmale gekennzeichnet. Vgl. auch das Anchoring Principle nach Enç (1987: 642): “Each tense must be anchored.” Nach Enç sind eingebettete Sätze durch den sie regierenden Matrixsatz oder direkt durch C° zeitlich verankert. Hauptsätze sind immer direkt durch C° in der Sprechzeit verankert, vgl. Enç (1987: 643). C ist die einzige funktionale Kategorie, die nicht selbst subkategorisiert wird.
107 (4-3) T1
Die T-Relationen nach Giorgi & Pianesi (1997) Relation
Bedeutung
S_R
T2
Relation
Bedeutung
Futur
E_R
Perfekt13
R_S
Vergangenheit
R_E
Prospektiv
S,R
Gegenwart
E,R
Neutral
Eine VP wird in der Ableitung nach Giorgi & Pianesi durch Kategorien projiziert, die ein [+V]-Merkmal tragen. Eine TP wird nur projiziert, wenn diese [+V]-Kategorie morphologisch tempusmarkiert ist.14 Wenn diese [+V]-Kategorie nun zusätzlich ein Merkmal [+N] trägt, d.h. eine Art adjektivale, für Agreement (also Con-ϕ-Agreement, vgl. 3.4) sensible Verbform darstellt (wie z.B. Partizipien), dann wird auch AgrP projiziert. V° wird nach T° und Agr° bewegt, wobei die kategoriellen Merkmale jeweils kompatibel sein müssen. Ein partizipiales V° kann also nur nach T° bewegt werden, wenn T° selbst mit [+V +N] spezifiziert ist. Agr° gilt auch bei Giorgi & Pianesi als eine rein funktionale Kategorie ohne interpretatorischen Gehalt (was ja im MP zu seiner Abschaffung geführt hat), während T°, da bedeutungstragend, zu den lexikalischen Kategorien gezählt wird (Giorgi & Pianesi 1991: 194).15 Funktionale Kategorien haben nun die Eigenschaft, dass sie Inkorporation (also Kopf-Kopf-Bewegung) blockieren können. Hiermit erklären Giorgi & Pianesi die unterschiedliche Verteilung in der Ausbildung synthetischer und analytischer Formen im Lateinischen und Italienischen: Während T2 im Lateinischen im Aktiv mit [+V -N] spezifiziert ist, trägt es im Italienischen die Merkmale [+V +N]. Dies hat zur Folge, dass das Italienische einen Agr2-Kopf projiziert, dieser aber gleichzeitig die Inkorporation blockiert, sodass eine weitere verbale Projektion, nämlich die für die Hilfsverben bestimmte VP, in der Derivation erscheinen muss: Der Kopf dieser VP kann dann in T1 inkorporiert werden. Dadurch entstehen analytische Formen mit zwei VPs (z.B. ha mangiato oder avevo mangiato). Im Lateinischen dagegen wird kein Agr2 projiziert. Inkorporation in T1 ist also –––––—– 13
14
15
Perfekt ist nicht mit Perfektiv zu verwechseln: Perfekt ist eine Kombination von Zeitrelationen, wogegen Perfektiv die Zeitkontur dieser Relation (z.B. [±telos]) betrifft, also zur Kategorie Aspekt gehört. Giorgi & Pianesi fordern, dass T1 und T2 den θ-Rollen vergleichbare T-Rollen an Ereignispositionen vergeben. Sie sprechen hier, parallel zum θ-Kriterium, vom T-Kriterium: “Every T-role must be uniquely assigned to an event position” (Giorgi & Pianesi 1991: 220). Die T-Rolle entspricht der Instantiierung von T mit einer der möglichen Zeitrelationen. Auch Stowell (1996) spricht im Zusammenhang mit Tempus von thematischen Rollen. Stowell organisiert Tempus in T, welches allerdings zwei argumentale ZPs (Zeitphrasen) in eine Ordnungsrelation bringt. Neue funktionale Kategorien dieser Art können hier als nicht-minimalistisch nicht berücksichtigt werden. Meiner Meinung nach ist T aber funktional, da es keine lexikalische Bedeutung trägt. Natürlich hat jede funktionale Kategorie auch eine Bedeutung, aber diese Bedeutung ist eben funktionaler Art. Diese Unterscheidung betrifft also die Frage, ob formale Merkmale gleichzeitig auch als semantische Merkmale existieren können. Nach Chomsky (1995) gehören diejenigen der formalen Merkmalen, die Bedeutung tragen, zu den interpretierbaren Merkmalen. Semantische und interpretierbare Merkmale scheinen aber nicht dasselbe zu sein. Tempusmerkmale gelten in jedem Fall als interpretierbar.
108 nicht blockiert, sodass synthetische Formen gebildet werden können (z.B. laudavit oder laudaveram). Im lateinischen Passiv dagegen ist T2 ebenfalls mit [+V +N] spezifiziert, sodass sich auch hier analytische Formen ergeben (z.B. laudatus sum, vgl. nochmals die Graphik in (4-2)).16 Bei den T-Relationen handelt es sich um Bedeutungen, d.h. um interpretierbare Merkmale in den entsprechenden T-Kategorien.17 Wie die Zeitbedeutung schließlich in der LF kompositionell zustande kommt, kann nicht ausführlich diskutiert werden.
4.2
Aspekt
Die unter der zweiten T-Relation dargestellten Bedeutungen überschneiden sich mit denen der traditionell in der Literatur als Aspekte behandelten grammatischen Erscheinungen. Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000) führen Aspekt und Tempus auf dieselben Grundstrukturen zurück. Tempus ist ein zweistelliges Prädikat in Form einer T-Phrase, das zwei Argumente, UT-T (Utterance Time, entspricht hier S) und AST-T (Assertion Time, entspricht hier R18), zu sich nimmt. Aspekt ist gleichfalls ein zweistelliges Prädikat in Form einer Aspektphrase, das zwei Argumente, AST-T und EV-T (Event Time, hier E), zu sich nimmt. Die entsprechenden phrasalen Köpfe können einen der drei Werte AFTER, BEFORE oder WITHIN tragen. Die Aspektphrase kann rekursiv, d.h. mehrfach erzeugt werden.19 In den einfachen Zeiten ist dagegen möglicherweise gar keine Aspektphrase vorhanden. Ein Perfektsatz des Englischen z.B. hat die folgende Struktur (vgl. Demirdache & Uribe-Etxebarria 2000: 168):
–––––—– 16
17
18 19
Dies passiert beim lateinischen Passiv nur im Perfekt, d.h. wo es tatsächlich ein T2 gibt. Im Imperfekt und Futur erscheint nur T1 in der Derivation, im Präsens, dem Default-Fall, taucht gar kein T, sondern nur Agr auf. Für eine detaillierte Darstellung und Argumentationsführung sei hier auf Giorgi & Pianesi (1997) verwiesen. Die zu T gehörigen formalen Merkmale, so wie sie vor der LF eine Rolle spielen, werden von Giorgi & Pianesi (1997) τ-Merkmale genannt. In der Syntax müssen eben diese τ-Merkmale nicht immer realisiert sein (vgl. Giorgi & Pianesi 1997: 78). “We call the time interval in the event time of the VP that aspect focuses, the Assertion time.” (Demirdache & Uribe-Etxebarria 2000: 161) Dies ist bei den Formen des Present Perfect Progressive / Past Perfect Progressive des Englischen notwendig: (i) Mary has/had been eating apples for years. Solche Formen gibt es im modernen Italienischen nicht: (ii) *Maria è/era stata mangiando delle mele.
109 (4-4)
Struktur eines Satzes im englischen Present perfect nach Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000) TP Spec 'UT-T'
T' T° 'WITHIN'
AspP Spec 'AST-T'
Asp' Asp° 'AFTER'
VP Spec 'EV-T'
VP
Durch den Wert WITHIN in T° ist die Äußerung in der Gegenwart verankert; durch den Wert AFTER in Asp° fokussiert der Sprecher dagegen ein Ereignis, das in der Vergangenheit angesiedelt ist. Der Ansatz von Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000) hat den Vorteil, dass er es zulässt, z.B. progressiven Aspekt mit in die formale Darstellung der syntaktischen und semantischen Zeitorganisation einzubringen.20 Man betrachte die folgenden englischen Sätze: (4-5) (4-6)
Mary ate an apple. Mary was eating an apple.
In beiden Fällen hat T° den Wert AFTER/Vergangenheit. Der Unterschied zwischen den beiden Sätzen besteht darin, dass in (4-5) entweder kein (oder ein leeres) Asp° vorhanden ist, während in (4-6) Asp° den Wert WITHIN trägt. Als semantischer Unterschied ergibt sich daraus, dass bei (4-5) auch der Endpunkt (telos) des Ereignisses in der zeitlichen Kodierung mit eingeschlossen ist ([+telos] => ‘der Apfel ist tatsächlich aufgegessen worden’), während bei (4-6) die zeitlichen Konturen offen sind, sodass ein möglicher Endpunkt des Ereignisses bezüglich der Referenzzeit nicht semantisch fassbar ist ([-telos] => ‘ob der Apfel aufgegessen wurde oder nicht, ist nicht sicher’) (vgl. Demirdache & Uribe-Etxebarria 2000: 160). WITHIN drückt also eine imperfektive Lesart aus. In Tabellenform lassen sich diese Vorschläge folgendermaßen darstellen:
–––––—– 20
Vgl. auch Julien (2001), die einen ähnlichen Ansatz vertritt.
110 (4-7)
Zeitgegebenheiten nach Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000)
Kat.
Argument in Spec21
Bedeutung
Wert
Bedeutung
T
UT-T
Utterance Time (~S)
-----------
------------
T
UT-T
Utterance Time (~S)
AFTER
UT-T nach AST-T (~R_S)
T
UT-T
Utterance Time (~S)
BEFORE UT-T vor AST-T (~S_R)
T
UT-T
Utterance Time (~S)
WITHIN
UT-T in AST-T (~imperfektiv)
Asp
AST-T
Assertion Time (~R)
-----------
------------
Asp
AST-T
Assertion Time (~R)
AFTER
AST-T nach E-T (~E_R)
Asp
AST-T
Assertion Time (~R)
BEFORE AST-T vor E-T (~R_E)
Asp
AST-T
Assertion Time (~R)
WITHIN
AST-T in E-T(~imperfektiv)
V
E-T
Event Time
----------
------------
(~E)
In der Tabelle (4-3) zur Zeitorganisation nach Giorgi & Pianesi (1997) fehlt (vorerst) eine Möglichkeit, imperfektive (z.B. auch progressive) im Gegensatz zu perfektiver Bedeutung auszudrücken. Um die Unterscheidung zwischen dem Wert WITHIN (= imperfektive Zeitkontur) und leerem (oder nicht projiziertem) Asp° (= perfektive Zeitkontur) bei Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000)22 formalisieren zu können, müssen im System von Tabelle (4-3) die Werte für ‘Gegenwart’ und ‘neutral’ genauer spezifiziert werden.23 Die untere T-Phrase von Giorgi & Pianesi (1997) kann parallel zu der Aspektphrase von Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000) gesehen werden. T1 und T2 werden aber bei Giorgi & Pianesi nicht nach Tempus und Aspekt unterschieden, sondern können beides enthalten. Um nun Zeitkonturen in ihrem System fassbar zu machen – hier die Gegenwart [R,S] unter T1 – entwickeln Giorgi & Pianesi einen Ansatz, der Parallelen mit Demirdache & UribeEtxebarria (2000) aufweist und im Folgenden dargestellt werden soll. In diesem Zusammenhang spielt die Unterscheidung zwischen Individuenprädikaten (ILP – Individual-Level Predicates) und Stadienprädikaten (SLP – Stage-Level Predicates) eine Rolle (vgl. Kratzer 1995): SLPs sind indefinit bzw. enthalten eine Variable für eine –––––—– 21
22
23
In der vorliegenden Arbeit soll, wie bereits gesagt, darauf verzichtet werden, zeitlichreferentiellen Elementen eigene explizite Argumentpositionen syntaktisch zur Verfügung zu stellen. Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000) lösen das Problem der dadurch zusätzlich benötigten Spezifikatorpositionen mit dem nach Chomsky (1995) erlaubten Mechanismus der Mehrfachspezifikatoren. Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000: 164) wollen die Einführung solcher Merkmale, wie z.B. [±perfective] o.ä., explitzit vermeiden. Allerdings führen sie selbst in ihrem Punkt 4.7.1 die Unterscheidung Central Coincidence (=> imperfective) vs. Noncentral Coincidence (=> perfective) ein, sodass sich ein neues Merkmalspaar [±central] (mit der weiteren Unterscheidung [centripetal/ -centrifugal] für [-central]) ergibt. Bei Reichenbach wird die Unterscheidung zwischen progressiven und nicht-progressiven Formen nur durch die Einführung weiterer diakritischer Zeichen ermöglicht, vgl. Demirdache & UribeEtxebarria (2000: 164).
111 mögliche zeitliche Verankerung (z.B. den Abschluss) des durch das Prädikat kodierten Ereignisses. SLP-Kontexte sind zeitlich nicht homogen.24 Typische SLPs sind eventive oder telische Prädikate, wie z.B. mangiare, arrivare etc. ILPs dagegen sind in ihrer zeitlichen Verankerung nicht variabel, sondern zeichnen sich durch zeitliche Homogenität der durch sie kodierten Situation aus.25 Typische ILP-Verben sind z.B. amare, sapere etc. Das englische Präsens ist bekanntlich, im Gegensatz zum Italienischen, inkompatibel mit SLP-Prädikaten nicht-generischer Lesart (Mary eats an apple *(every day)). Giorgi & Pianesi (1997) nehmen daher an, dass im Englischen, im Gegensatz zum Italienischen, T1 auch im Präsens projiziert wird. T° ist mit der Bedeutung [S,R] syntaktisch vorgegeben: Dieses T hat die Bedeutung, dass S und R genau dieselbe Ausdehnung haben (Koextension). R ist also mit dem Sprechmoment fest verbunden und durch ihn definiert. Die zeitliche Kontur von Individuenprädikaten ist nicht-grenzbezogen. Die Referenzzeit kann daher mit dem Sprechmoment koinzidieren. Stadienprädikate dagegen sind als zeitlich nicht homogene Ereignisse grenzbezogen26 und können daher nicht die gleiche zeitliche Ausdehnung mit der Sprechzeit haben. SLP-Verben können nur mit einer Referenzzeit kompatibel sein, die nicht exakt mit der zeitlichen Gegebenheit S übereinstimmt. Andernfalls muss die englische Form des Progressive benutzt werden, da hier eine spezifische Referenzsituation fokussiert wird (vgl. Maienborn 2003), Sprechzeit und Referenzzeit also koextendieren können. Im Italienischen dagegen wird diese erste T-Relation erst auf der LF default-instantiiert. Default-Instantiierung ergibt bei Giorgi & Pianesi immer eine neutrale bzw. präsentische Bedeutung. Nach der Tabelle in (4-3) entspräche diese also ebenfalls, wie im Englischen bereits syntaktisch realisiert, dem Wert [S,R]. Die Bedeutung von [S,R] ist aber zu restriktiv (Koextension von S und R) für das Italienische. Daher nehmen Giorgi & Pianesi (1997) an, dass die Default-Instantiierung immer automatisch einen weiter gefassten Wert ergibt,
–––––—– 24 25
26
Die Unterscheidung zwischen zeitlich homogenen und zeitlich nicht homogenen Prädikaten übernehme ich von Arosio (2002); vgl. auch Dowty (1979: 363f). Individuenprädikate können mit Hilfe von syntaktischen Mitteln zu Stadienprädikaten gemacht werden (und umgekehrt), was darauf schließen lässt, dass die SLP- bzw. ILP-Eigenschaft eines Prädikats nicht ausschließlich oder lediglich als letzte Möglichkeit durch das Lexikon vorgegeben ist. Bei Kratzer (1995), anders als in Ansätzen, die letztlich auf Davidson (1967) beruhen, haben nur Stadienprädikate ein eigenes Ereignisargument spatiotemporaler Art. Da hier für jede Prädikation eine Prädikationsphrase mit eigener, wenn auch impliziter Ereignisposition angenommen wird, muss die Unterscheidung SLP vs. ILP auf andere Weise erklärt werden (z.B. über Merkmalsabgleich unter T bzw. Pr und im Zusammenhang mit der Quantifizierung der Argumente, die sich in der Derivation befinden). Wie dies realisiert werden kann und wie dabei (wohl auf der LF) z.B. Generizität zustande kommt bzw. blockiert wird, kann in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden (vgl. hierzu auch Diesing 1992). Guerón & Hoekstra (1995: 102) erklären diese Unbestimmtheit folgendermaßen: “Stage-level predicates are associated with a deictic operator in Spec CP, while individual-level predicates are associated with a non deictic operator.” Vgl. dazu auch Anagnostopoulou, Iatridou & Izvorski (1998: 29), die bei der Behandlung der verschiedenen Bedeutungen des englischen Present Perfect auch die Merkmale [throughout] vs. [in] (für Koextension vs. Inklusion) und [bounded] vs. [unbounded] (für perfektiv vs. imperfektiv) verwenden.
112 nämlich [S⊆R], d.h. R enthält S.27 Das bedeutet, dass alle zeitlichen Bestandteile der Sprechzeit S auch Elemente der Referenzzeit R sind (Giorgi & Pianesi 1997: 79), während die Umkehrung nicht zwingend gilt, wie es z.B. im Englischen der Fall ist. Die Beziehung zwischen R und S ist daher nicht definit, sondern unbestimmt. Die Zeitkontur von R ist dadurch offen. Die Inklusionsbeziehung führt dazu, dass im Italienischen auch SLP-Verben, die inhärent zeitlich variabel sind, im Präsens erscheinen können. Die vorliegenden Arbeit wird allerdings im Folgenden nicht auf die durch Giorgi & Pianesi (1996) verwendeten Inklusionsbeziehungen zurückgreifen, sondern sich eher auf aspektuelle Eigenschaften der Referenzzeit selbst berufen. Um die Unterscheidung zwischen Stadienprädikaten (SLP) und Individuenprädikaten (ILP) noch deutlicher zu machen, möchte ich hier auf eine logische Darstellungsform zurückgreifen. Geht man, mit neueren Ansätzen in der Nachfolge von Davidson (1967) und entgegen dem Ansatz von Kratzer (1995), davon aus, dass jedes Prädikat eine implizite oder explizite Position zur Verfügung stellt, die ein spatiotemporales Argument der durch das Prädikat ausgedrückten Situation28 oder Eventualität29 aufnimmt, gilt Folgendes: Individuenprädikate sind lexikalisch-inhärent in Bezug auf dieses Argument allquantifiziert.30 Das bedeutet, dass die Eventualität für alle möglichen spatiotemporalen Bezüge der Ereigniszeit E zur Referenzeit R gilt. Formal drückt sich diese Allquantifizierung eines ILP x folgendermaßen aus: (4-8)
[∀R]: Für alle möglichen Referenzzeiten gilt, dass x.
Die Ereigniszeit E eines ILP kann sich daher nicht auf eine spezifische Referenzzeit beziehen. Diese lexikalisch-inhärente Eigenschaft ist die Standardinterpretation für Prädikationen von Verben diesen Typs. Unter bestimmten Voraussetzungen können ILP-Prädikate aber auch syntaktisch zu Prädikaten mit SLP-Interpretation transformiert werden. Stadienprädikate nun sind lexikalisch-inhärent vorerst in ihrer spatiotemporalen Quantifizierung hinsichtlich der Relation E/R unbestimmt, d.h. mit einer Variabel versehen (vergleichbar mit der Variablen, die bei indefiniten DPs angenommen wird, vgl. Diesing 1992). (4-9)
[Var R]: Für die nicht instantiierte Referenzzeit gilt, dass x.
Stadienprädikate müssen natürlich ebenfalls in ihrer spatiotemporalen Extension quantifiziert werden, d.h. die damit zusammenhängende Variablenposition muss spätestens in der LF instantiiert werden. Die Quantifizierung hinsichtlich der zeitlich-lokalen Instantiierung besteht in Existenz- oder Allquantifizierung, abhängig von dem syntaktischen oder lexikalisch expliziten Aspekt und der Aktionsart der involvierten Verben. Bei Individuenprädikaten ist Allquantifizierung der Default-Fall, sodass sie im englischen Präsens immer –––––—– 27 28 29 30
Koextension ist in der Inklusionsbeziehung mit eingeschlossen: [S⊆R] umfasst sowohl [S=R] (bei Giorgi & Pianesi [S,R]) als auch [S⊂R]. Der Begriff ‘Situation’ umfasst unterscheidungslos Ereignisse, Zustände und Prozesse, vgl. Comrie (1985: 5). Der Begriff der 'Eventualität' (eventuality) wird von Davidson (1967) verwendet. Bzw. durch einen generischen Operator quantifiziert: Zur Interpretation von ILPs als inhärent generische Prädikate vgl. auch Chierchia (1995).
113 möglich sind. Stadienprädikate sind im Englischen nur erlaubt, wenn auf der LF eine generische Interpretation gegeben ist.31 Durch die Bildung des Progressive mit BE und -ing kann im Englischen syntaktischmorphologisch eine spezifische Referenzzeit eingeführt werden, die nun auch in Konstruktionen mit Stadienprädikaten eine eindeutige existentielle Beziehung von R zum Sprechmoment ermöglicht, ohne dass die generische Lesart gegeben sein muss. Die Form des englischen Progressive fokussiert sozusagen die Übereinstimmung von R und S, was bei Stadienprädikaten, die dynamisch sind, progressiven oder kontinuativen Aspekt erzeugt.32 Die Form des Progressive ist eine typische SLP-Konstruktion. Aus diesem Grunde ist sie mit Individuenprädikaten auch äußerst selten.33 Auch bei den italienischen Gerundialkonstruktionen mit stare wird eine spezifische Referenzsituation ausgedrückt; diese wird zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer untersucht.34 Noch nicht erfasst wurde aber bisher die Unterscheidung zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt, d.h. die Unterscheidung in der Darstellung des Sprechers, ob das durch das Prädikat kodierte Ereignis zur Referenzzeit als abgeschlossen oder nicht-abgeschlossen betrachtet werden kann. Ob nun ein zeitlicher Endpunkt des Ereignisses tatsächlich in der Referenzzeit mit eingeschlossen ist, kann in der Prädikation durch ein weiteres Merkmal [±perf] bzw. auf der Ebene der verbinhärenten Ereigniszeit durch [±telos] kodiert werden: Das Merkmal [±perf] macht die Abgeschlossenheit (Perfektivität) bzw. Nicht-Abgeschlossenheit (Imperfektivität) des Ereignissituation zur Referenzzeit explizit. Das Merkmal [±telos] soll die lexikalische Aktionsart eines Verbes kodieren.35 Durch diese Merkmale können nun auch lexikalische Individuenprädikate trotz angelegter Allquantifizierung syntaktisch eine explizite Begrenzung erfahren. Man betrachte die folgenden italienischen Beispiele: (4-10) (4-11)
Gianni ama Maria. Gianni ha amato Maria.
–––––—– 31
32 33
34 35
Vgl. die folgenden englischen Sätze: (i) *Mary eats an apple. ([∀R] nicht möglich wegen SLP eat) (ii) Mary likes apples. ([∀R] möglich wegen ILP like) (iii) Mary eats apples. (generische Lesart wegen bare noun DP apples, daher [∀R] trotz SLP) Vgl. dazu Guerón & Hoekstra (1995: 83): “Ing is a partitive quantifier which selects an arbitrary instance from the interval denoted by the dynamic predicate.” Die Bedeutung des englischen Progressive unterscheidet sich aber noch weiter von der italienischen Verbalperiphrase mit Gerundium: Im Italienischen ist diese Form auf echt progressive Lesart beschränkt, während im Englischen durative Interpretationen möglich sind. Vgl. Bertinetto & Delfitto (1996) und Squartini (1998) sowie die detaillierte Behandlung in 6.5. Reichenbach versucht, aspektuelle Differenzierungen durch die Darstellung der Zeitextension des Ereignisses zu erreichen (vgl. 1947: 290). Ein Merkmal [±perf] dagegen ermöglicht, dass sich der Blickwinkel von der (möglicherweise lückenlosen) zeitlichen Extension auf den Endpunkt der Eventualität oder Situation verschiebt. Mit dem Merkmal [-perf] können dann auch habituelle oder frequentative Lesarten dargestellt werden (imperfektiver Aspekt kann weiter in Habitual oder Continuous, letzterer wiederum in Nonprogressive vs. Progressive spezialisiert sein, vgl. Comrie 1976: 25).
114 Während (4-10) ein Individuenprädikat enthält, in dem Koextension von S und R mit [∀R] (und die zeitliche Homogeneität des Ereignisses, vgl. Arosio 2002) vorliegt, ist in (4-11) das inhärent mit [∀R] versehene amare durch das syntaktische Perfekt (welches in einem seiner analytischen Bestandteile ein [+perf]-Merkmal enthalten muss) zu einem Stadienprädikat geworden, das den Endpunkt der Situation oder Eventualität hinsichtlich der Referenzzeit mit einschließt: Das Ereignis ist nun perfektiv (also zeitlich nicht-homogen, vgl. Arosio 2002). Genauso wie imperfektive Konstruktionen z.B. die Detelisierung von Stadienprädikaten bewirken können (vgl. Bertinetto & Delfitto 1996: 49), können also perfektive Konstruktionen die Telizität von Individuenprädikaten erreichen. Da nun Perfektivität die Ereignisstruktur der Prädikation selbst betrifft, sollte diese Eigenschaft in Pr° kodiert sein, das, wie bereits gezeigt, implizit die Ereignisposition (und ihre Beziehung zu R) enthält. Die bisher gemachten Beobachtungen zu Tempus und Aspekt sollen hier noch einmal zusammenfassend dargestellt werden: − −
−
4.3
Es gibt zwei Zeitrelationen, T1 und T2. Diese können in ihrer Bedeutung jeweils den Wert VOR, NACH oder GLEICH(-zeitig) haben. Damit wird die Relation der jeweiligen Zeitgegebenheit (S bei T1, E bei T2) zur Referenzzeit R festgelegt. Die zeitliche Gegebenheit R kann in ihrer Extension allquantifiziert – [∀R] – oder existenzquantifiziert (spezifisch) – [∃R] – sein. Die Quantifizierung ist vom Zusammenspiel der lexikalisch-inhärenten Eigenschaften von Prädikaten mit morphosyntaktischen Merkmalen abhängig. Die Quantifizierung von R erfolgt spätestens unter T°. Der Ereignismoment bzw. die ereignishafte Situation E kann hinsichtlich der Referenzzeit (mit syntaktischen oder lexikalischen Mitteln) als abgeschlossen dargestellt werden. In diesem Fall handelt es sich um den perfektiven Aspekt. Bleibt die Begrenzung der zeitlichen Eventualität offen, handelt es sich um den imperfektiven Aspekt.
Tempus und Aspekt minimalistisch
Die Strukturen der bisher vorgestellten und teilweise erweiterten Analysen können natürlich nicht unmodifiziert in ein minimalistisches Modell, wie es im Rahmen dieser Arbeit dargestellt wird, übernommen werden. Funktionale Kategorien ohne interpretatorische Relevanz wie Agr° bei Giorgi & Pianesi (1991, 1996, 1997) oder auch neue funktionale Kategorien wie Asp° bei Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000) haben im MP keine Gültigkeit mehr. T dagegen ist eine der Core Functional Categories mit interpretatorischer Relevanz. T° als Ort der Kodierung der Relation S/R kann also beibehalten werden. Die beiden von Giorgi & Pianesi angenommenen Agr-Positionen (vgl. (4-2)) werden durch ϕMerkmale in den anderen funktionalen Kategorien ersetzt. Die für Verb-Subjekt-Kongruenz zuständige Agr1 manifestiert sich in ϕ-Merkmalen jeweils in V° und der SubjektDP (die z.B. in finitem T° überprüft werden), eine eventuelle Agr2 manifestiert sich, bei Bedarf, in ϕ-Merkmalen der Objekt-DP und der infiniten Verbform. Die zweite T-Phrase bzw. die Asp-Phrase, welche die Relation zwischen R und E ausdrückt, kann in Pr° verortet werden, da dieses die Ereignisposition (die Position für die durch das Prädikat dargestellte Situation oder Eventualität) darstellt. T° und Pr° sind also die funktionalen Kategorien, in
115 denen die T-Relationen als Merkmale (also [T]-Merkmale) erscheinen können. Damit haben die funktionalen Kategorien T und Pr vielfältige, hier in einer Übersicht zusammengestellte Aufgaben: (4-12)
Aufgaben von T° und Pr°:
Unter T° erfolgt
Unter Pr° erfolgt
Subjektkongruenz
Objektkongruenz
T1: S/R
T2: E/R
Default-Quantifizierung von R
Abgeschlossenheit von E [±telos] auf R [±perf]
Generische Interpretation
Existentielle/spezifische Interpretation36
Nominativabgleich
Akkusativabgleich
EPP
Thetarollenvergabe
Proposition37
Prädikation38
Unter T° und Pr° werden die T-Relationen zwischen den entsprechenden zeitlichen Gegebenheiten als Werte in Bezug auf die sprachinterne Referenzzeit R kodiert, nicht die Zeitgegebenheiten S und E selbst. Neben den zeitlichen Relationen (temporale Anordnung) können aber auch die zeitlichen Konturen (Aspekte) sowohl von R als auch von E (nicht von S) spezifiziert werden. R wird spätestens auf der LF quantifiziert, sodass spätestens unter T° entweder ein Merkmal [∀R] oder ein Merkmal [∃R] erscheinen kann; die Zeitgegebenheit E kann in der Ereignisposition als abgeschlossen oder offen dargestellt sein, Pr° also ein Merkmal [±perf] tragen. Die zeitlichen Gegebenheiten S, R und E sollen hier nicht in Argumentpositionen von T° bzw. Pr° basisgeneriert werden. Die zeitliche Gegebenheit der Sprechzeit S soll mit Enç –––––—– 36
37 38
In der Mapping Hypothesis von Diesing (1992) wird zwischen generischer und existentieller Lesart für indefinite DPs unterschieden, wobei die IP (also TP) für die generische Lesart verantwortlich ist, während die VP (hier PrP) für die existentielle Lesart zuständig ist (Diesing 1992: 20-21). Dadurch können sich auch Ambiguitäten ergeben, so z.B. für die indefinite DP un bambino in folgendem italienischen Beispiel: (i) Un bambino piange. a. ‘I bambini in generale piangono.’ => generische Lesart: DP in [Spec, TP] interpretiert; b. ‘Un bambino di tutti quelli che ci siano piange.’ => existentielle Lesart: DP in [Spec, PrP] interpretiert; Wie diese Mechanismen minimalistisch zu analysieren sind, kann hier nicht geklärt werden. Ein Ansatz findet sich in González & Remberger (im Druck). Die Propositionsbildung schließt den Abschluss der Quantifizierung bzw. die Bindung nicht quantifizierter Elemente durch einen generischen Operator ein. Die Prädikation beinhaltet die Determinierung durch λ-Konversion: Alle Argumente werden, soweit möglich, in die variablen Argumentpositionen eingesetzt und dadurch determiniert. Die Prädikation steht in engem Verhältnis zur θ-Rollen-Vergabe.
116 (1987) durch eine Verankerung in C° (als Schnittstelle zur Verortung im Diskurs/in der Pragmatik) dargestellt werden: Wenn C° nicht selbst von der Zeitorganisation eines Matrixsatzes bestimmt ist, ist der Bezugswert der ersten Zeitrelation automatisch der aktuelle deiktische Kontext der Äußerung.39 Der Bezugswert der zweiten Zeitrelation, die Ereigniszeit, ist durch die Prädikation der maximalen Projektion in der Komplementposition von Pr° gegeben: Das Element, das in der (impliziten) Ereignisposition der Prädikatsphrase schließlich zum Zustandekommen der Prädikation führt, stellt hiermit auch die zeitliche Lokalisierung des Ereignisses. Die Anordnung S~R/R~E spiegelt sich daher in der hierarchisch-strukturellen Anordnung CP~TP~PrP~XP der syntaktischen Derivation wider.40 In T° und Pr° selbst werden nun nur die Bezüge zur Referenzzeit als [T]-Merkmale kodiert. Diese [T]-Merkmale können also jeweils die folgenden Werte haben: (4-13)
[T]-Merkmale in T° und Pr°41
Werte
T°: T1 mit X als S (gegeben durch Verankerung in C°)
Pr°: T2 mit X als E (gegeben durch Komplement von Pr°)
GLEICH X S gleich R
=>
S,R
E gleich R
=>
R,E
VOR X
S vor R
=>
S_R
E vor R
=>
E_R
NACH X
S nach R
=>
R_S
E nach R
=>
R_E
Die Merkmale, die weitere zeitliche Konturen kodieren sollen, also aspektuelle Spezialisierungen der Zeitorganisation einer Derivation darstellen, sind in der nächsten Tabelle dargestellt: –––––—– 39
40 41
Vater (1991) unterscheidet, wie gesagt, zwischen kontextueller und intrinsischer Zeitrelation. Das soll hier so verstanden werden, dass die zweite T-Relation die Referenzzeit an die Ereignisposition des Prädikats bindet (also intrinsisch ist), während die erste T-Relation für die deiktisch-referentielle (also kontextuelle) Verankerung der Referenzzeit verantwortlich ist. Diese Verankerung muss letztendlich durch den Sprechzeitbezug gegeben sein (vgl. Enç 1987). In komplexen Sätzen ist der deiktisch-referentielle Sprechzeitbezug bestimmter Nebensatztypen nur durch den übergeordneten Satz gegeben (sofern nicht auch dieser seinerseits einem weiteren Matrixsatz untergeordnet ist). Die Zeitgegebenheit, die den Bezug zur Referenzzeit in der ersten T-Relation eines Satzes darstellt, ist daher nur in letzter Instanz mit der Sprechzeit der Äußerung gleichzusetzen. In eingebetteten Sätzen gibt es ein Pendant zur Zeitgegebenheit S: die Zeitgegebenheit des syntaktischen Kontextes, welche die Verankerung in die zeitliche Organisation des Matrixsatzes garantiert, falls diese nicht eigenständig hergestellt werden kann. So wie der Äußerungskontext den Verankerungszugriff für Matrixsätze darstellt, stellt der Ereigniskontext des Matrixsatzes den Verankerungszugriff für (zeitlich abhängige) eingebettete Sätze dar (Stowell 1996 verzichtet daher ganz auf den Terminus Sprechzeit S und spricht nur von der Referenzzeit R, die, wenn nicht durch einen Matrixsatz kontrolliert, mit dem aktuellen Sprechkontext default-instantiiert wird). Zu einer detaillierteren Darstellung und Begründung der Anordnung nach dem Prinzip von Figure und Ground, vgl. Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000: 176). Es würde also genügen, als mögliche Werte in T° bzw Pr° GLEICH, VOR oder NACH als Merkmale anzugeben. Der Übersicht und der Tradition halber werde ich im folgenden Verlauf der Arbeit aber bei den Reichenbachschen Darstellungen nach Giorgi & Pianesi (1997) bleiben und daher die Merkmale [X_R], [R_X] gebrauchen.
117 (4-14)
Darstellung der Quantifizierung von R in T° und der Kontur von E/R in Pr°
T°: T1
Merkmal
Bedeutung
∃R ∀R
Pr°: T2
Merkmal
Bedeutung
existenzquantifiziert
[-perf]
imperfektiv
allquantifiziert
[+perf]
perfektiv
Die hier angegebenen Werte können in den einzelnen für diese Arbeit relevanten Fällen noch diskutiert werden. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei vornehmlich um semantische Merkmale handelt. Die hier aufgeführten Werte der beiden Zeitrelationen müssen nicht morphophonologisch oder syntaktisch sichtbar sein. Die Quantifizierung unter T ergibt sich oft auch erst postsyntaktisch auf der LF, wenn die dann nicht instantiierten TWerte default-instantiiert werden müssen. Oft fallen zeitlich-aspektuelle Merkmale auch synkretistisch in einer morphologischen Form zusammen.42 Weitere semantische Merkmale stellen sekundäre Bedeutungen dar, die sich erst aus dem Zusammenspiel der Interpretationen der einzelnen Merkmale ergeben. Die hier entwickelten Werte sollen ein minimales Inventar an Tempus- und Aspektmerkmalen darstellen, mit denen sich minimalistisch arbeiten lässt.
4.4
Finitheit und infinite Formen
Hilfsverben treten immer im Zusammenhang mit infiniten Formen auf. Finitheit bzw. Infinitheit hat bisher an mehreren Stellen dieser Arbeit bereits eine Rolle gespielt: Ein finites T° hat z.B. eine andere Merkmalsstruktur als ein infinites T°. Ledgeway (2000a) und andere haben auch, in der Nachfolge von Stowell (1982), das Zusammenspiel von T° und C° in diesem Zusammenhang hervorgehoben. Rizzi (1997) nimmt auch an, dass C° Träger von Finitheits- bzw. Infinitheitsmerkmalen sein muss. Die geringere Finitheit von Sätzen im Konjunktiv im Gegensatz zu Indikativsätzen lässt des Weiteren auf eine graduelle Skala von Finitheit schließen (vgl. Rizzi 1997, Ledgeway 2000a: 187). Auf diesem Grad an Finitheit des eingebetteten Satzes beruht zum Teil Ledgeways Analyse der Hilfsverbselektion, die von biklausalen Strukturen ausgeht (vgl. Ledgeway 2000a, Kapitel 6). –––––—– 42
So kodiert z.B. das italienische Passato remoto gleichzeitig die Bedeutung der Perfektivität (also [+perf]), beide Zeitrelationen des Perfekts (also T1[S,R]), T2[E_R]) sowie die Existenzquantifizierung bzw. Fokussierung der Referenzzeit als spezifischen Moment (also [∃R]); vgl. Bertinetto & Delfitto (1996): Die punktuelle Interpretation des Passato remoto kommt dadurch zustande, dass die Referenzzeit als einzelner Moment fokussiert und gleichzeitig die Abgeschlossenheit der Handlung ausgedrückt wird. Eine ähnliche Fokussierung eines einzelnen Referenzmomentes, also [∃R], gibt es im Übrigen bei den Gerundialkonstruktionen mit stare im Italienischen: Auch hier wird ein einzelner Referenzmoment fokussiert, wobei allerdings das Ereignis als nicht-abgeschlossen dargestellt wird. Aus der Kombination von Imperfektivität und Einzelmomentfokussierung ergibt sich der progressive Aspekt, vgl. 6.5.
118 4.4.1 Graduelle Differenzierung von Finitheit Definiert man Finitheit als “hinsichtlich der verbalen Kategorien Tempus, Modus, Genus Verbi, Person und Numerus gekennzeichnete Verbform” (Bußmann 1990: 243), dürfte es klar sein, dass auch unterhalb der Betrachtungsebene des Satzes innerhalb der einzelnen infiniten Verbformen eine graduelle Differenzierung gemacht werden sollte: So ist die infinite Verbform Partizip durchaus durch Numerus und Genus gekennzeichnet (d.h. sie trägt Con-ϕ-Merkmale);43 es gibt auch Erscheinungen wie den flektierten Infinitiv im Portugiesischen oder auch in dem hier noch zu behandelnden Sardischen. Sind diese infiniten Formen dann finiter als andere infinite Formen? Bei finiten Verbformen gelten üblicherweise Indikative als finiter als Konjunktive.44 Eine weitere gängige Definition von Finitheit eines Verbs besteht darin, dass es Agr-ϕMerkmale trägt, die es mit einem in diesem Zusammenhang auftretenden overten Subjekt im Nominativ abgleicht. Dass auch diese Definition nur eine (wenn auch weit verbreitete) Tendenz darstellt, konnte bereits in mehreren Arbeiten nachgewiesen werden (vgl. z.B. Mensching 2000). Sowohl flektierter als auch unflektierter Infinitiv erlauben in bestimmten Konstruktionen mancher Sprachen overte Subjekte im Nominativ (vgl. Mensching 2000). Für das Italienische kann jedenfalls festgestellt werden, dass ein finites Verb immer auch Träger von Agr-ϕ-Merkmalen ist, d.h. dass in der Merkmalszusammensetzung eines italienischen Verbs overte Agr-ϕ-Merkmale immer direkt an das Merkmal [+finit] gekoppelt sind. Definiert man Finitheit anhand von Kriterien, die Zeitgebundenheit betreffen, erfasst man auch hier nur einen Teil der gemeinten Erscheinungsformen: Ein infiniter Satz oder eine infinite Projektion dagegen können zwar zeitliche Relationen kodieren, diese aber können nie unabhängig von einer finiten Verbform zeitlich verankert werden. Die erste Zeitrelation ist zwar von T (falls in der infiniten Projektion vorhanden) gesteuert, muss aber immer in einer höheren phrasalen Kategorie überprüft werden. Diese höhere Kategorie ist im Hauptsatz C°, das man sich als die Schnittstelle zwischen Proposition und Sprecherkontext erklären kann.45 Was also Finitheit betrifft, gibt es starke Anzeichen dafür, dass diese nicht nur in T°, sondern eben auch in C° kodiert ist, hier ausgedrückt durch ein [±finit]-Merkmal (vgl. Rizzi 1997: z.B. 305). Was die Nebensatztypologie betrifft, so stellt z.B. das italienische di einen durch [-finit] gekennzeichneten C-Kopf, che dagegen einen durch [+finit] gekennzeichneten C-Kopf dar (vgl. Rizzi 1997: 288). Mit [-finit]-gekennzeichnetes C° ist, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, auch für den Nullkasusabgleich eines in Infinitivsätzen stets leeren PRO-Subjekts zuständig. Die Nullkasusvergabe gehört zur möglichen Kontroll–––––—– 43 44 45
Geht man von der traditionellen Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passiv-Partizipien aus, sind Partizipien auch in Genus Verbi markiert. Zur Interpretation bestimmter konjunktivischer Nebensätze als Infinitive, vgl. u.a. Haase (1995); vgl. außerdem Calabrese (1993), Ledgeway (1998). Vgl. Rizzi (1997: 283): “We can think of the complementizer system as the interface between a propositional content (expressed by the IP) and the superordinate structure (a higher clause or, possibly, the articulation of discourse, if we consider a root clause). As such, we expect the C system to express at least two kinds of information, one facing the outside and the other facing the inside.” Hier sei minimalistisch nur von einem C-Kopf ausgegangen, im Gegensatz zur Split-CPHypothese nach Rizzi (1997).
119 eigenschaft von C°. Finite Sätze nun enthalten immer ein finites C°. Dieses Finitheitsmerkmal muss offenbar mit dem Finitheitsmerkmal von T° abgeglichen werden (im Romanischen – ohne das Rätoromanische – in der Regel kovert, in V2-Sprachen overt). Die bisherigen Beobachtungen sollen hier, wie folgt, zusammengefasst werden: − − − − − − −
T° trägt ein [±finit] Merkmal. Im Italienischen hat V°[Agr-ϕ] immer auch [+finit]. Nur Sätze, die auch C° haben, können finit sein. C° trägt ein [±finit] Merkmal. In jeder satzhaften Äußerung gibt es mindestens ein C°, das durch seine Finitheitsspezifikation die Schnittstelle zum situativ-pragmatischen Kontext darstellt. Wird eine CP vom Matrixsatz aus selegiert, stellt diese, was die Zeitorganisation und Finitheitsverhältnisse betrifft, die Schnittstelle zwischen Matrixsatz und eingebettetem Satz dar. Merkmalsabgleich von [±finit] findet zwischen V° und T° sowie T° und C° statt. Da [±finit] als nicht-kategorielles Merkmal nie stark sein kann (da es kein kategorielles Merkmal darstellt), muss offene Bewegung in diesem Zusammenhang auf andere starke Merkmale zurückgeführt werden.
Eine Satzprojektion kann also eine bis mehrere Kategorien enthalten, die Träger eines [±finit]-Merkmals sind. Strukturell kann Finitheit erst erreicht werden, wenn auch eine CP projiziert wird. Die vollständige CP selbst kann wiederum infinit oder (nach Satzmodus differenziert) finit sein. Die graduelle Abstufung von Finitheit kann nun auch systematisch erfasst werden, indem sie durch die Strukturen der eingebetteten verbalen Projektionen und die Wertbelegung von deren Finitheitsmerkmal dargestellt wird, vgl. die folgende Übersicht: (4-15)
Eingebettete Strukturen46 und deren Finitheitsgrad Eingebettete Struktur [VP-fin]
Finitheitsgrad
(I) (II)
[PrP [VP-fin]]
+
(III)
[TP-fin [PrP [VP-fin]]]
++
(IV)
[CP-fin [TP-fin [PrP [VP-fin]]]]
+++
(V)
[CP+fin [TP+fin [PrP [VP+fin]]]] (Konjunktiv)
++++
(VI)
[CP+fin [TP+fin [PrP [VP+fin]]]] (Indikativ)
+++++
Im MP hat die funktionale Kategorie C° im Zusammenhang mit bestimmten Funktionen von T° vielfältige Aufgaben, vgl. die folgende Gegenüberstellung:
–––––—– 46
Eigentlich kann gar keine genaue Unterscheidung zwischen mono- und biklausalen Strukturen gemacht werden, da auch hier ein gradueller Übergang zu beobachten ist. Dennoch sei im Verlauf dieser Arbeit weiterhin von “Matrixsatz” und “eingebettetem Satz” gesprochen, auch wenn es sich um eine formal sehr vage Begrifflichkeit handelt.
120 (4-16)
Aufgaben von C° im Zusammenhang mit T°
Unter C° erfolgt
Unter T° erfolgt
Finitheitsabgleich mit T°
Abgleich der Finitheitsmarkierung
Zeitliche Verankerung in der Diskurswelt
Komposition von T
Quantifizierung über die Diskurswelt47
Quantifizierung der Proposition
Nullkasusabgleich bei C/T[-finit]
Nominativkasusabgleich bei C/T[+finit]
Die Ergebnisse der bisher behandelten Punkte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: In Anlehnung an Rizzi (1997: 281) kann man die drei im Minimalismus angenommenen Kategorien Pr, T und C als drei funktionale Schichten einer syntaktischen Grobstruktur ansehen. Die PrP stellt den lexikalisch-funktionalen Komplex dar, der die lexikalische Syntax (vgl. Hale & Keyser 1993b) mit einschließt und schließlich eine lexikalische Kategorie in eine Prädikation überführt; die Prädikation ist ein aspektuell strukturiertes, d.h. durch die Aktionsart (Argumentstruktur + lexikalisch inhärenter Aspekt) bzw. zeitliche Konturierung (grammatischer Aspekt) gekennzeichnetes Ereignis (bzw. eine Situation). Die TP stellt einen funktionalen Komplex dar, in dem die grammatischen Kategorien Tempus, Polarität und Modalität inhaltlich festgelegt bzw. quantifiziert sein müssen. Die CP schließlich sorgt für die deiktische Verankerung der Derivation (Modus, Fokus, Illokution) in der Diskurswelt, vgl. die folgende Darstellung: (4-17)
3-Schichtenmodell zur Charakterisierung syntaktischer Strukturen
CP ILLOKUTION FINITHEIT KONTROLLE MODUS FOKUS
TP
PrP
XP
TEMPUS LEXIKONEINTRAG ARGUMENTMODALITÄT STRUKTUR AKTIONSART POLARITÄT EREIGNIS QUANTIFIZIERUNG ASPEKT
Unter Pr° wird durch die Verbindung von Subjekt und dem in seinen übrigen Argumenten festgelegten lexikalischen Prädikat die Prädikation gebildet. Diese schließt die erste Zeitrelation sowie deren zeitlich-aspektuelle Konturen ein, die sich durch die Kombination der primär lexikalisch bestimmten Aktionsart eines Prädikats sowie dem grammatischen Aspekt E/R ergeben. Um die Prädikation zu einer spezifizierten Proposition zu machen, müssen Tempus (Verbindung der zweiten Zeitrelation mit der ersten, d.h. Komposition von –––––—– 47
Hier ist natürlich auch Modalität relevant.
121 R/E und S/R), Modalität (deontisch/volitional/epistemisch/potential etc.) und Polarität (negativ/positiv) in der Tempusphrase konfiguriert werden. Bisher nicht instantiierte Werte in der Derivation werden mit ihren Default-Werten belegt und dabei quantifiziert. Die Komplementiererphrase sorgt für die deiktische Verankerung der Derivation in der Diskurswelt, indem Finitheit und Modus überprüft sowie Illokution und Fokus festgelegt werden. Auf der Basis dieses Grobmodells können die minimalistischen Analysen von Hilfsverbkonstruktionen des auf dieses Kapitel folgenden Teils der Arbeit aufsetzen. Die lexikalische Kategorie V° nun kann ebenfalls finit oder infinit sein. Als infinite Verbformen gelten im allgemeinen Partizipien, Gerundien und Infinitive. Hilfsverbkonstruktionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie aus mehreren verbhaften Bestandteilen bestehen. Dabei ist das Hilfsverb meist in finiter Form, in jedem Fall aber in einer strukturell höherliegenden Position als das Vollverb zu finden. Das Vollverb dagegen erscheint immer in nicht-finiter Form. Auf die von Hilfsverben selegierten infiniten Verbformen (Partizipien, vgl. 4.4.2, Gerundien, vgl. 4.4.3 und Infinitive, vgl. 4.4.4)48 wird nun gesondert eingegangen. Sie werden in ihren Eigenschaften charakterisiert und ihre Merkmalszusammensetzung im Rahmen des MP skizziert. Auch diese Sichtung soll der minimalistischen Analyse der Folgekapitel als Bezugsmodell dienen. Die Beispiele stammen größtenteils aus dem Italienischen. 4.4.2 Partizipien Im Italienischen stellen die Partizipien isoliert – anders als die flektierten finiten Verbalformen – keinen eigenen Tempusbezug her (im Sinne einer NACH, VOR, oder GLEICHBeziehung), sondern kodieren durch ihre Morphologie nur die Tatsache des Vollzogenseins (mangiato – das Ereignis des Essens ist vollendet und abgeschlossen) oder Nicht-Vollzogenseins (riguardante – das Ereignis der Bezugnahme ist nicht abgeschlossen). Ich möchte im Folgenden also formal zwischen perfektivischen und imperfektivischen Partizipien unterscheiden. Imperfektivische Partizipien als produktive Verbform, wie im Lateinischen, gibt es allerdings in den hier behandelten Sprachen nur mehr in eingeschränktem Maße;49 zudem existieren in den heutigen Sprachstufen keine Hilfsverbkonstruktionen, die imper–––––—– 48
49
Eigentlich wäre es in einem minimalistischen Ansatz angebracht, die Selektionsbeziehung zwischen infiniten Vollverbformen und finiten Hilfsverbformen umzukehren: Nicht die Hilfsverben selegieren infinite Formen, sondern infinite Formen führen (u.a.) dazu, dass Hilfsverben in der Derivation erscheinen müssen, vgl. dazu die Analyse in Kapitel 5. Vgl. GGIC, II (1991: 604f.) für das Italienische: “Il participio presente è la forma verbale più povera di caratteristiche verbali; il suo uso come verbo è oggi per lo più ristretto ad uno stile molto alto e ricercato […] oppure burocratico” (604). “Il participio presente può designare solo una proprietà permanente” (605). Für das Sardische vgl. Corda (1994: 69-70): “Il participio presente è pressoché estraneo alla flessione verbale. Esso, infatti, compare per lo più in funzione di nome o di aggettivo […] Al posto del participio presente con funzione verbale […] viene usato per lo più il gerundio.” In der Tat wird die sardische Form auf -nde von Jones (1993: 83-84; 285f) als “present participle” bezeichnet. Diese Formen treten im Sardischen sehr wohl in Hilfsverbkonstruktionen auf, vgl. dazu 7.6.
122 fektivische Partizipien benutzen.50 Die imperfektivischen (Präsens-)Partizipien sollen daher hier nicht weiter behandelt werden. Hilfsverbkonstruktionen findet man dafür verstärkt im Zusammenhang mit Gerundien, die die Funktion des Präsenspartizips übernommen haben (vgl. 4.4.3).51 Partizipien können attributiv oder nicht-attributiv verwendet werden. Hilfsverben treten nicht als Bestandteil einer attributiven Partizipialkonstruktion auf: (4-18) (4-19)
*le persone aventi avuto diritto a un sussidio (GGIC,II,1991: 606) *un melo stato potato52
Bei der nicht-attibutiven Verwendung perfektivischer Partizipien in Hilfsverbkonstruktionen muss grundsätzlich zwischen zwei Typen unterschieden werden, nämlich zum einen der Verwendung im Aktiv (bzw. bei unakkusativischen Konstruktionen) und zum anderen der Verwendung im Passiv. Die Verwendung der perfektivischen Partizipien im Aktiv kann man im Sardischen und Italienischen in den zusammengesetzten Zeiten finden. Dabei treten die Partizipien der transitiven und unergativen intransitiven Verben mit dem Hilfsverb HABEN, die Partizipien der unakkusativischen Verben53 dagegen mit dem Hilfsverb SEIN auf. Die Verwendung der perfektivischen Partizipien im Passiv (das natürlich nur transitive Verben betrifft) gibt es in allen Zeiten (inklusive der zusammengesetzten Zeiten). Bei passivischer Verwendung des Partizips ist auch tatsächlich der Vergangenheitsbezug nicht obligatorisch. Die Kodierung einer NACH-Beziehung gibt es nur, wenn das Partizip in einer aktiven Hilfsverbkonstruktion verwendet wird. Es können sich auch zweideutige Konstruktionen ergeben, die sowohl die aktivische als auch die passivische Interpretation erlauben. Dies betrifft Verben, die sowohl unakkusativisch als auch transitiv verwendet werden können: (4-20)
La nave è affondata.
‘Das Schiff ist gesunken.’ (Perfekt Aktiv) ‘Das Schiff wird versenkt.’ (Präsens Passiv)
–––––—– 50
51 52
53
Vgl. Rohlfs (1969: 112-113, §723): “La lingua letteraria delle origini usava circonlocuzioni formate con essere e il participio presente, a sostituire forme finite del verbo.” Die Konstruktion ist nach Rohlfs provenzalischen Ursprungs, vgl. die folgenden Beispiele: (i) Io sono saccente. (Brunetto Latini) (ii) Così fu l’om perdente. (Tesoretto) (iii) Son temente. (Chiaro Davanzati) (Beispiele aus Rohlfs 1969: 112-113, §723) Dies gilt natürlich nicht nur für das Sardische, zur historischen Entwicklung vgl. Rohlfs (1969: 107f., §718). Die Konstruktion *un ragazzo avuto mangiato ist außerdem aus dem Grund nicht möglich, weil attributiv verwendete Perfektpartizipien immer unakkusativisch verwendet werden: Das Bezugsnomen entspricht dabei einem internen – wahrscheinlich durch ein starkes [D]-Merkmal angehobenen – Objekt. Avere ist aber in unakkusativischen Konstruktionen im Italienischen nicht möglich. Bei anderen unakkusativischen Konstruktionen, z.B. Reflexivkonstruktionen, muss wieder einzelsprachlich unterschieden werden, vgl. 5.4.2 für das Italienische sowie 7.2.1 für das Sardische.
123 Die Ambiguität könnte nun also sowohl an einer Zweideutigkeit des Hilfsverbs als auch an einer Zweideutigkeit der Partizipialform liegen. Das Deutsche hat in diesem Fall sowohl zwei verschiedene Lexikoneinträge für das italienische affondare (versenken und sinken, die zwar etymologisch verwandt sind, aber eigenständige Lexikoneinträge darstellen) als auch zwei verschiedene Hilfsverben (sein für die Bildung des Perfekts in unakkusativischen Konstruktionen, werden dagegen für Passivkonstruktionen). In Kapitel 3.2 wurde gezeigt, dass nicht zwei verschiedene Lexikoneinträge für affondare (einmal als transitives und einmal als unakkusativisches Verb) angenommen werden müssen, sondern dass die Differenzierung nach transitiver bzw. unakkusativischer Konstruktion von der Selektion verschiedener Lexikoneinträge für die funktionale Kategorie Pr°/v° bestimmt ist. Es gibt also keine zwei verschiedenen grammatikalischen Formen für ein passivisches Partizip einerseits und ein aktivisches Partizip andererseits. Vielmehr handelt es sich bei der Partizipialform um eine einzige morphologische Form, wie bereits u.a. auch schon von Haider (1984) angenommen. Da nun das infinite V° affondato nicht für die Ambiguität des Beispielsatzes (4-20) verantwortlich sein kann, muss also angenommen werden, dass das Hilfsverb essere für die Zweideutigkeit verantwortlich ist. Für das Italienische kann hier wahrscheinlich mehr als ein Lexikoneintrag angenommen werden (vgl. 5.1. und 5.2). Transitive Verben können sowohl in aktivischen als auch in passivischen Partizipialkonstruktionen und darüber hinaus als attributive Partizipien gebraucht werden (le mele mangiate ieri). Unakkusativische Verben können nur in aktivischen Partizipialkonstruktionen sowie als attributive Partizipien verwendet werden (le ragazze arrivate ieri). Intransitive unergative Verben können nur in aktivischen Konstruktionen, dagegen nie passivisch oder attributiv gebraucht werden (*le ragazze dormite ieri). Die Partizipialform stato bildet einen Sonderfall: Stato gilt zum einen als Suppletivform eines fehlenden Partizips für essere und wird daher in Kopulativkonstruktionen im zusammengesetzten Perfekt verwendet. Stato ist darüber hinaus nur in Passivkonstruktionen möglich (d.h. also in Zusammenhang mit transitiven Verben). Man betrachte nun die folgenden Sätze: (4-21) (4-22)
Il melo è stato potato (dal giardiniere). Il melo è potato.54
Satz (4-22) ist, im Gegensatz zu Satz (4-21) mit stato, zweideutig: Er entspricht einerseits in seiner Interpretation dem deutschen Zustandspassiv mit dem Hilfsverb sein (‘Der Apfelbaum ist beschnitten’). In diesem Fall wird das Partizip als prädikatives Adjektiv interpretiert. Andererseits entspricht der Satz in einer zweiten Interpretation aber auch dem deutschen Ereignispassiv mit dem Hilfsverb werden in der Gegenwart (‘Der Apfelbaum wird beschnitten’). Die Zweideutigkeit im Italienischen ergibt sich aus der Zweideutigkeit von è.55 In Satz (4-21) ist es schließlich stato, welches die Doppeldeutigkeit von essere –––––—– 54
55
Vgl. auch GGIC, I (1988: 88): (i) La porta è chiusa da due ore. (ii) La porta è chiusa violentemente. Vgl. die Verwendung von werden als Hilfsverb im Deutschen, das sowohl als passivisches als auch als futurisches Hilfsverb genutzt wird. Im Italienischen dagegen gibt es die Möglichkeit der Verwendung eines prospektiven venire: das Partizip hat zwar grundsätzlich perfektivische Bedeu-
124 disambiguiert. Stato ist als Ausnahmefall eines Perfektpartizips zu sehen, das als einziges seiner Art direkt etwas mit der Zeitkodierung (d.h. es hat ein [T]-Merkmal mit dem Wert [E_R]) zu tun hat (vgl. 5.1 und 5.2). Sowohl die Hilfsverbselektion als auch Tempuskodierung haben primär nichts mit Partizipialformen zu tun.56 Hilfsverbselektion ist von der Argumentstruktur des Verbs bzw. von Pr°/v° abhängig. Tempuskodierung steht mit den verwendeten Hilfsverben und ihren Formen in Zusammenhang. Partizipien selbst zeichnen sich durch ihre Infinitheit sowie die Möglichkeit, Merkmalskongruenz in Numerus und Genus auszudrücken, aus. Die Partizipialkongruenz betrifft nur Con-ϕ-Merkmale, wie in 3.4 aufgezeigt: Partizipien sind verbale Formen, die nominale Kongruenz aufweisen können. Wann es zu diesen Kongruenzphänomenen kommt, hängt wiederum nicht von einer Eigenschaft der Partizipien ab, sondern, wie bereits gezeigt, von der syntaktischen Konstellation, in der sie sich befinden. Partizipien kodieren vorrangig Aspekt.57 Dies und die Möglichkeit der Partizipialkongruenz haben im P&P u.a. für das Italienische zur Annahme einer Aspektphrase (morphologisches Kennzeichen -t-) sowie im Bedarfsfall zur Annahme einer AgrO-Phrase (morphologisches Kennzeichen -a, -e, -o, -i) geführt (vgl. Kayne 1989b, Belletti 1990: 31-32 sowie Rizzi 1997: 321). Partizipien als infinite Formen haben keine eigene Tempuskodierung. Im Gegensatz zu anderen infiniten Formen (z.B. den Infinitiven, vgl. 4.4.4) scheinen sie auch nicht einmal eine relationale Tempuskodierung (also Merkmale, die eine der beiden TRelationen betreffen) zu tragen. Sieht man von stato als Sonderfall ab, können die hier behandelten Partizipien sowohl in Äußerungen auftauchen, die der Zeitorganisation der Gegenwart entsprechen (T[S,R]•[R,E]: I meli sono potati attentamente dai contadini) als auch in Äußerungen, die durch die relationale Zeitorganisation die Ereigniszeit der Prädikation auf einen Punkt vor der Sprechzeit ansiedeln (T[S,R]•[E_R]: La primavera è arrivata.). Partizipien haben daher in dem hier vertretenen Ansatz keine, nicht einmal eine variable Tempuskodierung. Eine Merkmalsmatrix italienischer Partizipialformen kann also wie folgt dargestellt werden: (4-23)
Italienisches Partizip Perfekt, formale Merkmale: potato
({Phonologische
semantische
formale Merkmale},
({/potato/
[schneiden(x,y),.....]
[V,Con-ϕ,+perf,-finit]}
–––––—–
56
57
tung, die kann aber durch die Wahl eines dementsprechenden Hilfsverb sozusagen in die Zukunft verlagert, d.h. neutralisiert werden. Damit widerspreche ich u.a. Brugger & D’Angelo (1994: 118), die Perfektpartizipien je nach ihrer Verwendung entweder mit dem Merkmal [PAST] oder dem Merkmal [TERM] assoziieren. Ich akzeptiere nur das Merkmal [TERM], d.h. ein Merkmal der Bedeutung ‘perfektiv’. Auch Coseriu (1976: 126) hält aspektuelle Abgeschlossenheit für das Hauptmerkmal von Partizipien: “Das Partizip dagegen bedeutet Abgeschlossenheit, Handlung nach deren Ablauf betrachtet. [...] und dadurch bringt es in den Periphrasen die Bedeutung einer Abgeschlossenheit mit sich, entweder im subjektiven oder im objektiven Sinn.”
125 Wichtig ist also festzuhalten, dass Partizipien (mit stato als Ausnahme) kein eigenes (weder die erste noch die zweite T-Relation kodierendes) [T]-Merkmal haben.58 In den zusammengesetzten Zeiten des Italienischen, die einerseits das Tempus Perfekt, andererseits den Aspekt Perfektiv beinhalten, ist der Aspekt und Tempus betreffende Synkretismus der übrigen Verbalformen aufgelöst. Dabei ist die die Merkmalszusammensetzung des Partizips nur für den perfektiven Aspekt verantwortlich. 4.4.3 Gerundien Gerundien sind grundsätzlich, im Gegensatz zu den Partizipien, invariabel. Daher gibt es weder Flexion nach Numerus und Genus59 noch eine ‘Gerundialkongruenz’ in Gerundialkonstruktionen. Gerundien haben also keine ϕ-Merkmale. Abgesehen von Verbalperiphrasen mit Verben wie stare erscheinen Gerundien beinhaltende Phrasen ebenso wie Adverbien oder Adverbialphrasen in Adjunktpositionen. Gerundien können im zusammengesetzten Perfekt von transitiven und unakkusativischen Verben sowie im Passiv der Gegenwart und der Vergangenheit erscheinen. Die Hilfsverbselektion entspricht dabei derjenigen der jeweils zugrunde liegenden Konstruktion. Gerundiale Adverbialsätze sind zeitlich im Matrixsatz mit einer GLEICH-Beziehung in der ersten T-Relation verankert: Die Merkmalszusammensetzungen der Gerundien von Vollverben enthalten immer die Zeitkodierung [E,R], die erst über Einbindung an einen Matrixsatz mit finiter Zeitorganisation tatsächlich mit der Sprechzeit verbunden werden können; die Merkmalszusammensetzungen der Hilfsverben HABEN und SEIN in Gerundialform dagegen müssen je nach Konstruktion unterschieden werden: Bei temporalen Hilfsverbkonstruktionen kann die zweite Zeitrelation durch HABEN und SEIN auch als [E_R] kodiert werden. Diese nur Hilfsverben betreffende Besonderheit ist allerdings unabhängig von der Form des Gerundiums und wird im Folgenden noch geklärt werden. Ich möchte hier als Arbeitsgrundlage davon ausgehen, dass Gerundien als Form im Gegensatz zu den unter 4.4.2 besprochenen Partizipien ein [T]Merkmal besitzen.60 Dieses [T]-Merkmal besteht – außer bei den perfektiven Hilfsverben in Gerundialform – in der Setzung einer GLEICH-Beziehung zur Referenzzeit, also [E,R]. –––––—– 58
59
60
Diese Annahme findet sich in ähnlicher Form bei Cocchi (1998: 89) wieder: “I assume that the structure of the participial clause reflects that of a finite clause but for the presence of T°.” Cocchi allerdings arbeitet mit weiteren funktionalen Kategorien. Gerundien erscheinen im Italienischen adnominal nur mehr in prädikativer Verwendung, im Sinne einer sekundären Prädikation, vgl. hierzu auch GGIC, II (1991: 572f.). Der rein attributive Gebrauch von Gerundien (statt participia praesentia) ist im Spätlatein und auch noch im älteren Italienischen zu finden (vgl. Rohlfs 1969: 107, §718): (i) angeli cantando (Gregor von Tours) (ii) come occhio segue il suo falcon volando (Dante, Paradiso) Im Sardischen dagegen ist der attributive Gebrauch dieser Formen in der Interpretation von Präsenspartizipien noch sehr gebräuchlich, vgl. Corda (1994: 70): (i) B’aiat trainos murmuttende. (ii) lantaìat s’àbbila ’olende. Auch im Sardischen gibt es keine gerundialen Kongruenzphänomene. Auch Martin (2001: 150, Fn. 19) nimmt ein Merkmal [+tense] für die Formen des englischen Gerund an.
126 Darüber hinaus hat die Form des Gerundiums (außer bei den temporalen Hilfsverben) die Eigenschaft, eine zur Referenzzeit unabgeschlossene Ereignissituation darzustellen, also Imperfektivität zu kodieren. Eine mögliche aspektuelle Bedeutungsspezialisierung der Gerundien in Form von progressiver Lesart (wie in der Konstruktion mit stare gegeben) bzw. durativer (kontinuativer) Lesart (wie in der Konstruktion mit andare/venire gegeben) ist in diesen Konstruktionen sicherlich sekundär und nicht nur von der Form des Gerundiums, sondern dem Zusammenspiel aller beteiligten Elemente bestimmt.61 Für die italienischen einfachen Gerundien wird also als Arbeitsgrundlage die folgende Merkmalszusammensetzung angenommen: (4-24)
Italienisches einfaches Gerundium, formale Merkmale: mangiando
({phonologische
semantische
formale Merkmale}
({/mandZando/
[essen(x,y),.....]
[V,T[E,R],-perf,-finit]}
Wichtig ist es also festzuhalten, dass einfache Gerundien von Vollverben keinerlei ϕMerkmale, dafür aber ein [T]-Merkmal besitzen, das den Wert einer GLEICH-Beziehung trägt; außerdem ist das Ereignis bzw. die Situation zur Referenzzeit als nicht abgeschlossen dargestellt. Einen Sonderfall der Gerundien stellen die von den temporalen Hilfsverben avere und essere abgeleiteten Formen essendo und avendo dar: Diese haben, im Gegensatz zu den Gerundien der Vollverben, sehr wohl ein [T]-Merkmal. Diese Eigenschaft ist auch hier, wie bei dem partizipialen stato, speziell dem Hilfsverbstatus dieser Verben zuzurechnen und daher nicht von der Form des Gerundiums bestimmt (vgl. 5.2). 4.4.4 Infinitive Infinitive sind in der Regel unflektierte Verbformen, d.h. Verbformen ohne ϕ-Merkmale.62 Infinitive haben im Allgemeinen in den hier genannten Sprachen offensichtlich keine
–––––—– 61
62
Nach Coseriu (1976: 126) ist das Gerundium “eine in ihrem Ablauf betrachtete Handlung, eine Handlung, die zum Teil schon verwirklicht und zum Teil noch zu verwirklichen ist. Dadurch ist es Instrument für die partialisierende und die begleitende Schau und für progressivische Bedeutung. Implizit [...] also drückt jede Periphrase mit dem Gerundium das unabgeschlossene, das im Ablauf betrachtete aus.” Diese Sichtweise ist mit der hier vorgeschlagenen Merkmalszusammensetzung kompatibel. Allerdings gibt es einige romanische Idiome, die flektierte Infinitivformen kennen; am bekanntesten ist das Portugiesische. Aber auch das Altneapolitanische kannte solche Formen, ebenso wie Randgebiete des hier noch zu behandelnden logudoresischen Sardischen. Zum Portugiesischen vgl. Raposo (1987), zum Altneapolitanischen vgl. Ledgeway (2000a: 109–114); zum Sardischen vgl. Jones (2000). Die folgenden Beispiele zeigen flektierte Infinitive in Zusammenhang mit Modalverben. Diese Infinitive flektieren nach Person und Numerus, tragen also Agr-ϕ-Merkmale: (i) sard. Non cheljo a esseres [2.sg] tristu. (ii) sard. Non cheren a cantaremus [1.pl]. (Jones 2000: 116)
127 eigene aspektuelle Bedeutung. Sie sind in der vorliegenden Arbeit v.a. im Zusammenhang mit Modalverben relevant. Dabei kann beobachtet werden, dass Infinitive sehr oft auch eine prospektive63 zeitliche Lesart erhalten können, die von dem entsprechenden Modalverb gesteuert ist. Aus eben solchen Lesarten hat sich u.a. im Sardischen das analytische Futur und Konditional entwickelt (vgl. 7.3).64 Daraus folgt, dass Infinitive zwar über die Möglichkeit der Zeitkodierung der zweiten TRelation, d.h. über ein [T]-Merkmal verfügen, dieses jedoch einen variablen Wert darstellt, der nur im Default-Fall mit [E,R] instantiiert wird. Falls jedoch zuvor eine andere Instantiierung, eventuell durch die Wahl bestimmter funktionaler Kategorien, wie sie von Modalverben gefordert wird, stattgefunden hat, wird der Default-Wert hinfällig. Infinitive haben also, anders als Gerundien, ein die zweite Zeitrelation betreffendes [T]-Merkmal, das nicht immer die GLEICH-Beziehung kodiert.65 Italienische und sardische Infinitive haben mit den Gerundien gemeinsam, dass sie ebenfalls mit den Hilfsverben gebildet werden können, sodass sich eine Vergangenheitsform ergibt. Im Falle der temporalen Hilfsverben ergibt sich dann wieder deren spezifische (eben nicht mehr variable) vorzeitige Bedeutung der VOR-Beziehung [E_R]. Das hat zur Folge, dass die temporalen Hilfsverben nur dort in der Form des Infinitivs auftauchen dürfen, wo sich keine Kollision mit einer anderen Zeitselektion ergibt: (4-25)
*Maria ordina di aver raccolto tutte le mele. [R_E] ≠ [E_R]
Da das hier kontrollierende Verb ordinare eine prospektivische Zeitorganisation selegiert, kann im eingebetteten Infinitivsatz keine temporale Hilfsverbkonstruktion der Vergangenheit erscheinen. Weitere Untersuchungen zu den hier in Infinitivform verwendeten Hilfsverben werden in den einzelsprachlichen Analysekapiteln dieser Arbeit folgen (vgl. Kapitel 5–7). Für die zuvor angesprochenen Infinitive von Vollverben werden nun aufgrund der vorangegangenen Beobachtungen die folgenden Merkmalszusammensetzungen angenommen:66 –––––—–
63 64 65
66
Die Partikel a ist höchstwahrscheinlich ein overter C-Kopf, der Subjektkontrolle verhindert. Da die flektierten Infinitive keine spezifische Hilfsverbrelevanz haben, werden sie im Weiteren nur am Rande behandelt. Zunächst auf die Zukunft gerichtete, aber nicht real-futurische, teilweise hypothetische Bedeutung, vgl. Stowell (1982). Vgl. die “pathways to future” bei Bybee, Perkins & Pagliuca (1994: 235f). Bei der Verwendung von Gerundien ist mir in den hier behandelten Sprachen dagegen keine prospektive Bedeutung bekannt (s. aber Mensching 1994:53: sard. soe andande ‘ich bin im Begriff zu gehen’). Eventuell kann eine solche prospektive Bedeutung in den von Rohlfs (1969: 110, §722) beschriebenen dialektalen Verwendungen des Gerundiums in Funktion des Imperativs gesehen werden, wie sie sich aus einer Form von IRE + Gerundium entwickelt haben könnte; vgl. dazu auch das prospektive Futur to be going to im Englischen. Die Annahme eines variablen [T]-Merkmals entspricht auch der Charakterisierung von Infinitiven nach Coseriu (1976: 126–127): “Der Infinitiv bedeutet die Handlung ideell und neutral, unabhängig von ihrem Ablauf und von ihrer Abgeschlossenheit [...]; dadurch dient er entweder für Periphrasen, in welchen der Ablauf oder die Abgeschlossenheit nicht interessieren oder schon anders ausgedrückt sind [...] oder auch für futurische Bedeutungen, also für noch nicht verwirklichte Handlungen, die man daher weder im Ablauf noch als abgeschlossen betrachten kann [...].”
128 (4-26)
Merkmalszusammensetzungen von italienischen Infinitivformen67
Form
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
mangiare
{/mandZare/
[essen(x,y),.....]
[V,-finit,T[Var]]}
Wichtig ist es festzuhalten, dass Infinitive variable [T]-Merkmale der zweiten T-Relation tragen. 4.4.5 Infinite Formen: Zusammenfassung Es konnte festgestellt werden, dass infinite Verbformen sehr unterschiedliche Merkmalszusammensetzungen haben. Infinite Formen können einerseits Con-ϕ-Merkmale (vgl. die Partizipien), andererseits Agr-ϕ-Merkmale (z.B. die sardischen flektierten Infinitive) oder aber auch gar keine ϕ-Merkmale (z.B. die Gerundien sowie die unflektierten Infinitive) tragen. Allen infiniten Verbformen von Vollverben ist gemeinsam, dass sie nie die erste Zeitrelation ausdrücken können. Das bedeutet, dass sie immer eine Beziehung zu einer finiten Verbform brauchen, um mit dem sprechzeitlichen Kontext verankert werden zu können. Wichtig für die weiteren Betrachtungen ist die Feststellung, dass auch die zweite Zeitrelation bei infiniten Verbformen entweder nur als Variable (bei Infinitiven), als [E,R] (bei Gerundien) oder gar nicht vorhanden ist (bei den Partizipien).68 Gerundien von Vollverben kodieren imperfektivischen, Partizipien kodieren perfektivischen Aspekt. Infinitive von Vollverben selbst sind wohl im allgemeinen imperfektiv, wobei es sich hier möglicherweise um eine aspektuelle Default-Instantiierung handeln kann.69 Infinite Formen der Hilfsverben HABEN und SEIN dagegen bilden in jedem Fall (sowohl in Bezug auf die Zeitkodierung als auch auf Aspekt) Ausnahmen, die in den nächsten Kapiteln noch zu untersuchen sind.
–––––—– 67
68
69
Für das Sardische müsste noch die folgende Erweiterung angenommen werden: Varietät
Form
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
Sard. 1
mandicare
{[mandi'kare]
[essen(x,y),.....] [V,-finit,T[Var]]}
Sard. 2
mandicaremus
{[mandi'karemus]
[essen(x,y),.....]
[V,-finit,Agr-ϕ[1,pl], T[Var]]}
Tortora (1994: 371) nimmt für die englische Form des Progressive und die englischen Passivpartizipien ebenfalls an, dass sie keinerlei Beitrag zur zeitlichen Interpretation eines Satzes leisten; sie geht mit Giorgi & Pianesi (1991) davon aus, dass gleichzeitige Zeitinterpretation auf der LF auf syntaktischer Ebene gar nicht kodiert sein muss. Es wird also bei diesen Formen gar kein T2 à la Giorgi & Pianesi projiziert. Diese Annahme wird in der vorliegenden Arbeit nicht übernommen. Hier soll (zumindest für das Italienische) zwischen T-losen Partizipien und Gerundien mit [T]Merkmalen unterschieden werden. Ich nehme also kein Merkmal [-perf] für die Infinitive an.
129
4.5
Zusammenfassung
Der Untersuchungsgegenstand dieses Kapitels war sprachliche Zeitorganisation. Allgemeine Fragen der Organisation der hilfsverbrelevanten grammatischen Kategorien Tempus und Aspekt wurden minimalistisch dargestellt und anhand von konkreten Beispielen in Merkmalsmatrizen zusammengefasst. Ausführlich diskutiert wurde außerdem der Begriff der 'Finitheit' sowie die in engem Zusammenhang mit Hilfsverbkonstruktionen stehenden infiniten Verbformen. Die dabei erzielten Ergebnisse können hier wie folgt zusammengefasst werden: −
−
− −
Ein auf neo-reichenbachschen Zeitrelationen basierendes System bildet die Grundlage der minimalistischen Zeitorganisation. Dabei werden für die zwei Zeitrelationen S/R und R/E jeweils [T]-Merkmale angenommen. Die erste Zeitrelation T1 ist in T° kodiert, die zweite Zeitrelation T2 in Pr°. Matrixsätze müssen über C° in S verankert sein. R und E stellen nicht näher charakterisierte Zeitgegebenheiten dar. Aspekt kodierende Merkmale können nun die Zeitkonturen dieser Zeitgegebenheiten bestimmen. Ein wichtiges aspektuelles Merkmal ist [±perf], welches in Pr° abgeglichen wird. Auch die Quantifizierung bzw. Spezifizität von R (∃R, ∀R...) ist aspektrelevant. Finitheit ist ein gradueller Begriff. Neben V° tragen auch die funktionalen Kategorien C° und T° ein [±finit]-Merkmal. Bei infinitem C°/T° hat die erste T-Relation immer den Wert der GLEICH-Beziehung. Die im Hilfsverbzusammenhang auftretenden infiniten Verbalformen Partizip, Gerundium und Infinitiv stimmen nur in ihrem [-finit]-Merkmal überein und weisen ansonsten eine stark unterschiedliche Merkmalszusammensetzung auf, die einzelsprachlich variieren kann: Im Italienischen sind die Partizipien der Vollverben v.a. durch ein aspektuelles [+perf]-Merkmal, die Gerundien der Vollverben durch ein [-perf]-Merkmal gekennzeichnet. Infinitive haben nur einen variablen, Gerundien einen auf die GLEICH-Beziehung beschränkten und Partizipien gar keinen T-Wert.
5
Analyse der Hilfsverben anhand des Italienischen
In diesem zentralen Kapitel folgt die Entwicklung eines Analyseparadigmas für die Beschreibung von Hilfsverben. Die zugrunde liegenden Daten stammen schwerpunktmäßig aus dem Italienischen,1 obwohl auch Vergleichsdaten aus dem Englischen zur Analyse herangezogen werden. Da im Folgenden die Hilfsverben SEIN und HABEN im Mittelpunkt stehen, werden außerdem zuvor die Konstruktionen mit der Kopula SEIN betrachtet: Diese wird in der vorliegenden Arbeit aus Gründen, die sich auf die Prädikationsphrase (vgl. 3.2) berufen und die hier detailliert ausgearbeitet werden, als Hilfsverb betrachtet (vgl. 5.1). Die hier vorgelegte minimalistische Analyse von HABEN und SEIN (vgl. 5.2) argumentiert v.a. mit dem Phänomen der Hilfsverbselektion im Italienischen. Im Zusammenhang mit der Hilfsverbselektion von SEIN stehen außerdem sowohl die Passivkonstruktionen (vgl. 5.3) als auch die Konstruktionen mit dem italienischen Klitikum si (vgl. 5.4), die hier beide eingehend untersucht werden sollen. Eine Zusammenfassung wird den Weg für die einzelsprachlichen Untersuchungen in den nächsten Kapiteln freimachen (vgl. 5.5).
5.1
Kopulativkonstruktionen
Unter Kopulativkonstruktionen versteht man Derivationen, bei denen das Prädikat eine nicht-verbale Kategorie darstellt und ein so genanntes Kopulativverb die Satzhaftigkeit der Derivation garantiert. Im Folgenden soll nur die Kopula SEIN in ihrer Verwendung und ihren Eigenschaften beschrieben und analysiert werden. SEIN, wie es als prototypisches Verb in Kopulativkonstruktionen erscheint, wird oft als Vollverb (im Gegensatz zu seinem Gebrauch als Hilfsverb bei den zusammengesetzten Zeiten und dem Passiv) betrachtet. Da aber die Kopula nicht nur sehr vagen semantischen Gehalt hat, sondern in bestimmten Kontexten in manchen Sprachen auch völlig fehlen kann,2 wird sie hier als Hilfsverb behandelt. Man beachte, dass alle lexikalischen Kategorien auch an der Konstitution von Prädikaten beteiligt sein können. (5-1) (5-2) (5-3) (5-4) (5-5)
V: Gianni dorme. Adj: Gianni è stanco. N: Gianni è macellaio. P: Gianni è di Napoli. Adv: Gianni è giù.3
–––––—– 1 2 3
Zu den italienischen Daten vgl. Kapitel 6, Fn. 1. Zu den Kontexten und Sprachen, in denen die Kopula fehlen kann, vgl. auch Lewandowski (1994, II: 610). Es kann hier nicht diskutiert werden, ob Adverbien als eigene lexikalische Kategorie behandelt oder den anderen lexikalischen Kategorien zugeordnet werden können.
132 Dabei ist zu beobachten, dass im Italienischen immer, wenn das Prädikat keine Verbalphrase darstellt, die Kopula SEIN auftauchen muss. In Sprachen, wie dem Arabischen oder Russischen ist das bekanntlich nicht so. Wenn das Tempus des Satzes in diesen Sprachen allerdings nicht das Präsens ist, genauer gesagt, nicht die Relation der Gegenwart [S,R] gilt, taucht auch in diesen Sprachen eine Kopula auf.4 Kopulativkonstruktionen sind Prädikativsätze und werden als solche in der Generativen Grammatik üblicherweise als Small-Clause-Konstruktion (SC), also eine Konstruktion mit reduzierter Satzkonstituente, interpretiert (s. z.B. Moro 1993). Dabei wird angenommen, dass das Kopulativverb eine AgrP als SC subkategorisiert, welche die Subjekt-DP und das Prädikativum beinhaltet: (5-6)
Traditionelle SC-Interpretation einer Kopulativkonstruktion5 AgrP
Spec 'Gianni'
Agr' TP
Agr° 'è' T°
VP
V°
AgrP
Spec
Agr' Agr°
AP
Spec
A'
A° 'stanco'
XP
Im Rahmen dieser Arbeit gilt es nun zu untersuchen, welche Position Kopulativverben im Zusammenhang mit einer minimalistischen VP-Shell-Analyse bzw. der daraus entwickelten –––––—– 4
5
Hier seien Beispiele aus dem (dem Arabischen nahestehenden) Maltesischen gegeben: (i) din it-tuffie©a ©amra dieser der-apfel rot ‘Dieser Apfel ist rot.’ (ii) il-biera© it-tuffie©a kienet ©adra gestern der-apfel war grün ‘Gestern war der Apfel grün.’ Die Spezifikatorposition der TP ist wohl leer und wird hier deshalb nicht dargestellt.
133 Bowerschen Prädikationsphrase in der syntaktischen Derivation innehaben und wo der Ort der einzelsprachlichen Parametrisierung liegt. Chomsky (1995) liefert selbst eine provisorische Analyse von Kopulativkonstruktionen anhand des Beispielsatzes John is intelligent: Die Kopula nimmt eine SC als Komplement, die hier unter Verzicht einer AgrP aus einer reinen Adjektivphrase (AP) besteht. Da aber Agreement-Phänomene zwischen der Subjekt-DP und dem Adjektiv bestehen, erklärt er deren Zustandekommen folgendermaßen: Die Subjekt-DP befindet sich in einer Adjunktposition innerhalb der AP, eine Annahme, die bereits auf Stowell (1978) zurückgeht (vgl. dazu auch Moro 2000: 36–37). Das Subjekt bewegt sich dann zunächst aus seiner Basisposition nach [Spec, A], bevor es weiter nach [Spec, T] angehoben wird. Ob die Kopula nun in dieser Annahme unter T° steht, bzw. sogar T° selbst ist, wird nicht explizit ausgeführt (Chomsky 1995: 353–354). Chomskys Derivation hat in jedem Fall einen großen Nachteil, auf den er auch selbst hinweist (vgl. Chomsky 1995: 393, Fn. 133): Jede overte Bewegung eines syntaktischen Objekts setzt ein starkes Merkmal voraus, das diese Bewegung auslöst. Bewegt sich nun die Subjekt-DP John innerhalb der AP nach [Spec, A], muss also ein starkes [D]-Merkmal in A° angenommen werden. Adjektive sind aber keine funktionalen, sondern lexikalische Kategorien und können daher keine starken Merkmale haben (vgl. 3.1.4). Bowers Prädikationsphrase, die eine Subjektsposition im Spezifikator der PrP zur Verfügung stellt, bietet sich also als Ausgangspunkt einer konsistenteren Analyse an. Im Gegensatz zu Bowers allerdings, der die Kopula ebenfalls als Vollverb interpretiert, welches seinerseits eine Prädikationsphrase subkategorisiert (Bowers 2001: 303–4), wird hier mit Blick auf die kontrastiven Daten aus anderen Sprachen, die einen Wegfall der Kopula erlauben, für einen Hilfsverbstatus der Kopula plädiert. Bowers versteht eine Prädikationsphrase als einen “complete functional complex” (Bowers 1993: 598). Prädikationsphrasen sind allgemeine funktionale Projektionen, die unterschiedliche spezifische Instantiierungen haben können: Eine VP-Shell mit einem funktionalen v° als Kopf ist eine speziell verbale Form der Prädikationsphrase. Ähnliche Prädikationsphrasenstrukturen können auch für adjektivische und nominale Prädikate angenommen werden, wobei eine jeweils spezifische Merkmalsstruktur die Eigenschaften der Prädikation bestimmt. Während nun ein verbales Prädikat durch eine Prädikationsphrase mit [V]-Merkmal gekennzeichnet ist, kann man für adjektivische Prädikationsphrasen ein [A]-Merkmal, für nominale Prädikate ein [D]-Merkmal (bzw. ein [N]-Merkmal) und für präpositionale Prädikate ein [P]-Merkmal in Pr° annehmen. Nur bei einem verbalen Prädikat wird V° auch aufgrund der Stärke des [V]-Merkmals nach v° bewegt und dort adjungiert (vgl. 3.2 und Bowers 2001: 331, Fn. 13). Dies bedeutet, dass verbale Prädikate (in den hier behandelten Sprachen) overt in der Ereignisposition Pr° erscheinen müssen, während nicht-verbale Prädikate erst kovert an diese Ereignisposition gebunden werden.6 Innerhalb der (nominalen) Kopulativkonstruktionen gibt es (mindestens) zwei Untertypen, die besonders von Moro (2000) detailliert ausgearbeitet worden sind: Der erste –––––—– 6
Es sei daran erinnert, dass die Ereignisposition nicht nur rein eventive, sondern auch statische Prädikationen umfasst. Was allerdings die Unterscheidung nach ILP und SLP betrifft (Stage-Level und Individual-Level Predicates, vgl. Kratzer 1995), lässt diese sich für das Italienische (anders als für das Spanische, vgl. González & Remberger im Druck) nicht durch die Stärke eines [V]Merkmals in Pr° fassen.
134 Untertyp betrifft die bisher genannten Beispiele und stellt die kanonische Prädikativsatzstruktur dar. Beim zweiten Typ handelt es sich um die so genannten invertierten Kopulativkonstruktionen (vgl. Moro 2000: 106–107; auch Moro 1993, 1997) wie im folgenden Beispielsatz:7 (5-7)
L’evento della stagione è la raccolta delle mele.
Invertierte Kopulativstrukturen beruhen auf einer Prädikativkonstruktion, bei der nicht die Subjekt-DP, sondern das Prädikat selbst angehoben wurde. Jeder invertierte Kopulativsatz hat ein kanonisches Gegenstück: (5-8)
La raccolta delle mele è l’evento della stagione.
Das basisgenerierte Subjekt lässt sich durch Pronominalisierungstests identifizieren: Nur Prädikate nämlich, nicht Subjekte, können durch das invariable Pronomen lo ersetzt werden.8 Ein weiteres Identifizierungsmerkmal für das logische Subjekt ist der overte Abgleich von ϕ-Merkmalen: Im Italienischen kongruiert immer die Subjekt-DP mit dem Verb, ganz gleich ob sie prä- oder postverbal erscheint.9 Die Anhebung des Prädikats in der invertierten Struktur ist nur möglich, wenn es sich bei dem Prädikat um eine DP handelt. 10 Dies lässt sich minimalistisch durch das starke [D]-Merkmal in T° erklären, das folgerichtig auch nur durch ein [D]-Merkmal überprüft werden kann.11 Dabei stellt sich heraus, dass hier Definitheitseffekte eine Rolle spielen. Man vergleiche die folgenden Sätze: –––––—– 7 8 9
10 11
Die GGIC unterscheidet hier terminologisch zwischen Prädikativsätzen und den so genannten Spezifikativkonstruktionen (GGIC 1991, II, 163–176). (i) a. Gianni è stanco. b. Gianni lo è. (ii) a. Lo è la raccolta delle mele. b. *Lo è l’evento della stagione. (i) a. Gli incontri di giovani musicisti sono l’evento della stagione. b. L’evento della stagione sono gli incontri di giovani musicisti. c. *L’evento della stagione è gli incontri di giovani musicisti. (i) *Stanco è Gianni. / *Di Napoli è Gianni. / *Giù è Gianni. Dies gilt natürlich nur für unmarkierte Strukturen des Standarditalienischen. Moro arbeitet mit einem universalen Prinzip der ‘dynamischen Antisymmetrie’ (Dynamic Antisymmetry): Bewegung wird nicht durch Attract bzw. starke Merkmale, die abgeglichen werden müssen, ausgelöst, sondern ist allein durch das universal geltende Antisymmetrie-Prinzip bestimmt. Dieses Prinzip hat er in modifizierter Form von Kayne (1994) übernommen (Moro 2000, bes. Kap. 2); es besteht als Ableitungsprinzip darin, dass symmetrische Konstellationen immer in asymmetrische Konstellationen überführt werden müssen, vgl. Moro (2000: 28): “Movement is driven by the search for antisymmetry.” Anders als das Antisymmetrie-Prinzip von Kayne (1993) muss die dynamische Antisymmetrie von Moro (2000) allerdings erst auf der Schnittstellenebene PF erreicht werden, sodass vor Spell-Out durchaus symmetrische Konfigurationen erlaubt, ja aufgrund des bei Moro stark symmetrieträchtigen Merge geradezu natürlich sind. Moro (1997) geht immer von obligatorischem pro in [Spec, I] als Subjekt für das Italienische aus. Dies bedeutet, dass nach IP bewegte Subjekte und ebenso durch Bewegung angehobene Prädikate im Grunde Mehrfachspezifikator-Konstruktionen bilden (vgl. auch Moro 2000: 83). Nach Moros Ansicht ist Bewegung also nicht morphologie-, sondern strukturgetrieben.
135 (5-9) (5-10)
a. b. a. b.
Gianni è macellaio. *Macellaio è Gianni. Gianni è il macellaio che abbiamo incontrato ieri. Il macellaio che abbiamo incontrato ieri è Gianni.
Offensichtlich können nur definite DPs, d.h. DPs mit referentieller Funktion als Prädikate angehoben werden (möglicherweise handelt es sich bei der prädikativen Konstituente in (59) auch um eine reine NP, die kein [D]-Merkmal abgleichen kann). Eine kanonische und eine invertierte Kopulativstruktur lassen sich nun also nach diesen Annahmen in der syntaktischen Derivation folgendermaßen darstellen: (5-11)
Ableitung einer kanonischen (a) und einer invertierten (b) Kopulativstruktur12 TP
TP a
Spec
b
T' T° Aux° 'è'
Spec PrP
T°
Spec
PrP
T° Pr'
'la raccolta Pr° delle mele'
T'
Aux° 'è' DP
'l'evento della stagione'
T°
Pr'
Spec
'la raccolta delle mele'
Pr°
DP
'l'evento della stagione'
Ich möchte hier annehmen, dass das kopulative Hilfsverb SEIN direkt durch Merge an T° adjungiert wird: Präsentisches finites T° ist im Italienischen im Allgemeinen durch ein starkes D- und ein starkes [V]-Merkmal gekennzeichnet. Das starke [D]-Merkmal wird durch das Anheben einer definiten DP nach [Spec, T] abgeglichen. Eine geeignete Konstellation für den Merkmalsabgleich des starken [V]-Merkmals kann allerdings nicht durch Move erreicht werden, da sich kein verbales Element in der Derivation befindet. Daher muss die Kopula SEIN als expletives Verb13 direkt aus der Enumeration durch Merge an T° adjungiert werden, um das starke [V]-Merkmal (und wahrscheinlich auch ein [T]-Merkmal) zu überprüfen. Dies entspricht dem Parallelfall in nominalen Expletivkonstruktionen, bei denen ein expletives D-Element nach direktem Einfügen durch Merge das starke [D]Merkmal überprüfen kann. Erlaubt ist dieser Merkmalsabgleich ohne vorherige Bewegung –––––—– 12
13
Die Bewegung von Pr° zu finitem T° wird hier nicht dargestellt, da auf PF nicht sichtbar. Evtl. findet eine solche Bewegung in Kopulativkonstruktionen auch gar nicht statt, d.h. die Finitheit der Kopula reicht aus, um Prst abzugleichen. Eine ähnliche Überlegung könnte auch für einen Sonderfall von stare + Gerundialkonstruktion gelten, vgl. 6.5. Zur Behandlung von Hilfsverben als Expletiva, vgl. auch Brugger (1998).
136 in beiden Fällen nur, weil es sich um ein expletives Element ohne eigenen semantischen Gehalt handelt.14 Des Weiteren muss man nun für (a) einen overten Abgleich der Agr-ϕ-Merkmale zwischen è und der Subjekt-DP, für (b) einen koverten Abgleich annehmen. Die prädikative DP hat offensichtlich im Italienischen keine oder keine mit der Kopula kompatiblen Agr-ϕMerkmale.15 Ähnliches muss man für den Kasusabgleich annehmen. Kasusmerkmal und θRolle einer DP hängen eng miteinander zusammen: Nur eine kasusmarkierte DP kann θRollen-Träger sein. Prädikative DPs sind aber nun keine θ-Rollen-Träger, sondern als Prädikate allenfalls θ-Rollen-Vergeber. Was ihre Kasusmarkierung angeht, scheinen sie in den meisten Sprachen in einer Art Default-Fall zu stehen. In (5-11)a wird nun der Nominativkasus der Subjekt-DP overt von T° überprüft, in (5-11)b kovert. Somit ergibt sich für beide Konstruktionen (a) und (b) dieselbe Merkmalsverteilung in den funktionalen Kategorien: (5-12)
Merkmalsverteilung in der Kopulativkonstruktion von (5-11)
Kategorie
{phonologische
semantische
formale Merkmale},
T°
{Ø
[Tempus]
[Vst,Prst,Dst,T[S,R],nom]}
(Kopula)
{/E/
Ø
[V,T[S,R],agr-ϕ]}
Pr°
{Ø
[Prädikation]
[Pr,N/D,T[E,R]}
Der einzige Unterschied zwischen beiden Derivationen ist, dass das starke [D]-Merkmal von T° einmal von der Subjekt-DP und einmal von der prädikativen DP abgeglichen wird.16 Dass beide Möglichkeiten bestehen, d.h. keine der beiden ökonomischer ist als die andere, liegt an dem Prinzip der Äquidistanz: Innerhalb einer minimalen Domäne (hier innerhalb der Prädikationsphrase) gelten alle Argumente als äquidistant zu einem darüber liegenden X° (vgl. Chomsky 1995: 184).17 Die Gründe, die für die hier dargestellte Struktur und besonders für die Position der Kopula SEIN im Italienischen sprechen, sollen im Folgenden weiter ausgeführt werden. Im Allgemeinen werden drei mögliche Positionen oder Kategorien für ein kopulatives SEIN genannt (vgl. Bowers 2001: 303, 329, Fn. 4). Zusammen mit der hier vertretenen Möglichkeit ergeben sich also für die Kopula SEIN die folgenden vier Analysemöglichkeiten: –––––—– 14
15 16 17
Derselbe Mechanismus ist auch im Falle eines englischen Kopulativsatzes nötig, obwohl das [V]Merkmal des englischen finiten T nicht stark ist: Das [V]-Merkmal müsste dort zwar nicht sofort abgeglichen werden, aber wenn es ungeprüft bliebe, würde die Derivation scheitern, da auch das schwache [V]-Merkmal der funktionalen Kategorie T°, das ja dann nicht gelöscht wäre, auf der LF nicht interpretierbar wäre. Wahrscheinlich hat die prädikative DP im Italienischen nur Con-ϕ-Merkmale, vgl. 3.4. Unterschiede in der Thema-Rhema-Struktur sind wahrscheinlich über Merkmalszusammensetzungen von C°, das die Schnittstelle zum pragmatischen Kontext bildet, geregelt. Eine weitere mögliche Form der Differenzierung wäre, für (5-11)b ein Pr° mit starkem [D]Merkmal zu fordern, sodass das Anheben des Prädikats zunächst über die Zwischenlandeposition einer zweiten [Spec, Pr] in einer multiplen Spezifikator-Konstellation geschehen würde. Ein solches starkes [D]-Merkmal könnte auch eine Erklärung dafür bieten, warum nur definite prädikative DPs angehoben werden können.
137 (5-13)
Analyse der Kopula SEIN als a. eigenes V° mit Vollverbstatus b. phonologisch overter Spell-Out von Pr° c. phonologisch overter Spell-Out von T° d. expletives Hilfsverb, das direkt an T° adjungiert wird
Auf die Möglichkeit (5-13)a muss hier nicht weiter eingegangen werden. Für die Möglichkeit (5-13)c und gegen (5-13)b spricht das Folgende: Ein Grund für die Annahme, dass die Kopula nicht der funktionale Kopf der Prädikatsphrase ist, stammt aus den bereits erwähnten Sprachen, die tempusabhängig die Kopula realisieren oder nicht (vgl. Fn. 4). Ein weiterer wichtiger Grund ist die Tatsache, dass es die zu den einfachen kopulativen SC-Konstruktionen parallelen SC-Konstruktionen mit Verben vom Typ considerare gibt, bei denen die Kopula überhaupt nicht erscheinen muss: (5-14) (5-15)
[Le mele verdii] sono [ti il miglior cibo del mondo]. Gianni considera [le mele verdi il miglior cibo del mondo].
Sämtliche syntaktischen Unterschiede zwischen den beiden Konstruktionen, z.B. die fehlende Möglichkeit zur Klitisierung des Prädikats in (5-15),18 sind auf die Tatsache zurückzuführen, dass das SC-Verb considerare ein Akkusativmerkmal trägt, das nur mit dem Subjekt des eingebetteten Satzes abgeglichen werden kann. Ansonsten darf man für die von considerare subkategorisierte SC ebenso eine Prädikatsphrase annehmen wie für die Kopulativkonstruktion mit SEIN, d.h. eine mit einem phonologisch leeren Kopf ausgestattete PrP. Es gibt hier keine subkategorisierte TP, sodass auch keine Kopula erscheinen kann. Die Möglichkeit (5-13)b, daß die Kopula unter Pr° stehen kann, ist damit ausgeschlossen. Für den gerade betrachteten Fall (5-15) lässt sich die Derivation wie folgt darstellen:
–––––—– 18
Im Gegensatz zu Moro (1993) betrachtet Moro (2000) SC-Konstruktionen mit Kopula als unterspezifizierte Konstituenten: Kopulativsätze sind symmetrische Phrasen, die weder das Label des einen noch des anderen Tochterknotens tragen (also weder eine klare Subjektkonstituente noch eine klare prädikative Konstituente erkennen lassen): Diese Phrasen bezeichnet er als Bare Small Clauses in Abgrenzung zu den Rich Small Clauses, wie sie bei anderen typischen SC-Konstruktionen des Typs engl. believe, consider, ital. considerare auftreten (Moro 2000: 37). Dabei argumentiert Moro mit der Position bestimmter Adverbien, mit der möglichen Präsenz von Elementen, wie ital. come ‘als’, sowie mit Klitisierungsphänomenen, welche die Annahme unterschiedlicher Strukturen rechtfertigen sollen, vgl. dazu Moro (2000: 44–47).
138 (5-16)
Considero le mele verdi il miglior cibo del mondo. PrP DP
Pr'
'pro' Pr°
VP V'
DP
PrP
V° 'considero' DP
Pr'
'le mele verdi' Pr°
DP
'il miglior cibo del mondo'
Das Subjekt der eingebetteten Prädikatsphrase trägt hier, im Gegensatz zur Kopulativkonstruktion, kein Nominativ-, sondern ein Akkusativmerkmal. Dieses Akkusativmerkmal muss von Pr° überprüft werden. Im einfachen kanonischen Kopulativsatz kann das Prädikat durch das invariable klitische Pronomen lo ersetzt werden. Dies geht im SC-Satz mit considerare nicht, da der Akkusativ des Subjekts der eingebetteten SC ungeprüft bliebe. Es bleibt die Frage, ob dieser Abgleich overt oder kovert (hier gekennzeichnet durch die gestrichelte Linie) geschieht. Ein overter Abgleich scheint allerdings nicht möglich zu sein, da dafür ein starkes (d.h. bewegungsauslösendes) [D]-Merkmal in einer lexikalischen Kategorie, nämlich V°, angenommen werden müsste, was minimalistisch ausgeschlossen ist. Eine Alternative wäre evtl. ein starkes [D]-Merkmal in Pr° des Matrixsatzes.19 Die Möglichkeit (5-13)d hat den Vorteil, dass man dadurch erklären kann, warum die Kopula im Englischen zusammen mit einem (einzelnen) Modalverb auftreten kann, das im allgemeinen als T° interpretiert wird: (5-17)
Green apples might be very tasty.
Bowers (2001: 304) lässt sich durch diese Tatsache zu der Annahme bringen, dass zumindest im Englischen kopulatives SEIN eine eigene VP-Projektion haben könnte. Ich möchte diese Tatsache vielmehr so erklären, wie in der Derivation (5-11) für das Italienische bereits dargestellt: Um Redundanzen zu vermeiden, ist es sinnvoll, ein nicht overtes T° anzu–––––—– 19
Für die Tatsache, dass das Akkusativmerkmal in dieser Konstellation überprüft wird, sprechen die folgenden Satzbeispiele: (i) a. [Le mele verdi]i sono [ti il miglior cibo del mondo]. b. [Le mele verdi]i lo sono [ti proPrP]. (ii) a. Gianni considera [le mele verdi il miglior cibo del mondo]. b. Gianni le considera [pro[-def] il miglior cibo del mondo]. c. *Gianni lo considera [le mele verdi proPrP].
139 nehmen, an das die Kopula durch Merge adjungiert wird. Da T° auch in Nicht-Kopulativkonstruktionen im finiten präsentischen Hauptsatz phonologisch nicht overt ist, wäre es unökonomisch, dieselbe funktionale Kategorie einmal als phonologisch leer und einmal als phonologisch realisiert anzunehmen, je nachdem, welche PrP nun subkategorisiert wurde. Die Kategorie T° sollte unabhängig vom lexikalischen Typ der einzubettenden Prädikationsphrase sein, also immer phonologisch nicht-realisiert. Die Kopula muss in Sprachen wie dem Englischen, Deutschen oder Italienischen, wie bereits gesagt, nur erscheinen, um ein sonst nicht-überprüfbares [V]-Merkmal von T° zu überprüfen. Also wird sie durch Merge an T° adjungiert und kann als Expletivum sofort Merkmale abgleichen. An den TKomplex können dann im Bedarfsfall (rekursiv) weitere entsprechende Hilfsverben adjungiert werden, wenn es der T-Kopf erfordert (weil er beispielsweise, wie im Englischen, ein modales Merkmal tragen kann).20 Nach den bisherigen Ausführungen kann man also für das Pr° in Kopulativsätzen im Gegensatz zu einem verbalen Prädikat folgende Möglichkeiten von Merkmalszusammensetzungen annehmen. Bei gleicher (zeitlicher, polarer und modaler) Bedeutung von T befindet sich damit immer auch der gleiche Lexikoneintrag für T° (hier a oder b) in der Enumeration: (5-18)
a.
b.
Merkmalszusammensetzungen für Pr° (einfache Zeiten)
Beispielsatz Gianni dorme.
formale Merkmale von T° [T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit]
formale Merkmale von Pr° [Pr,Vst,T[E,R]]
Gianni è stanco.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit]
[Pr,A,T[E,R]]
Gianni è macellaio.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit]
[Pr,N/D,T[E,R]]
Gianni è di Napoli.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit]
[Pr,P,T[E,R]]
Gianni è giù.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit]
[Pr,Adv,T[E,R]]
Gianni dormiva.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S_R],nom,+finit]
[Pr,Vst,T[E,R]]
Gianni era stanco.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S_R],nom,+finit]
[Pr,A,T[E,R]]
Gianni era macellaio.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S_R],nom,+finit]
[Pr,N/D,T[E,R]]
Gianni era di Napoli.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S_R],nom,+finit]
[Pr,P,T[E,R]]
Gianni era giù.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S_R],nom,+finit]
[Pr,Adv,T[E,R]]
Damit fehlt der Derivation mit nicht-verbaler Prädikation aber ein verbales Element, welches das starke [V]-Merkmal in T° überprüfen könnte. Also muss eine Form von essere erscheinen, z.B.:
–––––—– 20
In den meisten europäischen Sprachen beinhaltet T° immer ein (in den hier behandelten Varietäten: starkes) [V]-Merkmal, das (overt oder verdeckt) überprüft werden muss. Das bedeutet also, dass es keine Derivation ohne ein overtes V geben kann. In anderen Sprachen, wie dem Russischen oder Arabischen, hat präsentisches finites T wahrscheinlich kein [V]-Merkmal, sodass im Präsens nicht-verbale Prädikate ohne Kopula möglich sind.
140 (5-19)
Durch Merge notwendigerweise eingefügtes expletives Hilfsverb essere Form è
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
a.
{/E/
∅
[V,T[S,R],agr-ϕ]}
b.
era
{/Era/
∅
[V,T[S_R],agr-ϕ]}
Die Kopulativkonstruktion kann, wie die Sätze mit verbalen Prädikaten, auch in zusammengesetzten Zeiten erscheinen: (5-20) (5-21) (5-22) (5-23)
Adj: N: P: Adv:
La giornata è stata bella. Gianni è stato direttore d’orchestra. Gianni è stato a Napoli. Gianni è stato giù.
Bei verbalem Prädikat wird in den zusammengesetzten Zeiten das der Hilfsverbselektion entsprechende Hilfsverb ausgewählt (dessen Position wird im nächsten Kapitel ausführlich diskutiert). In den Kopulativsätzen dagegen erscheint stato. Eigenheiten in der Merkmalszusammensetzung des Partizips stato wurden bereits festgestellt. In der traditionellen Grammatik gilt stato als das Partizip von essere. Es ist keine regelmäßige Form, sondern eine (von dem ebenfalls hilfsverbhaften stare abgeleitete) Suppletivform. Es ist ebenso wie essere selbst keine lexikalische, sondern eine funktionale Kategorie. Anders als die lexikalischen Partizipien, die allein perfektive Bedeutung und kein [T]-Merkmal haben, trägt stato, wie bereits ausgeführt (vgl. 4.4.2), tatsächlich eine zeitrelationale Bedeutung, nämlich ein [T]-Merkmal mit dem Wert [E_R]. Diese zweite Zeitrelation wird, wie in Kapitel 4 angenommen, im Pr-Komplex kodiert. Die Gesamtbedeutung der Zeitorganisation ergibt sich erst kompositionell bzw. durch Default-Instantiierung. Es ist also naheliegend, stato als Pr°-Adjunkt zu interpretieren. Warum stato in diesem Fall und an dieser Stelle in die Derivation durch Merge eingefügt werden muss, kann folgendermaßen erklärt werden: Das Pr° mit der Zeitkodierung [E,R] in Kopulativkonstruktionen der Gegenwart hat zwar ein [T]-Merkmal, dieses muss aber nicht sofort überprüft werden. Sein Wert kann möglicherweise auch variabel sein und erst durch die Default-Instantiierung der Zeitrelation auf der LF gesetzt werden (vgl. Giorgi & Pianesi 1997). Erst im Falle eines expliziten zeitrelationalen Wertes [E_R] muss stato durch Merge eingefügt werden, um dieses [T]-Merkmal sofort abzugleichen. Das lässt darauf schließen, dass das [T]-Merkmal in Pr° in diesem Falle stark ist. Für Merge von stato innerhalb der PrP spricht noch eine weitere Tatsache, vgl. den folgenden Satz: (5-24)
Queste giornate sono state molto belle.
Die Form state weist Kongruenzphänomene auf, nämlich Con-ϕ-Merkmale, die mit dem Subjekt übereinstimmen. Diese haben ihren Ort gewöhnlicherweise21 ebenfalls innerhalb –––––—– 21
Der nominale Concord, also der Abgleich der Con-ϕ-Merkmale des prädikativen Adjektivs mit dem Subjekt, muss an anderer Stelle vor sich gehen als die Kongruenz zwischen Verb und nomi-
141 der Prädikationsphrase, wie z.B. bei der Partizipialkongruenz mit dem Klitikum im italienischen Perfekt. Im Vergleich zu Tabelle (5-18) für die einfachen Zeiten sieht die Merkmalszusammensetzung bei Kopulativkonstruktionen für die zusammengesetzten Zeiten nun folgendermaßen aus: (5-25)
Merkmalszusammensetzungen für Pr° in Kopulativkonstruktionen (zusammengesetzte Zeiten)
Beispielsatz La giornata è stata bella.
formale Merkmale: T° formale Merkmale: Pr° [T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit] [Pr,A,Tst[E_R],+perf]
Gianni è stato direttore d’orchestra.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit]
Gianni è stato a Napoli.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit] [Pr,P,Tst[E_R],+perf]
Gianni è stato giù.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit] [Pr,Adv,Tst[E_R],+perf]
(5-26)
[Pr,N/D,Tst[E_R],+perf]
Durch Merge notwendigerweise eingefügtes expletives Hilfsverb stato (Entwurf)
Form stato (-a,-e,-i)
{phonologische {/stato/
semantische Ø
formale Merkmale} [V,T[S_R],con-ϕ,+perf,-finit]}
Die Form stato kann nicht allein, d.h. ohne die dazugehörige Form von essere stehen; sie kann als prädikativ oder attributiv verwendetes Partizip nicht auf der LF interpretiert werden: (5-27) (5-28)
*Considero queste giornate state molto belle. *Ho passato tre giornate state belle.
Lexikalische Partizipien transitiver, aber auch unakkustivischer Verben dagegen können prädikativ oder attributiv gebraucht werden: (5-29) (5-30) (5-31)
Considero questo lavoro fatto molto bene. Ho mangiato tre mele cotte. Questa è Anna, la ragazza arrivata ieri.
Normalerweise sind es nur die Partizipien intransitiver unergativer Verben, die in diesen Konstruktionen nicht erscheinen können. Das Vollverb stare selbst gehört zu den unakkusativischen Verben. Dass das Partizip des Hilfsverbs stato hier nicht erscheinen darf, lässt darauf schließen, dass es nur in Konstruktionen möglich ist, in denen es auch eine T-Phrase gibt. Die Form stato kann es offensichtlich nicht ohne T geben. Auch wenn stato innerhalb der PrP durch Merge eingefügt wird, muss es sich also auf der LF unter T befinden. Auch folgende Beispiele sprechen dafür, dass sich stato auf der LF unter T befindet: –––––—– nalem Element und ist nicht von der Kopula essere abhängig. Nominaler Concord ist z.B. auch in SC-Konstruktionen mit anderen Verben als essere vorhanden, vgl.: (i) Considero la ragazza bella.
142 (5-32) (5-33)
Queste ultime giornate sono state molto belle, ma quelle prima non lo sono state. Queste giornate sono state molto belle e (*state) molto divertenti.
Beispiel (5-32) macht deutlich, dass state nicht zum adjektivischen Prädikat selbst gehört. Beispiel (5-33) zeigt, dass state außerhalb der koordinierbaren Prädikatsphrasen stehen muss. Dass sich stato unter T° befindet, kann an seiner Merkmalszusammensetzung, besonders der T-Kodierung liegen. Andere Partizipien oder auch Adjektive haben diese TMarkierung nicht und können daher (optional) in der PrP verbleiben. Sobald der Wert [E_R] der zweiten T-Relation in Pr° erscheint, muss die Hilfsverbform stato durch Merge eingefügt werden. Diese muss sich aber (mindestens bis) nach T° bewegen. Dies fällt mit einer Parametrisierung des Italienischen zusammen, die bereits im Zusammenhang mit der Position klitischer Personalpronomina beobachtet werden konnte (vgl. 3.5.1): In finiten Sätzen muss sich der Pr°-Komplex aufgrund eines starken [Pr]-Merkmals immer nach T° bewegen, in infiniten Sätzen nicht. Für T° wurden die folgenden Merkmalszusammensetzungen festgestellt (vgl. 3.5.1), die hier der Übersichtlichkeit halber wiederholt seien: (5-34)
Merkmalszusammensetzung von T°[+finit] vs. T°[-finit] im Italienischen
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
finites T
{∅
[Tempus]
[T,+finit,Vst,Prst,Dst,nom]}
infinites T
{∅
[Tempus]
[T,-finit,Vst,Pr,Dst]}
Die Merkmale von finitem T° bewirken also mit der Bewegung des Pr°-Komplexes immer auch die Bewegung des dort basisgenerierten stato. Bei Kopulativsätzen, in denen die zweite T-Relation nicht [E_R] ist, d.h. sich nur ein schwaches [T]-Merkmal in Pr° befindet, gibt es kein overtes Element im Pr°-Komplex, sodass dessen mögliche Bewegung nach T° nicht nachzuweisen ist.22 Nun soll hier noch geklärt werden, ob stato tatsächlich ein [V]-Merkmal trägt, d.h. von der Kategorie V ist. Wenn stato nämlich ein kategorielles [V]-Merkmal trägt, muss man sich fragen, warum schließlich doch noch das expletive essere durch Merge unter T eingefügt werden muss: Das starke [V]-Merkmal könnte doch bereits von stato überprüft werden. Entweder muss man also das Erscheinen von essere anders begründen, z.B. durch das Fehlen eines Merkmals [+finit], das mit dem finitem T°[+finit] abgeglichen werden muss. Oder aber man spricht stato die Verbhaftigkeit ab und ändert seine Merkmalszusammensetzung dahingehend, dass es einer Art Hilfs-T entspricht: (5-35)
Merkmalszusammensetzung für ein expletives Hilfs-T stato (Alternativvorschlag)
Form stato
{phonologische {/stato/
semantische Ø
formale Merkmale} [T[S_R],con-ϕ,+perf,-finit]}
–––––—– 22
Die nicht-verbalen prädikativen Kopf-Elemente verbleiben, da sie sich nicht nach Pr° bewegen, in jedem Fall in ihrer Basis.
143 Die Form stato wird im Weiteren noch bei den zusammengesetzten Zeiten des Passivs eine Rolle spielen.
5.2
Minimalistische Analyse: HABEN und SEIN + Partizip
Die Hilfsverben HABEN und SEIN werden zur Bildung von analytischen Formen mit Partizip verwendet. Charakteristisch für das Italienische, aber auch für andere romanische Sprachen (oder das Deutsche) ist hierbei das Phänomen der Hilfsverbselektion bei den zusammengesetzten Zeiten. Die Faktoren, welche die Entscheidung zwischen HABEN und SEIN mitbestimmen, und die Rückschlüsse, die dadurch auf die Eigenschaften und Position dieser Hilfsverben gezogen werden können, werden im Folgenden untersucht. In den zusammengesetzten Zeiten muss im Italienischen eines der beiden Hilfsverben avere oder essere in der Derivation erscheinen. Die italienischen Daten zur Hilfsverbselektion sind bereits mehrmals im Zusammenhang mit den bisher dargestellten Forschungsansätzen zusammenfassend dargestellt worden (vgl. Rizzi 1982, Burzio 1986 sowie Cocchi 1994, 1995, 1998). Die wichtigsten Phänomene der Hilfsverbselektion seien hier kurz zusammengefasst. Transitive (vgl. (5-36)) und intransitive unergative (vgl. (5-37)) Verben bilden die zusammengesetzten Zeiten mit HABEN: (5-36) (5-37)
Maria ha/aveva/avrà mangiato tre mele. Il giardiniere ha/aveva/avrà dormito bene.
Unakkusativische Verben (vgl. (5-38)) bilden die zusammengesetzten Zeiten mit SEIN; dabei kommt es auch zur Partizipialkongruenz (zu den Konstruktionen mit si vgl. 5.4): (5-38)
Gli uccelli sono/erano/saranno già volati via.
In diesem Unterkapitel wird nun die minimalistische Grundsatzanalyse dieser Daten entwickelt. Anhand der Verwendung der Hilfsverben HABEN und SEIN in den zusammengesetzten Zeiten ergibt sich ein einheitliches Analysemodell, das als Grundlage der Behandlung der einzelsprachlichen Besonderheiten dienen wird. Was den Erscheinungsort von Hilfsverben in der Derivation betrifft, möchte ich hier die folgenden minimalistischen Möglichkeiten diskutieren: (5-39)
a. b. c. d.
Merge als T° (vgl. 5.2.1) Merge unter T° durch Adjunktion (vgl. 5.2.2) Merge als Pr° (vgl. 5.2.3) Merge unter Pr° durch Adjunktion (vgl. 5.2.4)
144 5.2.1 Merge als T° Jeder Satz mit einem temporalen Hilfsverb enthält eine T-Projektion. Die Möglichkeit, zusammengesetzte Zeiten mit Hilfsverben zu bilden, wird oft als Beweis für die Existenz einer TP in bestimmten infinitivischen Konstruktionen gesehen. So gilt z.B., dass Modalverben und Anhebungsverben (mindestens) eine TP subkategorisieren (vgl. (5-40) und (541)), ECM-Verben zumindest im Italienischen dagegen keine TP subkategorisieren können (vgl. (5-42)): (5-40) (5-41) (5-42)
La bimba deve aver mangiato una mela intera. La bimba sembra aver mangiato una mela intera. *Vedo la bimba aver mangiato una mela intera.
Daher kann die Vermutung angestellt werden, dass Hilfsverben selbst eine overte Form eines T-Kopfes darstellen. Dies wäre auch theorieintern eine erfreuliche Annahme, da man so eine sichtbare phonologische Realisierung eines funktionalen Kopfes vor sich hätte. Das temporale Hilfsverb HABEN oder SEIN müsste also in die Derivation eingefügt werden, um eine bestimmte temporale Interpretation der Derivation zu garantieren, die ohne es nicht garantiert wäre. In diesem Fall stünden die Hilfsverben als T° im Lexikon. Die Derivation kann so skizziert werden: (5-43)
Merge der temporalen Hilfsverben als T° T' T° 'essere/avere'
PrP
Gegen diese Interpretation gibt es aber Einwände: Ähnlich wie bei dem Kopulativverb SEIN wird die Ableitung genau dann problematisch, wenn sich weitere verbale Elemente in der Derivation befinden, die in der Oberflächenposition unter T stehen können. Im Italienischen z.B. kommen (optional23) auch die Partizipien im Laufe der Derivation unter T zu stehen, wie die Adverbposition im folgenden Satz erkennen lässt: (5-44) (5-45)
Maria ha letto attentamente tutto l’articolo. Maria è andata spesso al cinema.
Attentamente und spesso gehört zu den PrP-Adverbien (bzw. zu den VP-Shell-modifizierenden Adverbien). Sie grenzen dadurch die TP von der PrP ab: Das partizipiale V° befindet sich also außerhalb der PrP. Diese Bewegung von V° kann im Italienischen auf das –––––—– 23
Die Partizipien können, müssen aber im Italienischen nicht overt nach T bewegt und dort adjungiert werden. Zwischen Hilfsverb und Partizip können Adverbien stehen (vgl. auch Cinque 1999): (i) Gianni ha spesso mangiato delle mele. (ii) Gianni ha mangiato spesso delle mele.
145 starke [Pr]-Merkmal in finitem T zurückgeführt werden, das bewirkt, dass sich der gesamte Pr°-Komplex nach T° bewegt (vgl. 3.1.5). Eine gültige Derivation ergäbe aber die folgende Struktur: (5-46)
Bewegung des Pr°-Komplexes nach T°: *Maria letto ha...
TP
Spec 'Maria'
T'
PrP
T°
Pr°
V° 'letto'
T° 'ha'
Spec
Pr'
Pr°
VP
Pr° T Dst Prst Vst +finit nom
V°
Pr°
V'
Spec 'tutto l'articolo' V°
XP
Da Rechtsadjunktion im Fall von Kopfbewegung im MP weiterhin ausgeschlossen bleiben soll, muss die Interpretation von Hilfsverben als funktionale Kategorie T° zumindest für das Italienische verworfen werden. Auch für das Englische ist der Interpretationsansatz von Hilfsverben als T° problematisch: Bei Akkumulation von Hilfsverben müsste man ebenso Akkumulation bzw. rekursive Adjunktion von T-Kategorien annehmen. Es ist aber sicherlich nicht im Sinne des Minimalismus, von mehr als einer funktionalen Kategorie T° pro Satz auszugehen. 5.2.2 Merge unter T° durch Adjunktion Syntaktisch plausibler ist die zweite Möglichkeit (5-39)b, wie sie bereits für die Kopulativverben angenommen wird: Ein Hilfsverb könnte an ein leeres T° durch direktes Merge adjungiert werden. Im Italienischen gäbe es dann z.B. für finites und infinites T° jeweils leere Einträge mit der entsprechenden Merkmalsmatrix. Kann ein Merkmal von T° nicht durch ein bereits in der Derivation befindliches Element überprüft werden, kommt es zum Einfügen des expletiven Hilfsverbelements durch Merge. Das Merkmal, das dabei überprüft wird, könnte z.B. das starke [V]-Merkmal sein, das vielleicht von einem [V]-Merkmal des Partizips, das im Italienischen als Con-ϕ-Träger nominale Züge hat,24 nicht abgeglichen –––––—– 24
Vgl. daher auch die Charakterisierung von Partizipien als [+N +V].
146 werden kann. Es könnte aber auch ein bestimmtes [T]-Merkmal in T° angenommen werden, das von T-losen Partizipien (vgl. 4.4.2) nicht überprüft werden kann. Im Englischen ist nun das [V]-Merkmal in T° schwach, im Italienischen stark. Das bedeutet aber nicht, dass das [V]-Merkmal im Englischen unbedingt kovert überprüft werden muss: Last Resort heißt nur, dass Bewegung solange wie möglich vermieden wird. Merge dagegen ist kostenlos, sodass auch im Englischen das schwache [V]-Merkmal overt überprüft werden kann: genau dann nämlich, wenn es sich bei dem durch Merge eingefügten Element um ein Hilfsverb handelt, das selbst nicht projiziert,25 da es keine eigene Argumentstruktur (d.h. keine θ-Rollen zu vergeben) hat, und daher als Kopf adjungiert/inkorporiert werden kann. Im Italienischen muss das starke [V]-Merkmal von T° durch Merge eines Hilfsverbs sofort überprüft werden. Sofortiges Überprüfen nach Merge ohne vorherige Bewegung ist bei Hilfsverben als expletiven Elementen erlaubt. Da Hilfsverben nun gerade in zusammengesetzten Zeiten erscheinen, ist die Annahme eines [T]-Merkmals in T, das durch das Hilfsverb überprüft werden muss, ebenfalls plausibel. In der folgenden Derivation werden sowohl ein [V]- als auch ein [T]-Merkmal angenommen, die beide für das Erscheinen des Hilfsverbs verantwortlich sein können: (5-47)
Merge unter T°: Maria ha letto... TP
Spec 'Maria'
T' T°
PrP
Aux° 'ha'
T° Pr°
V T agr-ϕ +finit
V° 'letto'
Spec
Pr'
T° Pr°
T Dst Prst Vst +finit nom
VP
Pr° V°
Pr°
V'
Spec 'tutto l'articolo' V°
XP
Sobald T° in die Derivation kommt, bewirkt das starke [Pr]-Merkmal die Bewegung des gesamten Pr°-Komplexes unter T°. Ebenso wird das starke [D]-Merkmal von T° durch Subjektsbewegung nach [Spec, T] überprüft. Da nun entweder das [V]- oder das [T]Merkmal nicht durch den partizipialen V-Kopf überprüft werden kann, muss schließlich ein expletives verbales Element mit [T]-Merkmal in die Derivation gelangen, um für den Abgleich zu sorgen. –––––—– 25
Hilfsverben sind also immer minimale Projektionen.
147 Dieser Ableitungsvorschlag bietet eine mögliche Lösung für das Hilfsverbproblem. Besonders kann damit die Hilfsverbakkumulation im Englischen gut erklärt werden. T° ist phonologisch leer, hat aber je nach Konstruktion Merkmale wie das kategorielle [T], aber auch z.B. [neg] oder [M26], die das rekursive Einfügen der entsprechenden Hilfsverbelemente durch Merge erforderlich machen, vgl. die folgenden englischen Sätze: (5-48) (5-49)
John may have eaten green apples. Mary mustn’t be late.
In beiden Beispielen befindet sich in der PrP kein Element, welches das [V]-Merkmal oder [T]-Merkmal von T° überprüfen könnte: In (5-48) besteht das Prädikat aus einem Partizip, in (5-49) besteht es aus einem Adjektiv. Daher muss ein verbales Tempus-Element durch Merge eingefügt werden. In (5-48) trägt T° außerdem offensichtlich noch ein (hier nicht näher spezifiziertes) [M]-Merkmal, welches das Einsetzen von modalem may nötig macht. In (5-49) trägt T° neben dem (hier deontischen) [M]-Merkmal noch ein [neg]-Merkmal, sodass die negative Modalform mustn't erscheinen muss. Die rekursive Ableitung für das Englische lässt sich also folgendermaßen darstellen:27 (5-50)
John may have eaten green apples. TP
Spec 'John'
T'
T°
Aux° 'may'
PrP
T°
Aux° 'have'
Spec
T° T Pr Dst V +finit nom M
Pr'
VP
Pr°
V° 'eaten'
Pr°
V'
Spec 'green apples' V°
XP
Für das Englische könnte diese Interpretation von Hilfsverben ein guter Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen sein. Für das Italienische erscheint dieser Lösungsansatz zwar zunächst ebenfalls plausibel, er ergibt aber unbefriedigende Ergebnisse, sobald man versucht, –––––—– 26 27
M für Modalität. Es wird hier in Übereinstimmung mit gängigen Annahmen über die Verbbewegung im Englischen angenommen, dass sich auch der Pr°-Komplex bei finitem T° nicht nach T° bewegt, d.h. dass das englische finite T° weder ein starkes [V]- noch ein starkes [Pr]-Merkmal hat. Ein Problem stellt die Tatsache dar, dass es keinen festgeschriebenen Bedingungen gibt, welche die Reihenfolge des Merkmalsabgleich (warum [T]-Abgleich vor [M]-Abgleich?) voraussagen oder bestimmen. Zu dieser Problematik des MP, vgl. 8.4.
148 das Problem der italienischen Hilfsverbselektion zu systematisieren (vgl. die Beispiele (536), (5-37) und (5-38)): Hilfsverbselektion ist abhängig von der Argumentstruktur der Prädikation, diese wird aber innerhalb der Prädikationsphrase PrP aufgebaut und ist stark von der jeweiligen Merkmalszusammensetzung des Pr-Kopfes abhängig (vgl. 3.2). Ein unter T° durch Merge eingefügtes Hilfselement kann aber auf die in Pr° kodierten Merkmale nicht mehr zurückgreifen. Daher soll die These von direktem Merge der Hilfsverben unter T° für das Italienische ebenfalls verworfen und im Folgenden ein Alternativvorschlag gemacht werden. 5.2.3 Merge als Pr° Das vorige Modell mag durchaus für Sprachen wie das heutige Standardenglische oder Standardspanische gelten, die keine Hilfsverbselektion mehr aufweisen,28 nicht aber etwa für das Italienische, Sardische oder Deutsche. Selbst im Altspanischen und Altenglischen wird bei der Bildung der zusammengesetzten Zeiten durchaus noch zwischen der Wahl von HABEN oder SEIN als Hilfsverb unterschieden, je nachdem, ob es sich um unakkusativische oder transitive bzw. intransitive Konstruktionen handelt. Die synchronen Verhältnisse in diesen Sprachen, die auf ein Hilfsverb verallgemeinert haben, dürften eine weitere Stufe in der allgemein zu beobachtenden (zyklischen) Entwicklung von Vollverb zu TAM-Marker darstellen (vgl. Heine 1993). Für die in dieser Arbeit behandelten Sprachsysteme des Italienischen und Sardischen spielt aber nun Hilfsverbselektion eine Rolle. Die Theorie vom Merkmalsabgleich innerhalb des minimalistischen Erklärungsansatzes muss genau lokalisieren können, an welchem Punkt der Derivation die so genannte Hilfsverbselektion geschieht. HABEN und SEIN stellen unterschiedliche Lexikoneinträge dar, seien sie nun als rein lexikalisch oder rein funktional oder auf irgendeiner graduellen Stufe dazwischen angesehen: Es ist stark zu vermuten, dass sie sich nicht nur durch ihre phonologischen, sondern auch durch ihre formalen Merkmalsbündel unterscheiden. Anders lässt sich nicht erklären, warum Unakkusativität (in den hier behandelten Sprachen) oder andere grammatisch erfassbare Eigenschaften29 bei der Selektion eine Rolle spielen. Ausgehend von der Blockierungs-Deblockierungs-Hypothese bei der Hilfsverbselektion im Deutschen nach Haider (1984) soll hier ein paralleler, aber minimalistisch plausibler Ansatz entwickelt werden. In Haiders Ansatz gilt das Folgende: Das Partizip Perfekt, das für Passivkonstruktionen, aber auch für die Bildung der zusammengesetzten Zeiten verwendet wird, hat durch seine Morphologie (ge-t ) die Eigenschaft, die Subjekt-θ-Rolle (das –––––—– 28 29
Auch hier bedarf es jedoch genauerer einzelsprachlicher Untersuchungen. Es ist wichtig, nochmals darauf hinzuweisen, dass nicht nur Unakkusativität ausschlaggebend für die Hilfsverbselektion sein kann. Genauso können z.B. auch Person, Tempus oder Definitheitseffekte die Hilfsverbselektion steuern, vgl. dazu besonders Loporcaro (1998) und Ledgeway (2000a, v.a. Kap. 6) sowie Jones (1993). Auch stimmt bekanntermaßen die Hilfsverbselektion des Deutschen nicht gänzlich mit der des Italienischen überein, vgl. z.B. die Unterschiede in der Hilfsverbselektion bei den Reflexivkonstruktionen oder die Verhältnisse bei den Bewegungsverben (vgl. Haider & Rindler-Schjerve 1987).
149 externe Argument) zu blockieren.30 HABEN allerdings kann diese Blockierung wieder aufheben, d.h. deblockieren. SEIN dagegen hat, ebenso wie WERDEN, diese Eigenschaft nicht. Diese letzteren beiden Verben aktivieren das interne Argument als Subjekt. SEIN kann also nicht zur Zeitenbildung bei transitiven und unergativen Verben verwendet werden, da es die blockierte Subjektrolle nicht deblockiert. HABEN kann nicht in unakkusativischen Konstruktionen auftreten, da es einerseits gar kein Subjektargument zu reaktivieren gibt, andererseits HABEN nicht die Fähigkeit besitzt, das interne Argument in Subjektposition anzuheben. Es handelt sich also um morphologische Eigenschaften des jeweiligen Hilfsverbs, die mit morphologischen Eigenschaften des Verbs sowie dessen Argumentstruktur zusammenspielen. Dieses Zusammenspiel muss auf lokaler Ebene stattfinden, minimalistisch gesehen in einer für den Merkmalsabgleich geeigneten Konfiguration. Die Argumentstruktur eines Verbs verteilt sich aber im Ansatz des MP auf zwei Köpfe der verbalen Shell-Struktur: den V-Kopf und den Pr-Kopf. Die Position des nicht-derivierten Subjekts ist [Spec, Pr]: Pr° ist mit für die Vergabe der θ-Rolle an das Subjekt zuständig. Nimmt man nun aber an, dass das entsprechende Hilfsverb erst unter T° durch Merge eingefügt wird, bleibt ungeklärt, wie hier noch zwischen dem Subjekt der Argumentstruktur und dem deriviertem Subjekt unterschieden werden kann. Wie also kann dann die Steuerung der Hilfsverbselektion erklärt werden? Haider sagt zwar, dass SEIN das interne Argument für eine Subjektsposition aktiviert. Dies ist aber nach den bisher entwickelten Ergebnissen eine generelle Eigenschaft unakkusativischer Konstruktionen: Ein unakkusativisches Pr° trägt ein starkes [D]-Merkmal, welches das interne Argument in die derivierte Subjekt-Position [Spec, Pr] anhebt und damit sozusagen als Subjekt ‘aktiviert’. Wenn nun SEIN im Italienischen im Zusammenhang mit unakkusativischen Konstruktionen auftritt, könnte man also davon ausgehen, dass SEIN eine weitere Variante von unakkusativischem Pr° ist. Die unakkusativische und die transitive PrP sind in 3.2 (vgl. (3-23)) wie folgt dargestellt worden: (5-51)
Merkmalsstruktur von Pr° im Italienischen
Konstruktionstyp transitiv
Argumente in Enumeration Merkmalsstruktur von Pr° externes Argument, internes Argument [Pr,Vst,D,akk]
unakkusativisch
internes Argument
[Pr,Vst,Dst]
In Kapitel 4 wurde außerdem festgestellt, dass auch T2[E/R] in Pr° kodiert ist. Ein möglicher Lexikoneintrag für das temporale Hilfsverb essere, das nie Akkusativ vergibt, könnte folgendermaßen aussehen: (5-52)
Merkmalszusammensetzung temporaler Hilfsverben: essere (Entwurf)
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
{/Essere/
Ø
[Pr, Vst, Dst,T]}
–––––—– 30
Vgl. auch den Erklärungsansatz zum Passiv nach Jaeggli (1986a).
150 Nun muss es einen semantischen Unterschied zwischen leerem und durch essere realisierten Pr° geben. Man betrachte die folgenden Sätze, hier unter Einbeziehung der Passivkonstruktionen: (5-53) (5-54) (5-55) (5-56) (5-57)
Gianni picchia Paolo. (transitives Pr°) Gianni ha picchiato Paolo. (transitives Pr°) Gianni è picchiato (da Paolo). (passivisches Pr°) Gianni è arrivato. (unakkusativisches Pr°) Gianni ha dormito. (intransitives Pr°)
Jeder dieser Sätze hat ein anderes Pr° in seiner Enumeration, das sich jeweils durch seine Merkmalsstruktur unterscheidet. (5-53) und (5-54) sind beides Transitivkonstruktionen, unterscheiden sich aber in ihrer Zeitorganisation. In T° ist die erste T-Relation, nämlich [S/R], in Pr° die zweite T-Relation, nämlich [E/R] kodiert. In (5-53) ist T2 als [E,R] realisiert, in (5-54) als [E_R] (während T1 in T° in beiden mit [S,R] übereinstimmt). Die Beispiele (5-55) und (5-56) erscheinen auf den ersten Blick als parallele Konstruktionstypen, haben aber unterschiedliche semantische Interpretationen. In 4.4.2 wurde die Annahme dargestellt, dass die formale Merkmalsstruktur der in (5-55) und (5-56) verwendeten Partizipien mit [V,Con-ϕ,+perf,-finit] identisch ist. Die unterschiedliche Interpretation muss auf essere zurückgeführt werden, von dem mehr als ein Lexikoneintrag existiert. Nur der passivische Typ von essere kann mit passivischem venire alternieren. (5-58) (5-59) (5-60)
La nave è affondata. [Perfekt oder Passiv] La nave viene affondata. [Passiv] *La nave viene arrivata. [*Passiv]
Das temporale Hilfsverb essere dagegen, wie es mit unakkusativischen Verben in zusammengesetzten Zeiten auftritt, kann nicht mit venire alternieren (vgl. (5-60)). Des weiteren sind in beiden Konstruktionen von essere + Partizip Unterschiede in der Zeitorganisation der Derivation zu beobachten: Die passivische Lesart kodiert die zweite T-Relation als [R,E], die perfektive dagegen als [E_R]. Der temporale Typ von essere ist also durch das [T]-Merkmal [E_R] bestimmt. Der passivische Typ von essere wird hier an einem späteren Zeitpunkt ausführlich behandelt werden (vgl. 5.3). Was nun den Lexikoneintrag von avere in seiner Verwendung als Hilfsverb betrifft, so ist auch dieser in den Beispielen (5-54) und (5-57) gleichermaßen durch die Interpretation der zweiten T-Relation mit dem Wert [E_R] gekennzeichnet. Dennoch gilt es auch hier eine Unterscheidung zu treffen: Nimmt man avere selbst als Pr° an, so überprüft dieses Pr° wohl in (5-54) ein Akkusativmerkmal, in der intransitiven Konstruktion von (5-57) dagegen nicht. Daher wird man hier auch für avere zwei Lexikoneinträge annehmen müssen. In einer synoptischen Darstellung, die als weitere Arbeitsgrundlage dienen soll, sehen die hier festgestellten Merkmalsstrukturen unter der Pr°-Annahme für die temporalen Hilfsverben folgendermaßen aus:
151 (5-61)
Merkmalszusammensetzung von Pr° mit avere und essere als Pr° (Entwurf)31
Kat. Beispielsatz Pr° Gianni picchia Paolo.
{phonolog. semantische {Ø [Prädikation,T[E,R]]
formale Merkmale} [Pr,T,Vst,D,akk]}
Pr°
Gianni dorme.
{Ø
[Prädikation,T[E,R]]
[Pr,T,Vst]}
Pr°
Gianni arriva.
{Ø
[Prädikation,T[E,R]]
[Pr,T,Vst,Dst]}
Pr°
Gianni ha picchiato Paolo. {/a/
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,T,Vst,D,akk,+perf]}
Pr°
Gianni ha dormito.
{/a/
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,T,Vst,+perf]}
Pr°
Gianni è arrivato.
{/E/
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,T,Vst,Dst,+perf]}
Es gibt nun noch die anderen zusammengesetzten Zeiten wie das Plusquamperfekt und das Futur II, vgl. die folgenden Sätze mit ihrer jeweiligen T-Komposition: (5-62) (5-63) (5-64) (5-65)
Gianni aveva dormito/picchiato Paolo. Gianni avrà dormito/picchiato Paolo. Gianni sarà arrivato. Gianni era arrivato.
T[R_S]•[E_R] T[S_R]•[E_R] T[S_R]•[E_R] T[R_S]•[E_R]
Für diese Beispiele muss angenommen werden, dass zwei T-Relationen an einem Hilfsverb realisiert werden: (5-66) Kat.
Pr°
Merkmalszusammensetzung von avere und essere unter der Pr°-Annahme (Entwurf) Beispielsatz Gianni aveva picchiato P.
{phonolog.
semantische
formale Merkmale}
{/aveva/
[Prädikation,T[R_S]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,D,akk,+perf]}
Pr°
Gianni aveva dormito.
{/aveva/
[Prädikation,T[R_S]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,+perf]}
Pr°
Gianni era arrivato.
{/Era/
[Prädikation,T[R_S]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,Dst,+perf]}
Pr°
Gianni avrà picchiato P.
{/avra/
[Prädikation,T[S_R]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,D,akk,+perf]}
Pr°
Gianni avrà dormito.
{/avra/
[Prädikation,T[S_R]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,+perf]}
Pr°
Gianni sarà arrivato.
{/sara/
[Prädikation,T[S_R]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,Dst,+perf]}
Die minimalistische Darstellung von HABEN und SEIN als Pr° mit den jeweiligen Merkmalsstrukturen spiegelt die von Haider gemachten Feststellungen deutlich wider: SEIN, das nach Haider das interne Argument aktiviert, trägt dementsprechend ein starkes [D]-Merkmal, das Anhebung eben dieses internen Arguments aus [Spec, V] nach [Spec, Pr] bewirkt. HABEN, das nach Haider das externe Argument deblockiert, hat ein nicht deriviertes Sub–––––—– 31
Im Folgenden erscheint unter den semantischen Merkmalen die Bedeutung der interpretierbaren Merkmale der funktionalen Kategorie.
152 jekt in seinem Spezifikator und kann (evtl.) Akkusativ vergeben (vgl. Haider 1984: 29). Ebenso können Burzios Regeln zur Hilfsverbselektion in dieser minimalistischen Analyse wiedererkannt werden (Burzio 1986): Das Hilfsverb essere tritt auf, wenn es eine ‘Binding Relation’ zwischen Subjekt und einem nominalen, dem Verb benachbarten Element gibt. Minimalistisch gesprochen besteht diese Bindungsrelation praktisch in dem starken [D]-Merkmal des Pr° essere, welches eine Bewegung des nominalen Elements in [Spec, V] nach [Spec, Pr] hervorruft: Nur das Auftreten von ESSERE rechtfertigt bzw. verursacht diese Bindungsrelation. Die Analyse von direktem Merge der temporalen Hilfsverben avere und essere als Pr° scheint in vielerlei Hinsicht plausibel zu sein. Leider aber ergibt sich auch hier das bereits aus dem Lösungsansatz (5-39)a bekannte Problem (Merge als T°, vgl. 5.2.1), vgl. die folgende Derivation: (5-67)
Merge als Pr°: *Gianni picchiato ha Paolo. PrP Spec 'Gianni'
Pr' VP
Pr° V° 'picchiato'
Pr° Spec 'ha' 'Paolo' Pr T D Vst akk +perf
V' V°
XP
Wenn man weiterhin annimmt, dass eine verbale Prädikation stets durch ein starkes [V]Merkmal gekennzeichnet ist und dass Rechtsadjunktion verboten ist, so muss sich V° auch im Falle der zusammengesetzten Zeiten nach Pr° bewegen und dort durch Linksadjunktion inkorporieren. Das Ergebnis ist allerdings eine ungrammatische Derivation. Nimmt man dagegen an, dass die Hilfsverben als Pr° selbst kein starkes [V]-Merkmal haben, sodass V° in seiner Basisposition verbleiben kann, ergeben sich die Probleme erst im weiteren Verlauf der Derivation, da sich z.B. (neben vielen weiteren Schwierigkeiten) die Stellung eines partizipialen V° unter T° nicht mehr erklären lässt (vgl. die Beispielsätze (5-44) und (545)). Dementsprechend muss auch dieser Lösungsansatz zwar nicht als Ganzes verworfen, aber dennoch modifiziert werden. 5.2.4 Merge unter Pr° durch Adjunktion Der Ansatz in 5.2.3 ist bisher der befriedigendste für die italienische Hilfsverbselektion. Dennoch haben sich Probleme ergeben, die eine Modifikation der Analyse der Hilfsverben avere und essere als reines Pr° nötig erscheinen lassen. Um das Problem zu lösen, soll auch
153 hier (parallel zu (5-39)b, vgl. 5.2.2) angenommen werden, dass die temporalen Hilfsverben essere und avere nicht Instanzen der Kategorie Pr° selbst sind, sondern nur Elemente, die im Bedarfsfall an Pr° adjungieren. Betrachtet man z.B. eine Derivation mit Klitika, die ebenfalls an Pr° adjungiert werden (vgl. 3.5), könnte die PrP folgendermaßen aussehen: (5-68)
a. Gianni l’ha mangiata [la mela].
b. Gianna ci è andata [a casa].
PrP
PrP
a Spec 'Gianni''
b
Pr'
Spec 'Gianna'
Pr° Aux° 'ha'
Pr°
VP
Pr° D° 'la'
Pr'
Pr° V° 'mangiata'
V° Pr° Pr T D Vst akk +perf
X° 'ci'
V'
Spec 'pro'
XP
VP Spec
Pr° Aux° 'è'
V°
Pr° V° 'andata'
V' (PP)
Pr° Pr T Dst Vst +perf
In beiden Teilderivationen bewegt sich das (partizipiale) Verb nach Pr°, um das [V]-Merkmal zu überprüfen. An diesen verbalen Komplex adjungieren dann jeweils noch zwei weitere Elemente, einmal ein Hilfsverb und dann ein Klitikum. Alle diese Adjunktionen sind nun Linksadjunktionen. Das Klitikum muss aufgrund eines fehlenden Definitheitsmerkmals in der Derivation erscheinen, da es im Italienischen keine leeren definiten pro-Elemente gibt (vgl. 3.5.1). In (5-58)b bewegt sich zudem noch die DP Gianna aufgrund eines starken [D]-Merkmals in dem unakkusativischen Pr° nach [Spec, Pr]. Es bleibt also die Frage, aus welchem Grund die Hilfsverben hier in die Derivation gelangen müssen, welche Merkmalszusammensetzung sie im Einzelnen haben und welches Merkmal sie überprüfen müssen. Der einzige Unterschied zwischen den Konstruktionen mit und denen ohne Hilfsverben ist die zweite Zeitrelation: In den zusammengesetzten Zeiten ist ihr Wert T[E_R]. Demzufolge kann folgendermaßen argumentiert werden: Sobald im Italienischen die zweite Zeitrelation nicht dem Default-Fall T[E,R] entspricht, sondern mit Vorzeitigkeit instantiiert ist, ist dieses [T]-Merkmal stark. Also enthält ein Pr° mit der zweiten Zeitrelation T[E_R] ein starkes [T]-Merkmal, das sofort abgeglichen werden muss. Partizipien haben aber im Italienischen kein T-, sondern nur ein [+perf]-Merkmal (vgl. 4.4.2): Sie können zwar das starke [V]-Merkmal in Pr° überprüfen, nicht aber das [T]Merkmal. Dafür müssen als Last Resort die expletiven Hilfsverben durch Merge in die Derivation gelangen. Diese tragen das passende [T]-Merkmal. Die Hilfsverbselektion selbst, also das Erscheinen von avere versus essere, kommt nun dadurch zustande, dass es eine Art Merkmalskongruenz zwischen den expletiven Hilfsverben und Pr° geben muss: Essere ist in seiner Merkmalszusammensetzung dafür prädestiniert, mit einem unakkusativischen Pr-Kopf kompatibel zu sein. Avere ist für einen transitiven oder intran-
154 sitiven unergativen Pr-Kopf geeignet. Es handelt sich also um einen Fall der Abgleichskonstellation, bei dem Merkmale doppelt besetzt sind, ähnlich dem der Kasuskongruenz innerhalb einer DP. Die nun nach dieser Erklärung gültigen Merkmalszusammensetzungen für Pr° seien im Folgenden dargestellt: (5-69) Kat.
Pr°
Merkmalszusammensetzung von Pr° (2. Fassung) Beispielsatz Gianni picchia Paolo.
{phonol.
semantische
formale Merkmale}
{Ø
[Prädikation,T[S,R]•T[E,R]]
[Pr,T,Vst,D,akk]}
Pr°
Gianni dorme.
{Ø
[Prädikation,T[S,R]•T[E,R]]
[Pr,T,Vst]}
Pr°
Gianni arriva.
{Ø
[Prädikation,T[S,R]•T[E,R]]
[Pr,T,Vst,Dst]}
Pr°
Gianni ha picchiato Paolo.
{Ø
[Prädikation,T[S,R]•T[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,D,akk,+perf]}
Pr°
Gianni ha dormito.
{Ø
[Prädikation,T[S,R]•T[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,+perf]}
Pr°
Gianni è arrivato.
{Ø
[Prädikation,T[S,R]•T[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,Dst,+perf]}
Pr°
Gianni aveva picchiato P.
{Ø
[Prädikation,T[R_S]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,D,akk,+perf]}
Pr°
Gianni aveva dormito.
{Ø
[Prädikation,T[R_S]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,+perf]}
Pr°
Gianni era arrivato.
{Ø
[Prädikation,T[R_S]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,Dst,+perf]}
Pr°
Gianni avrà picchiato P.
{Ø
[Prädikation,T[S_R]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,D,akk,+perf]}
Pr°
Gianni avrà dormito.
{Ø
[Prädikation,T[S_R]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,+perf]}
Pr°
Gianni sarà arrivato.
{Ø
[Prädikation,T[S_R]•[E_R]]
[Pr,Tst,Vst,Dst,+perf]}
Nur für den Fall, dass der Pr-Kopf ein starkes [T]-Merkmal trägt, muss also das entsprechende Hilfsverb eingefügt werden, das einerseits das [T]-Merkmal überprüfen kann, andererseits auch sonst in seiner Merkmalszusammensetzung mit Pr° kompatibel ist. Es ergeben sich also die folgenden Selektionsmöglichkeiten der hier in ihrer Merkmalszusammensetzung dargestellten Hilfsverben:
155 (5-70)
Hilfsverbselektion in Abhängigkeit von der Stärke des [T]-Merkmals in Pr°
Beispiel Gianni picchia P.
Typ trans.
Gianni dorme.
T2 [E,R]
Pr° [Pr,T,Vst,D,akk]
Selekt. Hilfsverb ---
intrans. [E,R]
[Pr,T,Vst]
--
--
Gianni arriva.
unakk.
[E,R]
[Pr,T,Vst,Dst]
--
--
Gianni ha picchiato P.
trans.
[E_R]
[Pr,Tst,Vst,akk,D,+perf]
avere
[V,T[E_R],akk,agr-ϕ,+finit]
Gianni ha dormito.
intrans. [E_R]
[Pr,Tst,Vst,+perf]
avere
[V,T[E_R],agr-ϕ,+finit]
Gianni è arrivato.
unakk.
[Pr,Tst,Vst,Dst,+perf]
essere
[V,T[E_R], Dst,agr-ϕ,+finit]
[E_R]
Dieser Entwurf hat auch den Vorteil, dass das leere Pr° tatsächlich nur für die zweite TRelation zuständig ist, während die erste T-Relation über T° geregelt wird, unter das sich das Hilfsverb ja in jedem Fall weiterbewegt (mit dem gesamten Pr°-Komplex in finiten Sätzen, nur als V°, um das starke [V]-Merkmal zu überprüfen, in infiniten Sätzen). Abschließend soll hier also eine Hilfsverbkonstruktion im Plusquamperfekt als Beispiel für eine vollständige Derivation in graphischer Darstellung dienen: (5-71)
Gianna era arrivata tre giorni fa. CP
C°
TP
Spec 'Gianna'
T'
PrP
T° D nom ϕ θ
Pr°
Aux° 'era'
T°
Pr° V° 'arrivata'
V T Dst +finit agr-ϕ
Pr°
T Prst Vst Dst nom +finit
Spec
Pr'
Pr°
VP Pr°
Aux°
V°
V'
Spec
Pr° Pr Vst Tst Dst +perf
V°
PP 'tre giorni fa'
V -finit con-ϕ +perf
156 5.2.5 HABEN und SEIN: Zusammenfassung Im Folgenden werden die Gründe für die Annahme, dass die für die Bildung der zusammengesetzten Zeiten relevanten Hilfsverben HABEN und SEIN im Italienischen unter Pr° basisgeneriert, im Englischen dagegen direkt unter T° durch Merge eingefügt werden, im Überblick zusammengefasst. Im Italienischen sprechen mehrere Phänomene für HABEN und SEIN innerhalb der PrP: −
−
−
−
−
Die Hilfsverbselektion hängt von der Argumentstruktur des Vollverbs ab. Unter Annahme einer minimalistischen Prädikationsphrase in Nachfolge der VP-Shell-Analyse ist genau der Pr-Kopf ausschlaggebend für die Argumentstruktur (externes Subjekt vorhanden oder deriviert) und den Konstruktionstyp (unakkusativisch oder nicht). HABEN ist ursprünglich ein transitives Verb, das daher immer im Kontext von AkkusativAbgleich und der Vergabe einer Subjekt-θ-Rolle auftritt. Genau dies ist im finiten Hauptsatz ohne Hilfsverbkonstruktion die Rolle, die einem transitiven Pr-Kopf zukommt. Daher wird hier in zusammengesetzten Zeiten HABEN als Hilfsverb ausgewählt: Es stimmt in seinen Merkmalen mit denen des Pr°-Kopfes, so wie er in transitiven Konstruktionen gebraucht wird, überein. Er hat kein starkes, sondern ein einfaches [D]-Merkmal, dafür aber ein Akkusativmerkmal.32 SEIN vergibt nie Kasus und ist typischerweise ein Verb, das im Kontext eines starken [D]Merkmals auftritt, welches das Anheben (meist) der Subjekt-DP verursacht. Dieses Anheben des Subjekts ist daher mit der Rolle vergleichbar, welche ein unakkusativisches Pr° spielt: Durch ein starkes [D]-Merkmal wird das interne Argument aus [Spec, V] in die Position des derivierten Subjekts in [Spec, Pr] angehoben. Auch hier liegt es also nahe, die Selektion von SEIN mit der Kompatibilität in der Merkmalszusammensetzung zu begründen. Die PrP ist typischerweise der Ort des Con-ϕ-Merkmalsabgleichs: Darunter fällt die Partizipialkongruenz mit dem angehobenen Objekt der Konstruktion. SEIN bewirkt im Italienischen Kongruenzerscheinungen.33 Auch deshalb kann eine Basisgenerierung des temporalen Hilfsverbs SEIN innerhalb der PrP angenommen werden. Con-ϕ-Merkmalsabgleich hängt in diesem Fall ebenfalls mit dem starken [D]-Merkmal in Pr° zusammen. In der diachronen Entwicklung sind Sprachstufen mit Hilfsverbselektion zwischen SEIN und HABEN älter als Sprachstufen, die ihre Hilfsverben vereinheitlicht haben. Diachronie in der Generativen Grammatik muss aber immer über strukturelle Neuinterpretierung bestehender Derivationstypen und einer damit einhergehenden Phase der Zweideutigkeit oder Optionalität einhergehen. Die diachronische Entwicklung vom lateinischen habere zum heutigen Hilfsverbgebrauch in den romanischen Sprachen ist als eine graduelle Strukturveränderung anzusehen. In diesem Zusammenhang ist es also äußerst plausibel, dass ein V° nicht sofort als ein T° oder zu T° gehörig neu interpretiert wird, sondern dass die dazwischenliegende Kategorie interpretatorische Zwischenstufen innerhalb der Genese der Hilfsverbkonstruktionen darstellt. Pr hat außerdem einen Zwitterstatus zwischen lexikalischer und funktionaler Kategorie
–––––—– 32
33
Der Verlust des Akkusativ- und des [D]-Merkmals in intransitiven Konstruktionen kann erst in einem zweiten (diachronen) Schritt geschehen sein, vgl. die Inkorporationshypothese für intransitive Verben in 3.2 nach Hale & Keyser (1993b). Kongruenz gibt es auch in Kopulativkonstruktionen mit prädikativen Adjektiven. Dies muss aber nicht direkt mit kopulativem essere im Italienischen zusammenhängen, das ja hier in Adjunktposition an T° basisgeneriert wird (vgl. 5.1), sondern mit der Beschaffenheit eines adjektivischen Pr° und dem dort ausgelösten nominalen Concord (wie er auch in echten SC-Konstruktionen vorkommt).
157
−
−
inne.34 Auch Hilfsverben werden traditionell als Zwischenstufe zwischen Verb und rein funktionaler Kategorie angesehen (vgl. Heine 1993).35 In der kontrastiven übereinzelsprachlichen Betrachtung kann man folgende Beobachtung machen: Kopulativkonstruktionen im Präsens müssen nicht immer mit einem Hilfsverb wie SEIN erscheinen; vielmehr gibt es viele Sprachen, die verblose finite Hauptsätze erlauben. Im Arabischen z.B. tritt bei der Kopulativkonstruktion im Präsens kein offenes Hilfsverb auf: Sobald aber die Konstruktion in einer anderen Zeit als der Default-Zeit Präsens sein soll, muss eine hilfsverbartige Konstruktion auftauchen. Genauso, wie es also im Arabischen von der Bedeutung von T° (d.h. der ersten Zeitrelation S/R) abhängt, ob T° nun overt ist oder nicht (Default-Fall [S;R]), kann man ähnliche Verhältnisse in den hier behandelten Sprachen für Pr° (d.h. die zweite Zeitrelation E/R) annehmen: Im Default-Fall [E,R] gibt es kein overtes Hilfsverb unter Pr, sobald aber eine andere Zeitrelation gewählt wird, also mit Pr° ein starkes [T]-Merkmal in die Derivation kommt, muss das entsprechende Hilfsverb selegiert werden, da die Partizipien nicht für T spezifiziert sind. Im Sinne der Forderung von Chomksy (1995), dass in einer minimalistischen Herangehensweise nur solche funktionale Kategorien angenommen werden sollen, die entweder in einigen Fällen auch phonologisch sichtbar oder zumindest Träger von in der LF relevantem Gehalt sind, hätte die Annahme von HABEN und SEIN in Sprachen mit Hilfsverbselektion den erfreulichen Nebeneffekt, dass es hier offene Evidenz für phonologisch realisiertes Pr°, wenn auch nur als Inkorporationsstruktur,36 gibt. Pr° wird in seiner Bedeutung als Träger eines starken [T]-Merkmals durch das Hilfsverb sichtbar und interpretierbar.
Im Englischen und Spanischen dagegen kann man, da dort Phänomene der Hilfsverbselektion in den heutigen Sprachstufen fehlen, eine im Gegensatz zum Italienischen fortgeschrittenere Auxiliarisierung beobachten: Hilfsverben müssen nicht mehr unter Pr°, sondern können erst unter T° durch Merge eingefügt werden. Im Englischen sprechen folgende Gründe gegen HABEN unter Pr°: −
−
Im modernen Standardenglischen spielt die Argumentstruktur bei der Bildung der zusammengesetzten Zeiten keine Rolle mehr. Man kann also hier sowohl für unakkusativische als auch für transitive und intransitive Verben bei der Bildung des Present Perfect ein Pr° in der Enumeration annehmen, das kein starkes [T]-Merkmal aufweist (ähnlich wie englisches finites T° kein starkes [V]-Merkmal trägt). Das hat zur Folge, dass kein Hilfsverb unter Pr° durch Merge eingefügt werden muss. Dementsprechend spielt es auch keine Rolle, ob es sich gerade um ein unakkusativisches oder ein transitives Pr°-Kategorie handelt. Im Englischen treten bei der zusammengesetzten Zeitenbildung keinerlei Kongruenzphänomene mit dem Partizip (mehr) auf. Dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Pr° als mögli-
–––––—– 34
35 36
Vgl. auch die Aussage von Bowers zu Pr°: “The lexical realization of Pr is subject to morphological syncretism as the result of historical change, as is commonly the case with functional categories” (Bowers 2001: 311). Zu einer vorläufigen diachronen Analyse der Genese der Hilfsverben im Rahmen der Generativen Grammatik vgl. Rolshoven, Remberger & Lalande (2002). So verhält es sich bei dem hier vertretenen Ansatz ebenfalls mit T°: Pr° und T° werden beide nur sichtbar, wenn sie die entsprechenden Merkmale haben, die das Erscheinen von Hilfsverben als expletiven Elementen hervorrufen.
158
−
−
che Position für die Hilfsverbadjunktion nicht mehr gegeben ist. Innerhalb der englischen PrP kommt es nie zu Con-ϕ-Merkmalsabgleich.37 Die englischen Hilfsverben sind auch phonologisch einen Schritt weiter im Grammatikalisierungsprozess, d.h. in der Entwicklung zur funktionalen Kategorie bzw. zu einem Morphem. Kontrahierte bzw. an das Subjekt(pronomen) klitisierte Formen sind in der gesprochenen Sprache die Regel (they’ve been eating an apple, you’re cheated, vgl. dazu auch wieder Heine 1993). Im Englischen verhalten sich Hilfsverben bei Konstituententests offensichtlich sehr unterschiedlich zu ihren italienischen (und romanischen) Pendents (vgl. López 1999): Das Hilfsverb scheint mit der VP keine Konstituente zu bilden. Dies hat in der Generativen Grammatik schon früh zur Annahme geführt, englische Auxiliaries seien eine syntaktisch höherliegende Kategorie, während romanische Hilfsverben unter VP basisgeneriert würden.38
Das temporale Hilfsverb HABEN wird im Englischen also, ähnlich wie die in 5.1 besprochene Kopula, unter T° durch Merge eingefügt. Meiner Meinung nach stellen beide Alternativen, das Einfügen durch Merge der perfektivischen Hilfsverben als Adjunkt unter Pr° im Italienischen und unter T° im Englischen (und Spanischen), jeweils eine Entwicklungsstufe innerhalb des V-zu-TAM-Zyklus dar, so wie ihn Heine (1993) beschrieben hat: Ein Großteil der romanischen Sprachen verwirklicht die zweite, diachronisch ältere Möglichkeit, während das Englische bereits die erste Möglichkeit instantiiert. Betrachtet man die von Heine beschriebene Entwicklung von Vollverben über verschiedene hilfsverbhafte Formen und Konstruktionen zu reinen Flexionsmorphemen oder gar Reduzierung auf Null in den verschiedenen Sprachen (vgl. Heine 1993 sowie 1.4.4. und 1.5), kann man diese Entwicklung auch im Rahmen des MP so analysieren, dass beide eben beschriebenen Möglichkeiten erklärungsadäquate Repräsentationen finden. Unter dem Begriff der Hilfsverbhaftigkeit werden verschiedene Phänomene zusammengefasst. Ein möglicher Grund dafür ist wohl, dass bei Spell-Out die Hilfsverben sehr oft gleichermaßen unter T° stehen. Dennoch können sie sich in ihrer Basisposition unterscheiden. Gerade bei Sprachen mit der Möglichkeit der Hilfsverbselektion scheinen nur Erklärungsansätze plausibel, die von einer Basisgenerierung der entsprechenden Hilfsverben innerhalb der PrP ausgehen. In diesem Sinne gehören die hier behandelten Hilfsverben auch minimalistisch nicht einer einzigen Kategorie an (sei es nun T°, Pr° oder ein angenommenes Aux°), sondern sie können, je nach einzelsprachlicher Parametrisierung, unter unterschiedlichen Kategorien als expletives Element basisgeneriert werden. Als ein Zwischenergebnis der bisher gemachten Analyse sei hier festgehalten: Minimalistisch lässt sich die Vzu-TAM-Reihe nach Heine (1993) leicht in eine V-zu-Pr-zu-T-Reihe umsetzen.
–––––—– 37
38
Das Spanische ist für Con-ϕ-Merkmale zumindest bei Passiv-Konstruktionen spezifiziert. Hilfsverbselektion und Con-ϕ-Agreement müssen jedoch nicht immer von denselben Faktoren bestimmt sein, vgl. Loporcaro (1998). Zu einer dementsprechenden Darstellung unter der Anwendung von Konstituententests s. Müller & Riemer (1998: 16–18). Gemeint sind v.a. kontrastierende Beispiele der folgenden Art: (i) John has eaten lots of apples but Mary hasn’t. (ii) *Gianni ha mangiato molte mele, ma Maria non ha.
159
5.3
Minimalistische Analyse: Passivkonstruktionen
Essere als Hilfsverb wird auch zur Passivbildung benötigt. Neben essere können im Italienischen eingeschränkt auch venire oder, mit deontischer Bedeutung, andare erscheinen; diese Verben sollen in einem späteren Kapitel (vgl. 6.3) als Sonderfälle des Italienischen behandelt werden. Das Passiv ist eine unakkusativische Konstruktion. Hauptkennzeichen von Konstruktionen im Passiv sind, dass keine externe θ-Rolle vergeben wird und dass es keinen Abgleich von Akkusativmerkmalen gibt. Jaeggli (1986a) erklärt diese Eigenschaften durch die Passivmorphologie des Partizips, welche angeblich die externe θ-Rolle absorbiert sowie den Akkusativkasus zugewiesen bekommt. Dieses Passivmorphem erhält dadurch praktisch Argument-Status.39 Ähnlich hat auch Haider (1984) die Partizipialmorphologie für die Blockierung des externen Arguments verantwortlich gemacht (vgl. 2.2.3). Anders als Haider unterscheidet aber Jaeggli klar zwischen Aktiv- und Passivpartizipien. Das externe Argument ist im Passiv jedoch trotz der θ-Rollen-Absorption weiterhin implizit vorhanden. Dies ist dadurch erkennbar, dass es durch eine Präpositionalphrase reaktiviert und explizit gemacht werden kann: (5-72) (5-73)
Gianni è picchiato. Gianni è picchiato da Maria.
Jaeggli nimmt an, dass die von der Passivmorphologie des Partizips geschluckte θ-Rolle an die Präposition (da oder by o.ä.) weitergegeben werden kann, sodass diese sie nun ihrerseits der so genannten40 Agens-DP zuweisen kann. Baker, Johnson & Roberts (1989: 226) vergleichen das implizite Vorhandensein eines möglicherweise durch eine PP ausgedrückten externen Arguments mit arbiträrem PRO: Es handelt sich um arbiträre, nicht spezifizierte Referenz, d.h. ein implizites Argument, das durch die Passivmorphologie entsteht.41 Diese implizite Referenz kann in keinem Fall mit dem Oberflächensubjekt koreferent sein. –––––—– 39
40
41
So auch Baker (1988, bes. Kap.6), der annimmt, dass die externe θ-Rolle in die Passivmorphologie inkorporiert wird, welche dadurch Argumentstatus bekommt und (Akkusativ-)Kasus braucht; vgl. auch Baker, Johnson & Roberts (1989: 222), die die Passivmorphologie (-en) als syntaktisches Klitikum mit phonologischem Affixstatus bezeichnen. Sie nehmen in ihrem Aufsatz eigene VP-Projektionen für die Hilfsverben an. Das klitische Passiv-Argument kann damit unter einer eigenen, unter den VP-Projektionen der Hilfsverben liegenden IP basisgeneriert, dann zu dem Hauptverb abgesenkt und in dieses inkorporiert werden. Dabei vergibt das Verb Kasus an -en, sodass sich eine unakkusativische Struktur ergibt. Diese DP muss nicht unbedingt eine agentive θ-Rolle erhalten, vgl. die folgenden englischen Beispiele aus Jaeggli (1986a: 599): (i) Bill was killed by Mary. (Agent) (ii) The package was sent by John. (Source) (iii) The letter was received by Bill. (Goal) (iv) The professor is feared by all students. (Experiencer) Wichtig ist, dass es sich um die θ-Rolle des externen Arguments handelt. Da bei Baker, Johnson & Roberts (1989) die Passivmorphologie als Argument des Verbs den Akkusativkasus zugewiesen bekommt, ist der Vergleich mit PRO innerhalb des P&P-Modells
160 In diesem Punkt besteht nun ein grundlegender Unterschied zwischen Passivkonstruktionen und Konstruktionen mit unakkusativischen Verben: Während in Passivkonstruktionen die θ-Rolle des externen Arguments implizit noch vorhanden ist (eben als arbiträre Referenz, wenn nicht durch PP reaktiviert), gibt es bei unakkusativischen Verben diese θRolle überhaupt nicht, sodass sie auch nicht reaktiviert werden kann:42 (5-74) (5-75)
*Gianni cade da Maria. *Gianni è caduto da Maria.
Bei zweideutigen Verben wird eine Konstruktion mit einer solchen das externe Argument reaktivierenden PP sofort als Passivkonstruktion interpretiert: (5-76)
La nave è affondata dall’ammiraglio. => *unakkusativisch
Gemein mit den Konstruktionen mit unakkusativischen Verben ist dem Passiv dagegen die Tatsache, dass ein eigentliches Objekt in [Spec, V] in die Subjektposition in [Spec, Pr] und weiter nach [Spec, T] angehoben wird. Dies wurde bereits auf ein starkes [D]-Merkmal in Pr° zurückgeführt. Weiterhin gemeinsam haben beide Konstruktionen die Partizipialkongruenz: Das Partizips kongruiert in seinen Con-ϕ-Merkmalen mit dem angehobenen Subjekt. Was das Hilfsverb essere betrifft, taucht dieses im Passiv immer auf, während es bei unakkusativischen Verben nur in Zusammenhang mit den zusammengesetzten Zeiten erscheint. Für unakkusativische Verben wurde das folgende Pr° angenommen: (5-77)
Konstruktion mit unakkusativischem Verb
T2
Pr°
Hilfsverb
a. [E,R]
[Pr,Vst,T,Dst]
------
b. [E_R]
[Pr,Vst,Tst,Dst,+perf]
essere
Nur in Fall (5-77)b muss das Hilfsverb essere erscheinen, um das starke [T]-Merkmal abzugleichen, das sich aus der zweiten Zeitrelation [E_R] ergibt. Im Passiv dagegen muss essere auch dann erscheinen, wenn die zweite Zeitrelation mit [E,R] default-instantiiert, d.h. das [T]-Merkmal in Pr° schwach ist: (5-78) (5-79)
Gianni è picchiato. Gianni era picchiato.
[S,R]•[E,R] [R_S]•[E,R]
Das Erscheinen des Hilfsverbs essere kann also nichts mit dem [T]-Merkmal in Pr° zu tun haben. Interessanterweise geschieht es im Passiv bei starkem [T] in Pr°, bzw. bei der zwei–––––—–
42
eigentlich nicht stimmig: PRO ist dort immer kasuslos. Im MP ist der Vergleich mit PRO aber wieder möglich, da nicht das Verb V° selbst, sondern Pr°/v° für die Vergabe von Akkusativ zuständig ist. Die Frage also, ob nun Akkusativ vergeben werden kann oder nicht, ist von V° selbst abgekoppelt. Natürlich darf man hier die PP mit dem P-Kopf da nicht als lokative PP interpretieren.
161 ten Zeitrelation [E_R], dass noch ein weiteres Hilfsverb in die Derivation kommt. Man betrachte die folgenden Beispielsätze: (5-80) (5-81)
Gianni è stato picchiato. Gianni era stato picchiato.
[S,R]•[E_R] [R_S]•[E_R]
Ist die zweite T-Relation [E_R], erscheint also auch im Passiv, wie schon in den Kopulativkonstruktionen, das besondere Partizip stato. Dieses kann als einziges Partizip mit [T]Merkmal das starke [T]-Merkmal von Pr° abgleichen. Also kann man für die Passivkonstruktionen parallel zu den Konstruktionen mit unakkusativischen Verben die folgende Merkmalsstruktur für Pr° annehmen: (5-82)
Der Pr-Kopf in Passivkonstruktionen (Entwurf) T2
Pr°
Hilfsverb
a.
[E,R]
[Pr,Vst,T, Dst]
------
b.
[E_R]
[Pr,Vst,Tst, Dst,+perf]
stato
Es stellt sich nun natürlich die Frage, wo und warum das passivische Hilfsverb essere in die Derivation gelangt. Da die PrP offensichtlich nicht der Ort dafür ist, möchte ich hier annehmen, dass passivisches essere, genauso wie kopulatives essere, erst unter T° durch Merge eingefügt werden muss, um die Derivation vor dem Scheitern zu bewahren, weil die partizipiale Verbform bestimmte Merkmale von T° nicht überprüfen kann: Diese Merkmale könnten entweder das [V]-Merkmal sein (das mit Con-ϕ-Merkmalen des Partizips kollidiert) oder aber auch das [T]-Merkmal von T° (Partizipien sind ja im allgemeinen T-los). Dementsprechend wird bei der ersten Zeitrelation [S,R] eine präsentische Form von essere, bei [S_R] eine Imperfektform von essere durch Merge in die Derivation eingefügt. Dies geschieht parallel zu den Kopulativkonstruktionen als Kopf-Adjunktion, vgl. die folgende Graphik:
162 (5-83)
Passivisches essere unter T° CP C°
TP Spec 'Gianni'
T' T°
D nom ϕ θ
Aux° 'è' 'era'
Pr° V T V° +finit agr-ϕ 'picchiato'
PrP T°
Spec
Pr'
Pr°
T Prst Vst Dst nom +finit
VP
Pr°
T° V°
Pr°
V'
Spec Pr Vst T Dst
V°
XP
V -finit con-ϕ +perf
Das Hilfsverb essere hat hier dieselbe Funktion wie bei den Kopulativkonstruktionen, nämlich als expletives Element eine Derivation zu retten, die sonst scheitern würde. Daher kann man für kopulatives und passives essere im Gegensatz zu dem an Pr° durch Merge eingefügten temporalen essere denselben Lexikoneintrag annehmen. Nun muss es aber Unterschiede in der Merkmalszusammensetzung einem unakkusativischen und einem passivischen Pr° geben, welche die oben beschriebenen Unterschiede hinsichtlich der Subjekt-Interpretation erklären. Bisher sehen die Einträge für das unakkusativische und das passivische Pr° in (5-77) und (5-82) noch identisch aus: Beide haben ein starkes [D]-Merkmal und beide haben kein Akkusativ-Merkmal. Wie aber kommt es zu der impliziten arbiträren Referenz und der Möglichkeit einer θ-Rollen-Vergabe an eine adjungierte PP? Ein passivisches Pr° kann offensichtlich, im Gegensatz zu einem unakkusativischen Pr°, die Vergabe der externen θ-Rolle trotz eines starken [D]-Merkmals bewahren. Dies lässt sich an den folgenden Beispielen nochmals (vgl. auch (5-74) und (5-75)) nachvollziehen: (5-84) (5-85) (5-86)
Il melo è potato [dal giardiniere]. Il melo è caduto. *Il melo è stato caduto [dal vento].
Die Passivkonstruktion in (5-84) erlaubt eine Interpretation des agentiven externen Arguments. Das ergative Verb cadere in (5-85) erlaubt diese Interpretation nicht. Offensichtlich wird der Unterschied bei diesen oberflächlich gleich erscheinenden Konstruktionen essere
163 + Partizip erst, wenn stato in die Derivation kommt: (5-86) ist nicht grammatisch, da hier durch ein passivisches Pr° mit starkem T (erkennbar an stato) versucht wird, eine (gewöhnlicherweise) nicht vorhandene Subjekt-θ-Rolle zu vermitteln. Das Verb cadere bekommt durch die syntaktische Konstellation eine transitive Interpretation (in der Bedeutung ähnlich dem deutschen ‘fällen’), die aber in seinem Lexikoneintrag eigentlich nicht vorgesehen ist.43 Man vergleiche auch die folgenden (hier wiederholten) Beispiele: (5-87) (5-88)
La nave è affondata. La nave è stata affondata.
(5-87) kann man als Konstruktion mit unakkusativischem Verb oder als Passivkonstruktion interpretieren. In (5-88) liest sich aber eindeutig eine implizite agentive Subjekt-Referenz mit, sodass die Interpretation als unakkusativisches Verb unmöglich ist. Eine neue Version der Merkmalszusammensetzung für mögliche passivische Pr°/v°-Einträge könnte also so aussehen (mit [ag] für die agentive44 θ-Rolle): (5-89)
Passivkonstruktionen (2. Fassung)
T2
Pr°
Hilfsverb
a. [E,R]
[Pr,Vst,T,Dst,ag]
------
b. [E_R]
[Pr,Vst,Tst,Dst,ag,+perf]
stato
Eine weitere Frage (die sich auch im Zusammenhang mit stato bei den Kopulativverben stellt) ist, warum bei einem starken [T]-Merkmal hier das Partizip stato und nicht eine andere Form von essere wie bei den zusammengesetzten Zeiten der unakkusativischen Verben eingefügt wird. Ein perfektives Hilfsverb essere mit den Merkmalen [V,T,+finit,agr-ϕ, Dst] könnte das notwendigerweise abzugleichende [T]-Merkmal doch auch überprüfen und dann sogar noch weiter nach T° angehoben werden, um dort das [T]-Merkmal bzw. das starke [V]-Merkmal abzugleichen. Der Grund muss darin liegen, dass stato, nicht aber essere mit einem [ag]-Merkmal bzw. der entsprechenden θ-Rollen-Vergabe kompatibel ist. Eine essentielle Frage bleibt, wie die arbiträre Referenz dargestellt werden kann, die möglicherweise die externe θ-Rolle trägt, bzw. wie diese θ-Rolle an die agentive PP in Adjunktposition gelangen mag. Ich möchte hier vorschlagen, dass in Passivkonstruktionen weiterhin ein D-Element in [Spec, Pr] durch Merge eingefügt wird und dass dieses DElement die arbiträre Referenz darstellt, welches die festgestellte implizite Interpretation eines logischen Subjektes möglich macht. Diese Referenz kann die θ-Rolle erhalten, aber keinen Kasus. Genau wie Baker, Johnson & Roberts (1989) bemerkt haben, sind dies Eigenschaften, die normalerweise PRO zukommen. PRO ist meist kontrolliert, d.h. refe–––––—– 43
44
Vgl. dazu z.B. auch das standarditalienische scendere: Einen Satz wie la valigia è stata scesa würde man sofort als nicht zum Standarditalienischen gehörig erkennen, dennoch aber interpretieren können und daraufhin dem regionalen Italienisch des Südens zuordnen, da es in den dortigen Varietäten Lexikoneinträge für scendere gibt, die diese transitive Interpretation erlauben. Dieses [ag] darf hier keinesfalls als formales Merkmal verstanden werden, sondern es kodiert die Möglichkeit der Subjekt-θ-Rollen-Vergabe, wie sie für die Konstellation [Spec, Pr] gegeben ist. Diese Subjekt-θ-Rolle muss, wie bereits festgestellt (vgl. Fn. 40), nicht unbedingt agentiv sein.
164 renzidentisch mit einem anderen Argument in der Derivation (meist im Matrixsatz), von dem es c-kommandiert wird. Ist Kontrolle optional und es gibt kein solches kontrollierendes Element, spricht man von arbiträrem PRO. Diese Verhältnisse können auf das Passiv übertragen werden: Gibt es im Passiv eine overte PP, deren Komplement-DP mit der von PRO getragenen θ-Rolle kompatibel ist, dann ist PRO durch diese PP obligatorisch kontrolliert und nicht mehr arbiträr.45 Gibt es keine Adjunkt-PP, ist PRO also nicht kontrolliert, bleibt es arbiträr. Diese Annahme sollen die folgenden Strukturbäume veranschaulichen:46 (5-90)
a. La mela è stata mangiata.
b. La mela è stata mangiata da Maria.
PrP
PrP
Spec 'La mela'
Pr'
Spec 'La mela'
Spec 'PROarb' D nom ϕ θ
D θ ϕ arb
Pr'/PrP Pr'
Pr'
Aux° 'stata'
D nom ϕ θ
VP
Pr° Pr°
V° T -finit 'mangiata' con-ϕ +perf ag
V'
Spec Pr° Pr Vst Tst Dst +perf ag
V°
XP V -finit con-ϕ +perf
PP 'da Mariak'
Spec 'PROk'
D θ ϕ
Pr' Pr° Aux° 'stata'
VP Pr°
V° T -finit 'mangiata' con-ϕ +perf ag
Spec Pr°
Pr Vst Tst Dst +perf ag
V' V°
XP
V -finit con-ϕ +perf
In (5-90)a ist PRO nicht kontrolliert,47 daher arbiträr, d.h. es ergibt sich nur eine implizite Subjekt-Referenz. In (5-90)b ist PRO von der adjungierten PP48 c-kommandiert, daher auch kontrolliert, sodass sich Referenzidentität ergibt. Innerhalb des P&P-Ansatzes gilt das PRO-Theorem, dass PRO nicht regiert sein darf; diese Bedingung trifft für die Subjektposition in [Spec, Pr] zu. Jedes dort basisgenerierte Subjekt muss sich aus dieser Position her–––––—– 45 46 47
48
Ähnliche Annahmen wurden bereits im Zusammenhang mit unpersönlichem si vorgestellt; PRO in Zusammenhang mit unpersönlichem si ist allerdings immer arbiträr (vgl. 3.5.3). Hier wird die zweite Version von stato verwendet, vgl. (5-35). PRO trägt ein [D]-Merkmal. Dennoch kann PRO hier nicht das starke [D]-Merkmal des passivischen Pr° abgleichen, denn PRO ist θ-bezogen. Nur expletive Elemente dürfen sofort nach Merge, d.h. ohne vorherige Bewegung, Merkmale abgleichen. Die PP muss hier als Argument betrachtet werden, wobei die ganze PP, nicht die Komplement-DP der P° C-Kommandierer ist, vgl.: (i) Ho ordinato [a Gianni]i di PRO i tornare presto. Wie die Adjunktion optionaler Argumente genau aussieht, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Hier wurde die Darstellung der Rechtsadjunktion des optionalen PP-Arguments von Belletti (1990: 114–115) übernommen, auch wenn dies Kayne (1994) widerspricht. Außerdem müsste eine Operation Merge maximaler Kategorien, die nicht auf Substitution von Spezifikatorpositionen abzielt, eine doppelt segmentierte Struktur ergeben, also die PP an PrP (d.h. nicht Pr') adjungieren, was eine Modifikation der Struktur zur Folge hätte.
165 ausbewegen, um dem Kasus-Filter des P&P-Ansatzes zu entgehen. Im MP gibt es die Rektion als strukturelle Bedingung nicht mehr; es gibt nur noch Domänen. PRO kann nun ebenfalls Kasus, nämlich Nullkasus tragen. Dieser Nullkasus muss dementsprechend im Laufe der syntaktischen Derivation überprüft werden. Es liegt daher nahe, diesen Nullkasus als weitere Besonderheit von passivischem Pr° anzunehmen.49 Ein unakkusativisches Pr° und temporales essere sind mit Nullkasus nicht kompatibel: Daher können Konstruktionen mit unakkusativischen Verben nie passiviert werden und daher gibt es in Konstruktionen mit unakkusativischen Verben nie die Interpretationsmöglichkeit einer impliziten arbiträren Subjekt-Referenz. Die Sonderpartizipialform stato dagegen ist sowohl kompatibel mit einem ‘agentiven’ Pr° als auch mit Nullkasus. Daher kann nur stato als expletives Element in die Derivation gelangen, um das starke [T]-Merkmal einem passivischen Pr° abzugleichen.50 Das Passiv erscheint in allen Zeiten, auch in der synthetischen Form des passato remoto (vgl. (5-91)), hier im Vergleich mit dem Imperfekt (vgl. (5-92)), dem Plusquamperfekt (593)) und einer ungrammatischen Bildung (vgl. (5-94)): (5-91) (5-92) (5-93) (5-94)
Gianni fu picchiato. Gianni era picchiato. Gianni era stato picchiato. *Gianni fu stato picchiato.51
[S_R]•[E,R] [S_R]•[E,R] [S_R]•[E_R] [S_R]•*[E_R]/[E,R]
Der Unterschied zwischen (5-91) und (5-92) ist aspektueller Art: fu bringt einen perfektivpunktuellen Aspekt in das Ereignis,52 era einen durativ-imperfektiven Aspekt. Mit stato scheint fu nun nicht kompatibel zu sein, wie sich in Satz (5-94) zeigt, obwohl stato (zumindest als passivisches Hilfsverb) ebenfalls perfektiv ist, d.h. ein [+perf]-Merkmal trägt. Allerdings widersprechen sich die Kodierungen der zweiten Zeitrelation, wobei hier für die Form im passato remoto angenommen wird, dass sie (letztendlich unter T°) beide Zeitrelationen (also [S_R]•[E,R]) kodiert. Den bisherigen Ausführungen entsprechend sieht die Merkmalsmatrix der passivischen Derivationen nun folgendermaßen aus:
–––––—– 49
50
51 52
PRO wurde bisher nur in infiniten Sätzen angenommen. Passivsätze sind nun, ebenso wie die in 3.5.3 und 3.5.4 behandelten unpersönlichen und passivisch-medialen si-Konstruktionen, das Ergebnis von PRO in finiten Sätzen. Bei Kopulativkonstruktionen funktioniert stato auch, obwohl kein Agens- oder Nullkasusmerkmal vorhanden ist. Hier muss es sich um einen zweiten (weniger spezialisierten) Lexikoneintrag für stato handeln. Vgl. GGIC, I (1988: 89). Pr° trägt wie das Partizip das Merkmal [+perf], die Punktualität aber kommt durch eine Existenzquantifizierung von einem spezifischen R, also [∃R] unter Pr° zustande, vgl. 4.3; Abgeschlossenheit des Ereignisses zusammen mit der Fokussierung auf eine Referenzzeitgegebenheit ergibt die punktuelle Interpretation.
166 (5-95)
a.
Merkmalszusammensetzungen für Passivkonstruktionen
Beispielsatz Gianni è picchiato.
formale Merkmale von T°
formale Merkmale von Pr°
[T[S,R],Prst,Dst,Vst,nom,+finit]
[Pr,Vst,T,Dst,null,ag]
b.
Gianni è stato picchiato.
[T[S,R],Prst,Dst,Vst,nom,+finit]
[Pr,Vst,Tst,Dst,null,ag,+perf]
c.
Gianni era picchiato.
[T[R_S],Prst,Dst,Vst,nom,+finit]
[Pr,Vst,T,Dst,null,ag]
d.
Gianni era stato [T[R_S],Prst,Dst,Vst,nom,+finit] picchiato.
[Pr,Vst,Tst,Dst,null,ag,+perf]
e.
Gianni fu picchiato.
[Pr,Vst,T,Dst,null,ag,+perf]
(5-96)
[T[R_S]•[E,R]/[∃R],Prst,Dst,Vst,nom,+finit]
Durch Merge notwendigerweise eingefügtes expletives Hilfsverb essere {phonologische
semantische
formale Merkmale}
a.
Form è
{/E/
∅
[V,T[S,R],agr-ϕ,+finit]}
b.
era
{/Era/
∅
[V,T[S_R],agr-ϕ,+finit]}
c.
fu
{/fu/
∅
[V,T[S_R]•[E,R]/[∃R],agr-ϕ,+finit]}
(5-97)
Durch Merge notwendigerweise eingefügtes expletives Hilfsverb stato Form stato (-a,-e,-i)
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
{/stato/
∅
[T[E_R],con-ϕ,+perf,-finit,ag]}
Die vollständige Derivation eines passivischen Satzes lässt sich als Baumstruktur folgendermaßen darstellen:
167 (5-98)
I meli sono stati piantati dal giardiniere. TP
Spec 'I meli'
T'
T° D nom θ ϕ
PrP
Aux° 'sono' V agr-ϕ T[S,R] +finit
T°
Pr°
Aux° 'stati'
Spec
PrP
Pr'
T°
Pr°
V° 'piantati'
Pr°
T Vst Dst Prst nom +finit
PP 'dal giardiniere'
Spec 'PRO' D θ ϕ null
Pr'
Pr°
Pr°
Aux° con-ϕ T[E_R] +perf -finit ag
VP
V°
V'
Spec
Pr° Pr Vst Dst Tst null +perf ag
V°
XP
V con-ϕ +perf -finit
Ein passivisches Pr°/v° bewirkt immer die Anhebung des internen Objektes in eine Spezifikatorposition der PrP. Da in der ersten Spezifikatorposition bereits das dem Passiv typische, meist arbiträre PRO durch Merge eingefügt wurde, handelt es sich hier um eine mehrfache Spezifikatorposition. Um das starke [D]-Merkmal in T° zu überprüfen, wird schließlich das bereits angehobene, derivierte Subjekt weiter nach [Spec, T] angehoben. Falls das passivische Pr° ein starkes [T]-Merkmal trägt, wird außerdem stato durch Merge unter Pr° in einer Adjunktposition eingefügt. Durch die Anhebungen des internen Arguments ergibt sich als Nebeneffekt zum einen Con-ϕ-Merkmalsabgleich mit dem Partizip sowie stato unter Pr°, zum anderen Agr-ϕ-Merkmalsabgleich mit dem finiten Verb unter T°. Erscheint eine PP mit dem P-Kopf da in der Derivation, die Träger der Subjekt-θ-Rolle sein kann, so wird diese an PrP (vgl. Fn. 48) adjungiert, sodass PRO nicht mehr arbiträr, sondern kontrolliert ist. Wie in allen finiten Sätzen im Italienischen wird auch hier der gesamte Pr°-Komplex nach T° bewegt, sodass die entsprechenden Merkmale, u.a. das starke [V]-Merkmal von T°, überprüft werden können.
168
5.4
Minimalistische Analyse: Konstruktionen mit dem Klitikum si
Bei Konstruktionen mit dem klitischen Pronomen si erscheint durchgängig das Hilfsverb essere. Aufgrund der bisher dargestellten Analysen der PrP (vgl. 3.2), der minimalistischen Eigenschaften und Position von essere bei den zusammengesetzten Zeiten im Allgemeinen (vgl. 5.2) und besonders der Merkmalszusammensetzungen von si (vgl. 3.5.2, 3.5.4), ist eine Erklärung der Hilfsverbselektion hier nicht mehr schwierig. Einzig der Fall des unpersönlichen si (vgl. 3.5.3) bedarf einer gesonderten Erklärung. Im Folgenden werden also die verschiedenen Konstruktionen mit si der Reihe nach kurz charakterisiert, wobei sich die Hilfsverbselektion mit essere auf natürliche Weise ergibt (vgl. 5.4.1, 5.4.2 und 5.4.3). Danach erfolgt die Behandlung der unpersönlichen Konstruktionen (vgl. 5.4.4). 5.4.1 Lexikalisierte Verben mit si Die Untergruppe der inhärent reflexiven Verben (z.B. meravigliarsi, pentirsi etc.) und der unakkusativischen Verben mit si (z.B. rompersi, capovolgersi etc.)53 soll hier als Gruppe der lexikalisierten Verben mit si zusammengefasst werden. Bei diesen Verben stellt das Klitikum si keine Verbindung zu einer Argumentposition mehr dar. Das Klitikum wird lexikalisch an V° adjungiert und kommt auch an dieser Position in die Derivation. Diese Verben sind im Italienischen alle unakkusativisch, sodass sich bei der Hilfsverbselektion stets essere ergibt: (5-99) Le tazzine si sono rotte. (5-100) Maria si è meravigliata di questo fatto.
Die Derivation stellt sich wie folgt dar: Ein unakkusativisches Pr° hat keinen Kasus, dafür aber (neben dem gewohnten starken [V]-) ein starkes [D]-Merkmal. Dieses muss durch das sofortige Anheben der DP in [Spec, V] nach [Spec, Pr] gelöscht werden. Durch das Anheben ergibt sich auch der Con-ϕ-Merkmalsabgleich mit dem Partizip. Vorher wurde bereits V° wegen des starken [V]-Merkmals nach Pr° bewegt und dort adjungiert. Das klitische Element kann nicht allein in der Basis verbleiben und muss sich schließlich auch bewegen, zunächst nach Pr° und später, im finiten Satz, nach T°. Bei den zusammengesetzten Zeiten hat nun Pr° wegen der zweiten T-Relation [E_R] auch ein starkes [T]-Merkmal, das sofort durch das Einsetzen eines expletiven Hilfsverbs abgeglichen werden muss. An diesem Punkt muss essere erscheinen, da nur essere mit dem starken [D]-Merkmal eines unakkusativischen Pr-Kopfes kompatibel ist. Es ergibt sich also die folgende Merkmalszusammensetzung unter Pr°:
–––––—– 53
Zu dieser Klassifizierung und si als lexikalischem Affix, vgl. Burzio (1986: 407) sowie 3.5.2.
169 (5-101) Le tazzine si sono rotte. Typ
Element
Pr°
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
{Ø
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr, Tst,Vst,Dst,+perf]}
V°
rompersi
{/si/klit /rotte/
zerbrechen(y),...
[V,con-ϕ,+perf,-finit]}
Aux°
essere
{/sono/
Ø
[V,T[E_R],Dst,agr-ϕ,+finit]}
(5-102) Typ
Maria si è meravigliata di questo fatto. Element
Pr°
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
{Ø
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,Vst,Tst,Dst,+perf]}
V°
meravigliarsi {/si/klit /meravi¥¥ata/
wundertSich(x,{y}),...
[V,con-ϕ,+perf,-finit]}
Aux°
essere
Ø
[V,T[E_R],Dst,agr-ϕ, +finit]}
{/E/
Übertragen in eine Baumstruktur ergeben sich folgende Derivationen: (5-103) a. Le tazzine si sono rotte.
b. Maria si è meravigliata di questo fatto.
PrP PrP Spec 'le tazzine'
Pr' Pr°
D nom θ ϕ
Spec 'Maria'
VP
Pr' Pr°
D° 'si'
Spec
Pr° Aux° 'sono' V agr-ϕ T[E_R]
Dst +finit
V'
Pr° V° 'rotte'' V con-ϕ
+perf -finit
V° Pr°
Pr Vst Dst Tst +perf
D°
XP V°
D nom θ ϕ
VP Pr°
D° 'si'
Dst
+finit
V'
Pr°
Aux° 'è' V agr-ϕ T[E_R]
Spec
V° 'meravigliata' V con-ϕ
+perf -finit
V° Pr°
D°
XP 'di questo fatto' V°
Pr Vst Dst Tst +perf
5.4.2 Reflexivkonstruktionen Reflexives si im Akkusativ bzw. Dativ wurde in 3.5.2 bereits als jeweils eigener Lexikoneintrag mit starkem [D]-Merkmal analysiert. Diese Einträge seien hier wiederholt:
170 (5-104) Merkmalszusammensetzungen für reflexives si im Italienischen Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,dat]}
Durch das Einsetzen eines solchen reflexiven si mit starkem [D]-Merkmal in die Derivation ergibt sich also automatisch eine unakkusativische Konstruktion. Die durch Merge in die Argumentposition [Spec, V] eingesetzte DP muss overt nach [Spec, Pr] bewegt werden; auch hier ergibt sich Con-ϕ-Merkmalsabgleich mit dem Partizip. Im Falle der reflexiven Konstruktionen ist allerdings nicht Pr° für die Bewegung verantwortlich, sondern das funktionale Reflexivelement si, dessen starkes [D]-Merkmal auf der LF nicht mehr in der Derivation sein darf. Bei den zusammengesetzten Zeiten erscheint in jedem Falle essere: (5-105) Maria si è lavata. (5-106) Maria si è comprata un chilo di mele.
Ein expletives Hilfsverb muss erscheinen, um das starke [T]-Merkmal in einem mit [E_R] markierten Pr° abzugleichen. Avere ist aber mit dem starken [D]-Merkmal von si, das auch an Pr° durch Merge adjungiert wird, nicht kompatibel. Daher erscheint das selbst durch ein starkes [D]-Merkmal gekennzeichnete essere. Der Pr°-Komplex, der nun insgesamt mit einem starken [D]-Merkmal versehen ist, kann dieses Merkmal durch Anheben der DP aus einer internen Argumentposition löschen. Es ergeben sich die folgenden Merkmalskombinationen unter Pr°: (5-107) Maria si è lavata. Typ
Element
Pr° V°
lavare
Aux°
essere
Refl.Klit. si
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
{Ø
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,D,Vst,Tst,akk,+perf]}
{/lavata/
wäscht(x[ag],y),...
[V,con-ϕ,+perf,-finit]}
{/E/
Ø
[V,Dst,T[E_R],agr-ϕ,+finit]}
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
(5-108) Maria si è comprata un chilo di mele. Typ
Element
Pr°
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
{Ø
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,D,Vst,Tst,akk,dat,+perf]}
V°
comprare {/komprata/
kauft(x[ag],y),...
[V,con-ϕ,+perf,-finit]}
Aux°
essere
{/E/
Ø
[V,Dst,T[E_R],agr-ϕ,+finit]}
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,dat]}
Refl.Klit. si
Die dementsprechenden Baumstrukturen der Derivationen sehen folgendermaßen aus:
171 (5-109) a. Maria si è lavata.
b. Maria si è comprata un chilo di mele.
PrP
PrP
Spec k 'Maria '
Pr'
Spec k 'Maria ' VP
Pr° D nom θ ϕ
Pr°
D° k 'si' ' Dst akk θana
Pr'
Aux° 'è'
Spec Pr°
V V° agr-ϕ 'lavata' T[E_R] Dst +finit V con-ϕ +perf -finit
VP
Pr° D nom θ ϕ
V' V°
XP
D° k 'si ' Dst dat θana
Pr° Pr Vst Tst D akk +perf
Pr°
V'
Spec
Aux° Pr° 'è' V V° Pr° D agr-ϕ 'comprata' Pr T[E_R] Vst Dst V Tst +finit con-ϕ D +perf akk -finit dat
V°
DP 'un chilo di mele'
+perf
5.4.3 Passivisch-mediales si Auch bei passivisch-medialem si ist die Hilfsverbselektion in den zusammengesetzten Zeiten leicht nachvollziehbar. In 3.5.4 war diese Konstruktion durch das reflexive si im Akkusativ erklärt worden, das sich anaphorisch diesmal nicht auf eine overte DP in Subjektposition, sondern auf arbiträres PRO als Antezedens bezieht. Es ergab sich die folgende Merkmalszusammensetzung: (5-110) Die passivisch-mediale Konstruktion mit si Typ
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
Refl. Klit.
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
Leere Kat.
PROarb
{∅
[θ],arb
[D, ϕ[pl,3,Genus],null,-def]}
In den passivisch-medialen Konstruktionen erscheint in den zusammengesetzten Zeiten essere, außerdem kommt es zu Partizipialkongruenz. Passivisch-mediale Konstruktionen sind nur möglich, wenn es sich um transitive Verben handelt. (5-111) Le mele si sono già raccolte. (5-112) *La primavera si è arrivata.
Es muss immer ein internes Argument in der [Spec, V]-Position vorhanden sein, das angehoben werden kann, um das starke [D]-Merkmal von si zu überprüfen. Dieses starke [D]Merkmal kann von dem durch Merge in die Argumentposition [Spec, Pr] eingesetzten PROarb nicht abgeglichen werden, da PRO im Allgemeinen θ-relevant ist und daher kein expletives Element darstellt. Durch das overte Anheben der DP ergibt sich schließlich eine
172 Derivation mit Mehrfachspezifikatoren. Die Merkmalsverteilung ist in (5-113) dargestellt: (5-113) Merkmalsverteilung für le mele si sono già raccolte Typ
Element
{phonologische
Pr°
{Ø
semantische
formale Merkmale}
[Prädikation,T[E_R]] [Pr,Vst,Tst,akk,+perf]} erntet(x[ag],y),...
[V,con-ϕ, +perf,-finit]}
{/sono/
∅
[V,Dst,T[E_R],agr-ϕ,+finit]}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
PROarb
{∅
[θ],arb
[D,ϕ[pl,3,Genus],null,-def]}
V°
raccogliere {/rakkolte/
Aux°
essere
Refl. Klit. Leere Kat.
Für die Herleitung der passiv-medialen Konstruktion braucht man also keine neuen Lexikoneinträge (etwa für Pr° oder si) annehmen: Die Derivation erfolgt einfach aus einer weiteren Möglichkeit der Kombination von Lexikoneinträgen, die eine gültige Schnittstellenrepräsentation auf der LF (und der PF) ergibt. Die Partizipialkongruenz kommt dabei auch wieder durch die Anhebung der DP in die zweite Spezifikatorenposition, von der aus die Con-ϕ-Merkmale des Partizips abgeglichen werden können, zustande. Die Derivation sieht folgendermaßen aus: (5-114)
Le mele si sono (già) raccolte. PrP Pr'
Spec 'Le mele'
D nom θ ϕ
Spec k 'PROarb ' D θ ϕ null -def
Pr' VP
Pr° D° 'sik' Dst akk θana
Pr°
Aux° 'sono' V agr-ϕ T[E_R] Dst +finit
V° 'raccolte' V con-ϕ +perf -finit
V'
Spec
Pr°
V°
XP
Pr° Pr Vst Tst D akk +perf
5.4.4 Unpersönliches si Derivationen mit unpersönlichem si sind im Gegensatz zu den anderen Konstruktionen mit si nicht so einfach zu erklären und müssen als Sonderfall behandelt werden. In Kapitel 3.5.3
173 wurde die folgende Merkmalszusammensetzung für dieses argumenthafte, jedoch anaphorische Klitikum gegeben, das, ebenso wie das passivisch-mediale si, ein arbiträres PRO als Antezedens haben muss: (5-115)
Unpersönliche Konstruktionen mit si
Typ
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
Unpersönlich
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[D,ϕ[3,sg,Genus],nom]}
Leere Kat.
PROarb
{∅
[θ],arb
[D,ϕ[pl,Genus],null]}
Dieses si kann nun in allen Konstruktionen erscheinen, d.h. grundsätzlich (bis auf die varietätenabhängigen Einschränkungen bei transitiven Konstruktionen, vgl. 3.5.3 und (5-119)) im Zusammenhang mit jedem bisher analysierten Typ von Pr° auftreten. In den zusammengesetzten Zeiten ergibt sich immer die Hilfsverbselektion von essere: (5-116) (5-117) (5-118) (5-119) (5-120)
Si è dormito bene qui. (intransitiv) Si è arrivati in ritardo. (unakkusativisch) Si è stati picchiati. (passivisch) %Si è raccolto le mele. (transitiv) La si è vista con un uomo strano. (transitiv)
Unpersönliches si kann also in Kombination mit folgenden lexikalischen Einträgen für den Pr-Kopf erscheinen: (5-121) Pr-Köpfe, mit denen unpersönliches si erscheinen kann (hier nur mit starkem T) Typ
Element
{phonolog. semantische
formale Merkmale}
intransitiv
Pr°
{∅
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,Vst,Tst,+perf]}
unakkusativisch
Pr°
{∅
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,Vst,Tst,Dst,+perf]}
passivisch
Pr°
{∅
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,Vst,Tst,Dst,+perf,null]}
%transitiv
Pr°
{∅
[Prädikation,T[E_R]]
[Pr,Vst,Tst,D,akk,+perf]}
Die unakkusativische und die passivische Derivation mit der Hilfsverbselektion von essere sind leicht durch das starke [D]-Merkmal in Pr° zu erklären, vgl. die folgende Derivation:
174 (5-122) Si è arrivati in ritardo. PrP Spec k 'PROarb '
Pr' VP
Pr°
D θ
ϕ null
Pr°
D° k 'si ' D nom θana
Aux° 'è'
Spec
V' V°
Pr°
V agr-ϕ T[E_R] Dst +finit
PP 'in ritardo'
V° Pr° 'arrivati' Pr Vst Tst Dst V +perf con-ϕ +perf -finit
Für ein passivisches Pr°, das kein starkes [T]-Merkmal trägt, wurde bisher angenommen, dass das passivische Hilfsverb erst unter T°, ähnlich wie bei den Kopulativkonstruktionen, in die Derivation gelangt. Bei einem Pr° mit starkem [T]-Merkmal dagegen wird bereits an Pr° das Hilfsverb stato durch Merge eingesetzt, um das starke [T]-Merkmal abzugleichen. Außerdem ist beim Passiv das externe Argument ebenfalls durch ein arbiträres PRO wiedergegeben. Es ergibt sich also folgende Derivation: (5-123)
Si è stati picchiati. PrP Pr'
Spec 'PROarbk' Spec
Pr'
'PROarb' D θ ϕ null
D θ ϕ null
Pr° D° 'sik' D nom θana
VP Spec
Pr° Aux°
V°
Pr°
'stati' T con-ϕ Dst +perf -finit ag
V° 'picchiati' V con-ϕ +perf -finit
V'
Pr° Pr Vst Tst Dst null +perf ag
XP
175 Hier sind also beide Argumentpositionen des Verbs picchiare durch voneinander unabhängige arbiträre Referenzen ausgedrückt. Das arbiträre PRO in interner Argumentposition in [Spec, V] kann, wie im nicht unpersönlichen Passiv, zu einem durch eine agentive PP kontrollierten PRO werden (vgl. (5-124)): (5-124) (5-125)
a. b. a. b.
I bambini sono stati picchiati. I bambini sono stati picchiati dalla maestra. Si è stati picchiati. Si è stati picchiati dalla maestra.
Das mit si koindizierte arbiträre PRO kann nicht kontrolliert werden.54 Die vollständige Derivation mit finitem Hilfsverb von (5-125) lässt sich nun folgendermaßen darstellen: (5-126)
Si è stati picchiati. (Entwurf) TP
Spec k 'PROarb '
T'
PrP
T° D θ ϕ null
D° k 'si '
D nom θana
Spec
T° Aux° 'è' V agr-ϕ T[E,R] Dst +finit Aux° 'stati'
T con-ϕ Dst +perf -finit ag
T° Pr°
Spec 'PROarb' T°
Pr° V° 'picchiati' V con-ϕ +perf -finit
Pr°
Pr'
T Vst Pst Dst nom +finit
D θ ϕ null
Pr' VP
Pr° D°
Spec
Pr° Pr°
Aux° V°
V' V°
XP
Pr° Pr Vst Tst Dst null +perf ag
Zumindest ungewöhnlich, wenn nicht problematisch, erscheint hier v.a. die Tatsache, dass nach der Bewegung des Pr°-Komplexes ein weiteres Kopfelement, hier das Hilfsverb è, zwischen bereits bestehende Inkorporationsstrukturen durch Merge eingesetzt werden kann. Eine Lösung dieses Problems kann in der Alternative aus Kapitel 3 (vgl. 3.5.3) gesehen –––––—– 54
Es sei denn, man betrachtet Beispiele aus den italienischen Varietäten, hier dem Toskanischen, wo noi in Zusammenhang mit unpersönlichem si auftaucht (vgl. GGIC 1988, I: 110–111): (i) Noi si va al cinema. Hier kann nicht geklärt werden, ob sich ein PRO in der Derivation befindet, das durch noi kontrolliert wird, oder ob es sich um eine grundsätzlich andere Konstruktion mit si handelt.
176 werden, bei der angenommen wird, dass das unpersönliche si erst unter T° eingesetzt wird, um dort den Nominativ abzugleichen. Dadurch erscheint es als letztes (overtes) Element in der Derivation, wodurch die Anordnung der Elemente unter T° plausibler wird: (5-127) Si è stati picchiati. (2. Fassung)55 TP Spec k 'PROarb '
T' PrP
T°
D θ ϕ null
D° k 'si ' D nom θana
T°
Spec
Aux°
T°
Spec
Pr'
'PROarb'
'è' V agr-ϕ T[E,R] Dst +finit
Pr'
Pr° Aux° 'stati'
T con-ϕ Dst +perf -finit ag
T° Pr°
V° 'picchiati' V con-ϕ +perf -finit
Pr°
T Vst Dst Prst nom +finit
D θ ϕ null
VP
Pr° Pr°
Aux°
V°
V'
Spec
Pr°
V°
XP
Pr Vst Tst Dst null +perf ag
Das unpersönliche si muss also unter finitem T° eingesetzt werden, um den Nominativkasus abzugleichen, den PRO nicht abgleichen kann.56 Schwerer zu erklären sind nun die transitiven Konstruktionen in (5-119) und (5-120) sowie die intransitive Konstruktion in (5-116). Problematisch ist hier vor allem die Hilfsverbselektion, da bei transitiven und intransitiven unergativen Verben grundsätzlich kein starkes [D]-Merkmal in Pr° angenommen werden kann und dennoch essere erscheint. Möchte man die bisherigen Annahmen hinsichtlich der Einfügeposition von unpersönlichem si etwa auf das Beispiel (5-116) anwenden, ergibt sich die folgende Derivation:
–––––—– 55 56
Zur Frage, ob die Bewegung von PRO in [Spec, T] nötig ist, vgl. 3.5.3. Sehr schön lassen sich hier die unterschiedlichen Kongruenzphänomene erkennen: Der Con-ϕAbgleich unter Pr° zwischen PROarb und dem Partizip ergibt aufgrund der ϕ-Merkmalszusammensetzung des angehobenen PROarb Pluralendungen, der Agr-ϕ-Abgleich unter T° ergibt aufgrund fehlender ϕ-Merkmale in si die Default-Form des finiten Verbs im Singular.
177 (5-128) Si è dormito bene. TP Spec 'PROarbk'
T' T°
D θ ϕ null
PrP
D°
T°
Spec
Pr'
k
'si' ' D nom θana
Pr° Aux° 'è'
V agr-ϕ T[E_R] Dst +finit
Pr°
V° 'dormito'
Pr°
T° T Vst Dst Prst nom +finit
V con-ϕ +perf -finit
Pr° Aux°
VP Spec
Pr°
V°
Pr° Pr Vst Tst +perf
V'
V°
XP 'bene'
Das starke [T]-Merkmal in Pr° erklärt zwar das Einsetzen eines Hilfsverbs durch Merge in die Adjunktposition von Pr°, nicht aber die Selektion von essere: Nirgendwo unter Pr° befindet sich ein starkes [D]-Merkmal. PROarb selbst in [Spec, Pr] hat zwar ein [D]-Merkmal, aber als lexikalische Kategorie niemals ein starkes. Man könnte zwar annehmen, dass dieses [D]-Merkmal von PROarb ein besonderes [D]-Merkmal darstellt, dadurch dass es die Eigenschaft hat, unpersönlich zu sein. Diese Eigenschaft könnte die Hilfsverbselektion von essere begünstigen.57 Allerdings gibt es keine derartigen Erscheinungen, wenn PROarb in infiniten Sätzen auftritt. Die Hilfsverbselektion ist dort von den normalen Faktoren der Argumentstruktur des jeweiligen Verbs bestimmt und keinesfalls immer essere, vgl.: (5-129) a. b.
È bello PROarb avere dormito così bene. *È bello PROarb essere dormito così bene.
Daher kann die Selektion von essere in (5-128) nicht von dem arbiträren PRO abhängen, sondern muss allein durch das unpersönliche Klitikum si bestimmt sein. Das Hilfsverb allerdings wird bereits unter Pr° durch Merge eingefügt, das unpersönliche si nach dem neueren Alternativvorschlag von (5-127) erst unter T°. Wie kann also dieses Dilemma gelöst werden? Bei unpersönlichem si erscheint, unabhängig von der Argumentstruktur des Verbs, immer essere. Die einzigen Fälle, in denen die Konstruktion varietätenbedingt als ungramma–––––—– 57
Im Sardischen weisen aber gerade unpersönliche Konstruktionen die Hilfsverbselektion mit HABEN auf (vgl. 7.2.2).
178 tisch empfunden wird, sind Beispiele vom Typ (5-119), d.h. diejenigen, in denen eine overte DP in [Spec, V] erscheint. Vielleicht kann unpersönliches si in intransitiven unergativen Konstruktionen aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem reflexiven si neu interpretiert werden, und zwar als Träger eines starken [D]-Merkmals, sodass sich die Hilfsverbselektion essere ergibt. Gerade bei nicht-unakkusativischen intransitiven Verben ist [Spec, V] immer leer, da – betrachtet man diese Verben als verkappte transitive Verben – das eigentlich dort einzusetzende Argument bereits in V° lexikalisch inkorporiert worden ist (vgl. 3.2 sowie Hale & Keyser 1993b), vgl. die (hier wiederholten) folgenden Sätze: (5-130) a. b.
Ho fatto dei sogni/un sogno. Ho sognato.
Eine nicht-inkorporierte Version des Satzes würde ebenso wie die transitiven Beispiele vom Typ (5-119) ein nicht für alle SprecherInnen als grammatisch empfundenes Ergebnis liefern, vgl. den folgenden Beispielsatz: (5-131) %Si è fatto dei sogni.
Eine passivisch-mediale Konstruktion mit der Interpretation des Klitikums si als reflexivem, mit PROarb koindizierten Element dagegen ergibt als grammatisch akzeptierte Ergebnisse, vgl. die folgende Derivation: (5-132) a. b.
Si sono fatti dei sogni. Si è fatto un sogno.
Die Hilfsverbselektion essere bei unpersönlichen Konstruktionen mit intransitiven Verben könnte also mit Hilfe des passivisch-medialen si der transitiven Konstruktionen in Kombination mit der Annahme ursprünglicher Transitivität eben dieser intransitiven Verben erklärt werden. Somit würde man aus (5-132)b den folgenden Satz (5-133) ableiten:
179 (5-133)
Si è sognato. TP
Spec '(un sogno)'
T' PrP
T° D θ
Pr°
T° T Prst Vst Dst nom +finit
Pr°
D° 'si' Aux° 'è'
Pr° V° 'sognato'
Pr°
Spec
Pr'
Spec
Pr'
'PROarb' D θ ϕ null
VP
Pr° D°
Aux° Dst θana nom
Spec
Pr°
V agr-ϕ T[E_R] Dst +finit
V°
Pr°
V°
V'
XP
Pr° Pr Vst Tst +perf
V con-ϕ +perf -finit
Das unpersönliche si wird interpretatorisch durch ein starkes [D]-Merkmal erweitert, welches die Anhebung des nicht mehr sichtbaren Arguments zur Folge hat. Das starke D-Element kann nur mit dem Hilfsverb essere kompatibel sein (anderenfalls würde die Derivation scheitern). Mit dem nicht mehr sichtbaren, da lexikalisch inkorporierten Element kann es keinen ϕ-Merkmals-Abgleich geben bzw. solch ein morphologisch inkorporiertes Element kann höchstens Default-ϕ-Merkmalsabgleich (nämlich [sg,m]) auslösen. Außerdem braucht dieses inkorporierte Element keinen Kasus mehr. Overt transitive Konstruktionen mit phonologisch realisierter DP dagegen können unmöglich als passivisch-medial neu interpretiert werden, da sich das Objekt ja offensichtlich in seiner Basisposition befindet. Daher sind Beispiele vom Typ (5-119) nur varietätenbedingt akzeptabel. Die Version mit Akkusativ-Klitikum allerdings (vgl. (5-120)) ist für alle SprecherInnen grammatisch, da sich keine störende overte DP mehr in [Spec, V] befindet (nur das leere Objekt-pro, vgl. 3.5.1). Mit diesen Überlegungen, die weiterer Ausarbeitung bedürfen, soll die Behandlung der Hilfsverbkonstruktionen mit unpersönlichem si abgeschlossen sein.
180
5.5
Zusammenfassung
Das vorliegende Kapitel stellt einen ausführlichen Anwendungsversuch des MP auf Hilfsverbkonstruktionen anhand von Daten des Italienischen dar. Untersucht wurden die Hilfsverben essere und avere, die zur Bildung der zusammengesetzten Zeiten verwendet werden. Außerdem wurde der Gebrauch von essere in Kopulativ- und Passivkonstruktionen einer detaillierten Betrachtung unterzogen: In diesen Zusammenhang fällt auch die Verwendung der partizipialen Suppletivform stato. Zusammenfassend konnten die folgenden Ergebnisse erzielt werden: − −
−
−
−
−
Die Kopula essere erscheint nur in Zusammenhang mit nicht-verbalen Prädikationen. Da T° in den hier behandelten Sprachen verbalen Charakter hat, muss die Kopula immer dann als expletives Element in der Derivation erscheinen, wenn diese eine TP enthält. In den zusammengesetzten Zeiten des Italienischen gibt es Phänomene der Hilfsverbselektion. Diese ist von der Argumentstruktur der verbalen PrP abhängig. Nur ein starkes [T]Merkmal in Pr° bewirkt das Erscheinen eines temporalen Hilfsverbs, das unter Pr° adjungiert wird. Dabei muss ein mit der Merkmalsstruktur des jeweiligen Pr° kompatibles Hilfsverb ausgewählt werden: Ein Pr° mit starkem [D]-Merkmal führt zur Hilfsverbselektion von essere, ein Pr° mit einfachem [D]-Merkmal und Akkusativ bzw. keinem derartigen Merkmal führt zur Hilfsverbselektion von avere. Das temporale Hilfsverb essere ist also in seiner Merkmalszusammensetzung keinesfalls identisch mit dem kopulativen essere. Bei Sprachen ohne Hilfsverbselektion kann angenommen werden, dass das temporale Hilfsverb genau wie die Kopula direkt unter T° durch Merge eingefügt wird, um die entsprechenden Merkmale ([T], [V]) abzugleichen. Ähnliches dürfte für die modalen und negierten modalen Auxiliarverben des Englischen gelten, die ihrerseits die entsprechenden Merkmale in T° ([M], [neg] etc.) überprüfen. Ebenso wie in Kopulativkonstruktionen erscheint im Italienischen auch in Passivkonstruktionen immer das Hilfsverb essere. Daher wird angenommen, dass es sich hier um denselben Lexikoneintrag handelt. Das passivische Pr° selbst ist, wie das unakkusativische Pr°, leer und zeichnet sich durch ein starkes [D]-Merkmal und ein nicht-vorhandenes Akkusativmerkmal aus. Allerdings unterscheiden sich die Passivkonstruktionen von den unakkusativischen Verbkonstruktionen dadurch, dass sie ein implizites Subjekt haben. Dieses implizite Subjekt besteht in einem arbiträren PRO, das bei Bedarf durch Adjunktion einer PP kontrolliert und dadurch reaktiviert werden kann. Das passivische Pr° trägt also im Gegensatz zum unakkusativischen Pr° ein mit PRO abzugleichendes Nullkasusmerkmal. Die Hilfsverbselektion bei den Konstruktionen mit si ergibt sich automatisch aus der Merkmalszusammensetzung dieses klitischen Elements: Reflexivkonstruktionen beinhalten immer ein starkes [D]-Merkmal, woraus die Hilfsverbselektion von essere resultieren muss. Passivisch-mediales si bringt ebenfalls ein starkes [D]-Merkmal in die Derivation, sodass essere gewählt wird. Bei unpersönlichem si erklärt sich die Hilfsverbselektion von essere in den transitiven und unakkusativischen Konstruktionen auf die gewohnte Art und Weise. Problematisch ist nur die intransitive unergative Konstruktion, die eigentlich kein starkes [D]Merkmal aufweist und trotzdem essere als Hilfsverb aufweist. Diese Hilfsverbselektion kann nur erklärt werden, wenn man eine Neuinterpretation des unpersönlichen si annimmt: Si könnte als Träger eines starken [D]-Merkmals gelesen werden, welcher die Anhebung des bei intransitiven Verben vermuteten impliziten direkten Objekts bewirkt. Die Suppletivform stato, die als Sonderform in Zusammenhang mit Passiv- und Kopulativkonstruktionen in Erscheinung tritt, kann als das einzige Partizip gelten, das nicht T-los ist.
181 Stato ist außerdem (möglicherweise wegen einer agentiven θ-Rolle) inkompatibel mit einem unakkusativischen Pr°. Stato muss genau dann in die Derivation gelangen, wenn ein passivisches oder ein nicht-verbales Pr° ein starkes [T]-Merkmal trägt. Stato wird also, wie die temporalen Hilfsverben essere und avere, unter Pr° durch Merge in die Derivation gebracht.
Die hier erzielten Ergebnisse werden in den folgenden beiden Kapiteln einzelsprachlich ausgearbeitet und erweitert werden: Das 6. Kapitel geht auf weitere Idiosynkrasien italienischer Hilfsverbkonstruktionen ein, während das 7. Kapitel die Besonderheiten der sardischen Hilfsverbkonstruktionen untersuchen und zusammenfassen wird.
6
Hilfsverben im Italienischen: Besonderheiten
6.1
Einführung
In diesem einzelsprachlichen Kapitel werden Besonderheiten der italienischen Hilfsverbkonstruktionen betrachtet. Es wird von dem so genannten Standarditalienischen ausgegangen, wobei dies mit dem Bewusstsein geschieht, dass es sich dabei um eine nicht immer eindeutige Erscheinung handelt, die sich erst in der jüngeren Sprachgeschichte des Italienischen manifestiert hat (vgl. De Mauro 1993). Wenn es der Kontext erfordert, wird auch auf regionale Variation eingegangen, so wie es auch die GGIC handhabt.1 Bisher wurden für das Italienische in Kapitel 5 nur die Hilfsverbformen von essere und avere berücksichtigt. Im Folgenden sollen nun weitere Besonderheiten des Italienischen untersucht werden, die mit den Eigenschaften und der Position vom Hilfsverben zusammenhängen, zunächst die Partizipialkongruenz bei den zusammengesetzten Zeiten mit avere und essere (vgl. 6.2). Darüber hinaus wird auf Idiosynkrasien in der Passivbildung mit andare und venire eingegangen werden (vgl. 6.3). Einen großen Untersuchungsraum stellen Verben dar, die Restrukturierungsphänomene aufweisen und deshalb in die vorliegende Behandlung von Hilfsverben eingeschlossen worden sind. Gerade Restrukturierungsphänomene stellen Stufen der synchronen Zweideutigkeit im Sinne des Heineschen Überlappungsmodells dar (vgl. Heine 1993 sowie 1.4.4): Ein und derselben lautlichen Repräsentation können hier nämlich unterschiedliche strukturelle Interpretationen zugeordnet werden. Als beispielhaft für solche Phänomene werden die Modalverben volere, potere und dovere besprochen (vgl. 6.4). Einen weiteren Fall analytischer Formen, der zu untersuchen ist, stellen die Gerundialkonstruktionen, v.a. mit dem Hilfsverb stare, dar (vgl. 6.5).
–––––—– 1
Im Falle der Hilfsverben steht man vor dem Problem, dass eigentlich so gut wie jeder Text als geeignete Datenquelle für die Behandlung des Themas genutzt werden kann. Da es sich hier um eine Arbeit vornehmlich synchroner Natur handelt, wurde auf die Auswertung von Datenquellen zu (literarischen) Primärtexten, wie etwa LIZ (1993), verzichtet. Dafür wurde bei kritischen Konstruktionen und in und Zweifelsfällen auf individuelle Sprecherbefragung zurückgegriffen. Ein alle Daten umfassender Fragebogen, der eine statistisch relevante Menge an Sprechern und Sprecherinnen erreichen könnte, ist im Falle der die Hilfsverben betreffenden Phänomene eigentlich nicht zu leisten. Alle hier angeführten italienischen Beispiele, zu denen nicht eindeutig eine Quelle genannt wird, sind konstruiert und muttersprachlicher Urteilskraft vorgelegt worden. Der größte Teil der relevanten Daten stammt aus der sprachwissenschaftlichen Sekundärliteratur, die Beispiele zu Hilfsverben in Hülle und Fülle zur Verfügung stellt, auch wenn diese nicht zentrales Thema der jeweiligen Abhandlung darstellen. Die GGIC bietet mit ihrer fundamentalen Darstellungsweise oft die Ausgangslage hinsichtlich der Daten der jeweils zu behandelnden Phänomene.
184
6.2
Avere und essere + Partizip: Partizipialkongruenz
Die zusammengesetzten Zeiten des Italienischen weisen in bestimmten Fällen das Phänomen der Partizipialkongruenz auf.2 Rizzi (1982) setzt, wie viele anderen auch, partizipiale Kongruenz in Numerus und Genus in Zusammenhang mit der Hilfsverbselektion. Loporcaro (1998) allerdings stellt nach ausführlichen Untersuchungen zur Partizipialkongruenz in den romanischen Sprachen fest, dass Hilfsverbselektion und Partizipialkongruenz nicht unbedingt direkt voneinander abhängen. Für das Italienische ist jedenfalls klar festzustellen, dass im Zusammenhang mit dem Hilfverb essere fast immer3 Partizipialkongruenz auftritt, vgl. die folgenden Beispiele: (6-1) (6-2) (6-3) (6-4)
Le rondinelle sono volate via. (temporales essere) Le mele sono state sbucciate. (passivisches essere) Maria si è mangiata una mela. (temporales essere in Reflexivkonstruktion) Maria si è guardata nello specchio. (temporales essere in Reflexivkonstruktion)
Diese Übereinstimmung ist aber insofern zufällig, als dass immer, wenn Pr° ein starkes [D]-Merkmal hat (wie in (6-1) und (6-2)) oder unter Pr° ein starkes [D]-Merkmal auftaucht (durch si in (6-3) und (6-4)), eine DP aus einer Argument-Position der VP nach [Spec, Pr] bewegt werden muss: Diese Bewegung löst im Italienischen unweigerlich den Abgleich der ϕ-Merkmale der DP mit einem Träger von Con-ϕ-Merkmalen (also mit einem Con-ϕ-fähigen Element) aus, hier dem Partizip. Steht nun ein starkes [D]-Merkmal unter dem Pr-Komplex, kann nur das Hilfsverb essere durch Merge in die Derivation gelangen, da avere nicht mit dem starken [D]-Merkmal kompatibel ist. Beide Phänomene, Hilfsverbselektion und Con-ϕ-Abgleich, sind hier durch das starke [D]-Merkmal in Pr° bedingt, hängen aber nicht selber direkt voneinander ab. Dass die Hilfsverbselektion unabhängig von der Partizipialkongruenz sein kann, sieht man auch an den folgenden Beispielen mit dem Hilfsverb avere: (6-5) (6-6)
Maria ha mangiato le mele. Maria le ha mangiate.
In beiden Beispielen befindet sich kein starkes [D]-Merkmal in dem Pr-Komplex. Daher kann das Hilfsverb avere durch Merge eingefügt werden. Dennoch aber ergibt sich in (6-6) Partizipialkongruenz. Das bedeutet, dass es eine Bewegung von einer unteren Position nach –––––—– 2 3
Zur Partizipialkongruenz im Italienischen und Französischen, vgl. auch Kayne (1985). Eine Ausnahme stellen die in 5.4.4 behandelten unpersönlichen Konstruktionen mit intransitiven Verben dar, vgl.: (i) Si è telefonato a Giovanni. (Burzio 1986: 58) (ii) Si è sognato. (iii) Si è arrivati in ritardo. (Burzio 1986: 58) In (i) und (ii) ist die Hilfsverbselektion zwar essere wegen der Uminterpretation des passivischmedialen si, das unsichtbare lexikalisch inkorporierte Argument der intransitiven Konstruktion kann aber höchstens Default-ϕ-Abgleich auslösen (vgl. dazu im Gegensatz (iii)). Partizipialkongruenz tritt außerdem auch in hilfsverblosen Konstruktionen auf, so z.B. den absoluten Partizipialkonstruktionen, und stellt daher ein von den Hilfsverben unabhängiges Thema dar.
185 Pr° (oder in den Pr-Komplex) gegeben haben muss, welche die Kongruenz auslöst, die aber nichts mit einem starken [D]-Merkmal in Pr° zu tun hat. Diese Bewegung hängt allein mit dem klitischen Personalpronomen zusammen: Wie bereits in 3.5.1 beschrieben, werden klitische Personalpronomina im Italienischen immer dann notwendigerweise durch Merge eingefügt, wenn es ein definites leeres direktes oder indirektes Objekt gibt. Ein leeres Objekt-pro wird sonst automatisch als indefinit interpretiert. Die Klitika, die das zur Interpretation notwendige Definitheitsmerkmal tragen, müssen mit dem pro, auf das sie sich beziehen, kongruieren. Durch den dadurch entstehenden Merkmalsabgleich wird auch die Partizipialkongruenz – Partizipien tragen Con-ϕ-Merkmale – ausgelöst. In diesem Zusammenhang ist auch zu beobachten, dass ein Klitikum die Partizipialkongruenz offensichtlich später auslöst als eine angehobene DP, die ihrerseits Con-ϕ-Merkmalsabgleich bewirkt hat, vgl. die folgenden beiden Beispiele: (6-7) (6-8)
Maria si è lavata le mani. (Kongruenz zwischen Subjekt und Partizip) Maria se le è lavate [le mani]. (Kongruenz zwischen Objektsklitikum und Partizip)
Es handelt sich hier um eine Kombination zweier unterschiedlicher Auslöser von Partizipialkongruenz: Die Kongruenz des angehobenen Subjekts mit dem Partizip in (6-7) wird jedoch durch den Con-ϕ-Merkmalsabgleich des Klitikums in (6-8) überschrieben.
6.3
Weitere Hilfsverben + Partizip: Die Passivkonstruktionen
In 5.3 wurde bereits die übliche Form des Passivs am Beispiel des Italienischen minimalistisch interpretiert. Im Folgenden sollen weitere dem Italienischen eigene Hilfsverbkonstruktionen untersucht werden, die zur Passivbildung herangezogen werden, so die Ersatzbildung mit venire + Partizip (vgl. 6.3.1), das deontische und das kontinuierlich-graduelle Passiv mit andare + Partizip (vgl. 6.3.2). Abschließend werden die Analyseergebnisse zusammengefasst (vgl. 6.3.3). 6.3.1 Venire + Partizip Bei der Analyse des allgemeinen Passivs in 5.3 wurde für das passivische Hilfsverb essere im Präsens die folgende Merkmalsstruktur angenommen: (6-9) Form è
Passiv: Hilfsverb essere {phonologische
semantische
formale Merkmale}
{/E/
∅
[V,T[S,R],agr-ϕ,+finit]}
Diese Form ist lautidentisch mit der für die zusammengesetzten Zeiten verwendeten Hilfsverbform essere, welche aber zu einem anderen Lexikoneintrag gehört (vgl. 5.2 und 5.3):
186 (6-10) Form è
Zusammengesetzte Zeiten: Hilfsverb essere {phonologische {/E/
semantische ∅
formale Merkmale} [V,T[E_R],agr-ϕ,Dst,+finit]}
Da beide mit Partizipialformen benutzt werden, kann diese Ambiguität insofern problematisch sein, als auch die zeitliche Interpretation beider Formen sehr unterschiedlich ist: (6-11) (6-12)
La nave è affondata (dall’ammiraglio). Passiv mit [S,R]•[R,E] La nave è affondata (un’ora fa). Perfekt mit [S,R]•[E_R]
Diese Ambiguität kann durch das Hilfsverb venire aufgelöst werden, vgl. das folgende Beispiel:4 (6-13)
La nave viene affondata.
Passiv mit [S,R]•[R,E]
Dieses Hilfsverb könnte also ebenso wie passivisches essere direkt unter T° durch Merge eingefügt werden. Allerdings sind nur bestimmte Zeitrelationen (sowohl mit imperfektivem als auch perfektivem Aspekt, vgl. dazu (6-15) vs. (6-18)) mit der Verwendung von venire als passivischem Hilfsverb kompatibel: (6-14) (6-15) (6-16) (6-17) (6-18)
Gianni viene picchiato. Gianni veniva picchiato. *Gianni è venuto picchiato. *Gianni era venuto picchiato. Gianni venne picchiato.
[S,R]•[R,E] [R_S]•[R,E] [S,R]•[E_R] [S_R]•[E_R] [R_S]•[R,E]
Venire scheint also nur die erste T-Relation durch eigene Tempusmorpheme kodieren zu können, während die zweite mit dem neutralen Default-Fall instantiiert wird. Mit der zweiten T-Relation des Wertes [E_R] ist venire nicht kompatibel.5 Aus der lexikalischen Bedeutung von venire ergibt sich zudem eine durativ-graduelle Bedeutungsnuance.6 Venire ist –––––—– 4 5
6
Zur Diachronie vgl. Squartini (2001). Dies mag an der Bedeutung des Hauptverbs venire liegen, das eine (zentripetale) Fortbewegung zum deiktischen (Sprecher)-Mittelpunkt, also S-Bezogenheit in der ersten T-Relation darstellt. Die Inkompatibilität eines ursprünglich unakkusativischen Verbs wie venire mit der Relation [E_R] spricht für die Tatsache, dass sich die durch [E,R] charakterisierten Formen von venire zu einem passivischen Hilfsverb entwickelt haben, die T-lose partizipiale Form venuto dagegen nicht. Es sei nochmals daran erinnert, dass Partizipien bis auf stato kein [T]-Merkmal haben, also auch kein starkes [T]-Merkmal in Pr° überprüfen können. Die Kombination venire und Partizip Perfekt, für das ich ein [+perf]-Merkmal annehme, muss ursprünglich eine prospektive Lesart gehabt haben: [R_E] mit [+perf]. Passivisches essere kann nicht in der Gerundialkonstruktion mit stare erscheinen (vgl. 6.5), das passivische venire dagegen schon (wenn auch selten, vgl. nach Squartini 1998: 107): (i) *Una lettera sta essendo scritta da Anna. (ii) Gli spazi lasciati liberi stanno rapidamente venendo occupati dalla concorrenza.
187 also nur in seinen nicht-zusammengesetzten Formen als passivisches Hilfsverb + Partizip grammatikalisiert. 6.3.2 Andare + Partizip Für die Passivkonstruktion mit andare + Partizip Perfekt gibt es im Italienischen zwei Typen: (6-19) (6-20)
Questa mela va mangiata. I risparmi andarono spesi per la casa.
Während (6-19) eine deontische Modalität in die Interpretation bringt, hat (6-20) keine solche modale Bedeutung.7 Interpretatorisch können sich auch hier Ambiguitäten ergeben: (6-21)
A Giovanna piacerebbe possedere tutti i soldi che andranno spesi per le prossime Olimpiadi. (=‘devono essere spesi’ oder ‘verranno spesi’) (GGIC 1991, II: 149)
Es gibt aber nun einen wichtigen Unterschied zu den Passivbildungen mit essere und venire. Es scheint bei andare + Part. Perf. nur in seltenen Fällen möglich zu sein, das implizite Subjekt, das durch die Passivbildung verdeckt worden ist (PROarb, vgl. 5.3), durch eine adjungierte PP mit dem P-Kopf da wieder zu aktivieren: (6-22)
Questo problema va meditato ?da tutti / da parte di tutti. (GGIC 1991, II: 150)8
Diese Tatsache muss mit der ursprünglichen Unakkusativität des hier als Hilfsverb gebrauchten andare zusammenhängen:9 Andare ist üblicherweise nicht mit der Vergabe einer Subjekt-θ-Rolle kompatibel. Das bedeutet also, dass der entsprechende Pr-Kopf, der zur Bildung der Vorläuferform dieses Konstruktionstyps des Passivs angenommen werden muss, keine θ-Rolle an seine Spezifikatorposition vergibt. Dementsprechend kann in der Derivation auch kein PROarb durch Merge an dieser Stelle eingefügt werden, da dieses eine θ-Rolle benötigen würde. In der Folge kann daher eine an Pr adjungierte PP nicht interpretiert werden:
–––––—– 7 8
9
Das Inventar der in der rein passivischen Konstruktion möglichen Vollverben ist lexikalisch beschränkt, vgl. GGIC (1988, I: 150). “Caratteristica di questo costrutto è la mancanza d’agente, che può essere espresso solo in casi molto marginali […]. L’assenza dell’agente fa sì che la perifrasi si presti ad un uso retorico di attenuazione, in cui la necessità di un certo intervento viene proposta come dato di fatto ineluttabile, piuttosto come un suggerimento rivolto ad un destinatore determinato. […] In questo modo, la perifrasi può servire ad esprimere un atto linguistico indiretto di commando.” Bei venire hat die ursprüngliche Unakkusativität dagegen keine Auswirkungen mehr auf die Reaktivierung eines agentiven Arguments. Bei diesem zentripetalen Bewegungsverb scheint sich also dieses Problem im Gegensatz zum zentrifugalen andare nicht zu stellen.
188 (6-23)
Unakkusativisches Verb andare
unmöglich wegen fehlender Möglichkeit der θ-Rollenvergabe (kein [ag]) D θ ϕ null
PrP
PROarb
Bewegung des internen Arguments wegen Dst
Pr'
Spec Pr° V°
Pr° Pr T Vst Dst
VP Spec internes Argument
V'
V° andare
XP
Anders als beim rein passivischen Gebrauch von andare, das also weder eine overte noch eine interpretatorisch implizite θ-Rolle erlaubt,10 lässt sich bei deontischem andare mit Partizip im heutigen Gebrauch ein agentives Subjekt weiterhin implizit mitverstehen, auch wenn es nicht durch eine PP mit P-Kopf da reaktiviert werden kann.11 Daher muss für die deontische Konstruktion ein passivisches Pr° angenommen werden. Dass der deontische Gebrauch von andare hilfsverbhaft ist, kann man auch daran erkennen, dass die Bildung analytischer Formen für die Zeitenbildung unmöglich ist (GGIC 1988, I: 92). Daher kann angenommen werden, dass andare genauso wie passivisches venire oder essere unter T° durch Merge eingefügt wird. Die deontische Lesart ergibt sich daraus, dass dieses T ein modales Merkmal [moddeo] für deontische Modalität trägt, das nur durch andare überprüft werden kann. Die vollständige Derivation für deontisches andare sieht also folgendermaßen aus:
–––––—– 10
11
Vgl. die ungrammatischen Beispiele: (i) *Il libro andò distrutto intenzionalmente. (ii) *Il libro andò distrutto per compiacere l’Inquisizione. (GGIC 1988, I: 92–93) (i) Questo libro va letto attentamente. (ii) Questo libro andrá distrutto per compiacere l’Inquisizione. (GGIC 1988, I: 93)
189 (6-24)
Questa mela va mangiata. TP
Spec 'questa mela'
T'
PrP
T° D nom θ ϕ
Aux° 'va'
T°
Pr° V T agr-ϕ V° moddeo 'mangiata' +finit V con-ϕ +perf -finit
T°
Pr°
Pr'
Spec
T Vst Prst Dst nom moddeo +finit
Spec 'PROarb' D null θ ϕ
Pr'
Pr°
V°
V P Pr° Pr Vst Dst null ag T
Spec
V'
V°
XP
Dass die implizite externe θ-Rolle nun nicht mehr reaktiviert werden kann,12 mag noch mit der Genese dieses Passivs aus dem unakkusativischen Vollverb andare zusammenhängen. Der nicht-deontische, rein passivische Gebrauch, der zudem auch in zusammengesetzten Zeiten möglich ist,13 muss hingegen wegen der fehlenden (impliziten) Interpretationsmöglichkeit des Subjekts anders interpretiert werden. Die Möglichkeit der Vergabe einer Subjekt-θ-Rolle hängt, wie bereits beschrieben, von den Eigenschaften des Pr° bzw. von Argumentkonstellationen innerhalb der PrP ab. Daher muss das nicht-deontische andare innerhalb der PrP durch Merge eingefügt werden. Es handelt sich also nicht um eine passivische, sondern um eine echt unakkusativische Konstruktion, die auch kein PROarb als impliziten Subjekt-θ-Rollenträger erlaubt. Überdies trägt die nicht-deontische Konstruktion mit andare auch eine aspektuellen Nuance, die die Prozesshaftigkeit bzw. Kontinuität des Ereignisses ausdrückt.14 Auch diese Eigenschaft kann (hier als [kont]) in Pr° kodiert sein. Ich möchte daher vorschlagen, dass nicht-deontisches andare anders als das deontische bereits unter Pr° durch Merge eingefügt wird, sodass sich folgende Struktur ergibt: –––––—– 12 13 14
Vgl. (i) *Questo libro va letto da tutti. (GGIC 1988, I: 93) Vgl. (i) Molti libri sono andati smarriti durante il trasloco. (GGIC 1988, I: 92) (ii) (Di) manoscritti, ne sono andati distrutti moltissimi. (GGIC 1988, I: 169) Vgl. GGIC (1988, I: 92): “una variante di essere con una sfumatura aspettuale in cui si sottolinea lo svolgimento di un processo.” Daher ist wohl auch das Trapassato Remoto ungrammatisch: (i) *Non appena il suo libro più prezioso fu andato smarrito, egli rimpianse di averlo prestato. (GGIC 1991, II: 152)
190 (6-25)
Le mele andarono vendute. TP
Spec 'Le mele'
T'
T°
PrP
Pr°
Aux° 'andarono'
T°
Pr°
V° 'vendute'
V con-ϕ +perf -finit
Pr°
T Vst Prst Dst nom +finit
Spec
Pr'
Pr°
Pr°
Aux° V kont T agr-ϕ +finit +perf
VP
V°
V'
Spec
Pr°
V°
XP
Pr T Vst Dst kont +perf
Bei dieser Hilfsverbkonstruktion mit andare befindet sich also ein unakkusativisches Pr° in der Derivation. Der Unterschied zu anderen unakkusativischen Konstruktionen besteht darin, dass Pr° eine weitere Eigenschaft hat, die nicht von den üblichen unakkusativischen Verben überprüft werden kann. Daher muss das eine kontinuative Ereignishaftigkeit kodierende andare in die Derivation gelangen, um den Merkmalsabgleich zu garantieren.15 6.3.3 Besondere Passivkonstruktionen: Zusammenfassung Die Merkmalsstrukturen der besonderen Passivkonstruktionen im Italienischen mit den Hilfsverben andare und venire lassen sich zusammenfassend folgendermaßen darstellen:
–––––—– 15
Es stellt sich hier natürlich die Frage, ob das [kont]-Merkmal in irgendeiner Weise als starkes (Aspekt?-)Merkmal dargestellt werden kann und dadurch sofort abgeglichen werden muss.
191 (6-26)
Hilfsverbkonstruktionen mit andare/venire + Partizip
Beispielsatz La mela viene mangiata (da Gianni).
formale Merkmale von T° [T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,+finit]
form. Merkmale von Pr° [Pr,T,Dst,Vst,null,ag]
La mela va mangiata (*da Gianni) intenzionalmente.
[T,Prst,Dst,Vst,T[S,R],nom,moddeo,+finit]
[Pr,T,Dst,Vst,null,ag]
Le mele andarono vendute (*da Gianni intenzionalmente).
[T,Pr,Dst,Vst,T[R_S],nom,+finit]
[Pr,T,Dst,Vst,kont,+perf]
Die hier notwendigerweise durch Merge eingefügten Hilfsverben venire und andare (für letzteres zwei Typen) lassen sich wie folgt in ihrer Merkmalsstruktur darstellen: (6-27)
Merkmalszusammensetzungen der passivischen Hilfsverben venire und andare
Form viene
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
/viEne/
∅
[V,T[S,R],agr-ϕ,+finit]
va
/va/
∅
[V,T[S,R],agr-ϕ,+finit,moddeo]
∅
[V,T[R_S]•[E,R],+perf,agr-ϕ,+finit,kont]
andarono /andarono/
Partizipialkongruenz ist in all diesen Konstruktionen immer als Nebenerscheinung des starken [D]-Merkmals und der daraus folgenden Bewegung zu sehen.
6.4
Hilfsverben + Infinitiv: Restrukturierungsverben
Verben, die Restrukturierungsphänomene aufweisen, sind aus zweierlei Gründen für die Thematik der Hilfsverben interessant: Einmal weil sie oft gerade aufgrund ihrer Restrukturierungseigenschaften selbst zu den Verben mit Hilfsverbstatus gezählt werden, andererseits weil sie im Rahmen der Restrukturierungserscheinungen ein besonderes Verhalten hinsichtlich der Hilfsverbselektion an den Tag legen. Im Folgenden sollen nur die modalen Hilfsverben dovere, potere und volere behandelt und die übrigen (aspektuellen) Restrukturierungsverben, wie etwa cominciare a, andare a nur am Rande erwähnt werden. Gerade die modalen Hilfsverben scheinen sprachübergreifend stets einen schillernden Status innezuhaben: Während die deutschen Modalverben weitgehend noch als modale Vollverben betrachtet werden, sind etwa die englischen Modalverben klar als Auxiliaries definiert (vgl. auch Heine 1993: 72–75). Die italienischen Modalverben haben aufgrund ihrer Restrukturierungseigenschaften einen Zwischenstatus, der im Folgenden genauer beleuchtet und schließlich im Rahmen des hier entwickelten Modells analysiert und interpretiert werden soll. Restrukturierung scheint aus einer offenbar zweiteiligen Derivation mit einem Matrixsatz und einem eingebetteten Satz eine, wenn auch komplexe, doch monoklausale Struktur
192 zu schaffen. Die Monoklausalität von restrukturierten Derivationen gilt als ein Erkennungsmerkmal für die Hilfsverbhaftigkeit der Restrukturierungsverben. Die wichtigsten Restrukturierungserscheinungen sind (vgl. u.a 2.2.2 zu Rizzi 1982 und 2.2.4 zu Burzio 1986): − − −
Clitic Climbing (ClCl): Das Anheben der klitischen Pronomina und deren Klitisierung an das Verb des übergeordneten Matrixsatzes. Hilfsverbselektion (Change of auxiliary – CA): Nicht mehr das Restrukturierungsverb, sondern das Hauptverb des eingebetteten Satzes bestimmt die Wahl des temporalen Hilfsverbs. Lange DP-Bewegung: Bei Konstruktionen mit dem passivisch-medialen si (vgl. 3.5.4 und 5.4.3) wird das interne Argument der VP des eingebetteten Satzes bis in die Subjektposition des Matrixsatzes angehoben, um dort Kasus abzugleichen. Dabei kommt es auch zu Agr-ϕMerkmalsabgleich.
Im Folgenden finden sich je zwei Beispielsätze, wobei die (a)-Beispiele die nicht restrukturierte Konstruktion darstellen: (6-28) (6-29) (6-30)
a. b. a. b. a. b.
Ho dovuto mangiarla [la mela]. L’ho dovuta mangiare [la mela]. Gianna ha potuto andarci. Gianna ci è potuta andare. Si vorrebbe vendere queste mele a buon prezzo. Queste mele si vorrebbero vendere a buon prezzo. (nach GGIC 1991, II: 515, 195a)
Das Anheben der Klitika und die Hilfsverbselektion sind dabei nicht beide in gleichem Maße von der Restrukturierung abhängig. So scheint es, dass diese zwar Voraussetzung sowohl für CA als auch für ClCl ist (vgl. (6-31)a); Restrukturierung ruft aber nicht immer obligatorisch ClCl hervor (vgl. (6-31)b): (6-31)
a. b.
*Gianna ci ha voluto andare. Gianna è voluta andarci. (vgl. Burzio 1986: 327)
Im Rahmen der Arbeiten der Generativen Grammatik gibt es nun verschiedene Lösungsvorschläge, die zum größten Teil schon in Kapitel 2 zusammenfassend dargestellt wurden und hier daher nur noch kurz als Stichpunkte aufgeführt werden: − Rizzi (1982): Die biklausale Konstruktion wird als monoklausale Struktur ‘rekonstruiert’, indem die Kombination Restrukturierungsverb + Infinitivkomplement als ein einziges komplexes Verb uminterpretiert wird; der eingebettete Satz F wird also zu V' (vgl. 2.2.2). − Burzio (1986): Restrukturierung ist VP-Bewegung aus dem eingebetteten Satz in den Matrixsatz (vgl. 2.2.4). − Benucci (1990):16 Statt Restrukturierung ist in der Diachronie eher das Phänomen der Destrukturierung zu beobachten. Monoklausale Strukturen im Altfranzösischen der Form Inf-ClV entwickeln sich über die beiden Möglichkeiten Cl-V-Inf/V-Cl-Inf im Mittelfranzösischen
–––––—– 16
Benuccis Arbeit von (1990) wurde bisher noch nicht dargestellt, da seine Arbeit speziell diachrone Daten aus den verschiedenen Sprachstufen des Französischen behandelt, die über den Rahmen der hier vorliegenden Untersuchungen weit hinausgehen.
193 zur heutigen fixen Form des modernen Frz. V-Cl-Inf, d.h. zu einer biklausalen (nicht mehr restrukturierbaren) Struktur (vgl. bes. Benucci 1990: 109). − Rutten (1991): Die so genannten Restrukturierungsverben können beides, Hilfs- oder Hauptverben, sein. Als Hilfsverben θ-markieren sie ihr TP-Komplement verbal, sodass die ursprünglich biklausale Domäne zu einer monoklausalen Tempus- und Bindungsdomäne erweitert wird (vgl. 2.3.4). − Roberts (1997): Restrukturierung ist overte Bewegung der eingebetteten T° nach VP/TP des Matrixsatzes mit Inkorporation; in Fällen der Kollision von zwei morphologisch selbständigen Knoten in einer Inkorporationsstruktur, kommt es zu Spell-Out des bewegten Elements in der letzten gültigen Position vor seiner Bewegung (vgl. 2.3.8). − Ledgeway (2000a): Verben, die (wie im Süditalienischen) obligatorisch restrukturieren, sind auf jeden Fall als Hilfsverben zu sehen. Sie werden minimalistisch als T° durch Merge eingefügt (vgl. die kurze Erwähnung in 2.5).
In allen Ansätzen spiegelt sich die grundsätzliche Frage wider, ob es sich bei den Matrixverben in restrukturierten Kontexten um andere Lexikoneinträge handelt als bei denen in nicht restrukturierten Kontexten. Wenn es sich um zwei verschiedene Einträge handelt, könnte man von zwei verschiedenen Sukategorisierungsrahmen ausgehen, oder – in einem stärker minimalistischen Ansatz – von verschiedenen Merkmalsstrukturen dieser Verbeinträge. Wenn es sich aber um ein und denselben Lexikoneintrag handelt, muss es andere Gründe syntaktischer oder gar pragmatischer Art geben (Merkmalsverteilungen in den funktionalen Kategorien), welche die Restrukturierung veranlassen, da ein und dieselbe Enumeration aus Ökonomiegründen (Vermeiden von nicht bedeutungsverändernden Redundanzen) nur eine einzige gültige Derivation ergeben sollte. In der vorliegenden Arbeit wird der letztere Ansatz vertreten. Wichtig ist nochmals festzustellen, dass restrukturierte Modalverbkonstruktionen als eine Konstituente betrachtet werden können (vgl. die Konstituententests (6-32) bis (6-34) nach Rizzi 1982: 9, 11, 6–7):17 (6-32) (6-33)
(6-34)
*È proprio mangiare che la voglio. (der eingebettete Satz kann nicht mehr als Spaltsatz (Cleft Sentence) extrahiert werden) *Piero ci dovrebbe – ma francamente non credo che vorrà – tornare. (zwischen Restrukturierungsverb und Vollverb kann keine Parenthese nach Right-NodeRaising stehen) *La montagna delle mele, arrivare alla quale Maria sarebbe voluta. (bei Restrukturierung kann es keine Wh-Bewegung aus der eingebetteten VP mehr geben)
Restrukturierte Kontexte bilden also tatsächlich eine monoklausale Struktur. Im Folgenden stellt sich also die Aufgabe, Restrukturierungsphänomene im Rahmen des hier vertretenen minimalistischen Ansatzes zu erklären. Die Resultate sollen Aufschluss darüber geben, ob –––––—– 17
Bestimmte Adverbien können zwischen Modalverb und Infinitiv treten. In nicht restrukturierten Kontexten allerdings können viel flexibler Elemente, ja sogar ganze Sätze zwischen Modalverb und eingebettetem Infinitiv eingefügt werden als in restrukturierten Kontexten, vgl.: (i) Posso, decisamente/in qualunque momento/oggi/domani/in un futuro prossimo o lontano aiutarti, se lo desideri. (Blücher 1973: 16–17) (ii) Posso, e tu lo sai benissimo, dirti molte cose su questo punto. (Blücher 1973: 17)
194 und in welchem Maße Restrukturierungsverben als Hilfsverben bezeichnet werden können. Da dovere und potere traditionell als Anhebungsverben eingeordnet werden (vgl. 6.4.1), volere aber klare Kontrollverbeigenschaften aufweist, soll letzterem aufgrund dieser Komplexität ein eigener Unterpunkt gewidmet werden (vgl. 6.4.2). Die Ergebnisse werden in 6.4.3 zusammengefasst. 6.4.1 Dovere und potere Traditionell werden dovere und potere also den Anhebungsverben zugeschrieben (vgl. z.B. Burzio 1986: 324). Als solche haben sie keine eigene Subjekt-θ-Rolle zu vergeben, sodass eine DP aus dem Komplementsatz heraus in die Subjektposition des Matrixsatzes bewegt werden kann, um Nominativ abzugleichen und das starke [D]-Merkmal in T° zu überprüfen. Allerdings kann bei diesen Modalverben zwischen unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der Modalität unterschieden werden, nämlich der deontischen und der epistemischen Lesart. Diese verschiedenen Lesarten haben dazu Anlass gegeben, diesen traditionell als Anhebungsverben angesehenen Modalverben doch auch eine Kontroll-Variante zuzusprechen. Da aber beide Interpretationsmöglichkeiten in restrukturiertem Kontext vorkommen können, kann eine mögliche strukturelle Erklärung des Restrukturierungsphänomens nicht in dem Raising- versus Kontroll-Verhalten dieser Verben zu finden sein: (6-35) (6-36)
Deve averlo ucciso./Lo deve aver ucciso. (epistemisch) (GGIC 1991, II: 518) Ci devo andare domani./Devo andarci domani. (deontisch)
Dovere und potere können, anders als volere oder andere Kontrollverben, etwa promettere, nie mit einer overten finiten C° und zwei unterschiedlichen θ-Rollenträgern als Subjekt in Matrixsatz und eingebettetem Satz erscheinen: (6-37) (6-38)
a. b. a. b. c.
Mario deve/può andare via. *Gianni deve/può che Mario vada via. Mario promette di/vuole andare via. Gianni promette che Mario andrà via. Gianni vuole che Mario vada via.
Bei den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten spielt wahrscheinlich der Skopus der Modalität eine Rolle. Es geht um die Frage, ob (in den Infinitivkonstruktionen) das Subjekt bei Interpretation auf der LF in seiner Position auf Spell-Out (nach dem SubjektRaising) oder in seiner rekonstruierten Position in der Subjektposition des eingebetteten Satzes (ti) interpretiert wird: (6-39)
Giulioi deve ti sbucciare le mele.
Des Weiteren ist zu beobachten, dass nur die epistemische, nicht aber die deontische Lesart einen zusammengesetzten Infinitiv erlaubt:
195 (6-40) (6-41) (6-42) (6-43)
*Giulio può aver mangiato la mela. *‘Giulio hat die Erlaubnis, den Apfel gegessen zu haben.’ Giulio può aver mangiato qualcosa. O almeno è stato in cucina. ‘Giulio mag wohl etwas gegessen haben.’ *Giulio deve aver sbucciato le mele. *‘Giulio hat die Verpflichtung, die Äpfel geschält zu haben.’ Giulio deve aver sbucciato delle mele. (Vedo le bucce nella spazzatura.) ‘Giulio muss wohl die Äpfel geschält haben.’
Das scheint sprachunabhängig auf semantische Restriktionen der deontischen Modalität zurückzuführen zu sein, wie aus der Ungrammatikalität der deutschen Übertragungen ersichtlich ist. Deontische Lesart ist automatisch prospektiv, d.h. mit der Interpretation der zweiten T-Relation als [R_E] verbunden.18 Der eingebettete Satz kann nur bei epistemischer Lesart eine progressive Konstruktion enthalten (welche ja einer GLEICH-Beziehung mit Koextension und fokussiertem Referenzmoment [∃R] entspricht, vgl. weiter hinten 6.5), was wiederum einer prospektiven Bedeutung widersprechen würde: (6-44) (6-45)
A quest’ora Paolo deve star viaggiando verso Madrid. (epistemisch) ??Adesso tu devi stare lavorando. (deontisch) (beide Beispiele aus Squartini 1998: 77)
Die Beispiele epistemischer Lesart mit zusammengesetztem Infinitiv sind ebenfalls in eindeutig restrukturiertem Kontext möglich (vgl. auch Rutten 1991):19 (6-46) (6-47)
Giulio la deve aver sbucciata [la mela]. (restrukturiert) Giulio le deve aver sbucciate [le mele]. (restrukturiert)
Dovere und potere sollen hier weiterhin als Raising-Verben behandelt werden, die keine Kontrollvariante erlauben. Unterschiedliche modale Lesarten kommen allein durch SkopusEinstellungen der Modalität hinsichtlich des Subjekts zustande (vgl. (6-39)), d.h. Argument-Rekonstruktion auf der LF (vgl. Wurmbrand & Bobalijk 1999), und können hier nicht weiter behandelt werden. Traditionell geht man davon aus, dass Raising-Verben eine TP subkategorisieren. Dafür spricht die Möglichkeit, dass zusammengesetzte Infinitive subkategorisiert werden können (auch im Infinitiv stehen die Hilfsverben letztendlich unter dem infinitivischen T). In restrukturiertem Kontext ist allerdings die Negation des eingebetteten Satzes nie erlaubt:20 (6-48) (6-49)
*Giulio ci è dovuto non tornare. (restrukturiert) Giulio non ci è dovuto tornare. (restrukturiert)
–––––—– 18 19
20
Sonderfälle stellen Matrixsätze im Konditional dar, vgl. Fn. 21. Die Hilfsverben des zusammengesetzten Infinitivs werden unter Pr° des eingebetteten Satzes durch Merge eingefügt, da dieses Pr° ein starkes [T]-Merkmal trägt, welches overt abgeglichen werden muss (vgl. 5.2). Zusammengesetzte Infinitive drücken Vorzeitigkeit aus, nämlich die zweite T-Relation [E_R], und werden wie alle Infinitive im Italienischen nach T° bewegt, um dort ein starkes [V]-Merkmal (und evtl. auch ein [T]-Merkmal) zu überprüfen. Auf das Zusammenspiel der Skopuseigenschaften von Negation und Modalität in Restrukturierungskontexten kann hier nicht ausfühlich eingegangen werden.
196 Wenn also ClCl aus dem eingebetteten Satz stattgefunden hat, muss die Negation als ebenfalls klitisches Element auch in den Matrixsatz wandern. Dies hat wohl damit zu tun, dass einmal verbundene Clitic Cluster im Italienischen nicht mehr getrennt werden dürfen. In restrukturiertem Kontext sind beide T-Projektionen nicht mehr unabhängig voneinander. Dies wird offensichtlich, wenn man versucht, beide TPs durch unterschiedliche Zeitadverbien zu modifizieren (vgl. (6-50) und (6-51)), was in restrukturierten Konstruktionen nicht möglich ist (vgl. (6-52)): (6-50) (6-51) (6-52)
Adesso voglio partire domani. (Blücher 1973: 16–17) Ieri ancora dovevo incontrarlo oggi. *Ieri ancora lo dovevo incontrare oggi.
In restrukturiertem Kontext scheint der eingebettete Satz bei deontischer Lesart auch seine prospektive Zeitorganisation zu verlieren: Die Ereigniszeit der durch das Modalverb gegebenen Situation muss mit der durch das Vollverb gegebenen Situation gleichzeitig sein. Hier scheint Restrukturierung also eine Rolle zu spielen. Anders verhält es sich mit der Zeitorganisation bei epistemischer Lesart. Bei epistemischer Verwendung des Modalverbs muss die zweite Zeitrelation des Matrixsatzes immer eine temporale GLEICH-Beziehung darstellen und kann nie eine mit der Referenzzeit des Matrixsatzes inkompatible Referenzzeit haben: (6-53) (6-54)
Ha dovuto/dovette/aveva dovuto vederlo. (*epistemisch) *Ha dovuto/dovette/aveva dovuto averlo visto. (*epistemisch)
Die Beispiele (6-53) und (6-54) sind nie mit epistemischer Lesart möglich. Diese Tatsache ist völlig unabhängig von der Restrukturierung. Sie könnte mit dem partizipialen [+perf]Merkmal des Modalverbs zu tun haben, das ja im Italienischen eng mit der zweiten T-Relation [E_R] verbunden ist: Epistemische Lesart und Perfektivität des Modalverbs widersprechen sich. Zur Zeitorganisation bei epistemischer und deontischer Lesart lässt sich zusammenfassend folgende Tabelle aufstellen: (6-55)
Zeitorganisation epistemischer und deontischer Lesarten von Modalverben
Deontische Lesart Epistemische Lesart
Nicht restrukturiert prospektiv: [EMatrix_E]
Restrukturiert gleichzeitig:
[EMatrix,E]
gleichzeitig: vorzeitig:
gleichzeitig: vorzeitig:
[EMatrix,E] [E_EMatrix]
[EMatrix,E] [E_EMatrix]
Es gibt also auch keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Zeitorganisation des eingebetteten Satzes und Restrukturierung, es sei denn, man betrachtet den deontischen Gebrauch isoliert von dem epistemischen Gebrauch. Aus den bisher festgestellten Restriktionen ergibt sich allerdings, dass so gut wie nie zwei temporale Hilfsverben in einer Modalverbkonstruktion erscheinen können. Epistemischer Gebrauch schließt ein temporales
197 Hilfsverb im Matrixsatz aus, deontischer Gebrauch schließt ein temporales Hilfsverb im eingebetteten Satz aus, vgl. die folgenden Beispiele: 21 (6-56) (6-57)
*Gianna ha dovuto averlo visto. *Gianna è dovuta esserci tornata.
Für einen minimalistischen Lösungsansatz der Restrukturierungsphänomene sind die folgenden Punkte ausschlaggebend: Raising-Konstruktionen subkategorisieren eine TP. Beide Bindungsdomänen, auch die Tempusdomänen von Matrixsatz und eingebettetem Satz sind vereinigt (vgl. auch Roberts 1997); daher muss die gesamte eingebettete TP vom Matrixsatz aus zugänglich sein, ohne dass ein C° die beiden Domänen getrennt hält. Die Hilfsverbselektion der Konstruktion ist von der Argumentstruktur des eingebetteten Infinitivs bestimmt; daher muss der Infinitiv selbst für den Matrixsatz bzw. dessen Pr° zugänglich sein. Bei einer eingebetteten TP wird üblicherweise angenommen, dass sie als ein schweres (heavy) Element in die Komplementposition des subkategorisierenden Verbs durch Merge eingefügt wird (so wie CP-Komplemente auch), vgl. die folgende Darstellung: (6-58)
Einbettung einer TP als V-Komplement PrP Pr'
Spec Pr°
VP Spec
V' V°
TP
Obwohl es sich also um ein internes direktes Objekt handelt, steht die TP nicht in der dafür innerhalb der VP-Shell-Analyse nach Larson (1988) vorgesehenen [Spec, V] (vgl. 3.2). Ich möchte daher den folgenden Vorschlag machen: In restrukturierten Kontexten kann man annehmen, dass diese TP entweder aus ihrer Komplementposition nach [Spec, V] bewegt wird oder sogar gleich dort durch Merge eingesetzt wird. Im Falle einer Bewegung müsste man von einem starken Merkmal ausgehen, das durch die Bewegung überprüft werden –––––—– 21
Eine Ausnahme bilden hier für den deontischen Gebrauch nur Matrixsätze im Konditional, die eingebettete temporale Hilfsverbkonstruktionen erlauben. In restrukturiertem Kontext ist dies allerdings (auch für volere) nicht möglich: (i) Mario avrebbe dovuto averlo già finito. (GGIC 1991, II,518) (ii) Giovanni avrebbe voluto averlo già letto. (Burzio 1986: 373) (iii) *Mario lo avrebbe voluto aver già finito. (modifiziert nach GGIC 1991, II: 518) Der Spezialfall des Konditional in Zusammenhang mit Modalität kann hier nicht weiter behandelt werden.
198 kann. Allerdings müsste es sich hierbei um eine Spezifikator-Kopf-Konstellation handeln, sodass nur ein starkes Merkmal in V° in Frage käme. V° ist aber nun eindeutig keine funktionale, sondern eine lexikalische Kategorie und kann daher keine starken Merkmale haben. Daher ist die Annahme des direkten Merge der TP in [Spec, V] minimalistisch vorzuziehen. Ähnlich wie bei der Erscheinung des Dative-Shift im Englischen, bei dem dasselbe Argument einmal in der Komplementposition steht, wenn es präpositional ist, dann aber in der Spezifikatorposition, wenn es sich um eine reine DP handelt, kann man eine ähnliche Korrelation für die von den hier behandelten Modalverben selegierte TP annehmen. In nicht restrukturierten Kontexten befindet sich die TP in der Komplementposition wie eine der dativischen PP vergleichbare CP auch, in restrukturierten Kontexten befindet sie sich in [Spec, V] wie ein reines DP-Argument,22 vgl. die folgende Struktur: (6-59)
Merge einer TP als Spezifikator von V PrP Pr'
Spec Pr°
VP TP
V' V°
XP
Zunächst soll hier aber die nicht restrukturierte Modalverbkonstruktion betrachtet werden. Diese hat mit den Anhebungsverben dovere oder potere im Gesamtzusammenhang die folgende Derivationsstruktur:
–––––—– 22
In dieser Position könnte auch die von Roberts (1997) angenommene verbale θ-Rolle und v.a. der von ihm angenommene verbale Kasus (durch das modale Pr°) an TP vergeben werden (vgl. 2.3.8). Die Analyse beruft sich teilweise auf Benucci (1990), der aufgrund altfranzösischer Daten eben gerade den restrukturierten Kontext als den originären ansieht.
199 (6-60)
Gianna ha dovuto mangiarle [le mele]. CP
C°
TP Spec
T'
'Gianna' T° T°
Pr° Aux°
PrP
Pr°
VP
Pr° Pr°
Aux°
TPinf TP
V°
'ha' V° 'dovuto'
Pr°
V°
Pr°
Spec
T' T° V°
PrP T°
Spec
Pr'
'mangiare' VP
Pr° D° 'le' V°
V'
Spec
Pr° Pr°
V°
XP
Zu dem eingebetteten Infinitivsatz ist zunächst festzustellen, dass sich V° nach T°inf bewegt, nicht aber der das Klitikum einschließende Pr-Kopf. Dies ist in klausalen Infinitivsätzen die Regel, da sich dort das Klitikum immer in enklitischer Stellung nach dem Infinitiv befindet. Infinitivisches T° hat zwar overt ein [V]-Merkmal, aber nur verdeckt ein [Pr]Merkmal abzugleichen, welches von Pr° überprüft wird, um z.B., neben vielem anderen (Propositionsbildung, Quantifizierung etc.), die beiden T-Relationen kompositionell zusammenzuführen (vgl. 4.3). Das Subjekt des eingebetteten Satzes bewegt sich ebenfalls nach T°inf, um dort das starke [D]-Merkmal abzugleichen. Infinitivisches T° hat keinen Nominativkasus zu vergeben. Die Subjekt-DP bleibt nicht in [Spec, T] stehen, sondern bewegt sich weiter in den Matrixsatz bis in die dortige finite TP: Dort kann sie das starkes [D]-Merkmal überprüfen, wobei sie in der Spezifikator-Position von T° des Matrixsatzes schließlich auch Nominativ abgleichen kann. Man beachte, dass der Pr-Kopf des Matrixsatzes keine Spezifikator-Position projiziert, weil es keine Subjekt-θ-Rolle gibt. Auch könnte die Position [Spec, Pr] des Matrixsatzes nicht als Zwischenlandeposition für die aus dem eingebetteten Satz angehobene Subjekts-DP dienen. Sie hat kein starkes [D]-Merkmal, wie etwa bei unakkusativischen Konstruktionen, da es sonst zur Partizipialkongruenz kommen müsste, vgl.: (6-61)
*[TP Giannai [PrP ti ha dovuta [TP ti mangiar [PrP ti le]]]].
Die Zeitorganisation des eingebetteten Satzes bringt bei deontischer Lesart, wie im vorliegenden Fall, eine prospektive Lesart mit sich, nämlich [S,R]•[R_E]. Infinitivisches T° ist
200 (zumindest im Italienischen) immer mit der GLEICH-Beziehung als Wert der ersten TRelation instantiiert. Die morphologisch nicht sichtbare Prospektivität des eingebetteten PrKopfes ist durch den (deontisch-)modalen Matrixsatz bestimmt bzw. durch dessen Prädikat V°, welches eben nur eine bestimmte TP auswählt. Der Pr-Kopf des Matrixsatzes trägt ein starkes [T]-Merkmal (wegen der zweiten T-Relation [E_R]). Daraus folgt das Einfügen durch Merge eines damit kompatiblen Hilfsverbs mit [T]-Merkmal, welches sich dann weiter nach T° bewegt und dort durch Adjunktion in die geeignete Konstellation gelangt, das finite [V]-Merkmal überprüfen und mit der angehobenen Subjekts-DP die Agr-ϕ-Merkmale abgleichen zu können. Die nicht restrukturierte Struktur erlaubt zwar, da keine Barriere in Form einer CP vorhanden ist, die Anhebung des Subjekts, es kommt aber weder zu ClCl noch CA; die biklausale Struktur des komplexen Satzes bleibt deutlich erhalten. Anders sieht nun die Derivation in restrukturiertem Kontext aus: Unter der Annahme, dass die durch das Modalverb subkategorisierte TP nicht in der Komplementposition von V° durch Merge eingefügt wird, sondern als Argument des Modalverbs auch in [Spec, V] stehen kann, ergibt sich eine monoklausale Struktur. Das eingebettete Verb steht nun in seiner Basisposition in der linearen Abfolge vor dem modalen Matrixverb. Dabei wird die Zusatzannahme gemacht, dass in restrukturiertem Kontext durch das modale Matrixverb ein besonderes infinitivisches T° selegiert wird, welches die Eigenschaft hat, den gesamten Verbalkomplex Pr° des eingebetteten Satzes anzuziehen: Dies muss natürlich durch ein starkes Merkmal geschehen, nämlich ein starkes [Pr]-Merkmal, wie es von finitem T bereits bekannt ist. Dieses Merkmal also bewirkt, dass das Abgleichen der Merkmale zwischen T° und Pr° (Prädikation => Proposition, T1•T2) in restrukturiertem Kontext overt geschieht. Damit kann auf den eingebetteten Satz auch hinsichtlich seiner Zeitorganisation vom Matrixsatz aus zugegriffen werden. Die sich nun ergebende Baumstruktur sieht in einem ersten Derivationsschritt folgendermaßen aus:
201 (6-62)
Gianna ci è potuta andare. (Aufbauprozess) VP TP
V'
Spec 'Gianna'
T'
V° 'potuta' PrP
T° Pr° X° 'ci'
T° Pr°
V° 'andare'
Pr°
XP
T Vst Prst Dst -finit
Spec
Pr' Pr°
VP Pr°
X° V°
V'
Spec Pr°
V°
PP
Prinf
Das Verb hat sich im eingebetteten Satz mit dem gesamten Pr°-Komplex und somit auch dem klitischen Pronomen ci nach T° bewegt wie in finiten Sätzen auch. Ebenso befindet sich das Subjekt bereits in [Spec, T]. Wenn das modale Anhebungsverb in die Derivation gelangt, wird im restrukturierten Kontext die gesamte TP des eingebetteten Satzes in [Spec, V] des Modalverbs durch Merge eingefügt. Die Funktion des [Pr]-Merkmals in infinitivischem Restrukturierungs-T°, das die Bewegung bewirkt, dürfte mit der des verbalen Kasus nach Rutten (1991) gleichzusetzen sein (vgl. 2.3.4): Ein Argument in [Spec, V] braucht ihm zufolge Kasus, im vorliegenden Falle keinen nominalen, sondern verbalen. In Komplementposition, d.h. nicht restrukturiertem Kontext, muss ein eingebetteter Satz keinen verbalen Kasus bekommen.23 In restrukturiertem Kontext ist die Bewegung des gesamten Pr°-Komplexes Grundvoraussetzung für die Einflussnahme der Argumentstruktur des eingebetteten Verbs auf die Argumentstruktur des Matrixverbs. Dennoch muss aufgrund von Beispielen wie (6-31)b davon ausgegangen werden, dass das Klitikum optional in seiner Basisposition verbleiben kann, auch wenn sich der gesamte Pr°-Komplex bewegt hat (da CA nicht obligatorisch ClCl nach sich zieht). –––––—– 23
Dadurch ergibt sich hier tatsächlich eine Parallele zu den als Dative Shift bezeichneten Phänomenen: In [Spec, V] trägt das indirekte Objekt Dativ, in Komplementposition erhält es Kasus nicht direkt durch V°, sondern durch die Präposition.
202 Als nächstes wird nun ein weiterer Pr-Kopf in die Derivation gelangen, nämlich der Prädikationskopf des Matrixsatzes. Er wird nach Merge der Matrix-VP in seine Komplementposition ein einziges syntaktisches Objekt bilden, dessen Merkmalsstrukturen allerdings noch nicht abgeglichen sind. Ein verbales Pr° hat immer ein starkes [V]-Merkmal zu überprüfen, sodass Verbbewegung stattfinden muss. Betrachtet man nun aber die bisherige Derivation, ist das eingebettete Verb unter der eingebetteten T° von dem Matrix-Pr° aus ebenso ‘erreichbar’24 wie das modale Matrixverb selbst. Daher kann es sich als erstes dorthin bewegen und an Pr° adjungieren. Als nächstes möchte ich annehmen, dass ein modaler PrMatrix-Kopf auch ein modales Merkmal [M] hat, das mit dem passenden Modalverb abgeglichen wird. Unter der Annahme, dass es sich hier ebenfalls um ein starkes Merkmal handelt, kann sich so das modale Matrixverb dorthin bewegen. Die vorliegende Analyse geht also von M als Kategorie aus, da nur kategorielle Merkmale stark sein dürfen. Möchte man diese Annahme einer neuen Kategorie im Sinne des Minimalismus vermeiden, kann man aber ebenso ein spezialisiertes kategorielles [V]-Merkmal, etwa Vmod annehmen. Handelt es sich nun um eine Derivation in einer zusammengesetzten Zeit, dann hat der Pr-Kopf auch noch ein starkes [T]-Merkmal, das von keiner der beiden bisher an ihn adjungierten V-Köpfe überprüft werden kann. Deshalb muss schließlich zusätzlich ein Hilfsverb mit [T]-Merkmal durch direktes Merge eingefügt werden. Als nächstes wird dann das klitische Pronomen adjungiert, da Klitika, wenn sie aus ihrer Ursprungsposition bewegt wurden, an das nächste erreichbare finite Verb klitisieren (hier das Hilfsverb). Da sich aber auch das unakkusativische Verb andare innerhalb desselben modalen Pr°-Komplexes befindet, muss eine mit dem unakkusativischen Verb kompatible Konstellation gegeben sein. Daher kann man davon ausgehen, dass der Pr-Kopf selbst nur so beschaffen sein kann, dass er zu dem zu ihm angehobenen unakkusativischen Verb passt: Ein unakkusativisches Pr° muss ein starkes [D]-Merkmal haben. Daher projiziert es, sodass die Subjekts-DP aus [Spec, T] des eingebetteten Satzes in seine Spezifikatorposition angehoben werden kann, um das Merkmal abzugleichen. Dies wiederum hat zur Folge, dass es zur Kongruenz des Con-ϕ-Merkmale tragenden Partizips mit der angehobenen DP kommt. Ein solches unakkusativisches Pr° lässt nur essere als abgleichendes Hilfsverb für das starke [T]-Merkmal zu, was die Hilfsverbselektion erklärt. Im Einzelnen sieht das sich nun ergebende komplexe Pr° folgendermaßen aus:
–––––—– 24
Die TP in der Spezifikatorposition von VP stellt keine Barriere da.
203 (6-63)
Gianna ci è potuta andare. (Aufbauprozess) PrP
Spec 'Gianna'
Pr'
Pr Vst Tst Mst Dst
Pr°
5
Pr°
X° 'ci'
4
Aux° 'è'
3
VP
Spec
Pr°
V° 'potuta'
T'
Pr°
V° 'andare'
Vst T Dst +finit agr-ϕ
T°
Pr°
Pr°
X°
V°
XP
PrP
T°
Pr°
V°
2
V'
TP
Pr°
T Vst Prst Dst -finit
1
Die Abfolge des Abgleichs der Merkmale von Pr° des Matrixsatzes sei hier nochmals zusammenfassend wiederholt (vgl. die Nummerierung in (6-63)): 1. Das eingebettete V° überprüft das starke [V]-Merkmal von Pr°Matrix. 2. Das modale V° überprüft das starke [M]-Merkmal von Pr°Matrix. 3. Das kompatible Hilfsverb essere wird durch Merge eingefügt, um das starke [T]-Merkmal von Pr°Matrix zu überprüfen. 4. Das klitische Pronomen klitisiert proklitisch an die finite Verbform. 5. Die eingebettete Subjekts-DP überprüft das starke [D]-Merkmal von Pr°Matrix.
Schließlich kommt noch finites T° in die Derivation, welches aufgrund des starken [Pr]Merkmals (und des starken [V]-Merkmals) das Anheben des gesamten Pr°-Komplexes nach T° bewirkt sowie durch sein starkes [D]-Merkmal die Bewegung der Subjekt-DP nach [Spec, T] auslöst. Die gesamte Ableitung ergibt also die folgende Baumstruktur:
204 (6-64)
Gianna ci è potuta andare. (Gesamtderivation) CP TP
C° Spec 'Gianna'
T' PrP
T° Pr°
T° T Vst Prst Dst nom +finit
Spec
Pr' Pr° X° 'ci'
Pr° Aux° 'è'
Pr°
V° 'potuta'
VP
Pr Vst Tst Mst Dst
Spec
T'
V°
T°
Pr°
V° 'andare'
V'
TP
Pr°
Pr°
T° Pr°
X° V°
Pr°
XP
PrP
T Vst Prst Dst -finit
Spec
Pr' VP
Pr° X°
Spec
Pr° V°
Pr°
V' V°
XP
Restrukturierungsphänomene lassen sich also nicht als ein Prozess verstehen, der aus ein und derselben Ausgangsstruktur mit derselben Enumeration zwei verschiedene Derivationen bilden kann. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass es sich um zwei unterschiedliche Ausgangsstrukturen beim Aufbau der VP selbst handelt, die aufgrund der Merkmalszusammensetzung von T° und letztendlich auch der Enumeration zustande kommen. Diese Unterschiede lassen sich wie folgt zusammenfassen: − Eine restrukturierte TPinf wird nicht in die Komplement-, sondern – evtl. aus Gründen einer verbalen θ- und Kasus-Konstellation (nach Rutten 1991) – in die Spezifikatorposition der modalen Verbprojektion durch Merge eingefügt. − Restrukturiertes T°inf hat, trotzdem es infinit ist, ein starkes [Pr]-Merkmal. − Ein restrukturierter modaler Pr-KopfMatrix wird entsprechend der Kompatibilität zu T°inf, Pr° und schließlich V° des eingebetteten Satzes ausgewählt.
Für Lexikoneinträge der modalen Pr°-Köpfe des Matrixsatzes können also folgende Merkmalszusammensetzungen angenommen werden:
205 (6-65)
a.
Merkmalszusammensetzungen des modalen Pr°Matrix für dovere und potere25
Typ Pr°
{phonologische {Ø
semantische [T[E,R],moddeo]
formale Merkmale} [Pr,Mst,Vst,T]}
b.
Pr°
{Ø
[T[E,R],modepi]
[Pr,Mst,Vst,T]}
c.
Pr°
{Ø
[T[E,R],moddeo]
[Pr,Mst,Vst,T,D,akk]} [Pr,Mst,Vst,T,D,akk]}
d.
Pr°
{Ø
[T[E,R],modepi]
e.
Pr°
{Ø
[T[E,R],moddeo]
[Pr,Mst,Vst,T,Dst]}
f.
Pr°
{Ø
[T[E,R],modepi]
[Pr,Mst,Vst,T,Dst]}
g.
Pr°
{Ø
[T[E_R],moddeo]
[Pr,Mst,Vst,Tst]}
h.
Pr°
{Ø
[T[E_R],moddeo]
[Pr,Mst,Vst,Tst,D,akk]}
i.
Pr°
{Ø
[T[E_R],moddeo]
[Pr,Mst,Vst,Tst,Dst]}
Je nachdem, welcher der in der folgenden Tabelle (6-66) dargestellten infinitivischen T°Köpfe für den eingebetteten Satz in die Derivation kommt und zugleich in Abhängigkeit von der V°-Bewegung, muss der dementsprechende Matrix-Pr-Kopf aus Tabelle (6-65) aus der Enumeration geholt werden. Eine TP, die in [Spec, V] durch Merge eingefügt wird, muss einen Kopf vom Typ (6-66)a, c oder d haben, d.h. einen Kopf, der ein starkes [Pr]Merkmal trägt. Eine TP, die in die Komplementposition des modalen V° eingefügt wird, muss einen Kopf vom Typ (6-66)b, e oder f haben, d.h. einen Kopf, der kein starkes [Pr]Merkmal tragen darf, sodass der Pr°-Komplex samt seiner Klitika in der Basisposition verbleibt. (6-66)
a.
Merkmalszusammensetzungen der restrukturierten T°inf26
Typ
{phonolog semantische .
formale Merkmale}
Kontext
T°
{Ø
[T[EMatrix,R]•[R,E],moddeo]
[T,Vst,Prst,Dst,-finit]}
restrukturiert
b.
T°
{Ø
[T[EMatrix,R]•[R_E],moddeo]
[T,Vst,Pr,Dst,-finit]}
biklausal
c.
T°
{Ø
[T[EMatrix,R]•[R,E],modepi]
[T,Vst,Prst,Dst,-finit]}
restrukturiert
d.
T°
{Ø
[T[EMatrix,R]•[E_R],modepi]
[T,Vst,Prst,Dst,-finit]}
restrukturiert
e.
T°
{Ø
[T[EMatrix,R]•[R,E],modepi]
[T,Vst,Pr,Dst,-finit]}
biklausal
f.
T°
{Ø
[T[EMatrix,R]•[E_R],modepi]
[T,Vst,Pr,Dst,-finit]}
biklausal
Die Merkmalszusammensetzungen für dovere und potere können folgendermaßen dargestellt werden: –––––—– 25 26
Die hier nicht aufgeführten Kombinationen betreffen die durch die modale Lesart ausgeschlossenen zeitlichen Interpretationen (die epistemische Lesart ist inkompatibel mit T2[E_R]). Die nicht aufgeführten Optionen betreffen die Tatsache, dass im nicht restrukturierten Kontext bei deontischer Lesart die T2-Relation des eingebetteten Satzes eine andere Zeitinterpretation (nämlich [R_E]) hat als im restrukturierten Kontext (nämlich [R,E]).
206 (6-67)
Merkmalszusammensetzungen für dovere und potere
Form
{phonologische
semantische27
formale Merkmale}
dovere
{/dovere/
müssen[TPinf mit Prst]
[V,M]}
potere
{/potere/
dürfen[TPinf mit Prst]
[V,M]}
Der Zusammenhang zwischen Faktoren, die den Einfügungsort durch Merge bestimmen, und der Merkmalszusammensetzung der eingebetteten TP ist nicht eindeutig klar. Wahrscheinlich kann das selegierende Modalverb Einfluss auf den Einfügungsort nehmen, je nachdem, ob es restrukturiert oder nicht. Oder aber es wird durch modales Pr° im Zusammenhang mit dem [M]-Merkmal optional auch ein verbaler Abgleichsmechanismus möglich, etwa entsprechend dem von Rutten (1991) erdachten verbalen Kasusabgleich (mit vorheriger verbaler θ-Rollenvergabe), der nur möglich ist, wenn sich die eingebettete TP in der Spezifikatorposition befindet und ein starkes [Pr]-Merkmal hat. 6.4.2 Volere Das Modalverb volere ist insofern als Restrukturierungsverb komplexer, als es in infinitivischen Konstruktionen nicht zu den Anhebungsverben, sondern zu den Kontrollverben gehört.28 Dies bedeutet, dass der Matrixsatz eine eigene Subjekt-θ-Rolle enthält und das eingebettete Subjekt ein aus dem Matrixsatz (subjekt-)kontrolliertes PRO sein muss. Die Subjekt-θ-Rollen von Matrixsatz und eingebettetem Satz müssen kompatibel sein. Konstruktionen mit dovere und potere haben keine eigene Subjekt-θ-Rolle, erlauben daher auch das Anheben passivischer Subjekte. Konstruktionen mit volere dagegen haben eine agentive Subjekt-θ-Rolle, die mit einer nicht-agentiven DP gewöhnlich inkompatibel ist: (6-68) (6-69) (6-70) (6-71) (6-72) (6-73)
Le mele devono essere cotte. Le mele possono essere mangiate. *Le mele vogliono essere mangiate/cotte.29 Possono trovarsi nuovi riperti. (GGIC 1991, II: 516) Devono trovarsi nuovi riperti. *Vogliono trovarsi nuovi riperti.
In (6-70) und (6-73) ist das passivische PRO-Subjekt des eingebetteten Satzes jeweils inkompatibel mit einer agentiven θ-Rolle von volere.30 –––––—– 27 28
29 30
Mit Selektionsrahmen. In den italienischen Varietäten und auch im regionalen Italienisch sowie im Sardischen (vgl. 7.4) ist volere auch in anderen Konstruktionen (z.B. dem Passiv) in Gebrauch, vgl. u.a. Ledgeway (2000a: Kapitel 7). Mit einem animierten agentiven Subjekt darf der eingebettete Satz natürlich auch im Passiv stehen: (i) Mario gli vorrebbe essere presentato. (Burzio 1986: 357) Ausnahmen sind natürlich stilistisch markierte Sätze (vgl. GGIC 1991, II: 522, Bsp. 244). In jedem Fall kommt es bei Einbettung eines passivischen Infinitivs in volere-Konstruktionen zu
207 Volere kann im Gegensatz zu dovere und potere auch eine CP mit overter C° subkategorisieren, sobald die Subjektsidentität zwischen Matrixsatz und eingebettetem Satz nicht mehr gegeben ist (Obviation Effects - die unterschiedliche Referenz der Subjekte ist hier obligatorisch): (6-74) (6-75)
Voglio che tu vada a comprare un chilo di mele. *Deve/può che tu vada a comprare un chilo di mele.
Von Kontrollverben wird im Allgemeinen angenommen, dass sie eine CP subkategorisieren.31 Die CP kann auch durch das klitische neutrale Pronomen lo wiederaufgenommen werden; dies ist nicht nur bei overter C°, sondern auch in der (nicht restrukturierten) Infinitivkonstruktion möglich (anders als bei den eine TP subkategorisierenden Modalverben dovere und potere): (6-76) (6-77) (6-78) (6-79)
Voglio che tu vada a comprare un chilo di mele. => Lo voglio davvero. Voglio comprare un chilo di mele. => Lo voglio davvero. Devo comprare un chilo di mele. => *Lo devo davvero. Posso comprare un chilo di mele. => *Lo posso davvero.32
Des weiteren zeigt volere im Italienischen keinen Wechsel zwischen epistemischer und deontischer Lesart. Vielmehr ist seine Interpretation nie epistemisch, sondern immer volitiv (mit prospektiver Interpretation zumindest in den nicht restrukturierten Kontexten), sodass die zweite Zeitrelation T2 des eingebetteten Satzes nie die Bedeutung [E_R] haben kann:33 (6-80)
*Voglio aver comprato un chilo di mele.
Dass unter der eingebetteten T° sehr wohl ein Hilfsverb stehen kann, auch wenn es sich um eine deontische/volitive Lesart handelt, machen eingebettete Sätze im Passiv deutlich: (6-81)
Voglio essere trattato con rispetto.
–––––—–
31 32
33
einer dem Passiv entsprechenden Bedeutungsveränderung des Satzes im Gegensatz zu seinem nicht-passivischen Gegenstück. Bei dovere und potere ist dies nicht der Fall: (i) a. Il governo deve annientare la mafia. b. La mafia deve essere annientata dal governo. (ii) a. Il governo vuole annientare la mafia. b. La mafia vuole essere annientata dal governo. (GGIC 1991, II: 543) Rizzi allerdings geht noch davon aus, dass volitionale Verben wie preferire, desiderare, volere eine CP-lose Phrase subkategorisieren (Rizzi 1982: 96). Vgl. aber GGIC (1988, I: 579): (i) Carlo può vincere la gara. (ii) Lo può. Volere kann natürlich auch eine reine DP als Komplement haben: (iii) La ragazzina vuole una mela. Zum Ausnahmefall der Konditionalform des Matrixverbs, vgl. Fn. 21.
208 Ausschlaggebend ist offensichtlich nur die Zeitorganisation (und nicht eine fehlende TP, vgl. dagegen die ECM-Konstruktionen). Essere als passivisches Hilfsverb ist erlaubt, essere als temporales Hilfsverb in volitiver Lesart dagegen nicht:34 (6-82)
*Voglio essere arrivata.
Passivisches essere unter eingebettetem T° erlaubt offenbar Restrukturierung (vgl. (6-83)), im Matrixsatz erscheint aber immer avere als temporales Hilfsverb (vgl. (6-85) und (6-84)): (6-83) (6-84) (6-85)
Mario gli vorrebbe esser stato presentato. (Burzio 1986: 365) Mio zio gli ha voluto essere presentato. (GGIC 1991, II: 518) Ho/*sono voluto essere trattato con rispetto.
Passivisches essere wird erst unter T° durch Merge eingefügt, um das starke [V]-Merkmal von T° zu überprüfen (vgl. 5.3). Es hat also nicht direkt mit der Argumentstruktur des eingebetteten Satzes zu tun, genauso wie die ebenfalls erst unter T° eingefügte Kopula essere (vgl. 5.1). Passivisches und kopulatives essere sind nicht durch ein starkes [D]-Merkmal gekennzeichnet: Sie rufen daher keinen CA hervor, wenn sie unter Pr°Matrix bewegt werden, um dort das starke [V]-Merkmal zu überprüfen. Wichtig ist nun festzuhalten: Volere ist ein Kontrollverb, das nicht nur eine vollständige TP subkategorisiert, die der volitiven Lesart von volere entsprechen muss, sondern eine CP: Die zeitliche Kontrolle des eingebetteten Satzes geschieht über die Verankerung in C°. Für die nicht restrukturierte Derivation kann man also wieder den Normalfall annehmen, dass die kontrollierte CP in die Komplementposition des modalen V° durch Merge eingefügt wird; vgl. die folgende Darstellung:
–––––—– 34
Auch hier mit Ausnahme der Konstruktion des Modalverbs im Konditional, vgl. Fn. 21.
209 (6-86)
Gianni ha voluto mangiarle [le mele]. CP
C°
TP Spec
T'
'Gianni' PrP
T° Pr°
T°
Spec
Pr'
Pr°
Aux°
VP
Pr°
'ha' V°
Pr°
Pr°
Aux°
V°
CP
CPinf
'voluto' V°
Pr°
C° C T Spec null 'PRO' mod -finit ...
TP T' PrP
T°
V° T° 'mangiare'
Spec
Pr' VP
Pr° Pr°
D° 'le' V°
V'
Spec Pr°
V°
XP
C° gilt dabei in der traditionellen Generativen Grammatik als Barriere, die verhindert, dass PRO vom Matrixsatz aus regiert werden kann. Im MP spielt Rektion für das PRO-Theorem keine Rolle mehr; PRO ist vielmehr Träger eines Nullkasusmerkmals.35 Ich möchte daher annehmen, dass es C° ist, das in der Lage ist, verdeckt Nullkasus mit PRO abzugleichen und gleichzeitig damit auch den Kontrollmechanismus zu instantiieren. C° subkategorisiert eine ganz normale infinitivische TP, d.h. eine TP, deren Kopf T° kein starkes [Pr]-Merkmal hat, sodass nur V°, nicht der ganze Pr°-Komplex nach T° bewegt wird. Wie kommt aber nun die restrukturierte Derivation zustande? Im folgenden Satz muss ein Element mit [D]-Merkmal in Pr°Matrix angehoben sein worden, denn anders könnte man sich die Hilfsverbselektion und die Partizipialkongruenz nicht erklären: (6-87)
Gianna ci è voluta andare.
–––––—– 35
In manchen Arbeiten wird angenommen (z.B. Mensching 2000, nach Chomsky 1995: 120), dass infinitivisches T° Nullkasus vergeben kann. Allerdings muss man sich dann fragen, warum infinitivisches T° in Raising-Konstruktionen keinen Nulkasus vergibt bzw. warum diese Derivationen dann nicht scheitern, wenn der Nullkasus aufgrund einer fehlenden zu überprüfenden Nullkasusmerkmals in PRO nicht abgeglichen werden kann und bis auf der LF störend überlebt. Nicht-interpretierbarer Nullkasus in argumentellem PRO mag vielleicht unabgeglichen erlaubt sein (vgl. dazu PROarb bei unpersönlichem si in 5.4.4). Nicht-abgeglichener Kasus in einer funktionalen Kategorie dagegen sollte auf der LF nie erlaubt sein. In Chomsky (1998, 1999) wird diese Problematik geklärt: Nur infinites Kontroll-T darf Nullkasus haben.
210 Das einzige D-Element, das dafür in Frage kommt, ist das eingebettete PRO. Also kann sich PRO hier, anders als in Kontrollstrukturen mit CP-Barriere, aus der eingebetteten [Spec, T] herausbewegen. Dies könnte darauf schließen lassen, dass kein C-Kopf als Barriere bzw. kasusüberprüfendes Element die Bewegung blockiert. Somit kann angenommen werden, dass volere in restrukturierten Konstruktionen keine CP, sondern nur mehr eine TP subkategorisiert. Diese TP ist dann genau wieder so beschaffen wie in den restrukturierten Konstruktionen mit dovere und potere auch: Die TP kann in [Spec, V] des Modalverbs eingefügt werden und ihr Kopf trägt ein starkes [Pr]-Merkmal. Daraus ergibt sich die folgende Derivation: (6-88)
Gianna ci è voluta andare. PrP
Spec 'Gianna'
Pr' Spec 'PRO'
Pr' Pr° X°
VP Pr°
V'
TP
'ci'
Aux° 'è'
Pr° V° 'voluta'
Spec
T'
Pr° V° Pr° 'andare' Pr Vst Tst Mst Dst +perf
TPinf
T° Pr° X° V°
Pr°
XP
PrP T°
Pr°
V°
T Vst Prst Dst -finit
Spec
Pr' VP
Pr° X°
Pr° V°
Pr°
V'
Spec V°
XP
Der Unterschied zu den Anhebungsverben besteht hier zunächst nur darin, dass volere eine eigene Subjekt-DP hat, die erst in [Spec, Pr] des Matrixsatzes durch Merge eingefügt wird. Das kontrollierte Element PRO aus dem eingebetteten Satz hat sich aber schon davor nach [Spec, Pr] bewegt, um ein starkes [D]-Merkmal zu überprüfen. Dieses Merkmal könnte zwar auch billiger durch Merge als durch Move überprüft werden, allerdings nur von einem expletiven Element (da nur expletive Elemente direkt bei Merge auch Merkmale abgleichen können). Die noch in der Enumeration befindliche Subjekts-DP Gianna ist aber nicht expletiv, sodass zuerst PRO bewegt und dann Gianna durch Merge eingefügt wird. Hier haben wir es also wieder mit minimalistischen Mehrfachspezifikatoren einer Projektion zu tun. PRO ist von dem darüberliegenden Subjekt von volere kontrolliert, d.h. mit diesem in der Referenz koindiziert. Letzteres bewegt sich natürlich overt weiter nach [Spec, T], ge-
211 nauso wie sich der gesamte Pr°-Komplex nach T° bewegt. Als einzige Frage bleibt noch zu beantworten, wie denn nun PRO seinen Nullkasus abgleicht, da dieser ja offensichtlich nicht mehr von C° überprüft werden kann. Das einzige funktionale Element, das hier Kasus abgleichen könnte, ist der modale Pr-Kopf. Also kann man annehmen, dass ein modaler PrKopf mit volitionaler Bedeutung Nullkasus trägt, den es mit PRO in restrukturiertem Kontext in einer Spezifikator-Kopf-Beziehung abgleichen kann. In nicht restrukturiertem Kontext dagegen kann der Nullkasus durch verdeckte Bewegung nach C°, über welches die Subjekt-Kontrolle koordiniert wird, abgeglichen werden. Eine Merkmalsdarstellung des entsprechenden volitionalen Pr° für volere ist in der folgenden Tabelle gegeben: (6-89)
a.
Merkmalszusammensetzung für volitionales Pr°Matrix
Typ Pr°
{phonologische {Ø
semantische [T[E,R],modvol]
formale Merkmale} [Pr,Mst,Vst,T,D,null,ag]}
b.
Pr°
{Ø
[T[E,R],modvol]
[Pr,Mst, Vst,T,Dst,null,ag]}
c.
Pr°
{Ø
[T[E_R],modvol]
[Pr,Mst,Vst,Tst,D,null,ag]}
d.
Pr°
{Ø
[T[E_R],modvol]
[Pr,Mst,Vst,Tst,Dst,null,ag]}
Das Nullkasusmerkmal in volitionalem Pr° ist ein wichtiger Unterschied zu den Pr°-Köpfen der restrukturierten Raising-Konstruktionen, die sich nicht von ihren nicht restrukturierten Pendants unterscheiden müssen (das starke modale Merkmal wird ja in jedem Fall durch das Modalverb abgeglichen). Wenn der volitionale Pr-Kopf nun aber kein starkes [D]Merkmal trägt, kann sich das eingebettete PRO natürlich nicht overt nach [Spec, PrMatrix] bewegen. Dennoch wird es durch koverte Bewegung seinen Nullkasus mit dem volitionalen Pr° abgleichen und dadurch wohl auch die Kontrollbeziehung zum Subjekt des volitionalen Pr-Kopfes herstellen können. In der Restrukturierungskonstruktion kommt aus der folgenden Tabelle (6-90) als Kopf der in [Spec, V] durch Merge eingefügten TP nur (6-90)a in Frage. T° vom Typ (6-90)b kann nur von einer C° subkategorisiert werden; dies muss in irgendeinem Zusammenhang mit der Kombination des volitionalen [M]-Merkmals mit dem schwachen [Pr]-Merkmal in T°inf stehen und ergibt die Kontrolle der Zeitdomäne des eingebetteten Satzes durch C°: (6-90)
Merkmalszusammensetzung für T°inf
Typ
{phonologische
Semantische
formale Merkmale}
a.
T°
{Ø
[T[S,R]•[R,E],modvol]
[T,Vst,Prst,Dst,-finit]}
b.
T°
{Ø
[T[S,R]•[R_E],modvol]
[T,Vst,Pr,Dst,-finit]}
Bei diesem Restrukturierungsverb sind also die Faktoren, die zu restrukturiertem Kontext führen, auch von dem Subkategorisierungsrahmen des V° volere abhängig, vgl. die folgende Übersicht:
212 (6-91)
Restrukturierungsfaktoren
In nicht restrukturiertem Kontext In restrukturiertem Kontext - selegiert volere eine CP, die in VP-Kom- - selegiert volere eine TP, die in VP-Spezifikatorplementposition steht und in der Lage ist position steht und deren Kopf ein starkes [Pr]zu kontrollieren. Merkmal trägt. - gleicht PRO im eingebetteten Satz über C° - gleicht PRO seinen Nullkasus direkt mit dem Pr°seinen Nullkasus ab. Kopf des modalen Matrixsatzes ab.
Die Merkmalszusammensetzung für volere kann folgendermaßen dargestellt werden: (6-92)
Merkmalszusammensetzungen für volere
Form
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
volere
{/volere/
wollen[CP/TPinf mit Prst]
[V,M]}
Die bereits von Burzio (1986) beobachtete Tatsache, dass in restrukturierten Kontexten beide θ-Rollen weiterhin wirksam sind, also sich nicht, wie etwa in Kausativkonstruktionen, ein komplexes Prädikat mit nur mehr einem Subjekt ergibt, ist durch den Erhalt von PRO auch in restrukturiertem Kontext gegeben. 6.4.3 Restrukturierungskontexte: Zusammenfassung Die Annahme, dass die infinitivische TP des eingebetteten Satzes in Restrukturierungskontexten in [Spec, V] eingefügt wird, hat den grundsätzlichen Vorteil, dass das eingebettete Verb vor dem Matrixverb in Pr° des Matrixsatzes bewegt werden und damit durch seine eigene Argumentstruktur den Matrixsatz mitbestimmen kann. Dadurch werden auch Restrukturierungsphänomene wie die lange DP-Bewegung, das Verhalten der Negation sowie der Hilfsverben im eingebetteten Satz erklärt. Durch die Annahme der Bewegung des Gesamtkomplexes des eingebetteten Pr° nach T°inf wird die Bewegung der eingebetteten Klitika in den Matrixsatz möglich. Auch die lange DP-Bewegung bei passivisch-medialem si ist damit für alle Restrukturierungsverben leicht nachvollziehbar, vgl. die folgende TeilDerivation:
213 Queste mele si vogliono vendere a buon prezzo. (Aufbauprozess)36
(6-93)
PrP Pr'
Spec 'Queste mele' Spec
Pr'
'PROarb' D nom θ ϕ
D θ ϕ null
Pr° D° 'si' Dst akk θana
Pr° V° 'vogliono'
Pr Vst T Mst D Pr° null
V°
VP V'
TP Spec
T'
Pr°
V° PrP
T°
'vendere' Pr°
T° Pr°
D° V°
Pr°
T Vst Prst Dst -finit
V M agr-ϕ +finit
Pr'
Spec Spec 'PROarb' D θ ϕ null
PP 'a buon prezzo'
Pr' VP
Pr° Pr°
D° V° Dst akk θana
V'
Spec Pr°
V°
XP
Pr T Vst D akk ag
Die angegebenen Merkmalszusammensetzungen des entsprechenden Pr-Kopfes, des passivisch-medialen si sowie seines Zusammenspiels mit dem in der passivisch-medialen Konstruktion durch Merge eingefügten PROarb wurden bereits dargestellt (vgl. Kapitel 3.5.4 und 5.4.3). Die einzelnen Schritte dieser nun durch den restrukturierten Kontext verschleierten Ableitung seien hier im Einzelnen nochmals ausgeführt. Der eingebettete Satz wird folgendermaßen aufgebaut: − Der eingebettete Pr-Kopf trägt die für ein transitives Verb (hier: vendere) üblichen Merkmale; ein starkes [V]-Merkmal löst die Bewegung von V° aus. − Si gelangt in die Derivation (Merge durch Adjunktion), um eine unpersönliche Konstruktion zusammen mit dem ebenfalls in die Derivation eingefügten PROarb (Merge durch Substitution) als Binder zu bilden. Si wird aber in seiner Merkmalszusammensetzung als reflexivisches si uminterpretiert und trägt daher die Merkmale [Dst, akk, θana]. − Das transitive Pr° gleicht sein Akkusativmerkmal mit si statt mit dem internen Argument queste mele ab. Gleichzeitig bewirkt das starke [D]-Merkmal von si das Anheben des internen Arguments in eine zweite Position [Spec, Pr], sodass sich eine Konstruktion mit Mehrfachspezifikator ergibt (PROarb selbst kann als nicht-expletives Element nicht sofort mit Merge das [D]Merkmal überprüfen). − Die interne Argument-DP bewegt sich weiter nach [Spec, T], um das dortige starke [D]-Merkmal zu überprüfen. Ebenso bewegt sich der gesamte Pr°-Komplex wegen des für Restrukturierungskontexte typischen starken [Pr]-Merkmals unter T°.
–––––—– 36
Zu dem durchgestrichenen Akkusativmerkmal, vgl. Fn. 37.
214 Der Aufbau des Matrixsatzes erfolgt in den nächsten Schritten: − Der in die Derivation gelangte Pr-Kopf des Matrixsatzes, welcher die modale VP als Komplement nimmt, muss sowohl zu dem modalen V° als auch zu dem eingebetteten V° kompatibel sein. Im vorliegenden Fall (6-93) wird ein modales transitives Pr° mit den Merkmalen [Pr,Vst,Mst,T,D, null] gewählt. − Das nächstgelegene Verb (hier: vendere) wird angehoben, um das starke [V]-Merkmal zu überprüfen. Das Modalverb (hier: vogliono) wird angehoben, um das starke [M]-Merkmal abzugleichen. Das Klitikum si adjungiert an das finite Verb. − Das eigenständige Subjekt PROarb des unpersönlichen Matrixsatzes wird durch Merge eingefügt (PROarb selbst kann als nicht-expletives Element nicht sofort mit Merge das [D]-Merkmal von si überprüfen, s.o.). − Das starke [D]-Merkmal von si37 ist weiterhin aktiv und bewirkt das Anheben der internen Arguments-DP aus dem Matrixsatz in [Spec, Pr]. Dadurch kann sich (nur bei partizipialem modalem V°) Con-ϕ-Merkmalsabgleich ergeben. − Der gesamte Pr°-Komplex des Matrixsatzes bewegt sich nach T° (in der Darstellung (6-93) nicht berücksichtigt); die aus dem eingebetteten Satz angehobene DP bewegt sich weiter nach [Spec, T], um dort das starke [D]-Merkmal zu überprüfen und neben den Agr-ϕ-Merkmalen auch Nominativ abzugleichen (das äquidistante PROarb könnte auch das starke [D]-Merkmal abgleichen, allerdings aber keinen Nominativkasus überprüfen).
Arbiträres PRO ist nicht kontrolliert, sodass es mit der angehobenen Subjekts-DP nicht koreferenziert. Wiederum stellt sich die Frage, wo die beiden in der Derivation befindlichen PROarb-Elemente ihren minimalistischen Nullkasus abgleichen können. Das in der zweiten Spezifikatorposition des volitionalen Pr-Kopf durch Merge eingefügte obere PROarb kann mit eben diesem Pr° seinen Nullkasus abgleichen. Für das untere PROarb der passivischmedialen Konstruktion kann entweder wieder angenommen werden, dass arbiträres PRO nicht unbedingt Kasus abgleichen muss, da Nullkasus nicht interpretierbar ist. Oder aber man muss davon ausgehen, dass das passivisch-mediale si nicht nur eine anaphorische, mit PROarb koindizierte θ-Rolle trägt, sondern gleichzeitig Nullkasus vergeben kann (vgl. 3.5.4 u. 5.4.3). Die Nullkasus-Frage bleibt in diesem Fall aber weiterhin offen. Auch das Anheben der Negation im restrukturierten Kontext ist unter der Annahme der TP-Einbettung in der modalen [Spec, V]-Position ohne Weiteres möglich, ja sogar obligatorisch: Da sich das möglicherweise negierte Verb im Infinitiv selbst schon nach Pr°Matrix bewegt, kann die Negation als durchgängig proklitisches Element nicht im eingebetteten Satz verbleiben, sondern muss ebenfalls in den Matrixsatz, um dort an die entsprechende funktionale Kategorie zu adjungieren, vgl. die folgende Darstellung:
–––––—– 37
Das Akkusativmerkmal von si wurde schon abgeglichen und darf auch aufgrund der Kasustheorie nicht mehrmals überprüft werden. Daher wird dieses bereits gelöschte Merkmal in der Graphik durchgestrichen dargestellt.
215 (6-94)
Gianna non ci può andare. PrP
Spec 'Gianna'
Pr' Pr° Neg°
VP TP
Pr°
V'
'non' Pr°
X° 'ci' V° 'può'
Spec
T' T°
Pr° V° Pr° 'andare'
V°
XP
PrP
Neg°
T° Pr°
V°
Pr'
T° Pr°
X°
Spec Pr° Pr°
X° Pr°
VP
V°
V'
Spec Pr°
V°
P°
In nicht restrukturierten Kontexten dagegen kann die Negation, wenn sie auf den eingebetteten Satz bezogen ist, unter T°inf verbleiben.38 Auch in restrukturierten Sätzen darf unter T° des eingebetteten Satzes, wie bereits beobachtet, ein Hilfsverb stehen, wenn auch in eingeschränktem Maße. Erlaubt sind temporale Hilfsverben bei Anhebungsverben epistemischer Lesart (vgl. (6-46) und (6-47)) sowie essere in passivisch-medialen Konstruktionen bei Anhebungsverben oder essere im eingebetteten Passiv bei volere (vgl. (6-83) bis (6-84)). In restrukturierten Sätzen allerdings sind nie zwei temporale Hilfsverben gleichzeitig erlaubt: (6-95) (6-96)
*Giovanni lo avrebbe voluto aver già letto. (restrukturiert) Giovanni avrebbe voluto averlo già letto. (nicht restrukturiert) (Burzio 1986: 373)
In passivischen restrukturierten Konstruktionen sind zwei overte Hilfsverben möglich, allerdings hat das passivische essere des eingebetteten Satzes keinen Einfluss auf die Hilfsverbselektion (vgl. (6-84)). In epistemischem rekonstruierten Kontext ist ein eingebettetes temporales Hilfsverb möglich (vgl. (6-46) und (6-47)), im Matrixsatz kann es aber dann keine zusammengesetzte Zeit, also auch keine Hilfsverbselektion geben. Es kann also angenommen werden, dass im Falle des Passivs und der epistemischen Lesart in restrukturiertem Kontext die TP wie in den anderen Fällen auch durch Merge in [Spec, V] eingesetzt wird und in ihrem Kopf ein starkes [Pr]-Merkmal hat. Das starke [V]-Merkmal des MatrixPr-Kopfes kann dann durch das Hilfsverb (statt durch das Vollverb) abgeglichen werden. –––––—– 38
Vgl. (i) Gianni dovrebbe non parlargli.
216 Weiterhin haben aber diese Hilfsverben keinerlei Auswirkung auf die Hilfsverbselektion des Matrixsatzes, da das Vollverb selbst in der subkategorisierten TP verbleibt. Position und Eigenschaften von T° erlauben aber dennoch ClCl. Anders verhält es sich mit der Kopula essere. Diese kann in restrukturiertem Kontext gar nicht oder nur mit marginaler Grammatikalität erscheinen: (6-97) (6-98) (6-99)
Non ho mai voluto essere felice. (nicht restrukturiert) (GGIC 1991, II: 517) ??Mario gli avrebbe voluto essere grato. (restrukturiert) Mario avrebbe voluto essergli grato. (nicht restrukturiert) (GGIC 1991, II: 518)
Daraus lässt sich schließen, dass T° zumindest in infiniten Kopulativkonstruktionen nie ein starkes [Pr]-Merkmal haben kann. Das wiederum muss an dem nicht-verbalen Prädikat des eingebetteten Satzes liegen: Wahrscheinlich kann nur ein verbales Pr° ein starkes [Pr]Merkmal von T°inf überprüfen.39 Eine nicht-verbale, z.B. ein adjektivisches Pr° kann das nicht. Es scheint also kein in Restrukturierungskontexten relevantes T°inf mit starkem nichtverbalem Pr° zu geben. Die Folge ist, dass Kopulativkonstruktionen nie restrukturieren können. Abschließend kann nochmals festgestellt werden, dass die Annahme, dass sich in Restrukturierungskonstruktionen der eingebettete Satz in einer anderen Position befindet als in nicht restrukturierten Derivationen, für alle hier betrachteten Restrukturierungsphänomene erklärungsadäquat ist.
6.5
Gerundialkonstruktionen mit Hilfsverben
Die zu den infiniten Formen gehörigen Gerundien des Italienischen wurden bereits in 4.4.3 charakterisiert. Die hier relevanten Gerundialkonstruktionen des Italienischen sollen, soweit sie Hilfsverben betreffen, im Folgenden beschrieben und minimalistisch eingeordnet werden. Zu den Gerundialkonstruktionen im Italienischen gehören stare, andare und venire + Gerundium. Die beiden letzteren sind im heutigen Italienisch relativ selten (vgl. Squartini 1998: 86–87). Es gibt wichtige semantische und morphosyntaktische Unterschiede zwischen den stare-Konstruktionen einerseits und den andare/venire-Konstruktionen andererseits. Die stare-Konstruktion + Gerundium ist in jedem Falle stärker grammatikalisiert als die Gerundialkonstruktionen mit den beiden deiktischen Bewegungsverben (vgl. Blücher 1973, Giacalone Ramat 1995). Detailliert möchte ich hier v.a. auf die stare-Konstruktion und die Rolle des Hilfsverbs stare eingehen; die Verbalperiphrasen mit andare –––––—– 39
Vgl. die dazu gemachten Überlegungen in 5.1: Dort wurde festgestellt, dass sich stato in Kopulativkonstruktionen unter T° befindet, während bei Kopulativkonstruktionen mit der zweiten T-Relation im Default-Fall die Möglichkeit der Überprüfung fehlt, da unter Pr° kein overtes Element steht. Eventuell überprüft in Kopulativkonstruktionen das kopulative essere selbst das [Pr]Merkmal in T°, wenn kein verbales oder temporales stato (vgl. die beiden Alternativen für den Lexikoneintrag von stato) in der Derivation ist.
217 und venire werden dabei, ähnlich wie parallele Verlaufsformen im Englischen, nur den konstrastiven Hintergrund bilden.40 Morphologisch ist das Verbalparadigma von stare in der Konstruktion mit Gerundium defektiv. Alle verbalen Formen, die Perfektivität [+perf] und die zweite T-Relation [E_R] betreffen, sind ausgeschlossen:41 (6-100) Maria sta mangiando una mela. (6-101) Maria stava mangiando una mela. (6-102) *Maria è stata mangiando una mela. (6-103) *Maria era stata mangiando una mela. (6-104) *Maria stette mangiando una mela.
T2: [E,R] und [-perf] T2: [E,R] und [-perf] T2: [E_R] und [+perf] T2: [E_R] und [+perf] T2: [E,R] und [+perf]
Dieselben Beispiele (6-102) bis (6-104) sind im Altitalienischen42 so noch möglich. Ebenso weisen die Progressive-Form des Englischen mit be,43 die spanische Verlaufsform estar + Gerundium und die Verbalperiphrase mit andare und venire + Gerundium im Italienischen diese morphologischen Beschränkungen nicht auf.44 Im Italienischen erscheint außerdem stare + Gerundium bis auf Ausnahmen und Randfälle45 nie im Infinitiv: –––––—– 40
41 42
43
44
45
Die Gerundialkonstruktionen sind mehrfach ausführlich behandelt worden. Hier berufe ich mich v.a. auf Daten aus Bertinetto & Delfitto (1996), Squartini (1998) sowie die entsprechenden Kapitel in der GGIC. Dies ist ein klarer Hinweis auf Dekategorisierung eines Hilfsverbs nach Heine 1993 (vgl. 1.5.3); vgl. auch Giacalone Ramat (1995: 176) sowie Squartini (1998: 89). Im Altitalienischen bis ins Ottocento ist die Verbalperiphrase mit stare + Gerundium noch mit durativer Lesart zu finden; daher sind in dieser Konstruktion natürlich auch nur mit durativer Lesart kompatible Verben möglich, vgl. Squartini (1998: 84–85, 210–212), besonders auch die dort genannten Beispielsätze; vgl. außerdem die GGIC (1991, II: 132); vgl. auch Fn. 44. Auch das Sardische bildet seine Verlaufsform mit SEIN + Gerundium, vgl. 7.6. Das Spanische und das Italienische scheinen in einer früheren Sprachstufe ebenfalls essere/ser statt stare/estar + Gerundium verwendet zu haben, vgl. Bertinetto & Delfitto (1996: 47). (i) altit. Stette buona pezza il cavaliere pensando su questa lettera. (17. Jhd. nach Durante 1981: 180 zitiert in Squartini 1998: 74) In den Gerundialkonstruktionen mit stare im Altitalienischen läßt sich in diesen Fällen oft noch deutlich der ursprünglich lokative Charakter der Konstruktion erkennen (Hervorhebung von mir): (ii) Per questo i padri stettero questi tre giorni insegnando di giorno e di notte dentro gli alloggiamento di questi matematici. (Matteo Ricci zitiert nach Bertinetto & Delfitto 1996: 48) In archaisierenden literarischen Werken finden sich solche Formen im Italienischen noch bis ins Ottocento hinein, wenn auch nur noch mit einer reduzierten Anzahl an möglichen Verben, wie guardare, pensare, aspettare, vgl. GGIC (1991, II: 132). (iii) engl. Mary has been dancing for two hours. (Bertinetto & Delfitto 1996: 48) (iv) span. Maria estuvo bailando hasta la media noche. (Bertinetto & Delfitto 1996: 49) (v) span. Ayer Pilar estuvo hablando con Jaime durante dos horas. (Squartini 1998: 73) (vi) ital. Da quando abbiamo finito i lavori la macchia di umidità è andata scomparendo. (Squartini 1998: 212) Vgl. Squartini (1998: 77) sowie Beispiel (6-44) und (6-45); außerdem die GGIC (1991, II: 132, Beispiel 3 und 133, Beispiel 16).
218 (6-105) (6-106)
*Maria vuole stare mangiando una mela. *Maria promette di stare mangiando una mela.
Hier scheint die prospektive temporale Bedeutung von volitionalen bzw. anderen Kontrollverben, also die zweite T-Relation mit dem Wert [R_E], nicht erlaubt zu sein. Auch Konstruktionen mit der Kopula im Gerundium sind im Italienischen46 ausgeschlossen: (6-107)
*Maria sta essendo una donna rigorosa.
Dies kann einerseits daran liegen, dass die Kopula erst unter T° durch Merge eingefügt wird, wenn sich kein anderes finites Verb für den Merkmalsabgleich mehr in der Derivation befindet, andererseits daran, dass es sich bei der vorliegenden Kopulativkonstruktion um eine typische ILP-Konstruktion handelt, die dem SLP-Charakter einer echten Verlaufsform widerspricht (vgl. 4.3).47 Ausgeschlossen sind bei allen Konstruktionen der vorher genannten Sprachen und Sprachstufen ohne Ausnahme der Imperativ (vgl. (6-108)) und die Passivbildung (vgl. (6-109)):48 (6-108) (6-109)
*Sta/va/vieni mangiando questa mela! *Questa mela è stata/venuta/andata mangiando.
Der Imperativ hat generell keinerlei Möglichkeit, mit offenen temporalen oder aspektuellen Merkmalen kombiniert zu werden. Die Verben stare, venire, andare sowie engl. be und span. estar können auch als Vollverben nicht passiviert werden. Die Gerundialkonstruktion im Italienischen lässt aber auch grundsätzlich keine Passivierung des subkategorisierten Vollverbs zu. Sie kann nicht mit einem passivischen Pr-Kopf kombiniert werden, vgl. (6110), wohl aber mit einem unakkusativischen, vgl. (6-111): (6-110) *Una lettera sta essendo scritta da Anna. (6-111) La lettera sta arrivando.
All diese Charakteristika der Konstruktion weisen hier auf einen ausgeprägten Hilfsverbstatus von stare hin. Dies drückt sich auch syntaktisch durch die präverbale Position klitischer Pronomina aus: (6-112)
Maria la sta mangiando.
–––––—– 46 47
48
Vgl. Squartini (1998: 104); anders etwa im Spanischen und Englischen, vgl. Bertinetto & Delfitto (1996: 48); für das Spanische siehe v.a. die Beispiele in Squartini (1998: 105–107). Selbst die flexibleren Konstruktionen mit andare/venire dürfen nicht mit statischen Individuenprädikaten gebildet werden: (i) *Paolo andava essendo un medico. (Squartini 1998: 210) (i) engl. *Be eating this apple! *This apple is been eating. (ii) span. *Está comiendo esta manzana! *Esta manzana es estado comiendo. Außerdem nicht erlaubt sind das seltene Trapassato Remoto sowie das zusammengesetzte Futur, sofern es nicht epistemische Lesart hat, vgl. Bertinetto & Delfitto (1996: 54).
219 Allerdings ist auch ein Verbleib des Klitikums in der Basisposition möglich, was wiederum die Konstruktion von stare + Gerundium in die Nähe der Restrukturierungskonstruktionen rücken lässt (vgl. 6.4): (6-113)
Maria sta mangiandola.
Was die Negation betrifft, kann diese allerdings nur präverbal vor stare erscheinen: (6-114) (6-115)
Maria non sta mangiando la mela. *Maria sta non mangiando la mela.
Semantisch ergeben sich bei der Gerundialkonstruktion mit stare Einschränkungen in Zusammenhang mit Adverbien, die auf eine Dauer des Ereignisses hinweisen (wie continuamente in (6-116)), vgl.: (6-116)
*Stamattina, Giulio stava continuamente cercando il suo quaderno durante la lezione. (Bertinetto & Delfitto 1996: 52).
Konstruktionen mit andare/venire (oder auch stare a + Infinitiv, vgl. Squartini 1998: 127– 133) sind dagegen für eine durative oder kontinuative Lesart prädestiniert: (6-117) A nessuno sfuggì che Anna Laura, per tutta la durata dell’incontro, andava annotando le sue impressioni. (Bertinetto & Delfitto 1996: 55)
Die Gerundialkonstruktion mit stare scheint eher einen einzelnen (spezifischen) Referenzmoment, die mit andare/venire eine ganze Reihe von Referenzmomenten zu beinhalten (vgl. Bertinetto & Delfitto 1996: 55). Abschließend kann zu den semantischen Merkmalen der Gerundialkonstruktionen gesagt werden, dass sie in beiden Fällen, als Progressiv und als Durativ, in der Form der Vergangenheit Spezialisierungen der italienischen Verbalform des Imperfekts darstellen, das als undifferenzierte Form beide Bedeutungen beinhalten kann (vgl. Bertinetto & Delfitto 1996: 60). Das Gerundium im Italienischen wurde bereits als Verbalform analysiert, die ein [T]Merkmal trägt. Dieses [T]-Merkmal scheint offensichtlich die GLEICH-Beziehung zu kodieren. Die Ungrammatikalität der Beispiele (6-102) bis (6-104) muss sich durch die Inkompatibilität des Gerundiums zu einer Verbalform von stare erklären lassen, die die Merkmale [E_R] und/oder [+perf] involviert. Ähnlich inkompatibel mit stare sind auch die Gerundien der temporalen Hilfsverben avere und essere, die selbst als Tempus- oder Aspektmarker an geeigneter Stelle in die Derivation eingefügt werden, vgl. den folgenden Satz: (6-118)
*Maria sta avendo mangiato una mela.
220 Hier ist das aufgrund des starken [T]-Merkmals in Pr° eingefügte Hilfsverb avere, das T[E_R] in Pr° signalisiert, nicht mit stare kombinierbar (und umgekehrt).49 Welche semantischen temporalen Merkmale sind nun in den einfachen Gerundialkonstruktionen mit stare, etwa (6-100) und (6-101), kodiert? Hier ein Vorschlag für die Zeitorganisation der folgenden Sätze: (6-119) (6-120)
Maria sta mangiando una mela. => T[S,R]•[E,R] mit [∃R] Maria stava mangiando una mela. => T[R_S]•[E,R] mit [∃R]
In beiden Fällen steht die Referenzzeit mit der Ereigniszeit in einer GLEICH-Beziehung und ist fokussiert, was eine weitere Spezialisierung der Form des Gerundiums ausdrückt. Die Gesamtkonstruktion ist imperfektiv. Stare hat in dieser Konstruktion immer die Eigenschaften einer nicht-abgeschlossenen Stadienprädikation mit [∃R], was sekundär rein progressiven Aspekt zur Folge hat: Das Ereignis ist zum existenzquantifizierten (fokussierten) Referenzmoment50 nicht abgeschlossen und daher im Verlauf begriffen.51 Die Verbalperiphrasen mit andare und venire + Gerundium sind insgesamt weniger grammatikalisiert als die mit stare + Gerundium (vgl. Blücher 1973, Giacalone Ramat 1995). Bei diesen Verbalperiphrasen ergibt sich ein kontinuativer (durativer) Aspekt, der auch iterativ sein kann.52 Es stellt sich die Frage, ob man vielleicht nicht doch eine Struktur für diese Konstruktionen annehmen sollte, die eine weitere T-Projektion beinhaltet, wie etwa bei den unter 6.4 behandelten Restrukturierungsverben. Man kann andare + Gerundium z.B. auch durch das aspektuelle Restrukturierungsverb continuare a ersetzen.53 –––––—– 49 50
51
52
53
Die Partizipien und Gerundien der temporalen Hilfsverben tragen bekanntlich immer temporale Merkmale der VOR-Beziehung der zweiten T-Relation (vgl. 4.4.2 und 4.4.3). Die Terminologie vom ‘fokussierten Referenzmoment’ (monofocalizzazione) bei progressivem sowie des später relevanten ‘mehrfachfokussierten Referenzintervall’ (plurifocalizzazione) bei kontinuativem Aspekt übernehme ich aus Bertinetto & Delfitto (1996: 52, auch Fn. 9 sowie 63). Im Sinne “on-going at a given time” bei u.a. Squartini (1998: 75); die Situation darf aber, wenn auch keinen Endpunkt, der Abgeschlossenheit bedeuten würde, dennoch einen expliziten Anfangspunkt beinhalten, vgl.: (i) Paolo sta parlando da quando sei entrata. (Squartini 1998: 109) Vgl. die folgenden Beispiele: (i) In questi anni Paolo va costruendo la sua casa. (Squartini 1998: 215) (ii) Di tanto in tanto Paolo andava ripensando a quelle strane parole. (Squartini 1998: 217) Auch hier steht die Referenzzeit in einer GLEICH-Beziehung mit der Ereigniszeit. Allerdings handelt es sich nicht um einen fokussierten Referenzmoment, sondern ein Referenzintervall, bei dem alle darin enthaltenen Referenzmomente fokussiert sind (vgl. Bertinetto & Delfitto 1996: 55). Anders als bei stare mit Gerundium, kann diese Koextension auch mit explizitem perfektivem Aspekt in Form einer temporalen Hilfsverbkonstruktion mit (perfektivem) Partizip erscheinen: (iii) La situazione è andata peggiorando. (Squartini 1998: 210) Konstruktionen mit dem zentripetalen, also in seiner Bewegung auf den deiktischen Mittelpunkt als Ziel ausgerichteten venire sind noch seltener als die mit dem zentrifugalen andare (vgl. Squartini 1998: 209). (i) La situazione ha continuato a peggiorare. Dies macht besonders die durative (kontinuative) Lesart der Konstruktion deutlich; Durativität drückt sich durch ein Referenzintervall aus, von dem alle Referenzmomente gleichsam fokussiert sind. Diese Fokussierung kann man als Allquantifizierung von R ausdrücken, also durch [∀R],
221 Giacalone Ramat (1995) plädiert dafür, andare und venire + Gerundium zu den semiauxiliaren Konstruktionen zu rechnen, die sich noch in einem Grammatikalisierungsprozess befinden, der möglicherweise sogar gerade dabei ist, unterbrochen zu werden. Die Verbalperiphrasen mit andare und venire sollen hier nicht weiter behandelt werden. Fasst man die bisherigen Ergebnisse zu stare + Gerundium zusammen, sind die semantischen Hauptmerkmale der Konstruktion die der Imperfektivität und der Gleichzeitigkeit mit einem einzelnen, fokussierenden Referenzmoment.54 Es ergeben sich folgende Merkmalsstrukturen: (6-121)
Maria sta mangiando.
Typ
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
Gerundium
V°
{/mandZando/
essen(x,y)
[V,T[E,R],-perf,-finit]}
Pr°
{∅
T[E,R],[∃R]
[Pr,Vst,T,D,-perf]}
T°
{∅
T[S,R],[∃R]
[T,Vst,Prst,Dst,nom,+finit]}
Die nächste Aufgabe besteht nun darin, die Frage zu lösen, an welcher Stelle und warum das Hilfsverb stare in die Derivation gelangen muss. Das Hilfsverb stare dürfte einerseits für die immer geltende Imperfektivität der Konstruktion, andererseits für die Fokussierung des einzelnen Referenzmoments mitverantwortlich sein.55 Also kann man für stare (mindestens) die folgende Merkmalsmatrix annehmen: (6-122)
Merkmalsmatrix für stare und Gerundium (hier die Form sta)
Typ
Element
{phonolog. semant.
progressiv
sta
{/sta/
∅
formale Merkmale} [V,T[S,R]•[R,E] mit [∃R],agr-ϕ,-perf,+finit]}
–––––—–
54
55
vgl. Bertinetto & Delfitto (1996: 55): “Ciò che appare soprattutto discriminante, nei casi appena considerati, è la presenza di avverbiali come istante dopo istante o man mano che…, i quali ci obbligano, per così dire, a considerare la ‘grana fine’ dello svolgimento temporale. Semanticamente, essi corrispondono ad espressioni universalmente quantificate, del tipo: ‘Per tutti gli istanti t compresi entro l’intervallo considerato’; una situazione radicalmente in contrasto con quella che connota l’aspetto progressivo inteso in senso stretto, in cui viene presupposta l’esistenza di uno ed un solo istante di focalizzazione.” Auch die in der GGIC (1991, II: 134) genannten vier Hauptkennzeichen der Konstruktion lassen sich auf diese beiden Merkmale reduzieren, nämlich: a) l’esistenza di un momento (tendenzialmente riducibile ad un istante, detto ‘istante di focalizzazione’), incui si osserva il processo nel corso del suo svolgimento; => [R,E] und [∃R] b) la prosecuzione indeterminata del processo oltre l’istante di focalizzazione; => [-perf] c) l’unicità (o semelfattività) dell’evento; => [∃R] d) l’incompatibilità con gli avverbiali indicanti durata delimitata. => [-perf] Auch Verbalformen wie das Passato remoto fokussieren ein Referenzmoment. Die progressive Lesart bei stare + Gerundium ergibt sich daher nur sekundär aus der Kombination von Imperfektivität und fokussiertem Referenzmoment.
222 Da Klitika sowohl präverbal vor stare als auch postverbal nach dem Gerundium zu stehen kommen können (vgl. (6-112) und (6-113)), kann man davon ausgehen, dass es sich möglicherweise auch hier, wie bei den Restrukturierungsverben, um zwei verschiedene Derivationen handeln mag. Allerdings ist die Bedeutung von stare weitgehend desemantisiert, im Gegensatz zu seinen restrukturierenden Kollegen, etwa volere, das seine volitionale Bedeutung beibehält und bei dem die Subjekt-θ-Rolle weiter agentiv sein muss (vgl. 6.4.2). Bei stare ist im Laufe seiner Entwicklung zum Hilfsverb die lokative Bedeutung des Verbs verloren gegangen bzw. diese hat sich auf eine reine SLP-Eigenschaft reduziert. Die Subjekt-θ-Rolle ist allein von dem Verb in Gerundialform abhängig. Für die Derivation von (6-112) lässt sich sicher eine rein monoklausale Struktur annehmen, bei der stare entweder unter Pr° oder spätestens unter T° durch Merge in die Derivation eingefügt wird. Defektivität des Konjugationsparadigmas, Position der Negation und Desemantisierung sprechen für diesen Status. Die temporalen Hilfsverben müssen unter Pr° durch Merge eingefügt werden, da Partizipien das starke [T]-Merkmal von Pr° nicht überprüfen können. Das [T]-Merkmal in Pr° hat in den Gerundialkonstruktionen mit stare immer den Wert [E,R]. Es kann sein, dass stare bereits unter Pr° in die Derivation kommt. Die Inkompatibilität mit einer passivischen Gerundialform, bei der essere erst unter T° in die Derivation kommt (vgl. (6-110)), könnte dafür sprechen. Es muss ein anderes Merkmal als das [T]-Merkmal für Merge von stare verantwortlich sein, da Gerundien ja ein eigenes [T]-Merkmal haben (vgl. 4.4.3). Dies könnte entweder die Fokussierung auf einen Referenzmoment, also [∃R], oder das [-perf]-Merkmal sein. Beide können keine starken Merkmale sein, da sie nicht kategoriell sind. Da Quantifizierung erst unter T° erforderlich und wirksam wird (vgl. Diesing 1992), kann also ein explizites [-perf]-Merkmal unter Pr° (welches als Ereignisposition für dieses aspektuelle Merkmal zuständig ist) Merge von stare bewirken. Stare darf aufgrund seiner Desemantisierung wie die temporalen Hilfsverben avere und essere als Expletivum gewertet werden, das daher direkt nach Merge Merkmale abgleichen kann. Obwohl das abzugleichende [-perf]-Merkmal nicht stark ist, muss es vor der LF überprüft worden sein. Um die Kompatibilität der temporalen Merkmale der verbalen Form von stare mit denen von Pr° und denen des Gerundiums, das sich auch nach V° bewegt haben muss, zu gewährleisten, ist kostenloses Merge sicherlich schon unter Pr° denkbar. Das sich so ergebende komplexe Pr° muss sich schließlich nach T° bewegen, um dort ein starkes [V]- sowie in finiten Sätzen ein starkes [Pr]-Merkmal zu überprüfen. Unter T° ergibt sich dann die Existenzquantifizierung, die bereits durch stare vorgegeben ist.56 Nach den bisherigen Beobachtungen und Einordnungen lässt sich also für stare + Gerundium die folgende Derivation annehmen:
–––––—– 56
Allquantifizierung ist gerade durch formale Vorgabe [∃R] von stare nie möglich, vgl. die folgenden Beispiele mit generischer Lesart: (i) *Una mela, di solito, sta cadendo dall’albero, non dal cielo. (ii) *Allora, le mele si stavano mangiando ogni mattina a colazione.
223 (6-123)
Maria la sta mangiando [la mela]. CP
C°
TP
Spec 'Maria'
T'
PrP
T°
Pr°
T°
Pr°
D° 'la' Aux° 'sta'
Pr°
V° 'mangiando'
Spec
T Vst Prst nom [∃R] +finit Pr°
Pr'
Pr°
D°
VP
Spec
Pr°
Pr°
Aux° V T -perf [∃R] agr-ϕ +finit
V°
V'
V°
Pr° Pr Vst T D -perf [∃R]
XP
V T[R,E] -perf -finit
Man beachte, dass es hier um die reine Hilfsverbkonstruktion mit präverbalem Klitikum geht, wie in Beispiel (6-112). Das Beispiel (6-113) mit post-gerundialem Klitikum bedarf einer gesonderten Behandlung. Die Derivation in (6-123) ist in ihrer Struktur in jeglicher Hinsicht parallel zur Derivation temporaler Hilfsverbkonstruktionen. Der semantischaspektuelle Unterschied ist in der Merkmalszusammensetzung von Pr° zu sehen, die es z.B. auch nicht erlauben würde, dass stare statt avere bzw. essere in die Derivation gelangt, da stare mit dem [+perf]-Merkmal eines Partizips sowie des Werts der zweiten Zeitrelation in Pr° T[E_R] inkompatibel wäre, vgl.: (6-124)
*Maria sta [-perf] mangiato [+perf] la mela.
Genauso ist ein temporales Hilfsverb mit einer Gerundialform inkompatibel: (6-125)
*Maria ha [E_R] mangiando [E,R].
224 Die Kombination von essere + Gerundium, wie sie im Altitalienischen noch möglich war (vgl. Fn. 42 und Fn. 44) und heute noch im Sardischen (und anderen italoromanischen Varietäten57) üblich ist, gilt im heutigen Standarditalienischen als ungrammatisch: (6-126)
*Maria è mangiando.
Das Italienische scheint an dieser Stelle eine genaue Spezifizierung der Konstruktion als Stadienprädikation zu erwarten, wie sie unzweideutig nur mit stare möglich ist (vgl. 7.6 zum Sardischen). Nun muss auch die zweite Derivation untersucht werden, die ein Verbleiben des Klitikums in der Basisposition erlaubt, wie in dem hier wiederholten Beispielsatz: (6-127)
Maria sta mangiandola [la mela].
Dazu muss gesagt werden, dass die Gerundialkonstruktion ursprünglich, als stare noch lokativ mit Vollverbstatus verwendet wurde, einen Adjunktsatz mit adverbialem Charakter (vgl. Fn. 44) bildeten. Das bedeutet, dass es sich um eine CP mit einem eigenen, von dem Subjekt von stare kontrollierten PRO-Subjekt handelte, ähnlich wie in den Modalverbkonstruktionen mit volere (vgl. 6.4.2). Kann man also bei (6-127) von einem nicht restrukturierten Kontext sprechen, wogegen (6-123) den restrukturierten Kontext bildet? Die starke Desemantisierung von stare in beiden Konstruktionen spricht dagegen. Ebenfalls dagegen spricht die Unmöglichkeit, stare + Gerundium durch bestimmte Adverbien, Adverbialsätze oder gar Parenthesen zu unterbrechen, wie es bei Modalverben im nicht restrukturierten Kontext möglich ist (vgl. Blücher 1973: 17): (6-128) *Maria sta in questo momento/decisamente/proprio adesso mangiandola. (6-129) *Maria sta, e tu lo sai benissimo, mangiandola.
Ein Dazwischentreten von Adverbien dieses Typs ist bei den temporalen Hilfsverben avere und essere ebenfalls unmöglich: (6-130) *Maria è in questo momento/decisamente/proprio adesso tornata. (6-131) *Maria ha, e tu lo sai benissimo, mangiato la mela.
Daher dürfen die beide Konstruktionen, trotz unterschiedlicher Klitikumsposition, als stark fortgeschrittene Hilfsverbkonstruktionen gelten. Eine mögliche Erklärung der Position des Klitikums in (6-127) kann sein, dass stare bereits soweit auxiliarisiert ist, dass es direkt unter T durch Merge eingefügt werden kann, ähnlich wie essere bei den Kopulativkonstruktionen. Guerón & Hoekstra (1995) nehmen eine solche Derivation für die englischen –––––—– 57
Auch im Altlombardischen, wie Tortora (1994: 384) bemerkt: (i) Le man me son lavando. Das Beispiel stammt ebenso wie das folgende aus Rohlfs (1969, §720: 109): (ii) Fine a tanto che io fo vivando. Die Konstruktion SEIN + Gerundium scheint in den italienischen Varietäten auf das Norditalienische beschränkt zu sein.
225 Progressive-Konstruktionen an, die sie als SC analysieren. Demnach kann die Gerundialform eine eigene Prädikationsphrase bilden, ähnlich etwa einem adjektivischen Pr°. In einem minimalistischen Ansatz können aber dann mit dem Einfügen von T° nicht dessen verbale Finitheitsmerkmale abgeglichen werden, die bei einer finiten T° abgeglichen werden müssen, sodass das passende Hilfsverb durch Merge eingefügt werden muss. Passend ist hier im Italienischen eben nicht das zu allgemeine essere, das sowohl mit SLPs als auch v.a. mit ILPs auftritt, sondern das auf [∃R] spezialisierte stare. Das [-perf]-Merkmal von Pr° kann dann entweder verdeckt oder aber bereits durch das Gerundium, das sich als verbale Form aufgrund eines starken [V]-Merkmals natürlich nach Pr° bewegen muss, überprüft worden sein. Allerdings ergibt sich vorerst bei dieser und den bisher allgemein gemachten Annahmen nur die folgende ungrammatische Derivation: (6-132)
*Maria sta la mangiando.
Das Gerundium muss sich offensichtlich weiter aus Pr° heraus unter T° bewegt haben, und zwar allein und ohne Mitnahme des gesamten Pr°-Komplexes. Als infinite Verbform darf es sich auch allein unter finites T° bewegen und könnte dort, gleich nach Merge von T°, das starke [V]-Merkmal überprüfen. Das starke [Pr]-Merkmal sowie die Finitheitsmerkmale von T° müssen aber weiterhin überprüft werden. Also muss das passende Hilfsverb, nämlich stare, durch Merge eingefügt werden, das diese Merkmale abgleichen kann.58 Der Grund, warum sich nicht das gesamte Pr° nach T° bewegen kann, um das [Pr]-Merkmal abzugleichen, könnte der sein, dass sich kein finites Merkmal unter Pr° befindet. Außerdem ist es ein Kennzeichen von Kopulativkonstruktionen, dass sie Besonderheiten in der Prädikationsbildung und bei dem Abgleich des prädikativen Merkmals aufweisen (vgl. die Unmöglichkeit, kopulative eingebettete Nebensätze zu restrukturieren). Die sich so ergebende Derivation, die der Kopulativkonstruktion59 bis auf die Bewegung des Gerundiums entspricht, sieht also folgendermaßen aus:
–––––—– 58 59
Ähnliches wurde für kopulatives essere auch angenommen, vgl. 5.1. Im Süditalienischen kann stare, wie im Spanischen auch, als nicht lokatives kopulatives Hilfsverb benützt, also mit einer adjektivischen (SLP – Stage Level) PrP kombiniert werden, vgl. stare dignitoso, stare carichi di soldi (GGIC 1991, II: 194).
226 (6-133)
Maria sta mangiandola. CP
C°
TP T'
Spec 'Maria'
PrP
T° Aux° 'sta'
Spec
T°
V V° T 'mangiando' -perf [∃R] agr-ϕ V +finit T[R,E] -finit -perf
Pr'
T Vst Prst +finit nom [∃R]
VP
Pr°
T°
Pr°
D° 'la' V°
V'
Spec Pr°
V°
XP
Pr Vst T -perf [∃R]
Die Konstruktion mit postverbalem Klitikum erweist sich also als diejenige, in der stare nur mehr als kopulativer Verbalmarker für eine SLP-Prädikation fungiert.
6.6
Hilfsverben im Italienischen: Zusammenfassung
Die in Kapitel 5 erarbeiteten Mechanismen bei der Ableitung von Hilfsverbkonstruktionen konnten in diesem Kapitel anhand von Besonderheiten des Italienischen angewandt und in ihrer Analyse ausgebaut werden. Hilfsverbkonstruktionen erweisen sich auch hier als Ausdruck eines Zusammenspiels der mehr oder weniger grammatikalisierten Kopfelemente und der funktionalen Kategorien, v.a. dem Prädikationskopf Pr°. Zusammenfassend können die folgenden Untersuchungsergebnisse aufgeführt werden: − In den temporalen Hilfsverbkonstruktionen mit avere und essere hängt ein möglicher Con-ϕMerkmalsabgleich nur indirekt mit der Wahl des Hilfsverbs zusammen. So führt ein starkes [D]-Merkmal in temporal starkem Pr° sowohl zu Kongruenz als auch zur Hilfsverbselektion von essere. Es gilt aber nicht, dass immer, wenn Partizipialkongruenz auftritt, auch ein starkes [D]-Merkmal in Pr° vorhanden ist. Genauso wenig gilt, dass immer, wenn essere auftritt, auch Kongruenz gegeben sein muss.
227 − Passivisches venire + Partizip ist eine Ersatzform für passivisches essere. Venire kann aber nur die interpretatorisch zweideutigen Formen der ersten T-Relation disambiguieren. Der involvierte Pr-Kopf ist derselbe wie in der Passivkonstruktion mit essere. − Modale Restrukturierungskonstruktionen lassen sich durch die Annahme erklären, dass der eingebettete Infinitivsatz an einer anderen Stelle, nämlich [Spec, V], in die Matrix-VP eingesetzt wird als in nicht-rekonstruierten Konstruktionen, in denen er sich in der normalen VKomplementposition befindet. Der restrukturierte eingebettete Satz ist immer eine TP, dessen infiniter T-Kopf ein starkes [Pr]-Merkmal hat. Alle Restrukturierungsphänomene ergeben sich in natürlicher Weise daraus, dass sich ein eingebettetes V° mitsamt der klitischen Elemente des Pr°-Komplexes unter T°inf sich in ebenso erreichbarer Position befindet, wie das modale Matrixverb selbst. Dadurch muss Pr°Matrix mit der Argumentstruktur des eingebetteten Verbs kompatibel sein. Das Modalverb selbst bewegt sich in einer späteren Stufe unter den modalen PrMatrix-Kopf, um das dort immer vorhandene starke modale [M]-Merkmal abzugleichen. − Die Anhebungsverben potere und dovere subkategorisieren in nicht restrukturiertem Kontext ebenfalls eine TP. Raising-Konstruktionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Matrixsatz über keine Subjekt-θ-Rolle verfügen. Daher muss sowohl in nicht-rekonstruierten als auch in rekonstruierten Kontexten das Subjekt des eingebetteten Satzes in den Matrixsatz angehoben werden. − Das Kontroll-Verb volere subkategorisiert dagegen in nicht-rekonstruiertem Kontext eine CP. Kontroll-Konstruktionen sind dadurch gekennzeichnet, dass der Matrixsatz eine eigene Subjekt-θ-Rolle enthält, die das Subjekt des eingebetteten Satzes mit Hilfe von C° kontrolliert. In rekonstruiertem Kontext dagegen wird ebenfalls TP mit starkem [Pr]-Merkmal in [Spec, VMatrix] eingesetzt. Es gibt keine C° als Nullkasusträger und als Kontrollelement. Das eingebettete Subjekt-PRO kann sich in den Matrixsatz bewegen, wenn Pr°Matrix ein starkes [D]-Merkmal trägt. PRO ist direkt durch das in einer zweiten Spezifikatorposition eingefügte Subjekt des Matrixsatzes kontrolliert. Enthält Pr°Matrix kein starkes [D]-Merkmal, muss PRO in jedem Fall kovert ein in dem volitionalem Pr° angenommenes Nullkasus-Merkmal abgleichen. Die komplexeren volitionalen Restrukturierungskonstruktionen unterscheiden sich also von ihren nicht restrukturierten Pendants im Gegensatz zu den Raising-Konstruktionen auch noch dadurch, dass sich nicht nur ein besonderes T°inf, sondern auch ein besonderes Pr°Matrix in der Derivation befindet. − Gerundialkonstruktionen mit stare sind durch eine imperfektive Interpretation gekennzeichnet, die gleichzeitig auf einen einzeln fokussierten Referenzpunkt abzielt. Stare kann außerdem nie die zweite T-Relation modifizieren, die fest mit dem Wert [E,R] vorgegeben ist. Gerundien sind durch ein [-perf]-Merkmal und den T-Wert [E,R] gekennzeichnet. Die Konstruktion mit dem typischen SLP-Verb stare erlaubt nur die Interpretation des fokussierten Einzelreferenzmoments. Daher kann man in stare ein mit [∃R] vorgegebenes Merkmal annehmen, das mit der Quantifizierung unter dem entsprechenden T° übereinstimmen muss. Der Einfügeort von stare kann sowohl unter T° (Quantifizierung) als auch unter Pr° (SLP-Eigenschaft, imperfektiver Aspekt, vorgegebene zweite T-Relation) angenommen werden. Aus diesen beiden Möglichkeiten ergeben sich die unterschiedlichen Positionierungsmöglichkeiten der Klitika.
Hiermit sind die einzelsprachlichen Betrachtungen hinsichtlich der Hilfsverbkonstruktionen im Italienischen abgeschlossen. Im folgenden Kapitel werden die sardischen Hilfsverbkonstruktionen untersucht, wobei schwerpunktmäßig genau die Idiosynkrasien im Vordergrund der Behandlung stehen, die das Sardische nicht mit dem Italienischen gemeinsam hat.
7
Hilfsverben im Sardischen: Besonderheiten
Eine Untersuchung der Hilfsverbkonstruktionen1 im Sardischen bietet sich zum einen an, da die sardische Syntax eine starke Tendenz zur analytischen Formenbildung und zur Umschreibung mit Hilfe periphrastischer Konstruktionen aufweist (vgl. 7.2, 7.3 und 7.4). Zum anderen geben die sardischen Hilfsverbkonstruktionen ergänzende Einsichten in die Eigenschaften der Hilfsverben und der damit in Zusammenhang stehenden funktionalen Kategorien, da sie sich von den bereits analysierten italienischen Parallelkonstruktionen oft nur minimal unterscheiden (vgl. 7.2, 7.5 und 7.6). Hier werden nun nur die Bereiche, in denen die sardische Syntax Idiosynkrasien in ihren Hilfsverbkonstruktionen aufweist, ausführlich besprochen.2 Bestimmte Phänomene, die bereits in Kapitel fünf und sechs für das Italienische dargestellt worden sind, werden hier nicht wiederholt. Das Sardische wird zunächst kurz syntaktisch skizziert (vgl. 7.1).
–––––—– 1
2
Jones (1988a, vgl. 2.2.5) bietet einen guten Einstieg in die sardische Auxiliarsyntax innerhalb der Generativen Grammatik, allerdings innerhalb des P&P-Modells vor Pollock (1989). Eine minimalistische Analyse fehlt bislang. Die Sprachbeispiele entstammen verschiedenen Quellen und daher auch verschiedenen Varietäten. Da es keine verpflichtende Standardorthographie des Sardischen gibt, wurde die Schreibweise der jeweiligen Quelle beibehalten. Die Beispiele ohne weitere bibliographische Quellenangabe stammen alle aus dem elektronischen Korpus Sa-Limba (1999–2002), einem Kooperationsprojekt der FU Berlin in Zusammenarbeit mit der Universität zu Köln. Sa-Limba enthält den Archivbestand der vom RRZK/ZAIK der Universität zu Köln 1999 eingerichteten Mailing-Liste Sa-Limba zur Förderung der sardischen Sprache und Kultur. Die Kommunikationssprache von Sa-Limba ist fast ausschließlich Sardisch. Bei den Sprachbeispielen wird immer eine Angabe in der Form (SaLimba 1999–2002: Herkunftsort des Autors/der Autorin) gemacht. Dies heißt allerdings nicht, dass es sich um authentische sprechsprachliche Sprachzeugnisse aus der jeweiligen diatopischen Varietät des Sardischen handelt. Zum einen leben viele der SprecherInnen nicht mehr in ihrem Herkunftsort. Zum anderen sind viele der SprecherInnen zweisprachig aufgewachsen, wobei die soziolinguistische Kompetenz und das Verhältnis des Sardischen zum Italienischen bei den einzelnen SprecherInnen sehr unterschiedlich sein kann: Auch bei den zuverlässigsten Muttersprachlern sind immer Interferenzen aus dem Italienischen zu beobachten. Außerdem bleibt das Korpus Sa-Limba, trotz der Nähe zur Oralität, die das Medium Internet als zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit angesiedeltes spontanes Kommunikationsmittel mit sich bringt, ein schriftliches Korpus. Die Einzelbeiträge auch der MuttersprachlerInnen schwanken stark zwischen Versuchen, die eigene Varietät authentisch wiederzugeben, und Bemühungen, auch der allgemeinen Verständlichkeit wegen, sich einer überregionalen, von der dialektalen Fragmentierung abstrahierenden Varietät anzunähern. Abgesehen davon, dass alle SardischsprecherInnen nicht auf Sardisch, sondern auf Italienisch alphabetisiert worden sind, spielen zudem auch die rezenten Standardisierungsentwürfe verstärkt eine einflussnehmende Rolle.
230
7.1
Einführung: Syntaktische Charakterisierung des Sardischen
Das Sardische ergibt trotz seiner starken dialektalen Fragmentierung auf der Systemebene der Syntax ein doch recht homogenes Bild.3 Auch wenn in diesem Kapitel im Allgemeinen von ‘dem Sardischen’ gesprochen wird, geschieht das in dem Bewusstsein, dass es ‘das Sardische’ als standardisierte romanische Sprache nicht gibt.4 Im Folgenden werden Besonderheiten des Sardischen beschrieben, soweit sie für Hilfsverbkonstruktionen und ihre Derivation relevant sind.5 7.1.1 Verbbewegung und Klitika Das Sardische ist wie das Italienische eine pro-drop-Sprache, also eine Sprache, die phonologisch leere Subjekte zulässt. Auch im Sardischen trägt finites T° ein starkes [V]- und ein starkes [D]-Merkmal, sodass sich sowohl das Subjekt als auch das finite Verb nach T° bewegen müssen. Es verfügt ebenfalls über ein System klitischer Pronomina, die als unbetonte Formen immer an Verbformen klitisieren müssen. Hier ergibt sich ein erster Unterschied des Sardischen zum Italienischen. Während sich im Italienischen die Klitika in eingebetteten Infinitivsätzen, die kein Clitic Climbing erlauben, immer postverbal nach dem Infinitiv befinden, stehen sie im Sardischen immer präverbal vor dem Infinitiv: (7-1) (7-2)
Giovanni prova a farlo. Juanne provat a lu fákere. (Jones 1993: 143)6
Dies erinnert an die Position der Klitika im Französischen, die sich dadurch ergibt, dass sich im Französischen der Infinitiv, anders als im Italienischen, nicht nach T° bewegen muss: (7-3) (7-4) (7-5) (7-6)
frz. frz. it. it.
Ne plus paraître triste… *Ne paraîtrei plus ti triste… *Non più sembrare triste… Non sembrarei più ti triste… (Alle vier Beispiele aus Pollock 1989)
–––––—– 3 4 5 6
Vgl. Jones (1988b: 334): “Unlike the phonology and morphology, the syntax of Sardinian is reasonably uniform.” Zu den Diskussionen um die LSU (Limba Sarda Unificada) und zu den einzelnen Standardisierungsvorschlägen vgl. http://www.limbasarda.it sowie Grimaldi & Mensching (2004, 2005). Nicht besprochen werden daher die sardischen Konstruktionen mit präpositionalem Akkusativ, die flektierten Infinitive (vgl. auch Jones 1992), die Besonderheiten der sardischen DP u.v.a.m. Die Sprachdaten von Jones (1993) stammen aus Lula in der Provinz Nuoro, also aus dem Zentrallogudoresischen.
231 Im Sardischen allerdings müssen sich auch Infinitive wie im Italienischen nach T° bewegen,7 vgl. den folgenden Satz: (7-7)
Juanne pro no parrer prus seriu s’est estitu de pajiatzu. (Sa-Limba 1999–2002: Bitti)
bzw. die zu (7-3) bis (7-6) parallelen Beispiele: (7-8) (7-9)
*Pro no prus pàrrere seriu… Pro no pàrrerei prus ti seriu…
Im Sardischen muss sich daher auch in infiniten Sätzen immer der gesamte Pr°-Komplex nach T°inf bewegt haben. Im Italienischen hat nur das finite T° ein starkes [Pr]-Merkmal, d.h. ein Merkmal, das einen ebenfalls finiten Pr°-Komplex anzieht (ansonsten aber durch Merge eines expletiven Hilfsverbs überprüft werden kann wie bei den Kopulativkonstruktionen, vgl. 5.1, oder der zweiten Derivation von stare + Gerundium, vgl. 6.5). Infinites T° hat im Italienischen (bis auf die unter den Restrukturierungsverben behandelten Ausnahmen, vgl. 6.4) nur ein starkes [V]-Merkmal, aber kein starkes [Pr]-Merkmal, sodass sich hier der Infinitiv allein (ohne den gesamten Pr°-Komplex) nach T° bewegen kann. Im Sardischen kann man nun, unabhängig von Finitheit oder Infinitheit der Konstruktion, immer ein starkes [Pr]-Merkmal annehmen,8 sodass sich auch in Infinitivsätzen der gesamte Pr-Komplex nach T° bewegen muss, vgl. die folgende Derivation:
–––––—– 7
8
Kayne (1991) nimmt für das Italienische an, dass Klitika in T°-Adjunktposition basisgeneriert werden. Italienische Infinitive bewegen sich zunächst in eine unter T° gelegene Adjunkt-Position Inf (die für die Endung -re steht) und dann weiter in eine an T° linksadjungierte Position, sodass die enklitische Position entsteht. Für das Französische dagegen nimmt Kayne an, dass sich der Infinitiv nicht über Inf hinausbewegt und die Klitika außerdem in dieser tiefer gelegenen funktionalen Kategorie und nicht in T° basisgeneriert werden: Deshalb ergibt sich auch für die Infinitive im Französischen die Proklise. Sardische Infinitive dagegen bewegen sich direkt nach T° (also nicht in eine Adjunktposition wie im Italienischen), wobei auch hier das Klitikum schließlich wie im Italienischen an T° adjungiert wird; es ergibt sich ebenfalls die Proklise. Es ergibt sich also für das Sardische im Gegensatz zum Italienischen: Sprache Sard. Sard. Ital. Ital. Ital.
Element finites T infinites T finites T infinites T infin. modales T (restrukt.)
{phonol. {∅ {∅ {∅ {∅ {∅
semant. [Tempus] [Tempus] [Tempus] [Tempus] [Tempus]
formale Merkmale} [T,+finit,Vst,Prst,Dst,nom]} [T,-finit,Vst,Prst,Dst]} [T,+finit,Vst,Prst,Dst,nom]} [T,-finit,Vst,Pr,Dst]} [T,-finit,Vst,Prst,Dst,mod]}
232 (7-10)
Juanne provat a lu fákere. CP
C° 'a'
TP
Spec 'PRO'
T'
T°
Pr°
D° 'lu'
PrP
T°
Pr'
T Vst Prst Dst -finit
Pr°
V° 'fákere'
Spec
Pr°
Pr°
D°
VP
Spec
Pr°
V°
Pr°
V'
V°
XP
Durch diesen minimalen Unterschied in der Merkmalszusammensetzung von T° ist die Parametrisierung hinsichtlich der Stellung der sardischen Klitika erfasst. 7.1.2 Analytische Formen Das Sardische hat eine stärkere Neigung zu analytischen Formen als andere romanische Sprachen.9 Die sardischen Verbformen zeichnen sich dadurch aus, dass es nur vier synthetische, aber acht analytische Zeiten gibt.10 So wird z.B. auch für das normale Präsens die Bildung mit Gerundium bevorzugt (vgl. 7.6). Synthetische Formen, die dem alten Perfekt entsprechen, sind nur noch in wenigen marginalen Gebieten zu finden. Die meisten Dialekte verfügen nur über das analytische Perfekt, das weitere Besonderheiten bei der Hilfsverbselektion aufweist (vgl. 7.2). In den Verbalparadigmen werden außerdem der Konditional und das Futur nur analytisch gebildet (vgl. 7.3), vgl. die folgenden Sätze: (7-11) (7-12)
Diat esser menzus torrare a Nùgoro. (Konditional) Appo a torrare a Nùgoro. (Futur)
–––––—– 9
10
Diese Tendenz zur analytischen Bildung betrifft nicht nur die Verbformen, sondern u.a. auch die Bildung der Adverbien: Das Sardische besitzt keine Wortbildungsregel mit -mente, sodass die Adverbialbildung oft periphrastisch ausgeführt wird. Vgl. die typologische Übersicht bei Iliescu & Mourin (1991: 447, 476).
233 Das Futur (hier Futur II) kann außerdem noch mit Kurzformen des Verbs dévere gebildet werden: (7-13)
Sos òspites an a/den èssere thuccatos prima de arrivare nois. (Futur II) (Jones 1993: 91)
Die Modalverbkonstruktionen mit chérrere, pótere und den Vollformen von dévere (u.a.) zeichnen sich durch eine stärkere Grammatikalisierung der Modalhilfsverben aus, indem sie nur mehr ‘restrukturierte’ Derivationen zulassen (vgl. 7.5). Das Verb chérrere kann darüber hinaus auch als Hilfsverb + Partizip in einer nicht seltenen passivischen Konstruktion, oft Want-Passiv (vgl. Ledgeway 2000a) genannt, verwendet werden (vgl. 7.6). Gerade durch seine ausgeprägte Tendenz zu analytischen Bildungen bietet daher das Sardische ein hervorragendes weiteres Anwendungsgebiet sowohl für die Untersuchung der Hilfsverben im MP als auch für die bisher gemachten Beobachtungen. 7.1.3 Fronting Auffällig im Sardischen sind außerdem so genannte Fronting-Phänomene, d.h. Derivationen, in denen einzelne Elemente eines Satzes, die nicht unbedingt Konstituentencharakter haben müssen, nach links versetzt werden können. Diese Phänomene sind bisher generativistisch nur ansatzweise untersucht worden (vgl. Jones 1993: 338f. sowie Mensching 1999) und können auch in dieser Arbeit nicht ausführlich behandelt werden. Wichtig ist es hier, v.a. zwischen Topikalisierung und Fokusposition zu unterscheiden: Die hier zu untersuchenden Phänomene betreffen Fokus, sie treten oft gerade auch in Interrogativsätzen auf. Dabei wird, im Gegensatz zur thematisierenden Topikalisierung, das versetzte Element nicht durch eine Pause vom Restsatz getrennt und nicht durch ein (dann meist obligatorisches) Klitikum wiederaufgenommen. Hilfsverbkonstruktionen sind insofern von FrontingPhänomenen betroffen, als auch die zu ihnen gehörenden infiniten Formen in monoklausalen Strukturen vor das finite Verb versetzt werden können, sodass das Hilfsverb isoliert in einer tieferen Position zurückbleibt, vgl.: (7-14) (7-15) (7-16) (7-17)
Mandicatu as? Istraccu ses? Appo natu ki arrivatos sun. (Beispiele aus Jones 1993: 339) Arrivatu det éssere (su trenu). (Jones 1993: 340)
Die infinite Form kann hier über die finite Hilfsverbform hinaus bewegt werden. Die beiden Bestandteile der analytischen Form können also getrennt werden. Ebenso sind diese Bewegungen bei denjenigen der Modalverbkonstruktionen möglich, die obligatorisch restrukturiert werden müssen: (7-18) (7-19)
La cherimus murghere. => Murgher la cherimus. Lu depes tímere. => Tímere lu depes. (Beispiele aus Corda 1994: 60)11
–––––—– 11
Corda (1994) ist eine beschreibende Grammatik des Logudoresischen.
234 Bei Jones wird die Möglichkeit des Fronting einerseits als Konstituententest verstanden (Jones 1993: 18), was aber angesichts der Vielzahl der Bewegungsmöglichkeiten auch von Köpfen oder X'-Elementen problematisch erscheint,12 andererseits als Indikator für Monoklausalität gewertet, da diese Erscheinung bei biklausalen Strukturen nicht möglich ist. Die folgenden Beispielsätze stellen eindeutig biklausale Konstruktionen mit Matrixsatz und eingebetteter CP dar. Fokussierendes Fronting des eingebetteten Satzes ist hier verboten: (7-20) (7-21) (7-22)
*A cantare provas? *Ki as cantatu credo. (Beispiele aus Jones 1993: 144) *Ki su trenu est in ritardu credo. (Jones 1993: 338)
Zu beobachten ist, dass meist nicht nur die verbalen Formen bewegt werden, sondern die gesamte infinite VP einschließlich ihrer Argumente (vgl. besonders (7-23), (7-27) und (731) in den nun folgenden Beispielen). Beispiele für Fronting in Gerundialkonstruktionen sind: (7-23) (7-24) (7-25)
camp. Lá, bennendi a ghetai su bandu funt… (Blasco Ferrer 1986: 206)13 Torrande sezis? (Pittau 1991: 142) Itte ses faghende? Isettande zente.14 (Pittau 1991: 140)
Weitere Beispiele für Fronting der VP in den zusammengesetzten Zeiten des Perfekts sind: (7-26) (7-27) (7-28) (7-29) (7-30) (7-31) (7-32) (7-33)
log. log.
Leada ’nche an. (Blasco Ferrer 1986: 206) Mortu in s’ispidale est? (Blasco Ferrer 1986: 194) Andadu sicch’est? Vénnidas sunt? Su travallu fattu ant? S’ebba vida bi l’as? Mandigadu as? Mandigadu appo. Lavadu ti ses? Lavadu mi soe. (Beispiele aus Pittau 1991: 142)
–––––—– 12 13 14
Vgl. hierzu Fn. 18. Blasco Ferrer stellt in seinen Beschreibungen des Sardischen immer campidanesische und logudoresische Beispiele gegenüber. Die fokussierte infinite Verbalform kann hier in der Antwort auch isoliert, also nicht nur getrennt vom finiten Hilfsverb, sondern ganz ohne Hilfsverb erscheinen.
235 Fronting infiniter Formen ist im Überblick in all den folgenden Konstruktionen möglich:15 (7-34) (7-35) (7-36) (7-37) (7-38) (7-39)
Cantatu as? (Perfekt) Cantare keres? (Modalverbkonstruktion) Cantande ses? (Gerundialkonstruktion) (Beispiele aus Jones 1993: 144) A bennere at s’attunzu? (Futur mit aere a)16 (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) E bastare diat! (Konditional) Ma maccu ses? (Kopulativkonstruktion) (Beispiele aus Pittau 1991: 141)
Beispiel (7-39) zeigt, dass die bewegte Konstituente nicht unbedingt eine VP sein muss, sondern auch eine prädikative AP sein kann. Eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit des Fronting ist, dass die Subjektposition in [Spec, T] nicht overt besetzt ist: (7-40) (7-41) (7-42) (7-43)
*Troppu grassu Juanne est. Troppu grassu est Juanne. (Beide Beispiele aus Jones 1993: 18–19) *Supra sa mesa Juanne l’at postu. *Ballatu Juanne at. (Beide Beispiele aus Jones 1993: 339)
C° dagegen kann besetzt sein, wobei das vorangestellte Element zwischen C° und dem finiten Verb zu stehen kommt: (7-44) (7-45)
Credío ki maláidu fis. Appo natu ki arrivatos sun. (Beispiele aus Jones 1993: 339)
Die bewegte Konstituente könnte daher in [Spec, T] landen. Eine AP würde demzufolge im Sardischen anstatt einer DP das starke [D]-Merkmal bzw. das allgemeinere [EPP]-Merkmal überprüfen können.17 Außerdem wird es mit der für Fokus verantwortlichen CP einen Abgleich eines Fokusmerkmals mit T° sowie einen Abgleich des entsprechenden fokussierten kategoriellen Merkmals geben. Es kann also die folgende Ableitung vorgeschlagen werden:
–––––—– 15 16
17
Bei Passivkonstruktionen, für die hier kein Beispiel vorliegt, dürfte Fronting wie bei den Kopulativkonstruktionen ebenfalls möglich sein. Jones (1988a: 185) sagt, dass Fronting mit dem futurischen aere a nicht möglich sei. In Jones (1993) allerdings findet sich eine modifizierte Aussage: Demnach ist die Situation eventuell durch unterschiedliche Varietäten bedingt unklar. Spano, den Jones zitiert (1993: 147), scheint Fronting des Infinitivs im Futur zu erlauben: (i) A bider l’hamus. (Spano 1840: 86, Fn. 1) Die InformantInnen von Jones dagegen eher nicht: (ii) ??A travallare as cras? (Jones 1993: 147) Ein Parallelfall, wo Nicht-Subjekte das [EPP]-Merkmal abgleichen können, sind die von Moro (1993, 1997) untersuchten invertierten Kopulativsätze, vgl. 5.1.
236 (7-46)
Troppu grassu est Juanne. CP
C°
TP
fok A +finit
AP
Spec 'Troppu'
T'
A'
A° 'grassu'
A con-ϕ
T°
XP
Aux° 'est' V Pr° T agr-ϕ +finit
PrP
T°
Spec 'Juanne' T° T Vst Prst fok nom EPP +finit
Pr'
Pr° Pr A T
AP
Spec
A'
A°
XP
Ebenso darf man vermuten, dass auch eine VP im Sardischen in der Lage ist, dieses [EPP]Merkmal abzugleichen. Dabei muss allerdings ein direktes Objekt im (nicht-präpositionalen) Akkusativ18 immer mit bewegt werden (vgl. Jones 1993: 341).19 Um eine Bewegung der VP als Gesamtkonstituente möglich zu machen, muss angenommen werden, dass sich
–––––—– 18
19
Overte direkte Objekt-DPs müssen immer mit der VP nach vorne bewegt werden. Allerdings ist die Anordnung hinsichtlich des infiniten Verbalelements unterschiedlich. Die Ableitung von Sätzen des folgenden Typs z.B. muss komplexer sein: (i) Mandatu sa líttera appo. (ii) Mandicare su casu keljo. (beide Beispiele aus Jones 1993: 338) (iii) log. Retzidu notízias malas de su fizu at? (Blasco Ferrer 1986: 206) Diese Fälle können hier genausowenig berücksichtigt werden wie die Tatsache, dass sich andere Argumente von V, etwa eine PP oder eine DP im präpositionalen Akkusativ, nicht unbedingt mit bewegen müssen, sodass man von einem Alternativansatz von Kopfbewegungen ausgehen muss (vgl. Jones 1993: 341–342). Einen solchen Alternativvorschlag mit Kopfbewegung (und Exkorporation) bräuchte man auch für die futurischen Hilfsverbkonstruktionen und die des Konditional, bei denen das Hilfsverb erst unter T° durch Merge in die Derivation gelangt (vgl. 7.4). Die höchst komplizierten Fronting-Muster des Sardischen können hier nicht tiefergehend besprochen werden. In diesem Punkt scheint sich das Sardische von den LHM-Konstruktionen (Long Head Movement), die Roberts (1993: 37) anführt, zu unterscheiden, vgl.: (i) altspan. Darte he un exemplo.
237 im Sardischen das infinite Vollverb nicht unbedingt unter das verbale Pr° bewegen muss.20 Außerdem kann das starke [V]-Merkmal in Pr° gerade in Hilfsverbkonstruktionen, bei denen das Hilfsverb unter Pr° durch Merge eingefügt wird, auch durch das Hilfsverb selbst als ein expletives Element überprüft werden. Unter einer solchen Annahme ergibt sich die folgende Derivation für das Fronting einer transitiven VP: (7-47)
Su travallu fattu ant. CP
C°
TP
fok V +finit
VP
T'
Spec 'Su travallu'
V'
V° 'fattu'
T°
XP
Pr° Aux° 'ant'
V con-ϕ +perf -finit
V T agr-ϕ +finit
PrP
T° Pr°
T Vst Prst fok nom EPP +finit
Spec 'pro'
Pr' Pr°
Aux°
VP
Pr° Pr Vst Tst akk D +perf
V'
Spec
V°
XP
Problematisch aber wird die Derivation bei Fronting einer unakkusativischen VP: Ein unakkusativisches internes Argument muss sich in jedem Fall nach [Spec, Pr] bewegen, da ein unakkusativischer Pr-Kopf ein starkes [D]-Merkmal hat, wie aus der Hilfsverbselektion ersichtlich wird. Also kann sich nicht die gesamte VP nach [Spec, T] bewegen, um das [EPP]-Merkmal zu überprüfen, da sich die Spur des bewegten internen Arguments mit bewegen müsste und in der neuen Landeposition unregiert bliebe. Aus diesem Grund möchte ich hier provisorisch annehmen, dass sich im Falle der unakkusativischen Konstruktionen nur der V'-Unterbaum bewegt.21 Ob diese Annahme gerechtfertigt ist, müsste noch genauer untersucht werden. Da eine solche Untersuchung in dieser Arbeit zu weit –––––—– 20
21
Die Möglichkeit, einen Floating Quantifier wie tottu, der an ein direktes Objekt gebunden ist, zwischen Hilfsverb und Partizip zu setzen, scheint ebenfalls für diese Annahme zu sprechen, vgl. (i) neben (ii): (i) Appo tottu mandigadu. (ii) Appo mandigadu tottu. (Beispiele aus Cinque 1999: 46) Eine derartige Bewegung ist eigentlich theoriefremd; es stehen also Untersuchungen aus, die dieses Phänomen theoriekonform erklären.
238 führen würde, soll von dieser provisorischen Annahme ausgegangen werden, aufgrund derer sich die folgende Derivation ergibt: (7-48)
Mortu in s’ispidale est. CP C° fok V +finit
TP V'
T'
V° XP 'Mortu' 'in s'ispidale'
T° Pr°
V con-ϕ +perf
Aux° 'est' V T Dst agr-ϕ +finit
PrP T°
Pr°
T Vst Prst fok nom EPPst +finit
Spec 'pro'
Pr' Pr° Aux°
VP Pr° Pr Vst Tst Dst +perf
Spec
V' V°
XP
Wichtig ist hier festzuhalten, dass in allen Konstruktionen in den Beispielen (7-34) bis (739) Fronting stattgefunden hat. Bei V'- oder VP-Fronting kann in temporalen Hilfsverbkonstruktionen davon ausgegangen werden, dass sich der V-Kopf nicht nach Pr° bewegt hat, da ein Hilfsverb den [V]-Merkmalsabgleich übernimmt. Ohne Hilfsverb ist dies nur in nicht-verbalen Prädikativkonstruktionen möglich, bei denen es kein starkes [V]-Merkmal abzugleichen gibt und das kopulative Hilfsverb erst unter T° in die Derivation gelangt. Dementsprechend kann man bei all den vorliegenden Konstruktionen davon ausgehen, dass es sich um echte Hilfsverbkonstruktionen des Sardischen handelt, d.h. dass die darin enthaltenen finiten Verben als Verben mit Hilfsverbstatus in monoklausalen Strukturen betrachtet werden können. In den folgenden Unterkapiteln werden nun die sardischen Besonderheiten der Hilfsverbkonstruktionen untersucht, zunächst die Besonderheiten des Sardischen bei der Hilfsverbselektion in den zusammengesetzten Zeiten mit Partizip (vgl. 7.2), dann die dem Sardischen eigenen Futur- und Konditionalkonstruktionen (vgl. 7.3), das sardische deontische Passiv mit WOLLEN (vgl. 7.4), die obligatorisch restrukturierenden Modalverbkonstruktionen des Sardischen (vgl. 7.5) sowie schließlich die im Sardischen sehr häufig verwendeten Gerundialkonstruktionen (vgl. 7.6).
239
7.2
HABEN und SEIN + Partizip
Die Bildung der zusammengesetzten Zeiten funktioniert im Sardischen prinzipiell wie im Italienischen: Abhängig von der Merkmalszusammensetzung von Pr° wird bei einem starkem [T]-Merkmal mit dem Wert [E_R] eines der beiden temporalen Hilfsverben durch Merge an Pr° adjungiert, sodass sofortiger Merkmalsabgleich stattfinden kann. Hat Pr° ein starkes [D]-Merkmal wie bei den unakkusativischen Prädikationen wird éssere, hat Pr° kein starkes [D]-Merkmal wie bei den transitiven und übrigen intransitiven Konstruktionen wird aére eingefügt:22 (7-49) (7-50)
Maria at abertu sa janna. (Jones 1993: 120) Maria est arrivata. (Jones 1993: 110)
Allerdings gibt es bei der Hilfsverbselektion zwei Fälle, in denen sich das Sardische vom Italienischen unterscheidet: Zum einen betrifft das die zusammengesetzten Zeiten in Reflexivkonstruktionen (vgl. 7.2.1), zum anderen die dem Sardischen eigenen unpersönlichen Konstruktionen mit dem expletivem Element bi (vgl. 7.2.2). 7.2.1 Reflexivkonstruktionen Was Reflexivkonstruktionen und die Konstruktionen mit si betrifft, gibt es im Sardischen, wie im Italienischen (vgl. 5.4), die mit Reflexivum lexikalisierten pronominalen Verben (si divértere, s’ispassiare etc., vgl. Jones 1993: 119f.) und die ergativ-reflexiven Verben (vgl. (7-52)), weiterhin die echten Reflexivkonstruktionen (vgl. (7-51)) und die Verwendung von si in passivisch-medialem Kontext (vgl. (7-53)) sowie die unpersönlichen Konstruktionen mit si (vgl. (7-54)): (7-51) (7-52) (7-53) (7-54)
Juanne credet ki Gavini si videt in s’isprecu. (reflexiv) (Jones 1993: 240) Appo serrata sa janna pro ki non s’istrempret. (ergativ-reflexiv) (Jones 1993: 248) Cussas cosas non si faken. (passivisch-medial) In custa bidda si ballat meta. (unpersönlich) (Beispiele aus Jones 1993: 127)
–––––—– 22
Der Vollverbgebrauch von áere ist im Sardischen stark eingeschränkt. Besonders als possessives Verb wird öfter das neuere ténnere gebraucht (vgl. Corda 1994: 64, Pittau 1991: 105).
240 Die Hilfsverbselektion entspricht bei diesen Konstruktionen der des Italienischen: (7-55) (7-56) (7-57) (7-58) (7-59)
Mi so pentitu de èssere ghiratu gai tardu. (lexikalisch/inhärent reflexiv => éssere) (Jones 1993: 260) Sa tzíkkera s’est candita. (ergativ-reflexiv => éssere) (Jones 1993: 110) Juanne s’est vistu in s’isprecu. (reflexiv => éssere) (Jones 1993: 131) Si sun fráicados metas domos accurtz’a mare. (passivisch-medial => éssere) (modifiziert nach Jones 1993: 128) S’est detzisu ki Juanne sinke devíat andare. (unpersönlich => éssere) (Jones 1993: 127)
Allerdings gibt es eine Ausnahme: Wenn es sich in den echten Reflexivkonstruktionen (und den Spezialfällen der reziproken Reflexivkonstruktionen) bei dem Argument, das reflexiviert wird, nicht um ein direktes, also in [Spec, V] generiertes Objekt, sondern um ein indirektes, also in der Komplementposition von V generiertes Objekt handelt, bleibt die Hilfsverbselektion áere: (7-60) (7-61) (7-62) (7-63)
Maria e Lukia s’an mandatu paritzas lítteras. (dativ.-reziprok => áere) Juanne s’at fraicatu una bella domo. (dativ.-reflexiv => áere) (Beispiele aus Jones 1993: 131) bOre e ppeDru z an daDu Duaz istutturra!Daza. (dativ.-reziprok => áere) mang*eˇˇa z aD iskrittu Dual li!tteraza. (dativ.-reflexiv => áere) (Beispiele aus Loporcaro 1998: 46)23
Sowohl in den dativisch-reflexiven Konstruktionen (vgl. (7-61) und (7-63)) als auch in den dativisch-reziproken Konstruktionen (vgl. (7-60) und (7-62)) bleibt das Hilfsverb von der transitiven Konstruktionsart des Prädikats bestimmt. Hier gibt es also offensichtlich einen Unterschied in der Parametrisierung des Sardischen. Zur Erklärung dieser Unterschiede der von ihm präsentierten Daten stellt Jones zwei alternative Hypothesen auf (Jones 1993: 132): a. b.
Reflexive clitics trigger selection of éssere unless the verb is accompanied by a direct object. Accusative (but not dative) reflexive clitics trigger selection of éssere.
Auch wenn aufgrund mangelnder Beispiele die erste Hypothese nicht widerlegt werden kann (es ist schwierig, im Sardischen Verben zu finden, die nur ein indirektes Objekt und nicht gleichzeitig auch ein direktes Objekt als Argument haben, vgl. Jones 1993: 132–133), gibt Jones der zweiten Hypothese den Vorzug. Loporcaro, der im Rahmen der Relational Grammar (vgl. Blake 1990) arbeitet, fordert für die Partizipialkongruenz, dass das kongruierende Element das erste Element im syntaktischen Prozess ist, das die grammatische Relation 2 (also die des direkten Objekts) aufweist. Für die Hilfsverbselektion mit éssere wird gefordert, dass das Element, das auf dem letzten Stratum (also in der Oberflächenstruktur) die grammatische Relation 1 hat (also das Subjekt), gleichzeitig wiederum das erste Element mit der grammatischen Relation 2 im syntaktischen Prozess sein muss (Loporcaro 1998: 57). Innerhalb des hier angewandten –––––—– 23
Die Sprachdaten von Loporcaro (1998) stammen aus dem Sardischen von Bonorva, einer logudoresischen Varietät in der Provinz Sassari.
241 theoretischen Rahmens des MP lässt sich Loporcaros Feststellung folgendermaßen formulieren: Im Sardischen ergibt sich Hilfsverbselektion éssere und Partizipialkongruenz nur, wenn das Oberflächen-Subjekt als DP in [Spec, V] und nicht in Komplementposition durch Merge eingefügt wurde. Jones Hypothese (b) ist insofern nicht vollständig, als sie die eigentliche Ursache für die Hilfsverbselektion, nämlich den Mechanismus, der auch die Anhebung des Objekts zum Subjekt bewirkt, außer Acht lässt. Wie bereits in 3.5.2 (und bei Loporcaro 1998 und v.a. Cocchi 1994, 1995) dargestellt, ist das Oberflächensubjekt in Reflexivkonstruktionen nicht das basisgenerierte Subjekt. Das Reflexivum ist auch nicht ein pronominales Element, das entweder ein direktes oder ein indirektes Objekt wiederaufnimmt. Vielmehr wird das Reflexivum selbst durch Merge in die Subjektsposition (hier Adjunktposition wegen seines Kopfstatus’) unter Pr° eingefügt, während die reflexivierte Subjekt-DP tatsächlich als direktes oder indirektes Objekt in die VP eingesetzt wird und erst im Laufe der Derivation nach [Spec, T] gelangt. In 3.5.2 wurde nun der minimalistische Ansatz vertreten, dass das reflexive si ein starkes [D]-Merkmal darstellt, das letztlich die Anhebung der entsprechenden DP bewirkt. Jones (1993) hat zwar insofern recht, als dieses si einmal Akkusativ, einmal Dativ tragen kann. Kasusfragen können aber nicht ausschlaggebend für die fehlende Partizipialkongruenz und die Hilfsverbselektion áere bei dativisch-reflexiven Konstruktionen des Sardischen sein. Im Italienischen wurde für die Konstruktionen vom Typ Maria si lava le mani angenommen, dass Maria durch Merge in die Komplement-Position der VP eingefügt wird und erst in einem zweiten Schritt, ähnlich dem englischen Dative Shift nach [Spec, V], in die übliche Position für das direkte Objekt gelangt (gegebenenfalls über Mehrfachspezifikatorenbildung). Von dort aus muss die DP schließlich aufgrund des starken [D]-Merkmals des durch Merge unter Pr° eingefügten Reflexivums si nach [Spec, Pr] bewegt werden. Also konnte für die reflexiven Klitika im Italienischen folgende Merkmalszusammensetzung angenommen werden (vgl. 3.5.2, die Darstellung sei hier der Übersichtlichkeit wegen nochmals wiederholt): (7-64)
Reflexives si im Italienischen
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,dat]}
Im Sardischen dagegen scheint die Anhebung nach [Spec, Pr] nur im Falle des akkusativischen Klitikums zustande zu kommen. Dies kann nun zweierlei Gründe haben: Entweder ist eine Anhebung eines indirekten Objekts nach [Spec, V] nicht erlaubt, oder das dativische Reflexivum hat im Sardischen eine andere Merkmalszusammensetzung als im Italienischen. Der erste Lösungsvorschlag würde bedeuten, dass dativisches si weiterhin ein starkes [D]-Merkmal trägt und die reflexierte Subjekt-DP in der Komplement-Position der VP durch Merge eingefügt würde, sich von dort aus aber nicht weiter bewegen könnte. Da das starke [D]-Merkmal in si aber abgeglichen werden müsste, würde sich die direkte ObjektDP, so wie in den akkusativischen Reflexivkonstruktionen auch, nach [Spec, Pr] bewegen.
242 Dies ergäbe aber die folgende ungrammatische (oder zumindest semantisch nicht interpretierbare) Derivation: ‘Juanne at fraicatu una domo a Juanne.’ => *Una domo si at fraicatu a Juanne.
(7-65)
Daher erscheint der zweite Lösungsvorschlag plausibler. Wenn si kein starkes [D]-Merkmal hat, dann ist es tatsächlich ein mit dem indirekten Objekt koindiziertes Pronomen und die eigentliche Subjekt-DP wird direkt in [Spec, Pr] durch Merge eingefügt. Es ergibt sich die folgende (Teil-)Derivation: (7-66)
Juanne s’at fraicatu una domo [a isse]. PrP
Spec 'Juanne' D nom θ ϕ
Pr' Pr° Pr°
X° 'si' dat θana
VP
Aux° 'at'
V'
Spec 'una domo' Pr°
V V° T +finit 'fraicatu' agr-ϕ
V°
PP [a isse]
Pr° Pr Vst D akk dat +perf
Bei der akkusativischen Reflexivkonstruktion funktioniert das Sardische in der Ableitung dagegen genauso wie das Italienische. Also ergeben sich zusammengefasst für die sardischen Reflexivpronomina die folgenden Merkmalsstrukturen: (7-67)
Reflexives si im Sardischen
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[Dst,akk]}
si
{/si/klit
[θanaphorisch]
[D,dat]}
Die unterschiedlichen Derivationen im Sardischen und im Italienischen in den dativischen Reflexivkonstruktionen erklären sich also anhand einer minimalen Merkmalsparametrisierung eines Lexikoneintrags.
243 7.2.2 Unpersönliche/expletive/existentielle Konstruktionen Im Sardischen gibt es bei unpersönlichen Konstruktionen Definitheitseffekte zu beobachten, die sich u.a. auch in Kongruenzphänomenen niederschlagen. In den folgenden Beispielen kommt es, obwohl in beiden Fällen das Subjekt gleichermaßen postverbal ist, nur zu Agr-ϕ-Abgleich, wenn das Subjekt definit ist (vgl. (7-69) und (7-71)). Ist das Subjekt indefinit, bleibt dieser Abgleich aus und das Verb erscheint in seiner Default-Form (3. Sg., vgl. (7-68) und (7-70)):24 (7-68) (7-69) (7-70) (7-71)
Bi mancat duos buttones. Bi mancan sos buttones. (beide Beispiele aus Jones 1993: 106) B’at metas frores in sa tanca. Bi sun sos prattos in mesa. (beide Beispiele aus Jones 1993: 113)
Das Element bi kann hier nur in den Beispielen (7-68) und (7-70) als Expletivum verstanden werden, in (7-69) und (7-71) dagegen ist bi eine lokative Partikel, wie Jones (1993: 103, 114) zeigt. In beiden Fällen muss jedoch das starke [D]-Merkmal in T° overt abgeglichen werden. Das expletive bi gleicht das starke [D]-Merkmal in (7-68) und (7-70) ab; da bi aber keine ϕ-Merkmale hat, gibt es keine verbale Kongruenz. In (7-69) und (7-71), den Fällen mit einer definiten DP, muss man annehmen, dass in [Spec, T] ein leeres pro steht, welches das starke [D]-Merkmal überprüft und außerdem den Abgleich der Agr-ϕ-Merkmale zwischen Subjekt und Verb (auch kovert) zulässt. Im Falle einer indefiniten DP kann ein solches, expletives pro die Derivation nicht retten, sondern es muss das expletive bi in die Derivation gelangen, das nur Default-ϕ-Merkmalsabgleich erlaubt. Im Sardischen scheint also ein expletives pro immer auch definit sein zu müssen. In den folgenden Beispielen, die nun temporale Hilfsverbkonstruktionen darstellen, ist die obligatorische Verwendung von bi im indefiniten Fall ohne Agr-ϕ-Abgleich noch deutlicher, denn im definiten Fall kann bi auch ganz fehlen: (7-72) (7-73)
An ballatu cussas pitzinnas. B’at ballatu tres pitzinnas. (beide Beispiele aus Jones 1993: 105)
Wenn das Subjekt präverbal steht, ergibt sich immer verbales Agreement, d.h. es findet immer Agr-ϕ-Merkmalsabgleich statt (es befinden sich also keine leeren Subjekt-Elemente in der Derivation): –––––—– 24
Weitere Beispiele für postverbale indefinite Subjekte ohne Verbalkongruenz sind: (i) E poi, sos scienthiados sunt comente de sos politicos: bi nd’at bonos e bi nd’at malos... (SaLimba 1999–2002: Iglesias) (ii) Non esistint duas “etnias” in Sardinnia. Forsis bi nd’at una, oppuru bi nd’at medas. (Sa-Limba 1999–2002: Iglesias) (iii) Poi bi aiat tantos amigos chi sunt scrittos in custa lista ed est stadu de aberu bellu a los connoscer de persona. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) (iv) Bi cheret aimas bonas e concas preparadas chi la iscant maniljare. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
244 (7-74) (7-75) (7-76)
Cussas pitzinnas an ballatu. Tres pitzinnas an ballatu. (beide Beispiele aus Jones 1993: 105) *Tres pitzinnas at ballatu. (Jones 1993: 106)
Allerdings gibt es auch das folgenden Satzmuster, wo es zu verbalem Agreement kommt, obwohl es sich um eine indefinite DP in postverbaler Position handelt: (7-77)
An ballatu tres pitzinnas. (Jones 1993: 105)
Diese Konstruktion würde der oben gemachten Bobachtung widersprechen, dass pro mit einer indefiniten DP inkompatibel ist. Jones führt diese Konstruktion auf allgemeine Inversionsmuster zurück (vgl. Jones 1993: 105), die aber ebenfalls ein expletives pro involvieren würden. Der Satz darf aber in jedem Fall als marginal angesehen werden, da die meisten Sprecher hier doch die unpersönliche Konstruktion (7-73) mit expletivem bi bevorzugen würden (vgl. Jones 1993: 105).25 In den folgenden Satzbeispielen haben die beobachteten Definitheitseffekte auch Auswirkungen auf die Hilfsverbselektion und den Con-ϕ-Abgleich: (7-78) (7-79) (7-80)
B’at vénnitu tres pitzinnas. ?(Bi) sun vénnitas tres pitzinnas. Tres pitzinnas (bi) sun vénnitas. (Beispiele aus Jones 1993: 102–103)
Ist die indefinite Subjekt-DP postverbal, also in der Basisposition verblieben, gilt auch bei unakkusativischen Verben die Hilfsverbselektion mit àere ohne Partizipialkongruenz (vgl. (7-78)). Ist die indefinite Subjekt-DP präverbal, ist die Hilfsverbselektion bei einem unakkusativischem Verb éssere und es ergibt sich Partizipialkongruenz. Das Element bi ist hier optional. Die fragliche Akzeptabilität von (7-79) mit unakkusativischer Hilfsverbselektion und Partizipialkongruenz trotz postverbaler indefiniter DP lässt es nun tatsächlich als legitim erscheinen, auch (7-77) als Ausnahme zu betrachten und daher nicht weiter zu behandeln. Zusammenfassend ist festzustellen, dass indefinite DPs in unakkusativischen Konstruktionen offensichtlich in ihrer Basisposition verbleiben können. Es kommt weder zu Agr-ϕAbgleich (vgl. (7-68), (7-73) und (7-78)) noch zu Con-ϕ-Abgleich (vgl. (7-78)). Der Nominativkasus der DPs kann verdeckt durch Merkmalsbewegung nach Spell-Out abgeglichen werden. Da aber T° immer ein starkes [D]-Merkmal trägt, das overt überprüft –––––—– 25
Allerdings häufen sich solche Konstruktionen in dem Korpus Sa-Limba (1999–2002) besonders mit áere und éssere in ihrem existentiellen (Vollverb-)Gebrauch. Diese existentiellen Konstruktionen sollten eigentlich demselben Schema entsprechen wie die Verwendung der Hilfsverben áere und éssere auch, d.h. áere darf nur ohne Verbalkongruenz mit nachgestellter indefiniter SubjektDP auftauchen (vgl. Jones 1993: 113–114), während éssere kongruiert und mit definiter DP erscheint. Dies mag auf den Einfluss des Italienischen zurückzuführen sein. In Sa-Limba finden sich auch Beispiele mit áere im Vollverbgebrauch, definiter, nachgestellter DP und Verbalkongruenz: (i) Zertu ki bi an kussos ki ankora kuntestan s’innatismu. (Sa-Limba 1999–2002: Ottieri) (ii) Roberto pone su fattu ki in Germania bi an sos parkeggios ispeziales pro sas fèminas solas […] komente un’àttera fromma istùpida de “political correctness.” (Sa-Limba 1999–2002: Ottieri)
245 werden muss, muss bei einer indefiniten DP ein expletives Element in die Derivation gelangen, hier bi, um nach Adjunktion an T° das starke [D]-Merkmal abzugleichen. Bei einer postverbalen definiten DP kommt entsprechend das expletive definite pro in die Derivation, dessen Agr-ϕ-Merkmale mit der DP koindiziert sind. Präverbale DPs können natürlich, gleich ob definit oder indefinit, selbst das starke [D]-Merkmal in T° abgleichen. Gerade bei unakkusativischen Verben ist es auch im Italienischen durchaus häufig, dass das Subjekt, das ja eigentlich ein internes Argument des Verbs darstellt, in postverbaler Stellung steht. Allerdings scheint es hier keine Definitheitseffekte zu geben. Einerseits ist die Hilfsverbselektion in Konstruktionen mit unakkusativischen Verben immer essere, andererseits dürfen sowohl Subjekt-Verb-Agreement (Agr-ϕ-Abgleich) als auch die Partizipialkongruenz (Con-ϕ-Abgleich) nie fehlen: (7-81) (7-82)
Sono arrivate tre ragazze. *Ci è arrivato tre ragazze.
Da die Hilfsverbselektion nach dem gewohnten Muster funktioniert, kann man hier also annehmen, dass der Pr-Kopf ein starkes [D]-Merkmal trägt und somit immer die Anhebung nach [Spec, Pr] bewirkt. Eine weitere Anhebung nach [Spec, T] ist demnach optional bzw. mag von pragmatischen Gesichtspunkten abhängen. Da hier auch kein dem sardischen bi entsprechendes Expletivum in die Derivation gelangen muss, kann man davon ausgehen, dass immer ein leeres expletives pro in [Spec, T] durch Merge eingefügt wird, um das starke [D]-Merkmal zu überprüfen, wenn die Subjekt-DP in [Spec, Pr] verbleibt. Anders ist es nun im Sardischen: Die fehlende Partizipialkongruenz und v.a. die Hilfsverbselektion mit áere in den unakkusativischen Konstruktionen mit indefinitem, postverbalem Subjekt lassen darauf schließen, dass es sich hier um ein Pr° handelt, das kein starkes [D]-Merkmal trägt. Dies bedeutet also, dass im Sardischen in diesen Konstruktionen das interne Argument, welches das Subjekt darstellt, gar nicht aus seiner Basisposition herausbewegt wird, also in [Spec, V] verbleibt. Normalerweise ist aber ein solches Pr° ohne starkes [D]-Merkmal nicht mit unakkusativischen Verben kompatibel, vgl.: (7-83) (7-84)
Tres pitzinnas sun/*an vénnitu. Sun/*An vennitu cussas pitzinnas. (nach Jones 1993: 102–103)
Ein solches Pr° gibt es offensichtlich nur bei indefiniten DPs. Daher kann man für dieses Pr° ein Merkmal [-def] annehmen, das sich gleichzeitig in einem fehlenden (starken) [D]Merkmal ausdrückt. Alle anderen Pr°-Köpfe, besonders diejenigen mit starkem [D]Merkmal, haben dieses [-def]-Merkmal nicht.26 Es ergeben sich also folgende Möglichkeiten der Merkmalszusammensetzung für Pr° im Sardischen:
–––––—– 26
Dennoch gilt umgekehrt der Satz nicht, dass eine indefinite DP in unakkusativischen Konstruktionen immer mit diesem speziellen indefiniten Pr-Kopf zusammen auftreten muss. Die unakkusativische DP mit starkem [D]-Merkmal ist ebenfalls kompatibel, wie das Beispiel (7-80) deutlich macht, bei der die indefinite DP auf jeden Fall angehoben wurde.
246 (7-85)
Merkmalszusammensetzung für Pr° im Sardischen
Typ
Kategorie
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
transitiv
Pr°
{[Ø
[Prädikation]
[Pr,T,D,akk]}
intransitiv
Pr°
{[Ø
[Prädikation]
[Pr,T]}
unakkusativisch
Pr°
{[Ø
[Prädikation]
[Pr,T,Dst]}
passivisch
Pr°
{[Ø
[Prädikation]
[Pr,T,Dst,null]}
impersonal
Pr°
{[Ø
[Prädikation]
[Pr,T,-def]}
Bei einem starken [T]-Merkmal der zweiten Zeitrelation mit dem Wert [E_R] ergibt sich dann folgerichtig die jeweilige Hilfsverbselektion: (7-86)
Hilfsverbselektion im Sardischen
Typ
formale Merkmale von Pr°
Merge unter Pr° von
transitiv
[Pr,Tst,D,+perf,akk]
áere
intransitiv
[Pr,Tst,+perf]
áere
unakkusativisch
[Pr,Tst,Dst,+perf]
éssere
passivisch
[Pr,Tst,Dst,+perf,null]
éssere
impersonal
[Pr,Tst,+perf,-def]
áere
Ein unakkusativisches Verb ist also mit zweierlei Pr°-Typen kompatibel. Für den impersonalen Typ allerdings muss die DP in [Spec, V] immer indefinit sein. Es ergibt sich die folgende Derivation:
247 (7-87)
B’at vénnitu tres pitzinnas. CP
C°
TP Spec
T' PrP
T° D° 'biexpl'
T°
D -def
Pr° Aux° 'at'
V T agr-ϕ (default) +finit
Spec
Pr'
T° Pr°
V° Pr° 'vénnitu'
T Vst Prst Dst +finit nom
Pr° Aux°
VP Spec 'tres pitzinnas'
Pr° V°
Pr° Pr Tst +perf -def
D nom -def ϕ
V' V°
XP
V con-ϕ (default) -finit +perf
Dieser Pr°-Typ ist für definite DPs nicht zugelassen. Eine definite DP kann nur mit den gängigen Pr°-Typen (je nach Konstruktionstyp der Prädikation) kombiniert werden. So muss sich eine definite DP bei einem unakkusativischen Pr° zumindest bis nach [Spec, Pr] hoch bewegen, entsprechend der (indefiniten) unakkusativischen DP im italienischen Beispiel (7-81). Daraus ergeben sich die Hilfsverbselektion und die Partizipialkongruenz. Von dort aus kann die DP sich noch optional nach [Spec, T] bewegen, ansonsten muss das starke [T]-Merkmal in T° wieder durch ein expletives pro überprüft werden. Es ergibt sich also die folgende Derivation:
248 (7-88)
(Bi) sun vénnitas cussas pitzinnas. CP
C°
TP Spec 'proexpl'
T' T°
D +def
PrP
Pr° X° 'bi'
T° T Vst Prst Dst +finit nom
Pr° Aux° 'sun'
Pr° V° 'vénnitas'
V T Dst agr-ϕ +finit
Pr°
Spec 'cussas pitzinnas'
Pr' Pr° X°
VP Spec
Pr° Aux°
D nom +def ϕ
Pr° V°
V' V°
PP
Pr° Pr Tst Dst +perf
V con-ϕ -finit +perf
Hier ist bi kein Expletivum mehr, sondern wird als optionale Lokativpartikel (als Klitikum basisgeneriert unter Pr° und koindiziert mit einer leeren PP in der Komplementposition der VP) verwendet (daher hier als X° dargestellt). In transitiven und in intransitiven Konstruktionen wie (7-72) bis (7-77) ist die Ausgangslage anders: Die Frage nach der Auxiliarselektion oder Partizipialkongruenz stellt sich gar nicht, da das Subjekt, ob definit oder indefinit, in jedem Fall erst direkt in [Spec, Pr] durch Merge eingefügt wird. Von dort aus können definite und indefinite DPs gleichermaßen nach [Spec, T] bewegt werden, um das starke [D]-Merkmal zu überprüfen. Wenn die DP allerdings in [Spec, Pr] verbleibt, muss wiederum differenziert werden. Ist die DP definit, kann ein expletives pro durch Merge in [Spec, T] eingefügt werden, welches den Agr-ϕMerkmalsabgleich zwischen Subjekt und Verb erlaubt:
249 (7-89)
An ballatu cussas pitzinnas. CP
C°
TP Spec 'proexpl'
T' PrP
T°
D +def
Pr° Pr°
Aux° 'an'
V T agr-ϕ +finit
T°
V° 'ballatu'
Pr°
T Vst Prst Dst +finit nom
Spec 'cussas pitzinnas' D nom +def ϕ
Pr'
Pr°
Aux° V°
V con-ϕ (default) -finit +perf
VP
Pr° V°
XP
Pr° Pr Vst Tst +perf
Ist die DP aber indefinit, kann nur (bis auf den marginalen Fall in (7-77)) ein expletives bi die Derivation retten;27 pro ist in diesem Falle nicht geeignet, da es immer ein [+def]-Merkmal trägt:
–––––—– 27
Hier spielt sicher wieder eine Rolle, dass unter T° die Existenzquantifizierung der indefiniten DP erfolgen muss (ansonsten gilt generische Lesart). Bi hat hier eine ähnliche Funktion wie there im Englischen, nämlich die eines Existenzquantifikators (Jones 1993: 104): Erst durch diese Expletiva erfolgt die deiktische Verankerung der Derivation in der aktuellen Sprechzeit bzw. dem situativen Kontext.
250 (7-90)
B’at ballatu tres pitzinnas. CP
C°
TP Spec
T' T°
PrP T°
X° 'biexpl' D -def
Pr° Aux° 'at'
V T agr-ϕ (default) +finit
Spec 'tres pitzinnas' T°
Pr° V° 'ballatu'
V con-ϕ (default) -finit +perf
Pr°
T Vst Prst Dst +finit nom
D nom -def ϕ
Pr' VP
Pr° Pr°
Aux° V°
V°
XP
Pr° Pr Vst Tst +perf
Das Sardische unterscheidet sich hier also vom Italienischen einerseits dadurch, dass es über ein weiteres spezielles Pr° mit [-def]-Merkmal verfügt, und andererseits, dass es über ein Expletivum, nämlich bi verfügt, das Subjekt-Verb-Agreement verhindert, bzw. den Default-Fall (3. Sg.) auslöst.28 Das parallele ci im Italienischen besitzt diese Eigenschaften nicht: (7-91) (7-92)
Ci sono venute tre ragazze. *Ci è venuto tre ragazze.
Der Lexikoneintrag für das sardische bi kann also im Vergleich zu den anderen expletiven Elementen (auch des Italienischen) folgendermaßen aussehen:
–––––—– 28
Natürlich könnte man auch überlegen, ob nicht bi selbst die ϕ-Merkmale [3.Sg] tragen könnte.
251 (7-93)
Merkmalszusammensetzung für Subjekt-Expletiva im Vergleich
Sprache
Beispielsätze
Element
{phon.
sem.
form. Merkmale}
Sard.
(Bi) sun vénnitas cussas pitzinnas.
proexpl
{Ø
Ø
[D,+def]}
Sard.
B’at ballatu tres pitzinnas.
biexpl
{/bi/
Ø
[D,-def,default-ϕ]}
Sard.
Proet.
expl
{Ø
Ø
[D,nom]}
Ital.
È arrivato Gianni/un ragazzo.
proexpl
{Ø
Ø
[D]}
Ital.
Piove.
expl
{Ø
Ø
[D,nom]}
Hiermit ist anhand von zwei Lexikoneinträgen (für bi und Pr° mit dem Merkmal [-def]) der in den vorliegenden Konstruktionen beobachtete Unterschied in der Hilfsverbselektion im Sardischen erklärt worden. Die bisher erarbeiteten merkmalsbedingten Mechanismen, die das Einfügen von Hilfsverben in die Derivation steuern, haben sich auch hier bewährt. 7.2.3 Weitere Besonderheiten und Zusammenfassung Einen Hinweis auf die Existenz von doppelt analytisch gebildeten Hilfsverbkonstruktionen gibt es bei Jones (1993), der die folgenden Beispiele liefert: (7-94) (7-95) (7-96)
Si los aío áppitos kérfitos, los aío (áppitos) comporatos. Si fidzis istatos vénnitos prus kithu, aíadzis (áppitu) mandicatu kin nois. (Beispiele aus Jones 1993: 83) Si l’aio áppitu fattu,... (Jones 1993: 141)
Leider finden sich an anderen Stellen keine oder nur vereinzelte Beispiele dieser Art: (7-97)
Pero mi det essere istadu piaghidu a la faghere totta in Sardu. (Sa-Limba 1999–2002: Perfugas)
Interessant sind hier die Doppelungen der Partizipien ohne passivischen Kontext einerseits bzw. die Doppelung der Hilfsverbformen andererseits. Partizipien haben auch im Sardischen kein [T]-Merkmal (vgl. 4.4.2). Hilfsverben schließen normalerweise in ihrem defektiven Formenschatz die Bildung von Partizipien aus. Die hier vorliegenden Beispiele áppitos/áppitu bzw. istatos/istadu scheinen Ausnahmen zu bilden. Als hilfsverbhafte Partizipien tragen sie ein [T]-Merkmal, welches das starke [T]-Merkmal in Pr° in solchen Konstruktionen abgleichen kann. Hilfsverben können also auch als Partizipien unter Pr° die Derivation retten; unter T° allerdings reicht die Merkmalsstruktur eines [T]-merkmaltragenden Partizips nicht mehr aus, alle in T° vorhandenen Merkmale abzugleichen. Daher muss schließlich doch eine weitere finite Hilfsverbform in die Derivation gelangen. In solchen Konstruktionen kann angenommen werden, dass sich die Kodierung der ersten und der zweiten T-Relation jeweils auf ein hilfsverbhaftes Element verteilt: Die genannten Partizipien der Hilfsverben sind für die zweite T-Relation mit dem Wert [E_R] zuständig, die finiten Hilfsverben für die erste T-Relation mit dem Wert [R_S] (vgl. (7-94) bis (7-96)) bzw. [S_R] (vgl. (7-97), hier mit der futurischen Kurzform det, vgl. 7.3.1).
252 Insgesamt betrachtet konnte aber festgestellt werden, dass die in den Konstruktionen mit Hilfsverben áere und éssere + Partizip beobachteten Besonderheiten des Sardischen nicht in den Merkmalszusammensetzungen dieser Hilfsverben selbst liegen. Die Merkmalszusammensetzungen dürften, pauschal gesehen, mit denen des Italienischen übereinstimmen. Die Idiosynkrasien im Sardischen ergeben sich vielmehr durch Unterschiede in den Lexikoneinträgen anderer Elemente, so z.B. des dativischen si in den Reflexivkonstruktionen (vgl. 7.2.1) oder des expletiven bi im Zusammenspiel mit einem dem sardischen eigenen indefiniten Pr° in den unpersönlich-existentiellen Konstruktionen (vgl. 7.2.2). Nur in dem gerade erwähnten ungewöhnlichen Fall der Partizipialformen der temporalen Hilfsverben wären Merkmalszusammensetzungen von áere und éssere selbst für die auffällige syntaktische Konstruktion verantwortlich. Fälle von Doppelungen dieser Art sind auch für andere Sprachen besonders im mündlichen Gebrauch attestiert.29
7.3
Hilfsverben + Infinitiv: Futurformen und Konditionalkonstruktionen
Wie bereits in 7.1.2 erwähnt, bildet das Sardische sein Futur ebenfalls mit analytischen Hilfsverbkonstruktionen. Für das Futur gibt es zwei Formen, die sich sowohl morphosyntaktisch als auch semantisch unterscheiden: zum Einen áere a + Infinitiv,30 zum Anderen die Kurzformen von dévere + Infinitiv (vgl. 7.3.1). Kurzformen von dévere im Imperfekt + Infinitiv werden auch für die analytische Bildung des Konditionals verwendet (vgl. 7.3.2).
–––––—– 29
30
Die auch unter dem Namen Passé surcomposé behandelte Konstruktion gibt es z.B. im Französischen: (i) frz. Quand le livre a eu été publié… (ii) frz. Quand Jean a eu été ivre… (Beispiele aus Abeillé & Godard 2000) (iii) frz. Quand Jean a été arrivé… (Abeillé & Godard 1997) (iv) frz. J’ai eu fini. Für eine diachrone Untersuchung dieser Futurform, vgl. Bentley (1999). Darin vergleicht sie den Gebrauch von áere + Infinitiv (ohne Partikel) und áere a + Infinitiv (mit Partikel) und stellt fest, dass beide diachron gleichsam sowohl modal als auch futurisch gebraucht werden können und dass beide klaren Hilfsverbstatus haben. Doch während die partikellose Konstruktion bis ins 15. Jh. die gängige ist, wird ab dem 18. Jhd. diejenige mit Partikel zur vorherrschenden und heute ausschließlichen Konstruktion, vgl. die Tabelle in Bentley (1999: 333); zur Entstehung der romanischen Futurformen, vgl. auch Roberts (1993b).
253 7.3.1 Die analytischen Futurformen Die erste der gebräuchlichen analytischen Formen, àere a + Infinitiv, kann nur zur Bildung des Futurs benutzt werden.31 Das morphosyntaktische Paradigma von áere ist auf die Präsensformen beschränkt, was auf einen fortgeschrittenen Hilfsverbstatus hinweist (Dekategorisierung, vgl. 1.5.3 sowie Heine 1993): (7-98) (7-99) (7-100) (7-101) (7-102)
An a túndere sas berbekes cras. Su trenu at a arrivare a sas deke. At a próere cras. (Beispiele aus Jones 1993: 89) *T’appo natu ki aías a rúghere. (Jones 1993: 91) *Appo áppitu a iscríere cussa líttera. (Jones 1993: 148)
Das Hilfsverb áere kann in seiner futurischen Bedeutung auch nicht im Infinitiv verwendet werden: (7-103) (7-104)
*Ispero de áere a vínkere. (Jones 1993: 148) *Potto áere a vínkere. (Jones 1993: 147)
Gemeinsam mit dem zusammengesetzten Infinitiv (also eine Form áere/éssere + Partizip) kann áere a auch Futur-II-Formen bilden: (7-105)
Su [Si] chi at de bonu est chi a su mancu at a aer remonidu una bona cantidade de paraula. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) (7-106) Juanne at a éssere arrivatu como. (Jones 1993: 91)
Sowohl ein Infinitiv mit der Kopula éssere als auch ein passivischer Infinitiv mit éssere kann von áere a selegiert werden: (7-107) Forsis issos sunt timende s’avreskida nostra ca at a essere pius caente de su sole ki tzoket in Sardinnia. (Sa-Limba 1999–2002: Perfugas) (7-108) Sa lingua nostra at a esser posta a paris in tottu pro su tottu cun cussa Italiana. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
Das Hilfsverb áere a kann nur für die erste Zeitrelation spezifiziert sein und hier formal nur morphologische Präsensendungen tragen. In seiner Bedeutung ist die Konstruktion áere a + Infinitiv futurisch ohne deontische Konnotationen (vgl. Jones 1993: 90).32 Dies erkennt man daran, dass áere a auch als Futurform der Modalverben selbst auftritt: –––––—– 31
32
Bentley vertritt im Gegensatz zu Jones die Meinung, dass auch im heutigen Gebrauch die deontisch-modale Bedeutung von áere a weiterhin besteht, vgl. Bentley (1999: 324). Sie bringt aber nur ein nicht unbedingt eindeutiges Beispiel. Deontische Lesart dagegen hat áere de (vgl. Jones 1993: 93), das hier nicht behandelt werden soll. Epistemische Lesart ist bei beiden Futurformen (und daher auch in vielen der im Text folgenden Beispielen) möglich, vgl. z.B.: (i) Sa mákkina non funtzionat: sa battería at a / det éssere guasta. (Jones 1993: 91) (ii) Ma no est chi si det esser sballiadu? (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
254 (7-109)
Custas duas facis de sa medallia sarda s’ant a podiri auniri a pagu a pagu in su tempus cumenti est sutzediu a dogna limba de curtura. (Sa-Limba 1999–2002: Laconi) (7-110) Amus a deppere riiscriere tottus sos testos? (Sa-Limba 1999–2002: Móres) (7-111) Bisonzada de ammentare chi ja una palthe ’ona de sol logudoresoso ana a devere atzettare de no iscriere comente f[a]eddana. (Sa-Limba 1999–2002: Martis) (7-112) Si est beru chi sas limbas románicas semus fizas de sa matessi mama ma de babu diferente, in calicuna cosa nos amus a deper assimizare, o nono? (Sa-Limba 1999–2002: Nuoro)
Klitische Pronomina (vgl. auch die vorigen Beispiele (7-109) und (7-112)) und die klitische Negation stehen immer präverbal vor áere: (7-113) *Appo a lu fakere. (7-114) *Appo a non pippare prus. (Beispiele aus Jones 1993: 146)
Das Hilfsverb aere und die Partikel a müssen meist adjazent liegen:33 (7-115) *Appo semper a travallare. (7-116) *Issos an tottu a cantare. (Beispiele aus Jones 1993: 147) (7-117) *No ant prus a arribare. (7-118) No ant a arribare prus.
Des weiteren hat die erste T-Relation immer die Bedeutung [S_R], während die zweite TRelation bei zusammengesetztem Infinitiv im Futur II (außer bei epistemischer Lesart) auch die Bedeutung [E_R] haben kann. Es liegt daher nahe, wie Jones (1993) anzunehmen, dass áere unter Infl° bzw. T° basisgeneriert wird. Die zweite Futurform wird mit den Kurzformen des ursprünglichen Modalverbs dévere + Infinitiv gebildet (devo, des, det, demus, dedzis, den). Allerdings sind diese präsentischen Kurzformen in ihrem Gebrauch auf die Futurbildung der Verben áere und éssere beschränkt, sowohl als (existentielle) Vollverben als auch als Hilfsverben, wie sie in Futur-IIFormen (oft mit epistemischer Lesart), Passiv- oder Kopulativkonstruktionen verwendet werden (vgl. Jones 1993: 90): (7-119) (7-120) (7-121) (7-122) (7-123)
Sos óspites den éssere thuccatos prima de arrivare nois. (Jones 1993: 91) Mizi chi pois det esser tardu s’arrepentimentu. (Sa-Limba 1999–2002: Cagliari) E de siguru bi det aer tempus […] pro torrare in segus. Itte det aer cuadu? Prima de mariposa chi est Spaniolu carchi atteru numene det aer appidu in sardu “sa Mariposa-farfalla.”
–––––—– 33
Bei Fronting von Bestandteilen einer analytischen Futurkonstruktion werden Partikel und Vollverb nach oben bewegt, sodass Partikel und Hilfsverb doch getrennt erscheinen (vgl. 7.1.3): (i) A bennere at s’attunzu? (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) Eventuell muss es sich hierbei um Exkorporation und Bewegung von Partikel + Vollverb nach C° handeln. Akzeptiert wird außerdem ein zwischen áere und a tretendes fokussierendes Adverb: (ii) Non los appo mancu a salutare. (Jones 1993: 147)
255 (7-124) Ma a ue det essere andada a finire sa pagina in sardu de s’unione? (7-125) Non det essere stadu preparadu meda, como penso. (7-126) Cantos giros de su mundu det aer fattu a como? (Beispiele aus Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
Auch diese Kurzformen sind, wie áere a, auf das präsentische Verbalparadigma beschränkt und außerdem in ihrem Gebrauch ausnehmend restringiert. Die Vollformen von dévere dagegen haben ausschließlich modale Lesart und können daher uneingeschränkt mit allen Verben kombiniert werden (vgl. 7.5 zu den Modalverben). Die Präsensformen von áere a scheinen weitgehend als Futurmarker grammatikalisiert zu sein. Darauf deutet das stark reduzierte Konjugationsparadigma hin sowie die auf das Futur, d.h. die erste T-Relation mit dem Wert [S_R], reduzierte Bedeutung. Die Partikel a ist durch kein34 dazwischentretendes Element von den Formen von aére trennbar. Eventuell auftretende Klitika, auch die klitische Negationspartikel non, müssen proklitisch vor áere a stehen. Daher kann tatsächlich mit Jones (1993) angenommen werden, dass áere a unter T° durch Merge eingefügt wird.35 Die Partikel a trägt dabei ein futurisches [T]-Merkmal, eben mit dem Wert [S_R]. Diese Partikel kann aber nun nicht ein overtes futurisches T° selbst sein, da sich sonst, nimmt man weiterhin an, dass sich in finiten Sätzen im Sardischen der gesamte Pr°-Komplex nach T° bewegen muss, das Problem der Rechtsadjunktion ergäbe; Linksadjunktion würde die folgenden ungrammatischen Beispiele bilden: (7-127) (7-128) (7-129)
[TP pro [T° an [T° a túnderei]] ti sas berbekes cras]. (Rechtsadjunktion) *[TP pro [T° an [T° túnderei a ]] ti sas berbekes cras]. (Linksadjunktion) *[TP pro [T° túnderei [T° an a ]] ti sas berbekes cras]. (Linksadjunktion)
Daher muss a als eigenständiger Kopf in die Derivation gelangen. Hier gibt es nun zwei Möglichkeiten. Entweder adjungiert a als Futurpartikel (hier als P° bezeichnet) eigenständig an T° oder a bildet mit dem Hilfsverb áere von vorneherein eine Inkorporationsstruktur, die aber damit eine vorsyntaktische (morphologische) Ebene betreffen würde.36 Eine futurische Struktur [Aux° an a] kann nicht erst syntaktisch zustande kommen, da sich hiermit wiederum die unliebsame Rechtsadjunktion ergäbe. Da es sich aber bei áere a um zwei nichtaffixale Morpheme handelt, von denen das erste auch flektiert, ist ein Ansatz vorzuziehen, in dem beide Elemente nacheinander jeweils an ein futurisches T° adjungieren. Somit ergibt sich die folgende Derivation:
–––––—– 34 35
36
Vgl. aber Fn. 33. Bentley hält es ebenfalls für plausibel, dass die Partikel a synchron unter IP stehen kann (vgl. Bentley 1999: 338); nach Bentley hat sich die Konstruktion diachron, als autochthone Entwicklung gefördert durch v.a. toskanischen Einfluss, aus einer transitiven habere-Konstruktion mit einer ein direktes Objekt modifizierenden CP (a + Infinitiv) entwickelt, vergleichbar den italienischen da-Konstruktionen, z.B. ho qualcosa da mangiare, vgl. die Tabelle in Bentley (1999: 342). Dass a bereits unter Pr° durch Merge eingefügt wird, möchte ich vermeiden, da es einerseits nur Träger eines Werts der ersten T-Relation ist und andererseits so gut wie nicht durch Adverbien von áere getrennt werden kann.
256 (7-130)
An a túndere sas berbekes cras. CP
C°
TP Spec 'pro'
T'
D nom ϕ
PrP
T° Aux° 'an' V +finit agr-ϕ
T°
Spec
P° 'a' T[S_R]
T° Pr° V° 'túndere'
V T -finit
Pr' Pr°
T° Pr°
T[S_R] Prst Vst +finit Dst nom
V°
VP Pr°
Spec 'sas berbekes'
Pr Vst D T
V' V°
XP 'cras'
Die Derivation hängt im wesentlichen von den Merkmalen in T° ab37 und geht, nach dem Aufbau der Pr-Phrase, die in die Komplementposition der hinzukommenden T° eingesetzt wird, in folgenden dynamischen Schritten vor: − − −
−
Das im Sardischen immer starke [Pr]-Merkmal von T° löst die Bewegung und Adjunktion des gesamten Pr°-Komplexes aus. Dadurch wird auch das starke [V]-Merkmal von T° abgeglichen. Da T° aber futurisch ist, braucht es einen entsprechenden Futurmarker für die Merkmalsüberprüfung. Deswegen gelangt der Marker a mit dem konstanten Wert T[S_R] in die Derivation. Das [+finit]-Merkmal von T° muss abgeglichen werden. Wie im Italienischen fällt in den sardischen Verben in den meisten Fällen38 [+finit] mit [agr-ϕ] zusammen: Eine finite Hilfsverbform von áere wird durch Merge an den T°-Komplex adjungiert. Diese Form erscheint immer im morphologischen Präsens, trägt aber keine eigene temporale Bedeutung. Schließlich bleibt noch das starke [D]-Merkmal in T° zu überprüfen. Daher projiziert T° einen Spezifikator, in den die Subjekt-DP aus [Spec, Pr] bewegt werden kann. Nebenbei kommt es dabei zum Merkmalsabgleich der ϕ-Merkmale zwischen Subjekt und Verb sowie des Nominativkasusmerkmals zwischen Subjekt und T°.
Komplexere futurische Derivationen, die weitere Hilfsverben involvieren, etwa das Futur II mit T[S_R]•[E_R] in (7-106), das Passiv in (7-108) sowie die futurische Kopulativkon–––––—– 37 38
Zum Problem der Reihenfolge des Merkmalabgleichs im MP, vgl. wiederum 8.2. Ausnahmen bilden die flektierten Infinitive, vgl. Jones (1993: 278f., 6.1.5).
257 struktion in (7-107) lassen sich ebenfalls leicht ableiten. Bei den Futur-II-Bildungen wird aufgrund des starken [T]-Merkmals in Pr° (wegen des Wertes [E_R]) bereits dort das entsprechende Hilfsverb durch Merge in die Derivation gebracht und schließlich mit dem gesamten Pr°-Komplex unter T° bewegt, vgl. die folgende Darstellung: (7-131)
Juanne at a éssere arrivatu como. CP
TP
C°
Spec 'Juanne'
T'
D nom ϕ
T°
PrP
T°
Aux° 'at' V +finit agr-ϕ
Spec
P° 'a'
Pr'
T°
T[S_R]
Pr°
T°
Pr°
Aux° 'éssere'
V° 'arrivatu'
Pr°
VP
Pr°
T[S_R] Prst Vst +finit Dst nom
Pr°
Aux°
V T Dst -finit
V°
V'
Spec
Pr°
V°
XP 'como'
Pr Vst Tst Dst +perf
V -finit con-ϕ +perf
Kopulatives und passivisches éssere kommen dagegen, wie im Italienischen (vgl. 5.1 und 5.3), erst unter T° in die Derivation. Dies wurde z.B. bei den Kopulativkonstruktion mit nicht-verbalen Prädikaten mit dem starken [V]-Merkmal begründet, das nicht überprüft werden kann, da sich kein V° in der Derivation befindet. Bei den Passivkonstruktionen dagegen kann dieses [V]-Merkmal von partizipialem V° (mit [+V +N] und ohne [T]Merkmal) nicht überprüft werden. Bei den Futurkonstruktionen nun scheint áere a dennoch nicht ohne einen verbalen Infinitiv auszukommen: (7-132)
*Sa lingua nostra at a posta a paris....
258 Dies mag vielleicht daran liegen, dass aere zusammen mit a nur die erste T-Relation, nicht aber die zweite ausdrücken kann. T° wäre damit also unvollständig, d.h. nur in einer (der ersten) Relation abgeglichen (bzw. als Default-Fall, und zwar als GLEICH-Beziehung instantiiert). Daher muss auf jeden Fall zuerst ein Infinitiv unter T° in die Derivation gelangen, der das [T]-Merkmal der zweiten Relation überprüft und somit die deiktische Verankerung der Konstruktion garantiert. Was nun die Kurzformen im Präsens von devere (devo, des, det, demus, dedzis, den) angeht, werden diese, ebenso wie áere a, unter T° durch Merge eingefügt. Ihr ursprünglich rein modaler Ursprung (mit Selektion einer prospektiven Lesart für den subkategorisierten Infinitiv) hat sich ebenfalls auf den Wert der ersten T-Relation [S_R] reduziert. Daher sind diese Formen reine Futurmarker mit defektivem Konjugationsparadigma und unvollständiger T-Kodierung. In den Kurzformen fallen sozusagen die Funktionen von aere und der Partikel a zusammen. Auch hier muss immer ein Infinitiv unter T° erscheinen, der die zweite T-Relation kodieren kann. Zusammenfassend ergeben sich für die futurischen Hilfsverbformen von áere a + Infinitiv im Sardischen die folgenden Merkmalszusammensetzungen: (7-133)
Futurische Hilfsverben: áere a
Element 1
formale Merkmale
Element 2
formale Merkmale
appo
[V,ϕ[1,sg],+finit]]
a
[T[S_R]]
as
[V,ϕ[2,sg],+finit]]
a
[T[S_R]]
etc.
etc.
etc.
etc.
Die Partikel a besteht also nur aus einem [T]-Merkmal, was sie formal tatsächlich in die Nähe von T° rücken lässt. Hier wird a aber (aufgrund der Probleme mit den ungewünschten rechtsadjungierten Strukturen) als ein Element einer komplexen T° behandelt, das durch Merge eingefügt werden muss, um das entsprechende [T]-Merkmal in T° selbst zu überprüfen. Bei der zweiten Futur-Konstruktion dagegen sind die Kurzformen von dévere selbst die Träger dieses [T]-Merkmals. Die Kurzformen tragen gleichzeitig auch schon das noch von T° benötigte Finitheitsmerkmal sowie die entsprechenden Agr-ϕ-Merkmale. Auch hier muss ein weiterer Infinitiv unter T° stehen, der die zweite T-Relation garantiert, allerdings ist dieser Infinitiv auf die Verben éssere und áere beschränkt: (7-134)
Sos óspites den *thuccare/éssere thuccatos prima de arrivare nois.
Diese Beschränkung weist darauf hin, dass die präsentischen Kurzformen von dévere nur mehr Futurmarker weiterer semantisch leerer Verben sein können. Sobald ein semantisch nicht-leeres Verb im Infinitiv erscheint, ist die Lesart nicht mehr futurisch, sondern modal, wie man in folgendem (in der 1. Pers. Sg. ansonsten zweideutigen) Beispiel erkennen kann, welches einzig eine deontische Lesart erlaubt: (7-135)
Forsis devo torrare issegus dae su chi appo nadu deris. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
259 Wegen dieser Besonderheit möchte ich für die Kurzformen von dévere im Präsens ein (provisorisches) [aux]-Merkmal annehmen, vgl. die folgende Darstellung: (7-136)
Futurische Hilfsverben: Kurzformen von dévere
Element
formale Merkmale
devo
[V,ϕ[1,sg],T[S_R], +finit,+aux]
des
[V,ϕ[2,sg],T[S_R],+finit,+aux]
etc.
etc.
Eine Derivation mit diesen Kurzformen lässt sich abschließend nochmals folgendermaßen darstellen (hier mit dem erst unter T° durch Merge eingefügten Kopulativverb éssere): (7-137)
Det esser tardu s’arrepentimentu. (vgl. (7-120)) CP TP
C° Spec 'proexpl' D ϕ +def
T' T° Aux° 'det'
V Aux° +finit 'ésser' agr-ϕ V T[S_R] T +aux -finit +aux
PrP Spec 's'arrepentimentu'
T° T° Pr°
T° T[S_R] Prst Vst Dst +finit nom
D nom ϕ +det
Pr' Pr°
AP 'tardu'
Pr A T
A con-ϕ
Im Folgenden werden die sardischen Konditionalformen untersucht werden, die ebenfalls mit Kurzformen des ursprünglich modalen Verbs dévere gebildet werden können. 7.3.2 Der analytische Konditional Neben den Futurformen hat das Sardische analytische Formen zur Bildung des Konditionals. Auch hier werden die Kurzformen von dévere + Infinitiv benutzt, allerdings im Imperfekt (dio, dias, diat, díamus, díadzis, diant). Das Imperfekt wird in vielen romanischen
260 Varietäten, z.B. im regionalen und gesprochenen Italienischen (vgl. z.B. Rohlfs 1969: 145– 147, §748, §749), für den Konditional gebraucht, so auch im Sardischen (vgl. Jones 1993: 91). Diachron haben sich die synthetischen Konditionalformen, etwa im Spanischen und im Süditalienischen, als Flexionsendungen aus den Imperfektformen (im Italienischen aus den Perfektformen) von HABERE entwickelt (vgl. Rohlfs 1969: 55f, §677). Im Sardischen dagegen ist die Konditionalbildung, neben der Möglichkeit der Verwendung des Imperfekts, analytisch. Stellt man die Kurz- und Vollformen von dévere auf paradigmatischer Ebene gegenüber, ergeben sich die erwarteten Unterschiede in den Lesarten. Die Kurzformen kodieren den Konditional, die Langformen modale (deontische) Lesart (zu den Modalverben vgl. außerdem 7.5): (7-138) T’appo natu ki dian túndere sas berbekes oje. (Konditional) (7-139) Su mere at natu ki devían túndere sas berbekes oje. (deontische Modalität) (Beide Beispiele aus Jones 1993: 92)
Für die imperfektivischen Kurzformen von dévere gibt es ebenfalls, wie für die modalen Vollformen, keine Selektionsrestriktionen (vgl. Jones 1993: 92). Sie können mit allen Verben (also auch Vollverben wie hier) verwendet werden: (7-140) (7-141)
Mi diat faker piaghere meta de t’ajuare. (Sa-Limba 1999–2002: Bitti) Si isse diat vennere fia istadu cuntentu. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
Die konditionalen Kurzformen können auch sehr häufig mit dem Modalverb dévere selbst zusammentreten: Su traballu diat deper esser fatu pro sa “gròria,” pro s’isvilupu de sa limba e de sa natzione sarda. (Sa-Limba 1999–2002: Nuoro) (7-143) Bive comente si dias devere morrer cras pessa comente si no dias devere morrer mai. (Sa-Limba 1999–2002: Martis)
(7-142)
Das heißt also, dass sie keinerlei eigene semantische Merkmale mehr tragen und selbst ihre ursprüngliche modale Bedeutung völlig verloren haben. Die Kurzformen im Imperfekt sind daher wie die im Präsens als rein grammatische Marker zu sehen. Die Bedeutungsentwicklung vom Futur in der Vergangenheit hin zum Konditional ist ein bekannter Grammatikalisierungsschritt (vgl. Comrie 1985: 75). Die ursprüngliche prospektive Lesart des dem Modalverb untergeordneten Infinitivs, d.h. die zweite T-Relation [R_E], wird im Zusammenhang mit einer NACH-Beziehung der ersten T-Relation [R_S] (=> Futur in der Vergangenheit) bei fortschreitender Entwicklung zur Hilfsverbkonstruktion (=> Reduzierung der T-Relationen), d.h. zum Satzmodus des Konditional der Gegenwart reduziert. Die Reihe der Konditionalmarker sieht also in ihrer Merkmalszusammensetzung folgendermaßen aus:
261 (7-144)
Hilfsverben für den Konditional: Kurzformen von dévere
Element
formale Merkmale
dio
[V,ϕ[1,sg],T[S,R],kond,+finit]
dias
[V,ϕ[2,sg],T[S,R],kond,+finit]
etc.
etc.
Diese Marker können nun natürlich auch zur Bildung des Konditional der Vergangenheit benutzt werden, indem sie mit einem durch eine NACH-Beziehung gekennzeichneten Pr° kombiniert werden; ein solches Pr° erzwingt wiederum durch sein starkes [T]-Merkmal das Einfügen eines entsprechenden Hilfsverbs, das schließlich mit dem Pr°-Komplex nach T° bewegt werden muss, vgl. die folgenden Beispiele: (7-145)
Deo creo chi si isse esseret galu biu, diat aere frimmadu finas sa petithione nostra. (SaLimba 1999–2002: Cagliari) (7-146) Fortzis si sos Arborea aeren binchidu, custa neulosa si diat esser infrittida, produende astros e isteddos. (Sa-Limba 1999–2002: Móres)
Für eine solche Konditional-II-Konstruktion ergibt sich die folgende Derivation: (7-147)
Diat aere frimmadu finas sa petithione nostra. CP
C°
TP
Spec 'pro'
T'
T° D nom ϕ
PrP
Aux° 'diat' V +finit agr-ϕ T[S,R] kond
T°
Spec
Pr°
Aux° 'áere'
V T D -finit
T°
Pr°
V° 'frimmadu'
V -finit +perf
Pr'
Pr°
T Prst Vst Dst kond +finit nom
Pr°
VP
Pr°
Aux°
V°
Spec 'sa petithione nostra' Pr°
V'
V° Pr V Tst D +perf
XP
262 Bei konditionalem T° kommt also eine der konditionalen Kurzformen in die Derivation, während bei futurischem T° (unter der Voraussetzung, dass dort bereits áere oder éssere steht) eine futurische Kurzform von dévere erscheinen kann (hier als reine Alternative zu áere a).
7.4
WOLLEN + Partizip
Die Konstruktionen mit WOLLEN + Partizip sind von Ledgeway (2000a) ausführlich für das Süditalienische beschrieben worden. Das Sardische kennt nur eine der bei Ledgeway auch Want-Passiv genannten Strukturen. Im logudoresischen Sardisch werden diese Konstruktionen mit kérrere gebildet: (7-148) (7-149)
Cussa dzente keret tímita. Sa mákkina keret accontzada dae un meccánicu. (Beispiele aus Jones 1993: 125)
Im campidanesischen Sardisch werden sie mit bóliri gebildet: (7-150) Custa cícara de caffei bollit buffada. (7-151) Custu líburu bollit lígiu. (Beispiele aus Blasco Ferrer 1986: 167) (7-152) Sa limba sarda iat a bolli imperada arrelatendi cun totus e prus de totu in is bandus ghetaus a sa tzidadi. (Sa-Limba 1999–2002: Laconi) (7-153) Sa lingua sarda iat a bolli imperada in sa comunicatzioni, in is bandus ghetaus an sa tzidadi. (Sa-Limba 1999–2002: Quartu Sant’Elena) (7-154) Lassendi stai ca unu moderadori iat a bolli pagau, su rimediu iat essi peus de su mali. (Sa-Limba 1999–2002: Iglesias)
Diese Konstruktion erscheint meist in der 3. Person: (7-155) Deo penso chi sa littera cheret mandada. (Sa-Limba 1999–2002: Iglesias) (7-156) Sos mattessis sonos cherent pronunciados in medas maneras diversas. (Sa-Limba 1999– 2002: Iglesias) (7-157) Gai nachi at stabilidu su gubernu Europeu chi nos cheret tottu allevados che puddos in batteria. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
In dieser Konstruktion,39 die echt passivisch ist, ist sowohl Agr-ϕ- als auch Con-ϕAbgleich zu beobachten, vgl. das folgende Beispiel: –––––—– 39
Blasco Ferrer (1986: 167) geht nur von präsentischen Formen und nur von Formen in der dritten Person aus. Dies kann so nicht stimmen. Es gibt diese Konstruktion, wenn auch seltener, sowohl im Imperfekt (anstelle des Konditional in hypothetischen Sätzen) als auch in der 2. und 3. Person: (i) Non mi cherzo chircadu / non mi cherzo pregadu. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) (ii) Deu bollu agiudau po fai is iscalas / po mi pesai de su lettu. (Sa-Limba 1999–2002: Cagliari) Die erste Person ist allerdings aufgrund semantischer Bedingungen des deontischen Passivs manchmal nicht akzeptiert:
263 (7-158)
Però innantis de dda giudigare, s’istoria cheret cumprendia, sas ideas cheren cumprendias, sas paraulas cheren cumprendias. (Sa-Limba 1999–2002: Teti)
Das partizipiale Verb kann auch in einer Koordinationsstruktur stehen: (7-159)
Sas criticas cheren motivadas e misuradas, sinono non servin a nudda. (Sa-Limba 1999– 2002: Teti)
Das interne Argument wird wie in den üblichen Passivkonstruktionen in die Subjektposition angehoben: Der passivische Pr-Kopf hat keinen Akkusativkasus zu vergeben und außerdem ein starkes [D]-Merkmal, das die overte Bewegung notwendig macht. Die derivierten Subjekte müssen hier aber nicht mehr agentiv sein, wie das bei modalem WOLLEN (vgl. 6.4.2 zum Italienischen) der Fall ist. Vielmehr sind hier die Selektionsbeschränkungen von bóliri/kérrere aufgehoben: Das Verb hat keine eigene Subjekt-θ-Rolle mehr zu vergeben und ist daher weitgehend desemantisiert. Das deutet darauf hin, dass WOLLEN in dieser Konstruktion auf dem Weg zur Auxiliarisierung sehr weit fortgeschritten ist (weiter als die Modalverbkonstruktionen sowohl im Italienischen als auch im Sardischen). Die einzige Funktion, die geblieben ist, ist die des Ausdrucks der Notwendigkeit über die passivierte Aussage. WOLLEN kann hier also an derselben Stelle durch Merge in die Derivation eingesetzt werden wie SEIN beim normalen Passiv (vgl. 5.3). Pr° dürfte bei beiden Konstruktionen dasselbe übliche passivische Pr° sein. Nur bei Merge des Hilfsverbs unter T° muss in den hier vorliegenden Konstruktionen WOLLEN und nicht SEIN eingefügt werden, damit gleichzeitig ein deontisches Merkmal von T° überprüft werden kann.40 Eine minimalistische Derivation entspricht damit der Ableitung der italienischen Konstruktionen des deontischen Passivs mit andare + Partizip (vgl. 5.3) und läßt sich daher wie folgt darstellen:
–––––—–
40
(iii) ??Deu bollu arrestau./Tui bolis arrestau./Cussu bolit arrestau./Nosus boleus arrestaus./ Bosatrus boleis arrestaus./Issus bolint arrestaus. (Sa-Limba 1999–2002: Iglesias) Beispiele für die Konstruktion im Imperfekt geben die folgenden Sätze: (iv) Si si ponessit issu a fagher su progettu, custu politicu cheriat arrestadu. (Sa-Limba 1999– 2002: Iglesias) (v) Ma bene o male fit una speraglia, una bia chi cheriat solu allargada, non tancada. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) Der Satzmodus wird schließlich in C° im Diskursraum verankert. Daher kann man annehmen, dass sich T° schließlich verdeckt nach C° bewegen muss, um die modalen Merkmale abzugleichen.
264 (7-160)
Cussa dzente keret tímita. CP
C°
TP Spec 'Cussa dzente'
T' T°
D nom θ ϕ
Aux° 'keret'
PrP T°
V Pr° T agr-ϕ deo V° Pr° +finit 'tímita'
Spec T° T Vst Prst Dst nom deo +finit
V con-ϕ +perf -finit
Pr' Spec
Pr'
'PROarb' D null θ ϕ
VP
Pr° V°
Pr°
Spec
V' V°
XP
Pr Vst Dst null ag T
Kérrere ist also in dieser Derivation zu einem rein deontischen Marker geworden. Die ursprünglich von WOLLEN als Kontrollverb geforderte agentive θ-Rolle ist nicht einmal mehr als volitionales [M]-Merkmal, wie in den entsprechenden Modalverbkonstruktionen (vgl. 7.5), vorhanden. Die Modalität hat sich auf ein deontisches Merkmal reduziert, das in die Derivation gelangen muss, um ein deontisches Merkmal von T° abzugleichen. Die Merkmalszusammensetzung des Hilfsverbs WOLLEN im Sardischen sieht also folgendermaßen aus: (7-161)
Merkmalszusammensetzung des passivischen Hilfsverbs kérrere/bóliri
Form keret (camp.) bollit (log.)
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
/kErEt/ /bOllit/
∅
[V, T[S,R]•[R,E],agr-ϕ,+finit,deo]
265
7.5
Hilfsverben + Infinitiv: Modalverbkonstruktionen
Im Sardischen sind die Verben kérrere, pótere und dévere + Infinitiv, deren italienische Entsprechungen bereits ausführlich besprochen wurden (vgl. 6.4), dadurch gekennzeichnet, dass sie obligatorisch nur in restrukturiertem Kontext auftauchen. Die von Jones (1993: 149f.) Semi-Auxiliaries genannten aspektuellen Verben, wie cumintzare a, accabbare de, finire de, sikire a u.a. dagegen verhalten sich hinsichtlich der Möglichkeit des Clitic Climbings und der Auxiliarselektion wie die italienischen Modalverben, d.h. ihre Konstruktionen sind optional restrukturierbar. Die aspektuellen Verben sollen hier nicht weiter behandelt werden, da die Ableitung der sie betreffenden Konstruktionen parallel zu denen des Italienischen gesehen werden kann.41 Zu den Modalverben muss gesagt werden, dass zumindest kérrere und dévere in anderen Konstruktionen und Formen bereits sehr starken Hilfsverbcharakter aufweisen (vgl. 7.3 zu dévere und 7.4 zu kérrere). Auch ihre Festlegung auf restrukturierte Kontexte weist darauf hin, dass die sardischen Modalverben auf der Skala der Hilfsverbhaftigkeit einen Schritt weiter sind als ihre italienischen Gegenstücke.42 Man betrachte die folgenden Beispiele: Die Hilfsverbselektion ist immer von dem Konstruktionstyp des eingebetteten Verbs bestimmt: (7-162)
Los apo cumbidados a benner a domo ma no si sunt cherfidos frimmare. (Sa-Limba 1999– 2002: Martis) (7-163) Su poleddhu s’hat postu sa bicca e non s’est cherfidu mover prus. (Sa-Limba 1999–2002: Benetutti) (7-164) Appo cherfidu preguntare a babbu. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) (7-165) E non l’apo kerfitu akere pro carki motivu ’e narcisismu. (Sa-Limba 1999–2002: Siniscola)
Die klitischen Pronomina können nur vor dem finiten Verb, nie vor dem Infinitiv43 stehen: (7-166) Juanne lu keret/devet/potet fákere. (Jones 1993: 142) (7-167) *Juanne keret/devet/potet lu fákere. (Jones 1993: 142)
Auch die Negation kann nur vor dem Modalverb stehen (vgl. (7-162) und (7-165)) und nicht den Infinitiv allein in ihrem Skopus haben: (7-168)
*Keljo non rughere. (Jones 1993: 143)
–––––—– 41
42
43
Da sich im Sardischen immer der gesamte Pr°-Komplex nach T° bewegen muss, gibt es hier natürlich keine Selektionsmöglichkeit zwischen zwei verschiedenen Typen von T° mit starkem bzw. schwachem [Pr]-Merkmal wie im Italienischen. Die italienischen Modalverben liegen mit ihren Restrukturierungsphänomenen auf einer Skala der Vollverbhaftigkeit zur Hilfsverbhaftigkeit zwischen dem Englischen, das stark grammatikalisierte Modalverben hat, und dem Deutschen, dessen Modalverben größtenteils noch als Vollverben benutzt werden können (vgl. Heine 1993). Die sardischen Modalverben liegen auf dieser Skala zwischen dem Italienischen und dem Englischen. Es sei nochmals daran erinnert, dass die klitischen Personalpronomina im Sardischen nie enklitisch, sondern immer nur proklitisch an den Infinitiven zu stehen kommen.
266 Jones spricht den Modalverben denselben Hilfsverbstatus zu wie éssere + Gerundium in rekonstruiertem Kontext und den temporalen Hilfsverben áere und éssere + Partizip (Jones 1993: 142). Bei letzteren nimmt er an, dass sie in einer präverbalen Modifikatorposition der VP generiert werden (Jones: 1993 154–157); dies kommt der minimalistischen Analyse der temporalen Hilfsverben als Pr°-Adjunkt sehr nahe. Neben den reinen Modalverbkonstruktionen gibt es nun kérrere aber auch in Vollverbfunktion in Sätzen, die sich auf den ersten Blick nur durch das Erscheinen der Partikel a unterscheiden: (7-169) Cheljo cantare. (7-170) Cheljo a cantare. (Beipiele aus Jones 2000: 120)44
Dieses a muss hier tatsächlich als C° interpretiert werden, wie es in Kontrollstrukturen üblich ist. Die subkategorisierte CP mit a als overter C° in (7-170) beinhaltet allerdings ein arbiträres PRO, das nicht von dem Subjekt des Matrixsatzes kontrolliert sein kann, sodass die Bedeutung des eingebetteten Satzes der des Passivs nahe kommt. Der Komplementierer a scheint also in diesem Fall Subjektkontrolle zu verhindern (vgl. die deutsche Umschreibung darunter): (7-171) (7-172)
*proi cheljo a PROi cantare. proi cheljo a PROarb cantare. ‘ich will, dass jemand singt’
Diese Konstruktionen gibt es im gesamten sardischen Raum: (7-173)
log.
Non cherzo a PROarb mi nárrere faulas.
‘ich will nicht, dass man mir Lügengeschichten erzählt’ (7-174)
camp. Ita bollis a PROarb fai? ‘was willst Du, soll man machen’ (Beispiele aus Blasco Ferrer 1986: 159)
Es handelt sich in jedem Fall um biklausale Strukturen, bei denen nie Clitic Climbing oder Einflussnahme auf die Hilfsverbselektion über die overte C° hinweg möglich ist. Anstelle von arbiträrem PRO kann sogar auch ein explizites Subjekt im infiniten eingebetteten Satz erscheinen: (7-175) (7-176)
Non keljo a vénnere tue. (Jones 1993: 268) camp. Deu non bollu a ddu pappai tui/issu/issa/fustei/bosatrus... (Blasco Ferrer 1986: 158)
In den infiniten Sätzen kann auch der flektierte Infinitiv verwendet werden (vgl. v.a. Jones 2000): (7-177) (7-178)
Non cheljo a esseres tristu. Non cheren a cantaremus. (Beispiele aus Jones 2000: 116)
–––––—– 44
Jones (2000) benutzt eine andere Graphie als Jones (1993); da in allen sardischen Beispielen immer die Graphie der Quellen übernommen wurde, muss das konsequenterweise auch hier geschehen.
267 Diese Konstruktionen mit expliziten Subjekten sind in Mensching (2000) ausführlich behandelt worden. Da sie eindeutig keine Hilfsverbkonstruktionen mehr darstellen, sollen sie hier nicht detailliert analysiert werden. Festzuhalten bleibt, dass es im Sardischen ebenfalls zwei Konstruktionstypen mit kérrere + Infinitiv gibt. Diese sind allerdings nie ambig, da die Vollverbkonstruktionen durch einen overten Komplementierer a gekennzeichnet sind, während bei Hilfsverbkonstruktionen ohne overten Komplementierer mit Subjektsidentität die Restrukturierung obligatorisch ist. Kérrere gehört also zufällig zu den Verben, für die mehrere Lexikoneinträge vorhanden sind, sodass es einmal zu den Modalverben, einmal zu den Vollverben mit overter CP-Selektion (und einmal zu den passivischen Hilfsverben, vgl. 7.4) gezählt werden kann. Für die restrukturierten Modalverbkonstruktionen nimmt Jones (1993), wie bereits gesagt, einen ähnlichen Hilfsverbcharakter an wie für die temporalen Perfektkonstruktionen mit áere und éssere. Auch Ledgeway (2000a) behandelt die süditalienischen Modalverbkonstruktionen mit puté, dovere, avé a, sapé a, vulé,45 die im Neapolitanischen nur in restrukturiertem Kontext zu finden sind (vgl. Ledgeway 2000a: 155f.), als reine Hilfsverbkonstruktionen. Nach seiner minimalistischen Analyse haben diese Verben ein Bündel an nur mehr funktionalen Merkmalen, wie [Agr], [T], [M], [Asp], und werden direkt als T° in die Derivation eingefügt. Sie tragen als funktionale Kategorien affixalen Charakters auch ein starkes [V]-Merkmal, das schließlich die Bewegung des Vollverbs im Infinitiv nach T° bewirkt (vgl. Ledgeway 2000a: 178–179). Allerdings hat Ledgeways Analyse zunächst den gravierenden Nachteil, dass sie auf Rechtsadjunktion angewiesen ist. Darüber hinaus kann sie für den hier verfolgten Ansatz, der annimmt, dass die temporalen Hilfsverben áere und éssere bereits unter Pr° in die Derivation gelangen, nicht übernommen werden, da die sardischen Modalverben (wie die des Neapolitanischen) auch selbst in zusammengesetzten Zeiten auftreten können, was einer Analyse als T° bzw. als unter T° durch Merge eingefügtes Element widerspräche, vgl.: (7-179) No pro [Pr° si sunt cherfidos frimmarei] ti.
Ledgeways Analyse hat diese Problematik nicht, da sein Ansatz die temporalen Hilfsverbkonstruktionen im Sinne der modularen Analyse von Kayne (1993; vgl. 2.3.6) als biklausale Konstruktionen darstellt. Nach (7-179) muss im Sardischen davon ausgegangen werden, dass Modalverb und Hilfsverb beide durch Merge unter Pr° eingefügt werden. Die sardischen Modalverben sind weiter grammatikalisiert als ihre italienischen Gegenstücke, sie sind aber noch nicht zu reinen Tempus- oder Modusmarkern geworden wie etwa das Hilfsverb áere im sardischen Futur oder das Hilfsverb dévere im sardischen Konditional (vgl. 7.3). Bei dem ursprünglichen Kontrollverb kérrere kann davon ausgegangen werden, dass es sich zu einem Anhebungsverb wie dévere und pótere entwickelt hat. Denkt man an die Konstruktionen, in denen kérrere sogar als passivisches Verb fungieren kann (in denen kérrere also keine eigene Subjekt-θ-Rolle mehr hat), scheint diese Annahme plausibel zu sein. Dies bedeutet, dass in den Modalverbkonstruktionen mit kérrere das kontrollierte PRO des ehemals kontrollierten eingebetteten Satzes und das Subjekt des Matrixsatzes tatsächlich zusammengefallen sind (anders als im Italienischen, vgl. 6.4). Eine Basisge–––––—– 45
Bei avé a und vulé ist die modale Bedeutung teilweise schon zu rein futurischer Bedeutung geworden (Ledgeway 2000a: 155).
268 nerierung unter Pr° entspricht dem Status der Modalverben zwischen Modusmarker unter T° und Vollverb als V°. Die Basisgenerierung der sardischen Modalverben in einer Adjunktposition an Pr° kommt außerdem dem Vorschlag von Jones (1988) sehr nahe, der den sardischen Modalverben denselben Status wie den temporalen Hilfsverben áere und éssere zuspricht. Der Grund für das Einfügen durch Merge eines Modalverbs kann aber nun nicht an einem starken [T]-Merkmal liegen, sondern muss auf ein modales [M]-Merkmal zurückzuführen sein. Satzmodus und modale Quantifizierung müssen zwar erst in C° stattfinden; dennoch kann in dem vorliegenden Fall angenommen werden, dass sowohl ein Merkmalsabgleich eines modalen T° mit Pr° als auch ein Pr°-interner Merkmalsabgleich vorangegangen sein können, bevor C° verdeckt die modalen Merkmale von T° überprüft. Die sardischen Modalverben kommen also unter Pr° in die Derivation. Sie beeinflussen die Hilfsverbselektion nicht, da sie selbst keine eigene Argumentstruktur haben. Die Hilfsverbselektion ist allein durch die infiniten Vollverben bestimmt. Es ergeben sich daher die folgenden Ableitungen (vgl. (7-180) und (7-181)): (7-180)
Appo cherfidu preguntare a babbu. (Teilderivation) PrP Spec 'pro'
Pr'
D nom θ ϕ
VP
Pr° Pr°
Aux° 'appo' V +finit agr-ϕ T[E_R]
V° Pr°
Aux° 'cherfidu' V Mvol -finit con-ϕ +perf
XP 'a babbu'
V° 'preguntare'
V -finit
Pr° Pr Vst Tst Mst +perf
Verbales Pr° hat wie immer ein starkes [V]-Merkmal, das zur Anhebung von V° führt. Außerdem hat es hier ein starkes [M]-Merkmal, das einen modalen Wert, etwa volitional [vol], deontisch [deo], epistemisch [epi], potential [pot] etc. trägt. Dies führt zur Einsetzung des Modalverbs in die Derivation. Außerdem trägt der Pr-Kopf im vorliegenden Fall noch ein starkes [T]-Merkmal, das weder durch das infinitivische Vollverb (nur die Infinitive der temporalen Hilfsverben können [E_R] kodieren) noch durch das modale Partizip (Partizipien haben kein [T]-Merkmal) überprüft werden kann. Daher kommt es zu Merge des zu V° passenden Hilfsverbs. Parallel dazu kann die unakkusativische Modalverbkonstruktion betrachtet werden:
269 (7-181) Si sunt cherfidos frimmare. PrP Spec 'pro'
Pr' Pr°
D nom θ ϕ
D° 'si' Dst akk θana
VP Spec
Pr° Pr°
Aux° 'sunt'
V' V°
V Aux° Pr° +finit 'cherfidos' agr-ϕ V T[E_R] V° Mvol 'frimmare' -finit con-ϕ +perf V -finit
XP
Pr° Pr Vst Tst Mst D akk +perf
Hier bringt das reflexive si ein starkes [D]-Merkmal in die Derivation, das abgeglichen werden muss. Dies geschieht durch das Anheben des direkten Objekts aus [Spec, V] nach [Spec, Pr]. Durch die Anhebung kommt es auch zu ϕ-Merkmalsabgleich der angehobenen DP, hier pro, mit den verbalen Elementen: Das modale Partizip trägt Con-ϕ-Merkmale, die in Genus und Numerus kongruieren können, das temporale Hilfsverb trägt Agr-ϕ-Merkmale, die in Person und Numerus kongruieren können. Parallel zu den bisher ermittelten Merkmalszusammensetzungen von temporal starkem Pr°, wie sie auch für das Sardische gelten, muss also im Sardischen für die Pr°-Köpfe, die modal spezialisiert sind, eine weitere Reihe an möglichen Merkmalszusammensetzungen angenommen werden, vgl. die folgende Tabelle: (7-182) Merkmalszusammensetzung für modale Pr-Köpfe im Sardischen Typ
Kateg.
{phonol.
semantische
formale Merkmale}
transitiv, T2:GLEICH
Pr°
{Ø
T[E,R]
[Vst,T,Mst,D,akk]}
intransitiv, T2:GLEICH
Pr°
{Ø
T[E,R]
[Vst,T,Mst]}
unakkusativisch, T2:GLEICH
Pr°
{Ø
T[E,R]
[Vst,T,Mst,Dst]}
transitiv, T2:VOR
Pr°
{Ø
T[E_R]
[Vst,Tst,Mst,D,akk]}
intransitiv, T2:VOR
Pr°
{Ø
T[E_R]
[Vst,Tst,Mst]}
unakkusativisch, T2:VOR
Pr°
{Ø
T[E_R]
[Vst,Tst, Mst,Dst]}
270 Neben den erforderlichen temporalen Hilfsverben im Falle eines starken temporalen Pr° müssen nun auch die der intendierten Modalität entsprechenden Modalverben ausgewählt werden: (7-183) Durch Merge notwendigerweise eingefügte modale Hilfsverben Form
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
kérrere
{/kErrErE/
Modvol
[V,M]}
pótere
{/pOtErE/
Modpot/epi
[V,M]}
dévere
{/devErE/
Moddeo/epi
[V,M]}
Die von Jones (1993: 149f.) beschriebenen aspektuellen Verben, wie cumintzare a, accabbare de, finire de, sikire a, die wie italienische Modalverben optional restrukturieren, stellen möglicherweise eine (diachrone) Vorstufe in der Entwicklung zur obligatorischen Restrukturierung der sardischen Modalverben dar. Die für die italienischen Modalverben angenommene Derivationsstruktur mit eingebetteter TP in der modalen [Spec, V]-Position (in (7-184) grau dargestellt) lässt sich als komplexe Pr°-Struktur ohne eigene VP für das modale Hilfsverb (in (7-184) schwarz dargestellt) im Sardischen uminterpretieren: (7-184) Si sunt cherfidos frimmare. PrP Spec 'pro'
PrP Spec 'PRO'
Pr' Pr° D° 'si'
VP Pr°
Aux° 'sunt'
TP V°
Pr° V° Aux° 'cherfidos'
V'
Pr° V° 'frimmare'
Pr
XP
271 Bei den von Ledgeway (2000a) behandelten Modalverbkonstruktionen im Neapolitanischen hat sich die Tendenz der Modalverben zur Hilfsverbhaftigkeit noch weiter entwickelt als im Sardischen. Der im Italienischen durch die klausale Zugehörigkeit des temporalen Hilfsverbs klare Unterschied zwischen epistemischer und deontischer Lesart, ist im Neapolitanischen in einer syntaktischen Derivation zusammengefallen: (7-185) it. Deve aver preso i soldi. (epistemisch) (7-186) it. Ha dovuto prendere i soldi. (deontisch) (7-187) neap. Nn’ ha pututo astipá tanta sorde. (deontisch oder epistemisch) (Ledgeway 2000a: 166–167) (7-188) neap. *Num pô avé astipato tanta sorde. (Ledgeway 2000a: 166–167)
Eine Stellung des Modalverbs vor dem temporalen Hilfsverb ist also im Neapolitanischen nicht erlaubt. Im Sardischen dagegen sind noch beide Positionen der temporalen Hilfsverben, vor oder nach dem modalen Hilfsverb, mit der entsprechenden Lesart möglich: (7-189) Frantziscu devet áere fraicatu sa domo. (epistemisch) (7-190) Frantziscu at dévitu fraicare sa domo. (deontisch) (Beispiele aus Jones 1993: 145)
Die Anordnung Modalverb – áere/éssere hat meist epistemische Lesart und ist daher mit kérrere eher marginal: (7-191) Keljo áere finitu cussu travallu. (Jones 1993: 146)
Da aber im Sardischen u.a. aufgrund der Position der Klitika weiterhin angenommen werden muss, dass sowohl temporale als auch modale Hilfsverben unter Pr° durch Merge eingefügt werden, kann die unterschiedliche Anordnung beider Elemente auch nur innerhalb der PrP entschieden werden. Ich möchte hier annehmen, dass die Anordnung grundsätzlich optional ist, eine epistemische Lesart aber durch die Voranstellung des Modalverbs gefördert wird. Epistemische Lesart ist eine mit der Sprechereinstellung verbundene Modalität, die wiederum über die den Satzmodus kontrollierende CP mit der deiktischen Position des Sprechmoments verbunden werden muss. Diese modale Verankerung in den Sprechkontext wird wohl durch eine nähere Position des Modalverbs, das ja auch Träger der Finitheitsmerkmale ist, gefördert, während eine deontische Interpretation durch die nähere Position des finiten temporalen Hilfsverbs unter T° unterstützt wird. Die Ableitung von (7-189) darf also wie (7-181) dargestellt werden:
272 (7-192) Frantziscu devet áere fraicatu sa domo. CP
TP
C° C Mepi +finit
Spec 'PRO'
T'
PrP
T°
Pr°
Aux° 'devet'
T Vst Prst Dst +finit nom
Pr°
Aux° 'áere' V T Mepi agr-ϕ +finit
T°
Pr°
V° 'fraicatu'
Spec
D nom θ ϕ
Pr'
Pr°
Pr°
Aux°
Pr°
VP
Pr°
Aux° V -finit T[E_R] D
V'
Spec 'sa domo'
V°
V -finit con-ϕ +perf
V°
XP
Pr° Pr Vst Tst Mst D akk +perf
Die Modalverbkonstruktionen sind sprachübergreifend ein gutes Anwendungsbeispiel, anhand dessen sich die graduelle Entwicklung vom Vollverb zum Hilfsverb nachvollziehen lässt. Dies konnte bereits an den verschiedenen Derivationsmöglichkeiten der Restrukturierungsverben im Italienischen gezeigt werden. Im Sardischen konnten dabei Strukturen erarbeitet werden, die im Gegensatz zum italienischen Modalverbsystem eine Weiterentwicklung in Richtung der Auxiliarisierung anzeigen.
7.6
Gerundialkonstruktionen mit Hilfsverben
Das im Sardischen am häufigsten auftretende Hilfsverb in Gerundialkonstruktionen ist nicht istare, sondern éssere. Im Vergleich zu den italienischen Gerundialkonstruktionen
273 ergeben sich allerdings in morphosyntaktischer Distribution und in der Semantik der Konstruktion Unterschiede.46 Die sardische Gerundialkonstruktion wird sehr häufig anstelle des einfachen Präsens gebraucht; sie ist vergleichbar etwa mit der englischen Progressive-Konstruktion, wenn auch nicht mit dem im Englischen vorhandenen obligatorischen Charakter. Die sardische Gerundialkonstruktion mit éssere ist sogar mit nicht episodischen, also typischen ILPVerben möglich: (7-193) Esti kreendi de essi no sciu kini. (7-194) Sa cida passara fiara kumprendendi tottu de sa matematika, ma immoi no esti kumprendendi nudda. (7-195) Su mesi passau fiara proendi d’ognia dominigu. (Beispiele aus Squartini 1998: 312, Fn. 12 nach Loi Corvetto 1982: 150; letztere hier nicht bibliographisch erfasst) (7-196) camp. Seu pentzendi ca depis andai inguni. (Blasco Ferrer 1986: 146)
Semantisch ergibt sich durch die statischen ILP-Prädikate eher eine durative Lesart (d.h. Koextension mit [∀R]) als eine punktuell fokussierte Lesart (d.h. Koextension mit [∃R]).47 Beispiel (7-195) hat sogar habituelle Lesart, wie sie im Spanischen, nicht aber im modernen Standarditalienischen möglich ist (vgl. Squartini 1998 und 6.5). Im sardischen Regionalitalienischen finden sich ebenfalls solche zum Sardischen parallele Beispiele (vgl. GGIC 1991, II: 132, 136): (7-197) La settimana scorsa stava capendo tutto della matematica, ora non segue più. (GGIC 1991, II: 132)
Was die morphosyntaktische Distribution angeht, ist, neben dem häufigen Gebrauch der Form als Präsensform, im Sardischen ein weniger reduziertes Verbalparadigma für die Konstruktion zu beobachten als für stare + Gerundium im Italienischen. So kann die Gerundialkonstruktion mit éssere auch im Imperativ erscheinen: (7-198) log. Non siazes andande dae domo in domo! (Blasco Ferrer 1986: 146)
Im Sardischen gibt es bis auf Randzonen kein altes, dem italienischen Passato remoto ent–––––—– 46
47
Im Sardischen wird, wie schon erwähnt (vgl. 4.4.3), das Gerundium im Übrigen auch in Funktion eines ursprünglichen Partizip Präsens verwendet: (i) B’aìat traìnos murmuttende. (ii) Lantaìat s’àbbila ’olende. (Beispiele aus Corda 1994: 70) Auch in Perzeptivkonstruktionen verwendet das Sardische das Gerundium und nicht, wie das Italienische, den Infinitiv: (iii) Apo legidu, finamentra in custa lista, e intesu maicantas personas nende chi sicomente su sardu est una limba, sos chi faeddant su sardu sunt una natzione. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada) Die Eigenheiten dieser syntaktischen Konstruktionen können hier nicht weiter untersucht werden. Dennoch sagt Jones (1993: 88): “The progressive construction with éssere and the present participle is used primarily in cases where the reference-time is perceived as being punctual.” Die als punktuell verstandene Referenzzeit kann aber keine notwendige Bedingung für die Gerundialkonstruktion mit éssere sein, vgl. 4.4.3.
274 sprechendes Perfekt; die Funktionen von altem Perfekt und Imperfekt sind in einer Form zusammengefallen (vgl. Blasco Ferrer 1986: 148–149). Daher kann an den Formen von éssere (fippo, fis, fit...) nicht festgestellt werden, ob die Gerundialkonstruktion mit éssere hier möglicherweise ein [+perf]-Merkmal in Pr° erlaubt. Formen, die éssere im analytischen Perfekt oder Plusquamperfekt erlauben und darauf hinzuweisen scheinen, dass doch von einer Kompatibilität der Gerundialkonstruktion mit éssere und dem [+perf]-Merkmal ausgegangen werden kann, gehören möglicherweise nicht zum Verbalparadigma von èssere + Gerundium, sondern zu der selteneren Form istare + Gerundium (vgl. auch weiter hinten in diesem Abschnitt): (7-199) So istatu travallande. (7-200) *Juanne los est istatu kircande. (7-201) Juanne est istatu kircándelos. (Beispiele aus Jones 1993: 141)
Die Form so istatu könnte sowohl das analytische Perfekt von istare als auch das von éssere darstellen, welches das Partizip von istare als Suppletivform benutzt. Da aber bei der Verwendung des Perfekts in Zusammenhang mit einer Gerundialkonstruktion keine Restrukturierung, d.h. keine Proklise des Klitikums möglich ist, wie (7-200) und (7-201) zeigen (bei éssere + Gerundium dagegen schon, vgl. (7-203)), muss diese Form der zweiten Gerundialkonstruktion, also dem Verbalparadigma von istare zugesprochen werden (vgl. Jones 1993: 141). Éssere + Gerundium ist also nicht mit T2[E_R] und [+perf] der Prädikation kombinierbar. Syntaktisch weist die Konstruktion mit éssere wie im Italienischen zwei Derivationsmöglichkeiten mit verschiedenen Positionen des Klitikums auf: (7-202) Fippo kircándelos. (7-203) Los fippo kircánde. (Beide Beispiele aus Jones 1993: 137)
Zwischen éssere und Gerundium dürfen, flexibler als bei den temporalen Hilfsverbkonstruktionen, Adverbien treten, z.B. auch Adverbien mit spezifischer Zeitreferenz. Allerdings darf dies nur geschehen, wenn das Klitikum sich nicht in die präverbale Position vor das finite Hilfsverb bewegt hat: (7-204) Fippo tottu su mandzanu travallande. (7-205) Fippo tottu su mandzanu kircándelos. (7-206) ??Los fippo tottu su mandzanu kircánde. (Beispiele aus Jones 1993: 138)
Bei ILP-Verben ist ausschließlich die proklitische Position möglich: (7-207) Non ti so cumprendende. (7-208) *Non so cumprendéndeti. (Beispiele aus Jones 1993: 137–138)
Das Kopulativverb éssere selbst kann nicht in Gerundialform stehen: (7-209) *Maria est essende brava. (Jones 1993: 89)
275 Die sardischen Gerundialkonstruktionen mit éssere sind also dadurch gekennzeichnet, dass sie eine imperfektive durative Lesart haben können und nicht einen einzelnen fokussierten Referenzpunkt kodieren. Daher können im Sardischen auch typische ILP-Verben in Gerundialkonstruktionen auftauchen. Durch die flexiblere Bezugnahme auf die Zeitkontur der Referenzzeit können diese Konstruktionen das allgemeine sardische Präsens ausdrücken. Auch im Sardischen muss außerdem zwischen zwei zugrunde liegenden Strukturen unterschieden werden, nämlich einmal der restrukturierten Struktur mit Proklise des Klitikums und Verbot eines zwischen Hilfsverb und Gerundium tretenden Adverbs, die auch bei ILPVerben möglich ist, zum anderen der nicht restrukturierten Form mit Enklise, die solche Adverbien erlaubt, aber nicht mit statischen Verben möglich ist. Neben den Gerundialkonstruktionen mit éssere gibt es im Sardischen nun auch die bereits angesprochenen selteneren Konstruktionen mit istare + Gerundium. Diese Konstruktionen erlauben allerdings keine Restrukturierung, d.h. das Klitikum befindet sich immer in Enklise nach der Gerundialform: (7-210) Istaío tottu su mandzanu kircándelos. (7-211) *Los istaíu kircánde. (Beispiele aus Jones 1993: 138) (7-212) Ite est custa cosa chi in biddas nostras istamus bochendenoche sas istentinas e innoche parimus totu frates? (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
Die Gerundialkonstruktion mit istare kann auch, wie bereits angesprochen, in analytischen Formen, hier im Perfekt, erscheinen:48 (7-213) Juanne est istatu kircándelos. (Jones 1993: 141) (7-214) camp. Est stétiu totu sa notti ligendi (Blasco Ferrer 1986: 164)
Ebenso im analytischen Plusquamperfekt (in Beispiel (7-216) im Konjunktiv): (7-215) Chie ndh’ischitat un’annu faghet si sa lista fit istada galu andhendhe appustis de tantos meses. (Sa-Limba 1999–2002: Benetutti) (7-216) E si unu pitzinnu iscrieret in s’iscola: “i bambini anno cento lire,” abberu fit istadu faddende? (Sa-Limba 1999–2002: Móres) (7-217) Fia pessende a itte cheriat narrere Borges cun cussu “finale.” Si eo lu aia tramunadu cun “sa fine de unu contu fantasiosu” fit parfidu chi sere istadu nende chi fit finida sa fantasia non su contu, e invece isse cheret narrere chi cussu est su finale de su contu chi isse fit fattende. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
Außerdem findet sich die Konstruktion sogar im Infinitiv: (7-218) No creo de istare offendende niune. (Sa-Limba 1999–2002: Móres) (7-219) Bos cunsizo de bos leggere sas literas gia imbiadas pro no istare ripetende onzunu cosa gia nadas. (Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
–––––—– 48
Für die Beispiele (7-213) bis (7-216) wird auch bei Jones (1993: 141) angenommen, dass es sich um Formen des Verbalparadigmas von istare und nicht von éssere handelt.
276 Die Konstruktion von istare + Gerundium ist also, was das Verbalparadigma von stare betrifft, nicht eingeschränkt. Sie scheint daher weniger grammatikalisiert zu sein als die mit éssere: Das Verbalparadigma ist nicht auf die imperfektivischen Formen beschränkt, es kommt nicht zu Restrukturierung mit Clitic Climbing und die Konstruktion erlaubt eine Kombination mit der zweiten T-Relation mit dem Wert [E_R] und einem [+perf]-Merkmal. Was die semantischen Eigenschaften der Konstruktion angeht, gilt für istare + Gerundium dasselbe wie für éssere und Gerundium mit Enklise: Die Konstruktion erlaubt keine ILPVerben. Der Gerundialsatz hat einen progressiven Charakter (vgl. Jones 1993: 84). Dennoch ist istare + Gerundium mit [+perf] kompatibel. Dies könnte ein Hinweis auf eine biklausale Struktur sein. In der folgenden Analyse soll die Konstruktion mit éssere und proklitischem Pronomen untersucht werden. Der Unterschied zur Parallelkonstruktion mit stare im Italienischen ist, dass die Form eine durative Lesart erlaubt und somit auch tendenzielle ILP-Verben wie cumpréndere in der Gerundialkonstruktion zulässt. Dies liegt wohl allein an der Wahl eines anderen Hilfsverbs, d.h. der Wahl des ILP/SLP-neutralen éssere statt des typischen SLPVerbs istare. Daher möchte ich hier für das Sardische in dieser Konstruktion dieselbe Derivation annehmen wie für das Italienische, mit der Unterscheidung, dass das unter Pr° durch Merge eingefügte Hilfsverb éssere kein Merkmal des Typs [∃R] (wie das italienische stare) trägt. Damit ist eine Interpretation mit fokussiertem Referenzpunkt wie im Italienischen weiterhin möglich, aber nicht zwingend. Es ergibt sich also die folgende Derivation: (7-220) Non ti so cumprendende.49 CP TP
C° Spec 'pro'
T' T°
PrP
Neg° 'non'
T°
Spec
Pr°
Aux° 'so'
Pr°
T° T Vst Prst Dst nom neg +finit
Pr°
D° 'ti'
Pr'
Pr° V° 'cumprendende'
Pr°
VP Pr°
D°
Aux° V T -perf [Var R] agr-ϕ +finit
Spec
V°
Pr° V°
Pr° Pr Vst T -perf D akk
–––––—– 49
V'
Cumprendende ist als [∀R] gekennzeichnet, da es sich um ein ILP-Prädikat handelt.
V T[R,E] -perf -finit [∀R]
XP
277 Beispielsatz (7-206) ist also grammatikalisch fragwürdig, weil bei Proklise davon ausgegangen werden kann, dass sich, wie im italienischen Parallelfall, der gesamte Pr°Komplex nach T° bewegt hat. Da mit éssere die SLP- oder ILP-Eigenschaft der Derivation nicht vorbedingt ist, wie in der italienischen Parallelkonstruktion mit stare, können Prädikate beiden Typs in Gerundialform erscheinen und den Typ der Prädikation zusammen mit overten Adverbialen in dieser Hinsicht bestimmen. Dementsprechend ergibt sich entweder die einen Referenzpunkt fokussierende Interpretation, wenn SLP-Verben zusammen mit temporalen Adverbien (eris, immoe, carchi di a oe,... ) erscheinen, die punktuelle Lesart ausdrücken: (7-221) Immoe su dinari est arribbende e is intellettuales si sunt scadenados. (7-222) Ma comente fia narende carchi di a oe, pro fagher cultura bi cherent puru sas cundithiones pro la poder fagher. (Beispiele aus Sa-Limba 1999–2002: Iglesias) (7-223) Eris fia remonzende una fasca ’e papiros, accando m’est intrada in francas custa cantone de Ciddoi. (Beispiel aus Sa-Limba 1999–2002: Pattada)
Es kann sich auch die durative, eine Serie von Referenzpunkten beinhaltende Lesart, ergeben. Dies ist der Fall, wenn tendentielle ILP-Prädikate wie cumprendere, vídere etc. erscheinen oder aber durch Adverbien, die entsprechende Zeitintervalle fixieren oder Habitualität ausdrücken, eine kontinuierliche Lesart entsteht: 50 (7-224) So ’idende chi sezis affestende su annale ’e naschida de sa Listra. (7-225) Diego [...] ddue est una bintina de annos peleande. (Beispiele aus Sa-Limba 1999–2002: Iglesias) (7-226) Semus […] prus de 25 annos intendende zente carculada meda chi narat: … (Sa-Limba 1999–2002: Nuoro)
Da die Kopula selbst nicht in Gerundialform erscheinen kann, ist es wahrscheinlich, dass kopulatives éssere auch im Sardischen erst unter T° in die Derivation gelangt. Es ergibt sich also beispielhaft die folgende Merkmalszusammensetzung für die sardische Gerundialkonstruktion mit éssere (Form mit Proklise): (7-227) Non ti so cumprendende. Typ
Element
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
Gerund.
V°
{/kumprendende/
verstehen(x,y)
[V,T[E,R] mit [∀R],-perf]}
Pr°
{
Ø
[Pr,T[E,R],-perf,D,akk]}
T°
{
Ø
[T[S,R],+finit,Vst,Prst,Dst,nom,neg]}
–––––—– 50
Interessant ist auch, dass ein Satz mit dieser Bedeutung im Italienischen nicht mit stare + Gerundium, sondern mit stare a und Infinitiv gebildet würde, da er eine durative, keine progressive imperfektive Verlaufsform darstellt: (i) *Stavo tutta la mattina cercandolo. (ii) Stavo tutta la mattina a cercarlo.
278 (7-228) Merkmalsmatrix für éssere und Gerundium (hier die Form so) Typ
Element
{phonol.
semant.
formale Merkmale}
progressivdurativ
so
{/so/
Ø
[V,T[S,R]•[R,E] mit [VarR],agr-ϕ,-perf,+finit]}
Die Konstruktion mit Enklise des Klitikum muss im Sardischen sowohl bei Verwendung des Hilfsverbs istare als auch bei Verwendung des Hilfsverbs éssere51 anders deriviert sein als im Italienischen, vgl. den folgenden Gegensatz: (7-229) it.
*Iolanda sta in questo momento/decisamente/proprio adesso mangiandola. (Blücher 1973: 17) (7-230) sard. Istaío tottu su mandzanu kircándelos. (7-231) sard. Fippo tottu su mandzanu kircándelos. (Beispiele aus Jones 1993: 138)
Sardisches éssere + Gerundium hat aber ebenso wie italienisches stare + Gerundium ein defektives Flexionsparadigma, ganz im Gegensatz zu istáre + Gerundium. Wegen des nachgestellten Klitikums möchte ich nun ebenfalls wie Jones (1993) davon ausgehen, dass es sich dabei um eine Kopulativkonstruktion, analysiert als Hauptverb + Small Clause, handelt;52 diese Analyse wurde bereits für die italienische Konstruktion stare + Gerundium angenommen; allerdings kann es wegen der Möglichkeit des Dazwischentretens eines Adverbs anders als im Italienischen im Sardischen keine V°-Bewegung, d.h. Gerundialbewegung, nach T° geben. V° muss in einer tieferen Position verbleiben, aber dennoch vor dem Klitikum stehen. Eine weitere Position unterhalb von Pr° des Satzes ist erforderlich. Eine T-Projektion allein aber genügt nicht, da sich damit im Sardischen durch das immer starke [Pr]-Merkmal in T° wieder die Anordnung Gerundium–Klitikum ergäbe. Daher möchte ich annehmen, dass es sich um einen Spezialfall einer Small Clause handelt, und zwar um ein Pr°, das eine CP subkategorisiert, d.h. also eine prädikative CP. In dieser CP muss sich, wie in den parallelen Gerundialkonstruktionen mit Adjunktcharakter V° nach C° bewegt haben. Nach dieser Annahme ergibt sich die folgende Derivation:
–––––—– 51
52
Éssere + Gerundium mit nachgestelltem Klitikum scheint generell seltener zu sein: Im Korpus von Sa-Limba konnten verhältnismäßig sehr viel weniger Beispiele mit Enklise als mit Proklise gefunden werden. Vgl. Jones (1993: 138): “Progressive éssere can function as a bona fede auxiliary on a par with perfective áere (with obligatory clitic climbing and tight restrictions on intervening adverbs) or as a main verb which takes the participial expression as its complement (allowing phrasal adverbs, but blocking clitic-climbing).” Jones nimmt an, dass éssere in den Gerundialkonstruktionen mit Clitic Climbing ein reines Hilfsverb ist und an die gerundiale VP adjungiert wird (Jones 1993: 140); in den anderen Konstruktionen sieht er éssere (und auch istare) als Kopulativverben, die eine Small Clause subkategorisieren (Jones 1993: 139).
279 (7-232) Fippo tottu su mandzanu kircándelos. CP TP
C° Spec
T'
'pro' PrP
T° Aux° 'fippo'
V T[R_S] agr-ϕ +finit
T°
DP 'tottu su mandzanu' Pr° T° Spec T Vst Prst Dst nom +finit
PrP Pr' Pr°
CP
C T[E,R] -perf
TP
C° V°
'kircande'
V T[R,E] -perf -finit
C°
Spec
T'
C 'PRO' Vst T[S,R] D [∃R] ϕ null null
PrP
T° Pr° D° 'los'
T°
T Vst Pr° Prst Dst V° Pr° -finit
Spec
Pr' VP
Pr° Pr°
D° V°
V'
Spec Pr°
V°
XP
Pr Vst T akk -perf D
Das Hilfsverb éssere wird als Kopula einer Prädikativkonstruktion erst unter T° durch Merge eingefügt. Das Prädikativum, d.h. die von Pr° subkategorisierte maximale Prädikation, besteht in einer gerundialen CP, die ein vom Subjekt in [Spec, Pr] kontrolliertes PRO beinhaltet. Die gerundiale CP hat ein starkes [V]-Merkmal, das durch die Verbbewegung abgeglichen werden kann, sowie darüber hinaus ein Kasusmerkmal, das mit PRO abgeglichen werden kann. Das infinitivische T° braucht kein finites V°. Die erste T-Relation ist durch die Gerundialform mit dem Wert der zweiten T-Relation [E,R] festgelegt, die zweite T-Relation wird hier bei infinitem T° mit [S,R] default-instantiiert. Die eingebettete gerundiale CP hat also noch vollen Phrasencharakter, während éssere bereits Hilfsverbfunktion hat. Die Merkmale [-perf] und T[E,R] des Matrix-Pr° bewirken, dass nie ein temporales Hilfsverb unter Pr° erscheinen kann und die perfektiven Formen und die Formen des analytischen (Plusquam-)Perfekts in dieser Konstruktion daher ausgeschlossen sind. Dass keine statischen Verben in der gerundialen Prädikativphrase erscheinen können, muss mit der besonderen Merkmalszusammensetzung der gerundialen C° zusammenhängen, die einen fokussierten Referenzpunkt verlangt. Das kopulative éssere selbst ist auch im Sardischen variabel hinsichtlich der SLP-/ILP-Eigenschaft des Prädikats des Satzes, d.h. die Referenzzeit wird erst durch den Kontext quantifiziert. Hier seien nochmals die Merkmalszusammensetzungen des gerundialen C-Kopfes sowie des Pr°, das die gerundiale CP selegiert, aufgeführt:
280 (7-233) Merkmalsübersicht für CP-selegierendes Pr° und entsprechendes C° im Sardischen Typ
{phonologische
semantische
formale Merkmale}
gerundial Pr°
Element
{∅
Ø
[Pr,C,T[E,R],-perf]}
gerundial C°
{∅
Ø
[C,Vst,T[S,R] mit [∃R],null]}
Nach dieser Analyse kann man annehmen, dass die Verlaufsform mit éssere im Sardischen mit postverbalem Klitikum eine ältere Form darstellt als die mit präverbalem Klitikum. Die Gerundialkonstruktion mit istare dagegen scheint noch einen Schritt weiter von der Hilfsverbhaftigkeit entfernt zu sein: Allein die Tatsache des nicht reduzierten Verbalparadigmas scheint fast auf Vollverbstatus hinzuweisen. Der Matrixsatz wird daher ein verbales Pr° beinhalten, die seinerseits eine VP subkategorisiert. Der Kopf dieser VP, istare ist ein typisches SLP-Verb: Daher ist es mit Gerundien von ILP-Verben, etwa cumprendende, inkompatibel. Somit könnte es sich um eine echte Kontrollstruktur handeln, wie etwa bei volere mit Infinitiv in nicht restrukturiertem Kontext im Italienischen. Es soll daher die folgende Derivation angenommen werden: (7-234) Juanne est istatu kircándelos.
CP TP
C° Spec
T'
'Juanne'
T° Pr°
PrP T°
T Vst Prst V° Pr° Dst 'istatu' nom V +finit T[R,S] V agr-ϕ +perf +finit -finit [Var ∃] [∃R] Aux° 'est'
Spec
Pr°
Pr' Pr°
VP Pr°
Aux° V°
Pr° Pr Vst Tst Dst +perf
V'
Spec V°
CP C°
V° 'kircande'
V T[R,E] -perf -finit
TP
C° Spec T' 'PRO' C PrP T° Vst T[S,R] Pr' Pr° T° Spec [∃R] null T VP Pr° Pr° D° Vst 'los' Prst Pr° D° Spec V' V° Pr° Dst -finit V° XP V° Pr° Pr Vst T akk -perf D
Istare als unakkusativisches Vollverb selegiert hier eine adverbiale gerundiale CP, die in Komplementposition steht, etwa wie das Adverb bene in einer parallelen Vollverbkonstruktion mit istare bene. Dass istare als Vollverb in die Derivation gelangt, hat zur Folge, dass
281 sowohl die temporalen Hilfsverbkonstruktionen des Perfekts als auch z.B. Konstruktionen möglich werden, in denen istare im Infinitiv erscheint. Durch die biklausale Vollverbkonstruktion erklärt sich auch, warum in einem Satz wie Juanne est istatu kircándelos gleichzeitig ein [+perf] und ein [-perf]-Merkmal auftauchen kann, was in einer monoklausalen Hilfsverbkonstruktion nicht möglich wäre. Damit ist der Unterschied zum Italienischen und zu den sardischen Konstruktionen mit éssere erfasst. Zusammenfassend sei hier die folgende Übersicht gegeben: (7-235) Übersichtstabelle zu den Gerundialkonstruktionen im Italienischen und Sardischen Sprache
Beispiel
Klitikum Merge
Derivation
sard.
Istaíu tottu su istare mandzanu kircándelos. Est istatu kircándelos.
fin. Verb Kat.
V°
Enklise
als V°
CP-TP-PrP-VPCP…
ital.
Stavo cercandoli. *Stavo tutta la mattinata cercandoli.
stare
Aux°
Enklise
unter T°
CP-TP-PrP-VP
ital.
Li stavo cercando.
stare
Aux°
Proklise
unter Pr°
CP-TP-PrP-VP
sard.
Fippo tottu su éssere mandzanu kircándelos. *Non so cumprendéndeti.
Aux°
Enklise
unter T°
CP-TP-PrP-CP...
sard.
Los fippo kircánde. Ti so sumprendende. *Los fippo tottu su mandzanu kircánde.
Aux°
Proklise
unter Pr°
CP-TP-PrP-VP
éssere
Die sardischen Hilfsverben, die im Zusammenhang mit den Gerundialkonstruktionen erscheinen, haben die folgenden Eigenschaften: (7-236) Merkmalszusammensetzungen für éssere und istare + Gerundium Typ
Element
{phonol.
semant.
formale Merkmale}
progressivdurativ
est
{/Est/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R] mit [VarR],agr-ϕ,-perf,+finit]}
progressiv
istat
{/istat/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R] mit [∃R],agr-ϕ,-perf,+finit]}
282
7.7
Hilfsverben im Sardischen: Zusammenfassung
Das in Kapitel 5 für das Italienische entwickelte Modell der Interpretation von Hilfsverben als Kopf-Elementen, die unter bestimmten funktionalen Kategorien durch Merge eingefügt werden müssen, hat sich auch bei einer Anwendung auf das Sardische bewährt. Dabei konnten die Besonderheiten des Sardischen an wenigen Merkmalsunterschieden in den funktionalen Kategorien oder Besonderheiten bei den Lexikoneinträgen expletiv-funktionaler Elemente festgemacht werden. Zusammenfassend lassen sich hier die folgenden Ergebnisse aufführen: − − − −
−
− −
−
Sardisches T° (finit oder infinit) hat immer ein starkes [Pr]-Merkmal. Somit erklärt sich die Position der sardischen Klitika. Das Zusammenspiel von bestimmten mit Fokusmerkmalen versehenen T- und C-Köpfen hat im Sardischen zur Folge, dass Konstituenten und Elemente unterschiedlichen Typs, so auch infinite Verbalformen, in Fokusposition erscheinen können. Im Sardischen hat das reflexive Element si nur im Akkusativ, nicht aber im Dativ ein starkes [D]-Merkmal. Das erklärt die unterschiedliche Hilfsverbselektion bei den entsprechenden Reflexivkonstruktionen. Das Sardische verfügt über einen weiteren Pr-Kopf, der unpersönlichen Charakter hat und durch das Merkmal [-def] gekennzeichnet ist. Außerdem gibt es im Sardischen ein Expletivum bi, das Subjekt-Verb-Agreement verhindert bzw. den Default-Fall (3. Sg.) auslöst. Hierdurch erklären sich ebenfalls Unterschiede in der Hilfsverbselektion bei unpersönlichen/existentiellen Expletivkonstruktionen. Das Sardische hat keine synthetischen Verbalformen für Futur und Konditional: Dafür hat es einen Futurmarker, der sich auf zwei Elemente, nämlich das Präsensparadigma von áere mit Finitheits- und Agr-ϕ-Merkmalen sowie die Partikel a mit Kodierung der ersten T-Relation als NACH-Beziehung verteilt. Ebenso enthält das sardische (funktionale) Lexikon Kurzformen von dévere im Präsens und Imperfekt, die als Futur- oder Konditionalmarker fungieren können, indem sie ein T- (mit [aux]-) oder Konditionalmerkmal tragen, das die entsprechenden Merkmale in T° abgleichen kann. Das sardische kérrere kann wie das italienische andare durch ein deontisches Merkmal als deontischer Marker eines Passivs dienen, der anstelle des nicht-deontischen éssere im Passiv durch Merge unter T° eingefügt wird. Das Sardische verfügt über eine weitere Serie von spezialisierten Pr°-Köpfen modalen Charakters, die sich jeweils durch ein starkes [M]-Merkmal auszeichnen. Daher werden die sardischen Modalverben ebenso wie die temporalen Hilfsverben des Perfekts durch Merge unter Pr° eingefügt, um ein starkes [M]-Merkmal zu überprüfen. Die Reihenfolge des Einfügens von temporalen und modalen Hilfsverben unter T° hat Einfluss auf ihre epistemische versus deontische Lesart. Die Hilfsverben der sardischen Gerundialkonstruktionen éssere und istare unterscheiden sich in ihrem Grad der Grammatikalisierung: Während istare als V° eine gerundiale CP subkategorisiert und damit noch Vollverbstatus hat, wird éssere + Gerundium entweder unter Pr° in die Derivation eingesetzt, um ein [-perf] abzugleichen, oder als expletives Kopulativverb in einer Prädikativkonstruktion unter T° durch Merge eingefügt, wobei diese PrP eine speziell gerundiale CP als Komplement hat.
8
Zusammenfassung und Ausblick
In der vorliegenden Arbeit wurden die Eigenschaften und die Position der Hilfsverben anhand des Italienischen und des Sardischen eingehend untersucht und im Rahmen von Chomskys Minimalist Program (1995) analysiert. In diesem letzten Kapitel werden nun die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen in einer Übersicht zusammengefasst (vgl. 8.1). Wie die minimalistischen Analysen zeigen, ist der Grad der Hilfsverbhaftigkeit eines Verbs von dem Ort abhängig, an dem es in die Derivation eingefügt wird. Letzterer wiederum ist durch die Merkmalszusammensetzungen der funktionalen Kategorien bestimmt, die als Überblick in ihren Spezialisierungen dargestellt werden. Als Repräsentationsform wurden hier Vererbungshierarchien gewählt. Die hieraus ableitbaren Eigenschaften von C°, T° und Pr° spielen bei der Analyse der Eigenschaften und Positionen der Hilfsverben eine wichtige Rolle (vgl. 8.2). Grammatikalisierungsphänomene lassen sich minimalistisch durch minimale Veränderungen in den Merkmalszusammensetzungen sowohl lexikalischer als auch funktionaler Kategorien erklären. Dabei können synchron zweideutige Strukturen beobachtet werden wie z.B. in den italienischen Restrukturierungskonstruktionen. Diese Ambiguitäten werden im Laufe des Grammatikalisierungsprozesses durch weitere Merkmalsverschiebungen aufgelöst, sodass die Interpretationen der Strukturen eindeutig werden und sich neue Parametrisierungen ergeben (vgl. 8.3). Das MP als theoretischer Rahmen stellt durch sein reduziertes Inventar an funktionalen Kategorien und syntaktischen Operationen ein handliches Instrumentarium zur Verfügung, das es erlaubt, Hilfsverbhaftigkeit in einem merkmalsbasierten Ansatz lokal fassbar zu machen. Allerdings lässt sich gerade in Bezug auf die Merkmalsbündel der syntaktischen Objekte vermuten, dass die Möglichkeiten, die der minimalistische merkmalsbasierte Ansatz bietet, oft vielleicht nicht restriktiv genug sind, um Übergenerierungen vermeiden zu können. Möglicherweise müssen weitere Prinzipien wie etwa eine feste Hierarchie der Merkmale innerhalb eines Bündels wirksam sein. Nach dem ausführlichen Anwendungsversuch von Chomskys MP (1995) auf das Italienische und das Sardische, so wie er hier vorliegt, kann bestätigt werden, dass der programmatische Ansatz des MP einerseits eine gute Analysegrundlage bietet, andererseits aber viele Fragen offen lässt, die Weiterentwicklungen des MP unbedingt klären müssen (vgl. 8.4).
284
8.1
Hilfsverben: Tabellarische Zusammenfassung der Ergebnisse
Die folgenden Hilfsverben des Sardischen und Italienischen wurden untersucht: − − − − −
das kopulative Hilfsverb SEIN, das in Konstruktionen mit nicht-verbalem Prädikat auftritt; die temporalen Hilfsverben HABEN und SEIN, wie sie zur Bildung der zusammengesetzten Zeiten benutzt werden; die passivischen Hilfsverben; die modalen Hilfsverben, die Restrukturierungsphänomene aufweisen; aspektuelle Hilfsverben, wie sie in Gerundialkonstruktionen auftreten.
Diese Hilfsverben erscheinen in der syntaktischen Derivation an verschiedenen Stellen. Nach dem Kriterium ihres Einfügungsorts können sie in verschiedene Typen eingeteilt werden: − −
−
−
Als V-Kopf innerhalb einer VP erscheinen die italienischen Restrukturierungsverben (vgl. 6.4). Auch das sardische istare + Gerundium gelangt als V° in die Derivation (vgl. 7.6). Unter Pr° erscheinen die temporalen Hilfsverben HABEN und SEIN sowohl des Italienischen als auch des Sardischen (vgl. 5.2 und 7.2). Außerdem kann die nicht echt passivische, aber unakkusativische Konstruktion gradueller Interpretation mit andare + Partizip des Italienischen dort verortet werden (vgl. 6.3.2). In den Gerundialkonstruktionen gelangt im Italienischen stare und im Sardischen éssere unter Pr° in die Derivation, wenn das Klitikum proklitisch vor der finiten Form des Hilfsverbs steht (vgl. 6.5 und 7.6). Unter T° erscheinen die Kopula SEIN des Italienischen und des Sardischen sowie alle Hilfsverben in echt passivischen Hilfsverbkonstruktionen (vgl. 5.3, 6.3 und 7.4), darüber hinaus die Hilfsverben der analytisch gebildeten sardischen Futur- und Konditionalformen (vgl. 7.3). In den Gerundialkonstruktionen gelangt im Italienischen stare und im sardischen éssere unter T° in die Derivation, wenn das Klitikum enklitisch an dem Gerundium steht (vgl. 6.5 und 7.6). In den hier behandelten Sprachen gibt es kein Hilfsverb, das direkt unter C° in die Derivation eingefügt wird.
Bei Spell Out befinden sich alle Hilfsverben des Sardischen und Italienischen unter T°.1 Die Hilfsverben, die als V° in die Derivation gelangen, stehen den Vollverben noch sehr nahe. Sie haben einen eigenen Subkategorisierungsrahmen, der allerdings im Vergleich zu den Vollverben dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich nicht auf lexikalische Argumente, etwa DPs oder PPs, sondern auf funktionale Kategorien bezieht. Das sardische istare z.B. selegiert in seiner Komplementposition eine adverbiale Bestimmung in Form einer CP, welche eine Gerundialform enthält. Oft haben diejenigen Hilfsverben, die noch V-Köpfe darstellen, synchron mehr als einen Subkategorisierungsrahmen, sodass sich Mehrdeutigkeiten ergeben. So subkategorisieren die italienischen Modalverben in nicht restrukturiertem Kontext eine normale infinite TP (oder eine CP wie volere) in ihrer Komplementposition, in restrukturiertem Kontext aber dann eine besondere TP in ihrer Spezifikatorposition (vgl. 6.4). –––––—– 1
Von dort aus können sie sich in den hier nicht behandelten T-zu-C-Konstruktionen mit dem T°Komplex nach C° bewegen.
285 Im Folgenden werden die Merkmalszusammensetzungen der hier untersuchten Hilfsverben in einem tabellarischen Überblick zusammengefasst, zunächst für das Italienische (vgl. (81)), dann für das Sardische (vgl. (8-2)): (8-1)
Merkmalszusammensetzungen der Hilfsverben im Italienischen2
Typ Kopula u. passiv. Hilfsverb
Form è
{phonol. {/E/
semant. Ø
[V,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit]}
formale Merkmale}
unter T°
temporales Hilfsverb für unakk. Pr°
è
{/E/
Ø
[V,T[S,R]•[E_R],Dst,agr-ϕ,+finit]}
Pr°
temporales Hilfsverb für trans. Pr°
ha
{/a/
Ø
[V,T[S,R]•[E_R],D,akk,agr-ϕ, +finit]}
Pr°
temporales Hilfsverb für intrans. Pr°
ha
{/a/
Ø
[V,T[S,R]•[E_R],agr-ϕ,+finit]}
Pr°
temporales Hilfsverb der Kopula
stato3
{/stato/
Ø
[V,T[E_R],con-ϕ,+perf,-finit]}
Pr°
temporales stato Hilfsverb des Passivs
{/stato/
Ø
[V,T[E_R],con-ϕ,+perf,-finit]}
Pr°
passiv. Hilfsverb
viene
{/viEne/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit]}
T°
deontischpassiv. Hilfsverb
va
{/va/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit,deo]}
T°
graduelles Hilfsverb
andarono {/andarono/
Ø
[V,T[R_S]•[E,R],+perf,agr-ϕ,+finit, kont]}
Pr°
Modalverb
deve
{/dEve/
müssen [TPinf]
[V,T[S,R]•[E,R],M,agr-ϕ,+finit]}
V°
Modalverb
può
{/puO/
können [TPinf]
[V,T[S,R]•[E,R],M,agr-ϕ,+finit]}
V°
Modalverb
deve
{/dEve/
müssen [TPinf: Prst]
[V,T[S,R]•[E,R],M,agr-ϕ,+finit]}
V°
–––––—– 2 3
Die Hilfsverben werden hier immer in der finiten Form [3.sg.] meist im Präsens bzw. in der partizipialen Default-Form [m.sg.] angegeben. Der Alternativvorschlag, dass stato vielleicht nur ein [T]- und kein [V]-Merkmal hat (vgl. 5.1), wird hier nicht explizit berücksichtigt.
286 Typ Modalverb
Form può
{phonol. {/puO/
semant. können [TPinf: Prst]
formale Merkmale} [V,T[S,R]•[E,R],M,agr-ϕ,+finit]}
unter V°
Modalverb
vuole
{/vuOle/
wollen [CPinf]
[V,T[S,R]•[E,R],M,agr-ϕ,+finit]}
V°
Modalverb
vuole
{/vuOle/
wollen [TPinf: Prst]
[V,T[S,R]•[E,R],M,agr-ϕ,+finit]}
V°
progress. Hilfsverb
sta
{/sta/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R],[∃R],agr-ϕ,-perf, +finit]}
Pr°
progress. Hilfsverb
sta
{/sta/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R],[∃R],agr-ϕ,-perf, +finit]}
T°
(8-2)
Merkmalszusammensetzungen der Hilfsverben im Sardischen
Typ Form Kopula u. è passiv. Hilfsverb
{phonol.
semant. Ø
formale Merkmale}
{/E/
[V,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit]}
unter T°
temporales Hilfsverb für unakk. Pr°
est
{/Est/
Ø
[V,T[S,R]•[E_R],Dst,agr-ϕ,+finit]}
Pr°
temporales Hilfsverb für trans. Pr°
at
{/at/
Ø
[V,T[S,R]•[E_R],D,akk,agr-ϕ,+finit]}
Pr°
temporales Hilfsverb für intrans. Pr°
at
{/at/
Ø
[V,T[S,R]•[E_R],agr-ϕ,+finit]}
Pr°
temporales istatu Hilfsverb der Kopula
{/istatu/
Ø
[V,T[E_R],con-ϕ,+perf -finit]}
Pr°
temporales istatu Hilfsverb des Passivs
{/istatu/
Ø
[V,T[E_R],con-ϕ,+perf,-finit]}
Pr°
futurisches Hilfsverb + Partikel
at + a
{/at a/
Ø
[V,T[S_R],agr-ϕ,+finit]}
T°
futurisches Hilfsverb für [aux]Elemente
det
{/dEt/
Ø
[V,T[S_R],agr-ϕ,+finit,aux]}
T°
{/dEt/
Ø
[V,T[S,R],agr-ϕ,+finit,kond]}
T°
konditionales diat Hilfsverb
287 Typ deontischpassiv. Hilfsverb
Form keret (camp.) bollit (log.)
{phonol. {/kErEt/
semant. Ø
formale Merkmale} [V,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit,deo]}
unter T°
modales Hilfsverb
potet
{/pOtEt/
können
[V,M,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit]}
Pr°
modales Hilfsverb
devet
{/devEt/
müssen
[V,M,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit]}
Pr°
modales Hilfsverb
keret
{/kErEt/
wollen
[V,M,T[S,R]•[E,R],agr-ϕ,+finit]}
Pr°
progressivduratives Hilfsverb
est
{/Est/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R],[VarR],agr-ϕ,-perf, +finit]}
Pr°
progress. Kopula
est
{/Est/
Ø
[V,T[S,R]•[E,R],[VarR],agr-ϕ,+finit]}
T°
unakk. SLPVerb
istat
{/istat/
dabei [V,T[S,R]•[E,R],[∃R],agr-ϕ,+finit]} sein, sich befinden
{/bOllit/
V°
Alle hier untersuchten Hilfsverben4 tragen ein [V]-Merkmal. Die meisten Hilfsverben sind auch durch fehlende lexikalisch-semantische Merkmale gekennzeichnet. Ausnahmen bilden die Modalverben und das modale ECM-Verb volere im Italienischen sowie das SLP-Verb istare im Sardischen. Diese stellen V-Köpfe dar, die eine eigene VP projizieren, wenn auch eine mit ungewöhnlichem Subkategorisierungsrahmen. Diese Verben sind am wenigsten grammatikalisiert und können daher noch als Vollverben betrachtet werden. Die sardischen Modalverben haben zwar semantische Merkmale, aber keinen eigenen Subkategorisierungsrahmen mehr und daher auch keinen V°-Status. Am weitesten grammatikalisiert scheinen Hilfsverben zu sein, die erst unter T° in die Derivation kommen, während die unter Pr° durch Merge eingefügten Hilfsverben eine Zwischenstufe in der Grammatikalisierungsentwicklung darstellen (vgl. 8.2). Die Merkmalszusammensetzungen der Hilfsverben ergeben nun aber erst in Zusammenhang mit den im nächsten Unterpunkt systematisch dargestellten funktionalen Kategorien einen syntaktischen Sinn.
8.2
Klassenhierarchien von Pr° und T°
Die Einzeluntersuchungen zu den verschiedenen Hilfsverbkonstruktionen haben bestätigt, dass Hilfsverben nur im Zusammenhang mit den funktionalen Kategorien überhaupt eingeordnet werden können. Als eine der wichtigsten funktionalen Kategorien kann die Prädikationsphrase PrP betrachtet werden, die nicht nur die Argumentstruktur des syntaktischen –––––—– 4
Das Partizip stato/istatu, das alternativ als reines Hilfs-T behandelt werden könnte, ist möglicherweise eine Ausnahme, vgl. Fn. 3.
288 Prädikats mitbestimmt, sondern auch eine implizite Ereignisposition für die durch das Prädikat kodierte Situation beinhaltet. Die PrP bildet die Schnittstelle zwischen dem lexikalischen und dem funktionalen Komplex einer Derivation und ist daher prädestiniert für Hilfsverben, die sich charakteristischerweise auf einer Zwischenstufe zwischen lexikalischer und funktionaler Kategorie befinden. In den vorangegangenen Untersuchungen wurden viele Lexikoneinträge mit Merkmalszusammensetzungen für Pr° entwickelt. Dabei können, ausgehend von einem allgemeinen Pr° nach Bowers (1993, 2001), weitere einzelsprachlich spezialisierte Pr-Köpfe angenommen werden. Eine allgemeine funktionale Kategorie Pr° kann daher als universale Mutterklasse der einzelsprachlich idiosynkratischen PrKöpfe dargestellt werden. Es ergibt sich dabei die folgende Klassenhierarchie mit italienischen und sardischen Unterklassen (die unterbrochene Linienführung kennzeichnet die nur für das Sardische gültigen Pr-Köpfe):5 (8-3)
Klassenhierarchie von Pr° Pr° Pr°: A Pr°: T Vst
intrans.
Pr°: Vst
Italienisch + Sardisch
Pr°: N
Pr°: P
nur Sardisch
Pr°: T Vst D akk
Pr°: T Vst D akk dat
Pr°: T Vst Dst
Pr°: T Vst Dst null
Pr°: T Vst -def
trans.
ditrans.
unakk.
pass.
unpersönl.
Pr°: C T[E,R] -perf
progressiv
All diese abgeleiteten Pr-Köpfe enthalten auch ein [T]-Merkmal der zweiten T-Relation, das mit verschiedenen Werten belegt sein kann. Außerdem kann Pr° weitere Spezialisierungen modaler (deontische, epistemische Modalität etc.) oder v.a. aspektueller Art (Per–––––—– 5
Die Termini ‘Klassenhierarchie’, ‘Vererbung’, ‘Spezialisierung’ etc. sowie die betreffenden Konzepte stammen aus dem Ansatz der Objektorientierung in der Informatik (vgl. Moss 1994, Taylor 1996). Objektorientierte Ansätze benutzen der menschlichen Kognition nahe Konzepte wie die Bildung von Kategorien und Klassen, die in Vererbungshierarchien spezialisiert werden können. Daher eignen sie sich auch hervorragend zur Systematisierung sprachlichen Wissens (vgl. dazu auch die Arbeiten im Rahmen der maschinellen Übersetzung von Rolshoven 1991, 1996, 1997). Klassenhierarchien mit (mehrfachen) Vererbungsbeziehungen wurden hier als Darstellungsform dieser Zusammenfassung gewählt, weil es plausibel ist, dass auch die funktionalen Kategorien nicht in der Gesamtheit ihrer Instanzen, d.h. ihrem konkreten Auftreten in der Enumeration, im Lexikon gespeichert sind, sondern durch Modularisierung sprachlichen Wissens abgeleitet werden (vgl. auch den zwischen Lexikon und Enumeration vermuteten morphologischen Regelapparat, der aus lexikalischen Einträgen morphologisch spezifizierte Vollformen erzeugt, vgl. 3.1.2).
289 fektivität etc.) aufweisen. Diese Merkmalsspezialisierungen möchte ich so genannten TAM-Klassen zuordnen, aus denen die oben dargestellten Pr-Köpfe einzelsprachlich bedingt erben können: (8-4)
Die TAM-Klassen
TAM
Pr°: T Asp M T-Klassen
T [GLEICH] R
T
T
[∃R]
[VarR]
Tst
[VOR] R
T [NACH] R
Pr°:T
Asp-Klassen
+perf
-perf
Pr°:Asp
M-Klassen
Mst vol
Mst epi
Mst deo
Mst pot
M ...
Pr°:M
Der Entwurf bezieht sich v.a. auf die hier behandelten Sprachen. Die Aspekt- und die Modalitätsklassen konnten in der vorliegenden Arbeit nicht mit Hilfe vergleichender Daten aus anderen Sprachen der Welt ausgearbeitet werden. Bei nicht expliziter (z.B. nicht morphologisch sichtbarer) Vererbung aus den TAM-Klassen gelten hinsichtlich von Tempus, Aspekt und Modus Default-Instantiierungen mit neutralen Werten (etwa die GLEICH-Beziehung für T oder ein neutraler Wert für M). Wie zu Pr° lässt sich auch zu T° eine universalgültige Mutterklasse annehmen, die einzelsprachlich spezialisiert werden kann: T kann ebenfalls aus den T- und den M-Klassen erben. Außerdem wird in T die Satzpolarität festgelegt sowie die Referenzzeit quantifiziert (oder generalisiert). T ist infinit oder finit. In jeder Sprache sind nicht alle möglichen Merkmalszusammensetzungen, sondern nur bestimmte Konstellationen erlaubt. Es ergeben sich Parametrisierungen: Infinites T hat z.B. in den hier behandelten Sprachen immer einen GLEICH-Wert in der ersten Zeitrelation. Restrukturiertes infinites T kann nicht negiert sein, also kein Polaritätsmerkmal tragen. Das sardische und das italienische infinite T unterscheiden sich hinsichtlich der Stärke des jeweiligen [Pr]-Merkmals. Man betrachte die Hierarchien für das Italienische (vgl. (8-5)) und das Sardische (vgl. (8-6)):
290 (8-5)
Klassen-Hierarchie von T° für das Italienische
T°
T°: +finit Vst Prst Dst nom ±neg
T°[S,R]: -finit Vst Pr ±neg
T°[S,R]: -finit Vst Pr M ±neg
T°[S,R]: -finit Vst Prst M
modal modal eingebettet Matrix eingebettet eingebettet restrukturiert
(8-6)
T°: +finit Vst Prst [∃R] ±neg
progressiv
T°: +finit Vst Prst Mdeo ±neg
deontisch
T°: ...
...
Klassen-Hierarchie von T° für das Sardische
T°
T°: +finit Vst Prst Dst nom ±neg
T°[S,R]: -finit Vst Prst ±neg
T°[S,R]: -finit Vst Prst M ±neg
modal Matrix eingebettet eingebettet
T°[S,R]: -finit Vst Prst M
T°: +finit Vst Prst [VarR] ±neg
T°: +finit Vst Prst Mdeo ±neg
modal eingebettet progressivdeontisch durativ restrukturiert
T°: ...
...
Auch C° hat mit seiner Merkmalszusammensetzung im Rahmen dieser Arbeit, wenn auch nur am Rande, eine Rolle gespielt. Die Ergebnisse hinsichtlich der Merkmalszusammensetzungen von C° für das Italienische und Sardische reichen jedoch nicht aus, um eine Klassenhierarchie für C° aufstellen zu können. Alle drei minimalistischen funktionalen Kategorien Pr°, T° und C° können durch starke kategorielle Merkmale Bewegungen auslösen. Falls Merkmale nicht abgeglichen werden können, weil Bewegung nicht möglich ist oder weil sich kein kompatibles Element in der Derivation befindet, können expletive Elemente den Merkmalsabgleich übernehmen. In den hier untersuchten Sprachen bewirken v.a. die Merkmalszusammensetzungen von T° und Pr° das Erscheinen von Hilfsverben in der Derivation. In den vorliegenden Untersuchungen wurden verschiedene Gründe geltend gemacht, die für das Erscheinen eines Hilfsverbs unter Pr° oder unter T° sprechen. Diese seien hier ebenfalls kurz zusammengefasst. Für eine Basisgenerierung unter Pr° eines Hilfsverbs sprechen:
291 − − − −
die argumentgesteuerte Hilfsverbselektion; eine feste Bindung des Hilfsverbs an Kodierungen der zweiten T-Relation; Con-ϕ-Merkmalsabgleich des Hilfsverbs als Epiphänomen; die Bindung des Hilfsverbs an die Zeitkonturen eines Ereignisses.
Für eine Basisgenerierung unter T° eines Hilfsverbs spricht: − − − −
das Hilfsverb erscheint nur in Konstruktionen, die eine TP projizieren; das Hilfsverb erscheint nur in Konstruktionen mit einer bestimmten TP; eine feste Bindung des Hilfsverbs an Kodierungen der ersten T-Relation; das Hilfsverbs steht in einem Zusammenhang mit zeitlicher Quantifizierung.
Eine Basisgenerierung als Vollverb kann angenommen werden, wenn das entsprechende Verb nicht mehr nur rein funktionale, sondern lexikalisch-semantische Merkmale trägt und eine eigene Argumentstruktur mit erkennbaren θ-Rollen bzw. einen eigenen strukturellen Subkategorisierungsrahmen hat. Hier sind natürlich Übergänge möglich. Für jedes Hilfsverb muss nach den angegebenen Faktoren im Einzelfall entschieden werden.
8.3
Parameterwechsel und Grammatikalisierung
Gerade die Übergänge vom Vollverb- zum Hilfsverbstatus sind für die Grammatikalisierungstheorie von Interesse. In diesem Unterpunkt werden nun die in 8.1 und 8.2 skizzierten Eigenschaften der Hilfsverben und der funktionalen Kategorien, die ihre Generierung bewirken, in einen grammatikalisierungstheoretischen Zusammenhang gebracht. Nach der Terminologie von Heine (1993) befinden sich hilfsverbartige Elemente auf einer Skala zwischen Vollverb und TAM-Marker, der so genannten V-to-TAM-Chain. Die involvierten Elemente sind dabei von einem vierfachen Veränderungsprozess erfasst: der Desemantisierung (vgl. 1.5.1), der Verschiebung in der syntaktischen Distribution (vgl. 1.5.2), der Dekategorisierung (vgl. 1.5.3) sowie möglicherweise der phonologischen Erosion (vgl. 1.5.4). In einem merkmalsbasierten Ansatz wie dem des MP lassen sich diese Kriterien nach den hier erlangten Ergebnissen wie folgt beschreiben: −
−
Desemantisierung: Ein hilfsverbartiges Element ist durch reduzierte oder fehlende semantische Merkmale gekennzeichnet. Dafür verfügt es über erweiterte funktionale Merkmale aus dem TAM-Bereich, die sich aus seinen semantischen Merkmalen entwickelt haben können. Beispiel: Die temporalen Hilfsverben für HABEN und SEIN haben keine semantischen Merkmale mehr. Ihr ehemaliger Subkategorisierungsrahmen bestimmt aber weiterhin die Kompatibilität mit bestimmten Pr-Köpfen. Dafür haben sie in jeder ihrer morphologischen Formen ein funktionales [T]-Merkmal, das die VOR-Beziehung der zweiten T-Relation kodiert. Verschiebung in der syntaktischen Distribution: Hilfsverbartige Elemente haben keine eigene oder nur eine von lexikalischen Idiosynkrasien abstrahierte Argumentstruktur (indem sie funktionale Projektionen subkategorisieren). Weiter fortgeschrittene Hilfsverbhaftigkeit manifestiert sich darin, dass das betroffene Element selbst erst unter einer funktionalen Katego-
292
−
−
rie als Hilfselement in die Derivation gelangt. Die syntaktischen Kontexte, in denen Hilfsverben und Vollverben erscheinen, können daher nicht die gleichen sein. Beispiel: Modalverben subkategorisieren funktionale Kategorien (CP, TP ...). HABEN und SEIN werden erst unter Pr°, das kopulative und passivische SEIN erst unter T° in die Derivation eingefügt. Dekategorisierung: Die Reduzierung der möglichen syntaktischen Kontexte hat zur Folge, dass die Flexionsparadigmen der hilfsverbhaften Elemente Lücken aufweisen; damit reduziert sich auch die Anzahl der möglichen Vollformen für ein solches Element. Minimalistisch bedeutet dies, dass auch die entsprechenden formalen Merkmale des Elements reduziert sind. Dadurch sind hilfsverbhafte Elemente nur noch mit den formalen Elementen bestimmter funktionaler Kategorien kompatibel. Beispiel: Das italienische stare + Gerundium kann nur noch in Formen erscheinen, die die erste T-Relation modifizieren, während die zweite T-Relation immer den Wert der GLEICHBeziehung haben muss. Bei der sardischen Futurbildung mit aere a + Infinitiv trägt aere gar kein [T]-Merkmal mehr (erscheint aber immer in den morphologischen Formen des Präsens). Erosion: In einer weiteren Stufe sind hilfsverbartige Element durch eine Reduzierung ihrer phonologischen Merkmale gekennzeichnet. Die Veränderung der semantischen und formalen Merkmale führt also auch zu einer Veränderung in der phonologischen Merkmalszusammensetzung. Beispiel: Die sardischen Formen des Futur und des Konditional mit dévere erscheinen nur als phonologisch reduzierte Kurzformen.
Diese Veränderungsprozesse in den Zusammensetzungen der semantischen, formalen und phonologischen Merkmale von Verben gehen immer mit Veränderungen in den Parametrisierungen der funktionalen Kategorien einher. Einzelsprachliche Parametrisierung wird im Rahmen des MP in den Eigenschaften der funktionalen Kategorien, d.h. ihren Merkmalszusammensetzungen, verortet (vgl. Kapitel 3). Wie die diachrone Entwicklung hinsichtlich der hier untersuchten Hilfsverbkonstruktionen minimalistisch darzustellen ist, kann in einer synchronen Arbeit nicht geklärt werden. Für Um-Parametrisierungen, d.h. Merkmalsveränderungen innerhalb der lexikalischen und funktionalen Kategorien müssen aber (im Sinne des Heineschen Überlappungsmodells, vgl. Heine 1993: 53) immer Zwischenstufen mit zweideutigen Strukturen angenommen werden. In den hier behandelten Sprachen lassen sich Beispiele finden, anhand derer sich die Entwicklung innerhalb der Heineschen V-toTAM-Chain synchron nachvollziehen lässt. Hiermit sind v.a. diejenigen der Hilfsverben gemeint, welche optionale und nicht mehr optionale Restrukturierungsphänomene aufweisen. Dies sind im Italienischen und Sardischen die Modalverben sowie die Hilfsverben, die zur Bildung der Gerundialkonstruktionen benutzt werden. Die Entwicklung soll hier anhand der synchronen Daten der Modalverbkonstruktionen nachvollzogen werden: −
1. Stufe:
−
2. Stufe:
Die nicht restrukturierten Modalverbkonstruktionen des Italienischen stellen den Beginn einer Grammatikalisierungskette (vgl. Heine 1992, 1993) dar. Diese Verben subkategorisieren funktionale Kategorien. Das Kontrollverb volere subkategorisiert eine CP, die Anhebungsverben dovere und potere subkategorisieren eine TP. Die Anhebungsverben sind in ihrer Struktur weiter in der Entwicklung zur Hilfsverbhaftigkeit, da sie auch keine eigene Subjekt-θ-Rolle erlauben. Die restrukturierten Modalverben des Italienischen projizieren weiterhin eine eigene VP, subkategorisieren aber nur mehr eine bestimmte TP mit besonderer Merkmalszusammensetzung. Dadurch, dass die subkategorisierten funktionalen
293
−
3. Stufe:
−
4. Stufe:
Projektionen an prominenter Stelle, nämlich [Spec, V], in die Derivation eingefügt werden, können sich Restrukturierungsphänomene ergeben (CA, ClCl etc.). Die sardischen Modalverben kérrere/bóliri, pótere und dévere restrukturieren obligatorisch, d.h. sie können nicht mehr in biklausalen Strukturen mit zwei VPProjektionen erscheinen. Sie werden daher gleich den temporalen Hilfsverben HABEN und SEIN unter Pr° in die Derivation eingefügt, abhängig von den entsprechenden Merkmalszusammensetzungen von Pr°. Je nach modaler Lesart (epistemisch vs. deontisch) gelangt erst das Modalverb oder erst das temporale Hilfsverb in die Derivation. Das sardische Hilfsverb kérrere/bóliri, wie es zur Bildung des deontischen Passivs benutzt wird, hat seine volitionale modale Bedeutung völlig verloren bzw. auf ein deontisches funktionales Merkmal reduziert. Daher wird es, wie andere passivische Hilfsverben auch, direkt unter T°, allerdings nur unter einem besonderen deontischen T°, in die Derivation gebracht.
Die in den Kapiteln fünf bis sieben dieser Arbeit vorgelegten Analysen weisen darauf hin, dass sich die Grammatikalisierungskette bei Hilfsverben im Rahmen des MP folgendermaßen nachvollziehen lässt: Ein Vollverb V° ist dafür prädestiniert, am Zyklus der Hilfsverbhaftigkeit teilzunehmen, wenn es semantische Merkmale trägt, die als formale Merkmale uminterpretiert werden können. Auch Verben, die funktionale Kategorien statt lexikalischer Argumente subkategorisieren, erweisen sich als tendenziell hilfsverbhaft. Ein weiterer Schritt in der Grammatikalisierungskette ist dann vollzogen, wenn das Verb nicht mehr eine eigene VP projiziert, sondern unter einer funktionalen Kategorie, zunächst der VP-nahen Pr°-Kategorie, als expletives Element in die Derivation gelangt, um ansonsten nicht überprüfbare Merkmale abzugleichen. Noch stärker auxiliarisiert sind Verben, die erst unter T° erscheinen. Als weiterer Schritt vorstellbar sind Hilfsverben, die direkt unter C° in die Derivation eingesetzt werden. In den hier behandelten Sprachen liegen allerdings solche Beispiele nicht vor, da spätestens T° immer ein verbales Element benötigt. Der Zyklus vom Vollverb zum Hilfsverb ist vollzogen, wenn sich das Hilfsverb nicht mehr als verbales Element erkennen lässt und seinen Status als eigener Lexikoneintrag verliert: Es wird zu einem reinen Flexionsmorphem (vgl. die Entwicklung des italienischen Futurs), das nun selbst als Merkmal innerhalb der Merkmalsbündel lexikalischer Verben zu finden ist. Der Zyklus kann von Neuem beginnen. Nach den hier gemachten Ausführungen kann eine minimalistische Grammatikalisierungskette der Hilfsverben als V-to-Pr-to-T-Chain, also als eine syntaktische Verschiebung von V° über Pr° nach T° interpretiert werden.
8.4
Einige Probleme des Minimalist Program
Die vorliegende Arbeit stellt eine Anwendung von Chomskys Minimalist Program (1995) auf das weite Feld der Hilfsverbkonstruktionen dar. Da sich im Laufe der Untersuchungen an mehreren Stellen Unklarheiten oder auch Problempunkte bemerkbar gemacht haben, soll das MP hier einer knappen kritischen Bewertung unterzogen werden. Das MP hat die funktionalen Kategorien auf ein Minimum reduziert: Gültig sind nur mehr C, T sowie der zwitterhafte kleine v-Kopf, der hier als Prädikationskopf Pr inter-
294 pretiert wurde. Damit konnte der Explosion der funktionalen Kategorien nach Pollock (1989) Einhalt geboten werden. Ebenso wurden die syntaktischen Prinzipien auf wenige essentielle syntaktische Operationen (Select, Merge, Move, Delete) reduziert. Dadurch hat der minimalistische Regelapparat ein übersichtliches Format bekommen. Im Gegenzug allerdings werden nun die meisten der syntaktischen Operationen über das Herzstück des MP, die Theorie vom Merkmalsabgleich (Checking Theory) geregelt: Dieser Mechanismus erlaubt eine nicht beschränkte Anzahl an formalen Merkmalen, die auch abstrakter Art sein können und daher empirisch nur indirekt nachweisbar sind. Auf Teilprobleme des Abgleichsmechanismus wurde bereits in Kapitel 3 hingewiesen. Ein wichtiges Problem, das erst im Laufe der Arbeit erkannt werden konnte, ist die Frage der Hierarchisierung der Merkmale untereinander: Wenn es zwei starke kategorielle Merkmale in einer funktionalen Kategorie gibt, welches Merkmal muss dann zuerst abgeglichen werden? Bei einem T-Kopf mit starkem [V]-Merkmal und starkem [D]-Merkmal ist diese Frage irrelevant, da sich eine DP in die Spezifikatorposition, ein V-Kopf aber in eine Kopf-Adjunkt-Position bewegen wird. Was geschieht aber mit einem Pr°, das sowohl ein starkes [V]-Merkmal als auch ein starkes [T]-Merkmal enthält? Es gibt keinen explizit dargestellten Grund dafür, dass sich zuerst V° aus seiner Basisposition in eine Pr°-Adjunktposition bewegen muss, bevor das temporale Hilfsverb ebenfalls an Pr° adjungiert wird. Nur diese Reihenfolge ist aber syntaktisch relevant, da allein sie eine grammatische Derivation ergibt. Natürlich lassen sich verschiedene Erklärungen für den Fall der italienischen und der sardischen Hilfsverbselektion finden, die diese Reihenfolge erklären könnten: Hilfsverben könnten als Expletiva nicht aus der Enumeration, sondern direkt aus dem Lexikon stammen, sodass erst versucht wird, bereits vorhandene syntaktische Objekte für den Merkmalsabgleich zu verwenden; es kann auch sein, dass das [T]-Merkmal nicht unbedingt stark sein, dann aber trotzdem früher oder später durch ein expletives Element überprüft werden muss; es könnte aber auch von einer Hierarchie der Merkmale untereinander ausgegangen werden. Da das Problem nicht nur das Sardische und das Italienische betrifft, sondern grundsätzlicher Art ist, soll hier der letzte Vorschlag kurz skizziert werden, da er eine generelle Lösung verspricht. Wenn mehrere Merkmale in der Derivation sind, die überprüft werden müssen, kann davon ausgegangen werden, dass die starken Merkmale vor den schwachen und die kategoriellen Merkmale vor den nicht-kategoriellen Merkmalen abgeglichen werden müssen. Es ergibt sich also eine erste hierarchische Beziehung der Merkmale untereinander: (8-7)
Xst[+kat] > X[+kat] > Y[-kat]
Was geschieht aber, wenn es sich um zwei starke kategorielle Merkmale in einer funktionalen Kategorie handelt? Auch hier muss es eine hierarchische Beziehung geben, vergleichbar der Hierarchie der θ-Rollen. Vielleicht kann eine solche Hierarchie der Struktur einer Derivation entsprechen: Ein bestimmter V-Kopf wird mit einem bestimmten Pr-Kopf zu einem syntaktischen Objekt verbunden; dieses wiederum verbindet sich mit einem bestimmten T-Kopf, der seinerseits in die Komplementposition eines bestimmten C-Kopfes eingesetzt wird. Pr° gleicht in den hier behandelten Sprachen mit V° ein starkes [V]-Merkmal ab, T° überprüft ein [Pr]-Merkmal und C° überprüft ein [T]-Merkmal. Vielleicht ist also für den Merkmalsabgleich das starke Merkmal der jeweils subkategorisierten Kategorie das vorrangige. Es ergeben sich weitere Hierarchien:
295 (8-8)
C: T > Pr > V > V...
T: Pr > V >....
Pr: V >....
Diese Vermutungen müssen in jedem Fall im Detail geprüft werden. Fest steht, dass ein minimalistischer, merkmalsbasierter Ansatz weiterer Ausarbeitungen bedarf, die über das hinausgehen, was in der vorliegenden Arbeit geleistet werden konnte.
8.5
Ausblick
Die neueren Arbeiten von Chomsky (1998 [= Chomsky 2000], 1999 [= Chomsky 2001b], 2001a), die hier in den Analysen noch nicht berücksichtigt worden sind, können möglicherweise klärende Hinweise zur Lösung von Problemen innerhalb der Theorie vom Merkmalsabgleich geben. Allerdings beschäftigen sich die Nachfolgearbeiten von Chomsky (1995) v.a. mit dem Merkmalsabgleich von ϕ- und der Instantiierung von KasusMerkmalen. Die Kasus-Merkmale sind im Rahmen der Hilfsverbkonstruktionen eigentlich nur am Rande relevant. Ebenso treten Agreement-Phänomene hier nur als Folgeerscheinungen von DP-Bewegung auf, die in direktem Zusammenhang mit einem starken [D]-Merkmal, aber nur in indirektem Zusammenhang mit der Hilfsverbselektion stehen. Der Mechanismus des koverten Merkmalsabgleichs wird in den jüngsten Werken Chomskys durch einen Sondierungsmechanismus abgelöst: Funktionale Kategorien können so genannte Sonden6 enthalten, die in den bereits aufgebauten Strukturen nach DP-Elementen mit kompatiblen ϕ-Merkmalen suchen. Diese können daraufhin durch die Sonden für Bewegung aktiviert werden, während die Sonden selbst durch die gelungene Operation Agree7 gelöscht werden. Argument-Bewegung dagegen wird weiterhin durch [D]Merkmale (jetzt als [EPP]-Merkmal, vgl. Chomsky 1998, 1999, oder evtl. auch OCC für Occurrence, vgl. Chomsky 2001a) in den funktionalen Kategorien ausgelöst. Interessant kann dieser Sondierungsmechanismus für die in 7.2.2 behandelten unpersönlichen Konstruktionen des Sardischen werden: Die in ihrer Basisposition verbliebenen indefiniten DPs scheinen aufgrund fehlenden Agreements mit einer Sonde nicht für Bewegung aktiviert werden zu können und stehen daher postverbal. Dafür muss ein expletives Element (das sardische bi) das [EPP]-Merkmal in T° überprüfen (vgl. dazu auch Mensching 2005). Interessant wäre hier natürlich herauszufinden, ob die Sonden möglicherweise auch Einflüsse auf die Hilfsverbselektion haben, indem sie Merge bestimmter, in der vorliegenden Arbeit ebenfalls als Expletiva behandelter Hilfsverben hervorrufen können. Wenn nun im Sardischen bei den Konstruktionen in den zusammengesetzten Zeiten das Hilfsverb áere erscheint, obwohl es sich um eine unakkusativische Konstruktion handelt, könnte das an einer fehlenden Sonde, wahrscheinlich in Pr° liegen. Die romanischen Sprachen bieten gerade hinsichtlich von Agreement-Phänomenen ein weites Feld an variierenden Daten (vgl. Mensching 2005): Der im indirekten Zusammenhang mit der Hilfsverbselektion festgestellte Con-ϕ-Abgleich zwischen direkter Objekt-DP –––––—– 6 7
Bei Grewendorf (2002: 170): “Sondierer.” Bei Grewendorf (2002: 170): “Übereinstimmung.”
296 und partizipialem Vollverb ist ein weiterer Fall, der auf der Grundlage von Sondenmechanismen untersucht werden sollte.8 Auch hier ist die Sonde nach den in dieser Arbeit vorliegenden Erkenntnissen in Pr° anzusiedeln: Ein durch eine Sonde gefundenes internes Argument, das mit der Sonde kompatibel ist, wird aktiviert und kann daher bewegt werden, wenn ein [EPP]-Merkmal (im vorliegenden Ansatz das starke [D]-Merkmal in Pr°) dies erfordert. Dass Sonde und starkes Merkmal nicht immer zwingend zusammen in einem funktionalen Kopf auftreten, sieht man an Fällen der Partizipialkongruenz im Italienischen, die durch ein Objektklitikum hervorgerufen wird (vgl. 6.2). Hier hat Pr° kein starkes bzw. [EPP]-Merkmal: Daher erfolgt auch keine Bewegung, obwohl eine Sonde ein kompatibles DP-Element gefunden und aktiviert hat. Die Sonde könnte hier in dem klitischen Pronomen selbst gesehen werden (sie muss in diesem Falle also offensichtlich nicht gelöscht werden). Ein weiteres Untersuchungsfeld ist der Zusammenhang zwischen diesen neuen Überprüfungsmechanismen und der Zeitorganisation in einfachen und komplexen Sätzen: Wie sich bei der Untersuchung der Hilfsverbkonstruktionen im Sardischen und Italienischen herausgestellt hat, sind Zeitdomänen ein wichtiges Kriterium innerhalb der einzelnen Entwicklungsstufen eines Grammatikalisierungsprozesses. Interessant wäre es, Untersuchungen darüber anzustellen, inwieweit und wodurch Sonden in ihrem Suchraum eingeschränkt sind und ob diese Einschränkungen mit Tempusdomänen zusammenfallen, ja möglicherweise sogar das Erscheinen von Hilfsverben bestimmen. Vielleicht kann ein phasenorientierter Ansatz (vgl. Chomsky 1999), der die Derivation in einzelne zyklische Phasen unterteilt, neue Einsichten in die Syntax und die Merkmalskonstellationen der hier analysierten Hilfsverbkonstruktionen liefern: Gerade die im Italienischen und Sardischen hilfsverbrelevante Prädikationsphrase PrP kann (als Nachfolgerin der VP-Shell) als eine solche Phase gelten.9 Die vorliegende Arbeit bietet sicherlich eine solide Grundlage für weitere Forschungen.
–––––—– 8
9
Vgl. dazu Chomsky (1999: 38, Fn.38): “Among unresolved questions are the reasons for Romance-style participial agreement contingent on movement, as discussed by Kayne (1989) and subsequent work. It is simple enough to state the parameter (spell out ϕ-features of PRT[=participle]-goal only if probe induces Move), but there should be a more principled account.” Vgl. auch das Schichtenmodell in 4.4.1: Nach Chomsky (1999) stellen die kleine vP und CP eigene Phasen dar, VP und TP dagegen nicht; vgl. auch Grewendorf (2002: 305).
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