123 89
German Pages 143 Year 2006
Ulrike Voigt: Hildegard Grams
Ulrike Voigt
Hildegard Grams Ein Leben für Indien
Edition Ruprecht
In Zusammenarbeit mit EmK-Weltmission Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über abrufbar.
2. Auflage 2006 © 2005 Edition Anker im Christlichen Verlagshaus, Motorstraße 36, 70499 Stuttgart Umschlaggestaltung: Dieter Betz, Friolzheim Satz: FC EDV, Düsseldorf Druck: buch bücher dd ag, Birkach Gesetzt aus der Janson 10/12 ISBN 3-7675-7077-7 Best.-Nr. 297.077
Diesem Buch liegen folgende Quellen zugrunde: die dienstliche Korrespondenz von Hildegard Grams von 1946–2004 (mit Missionssekretär, Schatzmeister, Bischof, Frauendienst usw.), ihre Berichte an Jährliche Konferenzen der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland (EmK) und der methodistischen Kirche in Indien, ihre Rundbriefe und Berichte an die Missionsfreunde; Artikel aus der Kirchenpresse (z.B. aus den Rundbriefen des Frauendienstes „Du und Ich“, der „Friedensglocke“ oder Beiheftungen des Missionswerkes in „Wort und Weg“ / „unterwegs“), Berichte, Protokolle, Briefe, Anträge usw. aus dem Archiv der Behörde für Weltmission / Mission und internationale kirchliche Zusammenarbeit der EmK von 1950–2005, Briefe / Berichte einiger Mitarbeiterinnen in Batala (z. B. Lilly Swords) sowie mehrere Interviews und Gespräche, die die Autorin 2004/2005 mit Hildegard Grams führte. Sofern aus den schriftlichen Quellen zitiert wird, sind die Texte kursiv gedruckt. Übersetzungen aus dem Englischen stammen von der Autorin. Die eingefügten kursiv gedruckten Geschichten sowie der Epilog sind aus Berichten von Hildegard Grams zusammengestellt.
5
Inhalt Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Vorwort von Bischof i. R. Hermann Sticher . . . . . . . . . . . .
9
Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Gemeindehelferin in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Der Weg in den Missionsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Endlich in Indien – erste Stationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 In der Leprakolonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Erkrankung und ein neuer Dienstort . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Im Missionskrankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Im Kinderheim in Bareilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Ordination und weitere Ausbildung in Deutschland . . . . . 49 Wieder in Batala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die „Training School for Hostel Workers“ . . . . . . . . . . . . 62 Die Kinderarbeit auf den Dörfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Raghbir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Der Erfolg der Schule und das zweite Hostel . . . . . . . . . . 80 Rajkumari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Die Patenschaften – Segen und Last . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Farm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Weizenernte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Kriege und Naturkatastrophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Ausbaujahre und Bundesverdienstkreuz . . . . . . . . . . . . . . . 109 Unruhige Zeiten statt Ruhestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Epilog 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 7
Vorwort Batala, eine Stadt in der nordindischen Provinz Punjab, war über Jahrzehnte hinweg für viele an Weltmission Interessierte der Bischöflichen Methodistenkirche, später der Evangelischmethodistischen Kirche, ein Begriff, schlicht und einfach, weil eine Missionarin namens Hildegard Grams dort arbeitete. Batala steht für ihren Einsatz, ihre Hingabe, ihr Lebenswerk, dafür, wie Gott einem Menschen eine besondere Aufgabe zuweist, die ihm anvertrauten Gaben zur Entfaltung bringt und durch ihn Außerordentliches vollbringt. Hildegard Grams würde wohl sagen: Aus Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Ich selbst kam in ersten Kontakt mit Indien zu einer Zeit, als zu Hilfsaktionen für „Indien hungert“ aufgerufen wurde. Unvergesslich blieb für mich die Erklärung einer Inderin: „Ich bitte nicht um Reis; ich bitte um Hilfe zum Brunnenbau; dann können wir Reis anpflanzen und haben Nahrung auf Dauer.“ Später habe ich Hildegard Grams’ Werk in Batala kennen gelernt, das genau auf dieser Linie liegt: ein Werk mit Dauer und Nachhaltigkeit. Hildegard Grams gehört zu den heute selten gewordenen Missionaren und Missionarinnen, die ein Leben lang in Partnerkirchen arbeiten und deren Dienst allein schon dadurch Dauer in sich trägt. Sicherlich hängt es mit solcher Kontinuität zusammen, dass und wie das Werk Hildegard Grams’ gewachsen ist. Dieses Wachstum umfasst die logistischen und schulischen Einrichtungen so gut wie den Mitarbeiterstab und erst recht die Zielgruppe ihrer Arbeit, die Zahl von Kindern und Jugendlichen, denen Heimat, Fürsorge und umfassende Persönlichkeitsbildung, nicht zuletzt Hinführung zum Glauben an den Gott, vor dem alle Menschen gleich sind, geboten wurden und denen sich damit eine sinnvolle Zukunft eröffnete. Und Individualhilfe zieht Kreise: sie brachte hilfreiche soziale Veränderungen in die Dörfer der Ärmsten. Die Absolventen der Schulen wurden zu Multiplikatoren; ein Schneeballsystem von Bildung, Fürsorge und Glauben kam ins Rollen – wahrhaftig: Wirken auf Dauer und mit Nachhaltigkeit! 9
Wenn man bedenkt, dass Hildegard Grams zum ersten Mal im Jahr 1953 nach Indien ausreiste, nur acht Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, und sich die damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse vorstellt, dann kann man erahnen, vor welchen Herausforderungen sie stand: ein erst seit ein paar Jahren unabhängiger Staat, das ganz andere Klima, eine uralte Kultur, fremdartige Menschen, fremde Sprachen, bedrückende Armut, Analphabetentum. Wie viel Tatkraft, Einfühlungsvermögen, Mut, Stehvermögen, Kreativität und Zuwendung erforderte das alles! Es ist bezeichnend für Hildegard Grams, dass sie die notwendigen Gaben aus ihrem Glauben schöpfte, beeindruckend, welche Rolle Gebet, Musik und Singen spielten, und wie ihr immer wieder gerade in Entscheidungssituationen Worte der Bibel Wegweisung und Stärkung schenkten. Nicht, dass immer alles glatt und erfolgreich verlief. Immer wieder hatte Hildegard Grams mit Widerständen, gefährlichen Entwicklungen im Land, auch belastenden Krankheitsphasen zu kämpfen. Es war ihr Gottvertrauen, auch die geistliche, fürbittende Begleitung durch viele Freunde, insbesondere durch den Frauendienst ihrer Kirche, die sie befähigten, solche Schwierigkeiten durchzustehen. Ich freue mich, dass nun zu Hildegard Grams’ 85. Geburtstag die vorliegende Biographie erscheint. Dank gebührt Frau Dr. Ulrike Voigt, die uns das bewegende Lebensbild dieser überzeugenden, weit- und vorwärtsblickenden Frau gezeichnet hat. In ihr begegnet uns Lebensgeschichte als ein Stück Missionsgeschichte. Geschichte – Geschehenes, Gestaltetes, Erlebtes, Erduldetes – will und soll hineinsprechen in Gegenwart und Zukunft. Ich wünsche dem Buch daher viele Leserinnen und Leser, die aus ihm Inspiration, Anregung und Anstoß für eigenes Glauben und Handeln gewinnen – vielleicht sogar mit Dauerwirkung und Nachhaltigkeit! Hermann Sticher D. D., Bischof i. R.
10
Prolog Mehr als 40 Jahre nachdem das Frauenwerk der Evangelischmethodistischen Kirche in Deutschland Hildegard Grams als Missionarin nach Indien ausgesandt hatte, flog die Vorsitzende des Frauenwerks von New York nach Frankfurt am Main. Neben ihr saß ein indischer Geschäftsmann, offensichtlich ein Sikh. Es kam zu einem Gespräch, in dem die Dame fragte: „Sie sind Sikh; leben Sie in Amritsar*?“ Erstaunt bestätigte er und fragte, wie sie darauf komme. Sie antwortete: „Ich sehe die silberne Armspange an Ihrem Handgelenk. Vor einigen Jahren war ich in dieser Gegend, und die Reise wird mir unvergesslich bleiben.“ „Wo waren Sie genau?“, wollte der Herr wissen. Sie sagte: „In Batala.“ Da legte er seine Zeitung aus der Hand, lehnte sich nach vorn und sagte: „Dann werden wir beide dieselbe Person kennen – Hildegard Grams! Als Junge aus einer Sikh-Familie durfte ich in Batala zur Schule gehen. Frau Grams, eine großartige Frau, leitete das Haus. Dort lernte ich Lesen, Schreiben und Rechnen und hörte von Gott und Jesus Christus. Frau Grams hat uns viele wunderbare Geschichten von Jesus erzählt. Ja, die Schuljahre in Batala haben mein Leben sehr geprägt!“
* In Nordindien im Punjab, dort befindet sich das wichtigste Heiligtum dieser Religion, der Goldene Tempel.
11
Kindheit und Jugend Am ersten Advent 1920, dem 28. November, wurde Hildegard Grams als ältestes Kind ihrer Eltern in Schneidemühl, einer Stadt in der früheren Grenzmark Posen-Westpreußen, später Pommern, geboren. Nach ihr kamen noch zwei Brüder und eine Schwester zur Welt. Ihr Vater, Max Grams (*1883), arbeitete als Maschinenschlosser in der Eisenbahnwerkstätte Schneidemühl. Die Mutter, Ottilie Elisabeth Grams geb. Jeske (*1898), war Hausfrau. Sie war die Seele der Familie und vermittelte den vier Kindern eine unbeschwerte Kindheit und einen fröhlichen Glauben. Hildegard Grams’ Eltern schlossen sich 1922 der neugegründeten Bischöflichen Methodistenkirche in Schneidemühl an und fanden in Pastor Ernst Scholz und seiner Frau Luise gute Seelsorger. Ihr Vater engagierte sich bald als Laienprediger und Sonntagsschulleiter in der Gemeinde. Hildegard wurde durch ihr christliches Elternhaus, durch die Gemeindebesuche und vor allem durch die Sonntagsschule früh mit Glaubensfragen und christlichen Werten bekannt. Das Fundament für ihr Leben wurde hier gelegt. Schon als Volksschülerin (1927 wurde sie eingeschult) half sie bei den Kleinen in der Sonntagsschule mit. Aus der Sonntagsschulzeit kannte sie viele Bibelstellen und -geschichten auswendig, angespornt durch ein Prämienverfahren, mit dem man sich eine kleine Bibliothek ansammeln konnte. 1932 musste der Vater wegen einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg den Beruf wechseln und wurde als Stadtassistent nach Berlin versetzt. Der Umzug vom kleinen Schneidemühl in die Reichshauptstadt Berlin eröffnete etwas ganz Neues. Die Familie wohnte in Lichtenberg im Osten Berlins und fand eine neue geistliche Heimat in der methodistischen Elim-Kirche in der Tilsiter Straße. Ab 1934 besuchte Hildegard die Aufbauschule (Oberschule für Mädchen) und gab Nachhilfe, um sich ein wenig Geld zu verdienen. Im April 1934 wurde sie eingesegnet. Sonntagsschule und kirchlicher Unterricht hatten bei ihr den Wunsch wachsen lassen, Jesus bewusst nachzufolgen. Ihr Einsegnungsspruch war Bitte und Gebet zugleich: „Wenn ich nur 12
dich habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde“ (Ps 73,25). Der Einsegnungstag war auch ein Entscheidungstag: Ich wollte von nun an ganz bewusst diesen Weg mit Christus gehen. So begann ein allmähliches Wachsen der Hingabe und der Erkenntnis für mich. Äußerlich zeigte sich das durch freudige Mitarbeit in der Sonntagsschule und in der Gemeinde. 1939, kurz nach dem Kriegsbeginn, bekam Hildegard das Abiturzeugnis. Da sie immer schon gerne mit Kindern zusammen war, war es ihr großer Wunsch, später als Lehrerin zu arbeiten. Doch der Krieg verhinderte diesen Ausbildungsweg. Hildegard wurde für ein halbes Jahr zum Kriegsdienst verpflichtet und verrichtete soziale Arbeit im Hilfswerk in Berlin. Danach erhielt sie eine Kurzausbildung zur physikalisch-technischen Laborantin und musste bei der Firma Telefunken als Funktechnikerin arbeiten. 1942 wurde die Firma Telefunken nach Sachsen verlegt. Die Bombardierungen Berlins musste Hildegard daher nicht miterleben. Sie wohnte drei Jahre im Erzgebirge bei der Pastorenfamilie Metzner und erlebte dort 1945 den Einzug der Russen. Im Juli 1945 machte sie sich mit einem Handwagen und einem Arbeitskameraden zu Fuß nach Berlin auf und kam nach einer Woche dort an. Auf dieser abenteuerlichen Reise erlebte sie in vielfacher Weise Gottes Bewahrung. Berlin war total zerstört und auch in Familie und Gemeinde hatten die Kriegsjahre tiefe Spuren hinterlassen. Die Eltern Grams waren ausgebombt, der Vater und die zwei Brüder in Kriegsgefangenschaft. Vorübergehend lebte Hildegard mit Mutter und Schwester in einer kleinen Wohnung zusammen mit ihrer Großmutter, ihrer Tante, ihrem Onkel und deren Tochter, die als Flüchtlinge aus Schneidemühl gekommen waren. Auch die Gemeinde lag in Trümmern. Am 3. Februar 1945 waren die Elim-Kirche und das Pastorenwohnhaus durch eine Sprengbombe zerstört worden und hatten den Gemeindepastor Eugen Petrikowsky mit seiner Ehefrau Elsbeth, Gemeindeschwester Martha Gawrisch und 27 weiteren Hausbewohnern in den Tod gerissen. Von den überlebenden Gemeindegliedern waren 90 % ausgebombt und viele vermisst. Nach ihrer Rückkehr nahm Hildegard Kontakt zu dem neuen Gemeindepastor Karl Kreutzer auf, der aus ihrem Geburtsort Schneidemühl nach Berlin 13
versetzt worden war, weil sie beim Gemeindeaufbau mithelfen wollte. Pastor Kreutzer drängte Hildegard, hauptamtlich in der Gemeinde zu arbeiten. Doch nach wie vor plante sie, Lehrerin zu werden. Sie wollte zwar gerne in der Gemeinde mithelfen, aber nicht hauptamtlich. Immer wieder fragte Pastor Kreutzer nach. Schließlich wurde Hildegard die Fragerei zu lästig und sie überlegte, wie sie dem Pastor ihre Ablehnung endgültig klarmachen könnte. Ihr Plan war, beim Arbeitsamt eine Arbeitsgenehmigung zu beantragen, was insofern aussichtslos war, als die Kirche im Bezirk Friedrichshain lag, ihr Wohnort aber in einem anderen Bezirk, Lichtenberg. Die amtliche Absage würde den Pastor sicher davon überzeugen, dass sein Nachfragen zwecklos war. So ging sie zum Arbeitsamt. Zu ihrem Erstaunen wurde sie vom Leiter des Amtes mitten aus der Warteschlange ins Büro gerufen und erkannte in ihm einen früheren Arbeitskollegen aus dem Krieg. Damals war dieser Mann finanziell sehr schlecht gestellt gewesen, und Hildegard hatte versucht, ihm immer wieder Aufträge zuzuschustern, womit er ein wenig Geld verdienen konnte. Sie hatte das längst vergessen, doch der Mann nicht: „Was immer Sie wollen, mache ich für Sie“, versprach er. Nun musste sie berichten, dass sie eine Arbeitsgenehmigung für Friedrichshain brauchte, aber aufgrund der Bestimmungen ja wohl keine Chance hätte, sie zu bekommen. Seine Antwort war: „Das ist ja gar kein Problem!“ Er stellte die Genehmigung aus. Da hatte Hildegard ihre Rechnung ohne Gott gemacht, der ihren Plan durchkreuzt hatte: Wenn Gott ruft, werden alle für uns noch so stichhaltigen Aber gelöst. So konnte ich dann gar nicht anders, als Ja sagen. Sie wurde zum 1. Januar 1946 als Gemeindehelferin der Gemeinde Tilsiter Straße angestellt, als erste Gemeindehelferin der Bischöflichen Methodistenkirche in Deutschland nach dem Krieg.
14
Gemeindehelferin in Berlin Hildegard begann ihren Dienst ohne Ausbildung. Doch dabei blieb es nicht: Pastor Kreutzer bildete sie regelrecht aus. Er gab ihr Fachbücher und sprach diese Literatur mit ihr durch. So konnte sich Hildegard neben aller praktischen Arbeit viele Kenntnisse über Theologie und Pädagogik aneignen. Außerdem musste sie täglich schriftliche Berichte über ihre Arbeit abfassen. Als hauptamtliche Gemeindehelferin widmete sie sich vor allem dem Gemeindeaufbau und der Kinderarbeit. Zunächst begann die Suche nach vermissten Gemeindegliedern. Wie eine Detektivin ging Hildegard vor, suchte bei der Polizei und den Einwohnermeldeämtern nach Adressen von Menschen, die weggegangen, vermisst oder nicht mehr auffindbar waren. Aus Schweden bekam die Gemeinde 1946 Holz für eine neue Kirche geschenkt. Hildegard Grams und andere Gemeindemitglieder machten sich daran, das Grundstück zu entrümpeln und die Ziegelsteine der zerstörten Kirche zu bergen und zu reinigen, damit man sie für die neue Kirche wieder verwenden konnte. Allerdings musste das Baumaterial – das geschenkte Holz und die Steine – ständig bewacht werden, da in der Nachkriegszeit alles, was man brauchen konnte, gestohlen wurde. So wechselten sich Hildegard und die Gemeindeschwester mit Nachtwachen ab und passten auf das kostbare Material auf. Am Tag wurde dann wieder gearbeitet. Viele Spenden wurden gebraucht, so gaben die Gemeindeglieder auch Uhren und Schmuck für die Kirche. Besonders bewegend war es für Hildegard, dass ein Ehepaar, das über 50 Jahre verheiratet war, seine Eheringe für den Neubau der Kirche spendete. 1948 konnte die Holzkirche eingeweiht werden. Gemeindeschwester Liesbeth Stark kam im März 1947 in die Gemeinde, jetzt konnte Hildegard sich noch mehr der Kinderarbeit widmen. Sie hatte mit drei Kindern begonnen, Sonntagsschule zu halten, in den Ruinen der Kirche, mitten in Trümmern und oft in Kälte und Regen. Nach einem Jahr waren es über 300 Kinder! Wie hatte sie das geschafft? Sie ging vor dem Beginn der Sonntagsschule auf die Straße und sprach Kinder an, die 15
dort in den Ruinen spielten, ob sie in die Sonntagsschule kommen wollten. Sie verteilte Einladungszettel oder ging mit zu den Eltern, um diese um Erlaubnis zu bitten. Die Kinder brachten dann später ihre Geschwister oder Freunde mit, so wuchs die Sonntagsschule wie von selbst. Bald schon spielten die Kinder auf der Straße „Sonntagsschule“ und ahmten Hildegard Grams nach. Hildegard erreichte bei der Schulbehörde, dass sie sonntags die Aula einer Schule nutzen durfte. Die große Aula, in der die Sonntagsschule abgehalten wurde, reichte kaum aus: Je mehr wir uns der Schule nähern, umso mehr Kinder strömen von allen Seiten in den Schulhof. Wir gehen nach oben in die Aula, wo sich die Kinder schnell zu ihren Sonntagsschullehrern finden, die ja frühzeitig da sind. In den einzelnen Gruppen wird nun lustig geplaudert und somit bald eine Gemeinschaft der Neuen und der Alten hergestellt. Die neuen Kinder sind nämlich gleich dem Alter entsprechend in die betreffende Gruppe gebracht worden. Inzwischen sind die wenigen Liederbücher und die Bibeln von den beiden „Sonntagsschul-Verwaltern“ ausgeteilt. Jetzt ist es 11 Uhr geworden. Ganz pünktlich durchdringt ein Klingeln die Aula. Mit einem Male kommt Bewegung in die Gruppen. Die Gespräche hören auf und jeder setzt sich auf seinen Platz. In wenigen Sekunden schauen mehr als 340 Kinder erwartungsvoll nach vorn. Heute lernen wir zu Beginn ein neues Lied. Wir haben es uns als Ziel gesetzt, möglichst an jedem Sonntag die Strophe eines Liedes auswendig zu lernen. Fünf bis sieben Minuten verwenden wir dafür. Ich sage je zwei oder drei zusammenhängende Zeilen vor und erkläre das Schwerverständliche. Nach drei bis vier Wiederholungen im Sprechchor können es alle Kinder. Und wenn wir die erste Strophe gelernt und gesungen haben, sage ich die Nummer des Liedes im „Jugendpsalter“ an und wir singen freudig das ganze Lied. So sitzt die Melodie schon ziemlich fest. In verhältnismäßig kurzer Zeit haben wir uns auf diese Weise einen reichen Liederschatz angeeignet, dessen Wert wir bei Ausflügen und Fahrten besonders schätzen. Nach dem Gebet, wobei es immer ganz still ist, singen wir alle zur Anbetung „Ein reines Herz, Herr, schaff in mir“! Jetzt kommt das Schönste: die Geschichte. Wir haben das große Glück, in einem Schulhaus mit vielen Klassenräumen zu sein. So geht jeder Sonntagsschullehrer mit seiner Gruppe von 15–30 Kindern, die sich in feiner Ordnung zu zweit aufgestellt haben, in seinen Raum. Nach 25 Minuten Klassenunterricht, wobei die Anwesenheit festge16
stellt und die Kollekte eingesammelt wird, ruft die Klingel zur Rückkehr in die Aula. Bei dem Singen eines bekannten Liedes sind auch die Letzten auf ihre Plätze zurückgekehrt und die nötige Ruhe ist wieder vorhanden. Als Vertiefung bei der Zusammenfassung der Lektion lernen wir heute einen Spruch, der schon vorher an die Tafel geschrieben wurde. Richtig, seit einigen Wochen stehen wir ja in einem Wettbewerb, der sich über ein Vierteljahr hinziehen soll: an jedem Sonntag lernen wir einen Spruch mit der dazugehörigen Bibelstelle auswendig. Und wenn die Kinder nach Hause kommen, schreiben sie diesen in ein eigens dafür angelegtes Heft. Wer in seinem Heft alle Sprüche am saubersten und fehlerfrei aufgeschrieben hat und aufsagen kann, bekommt einen Preis. Wir können darum verstehen, dass an jedem Sonntag nur wenige fehlen, denn einen Preis möchte jeder haben. Jetzt kommen unsere Geburtstagskinder nach vorn und dürfen sich ein Lied wünschen. Und dann hören alle auf die Bekanntmachungen, dass am Montag der Kinderchor übt und am Mittwoch Religionsunterricht ist. Nun beenden wir die Sonntagsschule mit dem gemeinsamen Schlusslied: „So nimm denn meine Hände“, wobei wir uns auch die Hände geben und uns gleichzeitig Auf Wiedersehen sagen. Ich stehe dann hinten an der Tür, gebe jedem Kind die Hand und nenne dabei seinen Namen oder lasse ihn mir sagen. Besonders der Kinderchor für Kinder von 8 bis 14 Jahren, zog viele Kinder an. Er war fast gleichzeitig mit der Sonntagsschule entstanden. Zuerst sangen die Kinder schlichte einstimmige Lieder. Da dies allen viel Freude machte, wagte sich Hildegard mit den Kindern an zweistimmige Lieder. Immer mehr Kinder kamen hinzu, und nach einem halben Jahr, als schon drei- oder vierstimmig gesungen werden konnte, wurde ein Fest geplant, das der Chor gestalten sollte. Denn man wollte die Eltern der Kinder erreichen, die Feste sollten Evangelisationsveranstaltungen sein. Die Feiern mussten wiederholt werden, denn die Schulaula war jedesmal mit mehr als 750 Menschen überfüllt. Die Kinder erzählten in ihrer Schule begeistert vom Chor und sangen auch dort, so wurde der Kinderchor ein Werbe-Instrument für Sonntagsschule, Gemeinde und Kirche, die immer mehr wuchsen. Auch bei der Jährlichen Konferenz 1948 in Berlin sang der Kinderchor. Durch die Kinder und die Lieder waren die Anknüpfungs17
punkte für weitere Einladungen geschaffen. Ein Schwerpunkt der Arbeit Hildegards waren die Hausbesuche bei den Familien der Sonntagsschüler und Chorkinder. Da schüttete ihr manche Mutter, die Kriegerwitwe oder Alleinerziehende war (der Vater war noch in Gefangenschaft), ihr Herz aus. Manche Eltern berichteten, wie die Kinder mit ihren Puppen zu Hause Sonntagsschule und Kinderchor spielten, oder erzählten dankbar, wie sie durch die Lieder der Sonntagsschule, die die Kinder zu Hause sangen, getröstet wurden. So fiel es nicht schwer, die Kinder zu überreden, ihre Mütter zu einer Frauenstunde einzuladen. Es kamen 80–90 Frauen zusammen, alle aus nichtkirchlichen Kreisen. Der Vorschlag, auch dort viel zu singen, fand Anklang. Daraus entstand ein Frauenchor, der im Gottesdienst und zu den Festen sang und zu verschiedenen Konferenzen in Berlin gerufen wurde. Nun war es nicht mehr schwer, auch die Väter einzuladen, die sehen wollten, was Frau und Kinder darboten. So entstand ein gemischter Chor und die ElimGemeinde wuchs, bis sie Anfang der 50-er Jahre knapp 300 Mitglieder zählte. Die Anliegen ihrer Sonntagsschulkinder brachten die einfallsreiche Hildegard immer wieder auf neue Ideen. So hatte sie festgestellt, dass einige ihrer bisher treuesten Sonntagsschulkinder jeden Sonntag fehlten. Sie fragte nach und erfuhr von den Kindern, dass sie ja in der Landeskirche konfirmiert werden sollten und daher dort zum Gottesdienst gehen mussten, der parallel zur Sonntagsschule stattfand. Die Kinder wollten aber auch nicht auf die Sonntagsschule verzichten. Für Hildegard war klar: Wenn diese Kinder zwei Jahre lang nicht kommen würden, würde man sie für immer verlieren. Daher wurde eine Jungschararbeit für 11- bis 14-jährige Mädchen und Jungen begonnen. Jetzt konnten alle Kinder weiterhin mit ihren Freunden aus der Sonntagsschule zusammensein. Spiel-, Sing- und Rätselnachmittage wechselten mit Lichtbildervorträgen oder Erzählungen und Berichten aus den verschiedensten Bereichen von Wissenschaft und Geschichte ab. Hildegard ging mit den Kindern ins Kino und sprach dann mit ihnen über die Filme. Sie richtete eine kleine Bibliothek ein, stellte Tischtennisplatten auf und lud immer wieder zu Spaziergängen am Sonntag ein. Die Jungen 18
und Mädchen konnten ihre Fragen in einen eifrig benutzten Fragekasten legen, vor allem jene Fragen, die sie vor den anderen nicht stellen wollten. Viele Gespräche ergaben sich aus der Beantwortung und Hildegard konnte sich in die jungen Menschen immer besser einfühlen. Besondere Höhepunkte der Kinderarbeit waren die Zelt- und Ferienlager im Sommer. Manch ein Kind konnte sich an solchen Tagen einmal wieder richtig satt essen. 8 1/2 Zentner Lebensmittel wurden von Westberlin in Rucksäcken nach Ost-Berlin getragen. Hildegard berichtete von den Kinderferien im Sommer 1947: An zwei Tagen in der Woche sammelten wir die Kinder unserer Sonntagsschule im Alter von 7 bis 14 Jahren, um mit ihnen den ganzen Tag im Freien zu verleben. An jedem Dienstag fuhren wir nach Grünheide (Fangschleuse), wo wir das Grundstück und die Räume einer durch die Sonntagsschularbeit zur Gemeinde gekommenen Familie nutzen konnten. Und an jedem Freitag vergnügten wir uns auf der Treptower Wiese. Bei der Reichsbahn wurde uns an jedem Dienstag ein Wagen in dem Zug morgens und abends reserviert. So ging es denn mit fröhlichem Gesang hinaus. Jeder Tag begann, noch bevor wir uns leiblich gestärkt hatten, mit einer Morgenandacht. An den ersten Malen war der Grundgedanke: Die barmherzige Liebe der Menschen, die dem Herrn Jesus nachfolgen. Als sichtbaren Beweis hierfür konnten wir von der Unterstützung mit Lebensmitteln erzählen, die uns in so großzügigem Maße durch das evangelische Hilfswerk zuteil wurde. Dann wurde tüchtig herumgetollt, gespielt und gebadet. Inzwischen hatte rührige Hände das Mittagessen für die sich steigernde Zahl von bis zu 160 Kindern gekocht, das abwechselnd aus Linsen und Haferflocken bestand. Aus Platzmangel wurde in zwei Gruppen gegessen. Welche Unmengen konnten da verzehrt werden! So hat ein 12-jähriger Junge es geschafft, 13 Kellen (d. h. 3 1/4 Liter) zu verspeisen. Welche Freude war es für mich, den Kindern, man weiß nicht nach wie langer Zeit, endlich einmal so viel geben zu können, dass sie sich an einem guten Mittagessen wirklich satt essen konnten. Das eindeutige Urteil war auch: „So etwas Gutes kann meine Mutti gar nicht kochen! Da ist ja so viel Fett drin!“ Auch die Mütter waren überrascht, wie gut ihre Kinder versorgt wurden. 19
Schon lange vor den Sommerferien fragten die Kinder nach den Kinderferien. So viele Kinder wollten bei den Ferientagen dabei sein, dass im Jahr darauf zwei Gruppen gebildet werden mussten. Doch würden die Kinder auch kommen, wenn das Wetter nicht mitspielte? Als es an einem Montag so regnete und der Himmel so grau aussah, hatte ich mich quasi damit abgefunden, dass bei diesem Wetter wohl kaum ein Kind auf dem Bahnhof sein werde. Und ich sah uns schon zu fünft – die drei Köche, Schwester Liesbeth und mich – in Fangschleuse schwitzen, weil die drei großen Kessel Haferflocken mit Milch und Zucker unbedingt gegessen werden mussten! Doch wie erstaunt war ich, als ein Kind nach dem anderen kam, wie ein Heinzelmännchen unter seinem Regencape versteckt. 81 Kinder und 12 Mütter waren gekommen. Frischer fröhlicher Mut strahlte von ihren Gesichtern. Dass so viele Kinder gekommen waren, sagt mehr als Worte, was ihnen die Tage der Gemeinschaft und die Mahlzeiten wert waren. Einmal fragten die Kinder Hildegard beim Zeltlager: „Dürfen wir alles machen?“ Die Antwort lautete: „Ja, wenn ihr auch die Verantwortung für alles tragt“. Nun wussten alle, was zu tun war und was nicht! Dennoch schreibt Hildegard: Es kostete alle Helfer viel Liebe und noch mehr Geduld, die Kinder in rechter Weise zu leiten, wollten wir doch auch mithelfen, den Gemeinschaftsgeist der Kinder durch Liebe und Rücksichtnahme untereinander zu fördern. In einer unserer Andachten lernten die Kinder den Spruch: „Alles, was ihr wollt, dass es euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ Und danach versuchten wir uns zu richten. Die Kinder selbst machten sich darauf aufmerksam beim Spiel und anderen Gelegenheiten. So waren die Voraussetzungen für einen harmonischen Tag geschaffen, ohne Zank und Streit. Freude bedeutete es darum auch für uns, wenn die Mütter, ja sogar die Bahnbeamten sagten, dass doch innerhalb dieser Kindergemeinschaft ein anderer Geist herrsche, den sie woanders nicht finden könnten, der aber so wohltuend und erfrischend wirke. Als Hildegard während der Sommertage bemerkte, dass viele Kinder nicht schwimmen konnten, organisierte sie auch Schwimmunterricht. Sie ging zur Leiterin eines nahe gelegenen Hallenbades und vereinbarte mit ihr, dass sie jeweils am Montag und Dienstag früh vor dem Schulanfang mit einigen Kindern 20
zum Schwimmunterricht kommen konnte. Auch die Gemeindeschwester musste Schwimmunterricht nehmen und wurde dann für die Aufsicht im Wasser eingespannt. Trotz aller Einschränkungen dieser Jahre verlebten alle eine wunderschöne Zeit. Das Gehalt, das Hildegard als Gemeindehelferin bekam, war gering. Im Januar 1948 stürzte sie bei einem Elternbesuch und brach sich den rechten Ellenbogen. Als sie bei der Krankmeldung ihr Gehalt wie gefordert angab, zweifelte man an der Richtigkeit der Summe. Mit dem geringen Krankengeld, das sie nun bekam, konnte Hildegard ihrer Familie helfen, aber es reichte nicht für die Kartoffeln und Kohlen, die für den Winter eingekellert werden mussten. Hildegard antwortete auf die immer dringender werdenden Anfragen der Mutter immer nur: „Das Geld wird auch noch kommen.“ Eines Tages kamen zwei Männer von der Versicherung und kündigten an, dass Hildegard noch Schmerzensgeld für ihren Unfall erhalten würde. Hildegard war so verblüfft, dass sie genau den Betrag nannte, den sie für Kartoffeln und Kohlen brauchte. Sie erhielt die Summe sofort. So hatte Gott für sie gesorgt und ihre Glaubenszuversicht nicht enttäuscht. Ende der vierziger Jahre nahm Hildegard an einem Missionssonntag teil, bei dem die China-Missionarin Maria Uhlmann einen Vortrag hielt. Schon als Kind hatte sie gerne Missionsberichte gelesen und sich für China interessiert, aber nie hatte sie mit dem Gedanken gespielt, selbst in andere Länder zu gehen. Doch die von Frau Uhlmann gestellte Frage: „Wer ist bereit, eine solche Arbeit in einem anderen Land zu tun?“, beschäftigte sie und ließ sie nicht mehr los. Hier vernahm sie einen Ruf, den sie nicht gesucht hatte und auf den sie nicht vorbereitet war. Nach und nach wuchs aber die Gewissheit, dass sie in die Mission gehen sollte. Als dies bekannt wurde, gab es einen Aufruhr, besonders unter den Kindern und ihren Eltern. Auch Pastor Arthur Radau, der Nachfolger von Pastor Kreutzer, und Hildegards Mutter wollten unter keinen Umständen, dass sie in die Mission ging. Sie habe ja schließlich in Berlin ihre Aufgabe. Doch Hildegard machte klar, dass sie diese Berufung ernst nahm. 21
Als Hildegard mit den Kindern im Ferienzeltager war und ihnen von ihrer neuen Berufung erzählte, wollten diese gar nichts davon hören. Da sagte sie ihnen: „Nun sind wir so lange zusammengewesen, haben so viel gemeinsam gelernt. Wollt ihr denn nicht, dass auch die Kinder aus anderen Ländern von dem Herrn Jesus hören? Ihr könnt doch nicht so egoistisch sein, die frohe Botschaft nicht weiterzugeben.“ Nach und nach lösten sich Spannung und Abwehr, und Hildegard konnte sich langsam von der Berliner Arbeit freimachen, um sich auf den neuen Weg vorzubereiten. Bis September 1950 dauerte ihr Dienst in der Elim-Gemeinde.
Der Weg in den Missionsdienst Nun wandte sich Hildegard an die Vorsitzende des methodistischen Frauendienstes, Luise Scholz, und besprach ihre Pläne mit ihr. Diese engagierte Frau kannte sie persönlich, sie war die Ehefrau des früheren Gemeindepastors von Schneidemühl. Da es dem Frauendienst seit Jahren ein ernstes Anliegen war, eine zweite Missionarin (nach Elsa Schwab, die seit 1932 erst in Sumatra, dann in Japan Dienst tat) aussenden zu können, stieß sie bei ihr auf offene Ohren. Hildegard schwebte eine evangelistische Arbeit vor, für die sie sich ein theologisches Fundament erarbeiten wollte. Frau Scholz erkundete unter anderem in Gesprächen mit dem damaligen Bischof J.W. E. Sommer die Ausbildungsmöglichkeiten für Hildegard. So wurde sie an das Predigerseminar in Frankfurt/Main, die Ausbildungsstätte für Pastoren der Bischöflichen Methodistenkirche, empfohlen, wo sie die bestmögliche Vorbereitung für ihren Dienst erhalten konnte. Aber wie konnte Hildegard als Ost-Berlinerin und Bürgerin der DDR im Westen studieren? Jeder dachte, sie würde kein Visum bekommen, um zum Studium in den Westen zu gehen. Doch Hildegard ließ sich nicht einschüchtern. Sie ging auf die Russische Bezirksstelle, deren Eingang deutsche Soldaten überwachten, und fragte nach dem Leiter. Als sie zu ihm vorgedrungen war, brachte sie ihr Anliegen vor, in Frankfurt/Main zu studie22
ren. Er fragte: „Warum?“ Sie antwortete, dass sie in den kirchlichen Dienst gehen wolle. Den Missionsdienst erwähnte sie nicht. Da begann der Beamte, sich sehr negativ über die Kirche zu äußern. Doch Hildegard entgegnete, dass sie nicht gekommen sei, um mit ihm über die Kirche zu diskutieren, sondern um ein Visum zu beantragen. Da sagte er, sie solle in einer Woche wiederkommen. Beim zweiten Besuch sagte er zu ihrer Verblüffung: „Ihr Visum ist noch nicht da – ich verstehe auch nicht, warum!“ Dann griff er nach dem Telefon und fragte in der Zentralstelle am Alexanderplatz nach, warum das Visum noch nicht da sei, er habe doch gesagt, er brauche es nach einer Woche. Als nächstes schickte der Leiter der Bezirkstelle Hildegard mit allen möglichen Passierscheinen selbst zu der Zentralstelle, damit sie dort ihr Visum abholen konnte. Dort wurde Hildegard als erste hereingerufen und erhielt ihre Genehmigung – ein zeitlich unbegrenztes Visum! Zu Hause konnte es auch die Mutter kaum fassen, die immer noch nicht mit den Plänen ihrer Tochter einverstanden war. Für Hildegard war es eine weitere Bestätigung ihrer Berufung in die Mission. Seit 1908 konnten Frauen, die in die Äußere Mission gehen wollten, am Predigerseminar in Frankfurt/Main eine theologische Ausbildung erhalten. Die ersten Studentinnen waren Hanna Scharpff und Anna Rauch gewesen, aber es war schon Jahrzehnte her, dass eine angehende Missionarin in Frankfurt studiert hatte. Nun kam Hildegard als einzige Frau unter 56 „Brüdern“ ins Predigerseminar! Der spätere Bischof Dr. Friedrich Wunderlich war damals Seminardirektor. Hildegard absolvierte das Grundstudium mit einigen Ergänzungen. Sie paukte Griechisch und besuchte in allen anderen Fächern Seminare und Vorlesungen. Sonntags wurden die Seminaristen eingeteilt für Gottesdienste, Hildegard hielt Andachten im Frauengefängnis und tat dort einen umfangreichen Besuchsdienst. Das Studium war für Hildegard eine wertvolle und intensive Zeit. Später, wenn sie von Indien zum Heimaturlaub nach Deutschland kam und ihren Reisedienst in den Gemeinden tat, kam ihr sehr zugute, dass sie viele Pastoren aus ihrer Seminarzeit kannte. 23
Mit Luise Scholz sprach sie nach dem Studium darüber, in welches Land ihr Weg führen würde. Luise Scholz schlug Afrika vor, doch dorthin zog es Hildegard nicht. Sie erklärte aber ihre Bereitschaft, überall hinzugehen, wohin man sie aussenden werde. Aber Luise Scholz wollte von Hildegard ein Ziel hören. „Also dann entscheide ich mich für Indien“. So wurde es Indien. Dieses Land hatte Hildegard schon früher interessiert und sie hatte sich für ihre Berliner Jugendstunden mit indischer Philosophie beschäftigt. Auch berichtete ihre Mutter später, dass Hildegard als Kind im Zoo immer bei den Elefanten stehengeblieben sei. Während der Semesterferien im Sommer 1951 war Hildegard zum Kennenlernen praktischer Klinikarbeit im Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg tätig. Sie durchlief die chirurgische Station, die Abteilung für Mutter und Kind inklusive Entbindungsstation sowie den Operationssaal und half anschließend drei Wochen lang in der Abteilung für innere Krankheiten. So erwarb sie sich medizinische Grundkenntnisse, die sie in ihrer späteren Arbeit mit Kindern wie Erwachsenen gut gebrauchen konnte. Nach Abschluss der zweijährigen Seminarzeit verbrachte Hildegard drei Monate in England, um ihr Englisch für den Aufenthalt in Indien aufzubessern. Sie arbeitete erst in einem Kinderheim und war anschließend im Deaconess College in Ilkley als Hausangestellte tätig. Dort brachte sie mit dem Singen alter Wesley-Lieder die Köchin, vor der sich jeder fürchtete und die als „Drachen“ galt, „zum Schmelzen“ und wurde ihr eine gute Freundin. Am 25. Januar 1953 fand die „Abordnungsfeier“ für die künftige Missionarin in der Christuskirche, Berlin-Schöneberg, statt. Für die Missionsgesellschaft der methodistischen Kirche in Deutschland sprachen Pastor Bernhard Vogelsang, Superintendent Ernst Scholz und für den Frauendienst Luise Scholz. In seinem verlesenen Grußwort erinnerte Direktor Christian Jahreiß vom Diakonissenmutterhaus Martha-Maria, Nürnberg, daran, dass Deutschland erst seit 1947 wieder als gleichberechtigter Partner mit den Missionsvertretern der Welt zusammenarbeiten durfte. 24
Nun sei man sehr froh, eine weitere Missionarin zu entsenden (1951 war als erste Missionarin nach dem Krieg Dr. med. Christa Kupfernagel über die britisch-methodistische Missionsgesellschaft ausgesandt worden). Auch der Frauendienst empfand große Freude über die Aussendung von Hildegard, die im Frauen-Rundbrief als „Unsere Zweite“ (nach Elsa Schwab) vorgestellt wurde. Hildegard musste in der Abordnungsfeier einige Fragen beantworten und wurde durch den Superintendenten offiziell mit der Aufgabe betraut und gesegnet: Schwester Hildegard Grams, ich beauftrage Sie, das Evangelium unseres Herrn Jesus Christus hinauszutragen in alle Welt im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Der Frauendienst übernahm, wie in der Bischöflichen Methodistenkirche üblich, die volle finanzielle Verantwortung für die Arbeit und für Hildegards Gehalt. Dies blieb so bis zur Vereinigung der methodistischen Kirchen in Deutschland 1968, danach war die neugeschaffene Missionsbehörde für die Belange der Missionarin zuständig. Der Frauendienst blieb der Missionsarbeit verbunden, finanzierte viele Projekte und war in Entscheidungen und Finanzierungsfragen weiterhin einbezogen. 1953 war es endlich soweit: Die erste Ausreise nach Indien sollte am 2. März von Southampton aus erfolgen. Die Tage zuvor verbrachte Hildegard Grams in London beim Pastor der deutschen Gemeinde, Erich Baaß, den sie vom gemeinsamen Studium im Frankfurter Seminar kannte. Am letzten Tag vor der Abreise war sie aufgeregt. Doch am Morgen, als in der Pastorenfamilie die Andacht gehalten wurde, vernahm sie den Losungstext: „Bei meinem ersten Verhör stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle … Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich, auf dass durch mich die Verkündigung reichlich geschähe und alle Heiden sie hörten“ (2 Tim 4,16 f ). Es konnte wohl kaum ein besseres Wort zum Abschied und Beginn dieses neuen Lebensabschnittes gesagt werden als dieses. Nun konnte sich Hildegard getrost von Europa verabschieden, um in das Land zu gehen, in das sie zum Dienst berufen worden war.
25
Endlich in Indien – erste Stationen Am 2. März 1953 begann die Schiffsreise von Southampton nach Bombay. Sie dauerte bis zum 19. März und verlief bei gutem Wetter sehr angenehm. Auf dem Schiff traf Hildegard englische und skandinavische Missionarinnen, die fast alle schon in Indien gearbeitet hatten. Die Erzählungen und Gespräche waren für Hildegard eine gute Einführung, und oft dachte sie: „Ach, wärest du doch auch schon so weit!“ Ihr war klar, dass dahin noch ein weiter Weg sein würde. Bei ihrer Ankunft in Bombay wurde Hildegard von der Leiterin des methodistischen Missionsheims, in dem sie die ersten Tage verbringen sollte, abgeholt. Es tat sich nun eine völlig neue Welt vor ihr auf: Die große Hitze mit über 40° C, eine andere Landschaft mit südländischer Vegetation, die andere Bauart der Häuser, ganz andere Menschen in Hautfarbe und Kleidung, ein für mich völlig neues Leben und Treiben auf der Straße und nicht zuletzt eine andere Sprache, von der ich absolut nichts verstand. Das alles stürzte wie ein starker Regenguss auf mich ein und ich wäre wahrscheinlich davon umgestoßen worden und ertrunken, wenn mich nicht die freundlichen Hände unserer Schweizer Missionarin Miss Blasdell aufgefangen und geführt hätten. Ob man in den Haupt- oder Nebenstraßen geht, immer ist man von vielen, vielen Erwachsenen und Kindern umgeben. Ich hörte schon vorher von der großen Bevölkerungszahl in Indien. Hier erlebte ich es zum ersten Male in Wirklichkeit. Als ich abends durch die Stadt ging, sah ich viele zusammengerollte Bündel mitten auf dem Gehsteig und im Rinnstein liegen. Als ich näher hinschaute, erkannte ich, dass dies schlafende Menschen mit und ohne Decke waren. Diese Eindrücke der außergewöhnlich zahlreichen Bevölkerung, besonders der großen Kinderzahl, und ihre große Not haben mich stark erschüttert. Wohl hatte ich Armut bereits in Deutschland während meiner Arbeit in Berlin kennengelernt, aber mit dem hiesigen Elend findet sie doch keinen Vergleich. Das Missionshaus lag in einem blühenden Garten und hatte sehr schöne, helle Zimmer. Vom Balkon des Gästehauses aus hatte Hildegard die schockierenden Eindrücke täglich vor Augen, ein fast unerträglicher Kontrast. Sie war dadurch so erschüttert, dass sie sich fragte, was denn sie hier tun sollte und 26
könnte angesichts dieses großen Elends. In ihrer Morgenandacht las sie im Losungsbuch ein Wort, das ganz besondere Bedeutung für sie bekam: „Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, als dass sie treu erfunden werden“ (1 Kor 4,2). Dieses Wort schenkte ihr die Gewissheit und Bestätigung, am richtigen Ort zu sein: treu wollte sie sein, wie auch Gott treu ist. Auch für diesen Tag hätte es kein treffenderes Wort geben können. Nach fünf Tagen ging die Reise weiter nach Nordindien, in den Punjab, wo ihr späteres Arbeitsfeld lag. Das bedeutete zunächst eine 36-stündige Reise mit der indischen Eisenbahn über 1800 km! Die Hitze war trotz der Ventilatoren erdrückend, und der Staub, der auch bei geschlossenen Fenstern eindrang, war so dicht, dass man kaum atmen konnte und alle schon nach kurzer Zeit eingestaubt waren. Während der Fahrt bekam Hildegard durch ihre Mitfahrer im Abteil Anschauungsunterricht in indischen Bräuchen und Sitten, zum Beispiel, dass man ohne Besteck, mit den Fingern, zu essen pflegte, oder dass ein Sikh seinen Turban und das lange ungeschorene Haar darunter kunstvoll arrangierte. Als die Abteilgenossen erfuhren, dass Hildegard eine Missionarin war, waren sie noch zuvorkommender. Die dominierende Religion im Punjab ist der Sikhismus. Sikhs stellen in ganz Indien ungefähr 2 % der Bevölkerung, im Punjab, ihrer Ursprungsregion, über 60 %. Diese Religion entstand im 15. Jahrhundert als Reformbewegung, die das Kastenwesen des Hinduismus überwinden sollte. Sie verbindet Elemente von Hinduismus und Islam und gilt als monotheistisch. Sie vertritt die spirituelle Gleichheit aller Menschen, betont die Innerlichkeit als Ort der Gottesverehrung und wendet sich von Ritualen, Idolen und Pilgerzentren ab (gegen den Hinduismus). Die Grundlage der Sikh-Religion bilden die Lehren der zehn Gurus, von denen der letzte 1708 starb. Sie werden in der heiligen Schrift der Sikhs, dem „Guru Granth Sahib“, bewahrt, die sich im Original im „Goldenen Tempel“ in Amritsar befindet, dem wichtigsten Heiligtum dieser Religion. Die meist hellhäutigen Sikhs gelten als tolerant, fleißig und intelligent. Ihr Einfluss in 27
Wirtschaft und Politik ist enorm, die Armee besteht zu 10% aus Sikhs. Äußerlich sind sie daran zu erkennen, dass sie über dem ungeschorenen Kopf- und Barthaar einen Turban haben, das Haar darunter mit einem Holzkamm befestigen, einen Armreif am Handgelenk sowie ein kleines Schwert tragen. Schon die Kinder tragen kleine Haarknoten, die mit weißem Stoff bedeckt sind. Am 26. März kam Hildegard in Amritsar an, der Hauptstadt des Punjab, wo sie von der dort stationierten Missionarin Lilly Swords in Empfang genommen wurde. Lilly Swords (1911–1997) lebte bis zu ihrem 19. Lebensjahr in Mitteldeutschland, wo ihr Vater, ein Engländer, bis 1942 Pastor war, ihre Mutter war Deutsche. Lilly ging als Missionarin zunächst nach Bulgarien. Seit 1937 hatte sie in Pakistan und Indien als Missionarin gearbeitet. Der für die Delhi-Konferenz und damit Amritsar zuständige Bischof Pickett, ein Amerikaner, hatte Hildegard zu Lilly Swords geschickt. Die Muttersprache von Lilly Swords war Deutsch, darüber war Hildegard sehr froh und dankbar, denn sie fühlte sich hilflos in einer Welt, in der alles neu und anders war und in der sie kein Wort verstand. Gleichzeitig konnte Lilly Swords dank ihrer Sprachkenntnisse als Kontaktperson in alle Richtungen fungieren. In Amritsar erfuhr Hildegard auch, dass am Tag nach ihrer Abreise Friedrich Wunderlich zum neuen Bischof der methodistischen Kirche in Deutschland gewählt worden war. Bereits am zweiten Tag nach ihrer Ankunft fuhr Hildegard mit Lilly Swords in die Dörfer der Umgebung. So kam Hildegard auch zum ersten Mal nach Batala, 35 km von Amritsar entfernt, wo sie später tätig sein sollte. Wegen der Entfernungen war es nicht möglich, jeden Abend nach Hause zu fahren, so übernachteten die Missionarinnen in einem aus der englischen Kolonialzeit stammenden Haus, das sehr spartanisch eingerichtet war. Hildegard staunte sehr, was da alles mitgenommen werden musste: Streichhölzer, Kochtöpfe und Lebensmittel, Waschschüssel, Matratzen und Bettzeug, Geschirr, Besteck und sogar Trinkwasser.
28
In den Dörfern im Umkreis von 60 km um Batala lernte sie die ärmlichen Verhältnisse kennen, in denen die Menschen auf dem Land lebten, und war betroffen von dem Schmutz, in dem die Kinder aufwuchsen. Doch viel mehr beeindruckte sie die große Freude und Aufmerksamkeit, mit der die Menschen auf den Dörfern den Worten der Missionarin folgten und die christlichen Lieder sangen. Diese Beobachtungen konnte Hildegard nur mit den Augen machen, da sie die Sprache ja noch nicht verstand. Das Gefühl, zur Gemeinde zu gehören, stellte sich dennoch schnell ein. Hildegard hatte als drittes der für den Beginn ihrer Missionstätigkeit bedeutenden Bibelworte das folgende Wort auf den Weg erhalten: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Eph 2,19). Schnell erlebte Hildegard das extrem heiße Klima dieses Teiles von Nordindien, das Thermometer stieg tagsüber bis auf 48° C. Das brachte nicht nur die Menschen zum Schwitzen, sondern auch die Motoren: Da stand man dann bei der Hitze mitten auf einer Straße, die eher einem Feldweg glich, in der glühenden Sonne, und musste das letzte Trinkwasser zum Abkühlen des heißgelaufenen Motors verwenden. Neben der Hitze waren Staub und Trockenheit die ständigen Begleiter. Doch wenn Lilly Swords und Hildegard in die Dörfer kamen, in denen die Menschen auf die Gemeinschaft warteten, dann waren alle Unannehmlichkeiten vergessen. Hildegard bedauerte sehr, dass sie sich mit den Menschen noch nicht direkt verständigen konnte, und wartete ungeduldig auf den Beginn ihrer Sprachkurse. Die Kurse fanden ab Ende April in der Sprachschule der Kirche in Landour im Himalaya statt. Im Haus „Rokeby“, einem Haus des amerikanischen Frauendienstes, das 2300 m hoch gelegen war, sollte sie mit etwa 150–200 Missionarinnen und Missionaren aus allen Teilen Indiens zusammen lernen. Das ist nun die vierte neue Welt, die sich in kurzer Zeit vor mir auftut: Zuerst das Leben auf dem Schiff für drei Wochen, dann die sechs Tage in Bombay als starker Kontrast, die nächsten fünf Wochen in Amritsar und im Batala-Distrikt, die mir einen guten Einblick in meine künftige Arbeit gaben, und nun hier im Gebirge. Hier haben wir europäische Verhältnisse und ein Klima, wie wir es im Frühling und Sommer in Deutschland haben. 29
Nun galt es, eine der vielen Sprachen Indiens zu lernen. Es gibt 47 Hauptsprachen und ungefähr 570 weitere Sprachen und Dialekte, viele mit eigener Schrift. Hildegard musste die im Norden gesprochene Sprache lernen, Punjabi. Der Unterricht fand ausschließlich auf Englisch statt, und als Hildegard nach Landour kam, hatten die Punjabi-Kurse schon begonnen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als streng zu pauken, um den Stoff nachzuholen. Selbst wenn die anderen Ausflüge in das schöne Himalaya-Gebirge machten, blieb sie in ihrem Zimmer und lernte Vokabeln. Es war eine große Mühe für sie, die fremde Sprache zu erlernen. Doch als Ausgleich erlebte sie eine angenehme Gemeinschaft, in der Gedankenaustausch, Andachten, Gottesdienste und Gebetsgemeinschaften genauso ihren Platz hatten wie das eigene Bibelstudium, das Spielen, Wandern und das Erleben der wunderbaren Schöpfung. Das Sprachstudium hatte auch seine heiteren Seiten. Für die indischen Kinder war es ein großes Vergnügen zu sehen, dass die großen und erwachsenen Missionare auch in die Schule gehen mussten, weil sie noch nicht lesen und schreiben konnten und deshalb als Analphabeten galten. Auch die ersten Kommunikationsversuche in Punjabi führten nicht immer direkt zum Gewünschten: Ich hatte meinen Wortschatz gerade etwas erweitert und war froh, in Punjabi einen Wunsch äußern zu können. So ging ich mit der Wärmflasche in die Küche, nachdem ich mir gründlich eingeprägt hatte, was ich sagen wollte, und bat den Koch um „tandh pani“. Er schaute mich erstaunt an, lächelte mit einem Blick auf meine Wärmflasche und sagte: „Tata pani?“ Sofort fiel mir ein, dass ich kaltes statt heißes Wasser verlangt hatte. Gelächter gab es auch, als eine künftige Lehrerin sagen wollte, sie wolle viele Kinder unterrichten, aber dabei herauskam, sie wolle viele Kinder haben. Im August konnte Hildegard schon das Vaterunser auf Punjabi beten und einige Gleichnisse und Wunder Jesu erzählen. Der indische Independence Day (15.8.), ein wichtiger nationaler Feiertag, gab ihr die Gelegenheit, zum Erstaunen aller Anwesenden eine kurze Rede in Punjabi, Englisch und Deutsch vor allen indischen Lehrern und Missionaren zu halten. 30
Als sie wieder nach Amritsar kam, schienen ihr Stadt und Menschen verändert, bald aber musste ich erkennen, dass nicht die Menschen und die Umgebung sich verändert hatten, sondern ich: ich konnte nämlich nun die Schilder in den Straßen lesen und auch etwas von dem verstehen, was sie sagten. Es ist erstaunlich, wie sich die ganze Welt verändert, wenn man Ohren hat, die wirklich hören, und einen Mund, der wirklich sprechen kann. Noch viel stärker kam dies zum Ausdruck, als wir in die Dörfer fuhren und ich mich mit den Leuten ein wenig unterhalten konnte. Ab November wohnte Hildegard in Ludhiana, etwa 110 km südöstlich von Amritsar, um dort die Punjabi-Sprachstudien weiterzuführen. Ludhiana war schon seit mehr als 100 Jahren Ausgangsstation für Missionsarbeit. Es gab dort ein College für das Medizinstudium, ein Missionskrankenhaus mit Krankenpflegeausbildung und eine Missionsschule für 700 Kinder, von denen nur ein Viertel aus christlichen Familien stammte. Da Hildegard nahe bei der Schule wohnte, ging sie, so oft es die Zeit erlaubte, dorthin, um die Unterrichtsweise kennenzulernen. Dabei wurde sie auch eines Tages gebeten, den Kindern etwas auf der Flöte vorzuspielen. Schon nach den ersten Takten schauten sie sich gegenseitig an, dann hörte ich leises Mitsummen, das sehr schnell zu einem allgemeinen lauten Mitsingen anschwoll: „Parmeschwar Prem hai, Parmeschwar Prem hai“, Gott ist die Liebe. Ja, das war das Lied, das ich spielte, das in unseren deutschen Sonntagsschulen schon die Kleinsten singen. Den Kindern hier konnte ich die freudige Überraschung auf ihren Gesichtern ablesen, denn von mir, die ich aus Deutschland kam, hatten sie ein bekanntes Lied am wenigsten erwartet. Bald fand ich noch mehr gemeinsames Liedgut, d.h. Lieder mit derselben Melodie in einer anderen Sprache. Die Kinder wie auch die Lehrerinnen kamen aus dem Staunen gar nicht heraus. Wenn ich zu meiner Gitarre deutsche Lieder sang, dann konnten sie manchmal in Hindustani und die Leiterin der Schule, eine Missionarin, in Englisch mitsingen. Drei verschiedene Sprachen von verschiedenen Menschen an einem Ort drückten das Lob und die Anbetung für den einen, allein wahren Gott aus. In der Unterhaltung mit den Lehrern erfuhr Hildegard, dass die Kinder Flöten besaßen, die ähnlich wie Blockflöten zu spielen 31
waren. Sie besorgte sich eine solche Flöte, übte ein wenig und gab dann den Kindern Flötenunterricht. Die freuten sich riesig und baten schon am nächsten Tag um eine Fortsetzung des Unterrichts. So konnte sich Hildegard neben ihrem theoretischen Unterricht auch schon praktisch betätigen. Dann erlebte Hildegard ihr erstes Weihnachtsfest in Indien, das schönste aller Feste auch für die indischen Christen. In der Missionsschule wurden Weihnachtslieder und Gedichte eingeübt, die Aufführung der Weihnachtsgeschichte war Tradition. Der tiefere Sinn des Weihnachtsfestes, das Schenken aus Freude, wurde praktisch umgesetzt: Jeden Morgen legten Kinder der Missionsschule (mehrheitlich Hindus oder Sikhs) mitgebrachte Lebensmittel und Kleidung in dafür eigens aufgestellte Körbe, um damit den Ärmsten der Armen zu helfen. Hildegard war überrascht über die große Gebefreudigkeit unabhängig von Religion und Glauben. Die eigentlichen Weihnachtstage erlebte sie in Amritsar bei Lilly Swords. Sie war beeindruckt vom Verhalten der indischen Christen in einer mehrheitlich nichtchristlichen Umwelt: Ein kleines Erlebnis hatte ich bei einer Weihnachtsfeier, zu der wir von einem Arzt des staatlichen Krankenhauses eingeladen waren. Wir konnten keine christliche Weihnachtsfeier erwarten, weil die Ärzte Hindus oder Sikhs waren. Die Bäume und Gänge waren mit bunten Girlanden dekoriert und in der großen Vorhalle stand ein Weihnachtsbaum. Es war ein Laubbaum mit buntem Papier, Kugeln und vielen elektrischen Glühlampen. Mit einem Male ertönte aus der Menge heraus das beliebte Weihnachtslied: „Herbei, o ihr Gläubgen“. Jetzt kam Bewegung in die Gruppe. Ich sah, wie mehrere Leute in Richtung der Sänger liefen und in das Lied mit einstimmten. Das waren die Christen, die sich am Lied erkannten und auf diese Weise ihren Glauben bekannten. Im Frühjahr 1954 konnte Hildegard das erste Sprachexamen ablegen. Dafür war sie sehr dankbar, denn unmittelbar vor den Prüfungen war sie ernsthaft erkrankt. Es stellte sich heraus, dass sie sich mit Amöbenruhr infiziert hatte, auf keine medikamentöse Behandlung ansprach und daher einige Wochen im Krankenhaus behandelt werden musste. Dennoch konnte sie nach 32
dem bestandenen Examen mit dem zweiten Kurs beginnen, in dem nun Diskussionen und Gespräche über die verschiedensten Themen auf dem Programm standen. Jede Woche musste jeder einen zehnminütigen Vortrag in Punjabi halten. Auch war viel Lesestoff zu bewältigen, Bücher, die in die indische Geschichte und die Gebräuche einführten, sowie Zeitungen und Zeitschriften. Diese Texte waren nicht immer leicht zu verstehen, denn sie waren in einem veralteten Stil geschrieben, vergleichbar dem Lutherdeutsch. Doch entdeckte Hildegard bei dieser Lektüre auch die Schönheiten der Sprache. Im Herbst berichtete sie: Ich bin von Herzen dankbar, dass es mir nun bedeutend besser geht. Zwar muss ich immer noch sehr vorsichtig mit dem Essen sein und meine Diät einhalten. Derartige Behandlungen dauern sehr lange. Ich tröste mich dann immer damit, dass ich sage: Wir leben in einem Land, wo alle sehr viel Zeit haben, und wie es scheint auch die Krankheiten. Aus ihren Briefen nach Europa lässt sich dennoch eine gewisse Ungeduld herauslesen, endlich ihre eigentliche Missionstätigkeit aufnehmen zu können und direkt mit den Menschen zu arbeiten: Ich bin nun schon ein Jahr in diesem Missionsland. Aber die meiste Zeit verbrachte ich in der Sprachschule. Wohl hatte ich ab und an Kontakt mit Indern, aber doch nicht genug, als dass ich ausreichend Bescheid über alles wusste. Bei der Jährlichen Konferenz in Delhi 1954 waren Lilly Swords und Hildegard zwei Bezirken des Batala-Distriktes zugeteilt worden. Hildegard freute sich sehr auf die Arbeit, denn nun werde ich nicht mehr ganz so unproduktiv zu sein brauchen, auch wenn es noch manches zu lernen gibt. Leider müssen wir noch immer außerhalb unserer Arbeitsgebiete wohnen (nämlich in Amritsar, ca. 35 km entfernt), da wir kein eigenes Grundstück dort haben, auf dem wir unsere eigenen Häuser bauen können. Nun scheint dies aber ein Ende zu haben, denn in der vorigen Woche wurde nach dreijährigen Verhandlungen ein Landkauf getätigt und so hoffen wir, recht bald bauen zu können. Das wird uns dann viel Zeit, die wir jetzt als Anfahrtszeit brauchen, ersparen. Und es ist viel besser, wenn man inmitten der Leute wohnt, mit denen man arbeitet. Neben den Wohnhäusern, einer Schule mit einem Internat, einer Kirche und dem Pastorshaus soll auch eine Schule gebaut werden für etwa 300 Kinder. 33
Das Bemühen um diese Arbeit hatte Lilly Swords schon sieben Jahre beschäftigt, Hildegard machte das Projekt nun auch zu ihrer Sache.
In der Leprakolonie Es war an einem Sonntagabend im November. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, spürten wir die Hitze des Tages noch sehr stark. Die Christen des Ortes gingen zum Abendgottesdienst in die Kirche. Der Gottesdienst wurde an diesem Sonntag von einem Missionar gehalten, auf dessen Gesicht ein tiefer Ernst lag. In dem Gebet, das er nach dem Eingangslied sprach, verstärkte sich die Vermutung, dass er ein ungelöstes Problem mit sich herumtrug. Vor der Predigt erzählte er dann, was er einige Stunden zuvor erlebt hatte: „Ich musste heute nachmittag einem immer stärker werdenden Drang folgend in die Leprakolonie fahren. Mit den meisten Kranken bin ich dort gut bekannt, weil ich mindestens einmal in der Woche dort bin. Als ich mich mit den Kranken unterhielt, merkte ich, wie sie von einer schwer zu unterdrückenden Erregung und Unruhe erfasst waren. Erst durch wiederholtes Fragen erfuhr ich, dass einer der Kranken, der jahrelang mit ihnen zusammengelebt hatte, die Kolonie bis spätestens zum nächsten Morgen zu verlassen hatte. Sein ganzes Eigentum, das er mit seiner Familie besaß, sollte Allgemeinbesitz des Lepradorfes werden. Auch für seine Frau und seine Kinder, die im angrenzenden Dorf wohnten, galt diese Ausweisung. Was hatte dieser Mann Unrechtes getan? Unter den Kranken, die isoliert von den anderen Bewohnern außerhalb der Dörfer wohnen müssen, besteht seit Generationen ein ungeschriebenes Gesetz, dass sich alle Einwohner dieser Kolonie den Bestimmungen und Anordnungen des Oberhauptes bedingungslos unterzuordnen haben, andernfalls werden sie als nicht mehr zur Gemeinschaft gehörig betrachtet und ausgewiesen. Nun hatte man zu einer religiösen Feier mit bestimmten Zeremonien und Opfern jeden verpflichtet, daran teilzunehmen. Dieser Mann aber entgegnete darauf: ,Nein, das kann ich nicht und das tue ich nicht. Ich bin ein Christ und möchte von diesen Handlungen befreit werden.‘ Davon wollte aber niemand etwas wissen. Seine Freunde versuchten ihn zur Teilnahme zu überreden, denn es gehe doch nur um 34
Formalitäten. Als er das entschieden ablehnte, kamen andere, die warnten und drohten, dass er bei Nichtbefolgung all sein Eigentum verlieren und samt seiner Familie ausgewiesen würde. Selbst diese harte Drohung konnte ihn in seinem Entschluss nicht wankend machen. Zur festgesetzten Zeit waren alle erschienen außer diesem einen entschiedenen Christen. Nach Beendigung der Opferfeier traten die Verantwortlichen der Kolonie zu einer Beratung zusammen, denn bei den meisten hatte das Fernbleiben dieses Mannes eine große Entrüstung hervorgerufen. Sie forderten Verwirklichung der Drohung, und schon nach kurzer Zeit wurde das Urteil laut verkündet, dass er und seine Familie unter Zurücklassung allen Eigentums diesen Ort und die Gemeinschaft innerhalb von 24 Stunden zu verlassen hätten. Nun kamen seine Freunde und baten mich um Hilfe für ihn. Einige taten das sicherlich unter dem Druck ihres Gewissens, weil sie sich ebenfalls Christen nannten, aber bei dieser Versuchung nicht stark genug waren, zu widerstehen. Was konnte ich in dieser Situation tun, ohne jemanden in Gefahr zu bringen?“ Die ganze Gemeinde war von dem Gehörten tief ergriffen. Nach dem Gottesdienst bildete sich eine Gebetsgemeinschaft, die nicht nur Hilfe für den Mann und die Familie erbat, sondern die zugleich um Weisheit bat, in dieser Schwierigkeit das Richtige zum Wohl aller zu tun. Nach längerem ernsten Ringen stand jemand auf und sagte: „Wie denkt ihr, wenn wir den Mann und seine Familie nicht in unseren Schutz oder in den der Mission nehmen, sondern den Schutz des indischen Staates erbitten. In Indien ist die Religionsfreiheit proklamiert, d. h. niemand darf aufgrund seiner Glaubensüberzeugung geminderte Rechte oder Nachteile haben. Und weil in diesem Fall eine religiöse Frage zugrunde liegt, wird der indische Staat bestimmt eingreifen und das Rechte tun.“ Wir atmeten alle auf. Gleich darauf gingen einige von uns auf die nächste Polizeistation und brachten die Sache vor. Von offizieller Stelle wurde uns Klärung der Lage und Schutz für die Betroffenen versprochen. Als der Mann am nächsten Morgen mit seiner Familie ausziehen wollte, bekam er den Bescheid von der Polizei, dass er bleiben sollte, bis sie selbst kommen und die Sache klären würde. Staatlicher Schutz im Falle weiterer Schwierigkeiten wurde zugesichert. Über die plötzliche Veränderung der Lage waren alle sehr überrascht und viele 35
froh und dankbar. Das persönliche standhafte Zeugnis eines unerschrockenen Christusnachfolgers hatte einen großen Eindruck hinterlassen, der sich mehr und mehr auf die ganze Gemeinschaft in der Kolonie ausbreitete. Und als sie dann auch von der Erhörung der Gebete erfuhren, wurde das der Anfang für viele, nach der Kraft zu fragen, die zu solcher Standhaftigkeit befähigt. Missionare und Christen aus der Kolonie hatten nun viel Gelegenheit, den Weg zu dieser Kraftquelle, die Christus heißt, zu weisen.
Erkrankung und ein neuer Dienstort Ende des Jahres 1954 erlitt Hildegard einen schweren Rückfall und konnte erst nach Wochen im Krankenhaus nach Amritsar zurückkehren. Durch die Krankheit waren ihre Augen so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, dass sie einige Zeit weder lesen noch schreiben konnte. Nach Deutschland drang das Gerücht, Hildegard sei völlig erblindet, doch konnte sie dies in ihren Briefen widerlegen. Die Krankheit stellte ihre Geduld erneut auf eine harte Probe: Es brennt mir fast in meinen Händen und unter den Füßen, um in die volle Arbeit zu steigen. Sie konnte nach ihrer Genesung mit Lilly Swords weitere Besuche auf den Dörfern machen und berichtete im März 1955 nach Deutschland von den wirtschaftlichen Entwicklungen in Indien und den Auswirkungen ihrer wegen der Rekonvaleszenz noch sehr beschränkten Arbeit. Indien ist in unserer modernen Welt wohl eines der wenigen Länder, in dem es mit Riesenschritten vorwärts geht. Der Punjab, der nördlichste Teil Indiens, steht damit an der Spitze. Wenn wir um diese Jahreszeit durch das Land fahren, dann gleitet unser Auge über weite grüne, fruchtbare Flächen mit Weizen, Zuckerrohr, Reis, Baumwolle, stellenweise auch Gemüse und Kartoffeln. Wir überqueren breite Kanäle, denen wir ansehen, dass sie erst seit einigen Jahren existieren, wir sehen Arbeiter, die neue Kanäle graben oder große, breite Straßen anlegen. Als ich nach Monaten durch bekannte Ortschaften fuhr, musste ich feststellen, dass sich auch hier das altgewohnte Bild geändert hatte: Mindestens ein oder zwei stabile Gebäude ragten aus den 36
niederen grauen Lehmhütten hervor, die im Gegensatz zu diesen aus roten Ziegeln gebaut waren. Das sind die neuen Schulen, die, von der Regierung gebaut, wie Pilze aus der Erde schießen und mehr Kindern die Möglichkeit geben, wenigstens die Grundlagen einer Schulbildung zu erhalten. Trotz dieser großen Bemühungen wird es aber noch Jahre dauern, bis die gesamte Bevölkerung, besonders in den Dörfern, davon erfasst ist. Der noch junge sozialistische Staat Indien hatte damals den ersten von drei Fünfjahresplänen aufgelegt. Dieser erste Fünfjahresplan (1952–1956) galt vor allem der Nahrungsmittelproduktion und war ein großer Erfolg. Fünf Sechstel der damaligen Bevölkerung (1955: ca. 360 Mio., 2005: 1,2 Mrd.) galten als Analphabeten. Alphabetisierung gehörte auch zu den Aufgaben der Missionarinnen in den Dörfern. Dabei stießen sie nicht überall auf begeisterte Zustimmung, sondern mussten häufig lange Überzeugungsarbeit leisten, welche Vorteile man vom Lesen und Schreiben hatte. Von christlicher Seite wurde vor allem großes Gewicht auf den Unterricht für Frauen gelegt, weil die Frauen in der Gesellschaft als nicht vollwertig galten. Auch Lilly Swords und Hildegard Grams hatten hier einen Schwerpunkt: Die Frau des Superintendenten hatte erzählt, dass sie in einem Dorf eine Lesegruppe für Frauen angefangen hatte. Wir wollten nun sehen, wie weit sie vorangekommen waren. Sobald die Frauen davon hörten, eilten sie in alle Richtungen davon, um ihre Lesebücher zu holen. Jetzt sprühten sie nur so vor Eifer und Begeisterung. Die Freude war spürbar, dass sie zu etwas fähig waren, das mehr als nur tägliche Hausarbeit und Kinderwarten war. Eine ganz neue Welt schien sich vor ihnen aufzutun, die sie nicht ausschloss, sondern einbezog. Ich habe Frauengruppen gesehen, in denen ganz einfache Frauen aus den untersten Kasten auf diese Art und Weise schreiben und lesen gelernt haben. Nun können sie, wenn auch mit größter Mühe und Anstrengung, aus ihrer eigenen Bibel lesen. Selbst wenn es nur sehr langsam und unter Stottern geschieht, sind sie froh, dass sie die Worte ihres Meisters Jesus Christus selbst lesen können. Diese Frauen brauchen nicht besonders genötigt zu werden, an Bibelstunden oder anderen Veranstaltungen teilzunehmen, weil sie sich als Teil des Ganzen betrachten und in ihrer Bibel die Stellen nachschlagen und lesen können. 37
Seit dem Sommer 1954 hatte Hildegard ihre Sprachstudien in Landour fortgesetzt, um das zweite Sprachexamen abzulegen. Doch es ging ihr nicht wirklich gut. Die Ärzte sagten ihr klipp und klar, sie könne wegen der mangelnden Hygiene und der schlechten äußeren Bedingungen nicht in den Dörfern wohnen und arbeiten. So war für Hildegard die Tätigkeit, die sie als ihren Auftrag angesehen und für die sie bereits eine Dienstzuweisung hatte, zunächst einmal ausgeschlossen, und es galt, einen neuen Weg zu finden. Die Ungewissheit über ihren Weg und der Abbruch der begonnenen Arbeit in Amritsar und Batala waren nicht leicht zu verkraften. Als sie in einer kirchlichen Zeitschrift etwas über die methodistische Kinderkrippe (Baby Fold) in Bareilly las, die in der Nähe eines Missionskrankenhauses lag, erschien ihr das als möglicher Ausweg: unter ärztlicher Aufsicht und Behandlung zu arbeiten und nicht den schwierigen Verhältnissen in den Dörfern ausgesetzt zu sein. Sie selbst wollte keine Initiative für eine Veränderung ergreifen, sondern betete darum, dass Gott ihr einen klaren Weg zeigen möge. Eines Tages besuchte Lilly Swords Hildegard in Landour und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Diese erzählte Lilly von ihren Überlegungen und von dem Artikel über Bareilly. Lilly Swords ermutigte Hildegard zu diesem Weg, aber Hildegard bat sie, mit dem Bischof – der Hildegard einen Arbeitsbereich zuweisen musste – nicht darüber zu sprechen, denn Gott werde das schon selbst regeln. Einige Zeit später wiederholte Lilly Swords ihren Besuch in Landour, nachdem sie in Delhi beim Bischof gewesen war. Sie legte eine kleine Beichte ab: Der Bischof hatte sich bei ihr nach Hildegard, von deren Krankheit er wusste, erkundigt. Da konnte Lilly trotz des Schweigeversprechens nicht anders, als von dem Gespräch mit Hildegard zu erzählen und auch die Kinderkrippe von Bareilly für Hildegard vorzuschlagen. Hildegard konnte Lilly nicht böse sein. Einige Tage später kam denn auch ein Brief von Bischof Pickett, in dem er vom Besuch Lilly Swords und dem Gespräch über Hildegard berichtete. Ob sie sich vorstellen könne, in Bareilly zu arbeiten? Hildegard empfand dies als eine klare Führung und sah ihren neuen Platz im Kinderheim in Bareilly in der Provinz Uttar Pradesh, 600 km und 13 Bahnstunden von 38
Amritsar entfernt, 120 km südöstlich von Delhi. Sie freute sich auf diese Aufgabe, denn sie hatte immer gern mit Kindern gearbeitet. Aber sie hoffte, dass es sich nur um eine vorübergehende Versetzung handelte. Sie sollte zunächst für ein Jahr in Bareilly arbeiten. Dann plante sie, wieder in den Punjab zurückzukehren und Missionsarbeit auf den Dörfern zu machen. Auf ärztlichen Rat blieb sie noch bis September 1955 in Landour und schloss ihre Sprachstudien mit dem zweiten Sprachexamen ab. Die neue Dienstzuweisung für Bareilly brachte es mit sich, dass sie gleich noch eine weitere Sprache lernen musste, denn in Bareilly/Uttar Pradesh wurde Hindi, nicht Punjabi, gesprochen. Hildegard hoffte sehr, dass diese Sprache nicht ganz so schwierig sein würde wie Punjabi. Über ihre bestandene Sprachprüfung mit ausgezeichneten Resultaten freute sie sich sehr. Nun würde sie aber mindestens ein Jahr lang das gerade Erlernte nicht gebrauchen können. Die Reise nach Bareilly im Herbst 1955 war durch riesige Überschwemmungen in Nordindien behindert. 45 Millionen Menschen waren betroffen. Hildegard konnte nicht weg: Statt an meinen neuen Arbeitsplatz nach Bareilly zu fahren, sitze ich nun hier in Ludhiana und kann nicht fort, weil durch die Überschwemmungen der ganze Verkehr lahmgelegt ist, auch der Eisenbahnverkehr. Die Zeitungen teilen mit, dass Amritsar vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten ist und sich das Wasser in der Breite von 8 km erstreckt. Eisenbahnbrücken sind zerstört, und keiner weiß, wann der Verkehr wieder aufgenommen werden kann. Unzählig sind die eingestürzten Häuser. Es ist ein erschütterndes Bild zu sehen, wie die Menschen mit ihren kleinen Bündelchen unter dem Arm Obdach suchen und es so schwer finden. Selbst in unserem Missionsanwesen war kaum ein Zimmer, in dem es nicht durchregnete. Was kann man da von den Lehmhütten erwarten! Im Krankenhaus standen die Schwestern teilweise 20 cm und mehr im Wasser. Die Kinder im Heim waren für die erste Nacht und den folgenden Tag in dem einzigen trockenen Zimmer der Leiterin untergebracht, bis es dann auch dort durchregnete. Mehr als 150 Menschen fanden Unterschlupf in der Kirche, obwohl auch dort kaum ein trockenes Plätzchen zu finden war. In der Aula des Colleges wohnten über 700 Menschen. Ein ganz be39
sonderes Problem war die Essensfrage. Und doch, „sie wurden alle satt“. Von medizinischer Seite wird alles getan, um Epidemien zu verhindern, die nach solchen Katastrophen häufig auftreten. Ganz hervorragend arbeiten Regierung und Mission zusammen, um so schnell wie möglich zu helfen. Dafür sind wir sehr dankbar, zeigt es doch eine stillschweigende Anerkennung der geleisteten Arbeit. Es dauerte Wochen, bis das normale Leben in der Stadt wieder funktionierte. Die Schäden durch das Hochwasser, die eingestürzten oder beschädigten Häuser, waren noch lange sichtbar. Nach drei Wochen konnte Hildegard endlich nach Bareilly fahren.
Im Missionskrankenhaus Vor wenigen Wochen hier in einem Missionskrankenhaus in Indien geschah es, dass ein junges Mädchen aus einer Familie der reichsten, angesehensten Hindukaste zu einer Rückgratoperation eingeliefert wurde. Sie hatte wie viele andere nur sehr unklare Vorstellungen vom Christentum. Die letzten Tage vor ihrer Operation brachten sie in Kontakt mit der Missionarin. Das Mädchen hörte sehr aufmerksam die Botschaft von Christus zum ersten Male und spürte, dass eine Kraft davon ausging. Sie bat um die Begleitung der Missionarin zur Operation. Als sie bereits auf dem Operationstisch lag, bat sie die Missionarin flehentlich, sie möge ihr ein Bhadjen (geistliches Lied) vorsingen. Diese erfüllte diesen Wunsch, schon halb im Unterbewusstsein sagte das Mädchen: „Nun beten Sie bitte noch mit mir.“ Die stundenlange, schwierige Operation verlief gut, und als das Mädchen wieder aufwachte, saß die Missionarin am Bett. Das Mädchen, noch halb benommen, lächelte und flüsterte: „Oh, das war so wunderschön!“ Sie erzählte: „Ich habe erlebt, dass der Herr Jesus zu mir gekommen ist. Er hat seine Hand auf meinen schmerzenden Kopf gelegt und zu mir gesagt: ,Hab keine Angst, sei ganz zuversichtlich. Du wirst bald gesund werden.‘ Er war kein Traum, denn ich habe die zarte Berührung seiner Hand ganz deutlich gespürt. Ich bin so glücklich, dass ich das erleben durfte.“ Die Missionarin fragte den Arzt, ob sich während der Operation irgendwelche besonderen Symptome gezeigt hätten. Er erwiderte, von allen Patienten, die er in letzter Zeit operiert habe, sei dieses Mädchen am ruhigsten und entspanntesten gewesen. 40
Dies Erlebnis war für das junge Mädchen tief ergreifend. Immer wieder erwähnte sie, wie die Hand Jesu sie völlig verändert, ihr Kraft, Ruhe und Frieden vermittelt habe. Ihre Heilung machte sehr gute und erstaunlich schnelle Fortschritte. Niemand kann jetzt schon die Folgen dieses Erlebnisses absehen. Das wird sich erst zeigen, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen ist und wieder mit ihrer Familie leben wird. Wendet sie sich total zu Christus hin, dann wird wahrscheinlich eine harte Zeit für sie persönlich anbrechen. Religiöse Schwierigkeiten und Nichtübereinstimmung können zu einer völligen Trennung von ihren Angehörigen führen. Sie wusste aber, welche Wolken sich am Himmel ihrer Zukunft zusammenballten, daher bat sie oft: „Beten Sie für mich.“
Im Kinderheim in Bareilly Bareilly spielte in der Geschichte des Methodismus in Indien eine zentrale Rolle. Von hier aus begann 1856 Dr. William Butler, gesandt von der amerikanischen Missionsgesellschaft, als Missionar der methodistischen Kirche unter schwierigsten Verhältnissen die Missionsarbeit in Indien. 1861 wurde in Bareilly die erste methodistische Druckerei gegründet, sie wurde später nach Lucknow verlegt. 1870 hatten ledige amerikanische methodistische Missionarinnen, unter anderen Isabella Thoborn, mit ihrer evangelistischen Arbeit in Indien begonnen und Schulen gegründet. In Bareilly befanden sich das nach der Gründerin benannte Clara Swain Hospital (1870 gegründet) mit 250 Betten und Krankenpflegeschule, das erste Krankenhaus für Frauen in Asien. Es gab das Theologische Seminar für die Ausbildung der Pastoren (North India Theological College, 1872 gegründet), die Missionsschule für etwa 470 Kinder mit Internat (Lane School, seit 1931), eine Ausbildungsstätte mit einem einjährigen Kursus in Kinder- und Gesundheitspflege für junge Mädchen sowie das Kinderwaisenhaus (Warne Baby Fold) für ungefähr 35 Kinder bis zu 6 Jahren. Dieses Kinderwaisenhaus war 1919 aus einer großen Not heraus entstanden, als bei einer Grippe-Epidemie viele Kinder 41
ihre Eltern verloren hatten. Zuerst nahm eine provisorisch eingerichtete Abteilung im Krankenhaus die elternlosen Säuglinge auf. Die zunächst nur vorübergehend geplante Hilfe musste bald neu organisiert werden, denn inzwischen befanden sich 66 Babys in der Obhut der Klinik. So wurde 1925 das Kinderwaisenheim von dem beliebten Bischof Warne eingeweiht und nach ihm benannt. Als Hildegard nach Bareilly in den Baby Fold kam, lebten dort 35 Kinder. Sie wurden von zwei ausgebildeten indischen Kinderschwestern mit Unterstützung der zehn Mädchen, die den Kurs für Kinder- und Gesundheitspflege besuchten, betreut. Die Leitung lag in den Händen der amerikanischen Missionarin Maude Nelson. Hildegard sollte sowohl mit den kleinen Kindern wie auch mit den 14- bis 18-jährigen Mädchen arbeiten. Diese erhielten in dem einjährigen Kurs viele nützliche Kenntnisse für den späteren eigenen Haushaltsalltag. Der Mütterschulungskurs für Mädchen umfasste Säuglingspflege, Handarbeit, Haushaltsführung sowie Nachtdienst in den Schlafräumen der Kinder. Die Mädchen halfen im Kindergarten und bei der Säuglingspflege. Daneben wurde Bibelkunde unterrichtet, um den Mädchen eine Grundlage für ihre Mitarbeit in Kirche und Nachbarschaftshilfe zu geben. Nicht zuletzt war eine geistliche Bereicherung ihres Lebens beabsichtigt, damit sie den christlichen Glauben später auch fundiert weitergeben konnten. Für die meisten Mädchen war es die einzige Möglichkeit, sich auf Heirat und Familie vorzubereiten und sich vorher nochmals weiterzubilden. Die meisten Kinder im Heim waren Vollwaisen; dazu kamen Pflegekinder, deren Familien durch Krankheit oder Trennung der Eltern zerstört oder so belastet waren, dass die Kinder nicht bleiben konnten. Auch uneheliche Kinder, die als große Schande galten, wurden ins Heim gebracht, manchmal wurden die Babys einfach vor dem Haus ausgesetzt. Manche Kinder konnten später wieder zurück in ihre Familien gehen, die Waisen wurden in christliche indische Familien zur Adoption vermittelt oder gingen im Alter von sechs Jahren in die Missionsschule und wuchsen im angeschlossenen Kinderheim auf. Als Hildegard 42
gerade zwei Tage in Bareilly war, kam ein aufgeregter Mann zum Waisenheim und berichtete, er sei Eisenbahnführer und habe einen ausgesetzten Säugling unter einem Baum gefunden. Er beschloss sofort, diesen als seinen Sohn anzunehmen, da er keine Kinder hatte. Doch konnte er nicht selbst für das kleine Kind sorgen und brachte es daher ins Waisenhaus, damit es dort aufgezogen wurde, bis er es selbst zu sich nehmen konnte. Wer hätte zu solcher Bitte „nein“ sagen können? Wir dachten vielmehr an Jesu Wort: „Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“ Ich wünschte, Ihr hättet alle das stolze und frohe Gesicht sehen können, als der „Vater“ seinen „Sohn“ zu uns brachte. Und welche Freude war in unserem Haus, denn 34 Jungen und Mädel hatten ein Brüderchen bekommen. Die Schicksale der Kinder lehrten Hildegard viel über die indischen Verhältnisse und die Lebenspraxis der verschiedenen Religionen. Da war zum Beispiel Ruddha, deren Vater starb, noch bevor sie geboren war. Da hieß es in der Hindu-Familie: Die junge Mutter hat einen Fluch in die Familie gebracht. Sie musste zu ihren Eltern zurückkehren. Diese nahmen sie widerwillig – wegen des Fluches – auf, aber immerhin bis zur Geburt des Kindes. Das Neugeborene war „nur“ ein Mädchen, was wiederum als Fluch galt. Die Mutter musste auch dieses Haus verlassen, und wenn nicht ein christlicher Nachbar sich um das Kleine gekümmert und es an den Baby Fold vermittelt hätte, wäre das Baby wohl gestorben. Die kleine Shunila hatte ein ähnliches Schicksal, auch ihr Vater starb vor der Geburt. Da die Eltern jedoch Christen waren, wurde die Mutter nicht aus der Gemeinschaft entlassen. Das Kinderheim zog Shunila auf, bis ihre Mutter eine Berufsausbildung beendet hatte. Mirjam verlor ihre Mutter, und als ihr Vater wieder heiratete, bekam sie immer weniger zu essen. Der Vater wollte sie schützen und nahm sie tagtäglich in seinem Fahrradkorb mit. Das kleine Mädchen wurde krank und elend und wäre gestorben, wenn der Vater es nicht nach Bareilly gebracht hätte. Oder der schon 14-jährige Peter: Seine eigene Mutter hatte versucht, ihn zu vergiften, weil er sich zum Christentum bekannte, obwohl seine Eltern Moslems waren. Andere Kinder hatten ihre Eltern durch Aussatz oder Tuberkulose verloren. Manchmal starben auch die zur Kinderkrippe gebrachten Babys, weil sie krank und schwach waren. 43
Groß war die Freude, wenn für ein Kind ein neues Heim gefunden werden konnte. Weihnachten 1955 war für Hildegard das bisher schönste Fest in Indien, weil sie es mit Kindern feiern konnte: Die Vorbereitungszeit ist wirklich die schönste Zeit, denn wir bereiten nicht nur vor, sondern werden auch für das Kommende vorbereitet. Und beim Freudemachen kommt soviel Freude in unser eigenes Herz, dass man es gar nicht beschreiben kann. Mein Zimmer war der Treffpunkt für all die Mädchen, wann immer wir etwas Zeit abknapsen konnten, und besonders natürlich des Abends, wenn wir beim Kaminfeuer saßen und die Weihnachtslieder sangen: Die Mädchen in Hindustani und ich manche in Deutsch, denn sie lieben unsere deutschen Lieder. Ganz begeistert waren sie, wenn ich dazu mit der Gitarre spielte. Selbst unsere Kleinsten, die die Bedeutung noch nicht erfassen konnten, schienen viel fröhlicher dreinzuschauen. Ja, wir waren wirklich eine sehr fröhliche Familie, die das Fest der Liebe und Freude feierte. Wir hatten auch eine Aufführung eingeübt, die wir zum ersten Male bei der Weihnachtsfeier mit unseren Angestellten gaben. Wie waren die Gesichter alle gespannt und aufmerksam, mit den Augen und Ohren folgten sie den Worten und Handlungen, die die frohe Botschaft wiedergaben. Es waren nämlich nicht alle Christen, sondern darunter waren Moslems wie auch Hindus, die aber alle treu ihren Dienst in unserem Hause tun. Am ersten Weihnachtstag gaben wir unsere Aufführung des von mir selbst geschriebenen Stückes dann in der Kirche. Vielen konnten wir damit eine sehr große Freude machen. Das strahlende Gesicht unserer Kleinsten, die dabei mitmachten, zeigte, wie glücklich sie im Geben ihrer eigenen Kraft waren. Januar und Februar waren zwei sehr kalte Monate im sonst so heißen Bareilly. Da kam die Wolle aus Deutschland gerade recht, die von Hildegard zusammen mit den Mädchen abends am Kaminfeuer zu Pullovern und Jacken verarbeitet wurde. Die kleinen Kinder, die sonst immer barfuß liefen, mussten in dieser Zeit Strümpfe und Schuhe sowie wollene Kleidung tragen. Wegen der Kälte mussten die Kinder auch weitgehend im Haus gehalten werden, was gar nicht so leicht zu bewerkstelligen war. Nach dieser kurzen Winterzeit kletterte das Thermometer sehr schnell wieder auf über 30 Grad, so dass der zunächst noch wunderbar blühende Garten der Hitze nicht mehr lange standhalten konnte. 44
Die Kinder wurden Hildegard immer wieder zum Vorbild im Glauben: Von Tag zu Tag werden uns die Mittel geschenkt, die zur Aufrechterhaltung des Werkes nötig sind, und das ist nicht immer eine leichte Sache. Wie oft sind uns unsere Kinder eine Inspiration, wie sie so einfach froh in den Tag hineinleben, einfach vertrauen, dass für sie gesorgt wird. Und in ihrem kindlichen Glauben werden sie auch nicht enttäuscht. Das haben wir ja auch immer wieder erfahren. Durch die Zuwendung, die die Kinder im Kinderheim erfuhren, und das Erzählen von Jesus und seiner Liebe konnten auch bei schwierigen Kindern pädagogische Fortschritte erzielt werden. Je länger die Kinder im Heim waren, desto größer wurde ihre Ausgeglichenheit. Da war auch der 5-jährige Ohm, ein kleiner Tunichtgut, der zuhause geschlagen und herumgeschubst worden war, bevor er ins Heim kam. So schlug er häufig auch andere Kinder. Jeden Morgen unterhielt sich Hildegard mit ihm und betete mit ihm um ein neues Herz. Es war erstaunlich, wie nach und nach seine Unarten abnahmen. Doch dann erfand er etwas neues. Er begann, ein bestimmtes Mächen mit unglaublicher Treffsicherheit immer wieder auf den Kopf zu spucken. Alles Reden mit Ohm und alle Ermahnungen halfen nicht. Da erinnerte sich Hildegard an ein Buch, das vorschlug, mit schwierigen Kindern viel zu malen und auch zu beten. Diese Anregung wollte sie nun ausprobieren. Jeden Morgen nach dem Gebet durfte Ohm bei ihr im Zimmer malen. Recht bald malte er eine Figur, und auf Nachfrage nannte er den Namen des Mädchens, das er angespuckt hatte. Da fragte ihn Hildegard, was er mit Vera machen wolle. Ob er sie liebhabe? Er sah Hildegard an, verneinte und sagte, er wolle sie anspucken. Hildegard forderte ihn auf, das zu tun, worauf er sie ganz erstaunt anschaute, weil ihm das bisher verboten worden war. Doch dann fing er an zu spucken, bis ein richtiger See auf dem Papier mit dem Bild von Vera war. Dies wiederholte sich mehrere Tage, aber die Menge der Spucke nahm ab und auch die echte Vera wurde häufiger in Ruhe gelassen. Eines Morgens sagte Ohm, er wolle noch ein besonderes Papier haben, und malte wieder eine Figur, sehr vorsichtig, mit viel Hingabe und mit vielen schönen Farben. „Das ist der Herr Jesus!“ sagte er. Hildegard fragte ihn, was er mit dem 45
machen wolle. „Ich will ihn ganz toll liebhaben!“ Und warum? Er schaute Hildegard strahlend an: „Weil er mich so lieb hat“. Damit legte er das Bild zur Seite, und keiner durfte es anrühren. Hildegard war bewegt, wie ein kleiner Junge von der Liebe Jesu überwältigt worden war, es ganz klar ausdrückte und auch fortan in seinen Taten zeigte. Trotz aller Verpflichtungen gab es manche heiteren Ausflüge zusammen mit den Ärzten und Schwestern des Krankenhauses in Bareilly. Eines Tages war ein Elefantenritt in den Dschungel geplant. Gemächlich bewegten sich die riesigen Tiere mit mehreren Menschen auf dem Rücken durch den Wald. Hildegard bemerkte plötzlich, dass ihr Haarnetz verlorengegangen war. Sie rief dies jemandem zu, dachte aber nicht daran, deswegen umzukehren. Der Führer des Elefanten fragte nach dem Grund des Gespräches und sprach, als er von dem verlorenen Haarnetz erfahren hatte, mit seinem Elefanten. Dieser wendete daraufhin schwerfällig und ging den Weg zurück, bis er plötzlich bei dem Haarnetz stehen blieb, es mit dem Rüssel aufhob und seinem Führer reichte. Wer hätte gedacht, dass ein so großes Tier ein so kleines Ding wie ein Haarnetz finden kann? Im Frühjahr 1956 hatte Hildegard wieder mit Rückfällen ihrer Krankheit zu kämpfen und musste erneut ins Krankenhaus, das zum Glück in der Nähe war. Ihre Gitarre ermöglichte Hildegard eine Fortsetzung ihrer missionarischen Arbeit sogar als Patientin: Als ich im Krankenhaus war, habe ich natürlich meine Kleinen sehr vermisst, aber sie kamen oft, mich zu besuchen. Da ich meine Gitarre dort hatte, haben wir bei ihren Besuchen miteinander gesungen. Im Nu war unser Zimmer voll mit Schwestern, Ärzten und anderen Leuten, die lauschten und immer mehr hören wollten. Sobald ich aufstehen konnte, baten mich andere Patienten, ihnen doch auf der Gitarre zu spielen und zu singen. Viele schöne Stunden und Gelegenheiten des Zeugnisses für Christus hatten wir und konnten die Botschaft weitergeben an Menschen, die bisher wenig oder nichts von ihm gehört haben. Wenn ich meine Kleinen ab und zu in meinem Zimmer hatte, dann war das erste, was sie suchten, meine Gitarre. Und wie glücklich waren sie, wenn sie dann selbst ein wenig darauf spielen durften. Sogar der mich behandelnde Arzt, ein Inder, bat mich, ob ich 46
ihm nicht Unterricht geben würde. So gehe ich nun am Vormittag in seine Sprechstunde und am Abend kommt er zum Gitarrenunterricht. Er versucht alles, um bald eine eigene Gitarre zu bekommen. Ich kann gar nicht sagen, wieviel Freude ich schon mit meinem Instrument machen durfte. Außerdem bildete sich durch ihren Krankenhausaufenthalt ein Kindersingekreis, der unter Ärzten, Patienten und Helfern viel Segen stiftete. Ein erneuter Beweis, dass Gott Hildegard in jeder Lebenslage für seinen Dienst gebrauchen konnte. Als die Leiterin des Heimes, Maude Nelson, 1957 ein Urlaubsjahr in den USA antrat, übernahm Hildegard vorübergehend die Leitung. Die Verwaltungsarbeit brachte es mit sich, dass sie den Kindern nicht mehr so viel Zeit widmen konnte. Auch hatte sie mit finanziellen Schwierigkeiten und Personalknappheit zu kämpfen. So musste eine große Anzahl von Aufnahmegesuchen abgelehnt werden. Ein großes Ereignis war, als eine Frauengruppe von USA nach Bareilly kam und 200 Dollar für den Erwerb einer Kuh spendete. Nun war es einfacher, die Kinder mit Milch zu versorgen! Doch eines Tages starb die Kuh. Der Abdecker wurde gerufen, aber er weigerte sich, die Kuh mitzunehmen ohne einen Totenschein. Ein Totenschein für eine Kuh, das schien grotesk! Doch der Mann erzählte, dass er befürchtete, beim Abtransport der Kuh von den Leuten auf der Straße gesteinigt zu werden, weil die Kuh ein heiliges Tier ist! So musste Hildegard für die Kuh einen „Totenschein“ ausstellen und die geforderte Gebühr bezahlen, damit dem Abdecker nichts passierte. In Indien gibt es viele Hautfarben. Die beherrschende Meinung ist: Je heller, desto besser. So kam einmal ein weinender Junge zu Hildegard. Als sie ihn fragte, was passiert sei, erzählte er, ein anderer Junge habe ihn wegen seiner schwarzen Hautfarbe verhöhnt. Da sagte sie zu ihm: „Ach, du bist so süß wie Schokolade! Und Schokolade ist manchmal weiß und manchmal schwarz, aber sie ist süß, und das ist das Wichtigste! Du bist mein Schokoladenkind.“ Das sprach sich herum, und alle Kinder sagten nun: „Wir sind die Schokoladenkinder!“
47
Als die Leiterin des Heimes 1958 zurückkehrte, kam auch die Zeit des ersten Heimaturlaubs für Hildegard immer näher. Viele Fragen türmten sich auf. Wie würde der Heimaturlaub sich gestalten, worauf sollte Hildegard sich vorbereiten? Was würde nach ihrer zweiten Ausreise in Indien auf sie warten? Die Zeit in Bareilly mit den Kindern und den jungen Mädchen hatte weitreichende Gedanken und Pläne entstehen lassen. Hildegard meinte, dass die Arbeit mit den Mädchen ausgebaut werden und in die Kirche integriert werden müsste. Viele Fragen bildeten das Hauptgepäck für den Heimaturlaub. Hildegard fiel der Abschied schwer: Man verwurzelt ja so schnell mit einer Arbeit und mit Menschen, die man lieb hat. Darüber hinaus wissen wir ja, dass es eine Arbeit ist, in die uns Gott gerufen hat und so ist unser Dienst nichts mehr und nichts weniger als ein Gottesdienst im wahrsten Sinne des Wortes. Immer mehr erkenne ich das große Vorrecht, das wir haben und dafür bin ich auch von Herzen dankbar. Am 9. Mai 1958 verließ Hildegard Indien mit dem Schiff von Bombay aus. Am 21. Mai sollte sie in Neapel eintreffen und wollte von dort aus gemächlich durch Italien reisen, um sich ein wenig umzusehen. Mitte Juni war ihre Ankunft in Deutschland geplant. Sie schrieb vom Schiff aus: Obwohl ich nun schon seit drei Tagen auf dem Schiff bin, erscheint es mir wie ein Traum, dass ich mich wirklich auf meiner Heimreise nach Deutschland befinde und mehr als fünf Jahre Missionsdienst hinter mir liegen. Ich wünsche und hoffe, ich habe genügend Gelegenheit, vielen meiner Geschwister in Deutschland davon zu erzählen. Nach dem Aufenthalt in der Tropenklinik in Tübingen war der für eine Missionarin auf Heimaturlaub übliche, im Dienstvertrag festgelegte Reisedienst durch die Gemeinden mit Vorträgen und Missionsveranstaltungen zu ihrer Arbeit geplant.
48
Ordination und weitere Ausbildung in Deutschland Hildegard hatte in Bareilly mit den jungen Mädchen des Mütterschulungskurses gearbeitet und gesehen, wie wichtig diese Arbeit war. Es gab keine vergleichbare Schulung in Indien. Im Laufe der Zeit in Bareilly formte sich in ihr ein Plan, junge Mädchen nicht nur für den Ehe- und Haushaltsalltag auszubilden, sondern für eine christliche Arbeit mit Kindern im Heim oder eine Arbeit in einer Kirchengemeinde. In einer solchen Ausbildung sollten die Mädchen nicht nur praktische Kenntnisse wie Kinderpflege erhalten, sondern auch Pädagogik und Psychologie lernen. Die Mädchen sollten qualifiziert werden, die betreuten Kinder in den verschiedenen Entwicklungsstufen zu verstehen und richtig führen zu können. Bisher waren in den Heimen oder zur Kinderbetreuung meist unausgebildete, oft ältere Frauen oder Witwen eingesetzt, deren Arbeit sich angesichts der vielen Kinder fast ausschließlich auf das leibliche Wohl beschränkte. Hildegard sagte sich zudem: Wenn sie selbst weiter mit Kindern arbeitete, dann würde sie ungefähr 30 Kinder erreichen. Wenn aber beispielsweise zehn Mädchen pro Lehrgang sozialpädagogisch und theologisch ausgebildet würden und dann in Gemeinden, Dörfern und Institutionen wie Kinderheimen zum Einsatz kämen, dann könnte ein Schneeballeffekt entstehen und diese Mädchen könnten als Multiplikatorinnen für eine christliche Erziehung fungieren. Hildegard selbst wollte eine solche Ausbildung, die es in Indien nicht gab, in Bareilly organisieren und leiten, wo durch die Nähe zum Kinderheim praktische Erfahrungen besonders leicht zu erwerben waren. Die theologische Ausbildung und pädagogische Erfahrung für eine solche Ausbildung hatte sie. Aber ihr war klar, dass sie für diese Arbeit noch eine weitere Qualifikation mit Zeugnis brauchte, denn sie wollte in Indien eine Ausbildung mit anerkanntem Abschluss anbieten. Mit der Gemeinde in Bareilly und Kirchenvertretern hatte Hildegard ihr Vorhaben schon besprochen und war auf großes Interesse gestoßen. Mit diesen Plänen und Gedanken war Hildegard in den Heimaturlaub aufgebrochen.
49
Zuerst musste sie sich aber um ihre angeschlagene Gesundheit kümmern. Dass sie vollständig genesen würde, hatte Hildegard nie bezweifelt. Doch sie brauchte einen langen Atem. Zunächst verbrachte sie fast zehn Wochen in der Tropenklinik in Tübingen. Danach konnte sie wieder in Frankfurt im Predigerseminar wohnen und begann von dort aus ihren Reisedienst in die Gemeinden der methodistischen Kirche, um von ihren Erfahrungen zu berichten und Spenden für die Arbeit in Indien zu erbitten. Während einer dieser Gemeindeveranstaltungen bekam sie heftige Bauchschmerzen und wurde sofort ins Krankenhaus geschickt: Sie hatte eine Blinddarmentzündung. Nun lag sie erneut im Krankenhaus. Bei den dortigen genauen Untersuchungen stellte sich heraus, dass ein großes Stück von Hildegards Darm tot war. Die Ärzte sagten ihr, dass eine neuerliche Operation erforderlich sei, die das Ende ihrer Tropentauglichkeit bedeuten würde. Das war ein herber Schlag für Hildegard. Sie tröstete sich aber mit dem Wissen, dass Gott sie nach Indien berufen hatte und für sie sorgen würde. Da diese Operation nicht sofort durchgeführt werden musste, setzte Hildegard nach überstandener Blinddarmoperation ihren Reisedienst fort und bat alle Zuhörer ihrer Abende und die Leiterinnen der Frauenkreise, für ihre Gesundheit zu beten. Die Zeit bis zur geplanten nächsten Untersuchung in Frankfurt verging ohne gesundheitliche Probleme. Im September kam Hildegard wieder zu dem Arzt, der ihr den Befund der Untersuchung mitgeteilt hatte. Nach der neuerlichen Untersuchung fragte er erstaunt, was sie denn gemacht habe? Er habe dieses Mal nichts mehr gefunden, was man operieren müsste. Es war alles in Ordnung! Sie erzählte ihm von den vielen Gebeten. Gott hatte wieder einmal wunderbar geholfen und Hildegards Weg bestätigt. Der Weg zurück nach Indien war wieder offen. Wegen des Gesundheitszustandes wurde der Heimaturlaub verlängert. Hildegard konnte nach der Genesung ihren Reisedienst intensiver aufnehmen und stieß mit ihren Berichten und Bildern auf große Offenheit und Spendenbereitschaft, von der die Zeitschrift des Frauendienstes freudig berichtete: Die Herzen wurden warm bei den eindrucksvollen Schilderungen, und die Opferwilligkeit war über Erwarten groß. Einige Gruppen von Sonntagsschülern und 50
Erwachsenen übernahmen Patenschaften für Kinder im Waisen- und Säuglingsheim in Bareilly. Durch den freudigen Einsatz von Fräulein Grams hat das Missionsinteresse in den Gemeinden einen erheblichen Aufschwung erhalten, für den wir sehr dankbar sind! Auch für Hildegard selbst bedeutete das große Interesse der Zuhörer an ihren Vorträgen eine große Freude und Ermutigung: Es waren Monate des Gebens und Nehmens für mich, von denen ich nicht einen einzigen Tag missen möchte. In Briefen von Frauenkreisen, Sonntagsschulen, Jungscharen, Jugendkreisen und Einzelnen klingt das Echo der Vorträge nach. Sie haben den Aufruf zur Mitarbeit und Hilfe an dem Dienst in Indien aufgenommen und sehen damit einen Weg der direkten Verbindung nach Indien. Ihr könnt euch denken, welche Freude ich dabei empfinde, vor allen Dingen, wenn wir dadurch unseren Kindern in unserem Kinderheim in Indien helfen können, die der Hilfe wirklich dringend bedürfen. So wird durch die Patenschaften ein ganz persönliches Verhältnis von Ihnen als Müttern und Geschwistern in Deutschland zu unseren Schokoladenkindern in Indien geschaffen. Durch die Reisedienste entstanden viele persönliche Kontakte, die lange bestehen blieben, vor allem auch zur damaligen DDR, wo Hildegards Familie lebte und die Missionsfreunde trotz mancher Einschränkungen (Geld konnte nicht geschickt werden) ihre Unterstützung durch viele Pakete für die Kinder bewiesen. Den Rekord stellte eine Frau aus der DDR auf, die im Lauf der Jahre mehrere Tausend Pakete für Indien gepackt und verschickt hat. Durch Briefe blieb Hildegard auch während der Zeit in Deutschland in Verbindung mit ihren Freunden in Indien. Im Herbst 1959 war in der Zeitschrift des Frauendienstes über einen Diebstahl zu lesen: In einem der Briefe von Bareilly musste ich nun lesen, dass von dieser Kirche, die auch die Kirche unserer Kinder ist, die Glocken gestohlen wurden. Wie dies im Einzelnen geschehen ist, weiß niemand. Aber die christliche Gemeinde, unsere methodistischen Brüder, Schwestern und unsere Kinder trauern um ihre Glocken, die eine so viel größere Bedeutung haben als bei uns in Deutschland. Nur wenige Menschen in Indien haben eine Uhr. Zum Teil, weil es für sie eine Geldfrage ist, zum anderen aber auch, weil sie sie nicht so dringend brauchen. Indien ist ja ein Land, in dem alles und alle viel, 51
viel Zeit haben. Sie leben mehr nach den Zeichen der Natur, nach dem Aufgang, Untergang und Stand der Sonne. Aber der Sonntag ist ein besonderer Tag. Da klingt bereits am frühen Morgen wie auch am Abend, über das Flachland weithin schallend, das Glockengeläute. Dann wissen unsere Christen: Jetzt müssen wir uns fertig machen, um zum Gottesdienst zu gehen. Und für die Nichtchristen rufen die Glocken als die Stimme Gottes: „Kommet her zu mir alle.“ Da fragten einmal unsere Kinder: „Was sagt die Glocke? Warum läutet sie denn?“ Ich erzählte ihnen, dass die Glocke die Menschen ruft, zur Kirche zu kommen, weil der Herr Jesus ihnen viel sagen möchte. Als die Glocken beim nächsten Mal läuteten, sagten gleich einige Kinder: „Die Glocke ruft: Ihr Leute kommt!“ Ein kleiner Junge aber sagte sehr nachdrücklich: „Sie ruft auch: Ihr Kinder kommt! Ihr Kinder kommt!“ Von der Zeit an brach es fast wie ein Sprechchor los, wenn die Glocken zu hören waren: „Die Glocke ruft alle Leute. Die Glocke ruft die Kinder. Die Glocke ruft auch uns!“ Und nun ist keine Glocke mehr da. Auch unsere Kinder im Kinderheim warten vergeblich auf den Glockenklang. Ob sie noch lange warten müssen? Nein, sie mussten nicht allzu lange warten, denn die methodistischen Frauen in Deutschland sammelten für eine neue Glocke. Nach einiger Zeit konnte Hildegard in einer Karlsruher Glockengießerei die Glocke bestellen und sogar beim Glockenguss im November 1959 dabei sein! Große Freude herrschte in Bareilly, als die Glocke nach langer Reise dort eintraf. Im Juni 1959 erlebte Hildegard eine ganz besondere Stunde. Sie wurde von der Nordostdeutschen Jährlichen Konferenz, aus der sie stammte, in der Christuskirche in Berlin-Schöneberg ordiniert. Dies war das erste Mal in der Geschichte der Bischöflichen Methodistenkirche in Deutschland, dass eine Frau ordiniert wurde. Es war eine so ungewöhnliche Sache, dass Bischof Dr. Friedrich Wunderlich persönlich in der Kirchenzeitung folgende Erklärung dazu abgab: In anderen Ländern der Erde, in denen unsere Kirche arbeitet, ist eine solche Ordination seit Jahren nichts Außergewöhnliches. Die Nordostdeutsche Jährliche Konferenz hat auf ihrer Tagung in Berlin damit nur den Anschluss an den weltweiten Methodismus auf diesem Gebiet hergestellt. Die Ordination wird manchmal missverstanden als 52
eine Ehrung, die besonders verdienten Laienpredigern nach soundsovielen Dienstjahren „zusteht“. Das wäre ein Missbrauch der in unserer Kirchenordnung gegebenen Möglichkeiten der Ordination. Diese kann lediglich aus der unabweisbaren Notwendigkeit des Dienstes heraus verstanden werden. Das wird deutlich in dem Einsegnungsgebet. Dort heißt es: „Der Herr verleihe Dir den Heiligen Geist zu dem Dienst und Amt eines Ältesten in der Kirche Gottes, welches Dir nun durch Auflegung unserer Hände von der Kirche anvertraut wird. Sei getreu in der Verkündigung des Wortes Gottes und in der Verwaltung seiner heiligen Sakramente.“ Die Ordination unserer Schwester wurde von ihrem Missionsfeld Indien her als unabweisbare Notwendigkeit empfunden. Die Frauen haben in diesem Land bahnbrechende Missionsarbeit geleistet. Sie hatten die Möglichkeit, das Wort Gottes zu verkündigen da, wo es keinem Mann möglich gewesen wäre. Es ist ein neues Indien, in dem heute Missionsarbeit getan wird. Die unübersteigbaren Schranken zwischen Mann und Frau sind gefallen. Der Lebensraum der Missionen hat sich erweitert. Die Männer allein können die großen Möglichkeiten nicht ausnützen; sie rufen ihre Schwestern zu Hilfe. So ist es zu verstehen, dass an der letzten Generalkonferenz in Minneapolis 1956 gerade die farbigen Brüder aus Indien flehentlich darum baten, den Frauen die gleichen Möglichkeiten zu geben wie den Männern, Missionsarbeit in vollem Umfang zu tun. Von Indien her wurden wir gebeten, Hildegard Grams zu ordinieren. Der dortige zuständige Bischof hätte es natürlich auch selbst gern getan. Es lag aber nahe, den deutschen Bischof um die Ordination zu bitten, da Hildegard Grams gerade auf Urlaub in Deutschland ist und die Konferenz in Berlin stattfand. Hier begann Hildegard Grams nach dem Kriege inmitten der Ruinen in der Tilsiter Straße ihre tapfere und unermüdliche Arbeit als Laienmitarbeiterin. Die Prediger der Nordostdeutschen Konferenz gaben einmütig und freudig die Empfehlung zur Ordination. Es war herzbewegend zu sehen, wie liebevoll und herzlich unsere Berliner Frauen und Mädchen ihrer Mitschwester unter der Kirchentür Gottes Segen wünschten. Hildegard Grams war nicht ausgezeichnet worden. Sie ging lediglich in Demut und Gehorsam den Weg des Dienstes, in den Gott sie selbst gestellt hat. Immer häufiger wurde an Hildegard inzwischen die Frage gerichtet, wann sie denn wieder ausreisen wolle, einige glaubten, 53
sie sei schon wieder auf dem Wege nach Indien. Doch sie musste noch ihre sozialpädagogische Ausbildung in die Wege leiten, zudem war die Tropentauglichkeit noch nicht ganz wiederhergestellt. Mit dem für sie zuständigen Bischof in Indien sowie mit Frau Scholz, der Leiterin des Frauendienstes, von dem sie ausgesandt worden war, hatte sie bereits darüber gesprochen. Nun konnte sie Anfang 1960 den Leserinnen der Zeitschrift des Frauendienstes folgendes mitteilen: Noch als ich in Indien war, hatte ich als eines der Ziele für meinen Urlaub, dass ich etwas dazulernen möchte, was ich dann wieder auf dem Missionsfeld weiter verwenden könnte. In den letzten Wochen des vergangenen Jahres hat sich nun ein ganz konkreter Weg dafür gezeigt, der aber ganz anders ausfällt, als wir gedacht hatten: eine Ausbildung auf sozialpädagogischem Gebiet, die allerdings ab Oktober 1960 zwei Jahre beanspruchen wird. Als ich davon hörte, war meine erste Reaktion: Nein, das geht nicht, so lange kann ich nicht fortbleiben. In einem Gespräch darüber sagte jemand: „Ja, sehen Sie denn nicht deutlich in allem Gottes Weg mit Ihnen?“ Doch, den sehe ich wohl, und darum konnte ich auch nicht anders als ja sagen. Meinen Weg im Gehorsam zu gehen, soll ja über meinem ganzen Leben stehen. Die reguläre Ausbildungszeit dauert sonst viel länger. Aber dank des Verständnisses, der Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der entsprechenden Schulleitung, wie auch des Kultusministeriums für unsere Missionsarbeit, ist sie für mich verkürzt worden. So werde ich in den nächsten Monaten ein Praktikum in Kindergarten und Hort machen, daneben mir die theoretischen Kenntnisse verschaffen, die als Voraussetzung für die theoretische und praktische Ausbildung im Oktober notwendig sind. Durch das Abschlussexamen werde ich dann in Indien bessere und mehr Möglichkeiten haben zu helfen und zu arbeiten. Noch weint zunächst ein Auge, wenn ich an meine indischen Kinder und die Erwachsenen denke, die ich vorerst nicht sehen werde. Aber das andere Auge lacht doch, wenn ich daran denke, dass ich dieses Studium auch für sie tue, um später besser mit ihnen arbeiten zu können. Die Suche nach einem passenden Ausbildungsplatz hatte sich in der Tat zunächst schwierig gestaltet. Hildegard wollte die Ausbildungen zur Kindergärtnerin und zur Hortnerin, wie es damals hieß, kombinieren. Doch bei einer evangelisch-diakoni54
schen Ausbildungsstätte, wo sie eine gute Möglichkeit sah, wurde sie zu ihrem großen Ärger mit fadenscheinigen Gründen abgewiesen. Im Frankfurter Telefonbuch – sie wohnte immer noch im Predigerseminar – fand Hildegard dann die EllaSchwab-Schule, eine staatliche Ausbildungsstätte für Sozialpädagogik. Sie rief dort an und war auf ein Nein gefasst, die Leiterin aber lud sie zu einem Gespräch ein. Zunächst erfolgte wieder eine Ablehnung ihrer Pläne, denn die Ausbildung sei nicht kirchlich oder christlich. Aber Hildegard ließ nicht lokker, denn sie brauchte ja keine religiöse, sondern eine fachliche Ausbildung! Da versprach die Leiterin, einen Studienplan zu erstellen und jeden Samstag mit ihr inhaltlich zu arbeiten. Sie schlug Hildegard vor, die Ausbildung zur Jugendleiterin zu machen, weil sie damit die beiden anderen Ausbildungen kombinieren könnte. Dieser Kurs würde im Herbst anfangen, dafür würde sie eine Genehmigung vom Kultusministerium benötigen, da ihr die Ausbildungsvoraussetzungen – die Kindergartenausbildung sowie praktische Erfahrung – fehlten. Es würde zwei Jahre dauern! Hildegard zögerte, abgeschreckt von der unerwartet langen Dauer. Das Gespräch wurde vertagt. Frau Scholz, mit der Hildegard darüber sprach, lehnte den Plan wider Hildegards Erwarten nicht ab, sondern sagte plötzlich: „Warum eigentlich nicht? Sie haben doch so viele Jahre vor sich, warum nicht?“ Sie riet Hildegard zu, diesen Weg zu gehen. Aber noch brauchte Hildegard die Einwilligung von der Schule und vom Kultusministerium. Letztere in Wiesbaden zu erhalten, war unproblematisch. So ging sie nach 14 Tagen wieder zur Direktorin der Schule und teilte ihr mit, dass sie die angebotene, auf sie zugeschnittene Ausbildung machen wolle. Die Direktorin hatte schon mit einer Zusage gerechnet, der Rest war Formsache. Nun konnte Hildegard die gewünschte sozialpädagogische Ausbildung, die mit allen Praktika ansonsten dreimal so lange gedauert hätte, in zwei Jahren durchziehen. Im Herbst 1962 konnte sie ihr Abschlussexamen als Sozialpädagogin ablegen. Sie hoffte, noch vor dem Winter ausreisen zu können, sobald die letzte ärztliche Untersuchung ihre Tropentauglichkeit bestätigt haben würde.
55
Doch nun kam ein gänzlich unerwartetes Hindernis ins Spiel: Hildegard bekam keine Aufenthaltsgenehmigung für Indien! Der indische Staat wollte keine christlichen Missionare mehr in das Land lassen. Es wurde alles in Bewegung gesetzt, von ihren Freunden in Indien und auch von Deutschland aus, aber es klappte nicht mit dem Visum. So stand Hildegard nun „auf Gottes Warteliste“, ohne zu wissen, wie lange! Wie also die unbestimmte Wartezeit überbrücken? Eines Sonntags sprach sie mit der Diakonisse im Predigerseminar, Schwester Esther Brückner, darüber, dass sie bis zur Ausreise gerne wieder wie schon einmal in Nürnberg im Krankenhaus arbeiten würde. Die Schwester dieser Diakonisse leitete ein Kinderkrankenhaus in Duvenstedt bei Hamburg. Hildegard konnte dorthin gehen und arbeitete im Krankenhaus mit. Hätte sie vorher gewusst, dass daraus zwei Jahre werden sollten, dann hätte sie auch noch die Prüfung als Kinderschwester ablegen können. Nach langem Warten und vielen Gebeten bekam sie endlich für 1964 das Visum! Als die Post kam und ich es wirklich in meinen Händen halten konnte, bewegte mich eine große Dankbarkeit gegenüber Gott und zugleich empfand ich das Bedürfnis, all den lieben Menschen, und besonders meinen lieben Schwestern landauf und landab im methodistischen Frauendienst für ihre treue Fürbitte zu danken. Für sie war der Erhalt des Visums ein Wunder, da es menschlich gesehen fast aussichtslos gewesen war, eine Einreisegenehmigung vom indischen Staat zu bekommen. Gleichzeitig war das Visum für sie selbst eine Glaubensstärkung und Gebetserhörung. Später beantragte Hildegard ihr Visum stets als Sozialpädagogin und nicht als Missionarin, damit es keine Probleme gab. Am 17. Oktober 1964 brach sie mit dem Schiff von Genua auf und nutzte die zweiwöchige Schiffsreise, um sich von Europa zu lösen und sich bewusst auf all das Neue einzustellen, was auf sie zukommen sollte: Ich wusste mich von vielen Gebeten begleitet und durch die Fürbitte vieler lieber Menschen getragen. So schwang in der Umstellung auf die neue Situation mit ihren Aufgaben eine große Freude mit. Ein besonderes Erlebnis für Hildegard war eine Unterbrechung der Seereise in Ägypten, wo sie vor den Pyramiden und der Sphinx stehen konnte: Ein überwältigender Eindruck von 56
menschlicher Macht vor mehr als 4000 Jahren! In der Bewunderung kam aber auch der andere Gedanke auf: Wenn menschliche Macht und Klugheit solche Werke und Baudenkmäler schaffen kann, um sich selbst unvergesslich zu machen, wieviel mehr ist doch unserem Gott möglich, der der Schöpfer und Erhalter aller Dinge und dabei doch unser Vater ist. Auf demselben Schiff wie Hildegard Grams reiste, wie sich erst später herausstellte, auch Mutter Teresa nach Indien. Hildegard hat es sehr bedauert, dass sie dieser außergewöhnlichen Frau nie persönlich begegnete.
Wieder in Batala Hildegard Grams traf am Reformationstag 1964 zum zweiten Mal in Indien ein. Zu ihrer freudigen Überraschung fühlte sie sich lange nicht so fremd wie 1953: Die Menschen in ihrer indischen Tracht, mit ihrer anderen Sprache und in ihrer anderen Lebensweise erschienen mir gar nicht fremd, sondern nur, als wäre ich lange Zeit weggewesen. Ehe ich es richtig merkte, kamen auch schon einige Worte des Hindustani wieder in meinen Sprachschatz. Ja, das bedeutete Freude für mich, dass ich mich so schnell wieder einheimisch fühlte. Von Bischof Pickett aus Delhi hatte sie eine Dienstzuweisung für Batala erhalten, sie kehrte also nicht wie zunächst erwartet in das Kinderheim in Bareilly zurück. In Batala war sie vor ihrer Erkrankung schon einmal stationiert gewesen. Lilly Swords, die sie damals in so feiner Weise eingeführt hatte, war noch dort. Hildegard sollte die Leitung des Hostels (Internat) übernehmen, das zu der methodistischen Missionsschule gehörte. So trat sie die lange Eisenbahnfahrt von Bombay nach Amritsar an, die so angenehm war, wie man sie in Indien haben kann: heiß und staubig. Sie hatte dabei das Gefühl, eine zweite Haut aus Staub und Schmutz zu bekommen und meinte, wenn es eine Steigerung von Schwarz geben könnte, so sei dies zutreffend für ihr Waschwasser gewesen. In Batala, wo gerade Distriktskonferenz war, wurde sie freundlich aufgenommen, viele Prediger sahen im Kommen Hildegards eine Erhörung ihrer Gebete. 57
Der Punjab (wörtlich: „Fünf Wasser“), der nördlichste indische Bundesstaat mit Grenze zu Pakistan, galt wegen seiner Fruchtbarkeit und des wirtschaftlichen Wachstums lange als Indiens „Bundesstaat Nummer Eins“. Der Reichtum konzentrierte sich allerdings in den Händen einer kleinen Bevölkerungsgruppe. Die Christen, die auch hier meist von den „Kastenlosen“ kamen, gehörten zum ärmsten Teil der Bevölkerung und lebten überwiegend in den Dörfern. Batala im Punjab war damals eine Stadt mit ungefähr 90.000 Einwohnern. Aus methodistischer Sicht gehörte Batala als der größte von fünf Distrikten zur Delhi-Konferenz (Delhi-Regional Conference, später acht Distrikte mit ca. 42.800 Methodisten) der methodistischen Kirche Indiens (Methodist Church of South Asia, ab 1981 Methodist Church in India, ca. 625.000 Mitglieder) und war dem Bischof in Delhi unterstellt. Im Distrikt lebten um die 40.000 Methodisten, in der Stadt selbst und den sie umgebenden Dörfern circa 15.000 (2005: ca. 17.500). Es gab 16 Predigtzentren im Batala-Distrikt, von denen jedes auch für vier bis acht Dörfer zuständig war. Insgesamt wurden über 100 Gemeinden betreut. In den Hauptdörfern wurde jeden Sonntag ein Gottesdienst gehalten. Im GurdaspurDistrikt, zu dem die Stadtgemeinde Batala gehörte, gab es einen im Vergleich zu ganz Indien ungewöhnlich hohen Anteil an Christen (6,2% statt 2,8%). Weil die Christen zu den armen Schichten gehörten, waren auch die Gemeinden arm. Bargeld war kaum vorhanden und der Gemeindebeitrag wurde häufig in Form von Naturalien gegeben. Die evangelistische Arbeit im ländlich geprägten BatalaDistrikt hatte Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen, vor allem mit dem Missionarsehepaar Clyde und Lydia Christensen, das auf den Dörfern das Evangelium predigte. Besondere Aufmerksamkeit wandten die Missionare Frauen und Kindern zu, die aufgrund ihrer Religion eine untergeordnete Stellung im Gemeinschaftsleben einnahmen. Diese Arbeit war der Beginn einer großen Erweckungsbewegung, die wenig später von indischen Distriktssuperintendenten und Predigern weitergeführt wurde. Etwa 40 km westlich von Batala, in Lahore und Raewind, wurden eine Mädchen- und eine Knabenschule gegründet, in die 58
viele christliche Familien des Distriktes ihre Kinder sandten. Den Schulen waren, wie in Indien allgemein üblich, Hostels (Internate) angeschlossen (auch Regierung und andere Religionen unterhalten viele Schülerwohnheime), damit die Kinder neben einer guten schulischen Ausbildung auch eine christliche Erziehung erhielten. Viele spätere Prediger, Predigersfrauen, Lehrer und Krankenschwestern begannen dort ihre Schulzeit, aber auch Hindus, Moslems und Sikhs wurden ausgebildet. Eine weiterführende akademische Ausbildung konnten die Schüler im angesehenen christlichen Foreman College in Lahore erhalten. Die evangelistische Arbeit wie auch die Erziehungsarbeit, die immer mehr an Bedeutung gewann, erlitt im Jahr 1947 eine jähe Unterbrechung. Mit der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien ging die Teilung des Punjab und die Gründung des neuen Staates Pakistan einher. Alle Muslime flohen nach Pakistan, Hindus und Sikhs emigrierten nach Indien. Der damit einhergehende Terror kostete ungefähr eine Million Menschen das Leben und hinterließ tiefe Wunden im Zusammenleben der Religionen im Punjab. Als Ersatz für das Foreman College, das nun in Pakistan lag, wurde in Batala das Baring Union Christian College gegründet. Die bisherige Hauptstadt Lahore mit den christlichen Schulen lag nach der Teilung ebenfalls jenseits der Grenze in Pakistan. Die Kinder aus Batala mussten nun bis zu 350 km zur nächsten christlichen Internatsschule reisen. Daher wurde kirchlicherseits beschlossen, in Batala eine fünfklassige Schule zu erbauen, die erste methodistische Schule in Nordindien. Lilly Swords kam Anfang 1953 nach Batala, um die bereits genehmigte Schule aufzubauen. Das geeignete Grundstück dafür konnte aber erst 1955, nach langen Verhandlungen, erworben werden. Die Verhandlungen und den Kauf des Landes hatte Hildegard während ihres ersten Aufenthaltes in Batala miterlebt. Während ihrer Zeit in Bareilly und im Heimaturlaub hatte Hildegard immer wieder Nachrichten über den Fortgang der Arbeiten in Batala von Lilly Swords erhalten. Baubeginn für die Schule war 1955 gewesen. Es entstanden ein Internat für ungefähr 100 Kinder, das Schulhaus, zwei Häuser mit Wohnungen für Lehrerinnen, Leiterinnen und weitere schulische und kirch59
liche Angestellte sowie ein Brunnenhaus. Finanziert wurde die Anlage vom Amerikanischen Frauendienst der methodistischen Kirche. Durch weitere Spenden wurde der Bau einer Kirche für Ortsgemeinde und Schule auf dem Gelände möglich. 1960 berichtete Hildegard Grams den Methodisten in Deutschland: In den letzten Tagen erreichte mich ein Brief der Missionarin Lilly Swords aus dem Batala-Distrikt. Erst im September 1960 war der große Festtag, an dem Bischof Mondol die Missionsschule einweihen konnte. Aber aus der Not und Dringlichkeit heraus wurden schon seit mehr als einem Jahr Kinder aus den umliegenden Dörfern unterrichtet. Folgendes schreibt Lilly Swords: „Es war eine Befriedigung zu sehen, wie in den letzten zwei Jahren die Bauten gewachsen sind und dabei gleichzeitig zu wissen, dass dadurch das neue Leben durch Jesus Christus zu mehr Menschen gebracht werden kann. Schon bei dem Bauen sahen wir solche Gelegenheiten. Unser Bauunternehmer, ein bekennender Christ, bezeugte an jedem Morgen in einer Andacht seinen Mitarbeitern, was ihm Christus bedeutet. Das bedeutete etwas ganz neues für diese Männer, denn viele hatten bisher nie eine Begegnung mit der christlichen Botschaft. Der Bau und das Bauen sind zunächst einmal beendet. Ich hatte wohl Freude an der Mitarbeit auf unserem schönen Grundstück. Und doch bin ich froh, dass das zunächst einmal zum Stillstand gekommen ist, denn nun kann ich mehr Zeit und Kraft den Menschen in den Dörfern auf unserem Distrikt widmen. Wir haben wohl die Schule, aber uns fehlen doch noch viele Räume für diverse Veranstaltungen. Einige können wir wohl in die Ferienzeit legen, wenn die Schulräume nicht gebraucht werden. In diesem Sommer liefen vier Frei- und Rüstzeiten, alle jedoch stark behindert durch den Regen in dieser Jahreszeit. Seit dem letzten Jahr sahen wir die Not immer stärker werden bei solchen Kindern, die in staatliche Schulen gehen, wo keine christliche Unterweisung ist. Viele von ihnen wohnen in den Dörfern, in denen keine Sonntagsschule gehalten werden kann, weil der Prediger dort nicht jede Woche hingehen kann. Auch kein Laie oder eine Frau kann soviel lesen und schreiben, um eine Sonntagsschule zu halten. So drängte sich uns der Gedanke einer Freizeit geradezu auf. Durch die Prediger wurden schon viele Wochen vorher die Einladungen und Anmeldungen in den einzelnen Dörfern ausgegeben. Die Prediger 60
sahen wie wir, dass es unbedingt nötig ist, die Kinder aus ihrer alltäglichen Umgebung herauszunehmen und ihnen die Möglichkeiten zu geben, christliche Erfahrungen und Erlebnisse zu machen. Unsere Lehrerinnen und Lehrer in den Dörfern waren von diesem Plan so begeistert, dass sie sich in der Ferienzeit bereit erklärten, bei den Freizeiten mitzuhelfen. Wir hätten noch mehr Kinder unterbringen können, aber der heftige Regen und die aufgeweichten Straßen hinderten sie am Kommen. Dafür konnten die Jungen und Mädchen umso mehr persönliche Aufmerksamkeit erhalten. Die meiste Zeit wurde natürlich auf den christlichen Unterricht gelegt. Außerdem hatten wir Gruppen, in denen Hindi, Punjabi oder Rechnen gegeben wurde. Am Nachmittag erfreuten sie sich am Basteln und an Handarbeiten. Die Kinder arbeiteten in dieser schönen Gemeinschaft fröhlich mit. Die höchste Anerkennung äußerte ein Kind mit diesen Worten: „Wenn Sie uns immer unterrichten würden, gingen wir auch sehr gern in die Schule.“ Wir glauben und vertrauen, dass wir auch Eingang in ihr junges Leben gefunden haben, wenn wir unsere Andachten hielten, ihnen Bilder zeigten und ihnen im Gespräch den Heiland als den treuesten und liebsten Freund nahebrachten.“ Im Herbst 1958, bereits vor Fertigstellung der Gebäude, hatte unter der Leitung von Lilly Swords der Schulbetrieb der „Methodist Co-Educational School“ mit 20 Mädchen begonnen, im April 1959 wurde die Schule für die Öffentlichkeit mit 70 Plätzen eröffnet. Die Plätze für die fünf Klassen waren sofort vergeben. Lilly Swords jubelte: „Batala ist jetzt auf der Landkarte, auf der methodistischen Landkarte!“ Die Primary School hatte fünf Klassen, entsprechend etwa der Grundschule mit einer Vorschulklasse, in die die Kinder mit fünf Jahren kamen. Geplant war, dass die Kinder danach das sechste bis zehnte Schuljahr in der 90 km entfernten United Christian School von Jullunder absolvierten, die von Methodisten und Presbyterianern gemeinsam geleitet wurde. Danach hatten die Schüler einen Abschluss, um eine Berufsausbildung zu beginnen oder das Baring Union Christian College in Batala zu besuchen. Die Schule in Jullunder wurde aber schnell zu voll, so dass bald die Anfragen an die Schule in Batala immer lauter wurden, diese bis zur 6. Klasse, dann bis zum 10. Schuljahr auf61
zustocken, was später auch geschah. Die Zahl der Kinder im Hostel, das Hildegard nach ihrer Rückkehr aus Deutschland leiten sollte, wuchs ebenfalls ständig. Zunächst arbeitete Hildegard in Batala wieder mit Erwachsenen, die nicht lesen und schreiben konnten. Wohl gingen zu der Zeit schon sehr viele Kinder in Indien in die Schule, oft aber konnten ihre Eltern weder schreiben noch lesen. So führte Hildegard Frauen im Alter von 17 bis 60 Jahren und Männer von 17 bis 45 Jahren täglich in Lesen und Schreiben ein. Bei einigen musste ich fast mit Engelszungen reden, ehe sie bereit waren, noch in ihrem Alter in die „Schule“ zu gehen. Wohl dauert es bei den Alten etwas länger, bis sie einen Buchstaben oder ein Wort begriffen haben, doch ihr Fleiß und Eifer sind nachahmenswert. Man kann sie, die sonst um 8 Uhr abends schon schliefen, noch um 9 Uhr und später auf dem Fußboden sitzen sehen. Ihre Schiefertafel halten sie auf dem Schoß, und die ungelenken Finger umfassen krampfhaft den Griffel. Ich wünschte, Sie hätten sehen können, als ich ihnen einige Wörter aus dem Gesangbuch zeigte, die sie lesen konnten. Ihre Augen strahlten, als wäre eine neue Welt vor ihnen aufgegangen.
Die „Training School for Hostel Workers“ Für die indischen Dorfmädchen aus ärmeren Verhältnissen, die weniger als 10 Schuljahre absolviert hatten – und das war die Regel –, gab es in den Dörfern nach dem Abschluss der Schule weder eine Berufsmöglichkeit noch sonstige befriedigende Beschäftigungen. Die Mädchen blieben in der Wohnung der Eltern, bis sie verheiratet wurden und zu ihrem Mann und seiner Familie übersiedelten. Die Eltern, oft Analphabeten und die wenigsten mit einer Ausbildung, konnten die Töchter aus eigener Kraft nicht fördern. Für solche Mädchen hielt Lilly Swords mit ihren Mitarbeitern schon seit einiger Zeit Freizeiten ab, bei denen einfaches Rechnen, Lesen, Schreiben, Kochen, Nähen, Gesundheitslehre und Handarbeit unterrichtet wurden, einen weiteren Schwerpunkt bildete das Bibelstudium. Sie hatte in einem Brief von weiteren Versuchen berichtet, die Situation der 62
Dorfmädchen zu ändern: Wir können hier die jungen Mädchen von den Dörfern unterbringen. Sie tun sonst nichts als auf die Ehe zu warten. Sie kamen zunächst hierher als Hausangestellte, um zu kochen und zu putzen. Es war das erste Mal, dass solche Mädchen ihr eigenes Geld verdienen konnten! Das bedeutete eine enorme soziale Veränderung in dieser Region. Sie gab jungen Frauen eine Art von Unabhängigkeit und Ausbildung. Sie machte andere Menschen aus ihnen. Genau diese Mädchen hatte Hildegard mit ihren Plänen einer sozialpädagogisch-theologischen Ausbildung im Blick. Lilly Swords hatte mit ihrer Arbeit schon die Voraussetzungen geschaffen. Hildegard musste die Pläne, die sie in Bareilly geschmiedet hatte, auf die Hostel-Situation in Batala abstimmen. Und dies hatte sie auch schon getan. Die Kinder kamen im Alter von fünf Jahren ins Hostel. Sie stammten mehrheitlich aus den Dörfern und damit aus sehr einfachen Verhältnissen. Sie hatten möglicherweise noch nie zu einer Mahlzeit auf einem Stuhl am Tisch gesessen und mussten hygienische Grundregeln häufig erst lernen, weil sie keine Toiletten kannten und ihnen das Loch, auf das sie sich da setzen sollten, Angst einflößte. Auch eine regelmäßige und verbindliche Tagesordnung war ihnen oft fremd und konnte Probleme verursachen. Manche Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen stahlen, liefen davon, waren nicht gesund oder Bettnässer. Als Hildegard anfing, waren ungefähr 70 Kinder im Hostel, die von einer Hausmutter versorgt wurden. Natürlich konnte diese sich nicht um die individuellen Belange jedes Kindes kümmern, geschweige denn um die geistiggeistlichen. Mit Hilfe der Mädchen in der Ausbildung würde die Betreuung so erweitert werden, dass die Kinder in einer Umgebung aufwuchsen, die einem guten Zuhause ähnlich war. Auf die Stadien ihrer persönlichen Entwicklung könnte dann eingegangen werden. Für die auszubildenden Mädchen würde diese tägliche praktische Arbeit im Hostel mit den Kindern eine großartige Erweiterung der theoretischen Fächer bedeuten. Die Qualifikation für eine spätere Tätigkeit in Waisenheimen, Internaten oder Krankenhäusern wäre hervorragend und neben den Auszubildenden konnten auch die Kinder gewaltig davon profitieren. Auch für die Arbeit im Distrikt, die ebenfalls zu Hildegards 63
Aufgaben gehörte, brauchte sie Hilfe von erfahrenen Kräften zur Kinderbetreuung. Die Frauen, die zu Sommerfreizeiten oder -rüstzeiten nach Batala eingeladen waren, konnten oft wegen ihrer Kinder nicht kommen. Auch dafür sollten die Mädchen in Ausbildung eingesetzt werden, um während der Veranstaltungen die Kinder zu betreuen und ihnen biblische Geschichten zu erzählen. Außerdem sollten sie die Superintendenten bei Besuchen in den Dörfern begleiten, um dort evangelistische Kinderarbeit zu machen. Dies wäre wiederum eine gute Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Ein anderer Aspekt der Ausbildung von christlichen Erzieherinnen war das Fördern von Nachwuchs für die Kirche, der seinerseits weiteren Nachwuchs für die Gemeinden ausbilden konnte. Die Ausbildung sollte fest in die Kirche integriert werden. Viele Mädchen taten später ihren Dienst als Gemeindehelferin. Ihrer Delhi-Konferenz legte Hildegard nun im November 1964 die Notwendigkeit des geplanten Ausbildungsganges dar, verbunden mit einer Konzeption. Demnach sollte die Schule folgendes anbieten: 1. Die zweijährige Ausbildung zum „trained hostel worker“ („Warden“, Heimerzieherin). Das erste Jahr war ein „training year“ (theoretisches Ausbildungsjahr), das zweite ein „serving year“ (Dienstjahr) mit Erprobung des Gelernten. 2. Die zwei- bis dreijährige Ausbildung für die Leitungsfunktion in Kinderheimen. Voraussetzung für die Ausbildung sollte ein halbjähriges Praktikum in einem Internat, einer Kinderkrippe (wie zum Beispiel in Bareilly), einer Säuglingspflegeschule etc. sein sowie eine Empfehlung der für das Praktikum gewählten Institution. Der Unterricht der künftigen Studentinnen sollte während der Schulzeit der Kinder stattfinden. Er umfasste Altes und Neues Testament, Dogmatik, Psychologie, Kirchengeschichte, Religionspädagogik und Beschäftigung der Kinder sowie Englisch, Mathematik und Büroarbeiten. Alleinige Fachkraft und Lehrerin dafür war Hildegard, die jedoch in ihrer Konzeption schon eine Erweiterung der Unterrichtskräfte vorgesehen hatte, falls das Programm sich bewährte. Auch eine staatliche Anerkennung des Ausbildungsabschlusses hatte sie damals ins Auge gefasst, um den Absolventinnen nicht nur in kirchlichen, son64
dern auch in staatlichen und privaten Einrichtungen Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen. Die staatliche Anerkennung wurde nie realisiert, unter anderem, weil das Verfahren sehr kostspielig war und die inoffizielle Anerkennung der Schule schnell hoch genug war, um eine Berufstätigkeit auch außerhalb kirchlicher Einrichtungen zu ermöglichen. Das Anerkennungsjahr nach der zweijährigen Ausbildung in Batala konnte in Kinderheimen, Internaten oder auf den Dörfern in der Gemeindearbeit absolviert werden. Als Hildegard diese Pläne erläutert hatte, stand ein Mann in der Versammlung auf und rief: „Das ist eine Frau mit Vision!“ Die Planungen stießen auf freudige Zustimmung in der Delhi-Konferenz, denn man hatte vor allem das Betreuungsproblem in den Internaten schon länger gesehen, ohne eine Lösung zu wissen. Die Finanzierung des ersten Kurses übernahm der methodistische Frauendienst in Deutschland. Dem Beginn stand nun nichts mehr im Wege. Es fehlten nur noch die künftigen Studentinnen, die von Hildegard meist „meine Mädchen“ genannt wurden. Über Pastorentreffen und die Konferenz warb Hildegard um Aspirantinnen. Sie sollten mindestens 17 Jahre alt sein und die 10. Klasse mit oder ohne Prüfung abgeschlossen haben. Bis sich die ersten Mädchen meldeten, vergingen Wochen der Spannung und Geduldsprobe. Dann endlich am 1. Januar 1965 kamen die ersten Bewerbungen, und zwar gleich drei. Es lag nahe, dies als gutes, zuversichtliches Zeichen zu sehen, da es am Morgen des ersten Tages im Neuen Jahr geschah. Für diese neue Arbeit ist sehr viel gebetet worden, und so kann ich auch dieses als eine der vielen wunderbaren Gebetserhörungen ansehen. Zwei Mädchen kamen schon am 15. Januar, zwei weitere am 1. Februar, um bis zum 1. April, wenn die eigentliche Ausbildung beginnt, ein Praktikum im Hostel zu machen und sich so im Umgang mit den Kindern gewisse Erfahrungen anzueignen als eine gute Voraussetzung für die theoretische Ausbildung. So wird der 1. April ein wichtiger und bedeutungsvoller Tag sein, wenn sieben Mädchen – mehr als ich je zu hoffen wagte – mit diesem „Hostel-Training“ beginnen werden. Es wird dies nicht nur eine Ausbildung für die spezielle Arbeit mit den Kindern im Hostel sein, sondern wir werden einen starken 65
Akzent auf die evangelistische Kinderarbeit in den Dörfern legen. Unser Lehrplan enthält regelmäßige Besuche in den Dörfern, um den vielen Kindern, die weder in die Schule gehen, noch sonst eine Beschäftigung außerhalb ihrer engen Umgebung haben, mehr Freude zu bringen. Die sieben Mädchen des ersten Ausbildungsganges kamen aus armen christlichen Familien und konnten aufgrund ihrer kurzen Schulzeit keine berufliche Tätigkeit ausüben. Die Aussicht, nun in einer sinnvollen Arbeit stehen zu können, veränderte sie offensichtlich: Das Schwergewicht unserer Arbeit liegt auf dem Bibelstudium. Jeden Tag beginnen wir mit einer Andacht, die von den Mädchen abwechselnd gehalten wird. Wenn wir dann anschließend darüber sprechen, spüren wir oft, dass wir gerade jetzt auch darüber beten müssen. Mädchen, die vorher nicht beten konnten, haben beten gelernt und lassen uns teilhaben an ihren Gebetserhörungen. Manches Neue bricht in den Mädchen auf, das Gott zur Frucht reifen lassen möge. Schon jetzt, während sie noch in der Ausbildung sind, zeigen sie große Freude an der Kinderarbeit, sei es im Hostel oder bei den regelmäßigen Kinder- und Sonntagsschulstunden in den Dörfern. Ihre fröhliche Stimmung bleibt, ob wir mit dem Auto oder Bus fahren, oder ob wir eine lange Strecke zu Fuß zurücklegen müssen. Bei ihnen spiegelt sich etwas von der inneren Freude wider, die wächst, wenn wir andere Menschen glücklich machen dürfen. Als wir an einem Abend nach einer Kinderstunde bei Dunkelheit auf nicht gerade modernen Landwegen nach Hause gingen, sagte ich zu den Mädchen: „So, wie wir heute auf unebenen, holprigen und einsamen Wegen gehen, ist wahrscheinlich der Apostel Paulus noch viel öfter gegangen“ (in Bibelkunde besprechen wir gerade das Leben des Apostels Paulus). Da erwiderte Salima: „Ja, aber wir haben doch gar nicht so viele Schwierigkeiten wie der Apostel Paulus. Alle freuen sich, wenn wir kommen. Die Kinder kommen uns sogar entgegen, grüßen uns freundlich, und wir bekommen auch noch eine Tasse Tee“. Und auch im Internat wurde im Verhalten der Kinder ein Unterschied deutlich, seit sie mehr individuelle Betreuung hatten. Die Hostel-Kinder liebten ihre „Bua“. Das Wort meint sowohl die Tür wie auch die große Schwester und umreißt damit genau die Funktion der Studentinnen für die Kinder. 66
Der theoretische Schulunterricht fand am Vormittag statt. Am Nachmittag wendeten die Studentinnen das Gelernte an, spielten und sangen mit den Kindern, führten Bastelkurse durch und erarbeiteten mit den Kindern verschiedene Programme, die bei Gelegenheit vorgeführt werden konnten. Sie überlegten sich ständig kindgerechte Methoden – Einsatz von Puppen, Bildern, Zeichnungen usw. – für die morgendlichen und abendlichen Andachten. Freiwillige „Clubs“ wie zum Beispiel ein Briefmarken-Sammelclub oder Natur- und Kunstclub oder eine Handarbeitsgruppe wurden für die Hostel-Kinder organisiert. Unter Anleitung der Mädchen halfen die Kinder auch bei den fälligen Arbeiten in Garten, Gelände und Hostel mit, denn sie sollten das Gefühl haben, hier zu Hause zu sein, mit allen Rechten und Pflichten. Die intensive Betreuung der Kinder schloss spezielle Beratung und Hilfe durch die Betreuerinnen ein, bevor persönliche oder schulische Probleme auftraten. Im Leben und Arbeiten mit den Kindern wurden die Studentinnen der Training School schnell vertraut mit deren körperlichen, geistigen und geistlichen Nöten und Entwicklungsschritten. Sie waren rund um die Uhr im Dienst, denn wenn ein Kind mitten in der Nacht krank wurde, mussten sie sich darum kümmern. Jeden Samstagabend war ein „social evening“, ein Gemeinschaftsabend. An diesen Abenden führte jeweils eine Kindergruppe unter Leitung einer Studentin etwas vor, zum Beispiel ein Puppenspiel mit handgearbeiteten Puppen. Unnötig zu sagen, dass die gesamte Hostel-Familie viel Spaß an diesen Abenden hatte. Spaß gab es nicht nur in der Freizeit, sondern auch bei der Pflicht. Hildegard Grams hatte ein besonderes Talent darin, lästige Aufgaben in spannende Ereignisse zu verwandeln. So herrschte einmal eine Wanzenplage in den Schlafräumen des Hostels, derer man nicht Herr werden konnte. Da ordnete Hildegard an, dass man alle Bettgestelle ins Freie tragen solle. Sie kündigte an, dass jede gefangene Wanze mit einem bestimmten Geldbetrag belohnt würde. Jedes Kind erhielt ein leeres Glas mit Deckel. Die Kinder stritten sich nun geradezu um die Wanzen, weil alle ihr Taschengeld aufbessern wollten, und danach konnte keine einzige Wanze mehr gefunden werden. 67
Die Unterrichtssprache der Training School war Hindi im regionalen Dialekt des Hindustani, nicht Punjabi, das Hildegard zuerst gelernt hatte. In Bareilly hatte sie schon Hindi gesprochen. Mit dem Unterrichten in Hindustani kam Hildegard zu ihrem eigenen Erstaunen gut zurecht, obwohl sie selbst noch täglich Sprachunterricht nehmen musste. Wegen der langen Unterbrechung des Indienaufenthaltes und ihrer neuen Arbeit, bei der sie Hindustani zu sprechen hatte, entschloss sie sich im Sommer dieses ersten Ausbildungsjahrgangs, nochmals einige Wochen ein intensives Sprachstudium zu treiben. Sie konnte dies wieder im wunderschönen, angenehm kühlen HimalayaGebirge tun. In dieser Zeit konnte die Training School nicht weiterarbeiten. Lange hatte Hildegard darüber nachgedacht, wie sie während ihrer Abwesenheit zum Sprachstudium oder später in der Urlaubszeit eine Lösung für die Mädchen finden konnte. Zusammen mit den sogenannten Bibelfrauen (siehe unten) und den Predigern suchten sie für jedes Mädchen einen Praktikumsplatz in den Dörfern, in denen sie 4 Wochen während der Schulferien der Kinder Frauen- und Kinderstunden halten sollten. Die Mädchen aus dem Kurs freuten sich sehr auf diese Zeit, in der sie vieles von dem Gelernten anwenden konnten, und schrieben jedes Wochenende pflichtgemäß an Hildegard, was sie erlebt hatten. Ein Mädchen berichtete: Am ersten Tag kamen 15 Kinder. Das war etwas ganz Neues für sie. Ich habe mit ihnen gesungen, eine Geschichte erzählt und dann mit ihnen gespielt. Alle haben ganz erstaunte Gesichter gemacht, denn so etwas haben sie in ihrem Dorf noch nicht erlebt. Ich weiß, es hat nicht nur den Kindern gefallen, sondern auch mir. Besser hätte der Start des Kurses nicht ausfallen können, es gab sehr viel Grund zur Dankbarkeit. Was wir hier erleben, klingt vielleicht so einfach und selbstverständlich, aber für die Mädchen und für indische Verhältnisse ist es etwas ganz Neues und Außergewöhnliches. Schon beim zweiten Kurs, der 1966 begann, gab es weit mehr Bewerberinnen als Plätze. Aus Platzgründen konnten nur zwei neue Mädchen den Kurs beginnen. Erster und zweiter Jahrgang 68
wurden gemeinsam unterrichtet. Es musste bald mehr Raum für die erfolgreich begonnene Arbeit der Training School geschaffen werden, nicht nur, um mehr Mädchen ausbilden zu können, sondern auch um die vorhandenen Aufgaben besser zu lösen, denn die neun Auszubildenden wohnten in einem Zimmer und als Unterrichtsraum diente nur ein provisorisch hergerichteter Vorratsraum. Auf das Hostel sollte daher ein zweites Stockwerk aufgesetzt werden. Unklar war zunächst, wer die endgültige Entscheidung über die Baumaßnahmen zu treffen hatte, denn Batala – das Grundstück mit Kirche, Schule, Hostel und den anderen Häusern – gehörte der indischen Kirche. Die DelhiKonferenz musste den Plänen zustimmen. Wenn die Baupläne geprüft waren und das Geld vorhanden war, konnte sofort gebaut werden. Doch Geld hatte die indische Kirche in der Regel nicht. Traditionell wurde sie von Amerika aus finanziell unterstützt, im Falle der Training School lief die Finanzierung aber ausschließlich über Deutschland. Da die geplanten Kosten von DM 70.000 für den methodistischen Frauendienst zu hoch waren, mussten noch andere Geldquellen erschlossen werden. Geplant war, dass die Missionssammlung der Sonntagsschulen in Deutschland 1968 an die Training School gehen sollte. Zudem bemühte sich die methodistische Kirche um einen finanziellen Zuschuss von „Brot für die Welt“. Hildegard bat um möglichst schnelle Entscheidungen, da die Preise für die Baumaterialien ständig stiegen, weil ab Juli bis in den Oktober hinein wegen der Regenzeit kaum gebaut werden konnte und zudem die dringliche Raumfrage bald gelöst werden sollte. Etwa zwei Jahre nach den ersten Bauplänen, Anfang 1968, konnte mit der Umsetzung begonnen werden. „Brot für die Welt“ hatte einen Betrag von DM 65.000 für den Ausbau bewilligt, dazu kam noch die Weihnachtssammlung der Sonntagsschulen, sodass die finanzielle Seite gut geregelt war. Am 6. März 1969 fand die Einweihung der Training School mit Bischof A. J. Shaw statt. Auf einem Schild an der Eingangswand des Hauses stand folgende Widmung zu lesen: „To the Glory of God and the Preparation of Young Women for Loving Service to Children“ (Zu Gottes Ehre und zur Vorbereitung junger Frauen auf eine liebevolle, hingebungsvolle Arbeit mit Kindern). 69
Außer zwei Räumen, die die Hostel-Leitung gemietet hatte, stand das ganze neue Stockwerk für die Training School zur Verfügung. Es gab zwei Klassenräume und zwei Wohn-/Schlafzimmer für die vier bzw. sechs Studentinnen des ersten und zweiten Kurses. Darüberhinaus standen zwei Lehrerzimmer zur Verfügung, außerdem ein Werkraum, ein Büro und sanitäre Anlagen. Hildegard Grams fasste die Freude aller in Worte: Wir können es oft noch gar nicht recht fassen, dass wir nun in helllichten Räumen arbeiten und wohnen können. Wie macht sich das auch in der ganzen Arbeitsweise und dem freudigen Ton untereinander bemerkbar. Wir waren schon etwas früher in unsere neuen Räume eingezogen und konnten nun aus eigener Erfahrung bezeugen, dass wirklich etwas Schönes entstanden ist. Mehr als 130 Freunde feierten mit uns diesen großen und wohl unvergesslichen Einweihungstag. Ist es doch die einzige Training School in Indien, die junge Mädchen für die sozialpädagogische Arbeit mit den Kindern ausbildet und zugleich eine christliche Unterweisung bietet, d.h. eine Anleitung und Ausbildung für das Unterrichten der Kinder, sowohl in Kinderheimen als auch in Krankenhäusern und in den Dörfern. Immer wieder bekomme ich Briefe oder höre ich die Worte, dass diese Ausbildung von jungen Mädchen eine Erhörung vieler Gebete ist, denn schon seit langem sah und erkannte man die Notwendigkeit eines solchen Arbeitszweiges. Doch noch immer unterrichtete Hildegard allein und leitete zugleich das Hostel. Nur kurzfristig hatte sie zwischendurch Unterstützung. Erst im April 1970 kam mit Miss Shamsa Nasir eine zweite Lehrerin in die Training School. In einem Brief an die deutschen Missionsfreunde beschrieb diese nach einem Jahr ihre Eindrücke: Mitte April kam ich in Batala an. Als ich das Gelände betrat, das sehr groß und weiträumig ist, fiel mir sofort auf, wie sauber es gehalten war und alles war erfüllt von dem Duft der Blumen, die überall im Garten blühten. Einige Tage später kehrten die jungen Mädchen aus ihren Frühjahrsferien zurück. Fräulein Grams hatte mich bereits davon unterrichtet, dass sie alle aus einfachen Verhältnissen aus den Dörfern kamen. Als wir uns dann das erste Mal begegneten, war ich ganz erstaunt über die Höflichkeit und Freundlichkeit, mit der sie mich 70
begrüßten. Mein Gedanke war sofort: „Die sind aber offensichtlich schon viele Stufen über ihr einfaches Herkommen hinausgekommen!“ Es war eine Freude zu sehen, wie jede ein persönliches Interesse daran hatte, ihr Zimmer sauber und ordentlich zu halten. Es bedurfte jetzt meinerseits einer bewussten Umstellung, da ich meine vorhergehenden Lehrerfahrungen immer mit Kindern zwischen 4 und 7 Jahren gemacht hatte. Hier fand ich mich nun jungen Mädchen zwischen 18 und 25 Jahren gegenüber. Bisher hatte ich auch immer in Institutionen gearbeitet, deren Lehrkörper aus mindestens 50 Mitgliedern bestanden hatte, aber hier stand ich vor einer völlig anderen Situation. Fräulein Grams, die die Pionierin und zugleich die Verantwortliche für dieses Werk ist, ist die einzige, mit der ich zusammenzuarbeiten habe. So bestanden also meine ersten Erfahrungen in dieser Schule vor allem in Angleichung an Einzelpersonen, junge Studentinnen, an eine neue Situation und Umgebung. Ich muss gestehen, dass ich zuerst ziemlich nervös war, aber Fräulein Grams hat eine so wunderbare Art, mit Menschen umzugehen, und sie hat eine so sympathische Haltung und großes Verständnis der menschlichen Natur, dass ich sehr schnell herausfand, dies ist der Platz, an den mich Gott gerufen hat! Ich habe vorher in vielen Schulen und Schul-Wohnheimen gelebt, aber schon, nachdem ich nur ganz kurz hier war, fand ich heraus, dass das Leben hier in mancher Beziehung einmalig war. Die Mädchen lebten miteinander als wirkliche Familienmitglieder, und die Gelegenheiten zum gemeinsamen Gebet sind sicher der starke Faktor, der sie mit den verschiedensten Gegebenheiten des Lebens zusammenhält. Sie halten dieses familienähnliche Zusammenleben in hoher Achtung, und sie haben auch gelernt, sich nicht an unnützes Geschwätz zu verlieren. Shamsa Nasir übernahm den Unterricht in Englisch und anderen Fächern und blieb 25 Jahre lang eine enge Mitarbeiterin von Hildegard. Die Training School konnte sich sehr schnell hohes Ansehen erwerben. Im Bericht der School Evaluation Commission für Nordindien (eine kirchliche Schulbewertungskommission) stand 1971, das Programm der Training School biete eine Antwort auf die wirklich zentrale, noch nicht beantwortete Not der Kirche, den christlichen Nachwuchs christlich prägen zu können. Dies 71
Modell solle mehr Ermutigung erfahren und als beispielhaft zur Erarbeitung ähnlicher Programme an anderen Orten und in anderen Sprachgebieten angesehen werden. Das Bewertungskomitee gab dem Lehrgang eine „Hohe Priorität“ und lobte ausdrücklich den Pioniergeist der Verantwortlichen, die den Kurs etabliert hatte. Der Kurs stieß auf großes Interesse: Immer mehr Hostels fragten an, ob nicht noch mehr Mädchen mit dieser Ausbildung in die Hostelarbeit geschickt werden könnten. Die Kinder aus dem Hostel hingegen wurden von einigen Lehrkräften der Methodistischen Schule sehr von oben herab betrachtet. Wegen ihrer armen Herkunft und der damit verbundenen Schwierigkeiten wurden sie als drittklassige Mitglieder der Gesellschaft angesehen. Bevorzugt wurden die reichen, meist nichtchristlichen Schüler. Die Arbeit der Training School trug dazu bei, diese sozialen Unterschiede auszugleichen. Bald nach Beginn ihrer Arbeit in der Training School kam Hildegard in Kontakt mit der Kindernothilfe, die in Indien auf der Suche nach einer Schule wie der Training School war. Zunächst bestand die Kooperation darin, dass die Kindernothilfe Mädchen zur Ausbildung nach Batala schickte, sogar Mädchen aus Südindien, die erst einmal eine völlig andere Sprache lernen mussten, um dem Unterricht folgen und sich mit den anderen Studentinnen unterhalten zu können. Bald danach eröffnete die Kirche von Südindien mit Hilfe der Kindernothilfe nach dem Vorbild der „Training School“ in Batala einen eigenen Kurs zur Ausbildung von „Hostel Wardens“ in Bangalore. Dieser Kurs führte zu einer höheren Qualifikation als der Kurs in Batala, nämlich zur Leitungsfunktion in Hostels. Die Bewerberinnen mussten eine bessere Vorbildung mitbringen – vergleichbar dem Abitur, während in Batala die mittlere Reife ausreichte. Erstmals und einmalig besuchte 1975 auch ein junger Mann die Training School, der anschließend in Bangalore am Institut der Kindernothilfe weiter ausgebildet wurde und danach die Leitung des neuen Jungenhostels in Batala übernahm.
72
Die Kinderarbeit auf den Dörfern 80 % der indischen Bevölkerung lebt in Dörfern, meist in ärmlichen Verhältnissen, so auch die meisten Christen im Umkreis von ca. 60 km um die Stadt Batala. Diese „Dörfer“ haben bis zu 4000 Einwohner. Es gibt dort kleinere Handwerksbetriebe und Lebensmittelläden. Die Menschen leben überwiegend von der Landwirtschaft. Entweder haben sie selbst etwas Land oder sie arbeiten bei einem Großbauern. Viele Menschen müssen aber auch eine weite Strecke zu ihrer Arbeit gehen, zum Beispiel zu einem Umladeplatz für Getreide, zu einer Ziegelei in der Nähe oder einer Fabrik. Gerade im Punjab wohnen viele „Unberührbare“ (Kastenlose) als Tagelöhner auf dem Lande. Viele Menschen halten in ihren Häusern Tiere zur eigenen Nutzung. Die meisten Häuser in den Dörfern haben kein fließendes Wasser, es gibt also auch kein Abwassersystem. Das verschmutzte Wasser sammelt sich in einem Teich im Dorf oder in der Nähe: Eine Brutstätte für Moskitos. Wasser ist im Punjab ein großes Problem, der Grundwasserspiegel sinkt jedes Jahr, weil zuviel Wasser für die Landwirtschaft gebraucht wird. Deshalb müssen die Brunnen immer tiefer gebohrt werden, so dass nur finanziell gut gestellte Menschen in den Genuss von trinkbarem Wasser kommen. Hildegard Grams war bei ihren ersten Besuchen in den Dörfern erschüttert über die Verhältnisse: „Hier sollen Menschen wohnen?“ war meine Frage, als wir in unser erstes Dorf kamen. Als Häuser kann man die Wohnungen nicht bezeichnen, es sind nur niedrige Hütten, die aus Lehm gebaut und dann mit Kuhmist verschmiert werden, der ihnen Haltbarkeit gibt. Kein Fenster macht den Raum hell und freundlich, nur durch die rohgezimmerte Holztür kann das Licht und die frische Luft dringen. Ich suchte vergeblich nach einem Tisch und Stühlen und anderen Möbelstücken. An der Wand standen nur einige Gestelle, die die Bettstellen sind. Statt eines Rostes und einer Matratze ist starke Schnur hinüber und herüber gespannt, auf die man sich dann legt. An sonstigem Mobiliar würden wir höchstens noch einen oder zwei Metallkoffer sehen, in denen das ganze Hab und Gut der Leute, ihre Kleidung und Decken liegen. Schauen wir uns weiter in dem Raum um, dann sehen wir auf eingebauten Regalen Teller und Trinkbecher aus Metall stehen. Meis73
tens blitzen und blinken sie, denn sie gelten als Schmuck und als Zeichen des Wohlstandes. Nach Essbestecken brauchen wir gar nicht zu suchen, denn die Inder essen direkt mit den Fingern. „Ja, und wo wird gekocht?“, fragte ich. Da wurde ich nach draußen geführt und sah den vermeintlichen Herd in der „großen Küche unter freiem Himmel“. An der Seite des Hauses oder davor steht er: Sechs Ziegelsteine sind zu einem offenen Viereck übereinandergeschichtet, darauf wird der Topf mit Reis gestellt und so bei offenem Holzfeuer die Mahlzeit zubereitet. Die meisten der Kinder sind nur notdürftig bekleidet. Viel schlimmer ist, dass uns überall der Schmutz entgegenstarrt, ganz gleich, ob das die Kleidung, die Füße, die Hände oder das Gesicht betrifft. Das Haar ist nur selten gekämmt. Fliegen und andere Insekten haben es leicht, einen Belagerungszustand bei den Menschen auszuüben. Weniger als 6–8 Kinder findet man selten in einer Familie, und alle wohnen in dem einen Raum. Bei den Kleinsten, die die Mütter trugen, sahen wir oft eine Schnur um den Leib und um den Hals wie Metallringe um die Hand- und Fußgelenke. Das sind noch Überreste aus dem alten heidnischen Glauben, sie sollen die bösen Geister fernhalten. Verschiedentlich können sich auch christliche Eltern davon nicht lösen und manchmal dauert es lange, bis sie selbst die Schere nehmen und die Schnüre zerschneiden, die Ringe abstreifen und der Missionarin geben. In den wenigsten Dörfern gibt es Kirchen. Die Christen in den Dörfern nehmen oft lange Wege auf sich, um an einem Gottesdienst teilzunehmen. Meistens können sie nur an hohen Feiertagen oder zu besonderen Anlässen zu Gottesdiensten kommen. Oder ein Pfarrer kommt und hält einen Gottesdienst unter freiem Himmel, unter einer bunten Plane oder in den Schulräumen, sofern vorhanden. Auch der Unterricht findet vielerorts im Freien statt. Die Dorfschulen müssen oft mit sehr einfachen Mitteln auskommen; die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland hat die Dorfschulen in der Delhi-Konferenz lange Zeit finanziell sehr unterstützt und maßgeblich dazu beigetragen, sie auszubauen und gut auszustatten. Weil die Pastoren auf ihren großen Bezirken sich nicht um alle ihre Dorfgemeinden regelmäßig kümmern konnten, gab es die sogenannten Bibelfrauen. Die meisten von ihnen waren Ehe74
frauen oder Witwen von Pastoren. Während ihre Männer im Seminar studierten, hatten sie dort ebenfalls eine einfache Ausbildung genossen, gemäß ihrer einfacheren Schulbildung. Der Unterricht war vielseitig: Bibelarbeiten, Hygiene, Kindererziehung, Handarbeiten, Haushaltsfragen, etwas Krankenpflege, Singen von Liedern, die zu bestimmten Gelegenheiten und Themen passten. Diese Frauen arbeiteten mit Frauen, jungen Mädchen und Kindern in den Dörfern, die fast durchweg Analphabeten waren. Sie hielten Bibelarbeiten und Andachten oder brachten den Frauen Lesen, Schreiben und Nähen bei. Andere Bibelfrauen gaben Grundschulunterricht. So konnten später auch Frauen, die nie eine staatlich anerkannte Schule besucht hatten, Briefe schreiben und die Bibel lesen. Zur Arbeit der Missionarinnen in Batala, zuerst Lilly Swords und später Hildegard Grams, gehörte auch die Leitung und Vorbereitung von monatlichen Schulungen aller Bibelfrauen des Distriktes. Mit ihnen wurde geeigneter Stoff durchgesprochen, die Gemeinschaft und der Austausch waren geistliche Stärkung für alle. Außerdem gingen die beiden Missionarinnen oft mit den Bibelfrauen in die Dörfer. Im Batala-Distrikt waren es zehn Bibelfrauen für mehr als 80 Dörfer. Die Bibelfrauen bekamen ein wenig Geld für ihre Arbeit, meist aus Spendenmitteln. Doch für die methodistische Kirche in Indien war es ein großes Problem und eine große Sorge, dass trotz der Arbeit vieler Bibelfrauen vor allem zahlreiche Kinder christlicher Eltern in den Dörfern ganz ohne irgendeine christliche Unterweisung aufwuchsen. Dies war eine Gefahr für die Zukunft der Kirche, denn die Kinder waren die Gemeinden von morgen! In vielen Dörfern gab es zwar regelmäßig Gottesdienste, aber keine Sonntagsschule, weil niemand von der Gemeinde sie halten konnte. Lilly Swords hatte schon, um dieser Not zu begegnen, immer wieder auf den Dörfern Ferienkurse für Kinder abgehalten. Hildegard ergriff mit den Studentinnen der Training School von Beginn an weitere Maßnahmen. Sie begann, mit den Mädchen in zwei Dörfern eine Sonntagsschule einzuführen, in anderen Dörfern wurden regelmäßige Kinderstunden veranstaltet, was ein Teil der Ausbildung war. Die Unterweisung reichte weit über die Vermittlung christlicher Inhalte hinaus: Schon beim ersten 75
Male kamen mehr als 50 Kinder, so richtige kleine Dreckspatzen, die noch nie in eine Sonntagsschule gegangen waren. Wir zeigten ihnen viele Bilder von Kindern, die sauber waren und ihr Haar gut gekämmt hatten. Da sagten die Kinder dann ganz spontan: „Ja, das nächste Mal kommen wir auch sauber!“ Und das haben sehr viele von ihnen dann auch wahrgemacht. So erstreckt sich unsere Sonntagsschularbeit nicht nur auf biblische Geschichten und Singen, sondern auch auf Körperpflege. Aus diesen Anfängen entwickelten sich die Sommerbibelschulen mit den Kindern auf den Dörfern. Im Jahr 1966 wurden in drei Dörfern jeweils sechs Tage lang mehr als 300 Kinder unterrichtet, 1967 waren es schon elf Dörfer und 900 Kinder, die erreicht wurden. Die Kurse richteten sich an Kinder, die noch nicht lesen und schreiben konnten, Schulkinder und junge Mädchen oder Frauen. Der durchschnittliche Besuch pro Tag lag bei ungefähr 50 Personen. 1968 konnten in sechs Dörfern täglich zwischen 80 und 150 Besucher erreicht werden. 1970 stieg die Zahl der erreichten Personen insgesamt auf 1200. Die Kinder kamen in Scharen, trotz Hitze, strömenden Regens oder unwegsamer Straßen. Sie kamen, auch wenn das Wasser bis an die Knöchel stand oder die Sonne so brannte, dass man einen Hitzschlag befürchten musste. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wurden es täglich mehr Kinder. Auch die nichtchristlichen Dorfkinder nahmen teil, manchmal sogar deren Mütter, und hörten das Zeugnis vom christlichen Glauben. Die gesamtkirchliche Arbeit und das Leben der Gemeinden wurde durch diese Verkündigungsarbeit sehr belebt. Wenn wieder eine Kinderbibelwoche anstand, standen allen arbeitsreiche Tage bevor. Für die Studentinnen der Training School wurden diese Wochen zum Praktikum, um das Gelernte in die Tat umzusetzen. Sie wählten mit ihrer Lehrerin biblische Geschichten aus und bereiteten sie didaktisch auf. Beschäftigungsmaterial wie Stifte, Papier, Bauklötze, Puppen, Flanellbilder zum Nacherzählen der Geschichten wurde vorbereitet. Für jedes Kind wurde eine Krone mit fünf Zacken und breitem Steg gebastelt. Das Thema der Woche, zum Beispiel „Jesus ist der gute Hirte“ oder „Jesus hat mich sehr lieb“, wurde auf die 76
Krone geklebt. Bei so vielen erwarteten Kindern eine Fülle an Arbeit! Während der Woche erhielten die Kinder für jeden auswendig gelernten Bibelspruch einen Stern, der dann auf die Zacken der Krone geklebt wurde. Wenn die Woche beginnen sollte, warteten die Kinder schon an der Straße auf die Mädchen und Hildegard Grams. Kam der Bus aus Batala in Sichtweite, wurden alle zusammengetrommelt. Dann kamen alle Kinder, die jungen Mädchen und verheirateten Frauen, die Männer waren meistens auf dem Feld. Zu Beginn wurden neue Lieder gelernt, die die Kinder schnell aufnahmen. In Gruppen wurde dann unter den Bäumen, zwischen Kühen und Ochsen, gearbeitet. Beim Hören der biblischen Geschichten war es mucksmäuschenstill! Danach durften die Kinder die Geschichten malen. Die merkwürdigsten Bilder entstanden dabei. Es konnte auch gebastelt werden, die Frauen wollten oft Puppen aus Stoff für ihre Kinder machen. Eines Tages war keine einzige Frau gekommen. Was war der Grund? Begeistert hatten die Frauen zu Hause die Geschichte von der Sturmstillung anhand eines selbst gemalten Bildes erzählt. Dass auf dem Bild fremde männliche Personen gemalt waren, hatte die Ehemänner erzürnt, sie empfanden es fast wie Ehebruch! Sie verboten ihren Frauen, weiter zu kommen. Doch mit Hilfe des Pastors konnte Hildegard den Fall aufklären und die Frauen durften wieder teilnehmen. Der Sonntag als letzter Tag war ein besonderer Tag, denn es fand kein Gruppenunterricht statt, sondern ein gemeinsamer Gottesdienst für das ganze Dorf. Da wurde viel gesungen, jede Gruppe sollte eine Geschichte von der Woche anschaulich erzählen – mit Puppen, Flanellbildern, als gespieltes Drama. Stolz saßen die Kinder mit ihren Kronen da. Sie bekamen ein selbstgemachtes Erinnerungsstück an diese Tage: Nach jeder Geschichte ließen wir die Kinder einiges, was ihnen besonders wichtig erschien, zeichnen, oder auch die ganze Geschichte, wie sie es wollten. Innerhalb von sechs Tagen hatten sie sich so ein eigenes Bilderbuch gemacht, das sie erklären konnten und das ihnen, weil sie es ja selbst gemacht hatten, sehr wertvoll war. In der Regel war es das erste Buch, was diese Kinder in ihrem Leben hatten. Hildegard und ihre jungen Mädchen erlebten von Jahr zu Jahr 77
auch die Veränderungen mit, die durch die Kinderarbeit möglich waren: Es war erstaunlich, in den Dörfern, in denen wir schon früher gearbeitet hatten, den Fortschritt in Sauberkeit und im Verhalten, die gewachsene Kenntnis der Bibel und der Lieder und auch die engere Verbindung der Bevölkerung mit Christus und der Kirche zu sehen! Auch die Prediger bestätigten, dass nach diesen Wochen eine ganze Anzahl von Kindern und Erwachsenen ihre Liebe zur Gemeinde und zu Christus durch die Teilnahme an Gottesdienst und Sonntagsschule zeigten. Als weitere Maßnahme zur Schulung boten Hildegard und ihre Mitarbeiterinnen jungen Leuten aus den Dörfern Sonntagsschul-Lehrer-Kurse an. Die jungen Leute kamen dann in den Ferien morgens nach Batala in die Schule, nachdem sie mit ihren Fahrrädern 30–40 km gefahren waren, um einige Stunden gemeinsam unterwiesen zu werden. Immer wieder baten sie darum, die Kurse fortzusetzen, beteiligten sich aktiv in ihren Gemeinden und hielten Sonntagsschule. In einem Bericht am Ende der Dienstzeit von Hildegard Grams stellte der damalige Bischof Parmar fest: Der Punjab ist das einzige Gebiet in Nordindien, wo die Arbeit der Kirche im ländlichen Raum überlebt hat. Dies mag zu einem guten Teil auf den hingebungsvollen Dienst von Lilly Swords und Hildegard Grams zurückzuführen sein sowie auf die Unterstützung durch die Evangelischmethodistische Kirche in Deutschland.
Raghbir Raghbir, ein etwa achtjähriger nichtchristlicher Junge, versuchte während einer Kinderbibelwoche zu stören, wo er nur konnte, indem er mit Steinen warf, die Tür zum Hof aufriss und dann fortrannte und dabei noch andere Jungen zum Unfug anstiftete. Da ging ich an die Tür, um mit dem Jungen zu sprechen. Natürlich rannte er sofort davon, denn er fürchtete, ich würde ihn verprügeln, wie ihm das nur zu oft widerfuhr. Als ich ihn rief, kam er nicht. Statt dessen aber hörte ich die Stimme einer Frau von dem Dach eines Nachbarhauses: „Nehmen 78
Sie nur einen Stock, und zwar einen recht dicken, und verhauen Sie ihn tüchtig. Ich erlaube es Ihnen, denn das ist das einzige, was er braucht, dieser ungezogenste aller Jungen.“ Ich erwiderte, dass ich das nicht tun werde. „Wir wollen mit den Kindern fröhlich zusammen sein, mit ihnen singen, ihnen Geschichten erzählen und basteln.“ Wenige Minuten später stand die Frau neben mir und wollte mehr wissen. Während ich nun die Gelegenheit zu einem Christuszeugnis ausnutzte, waren die fortgelaufenen Kinder langsam zurückgekommen und standen und hörten zu. Da fasste die Frau den kleinen Raghbir an der Schulter und schüttelte ihn: „Sieh mal, da kommen die Leute von so weit her und haben euch lieb, sie lehren euch so viele gute Sachen. Die hauen euch noch nicht einmal. Aber nun müsst ihr euch auch anständig benehmen. Geht nur in eure Klasse! Ich schicke meine Kinder auch zu Ihnen.“ Damit ging sie wieder an ihre Arbeit. Die Kinder blieben, denn sie wollten nun doch sehen, was das eigentlich war, wohin die anderen Kinder gingen und was sie gestört hatten. Sie sahen von weitem zu und beim Beten falteten sie auch ihre Hände und verhielten sich ganz still. Am nächsten Tag kamen alle diese Kinder wieder. Der erste war Raghbir. Er stellte sich in voller Positur an die Tür: „Wenn jetzt jemand wagt zu stören, den verhaue ich aber!“ In zwei Fällen hat er das auch wahr gemacht, ehe wir protestieren konnten. Nach drei Tagen kam Raghbirs Mutter. „Ich muss doch mal sehen, wo mein Junge immer hingeht, wovon er sich auf keinen Fall abbringen lässt. Und dann möchte ich Sie auch fragen, was mit meinem Jungen geschehen ist. Er gehorcht jetzt, ist freundlich, hilft mir sogar, während ich vorher nicht wusste, was ich mit ihm machen sollte!“ Dann erzählte sie mir von den schweren und traurigen Tagen und Jahren, in denen sie ihre elf Söhne durch Krankheit nacheinander hergeben musste. Nur dieser eine Junge war ihr geblieben. War es da nicht verständlich, dass dieses Kind jeden Willen bekam und wie ein König die Familie beherrschte? Darum erschien es uns als ein noch größeres Wunder, dass dieser kleine Tyrann durch die Liebe Christi, durch das Beispiel in den biblischen Geschichten sein Wesen und auch seine Familie geändert hat. Wir besprachen nämlich die Geschichten mit dem Hauptgedanken: Gottes Freunde sind solche Menschen, die gehorchen, die andere liebhaben und anderen helfen. Raghbir hat keine Kinderstunde mehr versäumt und wir hörten bis heute, dass er ein solcher Junge blieb, wie er zu sein angefangen hatte. 79
Ob Gott ihn vielleicht in besonderer Weise in seinem eigenen Land gebrauchen will? Von unseren Gebeten für diesen Jungen wird sicher viel abhängen.
Der Erfolg der Schule und das zweite Hostel Die meisten Christen in Indien kommen aus sozial benachteiligten Schichten, viele sind sogenannte „Kastenlose“ („Unberührbare“). Mit ihrem Übertritt zum Christentum gewannen sie nicht etwa an Ansehen, sondern verloren auch noch die wenigen Vorteile, die durch Gesetze zum Schutz von Kastenlosen geregelt waren, z. B. eine bevorzugte Vergabe von Arbeitsplätzen. Der einzige Weg zu beruflicher Perspektive und Ansehen führte deshalb über eine gute Schulbildung, mit der sie die Nachteile ihres Standes wettmachen konnten. Die Methodist Primary School (methodistische Grundschule) in Batala genoss einen ausgezeichneten Ruf. Zum ersten Mal überschritt die Schülerzahl im Schuljahr 1970/1971 die 300-er Marke, nachdem Lilly Swords Ende der 50-er Jahre mit 20 Mädchen begonnen hatte. Mehr als die Hälfte der Schüler gehörte nichtchristlichen Religionen an. Die christliche Erziehung nahm aber in der Schule einen großen Raum ein. Jeder Schultag begann mit einer Andacht, gefolgt von Singen, Bibelstudium und christlichem Religionsunterricht. Acht christliche Lehrer hielten den Unterricht, sieben davon wohnten auch auf dem Schulgelände und waren über den Unterricht hinaus zu Sonderleistungen in Sonntagsschule oder Unterricht bereit. Der ganze Freitag war reserviert für eine dramatische Darstellung biblischer Geschichten. Die Quote beim Bestehen der Abschlussprüfung betrug jedes Jahr 100 %. Weil die Nachfrage nach Plätzen in der Schule sehr hoch war, wurden jahrelang jeweils 80 neue Schüler aufgenommen, aber nun gab es Raumprobleme: Die Klassenräume reichten nicht aus, die höheren Klassen mussten geteilt werden. Darüber hinaus wurde es als große Notwendigkeit für Stadt und Distrikt Batala angesehen, die Schule zu Middle- und Highschool auszubauen. Der offizielle Schulreport der Behörden hatte die methodistische Grundschule bereits 1969 unter 80
allen Schulen besonders hervorgehoben und als gutes Beispiel für die Gesellschaft gelobt. Besonderheiten der Schule waren zum einen die „interreligiösen“ Klassen – Sikhs und Hindus saßen neben christlichen Kindern –, sowie die Co-Education, das gemeinsame Lernen von Jungen und Mädchen in einer Klasse. In dieser Situation übernahm zum 1. Januar 1971 Hildegard Grams wegen Weggangs der Nachfolgerin von Lilly Swords, Miss Dayal, die Leitung der Grundschule. Also hatte Hildegard neben dem vormittäglichen Unterrichten in der Training School, dem nachmittäglichen Überwachen der praktischen Arbeit der jungen Mädchen im Hostel, der Leitung des Hostels mit damals ungefähr 80 Kindern auch die Leitung der Schule samt der dazugehörigen Distriktsarbeit inne, die die Schulung der Bibelfrauen einschloss. Darüber hinaus gab es noch die Liegenschaften und das Grundstück in Ordnung zu halten, dazu Verwaltung und Korrespondenz. Hildegard stellte fest: Wir haben zu wenige Mitarbeiter, mit denen wir die Arbeit teilen könnten, und so liegt die größte und meiste Verantwortung auf mir. Ich bin sehr glücklich hier in meiner Arbeit, nur ist oft die Unbefriedigung da über das, was man nicht geschafft hat. Die indische Konferenz sprach ausführlich über die Möglichkeit einer Hilfskraft für Batala und richtete dann eine Resolution an die deutsche Missionsbehörde mit der Bitte um Aussendung einer weiteren Missionarin für Batala. Doch es fand sich niemand. Die Attraktivität der Schule und die wachsende Schülerzahl wirkte sich auch auf die Nachfrage nach Plätzen im Hostel aus. Das Hostel entwickelte sich durch die praktische Arbeit der Studentinnen der Training School immer mehr zum einem „Muster-Hostel“, so wurde es jedenfalls von der Öffentlichkeit gesehen: Das fröhliche und doch disziplinierte Leben in diesem Schulheim ist auch unter den nichtchristlichen Einwohnern bekannt, und wir haben viele Anfragen um Zulassung ihrer Kinder. Hätten wir mehr Raum, es würde uns eine wunderbare Gelegenheit zum Zeugnis geben, und wir könnten den Samen der Jesusliebe in noch viel mehr Kinderherzen legen. Die Zahl der Bewerbungen überstieg bei weitem die Möglichkeiten. So lag der Gedanke nah, ob wir nicht 81
ein anderes Hostel bauen sollten. Das ist natürlich eine große Geldfrage, die die indische Kirche nicht bewältigen kann. Ob wir von Deutschland aus Hilfe für dieses Projekt erwarten könnten? Damit würden wir vielen, vielen indischen Kindern eine gute Erziehung geben, die sich rückwirkend auf die ganze Entwicklung erstrecken würde, besonders auch auf unsere indische Kirche. Die Realität erzwang die weiteren Schritte schneller als die Planungen gediehen waren. Im August 1972 berichtete Hildegard Grams bei einem Deutschlandbesuch Missionssekretär Immanuel Mohr, dass sie auf beständiges Drängen der Öffentlichkeit und der Kirche in Indien Vorverhandlungen aufgenommen habe zu einer wesentlichen Ausweitung der Arbeit in Batala. Dazu gehörten der Neubau eines zweiten Hostels, die Erweiterung der Schule um die 6. bis 10. Klasse, Wohnräume für das Personal, der Bau einer großen Mehrzweckhalle für Gemeinschaftsveranstaltungen und die Ausweitung der landwirtschaftlichen Selbstversorgung. Der erste Schritt hierfür war die Beschaffung des nötigen Grundstückes. Hildegard hatte in Batala schon Gespräche wegen des direkt angrenzenden Geländes führen können, das mehr als 12.000 Quadratmeter groß war und DM 70.000 kosten sollte. Die Kosten für die gesamte Erweiterung wurden auf ca. DM 800.000 geschätzt. Die Kindernothilfe und Brot für die Welt hatten Hilfe in Aussicht gestellt. Der Plan von Hildegard war, in Abschnitten zu bauen und schnellstmöglich zu beginnen, damit bereits im März 1973 eine größere Zahl von Schülern aufgenommen werden konnte. Die Baupläne waren schon gemacht. Das Grundstück wurde von der Missionsbehörde gekauft. Hildegard war in einem kurzen Heimaturlaub in der entsprechenden Sitzung der Missionsbehörde gewesen und hatte mit dem Hinweis, sie brauche das Grundstück auch für die Jungen zum Fußballspielen, die Unterstützung des fußballbegeisterten Bischofs C. E. Sommer gewonnen. So liefen Ende 1972, Anfang 1973 alle Planungen auf Hochtouren, Anträge bei der Kindernothilfe und Brot für die Welt waren in Arbeit. Hildegard Grams musste sich um Zement und 82
Ziegelsteine kümmern, denn um sie zu beschaffen, brauchte man besondere Bewilligungen und viel Zeit und Geduld. Doch dann stockten die Planungen, über die Anträge wurde nicht entschieden. Es geschahen in Batala viele unerfreuliche Dinge: Es wurde eingebrochen und der kostbare, einzige Fernseher, noch aus Deutschland mitgebracht, wurde nebst einigen anderen wichtigen Dingen gestohlen. Auch unter den Angestellen gab es Konflikte. Es war eine Zeit, in der Hildegard meinte, der Teufel mit seinen Helfershelfern sei auf Batala losgelassen worden. Doch spürte sie in dieser Zeit auch ganz besonders die Kraft des Gebetes. Viel Mühe und Zeit verwandte Hildegard auf die Korrespondenz mit Brot für die Welt. Diese Organisation verfolgte eine andere Hostel-Politik als Batala: Sie lehnte daher die Finanzierung der Erweiterung ab mit der Begründung, Hostels würden die Kinder ihrer Umgebung entfremden. Viele Hostels, in die Brot für die Welt Geld investiert hatte, hatten durch Missmanagement zu einem schlechten Bild beigetragen. Alle Erklärungen, dass das in Batala anders war, halfen nicht. Brot für die Welt wollte kein Geld für ein neues Hostel geben. Und die Missionsbehörde der methodistischen Kirche in Deutschland wollte nicht einfach „Geld zum Anfangen“ bewilligen, weil sie spätere Finanzierungsprobleme befürchtete. Weil in dieser Zeit die fünfjährige Grundschule bis zur sechsten Klasse erweitert wurde, waren aber dringend zusätzliche Klassenräume erforderlich. Hildegard Grams nahm wegen der Finanzierung Kontakt mit der Evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe (EZE) auf. Gleichzeitig wurde die Situation im Hostel immer bedrängender. In Hildegard Grams’ Schreiben an die Vertreter der Kindernothilfe klang in der Bitte, endlich eine Entscheidung über das Projekt und die finanzielle Unterstützung zu treffen, ein verzweifelter Ton durch: In der Hoffnung, dass wir bald ein neues Hostel würden bauen können, habe ich im April 1973 mehr Kinder aufgenommen. Wir sind derzeit völlig überbelegt und haben große Schwierigkeiten, die Kinder ordentlich unterzubringen, besonders während der momentanen Regenzeit. Inzwischen waren über 100 Kinder im Hostel. 83
Nicht nur die Überbelegung des Hostels warf Hildegard Grams bei ihren Schreiben, in denen sie um Finanzmittel bat, in die Waagschale, sondern auch soziologische, pädagogische und kirchenpolitische Aspekte: Wir brauchen hier wirklich sehr dringend ein neues Hostel, einmal weil durch die rapide zunehmende Bevölkerungsdichte viele, viele – besonders christliche – Kinder sonst nicht die Möglichkeit einer Schulbildung hätten, zum anderen ist dies eine Stätte, wo wir intensive christliche Beeinflussung und Erziehung für die Kinder haben. Die Schulen werden vielleicht eines Tages vom Staat übernommen werden, dann bleiben uns die Hostels als eine Stätte, wo wir unsere christlichen Kinder fördern können. Wenn wir Möglichkeiten haben, mehr Kinder aufzunehmen, können wir auch nichtchristliche Kinder aufnehmen, die in einer christlichen Welt aufwachsen und so schon in der Kindheit eine Möglichkeit der Verständigung und des Miteinanderlebens erhalten. Die Kinderarbeit ist eine Arbeit für die Zukunft und darum möchten wir alles tun, um unsere christliche Kirche in Indien zu stärken und zu festigen. Doch trotz aller fieberhaften Versuche von Batala und auch von der Missionsbehörde in Deutschland zog sich die Entscheidung hin. Als Baubeginn wurde jetzt der 1. Januar 1974 ins Auge gefasst. Doch auch dieser Termin verstrich, die Anträge auf Finanzierung wurden negativ beschieden, und Hildegard Grams schrieb nach Deutschland: Wir sind hier alle sehr traurig und enttäuscht, dass wir noch immer nicht das grüne Licht für den Bau des neuen Hostels haben. Ich hätte nicht gedacht, dass sich so viele Schwierigkeiten in den Weg legen, schien doch alles so klar, dass Brot für die Welt den Hauptteil der Finanzierung des Hostels tragen würde, unsere Konferenz und Kirche hier hat sich bereit erklärt, den erforderlichen Anteil zu stellen, weil man hier auch die Dringlichkeit und Wichtigkeit eines neuen Hostels sieht. Dann kam plötzlich die Absage von der Zentralstelle für Entwicklungshilfe, dass sie nicht den Erweiterungsbau der Schule finanzieren wollen: Und damit glaubte nun Brot für die Welt einen Grund zu sehen, auch das Hostel nicht zu genehmigen. Gewiss, diese beiden Dinge gehen zusammen, doch sind sie nicht so verkettet, dass das eine ohne das andere nicht sein kann. Ich habe damals schon gesagt, 84
dass wir in dem alten Hostel ein oder zwei Räume als Klassenräume gebrauchen können, wenn die Schule nicht zur selben Zeit erweitert werden kann. Das Wichtigste aber ist das Hostel. Ich wünschte, die Zusage würde bald kommen, denn die Preise gehen immer mehr in die Höhe und es kann sehr leicht sein, dass der Betrag, der als Kostenvoranschlag gegeben wurde, dann nicht mehr stimmt. Wir machen uns natürlich viele Gedanken, was wir im April machen werden, wenn die Neuaufnahmen sind. In unserem Hostel können wir nicht ein einziges Kind aufnehmen, wir sind so vollgepfropft. Es wäre tragisch, wenn wir alle Kinder aus den Dörfern abweisen müssten. Die Behörde für Weltmission konnte nicht weiterhelfen, da die abgelehnten oder noch nicht entschiedenen Anträge nicht in ihrem Einflussbereich lagen. Die ungeklärte Lage verursachte Missionssekretär Mohr Bauchschmerzen. Anfang 1974 wollte eine Reisegruppe von deutschen Methodisten Batala besuchen. Der Missionssekretär befürchtete negative Auswirkungen für das Image der Missionsbehörde und der Kirche sowie eine Verunsicherung der Spender für die Missionsarbeit, da er schon vom Redakteur der Kirchenzeitung wegen der umlaufenden Gerüchte, die Finanzierung für Batala sei abgelehnt worden, um Informationen gebeten worden war. Mohr schrieb an Bischof Sommer: Was haben wir zu erwarten, wenn Schwester Grams den 14 bis 20 Besuchern ihre Enttäuschung über das bisherige Nichtgelingen der beiden Projektanträge kundtut? Wenn die Besucher ihren Erfahrungsbericht über die „hoffnungslos überfüllten Schulverhältnisse“ und das Nichtzustandekommen der Projektdurchführung von Konstanz bis Hamburg verbreiten? In jedem Falle, was ist zu tun, dass Besuch und Berichterstattung aus dem Besuch nicht negativ in die Kirche kommen? Doch da kannte Mohr Hildegard Grams schlecht. Die Reisegruppe war begeistert von Batala und konnte die Wichtigkeit der Erweiterung der Räumlichkeiten nur bestätigen. Außerdem berichtete sie, dass die Methodist School beim letzten Wettbewerb aller Schulen des Schulbezirks Batala (einschließlich aller staatlichen Schulen) den ersten Preis gewonnen hatte. Zudem hatte die Nordindische Methodistische Kirche, obwohl sie im nächsten Konferenzjahr ohne Zuschüsse aus Amerika auskom85
men und daher sogar einige Schulen aufgeben musste, den Ausbau der Schule in Batala auf ihre Prioritätenliste gesetzt, was die Bedeutung und Dringlichkeit dieser Angelegenheit nochmals unterstrich. Wieder ging Hildegard im Vertrauen auf Gottes Hilfe Schritte, ohne finanziell abgesichert zu sein. Im März 1974 berichtete sie Bischof Sommer: Wegen der Preissteigerungen von Woche zu Woche habe ich begonnen, das Material für ein paar Räume zu kaufen. Ich weiß, dies ist ein Glaubensschritt, aber ich spüre, dass wir etwas tun müssen. Der Zement, auf den wir 7 Monate warten mussten, wurde jetzt zugesagt, aber nur 1/10 der geforderten Menge. Aber unter den gegebenen Umständen hilft er, mit dem Gebäude zu beginnen. Ich vertraue darauf, dass Gott Türen öffnet und uns nicht im Stich lässt, wenn wir im Glauben unsere Arbeit tun. Für das neue Schuljahr konnte Hildegard mit großen Schmerzen aus über 120 Bewerbungen nur 16 neue Kinder auswählen. Wie schwer war es, Bewerber abzulehnen! Eine Mutter entgegnete auf die Auskunft von Hildegard, sie habe keinen Platz (englisch „seat“) mehr für das Kind, sie werde morgen einen „seat“ („Sitzplatz“ und „Stuhl“) mitbringen. Das Speisezimmer des Hostels wurde nun auch noch benötigt, um die Kinder unterzubringen. Ein anderes großes Problem waren die „großen“ Jungen (ab 10 Jahren), die erst seit der Einführung der höheren Klassen im Hostel waren und die aus dem bisher mit Jungen und Mädchen belegten Hostel unbedingt herausgenommen werden mussten. Die Situation war so, dass Hildegard Grams feststellte: Ich spüre definitiv, dass etwas geschehen muss, oder wir müssen schließen. Die Missionsbehörde in Deutschland tat alles, um die zugesagten Summen bereit zu stellen. Daneben setzte sich Lüder Lüers von der Kindernothilfe unermüdlich für das Projekt in Batala ein. Man versuchte bei Brot für die Welt einen neuen Vorstoß mit einem neuen Projektplan. Brot für die Welt nahm den Antrag wieder in die Entscheidungsfindung auf. Schließlich war eine Summe von DM 65.000, von Kindernothilfe und Missions86
behörde, für einen ersten Bauabschnitt bereitgestellt. Geplant waren zunächst vier oder fünf Räume, die in sechs Monaten fertiggestellt werden sollten. Die gesamte Delhi-Konferenz war höchst interessiert an dem neuen Projekt, denn es sollte das erste und einzige methodistische Internat für Jungen in ganz Nordindien sein. Im September 1974 war endlich die Grundsteinlegung und Ende des Jahres waren die neuen Räume schon so weit, dass die Eröffnung für März 1975 geplant werden konnte. Im April 1975 sollte das neue Schuljahr beginnen, mit einer auf 10 Schuljahre erweiterten Ausbildung. Die ersten fünf der neuen Räume waren für die großen Jungen vorgesehen und schufen im alten Hostel Platz für die neu aufzunehmenden Kinder. Geplant waren weitere fünf Räume sowie Sanitärräume. Überraschend erhielt Batala noch einen großen Geldbetrag vom Deutschen Weltgebetstagskomitee. So konnte Hildegard Grams Anfang 1975 den Missionsfreunden in Deutschland berichten: Wir haben ja nun 120 Kinder in unserem Hostel. Mit dem Wachsen räumlich und zahlenmäßig wächst auch die Verantwortung und ich wünschte mir oft, dass auch meine Hände, meine Füße, meine Arbeitskraft und Arbeitszeit in demselben Maße zunehmen würden. Das große Ereignis des letzten Jahres, auf das wir schon so lange gewartet haben und für das sehr, sehr viel gebetet wurde, ist der Beginn unseres neuen Hostels für die Jungen. Wir haben diesen Glaubensschritt im September gewagt. Die finanziellen Voraussetzungen waren nicht vollkommen gesichert und klar, doch wir wurden eindeutig geführt, so dass keine andere Wahl blieb. Gott hat uns in wunderbarer Weise einen Schritt nach dem anderen gehen heißen und eine Tür nach der anderen geöffnet, so dass wir mit Sicherheit und voller Gewissheit, dass es Gottes Werk ist, den Bau beginnen konnten und mussten. Fünf Zimmer sind bereits im Rohbau fertig und so können wir im April neue Kinder aufnehmen. Schon jetzt habe ich etwa 20 Anmeldungen. Im Sommer 1975 konnte mit 150 Gästen ein Teil des Hostels endlich eingeweiht werden. Danach musste Hildegard eine ernsthafte Erkrankung durchstehen, so dass sie den eigentlich geplanten Heimaturlaub auf das folgende Jahr verschob. Auch 87
der Umzug der Jungen in das neue Hostel, das noch keine Leitung hatte, sowie die erfolgte staatliche Anerkennung der Klassenstufen 6 bis 8 mit drei neuen Lehrerinnen machten die Verschiebung der Reise unumgänglich.
Rajkumari Bevor einer meiner Mitarbeiter zum Weihnachtsfest nach Hause ging, sagte er zu mir: „Einer der Jungen kam gestern abend und sagte zu mir: ,Wir zwei Brüder und eine Schwester, die hier im Hostel sind, gehen morgen nach Hause. Doch ich möchte Ihnen sagen, dass wir alle zwei so dankbar sind, dass unsere Schwester Rajkumari nicht mehr krank ist. Das verdanken wir Frau Grams, sie hat unsere Schwester gesund gemacht. Wir alle werden das nie vergessen!‘ Dabei hatte der 15-jährige Junge Tränen in den Augen.“ Da erinnerte ich mich, dass vor etwa einem Jahr ein Mädchen in der Schule auffiel durch ihren blassen, ängstlichen und kranken Gesichtsausdruck. Sie atmete schwer, und ich erfuhr dann, dass sie oft in der Schule fehlte, weil sie Asthmaanfälle bekam, sogar in der Schule. Als die Eltern zu mir kamen und mir ihre Not klagten, sah ich ihre Ratlosigkeit, denn sie waren von einem Arzt zum anderen gegangen, hatten viel Geld für Medikamente und Arztkosten verwendet, ohne dass dem Mädchen wirklich geholfen werden konnte. Das war sehr hart für die ganze Familie, denn der Vater hatte als Alleinverdiener eine sehr schlecht bezahlte Arbeit in einer Fabrik. Ich schlug vor, Rajkumari zu uns in das Hostel zu bringen, und wir würden versuchen, ihr durch die Gemeinschaftserlebnisse mit den Kindern und besondere Beschäftigungstherapie zu helfen. Unsere Kinder im Hostel nahmen sie gleich in ihre Gemeinschaft mit einer guten Atmosphäre auf. Ich gab ihr soviel Zeit wie nur möglich, unterhielt mich mit ihr, beschäftigte sie mit Malen, Puppen, Bauklötzen usw. Sie konnte spielen so viel und sooft sie wollte. Davon machte sie auch regen Gebrauch. Ihre Asthmaanfälle wurden seltener. Dann schlugen wir ihr eines Tages vor, in die Gruppe der kleineren Mädchen zu gehen, denn ,wir brauchen jemand, der zuverlässig ist und mithilft!‘ Sie nahm diese Herausforderung an und siedelte um. An den folgenden Tagen sahen wir eine deutliche Veränderung mit Rajkumari. Es schien, als ob richtiges Leben in ihr aufgebrochen wäre. Ihr Gesichtsausdruck wurde 88
gelöster und alle Bewegungen leichter. Die Anfälle hatten fast aufgehört. Auch in ihren Schulleistungen verbesserte sie sich merklich. Noch einmal wurde ich gerufen, als sich Anzeichen eines Anfalls zeigten: vor den Schulprüfungen. Ich unterhielt mich mit ihr, sprach ihr Mut zu, dass sie ihre Prüfungen so gut wie möglich machen sollte, denn wir hatten vorher gemeinsam an den Hausaufgaben gearbeitet. Sie reagierte sehr positiv darauf und ging zuversichtlich in die Prüfungen, die sie auch recht gut meisterte (6. Klasse). Seitdem hat Rajkumari keine Anfälle mehr. Sie ist ein fröhliches Mädchen, für die kleineren Mädchen die große Schwester, die mit ihnen spielt, singt und auch Schularbeiten macht. Sie ist einfach nicht mehr aus ihrem Kreis wegzudenken. Sie hat ihren Platz gefunden, und wir durften ihr dabei helfen.
Die Patenschaften – Segen und Last Die Schüler der Methodist School und die Studentinnen der Training School kamen größtenteils aus armen Familien und konnten ihre Ausbildung nicht selbst finanzieren. Die indische Kirche konnte für Batala keine regelmäßigen Zuwendungen geben. Die Schulen waren als kirchliche Schulen privat – auch wenn die Klassen und die Abschlüsse nach und nach staatlich anerkannt wurden – und erhielten somit keine staatlichen Zuschüsse. Nur die Primary School (Punjabi Medium) war staatlich anerkannt, sie erhielt daher 95 % der Lehrergehälter vom Staat. Die weitere Finanzierung der Schule, des Hostels und der Training School konnte nur aus Spenden gedeckt werden, die größtenteils aus Deutschland kamen. Neben den regelmäßigen Zuwendungen aus dem Etat der Behörde für Weltmission und dem Frauendienst waren Patenschaften die Garanten für den Schulbesuch vieler Kinder. Als Hildegard Grams die Training School in den 60-er Jahren begründet hatte, bat sie den methodistischen Frauendienst in Deutschland um finanzielle Hilfe für den Unterhalt der Mädchen, um überhaupt Mädchen aus den ärmeren Schichten den Schulbesuch zu ermöglichen. Aus dieser Aktion, die zunächst nur wenige Mädchen betroffen hatte, entwickelten sich die ersten Patenschaften. Pro Training89
School-Mädchen wurden DM 50 monatlich benötigt. Diese Aktion fand in den deutschen Gemeinden solchen Anklang, dass bald mehr willige Spender als bedürftige Mädchen vorhanden waren. Nach Rücksprache mit Hildegard Grams wurden dann die Patenschaften auf die Hostel-Kinder ausgedehnt. Eine monatliche Gabe von DM 30 reichte aus, Schulgeld und Internatskosten für ein Kind zu decken. 1970 ergab sich eine Kooperation, die in vielerlei Hinsicht entscheidend und wichtig für die Zukunft der Training School und des Hostels wurde: Es entstand der Kontakt zur Kindernothilfe. Beim Deutschen Evangelischen Missionstag 1970 in Berlin traf der damalige Missionssekretär, Immanuel Mohr, den Vertreter der Kindernothilfe Duisburg. Im Gespräch kam man darauf, dass die Kindernothilfe an einem Haus zur Ausbildung von Heimerzieherinnen in Indien interessiert war. Hildegard Grams sprach bald danach während eines kurzen Aufenthaltes in Deutschland mit dem damaligen Leiter der Kindernothilfe, Adolf Kölle. Daraufhin übernahm die Kindernothilfe 50 Patenschaften für Kinder und war interessiert daran, sich an den Ausbildungskosten für die Studentinnen der Training School zu beteiligen. Hildegard Grams nahm nun Kontakt zum Vertreter der Kindernothilfe in Indien, Lüder Lüers, auf. Er besuchte die Training School und das Hostel und war so beeindruckt von allem, was er sah, dass er diese Einrichtung als eine der interessantesten und wertvollsten Einrichtungen lobte, die er in ganz Indien gesehen habe. Infolgedessen wurden von der Kindernothilfe weitere 30 Patenschaften zugesagt. Anfang der 70-er Jahre startete die Kindernothilfe in Deutschland eine Werbeaktion für Patenschaften. Die Pastoren, die von ihren Gemeindegliedern darauf angesprochen wurden, versuchten die Bereitschaft für eine Patenschaft in die eigenkirchlichen Kanäle zu leiten, also nach Batala, das damals noch das einzige Projekt mit Patenschaften war. Diese Aktion erhöhte die Anzahl der Spender noch einmal stark. Hildegard Grams schrieb über die Patenschaften: Ich bin so von Herzen dankbar, dass wir keinerlei finanzielle Sorgen in unserem Hostel haben. Die Patenschaften helfen uns doch ganz enorm. Wir haben noch einige Kinder frei für Patenschaften. Dann wäre es auch eine feine Sache, wenn wir unseren jungen Leuten zu einer Ausbildung helfen könnten. Oft sitzen 90
sie zu Hause nach der Schulzeit und können in keine Ausbildung gehen, weil die Eltern das finanziell nicht verkraften können. So ergeben sich immer wieder viele Möglichkeiten zu helfen und zwar auf der Basis, dass sie sich dann selber helfen können. Als Lehrerin und Leiterin von Training School, Hostel und Schule und mit Planung und Überwachung des Neubauprojektes war Hildegard Grams vollkommen ausgelastet. Bei aller Dankbarkeit für die Spendenbereitschaft der Pateneltern war sich die Missionarin der enormen Mehrarbeit durch die Patenschaften bewusst: Für jedes Kind muss ein großer Fragebogen ausgefüllt werden, Berichte sollen geschrieben werden. Viele Spender waren nur bereit, regelmäßige Beiträge zu bezahlen, wenn sie sie für ein bestimmtes Kind geben und in persönlichen Kontakt mit diesem Kind treten konnten oder Berichte, Briefe oder Fotos von ihm bekamen. Damit begannen die praktischen Schwierigkeiten. Die Briefe und Unterlagen mussten ja nicht nur geschrieben, die Kinder beim Schreiben beaufsichtigt werden, sondern bedurften, jedenfalls was die Kinderbriefe betraf, auch noch einer Übersetzung! In den 70-er Jahren gab es mehr als 150 Patenschaften für Batala, vermittelt sowohl über die Kindernothilfe als auch über den Frauendienst der methodistischen Kirche. Die dazugehörige Korrespondenz war von der Missionarin, die ab 1971 auch noch die Leitung der Schule innehatte, kaum zu bewältigen. Dies führte in Deutschland bei den Spendern zu erheblichem Ärger, und auch einige Pastoren, deren Gemeindeglieder Pateneltern waren, wandten sich an den Missionssekretär, um eine Lösung anzumahnen. Superintendent Herbert Eckstein meinte, es sei den Spendern nicht zuzumuten, dass sie ihr Geld nur in eine allgemeine Kasse geben. Sie möchten es zweckbestimmt geben und diese persönliche Note gewahrt wissen. Es ist aber auch peinlich, wenn sie lange Zeit nichts hören und dann vielleicht die Freudigkeit zum regelmäßigen Geben verlieren und ihr Geld an eine andere Stelle leiten. Ein anderer Briefschreiber verstieg sich sogar zu dem Vorwurf von „Bummelei“, weil die gewünschten Briefe aus Indien nicht regelmäßig kamen und die persönlichen Kontakte nicht gewährleistet waren. Einige Spender zogen ihre Zusagen zurück bzw. 91
wandten sich an andere Missionare, weil sie von dort bessere Kontakte erwarteten. Doch auch der Missionssekretär konnte das Problem nicht lösen. In anderen Institutionen, zum Beispiel der Kindernothilfe, wurden die Patenschaften von einer zusätzlichen Person vor Ort abgewickelt. Hildegard Grams hatte schon 1970 in ihrem Bericht an die Behörde für Weltmission angedeutet, dass sie häufig über ihren Zeitmangel deprimiert sei. Daher bat sie um eine Hilfskraft aus Deutschland mit Englischkenntnissen, zum Beispiel im Rahmen eines diakonischen Jahres oder eines Anerkennungsjahres für den Kindergarten. Die evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland schaltete daraufhin eine Anzeige in der Kirchenpresse, in der eine diakonische Helferin für ein Jahr für die Training School in Batala gesucht wurde. Aus vielerlei Gründen, auch wegen Visumsschwierigkeiten, konnte keine Hilfe für Batala gefunden werden. Somit blieb auch das Problem der Pflege der Patenschaften bestehen. Die Vorsitzende des Frauendienstes, Maria Wunderlich, schaltete sich 1973 ein und stellte sich vor die Missionarin: Ich bin der Überzeugung, dass wir heute in vielen Dingen in den Fragen der Mission umdenken müssen, auch was unsere Gaben anbetrifft. Natürlich ist das ein Prozess. Die Leute, die draußen arbeiten, sind so überlastet, dass wir uns kaum eine Vorstellung davon machen können. Im speziellen Fall Batala müssten wir das Vertrauen aufbringen, Hildegard Grams einfach das Geld für die Patenschaften regelmäßig zu senden. Ich weiß, wenn es für Patenschaften bestimmt ist, wird es auch für nichts anderes genommen. Wenn H. Grams extra jemand einstellen müsste zum Zweck, dass jeder „sein Kind“ im Foto und dazu noch Briefe erhält – natürlich jemand von dort, der nur Englisch kann –, würden diese Kosten die Summe für viele weitere Patenschaften bedeuten. Auf jeden Fall könnten die Geber hier nicht auch noch die deutsche Übersetzung erwarten. Könnte es nicht genügen, wenn einfach ab und zu einmal die Patenkinder als Gruppe in unserer Kirchenzeitung erscheinen könnten? Und ab und zu ein kleiner Bericht? Hildegard Grams könnte damit auch eine ihrer älteren Studentinnen beauftragen, die Übersetzung kann leicht hier (in Deutschland) gemacht werden. In einem Brief wurde das Wort „Bummelei“ gebraucht, was zeigt, dass man absolut kein Verständnis für die Situation draußen hat. 92
Ein weiterer Vorschlag, das Korrespondenz-Problem zu lösen, kam von der Schatzmeisterin des Frauendienstes, die selbst viele Anfragen und Briefe von Spendern bekam. Sie regte an, ein Formular für jedes Kind zu entwerfen, wie es bei der Kindernothilfe üblich war. Außerdem sollte einmal jährlich ein Rundbrief versendet werden. Doch auch schon dies verlangte einen großen Zeitaufwand. Eine weitere Möglichkeit, die Spender zu informieren, war über die Kirchenpresse. Doch nicht alle Spender lasen die kirchlichen Zeitschriften. Das Problem blieb unlösbar. 1974 schrieb der Schatzmeister der Missionsbehörde an den Missionssekretär: Trotzdem dass wir Ende November 1973 durch das Formblatt eine Vereinfachung bezüglich der Patenschaften geschaffen haben, klappt es mit Batala überhaupt nicht mehr. Weder Spender erhalten Nachrichten noch kann ich von mir aus sagen, dass ich auf zahlreiche Post meinerseits Post erhalten habe. Wir schicken laufend größere Beträge an Geldern, insbesondere Patenschaften, nach Batala, und es klappt einfach nicht. Mehrere Leute zogen ihre Patenschaften wieder zurück. Der Konflikt war auch einer zwischen bürokratischer Genauigkeit und täglich gefordertem Pragmatismus. 1975 schrieb der Missionssekretär an Hildegard Grams: Die Gaben an Patenschaften sind in zwei Jahren mehr als verdoppelt und sind im letzten Bericht (für 1974) mit DM 60.070 ausgewiesen. Es soll angestrebt werden, dass die Beträge für Patenschaften in einem sinnvollen Verhältnis zur Zahl der Kinder stehen. Mir wäre es persönlich schrecklich, wenn sich herausstellen sollte, das heißt wenn wir nicht völlig eindeutig zeigen, dass die Gaben, die als Patenschaften (im Bewusstsein der Pateneltern) gegeben werden, damit ein bestimmtes Kind satt wird, bekleidet und geschult wird, etwa für andere Ausgaben verwendet werden. Und er verlangte eine „kindgenaue“ Abrechnung der gespendeten Gelder. In einem internen Protokoll äußerte der Missionssekretär sogar die Sorge, dass angesichts der Zahl der Kinder der Maximalbedarf überbezahlt ist. Anscheinend gebe es auch Patenschaften außerhalb der Schule, in den Dörfern. Doch so war es nicht und Hildegard antwortete ihm: Ich möchte noch erläutern, dass wenn wir auch nicht das Geld genau für jedes einzelne Kind ausgeben, ich dann in so einem Fall von Überschwemmungen doch den Eltern helfen kann. In so einem großen Kreis kann man eben 93
nicht für jedes einzelne Kind abrechnen. Unsere Kinder sind so gut versorgt, so gut gepflegt in jeder Weise, dass man erstaunt ist. Man sagt uns: „so gut wie Ihre Kinder hat es niemand weit und breit“. Sie dürfen versichert sein, dass wir diese Gaben, so wie sie gegeben werden, im Namen Jesu und in der Verantwortung gegenüber den Gebern, verwalten. Natürlich haben wir nicht nur die augenblickliche Situation im Auge, sondern handeln auf weite Sicht hin. So versuchen wir, wenn wir etwas übrig haben, die Zukunft unserer Kinder auf eine reale Basis zu bringen. Daher möchte ich immer wieder sagen, haben Sie Vertrauen zu uns. Wir haben ganz klare Karten hier, wir haben nichts Verstecktes, alles ist offen. Im März 1974 reiste Dorle Dorn aus Hockenheim, die sich für die Mission ihrer Kirche interessierte und engagierte, mit ihrer Nichte Christa Hecker vier Wochen nach Batala, um in ihrem Jahresurlaub Hildegard Grams zu helfen. Diese berichtete dankbar: Die beiden versuchen nun aus dem „Chaos“ ein organisiertes Büro zu schaffen und ich hoffe sehr, dass wir dadurch all den vielen Wartenden auch eine Freude durch einen persönlichen Brief machen können. Diese beiden schafften es, bereits diktierte Paten- und Freundesbriefe abzuschreiben oder neu zu schreiben und versandten sie dann von Deutschland aus. Aus dem Brief an die Paten hört man die immense Verwaltungsarbeit, die die Patenschaften mit sich brachten, deutlich heraus: Hildegard Grams ist sehr durch Schule, Hostel und Training School gefordert, so dass die „Bürokratie“ einschließlich der Patenbriefe nicht so zügig erledigt werden kann, wie das oft notwendig wäre. Es kommen immer wieder Namensverwechslungen vor, unklare Absenderangaben, Briefe kommen zurück – unbekannt verzogen. Oftmals geht aus den Geldbeträgen nicht klar hervor, ob Patenschaft oder eine einmalige Gabe. So geschieht es, dass mancher lange auf ein Patenkind warten muss, andere bekommen eines und hatten dies nicht vor. Ich wäre sehr dankbar, wenn man mir umgehend auf einer Postkarte mitteilen würde, ob die Adresse noch stimmt bzw. ob die Patenschaft bestehen bleibt. Ich könnte dann alles Notierte ordnungsgemäß in einer Liste bzw. Kartei erfassen und an Hildegard Grams zurückschicken Sie tut dort eine große Arbeit. Trotz mancherlei Schwierigkeiten besteht eine gute Gemeinschaft mit den Kindern, den jungen Mädchen und allen Angestellten. Alle Patenschaften und sonstigen Gaben wer94
den mit herzlichem Dank und großer Freude entgegengenommen und ebenso gewissenhaft verwaltet. Ohne diese Hilfe wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, dort in Batala allen Anforderungen gerecht zu werden. Man spürt sichtbar den Segen Gottes, der sicher auch auf den „Gebenden“ zurückfällt. Die engagierte Frau bemühte sich von Deutschland aus, das Schlamassel mit den Patenschaften durch den Aufbau einer Kartei der Patenkinder, das Erstellen von Listen und die Übernahme der Korrespondenz mit den Pateneltern so gut es ging zu beheben. Im Sommer 1975 erkrankte Hildegard Grams an Wundrose und musste im Krankenhaus behandelt werden. Der Deutschlandurlaub, bei dem sie Gelegenheit gehabt hätte, manchen Vorwurf zu entkräften und von der Verwendung der Gelder zu berichten, musste wieder verschoben werden. Das Thema Patenschaften blieb schwierig. 1979 wurde das Thema vom Frauenwerk wieder aufgegriffen. Die Schwierigkeiten der praktischen Durchführung der Patenschaftsverhältnisse, im Falle Batalas immer noch über 100, wurden im Rundbrief thematisiert, dieser Bericht gipfelte in der Bitte: Bestehen Sie bitte nicht unbedingt auf persönlichen Kontakten mit „Ihrem“ Patenkind! Sie dürfen versichert sein, dass Ihr Geld einem Kind lebenswichtige Hilfe gibt. Bitte werden Sie nicht ungeduldig, wenn Sie längere Zeit nichts über Ihre Patenschaft hören. Für die verantwortlichen Missionarinnen und für die Mitarbeiter in der Heimat sind die Patenschaften eine Aufgabe, die sie neben ihrer Hauptarbeit bewältigen müssen. In diesem Zusammenhang möchte ich ein Anliegen unserer Schatzmeisterin weitergeben. Sie bat, anstelle der zweckgebundenen Gaben für einzelne Projekte lieber die „normalen“ Zuwendungen an die Mission zu erhöhen. Die regelmäßig eingehenden Gaben für die Gehälter unserer Missionsleute sind zuerst die Grundlage einer guten Missionsarbeit. Die Fragwürdigkeit dieses Systems für die Gemeinschaft der Kinder wird auch durch das folgende Erlebnis deutlich. Ein Pate überwies einmal zu Weihnachten eine Spende von DM 100 für ein Weihnachtsgeschenk für „sein“ Patenkind. Die Spende wurde entsprechend weitergeleitet, aber natürlich hat Hildegard Grams diesem einen Kind kein spezielles Weihnachtsgeschenk 95
gekauft. Wie hätte sie das allen anderen Kindern vermitteln sollen? Im Januar kam aber prompt ein Brief des Spenders, der nun wissen wollte, was „seinem“ Kind denn gekauft worden sei. Manche Patenkinder bekamen mehrere Pakete im Jahr, einige nur eines, andere gar keines. Und was war mit den Kindern, die keine Paten hatten? Wo kein Ausgleich hergestellt wurde, konnten solche Sendungen leicht zu Neid und Streit unter den Kindern führen. So begann Hildegard zum Beispiel, die Weihnachtspakete nach Absprache mit den Kindern aufzuteilen. Alles, was doppelt war, wurde einmal dem Patenkind, einmal dem Freund oder der Freundin gegeben. Alle Süßigkeiten aus den Paketen wurden eingesammelt und dann bei einem gemeinsamen großen Fest gleichmäßig an allen Tischen verteilt. Am Tisch mussten die jeweiligen Kinder dann selbst aushandeln, wer was bekam. Das funktionierte gut! So lernten die Kinder das Teilen und fühlten sich alle gleich behandelt. 1980 übernahm Pastor Wilhelm Meinhardt die Betreuung der Patenschaften, 1983 übergab er die enorme Arbeit der Behörde für Weltmission. Nun wurden alle Paten angeschrieben, dass die Patenschaften zwar weitergeführt würden, aber keine individuelle Berichterstattung mehr zu leisten wäre. Gleichzeitig begann man, weitere Patenschaften für Kinder in anderen Ländern als sogenannte „anonyme Patenschaften“ zu vermitteln. Dazu wurden „Patenbriefe“ mit Informationen über die verschiedenen Projekte und mit kurzen, beispielhaften Berichten über einzelne Kinder versandt. So wurden aus den Einzel-Patenschaften Projekt-Patenschaften. Dieses System bewährte sich, nur wenige „Pateneltern“ zogen es damals vor, statt der anonymen eine persönliche Patenschaft über die Kindernothilfe zu bekommen.*
* Heute wird dieses Patenschaftsprogramm, mit dem auch weiterhin die Arbeit in Batala unterstützt wird, durch die EmK-Weltmission weitergeführt. Adresse siehe Seite 129.
96
Die Farm Zum Gelände der Methodist School in Batala gehörten auch große, landwirtschaftlich nutzbare Flächen, insgesamt 57 Hektar. Die Unterhalts- und Wirtschaftskosten konnten durch die Erträge stark gesenkt werden. Darüber hinaus boten sich auf der Farm gute Gelegenheiten, die Kinder mithelfen zu lassen und ihnen anschaulichen Unterricht in Naturkunde zu erteilen. Die Kinder hatten Kleingärten, in denen sie in eigener Verantwortung unter Aufsicht der Studentinnen der Training School Gemüse zogen. Sie konnten die Erträge zur Aufbesserung ihres Taschengeldes an die Hostelküche verkaufen – und Hildegard Grams war eine großzügige Abnehmerin. Die älteren Jungen und Mädchen halfen bei der Versorgung der Tiere und bei der Feldarbeit mit. Als die Schulen und damit auch das Hostel Anfang der 70-er Jahre immer mehr wuchsen, war auch eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Selbstversorgung nötig. Das direkt angrenzende Gelände mit mehr als 12.000 Quadratmetern wurde von der Missionsbehörde gekauft. Es war vor allem zur Anpflanzung von Weizen und Reis vorgesehen, mit dem die Kinder im Hostel verpflegt werden sollten. Ein Jahr später konnten auf dieser Ackerfläche bereits 50 Zentner Weizen geerntet werden, später bis zu 150 Zentner, die Hälfte des Jahresbedarfs. Nach der Weizenernte im Frühjahr wurde auf demselben Feld zu Beginn der Regenzeit Reis angepflanzt. Das wachsende Maß an Selbstversorgung war umso bedeutsamer, als in Indien die Versorgungslage durch stark steigende Preise immer schwieriger wurde. Beim Reis konnte manches Mal fast das Dreifache des Jahresbedarfs geerntet werden, der Verkauf des Überschusses brachte viel Geld in die Kasse. Auch Apfelsinen gediehen auf dem Gelände – und Blumenkohlköpfe mit einem Gewicht von bis zu 5 1/2 kg waren keine Seltenheit. In einem zweistöckigen Hühnerhaus lebten Hunderte, zeitweise gar 2000 Hühner! Sie lieferten frische Eier für die Kinder und für Kunden in der Stadt. In einem Jahr waren auf dem Feld noch viele Körner liegengeblieben. Da kam Hildegard, dem Stadtkind, eine Idee. Die Hühner sollten die restlichen Körner fressen und 97
das Feld vollständig abernten. Damit die Hühner nicht wegliefen, wurden sie immer zwei und zwei zusammengebunden und auf das Feld gelassen – aber das Experiment missglückte, die Hühner mochten nicht fressen. Bald gehörte auch größeres Vieh zum Farmbetrieb, nämlich eine Kuh und mehrere Büffel mit Kälbchen, die täglich 30 Liter Milch gaben, auch für Butter und Joghurt. Als das Brennmaterial knapp war, begann Batala als erste Institution in der Region, aus Kuhmist Biogas zu produzieren. Kuhmist war reichlich vorhanden, und die Behörden genehmigten die Anlage und unterstützen die Schule mit Zuschüssen. Das Gas wurde für das Licht gebraucht und auch zum Kochen, weil durch ständige Stromsperren große Probleme auftraten. So konnten die Ausgaben für Brennmaterial niedrig gehalten werden. Zudem diente die „Gobar-Gas-Plant“ als Demonstrationszentrum für die Umgebung, da es sonst nirgends eine solche Anlage gab. Lange erwünscht und schließlich von Spenden aus Deutschland gekauft war ein Generator für Strom, denn zu oft war die Stromversorgung unzuverlässig. Auch andere Versorgungsengpässe in Indien konnten schlimme Folgen haben. Als es 1974 im Zuge der Weltenergiekrise eine große Knappheit an Dieselöl im ganzen Land gab, konnte auch in Batala das Feld nicht bestellt werden, weil es mit einem Traktor umgepflügt werden muss. Es würde zu lange dauern, mit unseren eigenen Tieren zu pflügen. Wenn wir in den nächsten Tagen kein Dieselöl bekommen, dann ist die Ernte sehr in Frage gestellt, weil wir eben nicht säen können. Es ist uns ein großes Anliegen und auch ein Gebet, dass doch Gott auch da die Hilfe geben möchte, um Indien vor großen Hungersnöten zu bewahren. Denn wenn wir hier im Punjab nicht genug Weizen anbauen und ernten können, wird das gewiss große Bedeutung für das gesamte Land haben, denn der Punjab ist als die Kornkammer Indiens bekannt. Die Trockenheit, die wir hier im Norden Indiens vor der Überschwemmung hatten, hat sich sehr negativ auch auf unsere Reisernte ausgewirkt. Wir haben gerade die Hälfte von dem Ertrag vom vorigen Jahr an Reis. Es reicht für uns aus, aber es bedeutet doch einen großen Verlust an Einnahmen. Und so müssen wir immer wieder erkennen, wie trotz der Arbeit, trotz des Mühens, das wir hier haben, wir doch viel mehr von Gottes Lenken und Leiten in der Natur abhängig sind. 98
1980 wurde das Gelände nochmals vergrößert. Für die erhöhten Erträge wurde ein neues Vorratshaus gebraucht und gebaut. In der Erntezeit für Weizen und Reis nahmen die Angestellten der Schule und des Hostels Urlaub und halfen bei der Ernte mit. Sie erhielten ihren Lohn in Form von Weizen oder Reis, den Hauptnahrungsmitteln der indischen Familien. Als Maschinen mehr und mehr die Arbeit der Menschen übernahmen, war die Frage, wie man einerseits profitabler arbeiten, andererseits den Angestellten weiterhin die Grundversorgung garantieren könnte. Es wurde beschlossen, dass die Menschen die für ihre Familien benötigte Menge an Weizen und Reis von Hand ernten konnten, alles weitere übernahmen dann geliehene Mähmaschinen. Die Angestellten waren sehr dankbar, dass auf diese Art und Weise ihr „täglich Brot“ weiterhin gesichert war. Besonders dankbar war Hildegard mit ihrer großen HostelFamilie über die mögliche Selbstversorgung gerade dann, wenn durch Flutkatastrophen die Ernte im Punjab vernichtet wurde, die Nahrungsmittel knapp wurden und die Kosten in die Höhe schnellten: Gemüse ist auf dem Markt kaum zu haben, und wenn, dann zum drei- oder vierfachen Preis. Wir sind von Herzen dankbar, dass unsere Reisernte nicht beeinträchtigt wurde, da unser Feld etwas höher liegt und so vor einer Überschwemmung bewahrt wurde. In den letzten Tagen konnten wir auf unserem Feld Reis schneiden und damit für unsere Kinder einen Teil der Nahrung bereitstellen. Die anderen Reisfelder sind mit solcher Macht überschwemmt worden, dass der angespülte Sand 30 bis 50 cm hoch auf den Reispflanzen liegt. Bevor das Land wieder bewirtschaftet werden kann, muss der Sand entfernt werden.
Die Weizenernte Im April beginnt in Batala die große Hitze. Mit den täglich stärker werdenden Sonnenstrahlen steigt das Thermometer auf 38 Grad, an einigen Tagen sogar bis auf 50 Grad. An einem solchen Spätnachmittag, als es sich etwas abgekühlt hatte, machte ich mit einigen Kindern einen Rundgang durch unser großes 99
Gelände. Als wir an unserem Vorratshaus vorbeikamen, wo die Tür offen stand, gingen wir hinein. Unsere Kinder wussten, dass in den 18 großen Containern 350 Zentner Weizen, die Ernte des Vorjahres, gelagert waren. Einige Kinder klopften an die Container und schauten mich dann ganz erstaunt an. „Die klingen ja ganz hohl, als ob kein Weizen mehr drin ist“. „Ja,“ sagte ich, „ihr habt recht, denn den Weizen vom vorigen Jahr haben wir verbraucht, an jedem Tag backen wir für 300 Kinder für drei Mahlzeiten die Tschepatties (Fladenbrote). Und ihr wisst ja, dass jeder mindestens vier davon isst. Doch ihr habt sicher bei unserem Spaziergang gesehen, dass der Weizen auf unserem großen Feld schon gelb ist. Das ist doch das Zeichen, dass die Ernte beginnen kann. Erinnert ihr euch noch daran, als wir den Weizen im Dezember gesät haben? Nun ist er reif zum Ernten und in wenigen Tagen werden wir damit beginnen.“ Dann begann die Ernte. Mit den großen Mädchen konstruierten wir ein Tor aus Stangen und schmückten diese mit bunten Schleifen und Bändern. Das Tor war noch geschlossen. Jetzt kamen alle Jungen und Mädchen, die Feldarbeiter und Angestellten mit ihren Familien und setzten sich vor das Weizenfeld. Wir sangen Dankeslieder, beteten und hörten eine Andacht unseres Pastors. Dann gingen unser Pastor, zwei Feldarbeiter und zwei Jungen mit Handsicheln auf das Feld, um den ersten Weizen zu schneiden. Zuerst mussten sie aber die Schleifen an dem Tor durchschneiden, damit sie auf das Feld gehen konnten. Wir konnten sehen, wie sie die Ähren schnitten und jeder einen Arm voll auf den Tisch vor uns legte. Von jeder Familie kam eine Person nach vorn und nahm einen kleinen Strauß dieser Ähren. Die sollten an jedem Tag in Erinnerung rufen, dass Gottes Fürsorge und Liebe uns immer umgibt. Nach diesem frohen Auftakt begann am nächsten Morgen die Ernte. Mit Sonnenaufgang, noch vor 5 Uhr kamen unsere Feldarbeiter und die größeren Jungen mit Handsicheln und schnitten den Weizen. Mit der höhersteigenden Sonne spürten wir auch die Wärme viel mehr. Als der Schweiß in Bächen nur so am Körper herunterlief, schlug jemand vor, zunächst aufzuhören und eine Ruhepause einzulegen. Es war etwa 10 Uhr und wir hörten, dass es bereits 48 Grad waren. Wir spürten Mattigkeit und Müdigkeit. Gegen 4 Uhr nachmittags stärkten wir uns mit einer Tasse Tee mit Milch und viel Zucker und gingen wieder auf das Feld. Nun begann 100
der nächste Schritt in dem Ernteprogramm. Je zwei Personen hoben die Ähren auf und banden sie zu Garben. Dazu musste man viel Kraft aufwenden. Die Jungen trugen die Garben in die Nähe der Dreschmaschine und stapelten sie dort auf. Eine Garbe nach der anderen wurde in die Dreschmaschine geschoben und wir konnten sehen, wie das Stroh hinausgeworfen wurde. Die Körner liefen in einen Eimer und wurden dann in Säcke geschüttet. Danach wurden die Säcke gewogen. In jedem Sack musste ein Zentner sein. Der wurde dann zugenäht. Wir saßen dort bis 11 oder 12 Uhr nachts, bis alle Garben gedroschen waren. Die Säcke wurden zum Schluss in unseren Vorratsraum getragen, um später in die Container geschüttet zu werden. Das Stroh, das sich zu einem großen Berg vor der Dreschmaschine angehäuft hatte, wurde in den nächsten Tagen mit großem Hallo von den Kindern in Säcken und Planen an andere Plätze getragen, wo es als Futter und Streu für unsere Tiere gebraucht wurde. An viele Leute, die kein Feld, aber Vieh hatten, wurde auch Stroh verkauft. Neben unserem Vorratsraum haben wir eine elektrische Mühle, mit der wir den Weizen mahlen (sie kann auch Reis säubern und Gras verkleinern). Unsere Jungen tragen die Säcke zur Mühle und anschließend das Mehl in die Küche, wo es zu Teig geknetet, wie runde Teller geformt und ohne Fett auf einem Blech und offenem Feuer gebacken wird. Zu jeder Mahlzeit kommen voll gehäufte Teller auf den Tisch, auf die alle Kinder schon warten. Morgens werden die Tschepatties mit Butter oder Joghurt gegessen, den wir aus der Büffelmilch machen. Zu den anderen Mahlzeiten essen die Kinder dazu gern Gemüse, Fleisch oder Eier.
Kriege und Naturkatastrophen Kaum war Hildegard zum zweiten Mal nach Indien ausgereist und hatte die Arbeit der Training School begonnen, kam es 1965 zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Pakistan und Indien. Batala liegt nahe an der pakistanischen Grenze, nur etwa 25 km entfernt. Zwar war Indien nicht der Kriegsschauplatz, sondern Pakistan. Aber Tag und Nacht konnte man Schüsse hören, von denen sogar das Haus in Batala vibrierte. Amritsar, 35 km entfernt, wurde mehrfach bombardiert. Auch in Batala gab es 101
Störungen durch pakistanische Flugzeuge und vereinzelt fielen Bomben, die zum Glück wenig Schaden anrichteten. Die Inder, besonders die Kinder im Hostel, erlebten zum ersten Mal Fliegerangriffe und Bombenabwürfe in unmittelbarer Nähe. Es mussten Luftschutzgräben ausgehoben werden, dort schlief Hildegard mit den Kindern, bis die Angriffe vorbei waren. Die Arbeit der Missionsschule war auch durch die Verdunkelungsvorschriften stark beeinträchtigt, ab 18.30 Uhr durfte kein Licht angemacht werden. Dennoch war die Atmosphäre in der Schule sehr gut und durch Gottes Bewahrung wurde nichts und niemand auf dem Missionsgelände beschädigt oder verletzt. Die Schulgemeinschaft erlebte in diesen Schwierigkeiten echte Gemeinschaft und Bewährung des Glaubens. 1966 war der Krieg beendet und es kam zur Neuaufteilung des Punjab, die hindisprechenden Teile wurden als Haryana und Himachal Pradesh eigene indische Bundesstaaten. Dies war ein Zugeständnis der indischen Premierministerin Indira Ghandi an die Sikhs, die damit zwar nicht das gewünschte eigene Bundesland, aber immerhin eine Sprachprovinz erhielten. Die Sprache der Sikhs war Punjabi. In den 1980-er Jahren verschärften sich die immer wieder aufbrechenden Konfrontationen zwischen Sikhs und Hindus und eskalierten. Radikale Sikhs, die unter anderem die Bildung des eigenen Staates „Khalistan“ im Punjab erzwingen wollten, hatten sich 1982 im „Goldenem Tempel“ in Amritsar, dem Heiligtum ihrer Religion, verschanzt und verhandelten mit der Zentralregierung über politische Zugeständnisse. Immer wieder gab es Ausschreitungen zwischen Hindus und Sikhs. Im Mai 1984 ließ Indira Ghandi das Gelände des Goldenen Tempels vom Militär stürmen, um den Terror im Punjab zu beenden. Dabei gab es Hunderte, wenn nicht über Tausend Tote. Auch der Anführer der radikalen Sikhs, Bhindranwale, kam ums Leben. Alle Sikhs, auch gemäßigte, empfanden die Stürmung des Tempels als Entweihung und Angriff auf ihren Glauben. Die Unruhen gingen weiter. Im November desselben Jahres wurde Indhira Ghandi von ihren eigenen Sikh-Leibwächtern ermordet. Daraufhin begannen Ausschreitungen und Pogrome der Hindus gegen die Sikhs, im Punjab kämpften die Extremisten weiterhin mit Terror gegen die Bevölkerung für ihren eigenen Staat. Die Zustände ähnelten zeitweise einem Bürgerkrieg. 102
In der Schule in Batala war dagegen während der gesamten Zeit das Zusammenleben der verschiedenen Religionen von Gemeinschaftssinn und Toleranz geprägt. Hildegard Grams stand auch bei anderen Religionen in hohem Ansehen. Sie wurde einmal zur Einweihung eines Hindu-Tempels eingeladen und durfte dort eine Rede halten. Sie wählte das Thema „Liebe“. In Sikh-Tempeln war sie immer wieder zu Gast. Nach Deutschland drangen in dieser Zeit nur wenige Nachrichten. So bat der Missionssekretär Hildegard Grams um einen Bericht über die Lage. Sie schrieb im Juli 1986: Eine Extremistengruppe der Sikhs will die Bildung eines eigenen Staates „Khalistan“ im Punjab erzwingen, in den alle Sikhs aus ganz Indien umsiedeln sollen. Den Hindus, die hier wohnen, ist bis Ende September ein Ultimatum gestellt, den Punjab zu verlassen und sich in anderen Teilen Indiens neu anzusiedeln. Über die Christen hat man bisher noch keine „Bestimmung“ erlassen. Da die Sikh-Regierung des Punjab, die im September 1985 gewählt wurde, mit der Zentral-Regierung in Delhi zusammenarbeitet, hat sich diese separate Gruppe gebildet, die mit Gewalt die Bildung ihres eigenen Sikh-Staates erzwingen will. Die Hauptgegner für sie sind die Hindus, aber auch solche Sikhs, die nach ihrer Meinung die Bildung eines autonomen Staates behindern. Solche Personen erhalten Warnund Drohbriefe, dass sie damit rechnen müssen, in der nächsten Zeit liquidiert zu werden. Mitglieder dieser Extremistengruppe sind in die Schulen gegangen, haben Lehrkräfte (Hindus) erschossen, wahllos auf Passanten und Einkäufer in offenen Geschäften geschossen, auf dem Markt das Feuer eröffnet, Busse und Privatautos wurden angehalten, Fahrgäste (Hindus) herausgeholt und erschossen, die Autos mitgenommen. Das alles bringt eine große Unruhe und Unsicherheit unter die Bevölkerung. Damit will man den Rücktritt der Punjab-Regierung erzwingen. Die Regierung hat Maßnahmen getroffen und starke Polizei-Einheiten und halbmilitärische Kompanien aus anderen Teilen Indiens geschickt, um so schnell wie möglich wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Das normale Leben in der Stadt Batala mit etwa 90.000 Einwohnern kam fast zum Stillstand. Durch die ständigen Ausgangssperren 103
waren die Geschäfte oft geschlossen und in den Schulen fand seit Wochen kaum noch Unterricht statt. Auf unserem Gelände bekamen wir Einquartierung von Militär. Die Klassenräume wurden ausgeräumt, um den Soldaten Unterkunft zu geben, zuerst etwa 100 Soldaten, dann über 200. Sie haben sich auf unserem Gelände häuslich eingerichtet mit ihrer eigenen Küche in einem offenen Zelt. Das Gelände sieht wie eine Wäscherei aus, weil bei 44° C die Uniformen oft gewechselt werden. So liegen die gewaschenen Hemden usw. auf der Erde zum Trocknen – ein lustiger Anblick. Seit das Militär bei uns ist, empfindet die Bevölkerung um uns herum eine gewisse Ruhe und Sicherheit. Wenn ich in die Stadt oder in andere Orte musste, fuhren zwei Soldaten mit im Auto, einer vorn mit aufgepflanztem Maschinengewehr, der andere hinten ebenfalls mit einem Gewehr. So konnte ich dann ungehindert meine Arbeit erledigen und wieder unversehrt nach Batala zurückkehren. Als am 16. März abends in der Stadt Batala eine Bombe nach der anderen explodierte und Schüsse hörbar wurden, wussten wir, dass eine sehr ernste Situation eingetreten war. Dann ertönte auch die Sirene, die die Ausgangssperre ankündigte. Zu dieser Zeit ahnten wir noch nicht, dass dieser Zustand 5 Tage ohne die kleinste Unterbrechung anhalten würde. Die Schule blieb automatisch geschlossen, da ja niemand von den Lehrkräften und Kindern auf die Straße konnte. Auch gab es für 175 Kinder im Hostel keine Möglichkeit, nach Hause zu gehen, noch für die Eltern, ihre Kinder zu holen. Unsere großen Schulkinder, die den Ernst der Situation etwas erfasst hatten, kamen gleich am ersten Tag mit dem Vorschlag, täglich von 2 Uhr mittags bis 8 Uhr abends eine Gebetskette durchzuführen. Dies war ein wichtiger Faktor, dass eine friedvolle und harmonische Atmosphäre unter unseren Kindern und allen Mitbewohnern eintrat und Furcht, Angst und Unruhe ausschaltete. Mit meinen Mitarbeitern machten wir Pläne, wie wir unsere Kinder beschäftigen und möglichst unbeschwert durch diese Tage hindurchbringen können. Dank der guten Zusammenarbeit empfanden besonders unsere kleinen Kinder die Schwere der Situation gar nicht. Als dann nach 5 Tagen die Ausgangssperre für eine Stunde aufgehoben wurde, schwärmten unsere Mitarbeiter aus, um neue Nahrungsmittel zu kaufen. Am nächsten Tag wurde die Ausgangssperre für zwei Stunden aufgehoben. Nun kamen die ersten Eltern, um ihre Kinder nach Hause 104
zu holen. Doch die Zeit reichte nicht aus zum Holen und Zurückgehen. Da die Straßen nach zwei Stunden nicht mehr benutzt werden durften, mussten die Eltern mit ihren Kindern über Felder auf großen Umwegen aus Batala herauskommen. Eine Mutter kam, eskortiert von zwei Soldaten, um ihre Kinder zu holen. Ich unterhielt mich mit den Soldaten und fragte, ob sie nicht helfen können, dass ich Kinder aus den umliegenden Dörfern mit dem Auto zu ihren Eltern bringe (alle Zufahrtsstraßen waren von den Extremisten gesperrt. Man wollte damit verhindern, dass Lebensmittel etc. nach Batala kommen, um die Stadt völlig zu isolieren). Ein Soldat sagte zu, dass er am Nachmittag mit mir in die Dörfer fahren würde. Ich hatte mein Auto knackevoll mit Kindern gestopft und wir fuhren los. Gleich außerhalb der Stadtgrenze wurden wir angehalten. Doch als die Extremisten die vielen Kinder im Auto sahen und von dem Soldaten erfuhren, dass wir die Kinder zu ihren Eltern in die Dörfer bringen wollten, ließen sie uns weiterfahren. Übergroße Freude bei den Eltern, dass sie ihre Kinder wohlbehalten zurück hatten. Als wir wieder zurückkamen, wurden wir von denselben Extremisten wieder angehalten. Ich war nicht wenig erstaunt, als sie mich aufforderten, den Kofferraum zu öffnen. Natürlich fanden sie nichts! Auf der Weiterfahrt erklärte mir der mitfahrende Soldat: „Man wollte sehen, ob Sie Gemüse, Milch oder andere Lebensmittel nach Batala nehmen. Hätten sie das gefunden, wäre man nicht so glimpflich mit Ihnen umgegangen.“ Die Kinder unserer 8. Klasse mussten zu ihren staatlichen Abschlussprüfungen an eine zentralgelegene Schule. Wegen der Ausgangssperre konnten sie nicht allein hingehen. Da kam die Polizei mit ihren Jeeps, holte die Kinder ab, brachte sie zum Prüfungsort und brachte sie nach der Prüfung wieder zurück. Auch ein Pastor, der zu einer Trauung musste und nicht aus dem Haus konnte, wurde von mir mit den Soldaten abgeholt und wieder heimgebracht. Aufgrund der gespannten Situation wurden die Sommerferien von Ende Juni auf den 16. Juni vorverlegt. Doch am 30. Mai erhielten wir die Anordnung, die Schule am 1. Juni zu schließen und sie am 1. Juli wieder zu öffnen. Wir hoffen, dass bis dahin die Verhältnisse soweit normalisiert sind, dass nicht nur die Schule, sondern das gesamte Leben in Batala und im Punjab wieder in normale Bahnen kommt.
105
Die Lage blieb instabil, immer wieder flammte Terror auf. Das Militär blieb mehrere Jahre in der methodistischen Schule in Batala einquartiert, was die Knappheit an Räumen noch verstärkte. Missionssekretär Bodo Schwabe kam 1987 nach Indien und wollte auch Batala besuchen, bekam aber kein Visum für den Punjab. 1989 war der Goldene Tempel nochmals Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen Militär und terroristischen Sikhs. Erst Ende 1989 wurde die Besuchssperre wieder aufgehoben. Als 1992 Wahlen im Punjab abgehalten wurden, mussten die Schulen für drei Wochen schließen, weil man Racheakte militanter Sikhs befürchtete. Bis etwa 1994 gelang es der Regierung, den Terrorismus weitgehend zu besiegen, und es kehrte wieder mehr Normalität ein. Eine andere große Bedrohung der Menschen und des täglichen Lebens ging von der jährlichen Regenzeit aus, die normalerweise im Juli stattfand. Sie war vor allem für die aus Lehm und Sand gebauten Häuser in den Dörfern gefährlich. Immer wieder gab es Überflutungen mit großen Sachschäden und vielen Toten. Doch 1993 war die Situation außergewöhnlich schlimm: Um den 10. Juli setzte eine solche intensive Regenzeit ein, wie wir sie noch nie hatten, jedenfalls nicht, solange ich in Indien bin. Durch den starken Regen brachen die Dämme, und das Wasser strömte nur so in die Dörfer, auch zu uns in Batala. Die Männer und die großen Jungen standen Wache auf unserem Anwesen und beobachteten das Wasser. Wir konnten sehen, wie es von einem Augenblick zum anderen anstieg. Das Wasser kam auch in unser Hostel, und so brachten wir alle Kinder aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock. Auch in unser Wohnhaus und in mein Büro kam das Wasser. Da wir ja nicht wussten, wie hoch es ansteigen würde, packte ich schnell die wichtigsten Dinge zusammen. So war ich mit den Kindern im oberen Teil des Hostels zusammen. Das Wasser stieg während der Nacht weiter an. Nun mussten auch die Kinder aus dem anderen Hostel gebracht werden. Wir hatten gehofft, dass dies nicht nötig sei, da es viel höher liegt als die anderen Gebäude. Laufen konnten sie nicht, denn sie wären alle ertrunken. So transportierten unsere Männer sie auf dem Rücken zu uns. Nun waren wir alle zusammen. Manche Eltern kamen noch aus den umliegenden Dörfern und holten die Kleinen ab, sie mussten sie wegen des Wasserstandes huckepack tragen. Schon am Nachmittag 106
waren Familien aus der Umgebung zu uns gekommen und baten, dass wir ihnen ein trockenes Plätzchen geben möchten, denn in ihre unstabilen Häuser sei das Wasser schon hüfthoch eingedrungen. Wir räumten schnell die Klassenzimmer aus, damit sie ein kleines Plätzchen hatten. Inzwischen waren unsere Männer und großen Jungen mit Anhänger und Traktor losgefahren, um noch einige Dinge aus ihren Häusern zu retten. So hatten wir nicht nur die Menschen mit ihrem Gepäck hier, sondern auch ihre Kühe, Büffel, Hunde, Ziegen, Hühner usw. Die sind eben auch ein Teil ihres Lebens. Während der Nacht aber stieg das Wasser auch in den Klassenräumen so hoch, dass diese Leute erneut evakuiert werden mussten, und zwar in unsere Oberschule, wo sie im ersten Stockwerk in den Klassenzimmern untergebracht wurden. Später mussten wir noch zwei weitere Gebäude räumen, weil immer mehr Menschen kamen. Unser Anwesen sah nicht mehr nach Schule, sondern wie ein Auffanglager für Gestrandete aus, nachdem alle ihre Betten aufgestellt hatten. Ich verteilte abends Aspirin, damit die durchnässten Menschen nicht alle krank wurden. Tagelang hatten wir totalen Stromausfall, was natürlich die Schwierigkeiten noch vergrößerte. Wir hatten Abendandachten und Kinderstunden und sangen viel. Die Stimmung war trotz der Katastrophe gut. Wie ein großes Aufatmen ging es nach einem weiteren Tag durch die ganze Stadt, dass das Wasser nicht höher steigt. Drei Tage brauchte es, bis wir wieder auf dem Gelände gehen konnten. In unserem Wohnhaus war ein richtiges Chaos entstanden, über 10 cm stand das Wasser, Sand, Lehm, Gras und undefinierbarer Schmutz bedeckte den Fußboden. Dies aber sind nur kleine Dinge, wenn wir an die fast totale Zerstörung der Häuser in den Dörfern denken. Hilfe für die von der Flut betroffenen Menschen kam auch von denen, die selber wenig hatten: den Kindern im Hostel. Anlässlich der Flut von 1988, bei der 5.000 Dörfer überschwemmt, 500 völlig zerstört wurden und Tausende Menschen umgekommen waren, wollten die Hostel-Kinder an Weihnachten auch den Menschen helfen, die alles verloren hatten: Die größte weihnachtliche Vorfreude erleben wir immer mit unseren Kindern. Wenn wir sie fragen, warum sie sich so auf Weihnachten freuen, kommt bei fast allen spontan die gleiche Antwort: „Weil wir da etwas geschenkt bekommen!“ Es braucht dann eine bewusste Gesprächsführung, um das Denken der Kinder dahin zu lenken, dass 107
sie erkennen, nicht nur Nehmen bringt Freude, sondern auch im Geben liegt Segen und gleichzeitig Freude. Für viele Menschen im Punjab wird dieses Weihnachten mit viel Tränen und Traurigkeit verbunden sein, weil sie in der Flut alles verloren haben. Ein unbeschreibliches Bild der Not und des Elends bot sich uns bei den Besuchen in den Dörfern. Ich erzählte meine Erlebnisse unseren Kindern im Hostel. Vielen war das nicht fremd, da sie selbst aus den betroffenen Dörfern kamen. Dann kam es ganz spontan heraus: „Da wollen wir helfen, wir werden das besprechen.“ Nach einer Weile kamen sie mit dem Vorschlag: „Wir wollen am kommenden Sonntag fasten und beten. Das eingesparte Geld kann zur Hilfe für diese Menschen gebraucht werden. Wir wollen auch vier Wochen auf Fleisch und Eier verzichten und dieses Geld soll ebenso für die Betroffenen verwendet werden!“ Für den Fastentag wurde ein besonderes Programm ausgearbeitet mit Singen, stiller Zeit, Bibel-Quiz, Lesen und Diskussionsgruppen. Niemand lief mit einem langen Gesicht herum oder wollte essen. Es war eine solch friedvolle Atmosphäre, wie man sie kaum beschreiben kann. Auch in unserer Schule organisierten wir eine Hilfsaktion. Die Lehrkräfte und Angestellten gaben das Geld eines Arbeitstages. Auch die Schulkinder brachten ihre Beiträge und wir veranstalteten einen „bunten Nachmittag“. Mit dem erlösten Geld kauften wir 150 Wolldecken und 250 wollene Umschlagtücher und fuhren in die Dörfer, um diese Sachen zu verteilen. Wir waren tief beeindruckt und bewegt, als wir sahen, dass selbst dieser verhältnismäßig kleine Beitrag eine große Wirkung auslöste, die weit über den materiellen Wert hinausging. So wird dieses Weihnachtsfest für uns hier in besonderer Weise die Bedeutung des Gebens bekommen, während wir uns gleichzeitig über die große Gabe freuen, die wir empfangen, weil uns der Heiland der Welt geschenkt wurde. Die Kinder sammelten oder fasteten immer wieder, um bei Unglücksfällen wie der Giftgaskatastrophe in Bhopal mit Geldspenden zu helfen oder auch jemandem ein besonderes Weihnachtsgeschenk zu geben. Die Kinder hatten vielerlei Möglichkeiten, sich Taschengeld zu verdienen und dabei auch Teilen und tätige Nächstenliebe zu lernen.
108
Ausbaujahre und Bundesverdienstkreuz 1978 konnte die Methodist Co-Educational School in Batala 20jähriges Jubiläum feiern. Inzwischen war die ehemalige private fünfklassige Punjabi-Grundschule staatlich anerkannt und zu einer privaten Schule mit 10 Klassenstufen weiter ausgebaut, aus den 20–70 Schülern des Anfangs waren 650 geworden. Zur Feier kam auch die Schulgründerin Lilly Swords, die im Ruhestand in den USA lebte, der Arbeit in Batala aber nach wie vor verbunden war. Noch nach 20 Jahren sprachen viele Leute in den Dörfern von der „Miss-Swords-Schule“. Die ständige Erweiterung der Klassenstufen bedeutete auch für die Studentinnen der Training School eine Ausweitung ihrer Ausbildungsinhalte, denn sie hatten es nun nicht mehr nur mit Kindern, sondern auch mit Teenagern zu tun, die andere Fragen und Probleme mitbrachten. Die Erweiterung der Räumlichkeiten war weiter in vollem Gang. Nach der Fertigstellung des Jungenhostels 1975 war mit dem Bau einer Gemeinschaftshalle mit Veranda begonnen worden. Die gemeinsamen Andachten mit über 150 Hostel-Kindern mussten bisher notgedrungen im Essraum abgehalten werden. Als der genehmigte Zement für die Halle verbaut war, stockte das Projekt wieder. Im Frühjahr 1979 konnte die Halle eingeweiht werden, allerdings war sie noch nicht ganz fertig: Die Kinder gaben ihre einzelnen Darbietungen von der Bühne aus, die fertiggestellt war. Die mehr als 400 Eltern und Freunde saßen auf Schulbänken in der Halle, ohne Dach, ohne Fußboden, ohne Fenster, unter freiem Himmel, aber in dankbarer und fröhlicher Stimmung. Im Jahr darauf, 1980, bekam Batala wieder einmal Geld von der Sonntagsschulsammlung in Deutschland, womit die Inneneinrichtung bezahlt werden konnte. Die neue Halle fasst 600 Schüler. Wegen der starken Bevölkerungszunahme in Batala rückten die Wohnsiedlungen immer näher an das Gelände der Schule heran. Als sich 1980 die Möglichkeit bot, das an die bisherige Mauer angrenzende Gelände zu kaufen, bat Hildegard die Missionsbehörde um Geld dafür. Die Missionsbehörde ermöglichte den 109
Grundstückskauf, wie sie immer ihr Möglichstes getan hatte, um die Arbeit in Batala fortzuführen und auszubauen. Dieses Gelände sollte hauptsächlich als Sport- und Spielplatz für die Schule und das Hostel genutzt werden, es wurde später sogar manchmal von Regierungsbeamten zum Fußballspielen genutzt. Auch sollten die Schülerinnen und Studentinnen besser gegen unerwünschte Besucher auf dem Gelände geschützt sein. Zusätzlich wurde ein Vorratshaus für die Landwirtschaft benötigt. Später musste noch ein Wasserturm gebaut werden, um die Wasserversorgung den gestiegenen Schülerzahlen anzupassen. Schulen und Hostel platzten immer wieder aus allen Nähten. 1980 gab es 200 Anträge für Hostel-Plätze, aber nur 20 Kinder konnten aufgenommen werden. Das für die Lehrer als Wohnhaus vorgesehene Gebäude war schon zur Unterbringung von Kindern hergerichtet worden, die Lehrer wurden anderswo einquartiert. Das Hostel war mit ungefähr 200 Kindern voll belegt. Auch zusätzliche Klassenräume, die Konsequenz aus dem Ausbau der Schule, wurden dringend gebraucht, denn sogar im Jungenhostel waren Klassenzimmer untergebracht. Überdies war ein Wohnheim für 20 Studentinnen im Bau, damit die Absolventinnen der 10. Klasse auf dem Gelände bleiben konnten, um von dort aus in Batala am Baring College weiterzustudieren. Das Wohnheim wurde auf das Mädchenhostel aufgestockt und konnte dank einer Spende der Kindernothilfe realisiert werden. Immer wieder stockten auch hier die Arbeiten wegen Zementmangels. Die Räume für die Studentinnen konnten dann im März 1981 unter Anwesenheit von Vertretern der Kindernothilfe, des indischen Bischofs und des Entwicklungsministers des Punjab eingeweiht werden. Danach ging es weiter mit den neuen Klassenräumen für die 6. bis 10. Klasse, die auf das vorhandene Schulgebäude als erstes Stockwerk aufgesetzt werden sollten. Seit Mitte der 70-er Jahre war dieser Erweiterungsbau geplant. Auch später wurden die Schulgebäude noch kräftig erweitert und verschönert. Anordnungen der Punjab-Regierung machten es 1989 zu einer strengen Regel, nur punjabisprechende Klassen einzurichten. Die Punjabi Primary School war die einzige, die als Schule komplett staatlich anerkannt war. Die hindisprechenden Klassen wurden beibehalten, aber privat weitergeführt. 110
Auch die 11. und 12. Klassenstufe wurden noch zusätzlich eingeführt, womit die Voraussetzungen für den Collegebesuch endgültig gegeben waren (früher war der Besuch des Colleges auch nach 10 Schuljahren möglich, dann war das Studium länger). 1990 war die Zahl der Schüler auf knapp 900 angewachsen, fünf Jahre später zählte man mehr als 1100 Schüler und 300 HostelKinder. Durch die Neubauten hatten sie alle ausreichend Platz in freundlichen und einladenden Klassenzimmern. Im Jahr 2000 konnte als letzter Bau unter der Leitung von Hildegard Grams die neue Grundschule eingeweiht werden. So wurde in Batala ständig gebaut und renoviert, deshalb gab es einen „Bauaufseher“ (maintenance-officer), den langjährigen Mitarbeiter Alvin David, der auch die Farm leitete (Farm supervisor). In diese arbeitsreichen Zeiten fielen auch immer wieder belastende Personalfragen. Der Verwaltungsrat der Schule hatte nach langem Hin und Her 1979 beschlossen, der Hauptlehrerin wegen unhaltbarer Zustände in ihrer Arbeit zu kündigen. Die Reaktion dieser Frau war derart bösartig und verlogen, wie es keiner für möglich gehalten hatte. Sie leitete verschiedene Gerichtsverfahren ein, die alle viel Zeit und Kraft kosteten. Die Christen – entlassen wurde eine Nichtchristin – hielten in dieser Angelegenheit sehr zusammen und stärkten Hildegard den Rücken. Diese Geschichte brachte aber nicht nur viel Unangenehmes mit sich, sondern bedeutete für Hildegard auch viel zusätzliche Organisationsarbeit. Doch wirkte Gott wieder ein Wunder: Eine erfahrene Lehrerin kam aus einer über 800 km entfernten Stadt nach Batala, um die Stelle zu übernehmen. Sie konnte keine andere Erklärung dafür finden, als dass sie innerlich gedrängt wurde, an die Schule zu kommen. Später kam ein neuer Hauptlehrer, der allerdings nach einigen Jahren mit dem Motorrad tödlich verunglückte. Auch mit den jungen Mädchen der Training School hatte Hildegard manchmal Sorgen und Kummer. Es kam bisweilen vor, dass ein Mädchen schwanger wurde. Die traditionelle Rolle für die indische Frau ist Gefügigkeit, das machte es den Männern leicht. Oft passierte es innerhalb der Familie mit dem Schwager, wenn ein Mädchen in den Ferien die verheiratete Schwes111
ter besuchte. Sobald Hildegard Grams von einer Schwangerschaft erfuhr, bot sie der Betroffenen jedwede Hilfe an, denn sie wusste nur zu gut, dass die Schande eines unehelichen Kindes als so groß erachtet wurde, dass Lebensgefahr für Kind und Mutter bestand. Die unehelichen Neugeborenen wurden häufig ausgesetzt, wie sie von ihrer Zeit in Bareilly wusste. Einem Mädchen versprach sie, es während der Schwangerschaft an einem anderen Ort unterzubringen und das Kind nach der Geburt selber aufzuziehen. Doch Hilfsangebote waren meist vergeblich, weil die Familie sofort nach Bekanntwerden der Schwangerschaft das Mädchen in ihre Obhut nahm. Meist wurde das Mädchen dann zu einer Abtreibung gezwungen oder musste zweifelhafte „Medizin“ einnehmen, um die Schwangerschaft zu beenden. Nicht selten starben die Mädchen selbst daran. Diejenigen, die eine Abtreibung „erfolgreich“ hinter sich gebracht hatten, verdrängten diese meist vollkommen. Es zählte nur, dass die Schande beseitigt und die Ehre gewahrt war. Bei solchen Ereignissen war der Missionarin sehr bewusst, dass sie aus einer anderen, fremden Kultur kam und den Menschen vor Ort nur Begleitung anbieten, aber nicht wirklich helfen konnte. In diesen alltäglichen und besonderen Turbulenzen hatte Hildegard 1980 eine ernste und sehr schmerzhafte Krankheitszeit zu überstehen. Die Wirbelsäule war etwas in Unordnung geraten und drückte so auf verschiedene Nerven, dass ich weder gehen noch sitzen noch liegen konnte. Nun musste Hildegard vier Wochen im Streckbett liegen, mit dem Kopf nach unten. Doch selbst in dieser Lage versuchte sie zu arbeiten und schrieb von Hand Anträge und Briefe. Da diese Behandlung die Beschwerden nicht besserte, musste im Missionskrankenhaus in Ludhiana eine Bandscheibenoperation vorgenommen werden. Große Dankbarkeit empfand Hildegard darüber, dass sich gerade in dieser Zeit ein amerikanischer Orthopädiespezialist, Dr. Booth, im Krankenhaus zu einer Weiterbildung der Ärzte aufhielt. Vor der Operation sagte man Hildegard, dass sie Bluttransfusionen benötigte: Hier ergab sich die Schwierigkeit, dass ich keine Angehörigen zum Blutspenden nennen konnte. Blutspenden gehört in Indien zu den größten Schwierigkeiten im medizinischen Bereich, wozu selbst 112
Angehörige auch im äußersten Notfall nur selten bereit sind, denn Blut ist das eigene Leben. – Gerade waren die Ärzte aus meinem Krankenzimmer hinausgegangen, als der junge Ehemann einer früheren Studentin kam. Als er von dem Problem hörte, bot er sich zum Blutspenden an. Kaum war er weg, traten acht Pastoren unseres Batala-Distriktes ins Zimmer. Sie hatten ihre Rückreise von der Jährlichen Konferenz in Delhi unterbrochen, um mich zu besuchen. Als sie von der notwendigen Bluttransfusion hörten, war die spontane Reaktion jedes Einzelnen: „Ich bin auch bereit, Blut zu geben!“ Ich war tief beeindruckt und es war für mich fast unerklärlich und unfassbar, dass unsere indischen Pastoren zu einem solchen Opfer bereit waren, wusste ich doch, was das für sie bedeutete. In solchem Geist der Verbundenheit bildete sich eine Gebetsgemeinschaft, in der wir spürten, dass Christus selbst gegenwärtig war. Wunderbar war für Hildegard auch, dass Lilly Swords in dieser Zeit als Vertretung in Batala und bei ihr am Krankenbett sein konnte. Alles ging gut, nur dauerte die Genesung lange, weil Hildegard nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit nehmen konnte. Es bedurfte noch einer Kur im Sommer 1981 in Deutschland, um sie ganz wiederherzustellen. Dass sie für die Beantragung dieser Kur ihre Krankenakte brauchte und dafür die 150 km ins Krankenhaus nach Ludhiana fahren musste, um dort drei Stunden lang die Papiere selbst zu suchen, gehört zu den typisch indischen Begebenheiten. 1982, knapp 30 Jahre nach ihrer ersten Ausreise nach Indien, wurde Hildegard Grams als erste Missionarin der deutschen Evangelisch-methodistischen Kirche in Indien für ihr sozialpädagogisches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Dazu fand in der deutschen Botschaft in Delhi am 22. Februar 1982 eine Feierstunde mit Empfang statt, die der deutsche Botschafter in Indien, Rolf Ramisch, veranstaltete. Der damalige Bischof der Delhi-Konferenz, Joseph Lance, sowie ungefähr 30 Mitarbeiter und Freunde von Hildegard Grams, auch Mitarbeiter der Kindernothilfe und der indischen methodistischen Frauenkonferenz, waren zugegen.
113
Der Botschafter hielt im Namen von Bundespräsident Karl Carstens eine Ansprache, in der er Leben und Werk von Hildegard Grams nachzeichnete. Besonders hervorgehoben wurde das Erziehungsprinzip der Schule, Kinder verschiedener Religionen gemeinsam im Respekt voreinander zu erziehen. Der Botschafter fuhr fort: Die meisten Ihrer Schüler, sowohl im Internat wie auch in der Schule, kommen aus sozial niederen Klassen aus ländlichen Gebieten. Die Schule gibt diesen Kindern eine exzellente Chance, ihre Nachteile zu überwinden. Sie empfangen nicht nur Erziehung und liebende Fürsorge im Internat, sondern genauso auch Unterstützung, um nach Abschluss der Schulexamen eine Arbeitsstelle zu finden. Ich sollte hier erwähnen, dass die Mitglieder der Botschaft, die die Gelegenheit hatten, den methodistischen Schulkomplex in Batala zu besuchen, tief beeindruckt waren vor allem von der alles beherrschenden Atmosphäre des Glücks der Kinder und der ruhigen Effizienz. Mit Ihrer Hingabe an diese edle Aufgabe und mit dem sichtbaren Erfolg in beinahe drei Jahrzehnten Ihres Dienstes haben Sie als einzige Vertreterin der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland in diesem Land in nicht geringem Maß zum Ansehen und guten Ruf von Deutschland und seinem Volk in Indien beigetragen. Der Präsident der Bundesrepublik Deutschland verleiht Ihnen deshalb das Bundesverdienstkreuz, eine Ehre, die bisher vergleichsweise wenige Frauen empfangen haben – doch das kann sich wohl in Zukunft ändern, weil Sie ein gutes Beispiel geben. Hildegard Grams hielt nach der Verleihung des Ordens eine Dankesrede, in der sie diesen Tag als einen der Höhepunkte meines Lebens, einen Tag der Freude und des Dankes bezeichnete. Sie legte ihren Ausführungen Psalm 103,1 zugrunde: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ Sie unterstrich, dass der Dank heute Gott und den Menschen gebühre, die Anteil an ihrer Entwicklung und ihrer Arbeit hatten: Eltern, Lehrer, Mitarbeiter und Freunde. Eine besondere Freude war die Anwesenheit von Lilly Swords, denn sie vor allen habe ihr geholfen, sich in Indien einzuleben und die vielen Potenziale der unterprivilegierten Menschen zu erkennen, vor allem der Kinder in den Dörfern. Ihre Liebe zu ihnen war ansteckend und weckte in mir ebenfalls Liebe und Anteilnahme. Sie dankte auch der 114
methodistischen Kirche in Indien und in Deutschland für alle Unterstützung ihrer Arbeit. Ich fühle mich des Bundesverdienstkreuzes nicht wert, aber ich akzeptiere es mit dankbarem Herzen und werde mich bemühen, meine Arbeit für das Wohl der Kinder und Erwachsenen fortzusetzen, wo immer ich Gelegenheit dazu habe. Nach indischem Brauch wurde Hildegard danach mit bunten Girlanden behängt, ein Zeichen von Freude, Anerkennung und Verehrung. Erstaunen gab es bei den Mitarbeitern der deutschen Botschaft, als sie beim nachfolgenden Imbiss erfuhren, dass es für die Kinder in Batala selbstverständlich war, vor den Mahlzeiten zu beten, regelmäßig Andachten zu halten und auf eigene Initiative in der Bibel zu lesen. So gab dieser Tag ein eindrucksvolles Zeugnis von dem Segen, der auf der Arbeit in Batala lag.
Unruhige Zeiten statt Ruhestand Ihre Familie in Deutschland – ihre Mutter und ihre Schwester wohnten in der damaligen DDR, ihr beiden Brüder in der Bundesrepublik – sah Hildegard selten. Am Anfang ihres zweiten Indienaufenthaltes wagte sie, wenn überhaupt, nur Kurzurlaube, da sie fürchtete, sonst wieder kein Einreisevisum zu bekommen. Später konnte sie wegen der Fülle ihrer Aufgaben nur schwer weg von Batala, am besten noch während der Schulsommerferien von Juni bis September. Das war auch die heißeste und anstrengendste Zeit des Jahres, weswegen sie sich für Urlaub im kühleren Deutschland anbot. Hildegard schrieb einmal: Es ist schwer für mich zu sagen, was schöner ist: nach Hause zu gehen – nach Deutschland –, oder nach Hause zu kommen – nach Indien, Batala. Mehrfach kam, häufig in letzter Minute, wenn Flug und Reiseplan schon fest gebucht und abgesprochen waren, etwas Unvorhergesehenes dazwischen: eigene Krankheit oder Krankheit von wichtigen Mitarbeitern, neues Personal oder eine neue Klassenstufe, ein Bauprojekt usw. So kam es, dass Hildegard oft mehrere Jahre lang nicht in Deutschland war. Die für sie günstigste Abwesenheitszeit im Sommer war für den Reisedienst, der für das Spendenaufkommen sehr wichtig war, ungünstig wegen der 115
Ferienzeit in Deutschland. Trotzdem war die Reisezeit in den Gemeinden immer sehr anregend und fruchtbar sowohl für Hildegard Grams wie auch für die Gemeinden, die gerne die lebendigen Berichte hörten, großes Interesse an ihrer Arbeit und den Kindern in Batala zeigten und die Arbeit mit ihren Spenden mittrugen. Als besonderes Geschenk empfand es Hildegard, dass sie 1986 in Deutschland war, als ihre 87-jährige Mutter erkrankte und sie mit ihr zusammen sein konnte, bis diese friedlich für immer einschlief. Bereits Mitte der 70-er Jahre, als Hildegard mehrfach wegen längerer Erkrankungen ihren Dienst unterbrechen musste, wurde innerhalb der Missionsbehörde die Frage der Nachfolge für Batala aufgeworfen. Die Frauendienstvorsitzende Maria Wunderlich schob der Diskussion erst einmal einen Riegel vor, da sie es weder für akut noch für taktvoll hielt, darüber zu reden – es gehe wohl zuerst Hildegard Grams und die indische Kirche an. Ende der 70-er Jahre sprach der damalige Missionssekretär, Siegfried Ermlich, Hildegard nach einer längeren Erkrankung darauf an, wer so eingearbeitet werden könnte, dass die Nachfolge gesichert wäre, wenn sie selbst einmal nicht mehr könne. Sie betonte, dass sie in jedem Fall so lange bleiben wollte, bis bestimmte Dinge erledigt sein würden. Dazu gehörten damals geplante Baumaßnahmen wie das Studentinnenwohnheim und der weitere Ausbau der Primary- und Middle-School. Allerdings wollte sie gerne Entlastung durch Assistenten in Anspruch nehmen. Hildegard Grams klagte nie über die ungeheure Arbeitsmenge, sondern packte ihre Aufgaben stets mit Freude an. Der ständige Zeitmangel machte ihr dennoch zu schaffen. Dies in einem Land, in dem man, wie Hildegard schon am Anfang ihrer Zeit in Indien bald erfuhr, für alles unendlich viel mehr Zeit brauchte als anderswo. So musste sie zum Beispiel einmal 500 km weit in die frühere Hauptstadt des Punjab, Chandigarh, fahren, um bei der Regierung Zement für den Erweiterungsbau der Schule zu beantragen. So etwas war kein Einzelfall. Besonders gerne kümmerte sie sich um die kleinen, aber so wichtigen Angelegenheiten der Kinder, verbrachte Zeit mit ihnen und musste daher die Büroarbeit in die späten Abend- und Nachtstunden verlegen. 116
Sie übersetzte viele Kinderbücher mit biblischen und anderen Geschichten aus dem Deutschen in Punjabi oder Hindi, damit die indischen Kinder sie lesen und ansehen konnten, was diese sehr gerne taten. Immer wieder gab es Versuche von der Behörde für Weltmission in Deutschland, weitere Mitarbeiter oder Hilfen für Batala zu beschaffen, mehrfach waren Stellen ausgeschrieben. Auch die Kindernothilfe war in die Mitarbeitersuche involviert. Doch mit einer festen und dauerhaften deutschen Mitarbeiterin klappte es aus verschiedenen Gründen nicht (Visum, Arbeitserlaubnis). Weitere Missionare durften nicht mehr nach Indien einreisen. Immer wieder gingen jedoch vor allem junge Menschen aus Gemeinden der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland eine Zeitlang nach Batala, um zum Beispiel ein Praktikum für ihre Berufsausbildung, ein Praxissemester im Studium oder einfach einen Arbeitseinsatz zu absolvieren. Je nach vorhandenen Sprachkenntnissen und Vorerfahrungen waren sie trotz der meist kurzen Zeit ihres Aufenthaltes gern gesehene und willkommene Hilfen. Die größte Hilfe leistete Lilly Swords, die nach Beginn ihres Ruhestandes 1974 in die USA gezogen war, aber immer wieder monatelang nach Batala kam, um Hildegard zu helfen. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung, ihrer Kenntnisse der Sprache, der indischen Mentalität und aller Verhältnisse in Batala war ihre Hilfe die wertvollste, die Hildegard bekommen konnte. Lilly Swords war ihr auch eine gute Freundin, mit der sie eine geistliche Gemeinschaft hatte. Die amerikanische Missionarin Colleen Gillmore war von 1982 bis 1986 als Assistentin von Hildegard Grams in Batala. Außerdem hatte Hildegard von Anfang an Mitarbeiter in verantwortungsvolle Posten eingesetzt, so zum Beispiel für die Leitung der Farm, die Leitung der Hostels oder der verschiedenen Schulstufen. Ihr engster Mitarbeiter seit den 80-er Jahren war Umeed Masih, der Sohn eines Pastors, den sie wie einen eigenen Sohn liebte und förderte und der heute noch Assistant Manager in Batala ist. Nach einer Arbeitsbeschreibung der deutschen Missionsbehörde von 1980 hatte Hildegard Grams folgende Aufgaben: Leiterin der Methodist Co-Educational School (1980: 650 Kinder; 2001: 1200 Schüler/Studenten); 117
Leiterin und Lehrerin für Sozialpädagogik in der Hostel Warden Training School (ca. 17 Mädchen); Leiterin des Methodist Hostel (1980: ca. 160 Kinder); Überwachung der Landwirtschaft des Hostels in Batala mit Hühnerfarm, Milchtieren, Gemüseanbau, Getreideanbau (60 Mitarbeiter); Verwaltung, Korrespondenz, Finanzplanung und Buchführung für alle Institutionen; Verantwortliche für die Frauenarbeit im Distrikt Batala; Fortbildungsleiterin für Hostel-Leiter; Führung von insgesamt ca. 86 Mitarbeitern. In weiteren Gremien arbeitete sie ehrenamtlich mit, so zum Beispiel als Vizepräsidentin der Frauenkonferenz der Delhi-Konferenz, Mitglied des Kirchenvorstandes der Delhi-Konferenz und zeitweise als Vorsitzende des Verwaltungsrates des Baring Union Christian Colleges. Angesichts dieser Aufgabenfülle, der Komplexität der verschiedenen Schulzweige und des Hostels, der mehrfachen Qualifikation von Hildegard Grams – in Sozialpädagogik und Theologie –, ihrer langjährigen Erfahrung sowie ihrer starken Persönlichkeit verwundert es nicht, dass die Nachfolgefrage sehr schwierig war. Es erstaunt daher auch keineswegs, dass diskutiert wurde, die Arbeit auf ein Ehepaar oder zwei bzw. drei unterschiedliche Manager aufzuteilen. Es gab für die verschiedenen Arbeitszweige eigene Leiter, aber keiner davon konnte die Gesamtleitung übernehmen. Hildegard Grams war bei der deutschen Missionsbehörde angestellt, ihr Chef vor Ort aber war der Bischof der indischen Delhi-Konferenz, zu welcher auch Batala gehörte. Hildegard Grams war weit über den Distrikt hinaus eine sehr geschätzte Persönlichkeit. Die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland hatte der indischen Kirche zugesagt, ihr finanzielles Engagement in Batala nicht mit Hildegards Ausscheiden zu beenden, sondern die Arbeit dort weiter zu unterstützen. In Indien und auch in der indischen methodistischen Kirche kamen da, wo es um Posten, Macht und die Verteilung von Geldmitteln ging, Korruption, Intrigen und andere unerfreuliche Dinge ins Spiel. Konfliktstoff genug bot diese Konstellation, keiner hätte wohl gedacht, dass sich der Prozess der Übergabe in Batala 118
fast 20 Jahre hinziehen würde. Die Nachfolgefrage war in fast allen kirchlichen Institutionen in Indien ein Problem oder sogar eine Existenzfrage. Hildegard selbst machte keine Pläne in puncto Ruhestand, wohl auch aus ihrer langjährigen Indien-Erfahrung heraus: Man kann hier nicht arbeiten, ohne flexibel zu sein. Feste Pläne machen und die Wirklichkeit sind zwei ganz verschiedene Welten, die man hier nur selten in Einklang bringen kann. Doch der damalige Missionssekretär Bodo Schwabe erinnerte nach dem Höhepunkt der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes daran, dass Hildegard sich dem Ruhestandsalter näherte, und befristete die nächste Aussendung zunächst bis 1985 – das Jahr, in dem Hildegard 65 Jahre alt wurde. Die Kindernothilfe und die Behörde für Weltmission halfen, soweit es in ihren Möglichkeiten stand, bei der Suche geeigneter Personen und bei der Finanzierung von Fortbildungsmaßnahmen, aber da keine Mitarbeiter aus Deutschland mehr nach Indien geschickt werden durften, konnten sie nur indirekt helfen. Die damals schwierige politische Lage im Punjab machte es nicht leichter, indische Bewerber zu finden. In den folgenden Jahren bemühte sich Hildegard darum, mögliche Nachfolger einzuarbeiten und plante für zwei junge Männer, die schon vor Ort gute Arbeit leisteten, Fortbildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten, zum Teil im Ausland. Bis diese Maßnahmen griffen und die jungen Männer sich genug eingearbeitet hatten, wollte Hildegard – auch wegen der politisch turbulenten Lage – bleiben. Die Sache zog sich hin. Ihr Vertrag wurde „letztmalig“ bis 1989 verlängert. Doch aus nicht ganz durchschaubaren Gründen entstand innerhalb der Delhi-Konferenz eine solche Opposition gegen den jungen Mann, der die Hauptverantwortung übernehmen sollte, dass der Plan trotz vieler Bemühungen von verschiedenen Seiten scheiterte. Somit war auch die Frage nach Hildegards Zukunft wieder offen. Es ging auf ihren 70. Geburtstag zu, und der Missionssekretär teilte Hildegard mit: Aufgrund der Kirchenordnung ist beim Abschluss eines Dienstvertrages Ihr 70. Geburtstag die Grenze, über die wir nun wirklich nicht mehr hinausgehen können! Der Vertrag wurde nochmals bis 1990 verlängert. 119
Die politische Lage war nicht stabil, obwohl die Besuchssperre für den Punjab 1989 aufgehoben worden war, und auch in der Schule gab es wieder Turbulenzen, da die Sikh-Regierung des Punjab ein Gesetz erließ, die Unterrichtssprache wieder von Hindi auf Punjabi umzustellen. Das zuständige Verwaltungsgremium der Schule beschloss, dies umzusetzen (was sich später als richtig herausstellen sollte), aber einige Lehrer streikten deswegen. Dann gab es Probleme mit den Gehältern der Lehrkräfte der staatlich anerkannten Punjabi Primary School. Bisher hatte der Staat sie zu 95% übernommen. Die Privatschulen – dazu gehörten die kirchlichen Schulen – waren nun verpflichtet worden, dem Staat Gelder zurückzuzahlen, mit denen er die Gehälter bezuschusst hatte. Der indische Staat behielt die Lehrergehälter so lange ein, bis diese Summe abbezahlt war. Wäre nicht die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland eingesprungen, hätten die Lehrer jahrelang kein Gehalt bekommen. Ein ständiger Konfliktherd waren die Gehälter ohnehin, da die staatlich angestellten Lehrer ungefähr das Dreifache von dem verdienten, was die privaten und kirchlichen Schulen den Lehrern bezahlen konnten. Das bedeutete, dass in Batala die Grundschullehrer wesentlich besser bezahlt waren als die höher qualifizierten Lehrkräfte der Middle- und Highschool. Zum Glück konnte Hildegard den schlechter bezahlten Lehrern immer wieder durch Spenden finanzierte Zuschüsse geben und sie stets zur Weiterarbeit motivieren. In dieser Situation fand Hildegard nicht einmal Zeit, auf Heimaturlaub zu gehen. Aber sie hielt sich selbst nicht für unentbehrlich: Von den verschiedensten Seiten höre ich immer wieder: „Solange Sie hier sind, geht alles gut, doch mit Ihrem Gehen wird auch alles verfallen.“ Dieser Satz könnte leicht den Eindruck erwecken, dass ich mich unentbehrlich sehe. Das ist allerdings durchaus nicht der Fall. Ich bin bereit zu gehen, wenn ich nicht mehr gebraucht werde und wenn jemand die Arbeit weiterführen kann. Das ist wirklich mein ganz großes Anliegen. Batala hat sehr viele Potenziale, die aber in dieser schwierigen Zeit nicht so ganz leicht durchführbar sind. 1989 stand ein Bischofswechsel in der Delhi-Konferenz an, doch es konnte kein neuer Bischof gewählt werden. Die Situation in der indischen Kirche war nicht gut. Hildegard selbst war über 120
ihrem künftigen Weg ganz ruhig geworden und ich weiss, dass auch in diesem Abschnitt meines Lebens Gott das letzte Wort sprechen wird. Der Bischof, der nun für Batala zuständig war, die Institution aber kaum kannte, schlug 1990 ein Pastorenehepaar bzw. die Frau als Nachfolgerin für Batala vor. Sie konnte wenig Qualifikationen für diese Aufgabe vorweisen. In der Sitzung, in der die Namen genannt wurden, machte er außerdem persönlich diskriminierende Aussagen über die langjährige Leiterin von Batala. Es kam zum Eklat, in dem sich schließlich der Bischof völlig isoliert sah, weil alle auf der Seite von Hildegard standen. Ein Sturm der Entrüstung brach bei Bekanntwerden dieses Vorschlags auch im Distrikt aus. Missionssekretär Schwabe in Deutschland erhielt von „Wohlwollenden Freunden der methodistischen Institutionen in Batala“ einen flammenden Brief, der die Betroffenheit über diese Vorgänge ausdrückte und auch die hohe Wertschätzung der Arbeit von Hildegard spiegelte (Die Leute gehen so weit, dass sie wollen, dass Frau Grams bleibt und Batala dient bis an ihr Lebensende). Gleichzeitig wurde von den Mitgliedern der methodistischen Gemeinden im Batala-Distrikt ein Memorandum für den Bischof verfasst, dem 43 Seiten mit Unterschriften beigefügt waren. Der Bischof wurde aufgefordert, Hildegard eine Fortsetzung ihres Dienstes zu gestatten, so lange es ihre Gesundheit erlaubte, unter anderem mit folgender Begründung: Die Institution in Batala ist ein Symbol für die methodistische Kirche. Sie wächst Tag für Tag und ist eine Säule des Lichts unter der fähigen und lobenswerten Führung von Frau Grams. Frau Grams hat ihr Leben von Jugend auf der Entwicklung dieser Institution geweiht. Sie ist die Pionierin, die die Schule von der Grundschulstufe bis zur Highschool, kombiniert mit dem Internat, aufgebaut hat, außerdem hat sie die Training School begonnen. Durch ihre persönliche harte Arbeit konnte sie Finanzquellen für die Entwicklung dieser Institutionen erschließen und sogar für die Zukunft sichern. Diese Institution ist eine Wohltat für unsere Kinder und auch für andere Glaubensgeschwister. Unter ihrer Leitung sind die Geldquellen für diese Institution sicher und es ist gewährleistet, dass das Geld verwendet wird, wofür es bestimmt ist. Wenn diese Quellen in junge, unerfahrene Hände oder an die falschen Personen kommen, fürchten wir, dass die Institution 121
eines Tages ruiniert ist und schließen muss. Wir fürchten, wenn sie Indien in der momentanen Situation, wo der Punjab brennt, verlässt, würde es eine Einladung zur Zerstörung dieser Institution sein. Hildegard selbst war über diese Entwicklung nicht glücklich, sie wollte keinen Aufruhr um ihret- oder ihrer Arbeit willen. Die Pastoren hatten meetings, die Laien schlossen sich zusammen, um gegen diese „diktatorische“ Entscheidung zu protestieren. Ich versuchte diese Reaktion zu unterbinden und zu verhindern, denn ich wollte auf keinen Fall eine offene Auseinandersetzung mit dem Bischof. Da ziehe ich vor, im Frieden und in Harmonie aus diesem Land zu gehen, wo ich meine Kraft, meine Liebe und mein Leben als eine Berufung eingesetzt habe. Doch ich musste immer wieder hören: „Wir setzen uns nicht nur für Sie ein, sondern wir wollen die Institutionen für unsere Kinder erhalten.“ Ich konnte das Memorandum nicht verhindern. In der Diskussion, die sehr lautstark war, sah sich der Bischof ganz in die Ecke gedrückt. Er hatte keine andere Wahl, als zu sagen, dass er keinerlei Veränderungen in Batala vornehmen werde. Überall großer Jubel, dass ich in Batala bleibe. „Unsere Gebete sind erhört!“, höre ich immer wieder. Es hat mich bewegt, als einer meiner Mitarbeiter, ein Sikh, kam und mit Tränen in den Augen sagte: „Als ich hörte, dass Sie von hier fortgehen, habe ich eine Gruppe meiner Freunde genommen, bin mit ihnen in den Tempel gegangen und wir haben alle gebetet, dass Sie doch hier bei uns bleiben möchten. Und nun sind unsere Gebete erhört! Wie freuen wir uns alle!“ Ich muss schon sagen, dass ich über diese Entwicklung gar nicht glücklich bin, denn so sollte unser Dienst doch nicht sein, mit Aufruhr und Opposition gegen unsere geistlichen Führer. Die Frage nach einem Nachfolger war damit erst einmal wieder vom Tisch. So feierte Hildegard ihren 70. Geburtstag und ging weiter ihrer Arbeit in Indien nach. Auch eine in Deutschland vorgenommene Hüftoperation und eine Augenoperation bremsten nicht ihre Schaffenskraft, sie reiste wieder aus. Die Missionsbehörde unterstützte sie weiter, obwohl sie nun offiziell im Ruhestand war und Rente bezog. Ihre Bereitschaft, zu bleiben, solange sie gebraucht wurde, und ihre nach wie vor erfolgreiche Arbeit erhöhte nicht gerade die Motivation der indischen Verantwortlichen, sich um Nachfolger zu kümmern. 122
1995 gab es wieder besonderen Grund zur Freude: Die methodistische Gemeinde in Batala konnte eine neue Kirche einweihen. Hildegard schrieb an die Missionsfreunde: Damit ging ein großer Wunsch in Erfüllung: Endlich kann die Gemeinde außerhalb des Schulgeländes in einem eigenen, ansprechenden Haus, deutlich sichtbar an einer der Ausfallstraßen der Stadt gelegen, zum Gottesdienst zusammenkommen und von hier aus missionarische und diakonische Aktivitäten entfalten. Die Kapelle auf dem Schulgrundstück, hinter einer hohen Mauer und einem bewachten Tor verborgen, wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen. Heute trat die methodistische Gemeinde mit ihrem schönen runden Ziegelbau mit einem Kuppeldach aus ihrem Schattendasein heraus und stellte sich den Blicken der Öffentlichkeit. Schon Mitte der 90-er Jahre hatte man in Batala begonnen, gegen eine geringe Gebühr auch in englischer Sprache zu unterrichten. Nicht nur dem Ansehen, sondern auch den Finanzen der Institution kam dies zugute. Hildegard hatte diesen Schulzweig mit initiiert, heute trägt die „Hildegard English Medium School“ ihren Namen. Besonders schmerzlich war aber die Entscheidung des indischen Bischofs, die Arbeit der Training School einzustellen und sich gewinnbringenderen Arbeitsbereichen zuzuwenden. So leitete sie von 1998 bis 1999 den letzten Kurs dieser von ihr begründeten Ausbildung. Als 1999 wieder ein Bischofswechsel in der Delhi-Konferenz stattfand, erhielt Batala die Genehmigung für einen Neubau der Grundschule, die schon lange Zeit in einem ehemaligen Stallgebäude untergebracht war. Hildegard wollte den Bau der Schule selbst leiten und schob damit die Rückkehr nach Deutschland noch ein letztes Mal hinaus. Die Finanzierung der Schule hatte die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland übernommen, der Neubau sollte einen Höhe- und auch Schlusspunkt der Arbeit von Hildegard Grams darstellen. Die neue Schule konnte Ende 2000 mit einem stimmungsvollen Fest eingeweiht werden, zu dem eigens der Missionssekretär aus Deutschland, Thomas Kemper, angereist war. Zehn schöne, neue Klassenräume waren entstanden. Auch die Einwohner von Batala nahmen großen Anteil an der Einweihung, ein positives 123
Zeichen für die in diesem Mikroorganismus immer friedlichen Beziehungen der verschiedenen Religionen zueinander. Von Seiten der indischen Kirche war immer noch kein Nachfolger bestimmt worden, da man nicht glauben wollte, dass Hildegard Grams Batala tatsächlich einmal verlassen würde. Diesbezügliche Briefe und Gespräche der indischen Kirchenleitung hatten konstruktive Zusammenarbeit, Höflichkeit und Respekt manches Mal vermissen lassen. In Deutschland gab es zwar eine Bewerbung auf die Stelle in Batala, jedoch konnte niemand ausgesandt werden, da es keine Anforderung der indischen Kirche gab. Arbeitsgenehmigungen wurden vom indischen Staat auch nur für die Berufe erteilt, an denen in Indien Mangel herrschte (Lehrer gehörten nicht dazu). Nach der Eröffnung der neuen Schule war die Zeit des Abschieds gekommen. Nur wie er vonstatten gehen sollte, darüber gab es verschiedene Ansichten. Als Hildegard erfuhr, dass von allen Gemeindegliedern im Distrikt eine nicht geringe Geldsumme für ihre Abschiedsfeier gesammelt werden sollte, schritt sie ein und bat darum, nur mit einem Dankgottesdienst in dem neuen Kirchengebäude verabschiedet zu werden. Doch das war den indischen Mitarbeitern zu wenig, und so gab es dann Abschiedsfeste mit den einzelnen Gruppen. Zwei Kleinbusse voller Schüler und Mitarbeiter begleiteten schließlich die langjährige Leiterin und Begründerin so vieler Arbeitszweige zum Flughafen nach Delhi. Am 6. April 2001 verließ Hildegard Grams nach 48 Jahren Missionstätigkeit im Alter von 80 Jahren ihre indische Heimat Batala und kehrte nach Deutschland zurück. Sie lebt seither mit ihrer Schwester in der Nähe von Hannover. Nach Hildegards Rückkehr nach Deutschland wurde als ihre Nachfolgerin Frau Alka Hamid Masih von Delhi nach Batala gesandt. Deren Berichte an die Behörde für Mission und internationale Zusammenarbeit in Deutschland, die nach wie vor die Schulen in Batala samt weiteren Projekten finanziell unterstützt, zeugen von einer äußerst vielfältig und lebendig fortgeführten Arbeit in christlicher Verantwortung. 2004 wurden die Schulen 124
von fast 1400 Schülern besucht. Ebenfalls 2004 wurde in den Räumen der früheren Training School eine neue Arbeit für Mädchen vom Land nach dem Abschluss der 10. bzw. 12. Klasse begonnen, die „Lilly Swords Cutting and Tailoring School“ (Schneiderei- und Nähschule). Auch das „Lilly Swords Computer Education Center“ für Computerkurse, um nur eines der neuen Projekte zu nennen, wächst aufgrund der Nachfrage ständig. Die Hostels, die 2005 mit 425 nach Altersgruppen und Geschlecht aufgeteilten Kindern belegt sind, gehören zu den größten Hostels in Nordindien. Immer noch kommen die meisten Kinder aus ärmeren und ärmsten Schichten auf dem Land. Die Hostel-Kinder werden durch Patenschaften der Kindernothilfe unterstützt. Mit ihren Leitern gehen die Hostel-Kinder regelmäßig in ausgewählte Dörfer, um dort bei der Alphabetisierung von Frauen und Kindern mitzuwirken (Rural Children Development Project). 2003 wurde mit Geldmitteln von der methodistischen Kirche in Deutschland und der Kindernothilfe eine neue Wasserversorgung für die große Schar von Kindern und Mitarbeitern auf dem Gelände in Batala gebaut. So ist die Zukunft Batalas und vieler indischer Kinder gesichert und in guten Händen, was angesichts der vielen unausgebildeten Arbeitslosen im Punjab und in Indien wichtiger ist denn je. Auf der Arbeit in Batala liegt Gottes Segen, sie wächst weiter. Davon konnte sich auch Hildegard Grams zu ihrer großen Freude überzeugen, als sie Ende 2004 als Besucherin nach Batala zurückkehrte.
125
Epilog 2004 Ich saß wieder im Flugzeug, das von Frankfurt in Richtung Indien nach Delhi flog! Nach meiner Rückkehr nach Deutschland vor 3 1/2 Jahren war dies nun das erste Mal, dass ich für einen sechswöchigen Besuch wieder auf dem Weg nach Indien war. Das Flugzeug flog ruhig, doch meine Gedanken hatten keine Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern eilten in einem rasenden Tempo nach Batala, um zu erkunden, was, wie und wen ich dort wohl antreffen würde. Die sieben Stunden Flugzeit vergingen so schnell, dass ich gar nicht merkte, dass das Flugzeug bereits zum Landen ansetzte. Ich war in Indien – Delhi! Aussteigen, Pass- und Gepäckkontrolle und weiter zum Ausgang. Ich hatte schon meine Freunde aus Batala und sie mich entdeckt und wir winkten einander zu. Dann kam das Schönste: Die persönliche Begrüßung, die recht stürmisch und bewegt vor sich ging. Nach indischem Brauch bekam ich eine Girlande nach der anderen umgehängt, so dass ich kaum darüber hinwegsehen konnte. Für uns schien die Zeit stehengeblieben zu sein, denn wir merkten gar nicht, dass es schon drei Uhr morgens war! Als wir dann am nächsten Morgen durch die Straßen fuhren, war das altbekannte Bild wieder da: Die Menschen, die in ihrer staubigen und schmutzigen Kleidung die Rikschas zogen oder fuhren, der Karren, der von kleinen halbverhungerten Pferden oder Maultieren gezogen wurde. Die verschwitzten Menschen in ärmlicher Kleidung ließen keinen Zweifel über eine erdrückende Armut. Nicht zu übersehen waren die vielen Menschen, darunter wieder die vielen Kinder, die betteln. Man bekommt ein Bild der Armut und der Trostlosigkeit. Daneben dann aber auch viele Autos, die den Wohlstand demonstrierten. Indien, ein Land der großen Gegensätze! Wir setzten unsere Reise in den Punjab mit dem Zug fort. Vor uns lagen nun 10 Stunden einer verhältnismäßig guten Fahrt. In Beas wurden wir mit dem Auto abgeholt und wussten: in einer Stunde sind wir „zu Hause“. Inzwischen ging es auf 11 Uhr nachts zu und ich dachte, dass ich ganz still und leise ins Zimmer gehen könnte, um mich zur Ruhe zu legen. Doch nun kam eine neue Überraschung auf mich zu und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das Auto hielt vor dem Tor, ich musste aussteigen und sah mich mehr als 300 Kindern gegenüber, jedes hatte eine Girlande in der Hand. Als sie mich 126
sahen, gab es kein Halten mehr. Sie stürmten auf mich zu und riefen immer wieder: „Unsere Mutter ist wieder zu uns gekommen! Unsere Mutter ist wieder zu uns gekommen!“ Nun gab es fast Kämpfe untereinander, wer mir zuerst seine Girlande umhängen konnte. Die Musikkapelle spielte und die Jungen tanzten den Weg entlang bis zum Wohnhaus. Die ausgelassene Stimmung wollte kein Ende nehmen. Nur das „Wir sehen uns ja morgen wieder“ konnte die Kinder bewegen, ins Hostel und zu Bett zu gehen. Einen solchen bewegenden und herzlichen Empfang hatte ich mir wirklich nicht vorgestellt. Wohl selten hatte unser Gelände so viele Besucher aus der Stadt wie aus den Dörfern gesehen, wie in den nächsten Tagen zum Begrüßen kamen. Die strahlenden Gesichter, die Girlanden, die Blumen ließen keinen Zweifel an der Freude des Wiedersehens aufkommen. Jeder wollte erzählen, was sich im persönlichen Leben in der Zwischenzeit ereignet hatte. Für Besuche in den Dörfern boten sich in den nächsten Wochen noch mehr Möglichkeiten. Drei Wochen lang gingen wir jeden Vormittag in die Dörfer, besuchten die Leute und hielten Gottesdienst. Wir schätzten die Gemeinschaft und den Austausch über Dinge, die sie bewegten, und wir spürten, dass sie uns in ihr persönliches Leben einbezogen. Dann hatten wir ein gemeinsames Mittagessen, ich genoss das echte indische Essen. Dann ging es in das nächste Dorf. Auch hier ein fröhliches Wiedersehen, ein Mitteilen, ein Austauschen. Natürlich trugen sie auch ihre Wünsche vor, sowohl persönliche betreffs ihrer Kinder, wie auch zu helfen, dass das eingestürzte Pastorenhaus wieder hergerichtet wird, die gesenkte Kirche gehoben wird und vieles mehr. Die Liste nahm meistens kein Ende. Es war nicht immer ganz einfach, sie auf ihre eigene Verantwortung hinzuweisen und zu zeigen, wo sie selbst Hilfe leisten können. Ein Höhepunkt meines Besuches in Batala war das Treffen mit meinen ehemaligen „Kindern“. Hier kamen nun die jungen Männer und Frauen, die bereits Familien gegründet hatten. Bei manchen hatte ich Mühe, sie zu „identifizieren“. Sie hatten sich zu Persönlichkeiten entwickelt. Das Erzählen nahm kein Ende. Das für uns alle so Erfreuliche war: Es hatte jeder eine gute Arbeitsstelle. Hier standen nun Krankenpfleger und -schwestern, Industriekaufmänner/-frauen, 127
Lehrkräfte, Medizinisch-technische Assistenten, ein Pastor usw. Freude und Dankbarkeit über diese gute Entwicklung kam immer wieder zum Ausdruck. Für mich war es ein besonderer Dank zu sehen, dass wir nicht nur gepflanzt und – wie Paulus sagt: gegossen haben, sondern auch die Ernte sehen konnten, wozu Gott seinen Segen gegeben hat. Beim Rundgang in den Schulen und im Hostel konnte ich immer wieder sehen, dass die Arbeit gut weitergeführt wird. Dann ging meine Reise weiter in den südlichsten Teil Indiens: Kerala, in die Stadt Trivendrum. Von hier und anderen südlichen Staaten kamen in den Jahren nach 1980 junge Mädchen zur sozialpädagogischen Ausbildung nach Batala. Anschließend wurden sie an verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt. Sie bewährten sich so gut, dass sie nun in leitenden Stellungen in Kinderheimen und auf anderen Plätzen sind. Eine ehemalige Studentin unterrichtet in einer Bibelschule, eine wurde Leiterin in einem Kinderheim, eine andere hat die Verantwortung für 50 junge Mädchen, die wegen nicht ausreichender Schulbildung in verschiedene Berufe vermittelt werden. Am eindrucksvollsten war die Arbeit von Remany, auch eine ehemalige Studentin in Batala. Ihr wurde die Leitung eines Polio-Heimes übertragen. Hier werden Kinder bis zu 20 Jahren behandelt, gefördert und entsprechend ihrer Behinderung auf einen Platz im Berufsleben vorbereitet. Remany hat eine liebevolle und freundliche Art und alle Kinder haben Vertrauen zu ihr. Sie sieht zu, dass alle Kinder irgendwie beschäftigt sind. Die Jungen spielen sogar Kricket. In einer Feierstunde erlebte ich ihre Band. Die Kinder saßen in Rollstühlen und spielten ihr Instrument. Der Direktor sprach sich sehr anerkennend über die Mitarbeit von Remany und den anderen ehemaligen Studentinnen von Batala aus, durch die Ausbildung werde ein wichtiger Beitrag in der Kindererziehung geleistet. Ich durfte in Dankbarkeit ein wenig sehen, wie Gott die Arbeit, die in seinem Namen getan wird, segnet und sie zum Segen für viele werden lässt. Und ich danke allen von Herzen, die zum Teil schon lange diese Arbeit unterstützen.
128
Abbildungen 1. Hildegard Grams als Gemeindehelferin in Berlin (1946–1950) 2. Im Kinderheim in Bareilly (1955–1958) 3. Mit dem Kinderchor in Bareilly 4. Weihnachtskrippenspiel in Bareilly 5. Elefantenritt bei Bareilly (ganz links: H. Grams) 6. Batala: Erster Kurs der Training School 1965 7. Kinderbibelwoche auf den Dörfern 8. Dorffrauen bei Bibelwochen 9. Batala: Hostel und Training School (1. Stock) 10. Unterricht in der 9. Klasse von einem Sikh-Lehrer, Mädchen und Jungen sitzen getrennt 11. Batala: Schulgebäude (links) und Hostel mit Training School (rechts) 12. Gemeinsames Essen mit den Hostel-Kindern anlässlich eines Festes 13. Batala: Gemeinschaftshalle 14. Landwirtschaftliche Arbeit auf der „Farm“ 15. Weizenernte auf der Farm in Batala 16. Hildegard Grams mit Lilly Swords, Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1982 17. Der letzte Ausbildungsjahrgang der Training School, 1998/99 (2. v.l.: Shamsa Nasir) 18. Hildegard Grams 2004 beim Treffen mit früheren HostelKindern und deren Familien 19. Plan des methodistischen Geländes in Batala Fotos: Hildegard Grams (privat): 1.-8., 10.-13., 16.-20., Behörde für Weltmission: 9., 14., 15.
Informationen zur Arbeit der EmK-Weltmission und zu den Patenschaften für Kinder- und Jugendprojekte bei: EmK-Weltmission. Holländische Heide 13, 42113 Wuppertal. Tel. 02 02 / 7 67 01 90; [email protected]; www.emkweltmission.de; Konto: 401773 EKG Stuttgart, BLZ 600 606 06.
129
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
10
1
22
9
11
12
23
14
13
15
27
17
25
16
19
26
24
18
20
21
7
2
6
4 5
3
8
Legende zum Plan Batala Stand 2005 1.
Gemeinschaftshalle
2.
Jungenhostel (große Jungen)
3./4.
Elektrische Bewässerungsanlagen
5.
Generator
6.
Zuerst Hühnerfarm, umgebaut zur Punjabi Primary School
7.
Zuerst Wohnhaus für Angestellte, umgebaut zu Schulgebäude
8.
Wohnhaus für Angestellte
9.
Schulgebäude (Erdgeschoss)
10.
Fahrradständer
11.
Biogasanlage
12.
Büffelstall
13.
Mädchenhostel (Erdgeschoss), Studentinnenwohnheim (1. Stock)
14.
Speisesaal
15.
Jungenhostel (Erdgeschoss), Training School (1. Stock)
16.
Wasserturm
17.
Geräteschuppen
18.
Zuerst Wohnhaus für Angestellte, umgebaut zu Jungenhostel
19.
Reparaturwerkstatt
20./21. Wohnhaus für Angestellte 22.
Kirche, später Andachtsraum (neue Kirche außerhalb des Geländes)
23.
Toilette
24.
Wohnhaus der Managerin, Gästezimmer, Büro, Garage
25.
Jungenhostel (kleine Jungen)
26.
Sportplatz
27.
Rasen