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German Pages 257 [259] Year 2024
Henrik Steffens und Halle um 1800
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung
Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Herausgegeben von Daniel Cyranka, Elisabeth Décultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Ottfried Fraisse, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Heiner F. Klemme, Till Kössler, Andreas Pečar, Jürgen Stolzenberg, Sabine Volk-Birke, Daniel Weidner, Wiebke Windorf Wissenschaftlicher Beirat Albrecht Beutel, Colas Duflo, Corey Dyck, Nathalie Ferrand, Marian Füssel, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Steffen Martus, Laura Stevens
Band 72
Henrik Steffens und Halle um 1800 Bergbau – Dichterparadies – Universität Herausgegeben von Marit Bergner, Marie-Theres Federhofer und Bernd Henningsen
Mit freundlicher Unterstützung der Henrik-Steffens-Professur des Nordeuropa-Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin und der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
ISBN 978-3-11-133375-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-135882-6 ISSN 0948-6070 Library of Congress Control Number: 2023951311 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druckvorlage: Aleksandra Ambrozy Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Marit Bergner, Marie-Theres Federhofer, Bernd Henningsen Einleitung | 1
Teil I: Bergbau Marie-Theres Federhofer Die „gesetzgebende Gewalt“ der Chemie Henrik Steffens und die chemische Geologie um 1800 | 9 Norman Kasper Erdleben Henrik Steffens’ Beitrag zu einem naturgeschichtlichen Epochenverständnis | 25 Jesper Lundsfryd Rasmussen „Naturgeschichte im eigentlichen Sinne“ Die Geologie Henrik Steffens’ im Kontext seiner britischen Zeitgenossen | 43
Teil II: Dichterparadies Jessika Piechocki Zwischen Zauberinsel und Waldhorntönen Henrik Steffens im Umfeld hallischer Geselligkeiten (1804–1806) | 69 Daniel Fulda Idylle und/oder Nation Steffens’ Autobiographie Was ich erlebte und ihre Kritik an Reichardts Garten | 81 Anna Sandberg Geselligkeit im dänischen Gesamtstaat um 1800 Henrik Steffens und die Rolle der Frauen in den Kopenhagener und Kieler Salons | 97 Elisabeth Décultot Farben und Landschaften bei Philipp Otto Runge und Henrik Steffens Ein Dialog | 115
VI | Inhalt
Teil III: Universität Marit Bergner und Bernd Henningsen Halle zur Zeit Henrik Steffens’ 1804–1811 | 137 Bernd Henningsen Nationale Wiedergeburt durch Bildung Die Gründer der modernen Universität um 1800 | 159 Marit Bergner Ein montanistisches Institut für die Universität Halle Steffens’ Entwurf einer Bergakademie | 175
Teil IV: Anhang Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie betref. 1808 Edition der Akte UAHW Rep. 3, Nr. 98 (Marit Bergner) | 207
Henrik Steffens: „Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur“ Wiederabdruck des Erstdrucks von 1810 (Jesper Lundsfryd Rasmussen) | 223 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 247 Personenregister | 249
Marit Bergner, Marie-Theres Federhofer, Bernd Henningsen
Einleitung Im Jahr 2023 jährte sich zum 250. Mal der Geburtstag des dänisch-norwegischen Naturwissenschaftlers, Philosophen, Schriftstellers und Universitätsreformers Henrik Steffens (1773–1845),1 der sein gesamtes Berufsleben in dem seinerzeit politisch noch nicht existierenden Deutschland verbrachte – als Freund Schellings und Schleiermachers, als Professor, als Literat und als aktiver Teilnehmer an den Befreiungskriegen; nicht zuletzt war er eine zentrale Figur im kulturellen Leben und in den Salons von Jena, Halle, Breslau und Berlin. Nach seinem Tod wird er nahezu vergessen, in der Überlieferung hat er als der Überbringer der Romantik nach Dänemark überlebt. Erst mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wird er als Naturforscher, als Philosoph und Universitätsreformer wiederentdeckt, nicht zuletzt auch im Diskurszusammenhang um das Anthropozän. Henrik Steffens, 1773 im norwegischen Stavanger geboren, 1845 in Berlin gestorben, ist eine markante Gestalt der (nord-)europäischen Kultur- und Geistesgeschichte und aus der Geschichte der romantischen Naturphilosophie nicht wegzudenken. In Kopenhagen, Kiel und Freiburg als Mineraloge ausgebildet und an der Universität Kiel promoviert, wurde Steffens 1804 als Professor für Naturphilosophie, Physiologie und Mineralogie an die Universität Halle berufen, nachdem ihm eine erstrebte Professur in Kopenhagen versagt geblieben war; 1811 folgte die Berufung an die neu gegründete Universität in Breslau und schließlich (und aus Steffens’ Sicht endlich) 1832 nach Berlin. Einen Namen machte er sich aber nicht nur als Universitätsgelehrter. Auch als Literat wurde er mit seinen in Norwegen spielenden Novellen zum Gesprächsthema der Salons. Allbekannt wurde er als Volkstribun während der Befreiungskriege und zog 1813/14 selbst die preußische Uniform an, um in der Landwehr unter Marschall Blücher in die erfolgreichen Schlachten gegen Napoleon zu ziehen. Seine legendären philosophischen Vorlesungen 1802/03 in Kopenhagen begründeten den Mythos, dass er das romantische Denken nach Dänemark bzw. Skandinavien brachte und dort zum Erfolg führte. Als skandinavischer Gelehrter nahm Steffens eine besondere Vermittlerrolle zwischen den Wissenschaftlern seiner
|| 1 Der Vorname lautet nach dem Eintrag im Taufregister „Henrich“, wird aber „Henrik“ gesprochen, weshalb sich vor allem im deutschsprachigen Raum diese Schreibweise durchgesetzt hat. Als dritte Variante gibt es noch „Heinrich“. Steffens selbst verwendete in seinen Veröffentlichungen alle drei Schreibweisen. In diesem Band folgen wir der skandinavischen Aussprache und verwenden im Fließtext die Schreibweise „Henrik“. https://doi.org/10.1515/9783111358826-001
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Zeit ein, denn seine Kenntnisse der deutschen wie der dänischen Sprache und seine zahlreichen Kontakte in die drei skandinavischen Länder ermöglichten bereits um 1800 einen internationalen wissenschaftlichen Austausch. Halle war der Ausgangspunkt von Steffens’ Laufbahn als preußischer Universitätsgelehrter und seiner Etablierung in den intellektuellen Netzwerken der Romantik sowie seiner beginnenden Politisierung infolge der Napoleonischen Kriege und der Besetzung Halles. Gleichwohl ist Steffens’ hallische Zeit in der Forschung bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Über seine Tätigkeit als Universitätsprofessor und seine bildungspolitischen Impulse ist, bis auf das entsprechende Kapitel in Marit Bergners Studie zu Steffens als politischem Professor,2 nur wenig bekannt, noch weniger über seine wissenschaftlichen und geselligen Netzwerke, die er in Halle, in einer Zeit des Übergangs von Aufklärung zu Romantik, aufbauen konnte. Unerforscht sind außerdem die materiellen Spuren, die Steffens’ Aufenthalt in Halle hinterlassen hat (Briefe, Vorlesungsmitschriften etc.) und die heute unter anderem im Universitätsarchiv und in den Franckeschen Stiftungen (Nachlass Christian Keferstein) aufbewahrt werden. Dieses Forschungsdesiderat adressiert ein an der Humboldt-Universität zu Berlin 2021 begonnenes und durch die DFG gefördertes Projekt zu Steffens’ Briefkorrespondenz. Im Rahmen dieses Projekts werden bis 2024 sämtliche auffindbaren Schreiben von ihm und an ihn, die sich auf 43 internationale Archive verteilen, erschlossen sein, so auch die Ego-Dokumente in Halle. Im Mai 2022 hat mit diesem Hintergrund eine Konferenz in Halle stattgefunden, die von der Henrik-Steffens-Professur der Humboldt-Universität zu Berlin zusammen mit dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (IZEA) organisiert und dankenswerterweise von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanziert wurde. Dieser Band dokumentiert die Mehrzahl der Beiträge. Drei Themen sind die Schwerpunkte: Steffens als Geologe und Mineraloge, die hallische ‚Geselligkeit‘ um 1800 und Steffens als Universitätsreformer. Die drei Schwerpunkte hängen einerseits eng mit Steffens’ Wirken in Halle zusammen und haben andererseits ihre Bezüge zu aktuellen Forschungsinteressen und Forschungsdesideraten. Halle war Ausgangspunkt für Steffens’ Politisierung (der Universitätsreformer), seine Vernetzung in die deutsche Gesellschaft (die Geselligkeit) und seine Weiterbildung als Geologe und Naturwissenschaftler. Und schließlich lag Freiberg unweit: Dort erhielt Steffens durch Abraham Gottlob Werner wichtige Impulse für seine geologische Ausbildung und Denkweise.
|| 2 Marit Bergner: Henrich Steffens. Ein politischer Professor in Umbruchzeiten 1806–1819. Frankfurt a.M. 2016.
Einleitung | 3
1 Der Naturforscher Während gemeinhin Schellings Einfluss auf Steffens’ naturphilosophisches Denken postuliert wird,3 liegen bislang kaum Untersuchungen vor, die sich aus einer wissens- und wissenschaftshistorischen Perspektive mit den geologischen Schriften Steffens’ und dem Forschungskontext seiner Arbeiten beschäftigen, etwa mit seinem Verhältnis zum Mesmerismus, zum Elektromagnetismus oder zur Geochemie, als dessen früher Vertreter Steffens heute gelten kann. Steffens’ geologische Schriften entstanden, als Naturwissenschaftler die erdgeschichtliche Tiefenzeit entdeckten, und sie aktualisieren Einsichten in unterschiedliche Temporalitäten – Erdgeschichte und Humangeschichte – und in die Geologisierung des Anthropos. Die Erde erweist sich bei Steffens nicht als geschichtslos und passiv, vielmehr stellt sie die Bedingungen bereit, unter denen sich menschliches Leben überhaupt entwickeln kann. Im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion um das Anthropozän und die Rolle des Menschen in der Natur erweisen sich Steffens’ naturwissenschaftliche Perspektiven insofern als relevant, als sie Erdgeschichtsschreibung und menschliche Geschichte zueinander in Bezug setzen. So gesehen ließe sich Steffens’ geologisches Denken als ein Modell frühökologischen Verstehens beschreiben, in dem das Erdsystem mit der Entwicklung des Lebens verbunden ist. Diese Aspekte der Dynamisierung erdgeschichtlicher Prozesse und zu frühen erdsystemwissenschaftlichen Ansätzen um 1800 werden innerhalb dieses Themenschwerpunkts beleuchtet.
2 Geselligkeit in Halle/Giebichenstein Steffens kam Anfang 1798 nach Jena, wo nicht nur die lebenslange Freundschaft mit Friedrich Schelling ihren Anfang nahm, sondern auch seine Vernetzung mit der deutschen Geisteselite um 1800. In einem Brief bezeichnet Steffens Jena als seinen „eigentlichen Geburtsort“, seine „deutsche Geburtsstadt“,4 er war im romantischen Milieu, nach dem er sich seit seinem Studium in Kiel ge-
|| 3 Vgl. z.B. Dietrich von Engelhardt: Henrik Steffens. In: Thomas Bach u. Olaf Breidbach (Hg.): Naturphilosophie nach Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, S. 701–735; Sibille Mischer: Der verschlungene Zug der Seele. Natur, Organismus und Entwicklung bei Schelling, Steffens und Oken. Würzburg 1997. 4 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2014–2022, Bd. 4, S. 4.
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sehnt hatte, angekommen. Von 1799–1801 studierte er bei Abraham Gottlob Werner an der Bergakademie Freiberg und lernte über Schelling in Halle seinen späteren Schwiegervater Johann Friedrich Reichardt kennen, der Salinendirektor in Halle und Herr über das in die Geistesgeschichte eingegangene Giebichenstein war, die „Herberge der Romantik“. Dieses „Giebichensteiner Dichterparadies“5 wurde zum überregionalen Treffpunkt romantischer Künstler und Wissenschaftler wie etwa Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Karl Georg von Raumer, des dänischen Dichters Adam Oehlenschläger und der Brüder Grimm (Steffens half Wilhelm Grimm bei der Übersetzung nordischer Literatur). Enge Freundschaften pflegte Steffens besonders mit Friedrich Schleiermacher und dem Mediziner Johann Christian Reil und schätzte die Kunst Philipp Otto Runges, mit dem er bis zu dessen frühen Tod korrespondierte. Aus diesen Gründen ist es naheliegend, dieses weitgehend unerforschte romantische Netzwerk Steffens’ in Halle und die Salonkultur um 1800, insbesondere aber den romantischen naturphilosophischen Diskurs in den Fokus zu setzen. Worüber sprach man in Reichardts Garten, wie ist die „Herberge der Romantik“ als literarischer und musischer Salon einzuordnen? Nur wenig ist bislang über die Zusammentreffen bei der Familie Reichardt bekannt – die einzige Studie dazu ist leider quellenmäßig unergiebig.6 Ein Forschungsdesiderat ist weiterhin die Rolle der Frau im „Dichterparadies“. Bekannt und berühmt ist besonders die älteste Reichardt-Tochter Louise, gleichwohl waren alle seine Töchter musikalisch und trugen unter anderem von Goethe verfasste und von Reichardt vertonte Texte vor.
3 Der Universitätsreformer Die Gründungen von drei Universitäten in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts – 1810 in Berlin, 1811 in Breslau und 1818 in Bonn – sowie die Zusammenlegung der beiden traditionsreichen Universitäten Halle und Wittenberg 1817 weisen auf die Bedeutung von Bildung und Wissenschaft im neu entstandenen Nationsbildungsprozess hin, der sich bereits während der Napoleonischen Kriege in Deutschland abzuzeichnen begann. Insbesondere aber markieren sie
|| 5 Vgl. Erich Neuß: Das Giebichensteiner Dichterparadies. Johann Friedrich Reichardt und die Herberge der Romantik. Halle 1932. 6 Vgl. ebd.
Einleitung | 5
den Beginn eines neuen Wissenschaftsparadigmas, das nicht die Ausbildung zum Broterwerb in den Mittelpunkt setzte, sondern die zweckfreie Wissenschaft und die Bildung der Persönlichkeit. Auch in Steffens’ Geburtsland Norwegen wurde im Zuge der Nationsbildung 1811 in Christiania (heute Oslo) die erste Universität des Landes gegründet. Mit allen erwähnten Universitäten war auch Steffens befasst, der schon in seiner Studienzeit in Kopenhagen erste Bestrebungen unterstützt hatte, eine norwegische Universität zu gründen; er äußerte sich sogar zur Etablierung neuer wissenschaftlicher Zentren, etwa einer Bergakademie in Halle und einer Universität am Rhein. Am bekanntesten aber dürfte seine Schrift Ueber die Idee der Universitäten von 1809 sein, die neben den Schriften von Johann Gottlieb Fichte, Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt zu den bedeutendsten Abhandlungen oder auch ,Gründungstexten‘ über die moderne Forschungsuniversität gilt; gelegentlich werden zusätzlich die Vorlesungen von Schelling von 1803 hinzugerechnet. Für Steffens war das Nachdenken über den Sinn und Zweck der Universität gerade in Halle naheliegend, war er doch dort unmittelbar von den Kriegsfolgen und der Universitätsschließung betroffen; nicht zuletzt hatte sich die Nachricht von einer bevorstehenden Universitätsgründung in Berlin herumgesprochen, und wurde er als Berufungskandidat gehandelt. So gut wie alle Universitätsreformer lehnen die utilitaristische Bestimmung der höheren Bildung ab, sie plädieren – so auch Steffens – mit großem Nachdruck für die zweckfreie Wissenschaft: Wissenschaft und Forschung um ihrer selbst willen, ohne Einflussnahme des Staates; Universitäten sind ‚Schulen der Weisheit‘. Über weite Strecken handeln die Schriften vom Verhältnis des Staates zu Bildung und Wissenschaft: Wie ‚frei‘ kann und soll Wissenschaft, der Wissenschaftler und staatlich angestellte Professor sein? „Was der Staat einrichtet, muß er controllieren können. Eine Controlle der Geister aber wäre der Tod aller Wissenschaften.“7 Dass dies einen Bruch bedeutete mit der aufgeklärt-absolutistischen Bestimmung der Staatsaufgaben, barg Konfliktstoff, wurde aber von der Obrigkeit nicht in Frage gestellt – schließlich ging es um politische Reformen, die zum Ziel hatten, die Loyalität des Bürgers gegenüber dem Staat zu festigen. Für Steffens lag diese Ausrichtung nahe, orientierte er sich doch in seiner philosophischen Forschung und Lehre auch an Spinoza und dessen Ethik, aus der er den Schluss zog, dass es keine Trennung geben dürfe zwischen einer ethisch neutralen Zone des Gelehrtenberufes und eines davon abgehobenen Privatlebens. Der Professor hat insofern nicht einen staatlichen Auftrag zu erfüllen, sondern vom Katheder aus in die Gesellschaft hineinzuwirken, ja an ihr aktiv || 7 Henrik Steffens: Ueber die Idee der Universitäten, Vorlesungen. Berlin 1809, S. 29.
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teilzunehmen. Ein Zuhörer charakterisierte Steffens 1809: „Bei ihm zum ersten male habe ich gesehen, daß man Gatte, Vater und sogar Professor sein kann, ohne ein Philister zu werden.“8
|| 8 Johann Diederich Gries in einem Brief an Johann Georg Rist von 1809, zit. nach Werner Abelein: Henrik Steffens’ politische Schriften. Zum politischen Denken in Deutschland in den Jahren um die Befreiungskriege. Tübingen 1977, S. 69.
| Teil I: Bergbau
Marie-Theres Federhofer
Die „gesetzgebende Gewalt“ der Chemie Henrik Steffens und die chemische Geologie um 1800
1 Eine Kritik der Geologie Der junge Henrik Steffens gab sich recht selbstbewusst, als er in Freiberg angekommen war, um an der dortigen Bergakademie zu studieren. Mit dem Studium hatte er zwar noch nicht begonnen, auch „ennyiren“ [sic] ihn die „Leute […] zu sehr, als dass [er] ihren Umgang suchen“1 wollte, wie er im Juli 1799, also kurz nach seiner Ankunft in der sächsischen Bergbaumetropole, an Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854) schrieb, den er 1798 in Jena kennengelernt hatte. Dennoch arbeitete er bereits „an einer Kritik der heutigen Geologie“, mit der er nicht weniger beabsichtigte, als „die Herren [Geologen, M.-T. F.] erst mit ihren eignen Principien [zu] bestreiten“, um „dann diese Principien selbst“ zu untersuchen.2 Zu den kritisierten „Herren“ Geologen zählte Steffens im genannten Brief auch explizit Abraham Gottlob Werner (1749–1817), den renommierten, weit über Freiberg hinaus bekannten Mineralogen und seinen künftigen Lehrer an der Bergakademie, den er allerdings zum Zeitpunkt der Niederschrift des Briefes persönlich noch gar nicht kennengelernt hatte. Man mag diese Äußerungen der Selbstgefälligkeit eines jungen Mannes zuschreiben, der neben der Übersetzung eines botanischen Lehrbuchs bislang eine mineralogische Dissertation und zwei längere naturwissenschaftliche Aufsätze vorzuweisen hatte3 und der sich mit seiner vollmundig angekündigten
|| 1 H. Steffens an F. W. J. Schelling, 26. Juli 1799, zit. nach Wolfgang Feigs: Deskriptive Edition auf Allograph-, Wort- und Satzniveau, demonstriert an handschriftlich überlieferten, deutschsprachigen Briefen von H. Steffens. Teil 2: Briefe 1799–1844, Kommentar, Register. Bern u. Frankfurt a.M. 1982, S. 4. 2 Ebd., S. 6. 3 Henrik Steffens: Udkast til en Lærebog i Botaniken, af Carl Ludwig Wildenow [sic], oversat efter den tydske Udgave, og forøget med Anmærkinger og et Tillæg om Botanikens Skiæbne i Dannemark [Entwurf zu einem Lehrbuch in der Botanik, von Carl Ludwig Wildenow, übersetzt nach der deutschen Ausgabe und mit Anmerkungen vermehrt, und mit einem Zusatz über das Schicksal der Botanik in Dänemark]. Kopenhagen 1794; ders.: Ueber Mineralogie und das mineralogische Studium. Altona 1797; ders.: De fornemste Hypotheser, ved hvis Hjelp man har søgt at forklare Metallernes Forkalkning [Die vornehmsten Hypothesen, mit deren Hilfe man https://doi.org/10.1515/9783111358826-002
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Kritik als junger Naturwissenschaftler weiter profilieren wollte. Das sind freilich Spekulationen, von Interesse ist hier etwas anderes. Denn die annoncierte „Kritik der heutigen Geologie“ erschien tatsächlich zwei Jahre später unter dem Titel Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde4 – ein Werk, von dem Steffens in seiner Autobiographie einmal behauptet hat, es stimme das „Grundthema seines ganzen Lebens“5 an. Im Hinblick auf das angeführte Zitat aus seinem Brief an Schelling liegt es daher auf der Hand, danach zu fragen, worin Steffens’ Kritik an der Geologie seiner Zeit eigentlich bestanden hat, was ihn zu seiner Kritik veranlasst haben mag und welche Lösungsvorschläge er zu unterbreiten hat. Diese Fragen werde ich im Folgenden ansatzweise zu beantworten suchen. Dazu werde ich in Steffens’ frühen naturwissenschaftlichen Schriften einer Spur folgen, an der sich ablesen lässt, wie er die „Zeitbewusstheit“ geologischer Prozesse auf eine chemische Grundlage zurückführt. „Zeitbewusstheit“ bzw. – wie es im englischsprachigen Original heißt – „Timefulness“ ist ein Ausdruck der US-amerikanischen Geowissenschaftlerin Marcia Bjornerud,6 den ich an dieser Stelle ins Spiel bringen und für das Verständnis einer frühromantischen Position in der Naturforschung fruchtbar machen möchte. Ich werde auf diesen Begriff später nochmals zurückkommen und will hier nur festhalten, dass Bjornerud dafür plädiert, sich die zeitlichen Dimensionen der Erdgeschichte in unserem Verhältnis zur Natur bewusst zu machen. Mit der „Zeitbewusstheit“ fordert sie zu einer „Haltung“ auf, „die uns eine klare Sicht auf unsere Position in der Zeit ermöglicht, sowohl was die Ereignisse lange vor uns in der Vergangenheit als auch was die Zukunft anbelangt, die ohne uns stattfinden wird“.7 Mir geht es also im Folgenden darum, wie Steffens sein Interesse an chemischen Prozessen in der Natur mit zeitlichen Prozessen in der Geologie zusammenbringt. Durch die Fokussierung chemischer Prozesse gelingt es ihm –
|| versucht hat, die Verkalkung der Metalle zu erklären]. In: Physicalsk, oeconomisk, medicochirurgisk Bibliothek for Danmark og Norge 1 (1794), S. 42–77, 161–164; ders.: Et Bidrag til Hypothesen om den almindelige Organismus [Ein Beitrag zur Hypothese über den allgemeinen Organismus]. In: Bibliothek for Physik, Medicin og Oekonomie 5 (1799), S. 215–240. 4 Henrich Steffens: Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Erster Theil [mehr nicht erschienen]. Freyberg 1801. 5 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Breslau 1840–1844, Bd. 4, S. 286. 6 Marcia Bjornerud: Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Aus d. amerikanischen Englisch v. Dirk Höfer. Berlin 2020 (Original: Timefulness. How Thinking Like a Geologist Can Help Save the World. Princeton 2018). 7 Ebd., S. 26.
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so die These – die Prozessualität organischer und anorganischer Erscheinungen nachzuweisen und dadurch sein Projekt einer „innern Naturgeschichte der Erde“, die sowohl Anorganisches als Organisches umfasst, zu realisieren. Das ist allerdings nicht dahingehend zu verstehen, dass Steffens diesen Gedanken oder Zusammenhang bereits zu Beginn seiner naturwissenschaftlichen Studien auf diese Weise formuliert hätte. Vielmehr legte er einen Weg zurück, und an einigen Stationen auf diesem Weg möchte ich anhand dreier Veröffentlichungen etwas verweilen. Dabei handelt es sich bei den ersten beiden Publikationen um Arbeiten des ‚Prä-Schellingianers‘ Steffens, also um Arbeiten, die erschienen sind, bevor sich Steffens mit Schellings Naturphilosophie auseinandersetzte. Die dritte Schrift ist das Werk, das bekanntlich von Schellings naturphilosophischen Positionen entscheidend geprägt wurde, die bereits genannten Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Der Hintergrund für mein Unterfangen, der an dieser Stelle allerdings nicht weiter zur Diskussion gestellt werden soll, bildet die Überlegung, dass den empirischen Naturforscher Steffens und den spekulativen Naturphilosophen Steffens mehr miteinander verbindet als voneinander trennt.8 Festhalten möchte ich an dieser Stelle lediglich, dass Steffens seine naturwissenschaftlichen Arbeiten, um die es im Folgenden gehen soll, in einer Zeit des wissenschaftlichen Umbruchs schrieb, als sich im Bereich der Chemie und Physik – stellvertretend seien hier Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794) für die Anti-PhlogistonTheorie und Hans Christian Ørsted (1777–1851) für die Entdeckung des Elektromagnetismus genannt – neue Erkenntnisse über die Zusammensetzung von Stoffen, über Elektrizität und Magnetismus durchsetzten.
|| 8 Für diesen Zusammenhang siehe Fritz Paul: Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik. München 1973; Marie-Theres Federhofer: Ein werdender Romantiker übersetzt einen Aufklärer. Henrik Steffens und Carl Ludwig Willdenow. In: NORDEUROPAforum 2020, S. 15–32. Auch Ernst P. Hamm wendet sich gegen die Auffassung, „Romanticism as hostile to the achievements of the Enlightenment, especially its science“ zu verstehen und führt aus: „[W]e now know that Naturphilosophie and other manifestations of Romanticism were tied to a number of developments in the natural sciences and, more fundamentally, to the transformation of 18th-century practices of natural history and natural philosophy into new disciplines of physics and biology.“ Ernst P. Hamm: Steffens, Ørsted, and the Chemical Construction of the Earth. In: Robert M. Brain, Robert S. Cohen u. Ole Knudsen (Hg.): Hans Christian Ørsted and the Romantic Legacy in Science. Ideas, Disciplines, Practices. Dordrecht 2007, S. 159–175, hier S. 160. Ähnlich argumentiert auch Michael Friedman: Kant – Naturphilosophie – Electromagnetism. In: ebd., S. 135–158, insbes. S. 155f.
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2 Geologie als chemische und historische Wissenschaft Chemische Prozesse haben den Naturforscher Steffens bereits frühzeitig interessiert.9 Schon seine erste selbstständige wissenschaftliche Publikation zeigt, dass er sich mit chemischen Erklärungsmodellen seiner Zeit gründlich auseinandergesetzt hat. Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung, die ca. 40 Seiten umfasst, um einen auf Dänisch verfassten Aufsatz, der 1794 in der neugegründeten Zeitschrift Physicalsk, oeconomisk, medico-chirurgisk Bibliothek for Danmark og Norge erschien10 und übersetzt ins Deutsche folgenden Titel trägt: „Die vornehmsten Hypothesen, mit deren Hilfe man die Verkalkung der Metalle zu erklären versucht hat.“ Mit dem heute eher wunderlich klingenden Ausdruck „Verkalkung der Metalle“ ist das Erhitzen von Metallen gemeint, das auch Kalzination genannt wurde. Steffens präsentiert in seinem Aufsatz unterschiedliche Auffassungen darüber, welche chemischen Prozesse beim Erhitzen der Metalle ablaufen. Die Meinungen darüber gingen damals bekanntlich auseinander, und es gab – grob gesagt – auf der einen Seite die Phlogistiker, die behaupteten, dass bei Verbrennungsprozessen ein bestimmter Stoff freigesetzt würde – das Phlogiston – und auf der anderen Seite die Anti-Phlogistiker, die argumentierten, dass bei Verbrennungsprozessen kein Stoff freigesetzt, sondern Sauerstoff gebunden würde. Bei der Verkalkung von Metallen handelt es sich also aus antiphlogistischer Sicht um einen Oxidationsprozess. Die AntiPhlogiston-Theorie geht auf den französischen Chemiker Antoine Lavoisier zurück, und Steffens schließt sich in seinem Aufsatz der Position Lavoisiers explizit an: „Die Theorie der Antiphlogistiker kommt mir […] in mehr als einer Hinsicht als sehr zufriedenstellend vor.“11 Steffens gilt in der Forschungslitera-
|| 9 Erwähnt werden soll hier auch sein Versuch mit der Volta’schen Säule, den er 1801 veröffentlichte: Heinrich Steffens: Versuche mit Volta’s Säule, besonders über die Zersetzung des Ammoniaks. In: Annalen der Physik 7/4 (1801), S. 522–525. 10 Steffens: De fornemste Hypotheser (wie Anm. 3). Die Zeitschrift bestand bis 1806, vgl. Ole Bostrup: Dansk kemi 1770–1807. Den kemiske revolution. Kopenhagen 1996, S. 84; Helge Kragh u.a.: Science in Denmark. A Thousand-Year History. Aarhus 2008, insbes. S. 213. 11 „Antiphlogistikernes Theorie […] forekommer mig i meer end een Henseende meget fyldestgjørende.“ Steffens: De fornemste Hypotheser (wie Anm. 3), S. 57. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen aus dem Dänischen von mir.
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tur daher auch als derjenige, der als Erster oder einer der Ersten die antiphlogistische Theorie in Skandinavien bekannt gemacht hat.12 Steffens positioniert sich in diesem frühen chemischen Beitrag nicht nur als junger Naturforscher, der die aktuellen wissenschaftlichen Debatten seiner Zeit interessiert verfolgte und sie einem größeren Lesepublikum souverän präsentieren konnte. Uns tritt in diesem Beitrag auch der Naturphilosoph entgegen, den Fragen nach dem Zusammenhang der Natur bewegten und der sich vorerst noch auf der Suche nach den Antworten befand. Dass Steffens von chemischen Prozessen fasziniert war und dass ihm das Verständnis dieser Zusammenhänge ein Verständnis für weit umfassendere Zusammenhänge zu versprechen schien, lässt sich an folgenden Formulierungen ablesen: Es waren diese Versuche mit den Metallkalken, die den Grund für das ganze philosophisch schöne Gebäude legten, das ganze scharfsinnige chemische System, das Lavoisier seitdem errichtete, [es waren] diese [Versuche], die die Gelegenheit für eine ganze Reihe schöner Entdeckungen boten und die uns lehrten, die wahren Bestandteile der Luft und des Wassers und so vieler anderer Körper zu erkennen.13
Diese Fragen zu den grundlegenden chemischen Prozessen in der Natur beschäftigten Steffens auch in seiner drei Jahre später erschienenen Dissertation, die 1797 unter dem Titel Ueber Mineralogie und das mineralogische Studium erschien. Hier geht er im Vergleich zu seinem Aufsatz ein Stück weiter und greift in zumindest zweierlei Hinsicht umfassender aus. Denn erstens interessieren ihn hier nicht nur die chemischen Verbindungen in den Metallen, sondern das Verhältnis zwischen anorganischer und organischer Materie insgesamt. Und zweitens verknüpft er die Frage nach der chemischen Zusammensetzung natür-
|| 12 Bostrup: Dansk kemi (wie Anm. 10), S. 98; Bjørn Pedersen: Syv bidrag til norsk kjemihistorie. Med artikler av Ragnar Bye og Rolf Manne. Oslo 2007, S. 6; Kragh u.a.: Science in Denmark (wie Anm. 10), S. 214. Rolf Manne weist in seinem Beitrag über die chemische Forschung in Norwegen vor 1850 darauf hin, dass Steffens das Werk des Apothekers und Chemikers Nicolai Tychsen, Fransk chemisk Nomenklatur, paa Dansk udgiven med Anmeærkninger (1794), kritisierte, da Tychsen in seiner Darstellung der Auffassung Lavoisiers nicht weit genug gegangen sei, vgl. Rolf Manne: Kjemisk forskning i Norge før 1850. In: Kjemi 62/9 (2002), S. 4–18, hier S. 15. Zur Einschätzung von Lavoisiers Beitrag zur Chemie aus einer aktuellen wissenschaftshistorischen Perspektive vgl. Hasok Chang: We Have Never Been Whiggish (About Phlogiston). In: Centaurus 51 (2009), S. 239–264. 13 „Det var disse Forsøg med Metalkalkene, som lagde Grund til den heele philosophisk skjønne Bygning, det heele skarpsindige chemiske System, som Lavoisier siden opførte, dem, som gav Anledning til den heele Række af skjønne Opdagelser, som lærte os at kjende Luftens og Vandets, og saa mange andre Legemers sande Bestanddeele.“ Steffens: De fornemste Hypotheser (wie Anm. 3), S. 59.
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licher Phänomene mit der Frage nach einer – wie er es nennt – „Archäologie der Natur“14, also mit der Frage nach der Zeitlichkeit der Natur. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass Steffens mit seiner Dissertation versucht, die Mineralogie als Grundlagenforschung zu begründen, das heißt dass er versucht, sie als eine wissenschaftliche Disziplin zu legitimieren.15 Das wiederum bedeutet, dass er die Mineralogie nicht auf ein anthropozentrisches Verwertbarkeitsrationales zurückführen möchte, den Zweck der Mineralogie also nicht anwendungsbezogen in der Erschließung ökonomisch nutzbarer natürlicher Ressourcen sieht. „Aber die Benutzung der Mineralien im gemeinen Leben, kann auch deshalb nicht der wissenschaftliche Zweck des mineralogischen Studiums seyn, weil dann die Mineralogie keiner wissenschaftlichen Behandlung fähig wäre.“16 Steffens zufolge müsse das Ziel der Mineralogie darin bestehen, dasjenige zu erkennen, was er die „innere Zweckmäßigkeit“17 anorganischer Körper nennt – ein Begriff, den er in Anlehnung an Kant versteht18 und damit meint, dass ein Gegenstand seinen Grund in sich selbst trägt und seiner eigenen Gesetzmäßigkeit folgt. Kurz, wir müssen uns das unorganische Reich als ein einziges Individuum denken, und die einzelnen Mineralien als Theile dieses Individs ansehen, die eben deshalb keine innere Zweckmässigkeit haben können, denn diese muss in dem Ganzen aufgesucht werden.19
Um es an dieser Stelle vorwegzunehmen: Auf die Frage, worin denn diese „innere Zweckmäßigkeit“ des Anorganischen besteht (bei organischen Gegenständen könnte man die „innere Zweckmässigkeit“ mit der Fähigkeit zur Selbstproduktion gleichsetzen), bleibt Steffens in seiner Dissertation eine Antwort schuldig. Gleich zu Beginn baut er einen Gegensatz auf zwischen den „organischen Körpern“, die sich durch „Mannigfaltigkeit der Form“, „Thätigkeit“ und
|| 14 H. Steffens: Ueber Mineralogie und das mineralogische Studium. Altona 1797, S. 158. 15 Ähnlich argumentiert Peter Schimkat: Geologie in Deutschland. Zur Etablierung einer naturwissenschaftlichen Disziplin im 19. Jahrhundert. Augsburg 2008, insbes. S. 296–300; ders.: Kameralistische Naturforschung: Das Mineralogische System von Abraham Gottlob Werner. In: Hartmut Schleiff u. Peter Konečný (Hg.): Staat, Bergbau und Bergakademie. Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart 2013, S. 231–247, hier S. 244. 16 Steffens: Ueber Mineralogie (wie Anm. 14), S. 81f. Vgl. auch ebd., S. 96. 17 Ebd., S. 89, 120, 156. 18 Zu Kants Verständnis von Zweckmäßigkeit und Organismusdenken sowie Schellings Weiterführung dieses Zusammenhangs vgl. Aaron Fellbaum: Kants Organismusbegriff und seine Transformation in der Naturphilosophie F. W. J. Schellings. In: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), S. 215–223. 19 Steffens: Ueber Mineralogie (wie Anm. 14), S. 89.
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„Wechselwirkung“ auszeichnen, und dem „unorganischen Reich“, das demgegenüber „öde und todt“ zu sein scheint.20 Während eine „nie ermüdende Energie“ in den „organischen Wesen“ walte, scheine das „ganze unorganische Reich“ ein „unermeßlicher Kirchhof zu seyn“.21 Steffens inszeniert hier also eine Gegenüberstellung zwischen Organischem und Anorganischem, zwischen Belebtem und Unbelebtem, aber nur, um diesen Gegensatz zwischen einer organischen und einer anorganischen Natur im Laufe seiner Schrift zumindest teilweise zu unterlaufen.22 Dies gelingt ihm mit Hinweis auf die chemischen Prozesse, die mineralogischen Bildungen zugrunde liegen und die eine Prozessualität bei der Bildung anorganischer Materie implizieren. Diese ist daher keineswegs „öde und todt“, sondern weist vielmehr eine Affinität zur Dynamik organischer Materie auf. Um hier allerdings keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei zweierlei vorab präzisiert: 1. Freilich war Steffens nicht der Erste, der dafür plädierte, bei der Identifikation von Gesteinen chemische Analyseverfahren anzuwenden.23 Auch Geologen bzw. Mineralogen, aber auch Chemiker wie etwa Martin Heinrich Klaproth (1743– 1817) haben vor Steffens chemische Untersuchungen durchgeführt, um ihren Gegenstand zu bestimmen.24 Darauf komme ich im Folgenden nochmals zurück. 2. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive beginnt die Zeit der Geochemie im heutigen Sinn erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als man in der Lage war, geologische Phänomene auch experimentell zu erforschen und entsprechende Versuche und Analysen anzustellen. Wissenschaftshistoriker unterscheiden also gerne zwischen einer chemischen Geologie bzw. Mineralogie, wie man sie bereits vor dem Ende des 19. Jahrhunderts kannte – nicht zuletzt durch Erfahrungen aus dem Hüttenwesen und dem Bergbau – und der Geochemie im mo|| 20 Ebd., S. 9. 21 Ebd. 22 Der Gegensatz zwischen Anorganischem und Organischem ist für Steffens epistemologischer, nicht ontologischer Art. Die Natur bildet eine Einheit, nur erkennen wir sie noch nicht, da wir noch nicht genug wissen. 23 Der Begriff Geochemie wurde 1838 von dem deutsch-schweizerischen Chemiker und Physiker Christian Friedrich Schönbein geprägt. 24 Vgl. Theodore M. Porter: The Promotion of Mining and the Advancement of Science. The Chemical Revolution of Mineralogy. In: Annals of Science 38/5 (1981), S. 543–570. Zur Bedeutung der Chemie für die Verwissenschaftlichung der Geologie im ausgehenden 18. Jahrhundert bzw. frühen 19. Jahrhundert vgl. auch Bernhard Fritscher: Die Verwissenschaftlichung der Geologie. Zur Bedeutung phänomenologischer und konstruktiver Erfahrungsbegriffe im Vulkanismusstreit. In: Sudhoffs Archiv 47/1 (1990), S. 22–44; Schimkat: Kameralistische Naturforschung (wie Anm. 15).
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dernen Sinne.25 So gesehen befassen wir uns hier also mit Steffens als einem Vertreter der chemischen Geologie bzw. Mineralogie. Bleiben wir bei Steffens’ Dissertation. Sie besteht aus zwei größeren Teilen. In einem sehr gelehrten, etwa 70 Seiten umfassenden ersten Teil präsentiert er die europäische Forschungsliteratur zu einer chemisch fundierten Mineralogie von der Antike bis in die eigene Zeit, und er referiert dort, wie man die Steinarten auf der Grundlage ihrer chemischen Zusammensetzungen systematisch einteilen könne. Ein besonderes Lob erfährt Linné, dessen „Classificationsfundament“ und „Nomenclatur“ dem Mineralogen allererst eine „Norm“ gegeben haben.26 Anerkennend genannt werden auch der schwedische Mineraloge Axel Cronstedt (1722–1765)27 und Steffens’ späterer Lehrer in Freiberg, Abraham Gottlob Werner,28 die es unternommen haben, ein mineralogisches System chemisch zu begründen.29 Insgesamt wird in diesem Durchgang durch die einschlägige Forschungsliteratur deutlich, worauf es Steffens ankommt, was allerdings aufgrund fehlender wissenschaftlicher Analyseverfahren und Erkenntnisse zu seiner Zeit noch ein Desiderat war: Seine Vision ist es, „nach chemischen Grundsätzen die Classen und Ordnungen des oryktognostischen Systems bestimmen zu können“.30
|| 25 Vgl. Bernhard Fritscher: Vulkanismusstreit und Geochemie. Die Bedeutung der Chemie und des Experiments in der Vulkanismus–Neptunismus-Kontroverse. Stuttgart 1991; Martin Guntau: Zur Entstehung der Geochemie als wissenschaftliche Disziplin. In: Bernhard Fritscher u. Fergus Henderson (Hg.): Toward a History of Mineralogy, Petrology, and Geochemistry. Proceedings of the International Symposium on the History of Mineralogy, Petrology, and Geochemistry, Munich, March 8–9, 1996. München 1998, S. 327–360. 26 Steffens: Ueber Mineralogie (wie Anm. 14), S. 35. 27 Steffens faszinierte an Cronstedt das, was man heute in den Geowissenschaften Aktualismus nennen würde, nämlich die Annahme, dass sich erdgeschichtliche Veränderungen keinen Katastrophen verdanken (diese Annahme vertrat etwa Georges Cuvier), sondern langsamen, langen Prozessen, die auch in der Gegenwart tätig sind (diese Ansicht vertrat Charles Lyell). Entsprechend betont Steffens „die immerdauernden, beynahe unmerklichen Wirkungen der physischen und chemischen Kräfte“. Ebd., S. 50. 28 Werner hat 1780 eine Arbeit von Cronstedt aus dem Schwedischen übersetzt. Sie erschien in Leipzig unter dem Titel Versuch einer Mineralogie (im Original: Försök til mineralogie, eller mineralrikets upställning, 1758). Zu Cronstedts Rolle in der Herausbildung einer chemischen Mineralogie vgl. Porter: The Promotion of Mining (wie Anm. 24), insbes. S. 558–560. 29 Vgl. Steffens: Ueber Mineralogie (wie Anm. 14), S. 48, 52, 84. Oryktognosie ist die Lehre von den Bezeichnungen der Mineralien. 30 Ebd., S. 159. Vgl. auch ebd., S. 121.
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Nach diesem Überblick über die seinerzeit verfügbare wissenschaftliche Literatur und über die Subdisziplinen bzw. „Doctrinen“31 der Mineralogie wendet sich Steffens im zweiten größeren Teil seiner Arbeit der „Naturgeschichte überhaupt“ zu – so der Titel dieses Großabschnitts.32 Helge Jordheim hat kürzlich einleuchtend dargelegt, dass Steffens hier mit der deskriptiven historiaTradition im Bereich der Naturforschung bricht und insofern eine Neukonzeption von Naturgeschichte vornimmt, als er Zeitlichkeit fokussiert und damit gleichsam den Boden bereitet für die vier Jahre später erscheinenden Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde.33 An Jordheims Überlegungen zur Zeitlichkeit knüpfe ich an, nähere mich ihnen aber auf eine etwas andere Weise. Interessant ist an diesem zweiten Teil über die „Naturgeschichte überhaupt“, dass es Steffens nicht wirklich gelingt, Organisches und Anorganisches, die Tier- und Pflanzenwelt auf der einen und die Welt der Steine auf der anderen Seite, zusammenzudenken und das Ganze der Natur epistemologisch einzuholen. Das gelingt ihm erst ein paar Jahre später, auf der Grundlage seiner Auseinandersetzung mit Schellings Naturphilosophie. Steffens postuliert im zweiten Teil seiner Dissertation, wie bereits im ersten Teil, zunächst einen Gegensatz zwischen der organischen und anorganischen Natur und schreibt organischen Erscheinungen eine „Lebenskraft“34 zu – dazu zählen etwa Wachstum, Nahrungsaufnahme bzw. Stoffwechsel, Vermehrung – die dazu beitrage, dass sich organische Körper selbst regulieren und aus sich selbst heraus reproduzieren können. Demgegenüber verfüge die anorganische Natur eben nicht über eine solche „Lebenskraft“: Anorganische Körper können sich […] nicht selbst erzeugen. […] Sie werden nicht nach Größe und Umfang durch selbstgebildete Materien ausgebildet, sondern sie nehmen nur durch mechanische Aneinanderhäufung der Theile von außen zu […]. Endlich erzeugen sie sich auch nicht den Theilen nach.35
|| 31 Ebd., S. 70. Steffens unterscheidet zwischen folgenden „Doctrinen“: 1. Oryktognosie (Lehre von den Bezeichnungen), 2. Mineralogische Chemie (Zusammensetzung der Mineralien), 3. Geognosie (Zusammensetzung der Erdkruste, Lagerungsverhältnisse, Entstehung), 4. Mineralogische Geografie (unterschiedliche Verteilung von Gesteinsarten auf der Erde), 5. Ökonomische Mineralogie (Verwertbarkeit). 32 Ebd., S. 73–160. 33 Helge Jordheim: Naturphilosophie als „innere Naturgeschichte“. Henrich Steffens in Freiberg. In: Peter Schnyder (Hg.): Erdgeschichten. Literatur und Geologie im langen 19. Jahrhundert. Würzburg 2019, S. 71–89, hier S. 80. 34 Steffens: Ueber Mineralogie (wie Anm. 14), S. 76. 35 Ebd., S. 77.
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Anorganische Um- oder Neubildungen verdanken sich – so Steffens’ Position – keiner inneren Kraft, keiner Lebenskraft, sondern äußeren, physikalischen Prozessen, etwa Erosions- oder Sedimentationsprozessen. Trotz dieser Polarität hält Steffens an dem Gedanken fest, dass es dennoch eine „innere Zweckmäßigkeit“ in beiden Naturreichen geben müsse. Seine wissenschaftliche oder philosophische Vision für eine künftige Mineralogie lautet folgerichtig: Es gehe in der künftigen Geologie darum, „die todten Massen zu beleben und die Kraft und innere Zweckmäßigkeit (des Anorganischen) zu erweisen“.36 Gleichzeitig räumt er ein, dass ihm das noch nicht gelinge,37 dass es sich um „Hoffnung“ und „Vermuthungen“ handele38 – ein spekulativer Vorgriff also, der aber Steffens zufolge durchaus legitim sei, da sich nur dadurch der wissenschaftliche Status quo durch neue Erkenntnisse überwinden lasse. Wären wir aber genöthigt, hierbey stehen zu bleiben, dürften wir über die Art […] der Wechselwirkung der chemischen Bestandtheile […] auch nicht einmal Vermuthungen wagen, so wäre der ganze wissenschaftliche Apparat zwecklos.39
Indem Steffens darauf insistiert, dass eine Wissenschaft von der Geologie chemisch fundiert sein müsse und die Chemie „die gesetzgebende Gewalt“40 habe – in der Verlängerung dieser Perspektive liegt mithin, dass sich geologische Formationen chemischen Prozessen verdanken –, wendet er sich gegen das Kontingenzdenken früherer Vorstellungen, das heißt gegen die Vorstellung, dass Gebirge oder Steinarten zufällig und beliebig entstünden. Gesteinsformationen sind eben keine Naturspiele, keine „Phantasiespiele“ oder „Spielwerke“,41 wie sie einer vorwissenschaftlichen Perspektive erschienen, die die Gesetzmäßigkeiten anorganischer Bildungsprozesse noch nicht erkannt hatte. Steffens verabschiedet aber nicht nur diesen Kontingenzgedanken, sondern nimmt auch die zeitliche Dimension geologischer Bildungsprozesse in den Blick, wenn er sich für deren chemische Grundlagen interessiert. Man könnte
|| 36 Ebd., S. 159. 37 Vgl. ebd., S. 78f., 93, 147. 38 Ebd., S. 156. 39 Ebd. Auf die erkenntniserweiternde Bedeutung der Spekulation verwies nicht nur die spekulative Philosophie nach Kant, wie sie etwa von Schelling oder Steffens vertreten wurde. Interessanterweise berufen sich darauf auch ganz aktuell Philosophen, die dem sogenannten „Spekulativen Realismus“ zuzuordnen sind, etwa der britische Philosoph Iain Hamilton Grant, der sich in seinen Arbeiten wiederum auf Schelling und Steffens bezieht, vgl. Iain Hamilton Grant: Die Natur Der Natur. Übers. v. Eckardt Lindner. Leipzig 2018. 40 Steffens: Ueber Mineralogie (wie Anm. 14), S. 121. 41 Ebd., S. 68.
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vereinfacht sagen, dass die Geologie als eine chemische Wissenschaft bei Steffens auch eine historische Wissenschaft ist. Auf der rein sprachlichen Ebene drückt sich dieses Verständnis für die Temporalität der Erde in Formulierungen aus, in denen er „von dem verschiednen Alter der Gebirge“ spricht oder in Versteinerungen „ehrwürdige Denkmäler alter Revolutionen“ sieht.42 In der Sache führt Steffens chemische Reaktionen und zeitliche Dimensionen über den Aspekt der Prozessualität zusammen, indem er die chemischen „Operationen“ für den „stille[n] allmählige[n] Gang der Natur“ verantwortlich macht43 oder wenn er von den „immer thätigen, physischen und chemischen Kräfte[n]“, von der „Wechselwirkung chemischer und physikalischer Kräfte“ schreibt, die zur „Veränderung“ beitragen,44 etwa weil durch diese Kräfte und Wechselwirkungen „viele tausend lebendige und vegetirende Geschöpfe […] dem Mineralreich überliefert“ werden,45 also organische Materie während großer Zeiträume in anorganische Materie umgesetzt wird.
3 „Das neue System der Chemie“ Unternahm es Steffens in seiner Dissertation, die wissenschaftlichen Grundlagen der Mineralogie darzulegen, also die Prinzipien zu erläutern, nach denen etwas wissenschaftlich erkannt werden kann, so holt er in den Beyträgen zur innern Naturgeschichte der Erde weiter aus. Es geht ihm hier nicht bzw. weniger um Erkenntniskritik, sondern um den (erneuten) Versuch, die Einheit der Natur zu begründen, das heißt das einheitliche Prinzip zu finden, das die ganze Natur zusammenhält und verbindet. Steffens hatte sich inzwischen intensiv mit den naturphilosophischen Positionen des jungen Schelling auseinandergesetzt und hier ein Denksystem gefunden, das er für seine eigene intellektuelle Suchbewegung bzw. für sein Projekt, die Einheit der Natur nachzuweisen, fruchtbar machen konnte. Dieser Zusammenhang ist weitestgehend bekannt,46 und ich will
|| 42 Ebd. 43 Ebd., S. 69. 44 Ebd., S. 90. 45 Ebd. Damit ließe sich behaupten, dass Steffens Lyells Überlegungen zu den langsamen erdgeschichtlichen Veränderungen vorgreift. Vgl. auch ebd., S. 160 sowie Anm. 27. 46 Vgl. z.B. Dietrich von Engelhardt: Henrik Steffens. In: Thomas Bach u. Olaf Breidbach (Hg.): Naturphilosophie nach Schelling. Stuttgart, Bad Cannstatt 2005, S. 701–735; Michaela Haberkorn: Naturhistoriker und Zeitseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner (Goethe, A. v. Humboldt, Novalis, Steffens, G. H. Schubert). Frankfurt a.M.
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mich daher auf die Rolle chemischer Prozesse für die Begründung der Einheit der Natur konzentrieren.47 Auch Schelling ging in seiner naturphilosophischen Hauptschrift, den Ideen zu einer Philosophie der Natur, davon aus, dass die Bildungen der Natur Produkte dynamischer, chemischer Verläufe sind: Das neue System der Chemie, das Werk eines ganzen Zeitalters, breitet seinen Einfluß auf die übrigen Theile der Naturwissenschaft immer weiter aus; und in seiner ganzen Ausdehnung benützt kann es gar wohl zum allgemeinen Natursysteme heranwachsen.48
Ein ganzes Kapitel widmet Schelling in seinen Ideen einer „Philosophie der Chemie“49 und postuliert im darauffolgenden Kapitel, das der „Anwendung dieser Principien auf einzelne Gegenstände der Chemie“ gewidmet ist: „Die Chemie aber stellt diese Kräfte in Bewegung dar, denn ihre Erscheinungen alle sind nichts als Phänomene einer Wechselwirkung der Grundkräfte der Materie.“50 Pointiert wird aus einer heutigen wissenschaftshistorischen Perspektive vermerkt: Die Chemie „was radically rethought by Schelling“.51
|| u.a. 2004; Sibille Mischer: Der verschlungene Zug der Seele. Natur, Organismus und Entwicklung bei Schelling, Steffens und Oken. Würzburg 1997; Walter Steiner: Henrik Steffens (1779 bis 1845) als Lehrer der Mineralogie und Geologie an der Universität Halle und sein Ausscheiden aus dieser Lehranstalt. In: Hercynia 6/4 (1969), S. 440–454. 47 Zur Rolle der Chemie in einem anderen frühromantischen Kontext, nämlich in der Ästhetik Friedrich Schlegels vgl. jetzt Michel Chaouli: Das Laboratorium der Poesie. Chemie und Poetik bei Friedrich Schlegel. Paderborn u.a. 2004. Chaouli stellt fest, dass die „chemischen Metaphern [bei Schlegel, M.-T. F.] […] einer Art von Wechselwirkung“ unterliegen und „dadurch von einer Dynamik erfüllt“ werden. Ebd., S. 92. Er führt aus, dass es nicht zuletzt das „Widerstreben der Chemie, einen primären Ursprung oder eine einzige Endbestimmung zu akzeptieren“, gewesen sei, das Schlegel (und die Frühromantiker) an der Chemie faszinierte. Ebd., S. 211. 48 Friedrich W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur. Erstes, zweytes Buch. Leipzig 1797, S. 5. 49 Ebd., S. 169–188. 50 Ebd., S. 190. Vgl. auch ebd., S. 188: „Dagegen läßt die dynamische Chemie gar keine ursprüngliche Materie, d.h. eine solche zu, aus welcher erst alle übrige durch Zusammensetzung entstanden wären [sic]. Vielmehr, da sie alle Materie ursprünglich als Produkt entgegengesetzter Kräfte betrachtet, so ist die größtmögliche Verschiedenheit der Materie doch nichts anders, als eine Verschiedenheit des Verhältnisses dieser Kräfte.“ 51 Hamm: Heinrich Steffens (wie Anm. 8), S. 161. Vgl. auch ebd., S. 165 sowie Friedman: Kant (wie Anm. 8), S. 143f.
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Dieses Wechselwirkungsdenken,52 also die relationale Begründung von Materie, mag Steffens darin bestärkt haben, sich weiter mit der Frage zu befassen, welche Prozesse es sind, die die organischen und anorganischen Körper entstehen lassen. In dem Zusammenhang erscheint es daher nicht zufällig, dass Steffens im April 1799, also einige Monate bevor er in Freiberg eintraf, in einem Schreiben an seinen früheren Kopenhagener Universitätslehrer Thomas Bugge (1740–1815) zunächst seine eigenen chemischen Untersuchungen erwähnt und unmittelbar daran anschließend Schellings naturphilosophische Vorlesungen anspricht, denen er in Jena folgte. Man könnte dies dahingehend auslegen, dass es nicht zuletzt die chemisch-dynamische Prozessualität der Naturphilosophie Schellings ist, die Steffens anzieht und die er für sein eigenes Denken fruchtbar machen will: Den Untersuchungen, die ich bislang die Gelegenheit hatte durchzuführen, wage ich, obwohl sie bei einigen Chemikern auf Beifall stoßen, keinen besonderen Wert zuzuschreiben […]. Ich habe bei dem in diesem Fach so berühmten Professor Schelling Naturphilosophie studiert, und er hat mich neulich dazu eingeladen, mich an einem Journal für Naturphilosophie zu beteiligen [...].53
Steffens geht in den Beyträgen von bestimmten Grundstoffen aus – Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff – die in geologischen, pflanzlichen wie tierischen Objekten in unterschiedlicher Zusammensetzung vorhanden sind. Um einen Eindruck von Steffens’ Argumentationsweise zu geben, seien hier zwei Zitate angeführt: Die ganze kieseligte Erde die in den ältesten und mächtigsten Gebirgen unserer Erde die Hauptmasse ausmacht […], uns die Ueberreste einer vergangenen Vegetation zeigte, noch immer sich an die bestehende Vegetation als ein lebendiges Glied anschließt, wird hauptsächlich durch Kohlenstoff und Wasserstoff […] ausgezeichnet.54
|| 52 Schon in einer seiner frühesten naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen versucht Steffens auf chemischer Grundlage, die „fuldkomneste Vexelvirkning“ zwischen Organischem und Anorganischem nachzuweisen. Steffens: Et Bidrag til Hypothesen (wie Anm. 3), S. 240. 53 Et Rejsebrev fra Henrik Steffens til Thomas Bugge, Jena, 1. April 1799. Meddelt af Chr. Bruun. In: Danske samlinger for topografi, historie, personal- og literaturhistorie. 2. Reihe. Bd. 1 (1871/72), S. 125–128, hier S. 127: „De Undersøgelser jeg hidtil har havt Leilighed at anstille, endskiønt de have nogle Chemikeres Biefald, vover jeg ikke at tilskrive nogen betydelig Værd [...]. Jeg har under den i dette Fag saa berømte Professor Schelling studeret Naturphilosophien og han har nyeligen indbudet mig til at deeltage i en Journal for Naturphilosophien [...].“ 54 Steffens: Beyträge (wie Anm. 4), S. 58.
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Die ganze kalkigte Reihe, die in den ältesten Gebirgen unserer Erde anfängt, […] durch die Versteinerungen uns die Trümmer einer vergangenen Animalisation zeigt, noch immer sich an die bestehende Animalisation als ein lebendiges Glied […] anschließt, wird hauptsächlich durch Stickstoff und Wasserstoff […] ausgezeichnet.55
Steffens sieht also in allen drei Naturreichen, im Steinreich (den „Gebirgen“), im Pflanzenreich (der „Vegetation“) und im Tierreich (der „Animalisation“), ähnliche Prozesse sich vollziehen, das heißt chemische Prozesse, die auf Affinitäten zwischen unterschiedlichen Stoffen beruhen. Als „Chemiker – denn nur als solchen [sic] betrachten wir hier die Natur“:56 Indem er die gesamte Natur als einen chemischen Prozess beobachtet, kann Steffens zeigen, dass die anorganische und organische Natur aufeinander angewiesen sind und der eine Bereich ohne den anderen nicht existieren kann. Dreierlei möchte ich hier festhalten, bevor ich zum Schluss komme: Erstens gibt Steffens in den Beyträgen den Gedanken einer Lebenskraft auf, verabschiedet also die Vorstellung, es gebe eine Art Substanz, die die Teilhabe am Leben garantiert. Damit hat er in seiner Dissertation noch argumentiert, war damit aber, wie gesehen, nicht weitergekommen, da die Vorstellung einer irgendwie substanziell gedachten Lebenskraft einen holistischen Blick auf die Natur verhindert. In den Beyträgen sind es jetzt Wechselwirkungen, Beziehungen, Relationen zwischen Stoffen, die als maßgebliche Prinzipien die Einheit der Natur begründen sollen. Zweitens sollten meine Ausführungen zu Steffens’ Perspektive auf die grundlegenden chemischen Prozesse in der Natur nicht dahingehend missverstanden werden, dass er die Natur – materialistisch – auf chemische Stoffe reduziert. Das ist nicht der Fall, und Steffens erkennt auch klar „die Grenzen[,] die die Chemie nicht zu überschreiten vermag“.57 Es gibt etwas, das die chemischen Prozesse einleitet, seinerseits aber den chemischen Prozessen nicht unterworfen ist, eben die erwähnten Wechselwirkungen und Relationen. Drittens impliziert die Dynamik chemischer Prozesse – und hier knüpft Steffens an seine Dissertation an – Geschichtlichkeit, einen gerichteten Prozess und ein allmähliches Sich-Herausbilden der Formen. Zeitlichkeit und chemische Prozesse werden enggeführt. Indem er die Materie der Natur – Steine, Pflanzen, Tiere – dynamisch denkt, denkt er auch deren Zeitlichkeit:
|| 55 Ebd., S. 69. 56 Ebd., S. 72f. 57 Steffens: Beyträge (wie Anm. 4), S. 79.
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[D]ieselben Stufen der Animalisation, die jetzt alle auf einmal da sind, sehen wir die Natur von dem ersten Punct der Entstehung der Animalisation überhaupt, wirklich allmählig durchlaufen, bis der Mensch das Werk krönt und vollendet.58
Es wäre an dieser Stelle verlockend, Steffens zum Vertreter einer geologischen Tiefenzeit zu erklären, deuten doch Formulierungen wie „Thrümmer“, „Revolutionen“ „Vergangenheit“ und insgesamt der Gedanke, dass sich anorganische und organische Materie über einen langen Zeitraum hinweg bilden, darauf hin, dass er von einer langen Geschichte der Erde ausgeht. Gegen Ende der Beyträge bezeichnet Steffens sein wissenschaftliches Unterfangen als eine Suche nach dem „Keim zu allen jenen größern und gewaltigern Umbildungen der Erde[,] die uns die Geognosie – diese wahre Urkundensammlung zu einer Geschichte der Erde – aufweist“.59 Steffens liest sich insbesondere in seinen Beyträgen wie ein Vordenker eines modernen systemtheoretischen Naturverständnisses, das von der Annahme umfassender geo-bio-chemischer Systemzusammenhänge ausgeht60 und das Gefüge der organischen und anorganischen Teilsysteme dem Gesamtsystem Erde integriert. Schon in seinem 1799 veröffentlichten Aufsatz über den allgemeinen Organismus hat „System“ buchstäblich das letzte Wort, denn in seinem Schlusssatz resümiert Steffens: „[…] dies leitet uns notwendig zur Idee einer Welt-Organisation, eines allgemeinen Organismus, […] in dem alles in sich selbst zurückläuft; dadurch wird das Ganze organisiert, gebildet etc., beendet – ein System.“61 Wenn die eingangs erwähnte Geowissenschaftlerin Marcia Bjornerud, die in ihrem Buch gegen unsere „Ignoranz der Erdgeschichte“62 anschreibt, feststellt, die Schicht der Erde lese sich wie ein „Bildungsroman über einen Planeten, der sich, während er heranreift, neu erfindet“,63 so weist diese Überlegung eine überraschende Nähe zu Steffens’ Ausführungen zu den Bildungsformationen der Erde und zu naturphilosophischen Positionen der Frühromantik auf. Mit ihrem bereits genannten Konzept „Zeitbewussheit“ nimmt Bjornerud in den Blick, dass wir nicht nur in einer historischen Zeit leben, „wir weilen [auch] in geologischer
|| 58 Ebd., S. 88. 59 Ebd., S. 255. 60 Repräsentanten eines solchen Denkens sind beispielsweise die Naturwissenschaftler Jacques Grinevald oder Paul Crutzen. 61 Steffens: Et Bidrag til Hypothesen (wie Anm. 3). S. 240: „[...] dette leder os nødvendig til Ideen om en Verden-Organisation, en almindelig Organismus [...], i hvilken alting løber tilbage i sig selv; derved organiseres, dannes etc. sluttes Heelt – et System.“ 62 Bjornerud: Zeitbewusstheit (wie Anm. 6), S 14. 63 Ebd., S. 117.
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Zeit“.64 Umso gebotener ist es daher, um nicht als „zeitliche Analphabeten“ und „sich selbst überschätzende Autofahrer […] durch Landschaften und Ökosysteme [zu brettern]“,65 sich die zeitlichen Dimensionen der Erdgeschichte bewusst zu machen. Dieses Verständnis vermittelt in wissenschaftlicher Hinsicht nicht zuletzt Bjorneruds eigene Disziplin, die Geologie, die aufzeigt, „wie die verborgenen Geschichten der Vergangenheit die Welt aufrechterhalten, uns in die Gegenwart einhüllen und unseren Weg in die Zukunft bestimmen“.66 Aber auch andere wissenschaftliche Disziplinen sind in der Pflicht, und Bjornerud appelliert an „alle Wissenschaften“, sich „den geologischen Respekt vor der Zeit und ihrer Fähigkeit zur Umgestaltung, zur Zerstörung, zur Erneuerung, zur Erosion, zur Vermehrung, zur Verflechtung, zur Innovation und zur Auslöschung zu eigen machen“.67 Wie erwähnt, ist es verlockend, hier einen Bezug zu Steffens’ oben dargestellten Positionen herzustellen. Allerdings meine ich, dass Steffens, nicht zuletzt aufgrund seiner teleologisch-anthropozentrischen Perspektive, nicht umstandslos zum Vertreter eines geologischen Tiefenzeitdenkens im heutigen Sinn erklärt werden kann. Dass seine Überlegungen indessen durchaus als aktuell erachtet werden, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass eben solche Bezüge zu einem gegenwärtigen ökologischen Denken hergestellt werden.68
|| 64 Ebd., S. 192. 65 Ebd., S. 14. 66 Ebd., S 192. 67 Ebd., S. 25. 68 Vgl. Anm. 39.
Norman Kasper
Erdleben Henrik Steffens’ Beitrag zu einem naturgeschichtlichen Epochenverständnis Will man das Interesse der romantischen Naturforschung an Geologie und Paläontologie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, so genügt vielleicht ein Begriff, um das Verbindende innerhalb der im Detail durchaus vorhandenen Unterschiede zu beschreiben: ‚Erdleben‘. In ihm manifestiert sich bei Carl Gustav Carus (1789–1869) ab den frühen 1830er Jahren das Bemühen, die erd- und naturgeschichtliche Entwicklung unter die Vorzeichen eines organischen lebendigen Prozesses zu stellen. Erstmals taucht der Begriff in Steffens’ Anthropologie (1822) auf,1 dort bezieht er sich allerdings allein auf das biologische Leben auf der Erde und noch nicht, wie in der späteren maßgeblichen Fassung durch Carus, auf die Entwicklung der Erde als Organismus. Gleichwohl ist jedoch bei Steffens eben jene organische Naturvorstellung seit etwa 1800 präsent – eine Auffassung, von der er in den Folgejahrzehnten nicht abrücken und die in den 1830er Jahren dann eine Carus’ Konzeption vergleichbare Gestalt bekommen wird. Im Mittelpunkt soll im Folgenden diese denkgeschichtliche Entwicklung stehen. Klar ist: Die Geschichte der Idee des ‚Erdlebens‘, wie wir sie im Folgenden rekonstruieren wollen, ist noch ungeschrieben, was hauptsächlich daran liegt, dass Steffens zunächst, in den Beyträgen zur innern Naturgeschichte der Erde (1801), von der Geochemie aus argumentiert und erst im zweiten Teil der Polemischen Blätter (1835) auf die dann auch für Carus’ Briefe über Landschaftsmalerei (1831) und die Zwölf Briefe über das Erdleben (1841) maßgeblichen Bezugskonzepte der Morphologie und Anatomie rekurriert. Um es vorweg zu nehmen: Rezeptionsgeschichtlich nachweisbare Einfluss- oder Bezugnahmen zwischen beiden lassen sich nicht geltend machen, und doch: Steffens wie auch Carus arbeiten an der Idee, die Erde müsse als ein sich entwickelnder Organismus verstanden werden. ‚Erdleben‘ bezeichnet im Rahmen dieser Sichtweise als beschriebener Prozess (und bisweilen Metapher für diesen Prozess) eine der Natur als Organismus zugeschriebene Ganzheitlichkeit, die auch über eine entwicklungsgeschichtliche Dimension verfügt. An dieser Stelle kommt paläontologisches Wissen ins Spiel, das sich erst seit Ende des 18. Jahrhunderts
|| 1 Vgl. Henrich Steffens: Anthropologie. 2 Bde. Breslau 1822, Bd. 1, S. 43, 53, 287, 473f. Den Hinweis verdanke ich Marie-Theres Federhofer. https://doi.org/10.1515/9783111358826-003
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als eigenständiges Wissensformat zu etablieren beginnt und trotz einer empirischen, an der Diskussion einzelner Funde orientierten Ausrichtung immer auch metaphysische Fragen nach dem Gang der Entwicklung der Flora und Fauna des Planeten stellt.2 In der Vorstellung vom ‚Erdleben‘ verbinden sich bei Steffens und Carus jedenfalls ältere schöpfungstheologisch und kosmisch akzentuierte Annahmen bezüglich der Erdentwicklung mit den Maßgaben der sich von der Statik der älteren Historia naturalis verabschiedenden Paläontologie.3 Hinzukommt als verbindendes Glied eine Entgrenzung des Organischen und des Organismus über den engeren Bereich des ab 1800 verstärkt biologisch gefassten Lebens hinaus.4 Interessant ist, dass Steffens und Carus die von der geologischen und paläontologischen Forschung maßgeblich vorangetriebene Differenzierung der geologischen Tiefenzeit (deep time) in unterschiedliche Bildungsperioden oder Epochen aufgreifen und in ihre Auffassung, die Erde müsse als sich stetig entwickelnder Organismus verstanden werden, integrieren. Hält man sich vor Augen, dass einer der wichtigsten – und hinsichtlich der Entwicklung einer spezifisch urweltlichen Ikonografie sicher auch populärsten – Erkenntnisfortschritte der noch jungen Geologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zweifelsohne darin zu sehen ist, dass sie sich immer besser und damit überzeugender in der Lage zeigt, aus dem stratigraphischen Bericht ganze Welten mit je spezifischen Klimata, Floren und Faunen erschließen zu können,5 so überrascht es, dass die Rolle, die die romantische Naturforschung in diesem Rahmen spielt, bisher kaum thematisiert wurde.6 Dabei lässt sich die epistemische Situation, in der sich die romantische Naturforschung zum neueren paläontologischen Wissen befindet, nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Denn während in der Zeit
|| 2 Vgl. zur Entwicklung einer sich im Rahmen des geologischen Diskurses ausdifferenzierenden, immer deutlicher paläontologisch konturierten ‚Urwelt‘ im 18. und 19. Jahrhundert die Standardwerke von Martin J. S. Rudwick: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reason. Chicago u. London 2006; ders.: Worlds before Adam: The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform. Chicago u. London 2008. 3 Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München u. Wien 1976. 4 Vgl. Sibille Mischer: Der verschlungene Zug der Seele. Natur, Organismus und Entwicklung bei Schelling, Steffens und Oken. Würzburg 1997, S. 59–140. 5 Vgl. Martin J. S. Rudwick: Scenes from Deep Time. Early Pictorial Representations of the Prehistoric World. Chicago u. London 1992. 6 Sibille Mischer diskutiert zwar „biologische Epochen“ bei Steffens und Oken, bindet diese jedoch nicht an die maßgebliche epochentypologische Konzeption der zeitgenössischen paläontologischen Forschung zurück. Vgl. Mischer: Der verschlungene Zug der Seele (wie Anm. 4), S. 176–197, Zitat S. 186.
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um 1800 die romantische Naturforschung zunächst die empirischen, quasipositivistischen Impulse der aufklärerischen Paläontologie7 aufnimmt und idealistisch überformt, gerät die sich schrittweise disziplinär konsolidierende Paläontologie im Laufe des 19. Jahrhunderts selbst immer stärker unter den Einfluss des romantischen Paradigmas und erblickt etwa in einzelnen, epochenspezifischen Faunen der Urwelt das naturgeschichtliche Gewand ideell präformierter Typen.8
1. Es ist bekannt, dass Steffens’ Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde, wie es Sarah Schmidt formuliert, „keine beschreibende Geschichte der Natur von der Weltentstehung bis zur Gegenwart“ entwerfen, „sondern die idealtypische Rekonstruktion der schaffenden Natur, in der die Einheit der Naturkräfte ebenso wie die Einheit von Natur und Geist einsichtig werden soll“,9 bezwecken.10
|| 7 Als aufklärerische Paläontologie ansprechen lassen sich bspw. Johann Heinrich Mercks (1741–1791) Lettres sur les os fossiles d'éléphans et de rhinocéros qui se trouvent dans le pays de Hesse-Darmstadt, die 1782, 1784 und 1786 erschienen oder Johann Christian Rosenmüllers (1771–1820) Abbildungen und Beschreibungen merkwürdiger Hölen [sic] um Muggendorf im Bayreuthischen Oberland für Freunde der Natur und Kunst (1796). Berücksichtigen sollte man auch die Forschungen von Johann Friedrich Esper (1732–1781), etwa die Ausführliche Nachricht von neuentdeckten Zoolithen unbekannter vierfüsiger [sic] Thiere, und denen sie enthaltenden, so wie verschiedenen andern denkwürdigen Grüften der Obergebürgischen Lande des Marggrafthums Bayreuth (1774) oder die Reise zu den Gailenreuther Osteolithen-Höhlen (1784). 8 Ein gutes Beispiel für eine Paläontologie, der man ihre Abkunft aus der romantischen Naturforschung deutlich ablesen kann, stellt z.B. Christian Gottfried Andreas Giebels (1820–1881) Paläozoologie (1846) dar. Die Entwicklungsgeschichte der Erde ist hier naturgewordener Geist, der sich in Typen-Reihen systematisieren lässt. Deshalb kann Giebel auch davon sprechen, dass „die Natur nicht bloßes, absolutes äußerliches Dasein“ sei, „sondern sie ist äußerliches Dasein der Idee, in die Erscheinung getretene oder sinnlich existirende [sic] Idee […], daher muß die Wissenschaft der Natur oder der Naturkörper insbesondere auch die in denselben realisirten [sic] Ideen oder Grundgedanken zum Inhalte haben. Die Grundgedanken (Typen) nun, welche wir in den einzelnen Thieren […] erkennen, bilden zusammengenommen die Idee des thierischen Organismus überhaupt, und es müssen daher die verwandten Gestalten, in Gruppen vereinigt, als nothwendige Glieder einer zusammenhängenden natürlichen Entwicklungsreihe dargestellt werden.“ Christian Gottfried Andreas Giebel: Paläozoologie. Entwurf einer systematischen Darstellung der Fauna der Vorwelt. Merseburg 1846, S. 13f. 9 Sarah Schmidt: Naturbegriff und Naturerkenntnis bei Steffens und Schleiermacher. In: dies. u. Leon Miodoński (Hg.): System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens. Berlin u. Boston 2018, S. 93–117, hier S. 99.
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Innere Naturgeschichte ist die von Steffens intendierte Geschichte der Erde nicht nur in ihrer durch das Primat der Zeitlichkeit vorangetriebenen Abkehr von einer äußerlichen Betrachtung geognostischer und mineralogischer Phänomene im Raum; sie ist vor allem auch deshalb als ‚innere‘ Geschichte gekennzeichnet, da sie Erde und Natur als sich entwickelnden Organismus auffasst. Helge Jordheim hat auf das Zugleich eines sich über die aufklärerische Tradition vermittelnden Vitalismus und eines neuen, die ältere geognostische Tradition sprengenden Zeitbewusstseins hingewiesen.11 Bereits in erdgeschichtlich frühen, anorganischen Bildungen sind jene ‚lebendigen‘ Kräfte und Tendenzen fassbar, die sich später im Rahmen pflanzlicher und tierischer Bildungen spezifizieren. Jene Kräfte, die pflanzliches Leben ermöglichen, ordnet Steffens geologisch-formationstypologisch der Kieselreihe zu; tierisches Leben lässt sich hingegen auf die Kalkreihe zurückführen. So deutlich die Anleihen bei seinem Lehrer Abraham Gottlob Werner (1749–1817) sind, so ersichtlich ist es doch, dass er über ihn hinausgeht. Denn Kieselschiefer und Kalkstein sind bei Werner mit keinem spezifischen – weder animalischen noch vegetabilischen – Lebensimpuls ausgestattet; als Teil des sogenannten Übergangsgebirges stehen sie für eine bestimmte geognostische Formation. Anders bei Steffens: Die Kalkgebirge zeigen die Residuen derjenigen Thätigkeit, durch deren vollkommenes Individualisiren erst die Animalisation entstund. Das ungeheure Thier, dessen Skelett die ganze Kalkreihe darstellt, war eben deshalb kein Thier, die ungeheure Pflanze, dessen Residuum die ganze Kieselreihe darstellt, war eben deshalb keine Pflanze, weil die Individualität noch nicht in ihr gekeimt hatte.12
Mich interessiert im Folgenden nicht das Prinzip der Polarisation zwischen Animalisation und Vegetation, das in der Geschichte der Geologie und Paläontologie des 19. Jahrhunderts, etwa von Karl Alfred von Zittel (1839–1904), mehr || 10 Vgl. zu den Beyträgen auch Michaela Haberkorn: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner (Goethe, A. v. Humboldt, Novalis, Steffens, G. H. Schubert). Frankfurt a.M. 2004, S. 245–252. Vgl. grundsätzlich zur Einheit von Natur und Geist in der romantischen Naturphilosophie Mischer: Der verschlungene Zug der Seele (wie Anm. 4), S. 11–33. 11 Vgl. Helge Jordheim: Naturphilosophie als „innere Naturgeschichte“. Henrich Steffens in Freiberg. In: Peter Schnyder (Hg.): Erdgeschichten. Literatur und Geologie im langen 19. Jahrhundert. Würzburg 2020, S. 71–90, insbes. S. 76–82. 12 Henrich Steffens: Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Erster Theil. Freyberg 1801, S. 89. Wiederholt hat Steffens diesen zentralen Gedanken in seinen Kopenhagener Philosophie-Vorlesungen (1802/03). Vgl. Henrik Steffens: Einleitung in die philosophischen Vorlesungen. Hg. v. Bernd Henningsen u. Jan Steeger. Aus d. Dänischen übers. v. Jan Steeger. Freiburg i.Br. u. München 2016, S. 77–86.
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als neptunistische Grille denn als Beitrag zur disziplinären Konsolidierung verbucht wurde.13 Im Mittelpunkt soll demgegenüber das stehen, was Steffens hier als „Individualität“ anspricht: Die Ausprägung von pflanzlichen und tierischen Lebensformen im Spiegel ihrer paläontologischen, bildungsperiodensignifikanten Erschließung. Man muss sich zunächst klar machen: „Versteinerungen organischer Geschöpfe“ sind in dieser Perspektive nicht einfach nur Zeugnisse frühen Lebens auf der Erde; es handelt sich vielmehr um „das erste Losreissen der einzelnen Organisationen von dem allgemeinen Organismus“.14 Und der Prozess dieses „Losreissen[s]“, so kann man hinzufügen, hat seine eigene Geschichte – innere Naturgeschichte. „Versteinerungen“ kommt im Rahmen dieses Prozesses, wie Steffens schreibt, „eine höhere Bedeutung“ zu: „[D]enn sie zeigen uns den Punkt an, von welchem aus die bloße Tendenz in wirkliche Animalisation auf der einen, in wirkliche Vegetation auf der anderen Seite ausschlägt.“15 Die Entwicklung der tierischen und pflanzlichen Lebensformen lässt Steffens, durchaus zeittypisch, vom Niederen zum Höheren verlaufen. Mit Werner, Georges Cuvier (1769–1832) und Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) rekonstruiert er unterschiedliche dieser Lebensformen. An der Spitze der Entwicklung steht der Mensch. „Diese Progression in der Bildung wissenschaftlich verfolgt“, schreibt Steffens, „konstituiert die wahre Geschichte der Erde; aber das, wodurch die Bildungsstuffen [sic] sich voneinander unterscheiden, ist Qualität.“ Eine so verstandene innere Naturgeschichte soll an das anschließen, „was man, mehr oder weniger deutlich, sich bisher unter einer Theorie der Erde gedacht hat“.16 In den Geologisch-geognostischen Aufsätzen (1810) gibt Steffens dann einen Abriss über die Geschichte der Erforschung der Erdentwicklung. Er erwähnt hier John Woodward (1665–1728), Thomas Burnet (1635–1715) und William Whiston (1667–1752), die er als „mechanische Geologen“ bezeichnet:
|| 13 „Die Unterstützung, welche der neptunistischen Schule durch den Naturphilosophen H. Steffens zu Theil wurde, konnte ihr nur wenig nutzen. Die einstens viel bewunderten Ideen dieses originellen Denkers über die Polarität erscheinen uns jetzt unverständlich. Sie ballte im Wasser organischen Urstoff zu Pflanzen und Thieren zusammen und schied mineralische Stoffe aus der allgemeinen Lösung aus. Nach dem Gesetz der Polarität stehen gewisse Naturerscheinungen mit anderen in einem nothwendigen Gegensatz, darum auch der Antagonismus zwischen den Gesteinen der Kiesel- und Kalkreihe. Die ersteren sind in der Regel nur von Pflanzenversteinerungen, die letzten von thierischen Ueberresten begleitet.“ Karl Alfred von Zittel: Geschichte der Geologie und Paläontologie bis Ende des 19. Jahrhunderts. München u. Leipzig 1899, S. 110f. 14 Steffens: Beyträge (wie Anm. 12), S. 17. 15 Ebd., S. 83. 16 Ebd., S. 96.
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„Während die mechanische Ansicht in der Physik die herrschende war, wurden alle Epochen selbst unbestimmt und willkührlich gefaßt, durch mechanische Zerstörungen des schon bestehenden, durch Wasser oder Feuer veranlaßt, bezeichnet.“17 Steffens’ Epochenverständnis geht demgegenüber von inneren Veränderungen aus; Leitwissenschaft ist nicht mehr – wie noch bei Burnet – die (biblisch-schöpfungstheologisch verbrämte) Geophysik, sondern die Geochemie. Die Unterschiede könnten nicht größer sein: Führt Burnet in seiner Telluris theoria sacra (1680) die letzte große Veränderung der Erde noch auf eine aufbrechende Erdrinde zurück, aus der sintflutartige Wassermassen stürzen, die nach dem Abfließen die heutige Verteilung von Kontinenten und Meeren erkennen lassen,18 so sieht Steffens einen geochemischen Prozess am Werk, der die Veränderungen im inneren der Natur determiniert.19 Wie sieht nun Steffens’ qualitatives Verständnis der Bildungsstufen der Erde aus? In den Grundzügen der philosophischen Naturwissenschaft (1806) heißt es: Die ganze Erde wird durch den lebendigen Organismus in einem organischen Zwang gehalten. Alle Elemente, die Veränderungen der Atmosphäre, die Beschaffenheit der Erdoberfläche, die Natur des Wassers, die Erscheinungen des Feuers, sind, was sie sind, durch den organischen Zwang. In einer jeden Epoche ist die Art des Erscheinens der Elemente eine andere gewesen.20
Jener Wandel der Elemente von Bildungsperiode zu Bildungsperiode auf Grundlage des organischen Zwangs unterliegt nach Steffens einer Gesetzmäßigkeit; „aber dieses Gesetz muß ein lebendiges seyn, denn es regiert über die allmähliche Entfaltung der Erde“, über ihre „Evolutionsgeschichte“.21 Verbunden ist Steffens’ Vorstellung von der geschichtlichen Entwicklung der Erde als Organismus mit einer Beschreibung der epochenspezifischen Verhältnisse der Stoffe zueinander – die in ihrem Zusammenspiel die urweltlichen Lebensräume konstituieren. Die erste Regung der organischen Thätigkeit in den Flötzgebirgen scheint eben die mächtigste gewesen zu sein. Das Wasser trat stark zurück. Es entstanden Landseen, die das Le-
|| 17 Henrich Steffens: Geologisch-geognostische Aufsätze, als Vorbereitung zu einer innern Naturgeschichte der Erde. Hamburg 1810, S. 161. 18 Vgl. zu Burnet Stephen J. Gould: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. Aus d. Amerikanischen v. Holger Fließbach. München u. Wien 1990, S. 39–92. 19 Vgl. auch den Beitrag von Marie-Theres Federhofer in diesem Band. 20 Henrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft. Berlin 1806, S. 130f. 21 Steffens: Geologisch-geognostische Aufsätze (wie Anm. 17), S. 217, 199.
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ben mehrerer Fischarten, und Moore, die das Gedeihen der Sumpfpflanzen begünstigten, jene mehr im Wasser, diese mehr als festes Land. […] Die Steinkohlengebirge zeigen uns […] die wenigen und sparsamen Spuren einer aus der Indifferenz des Wassers hervortretenden atmosphärischen Organisation der damaligen Epoche.22
Das ‚lebendige‘ Zusammenspiel der Elemente geht an dieser Stelle in die Skizzierung landschaftlicher Miniaturen über, die die „damalige[] Epoche“ als Naturraum – als Milieu – zu rekonstruieren suchen und an einer erzählendbeschreibenden Visualisierung vormaliger Erdzustände arbeiten. Die aus den „Steinkohlengebirge[n]“ erschlossene „atmosphärische[] Organisation“ verweist etwa auf die maßgeblich den meteorologisch-klimatischen Bedingungen zugewiesene Fähigkeit, das Typische des Karbons bezeichnen zu können. Der Naturraum steht dabei für einen einzelnen Abschnitt im Ablauf der Erdgeschichte, dem andere vorausgehen und folgen. Im zweiten Teil der Polemischen Blätter führt Steffens dann den Leser im Modus der Zeitreise in die Bildungsperiode des eben in den 1820er Jahren von William Buckland entdeckten Diluviums:23 Wir können, die Fragmente jener zerstörten Welt untersuchend, uns in ihre Mitte versetzen, wir erblicken dann behaarte Elephanten und Rhinoceros mit Auerochsen und Pferden, die in Europa und Asien, wie in America, durch dicht bewachsene Wälder sich den Weg bahnten; Flußpferde schwammen in mächtigen Flüssen, die jetzt verschwunden sind; Heerden von Tigern, Löwen, Hyänen und Wölfen verfolgten diese Thiere. Wir vermögen nicht bloß zu erkennen, wo sie begraben sind, sondern auch wo sie gelebt haben.24
Die Rekonstruktion der urweltlichen Epoche des Diluviums ist an dieser Stelle als unterhaltsame, dioramatisch konturierte Durchwanderung des imaginierten Lebensraumes angelegt: Der Erzähler nimmt den Leser mit in die erzählte Welt. Als Tourguide präsentiert er die Fauna wie in einem Zoo oder während einer Safari. Wird das „[E]rblicken“ der Tiere noch im Präsens geschildert und suggeriert damit unmittelbare räumliche Gegenwart, so gehen die folgenden Aussagen über den geografischen Lebensraum und die Nahrungskette bald ins distanzierende Präteritum über. Die gelehrte Unterweisung ist als Abkehr von der || 22 Ebd., S. 277f. 23 Vgl. zur Aufnahme von Buckland im deutschsprachigen Raum Norman Kasper: „Begründer der modernen Sündfluthstheorie“. William Bucklands deluviale Geologie im Spiegel deutscher Rezeption. In: Friedemann Stengel u. Thomas Ruhland (Hg.): Von der Physikotheologie zum Vitalismus? Transformationen des Verhältnisses von Naturforschung und Religion im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen [im Erscheinen]. 24 Henrich Steffens: Polemische Blätter zur Beförderung der speculativen Physik. Zweites Heft. Zur Geologie. Breslau 1835, S. 109f.
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fingierten Beobachtungssituation konzipiert; es geht darum, über den beobachteten Einzelfall hinaus auf das tiergeografisch Allgemeingültige jener Zeit abzustellen.25 Eingebunden bleiben die Äußerung über das Diluvium wie auch über die anderen Bildungsperioden in die Vorstellung, Erdepochen würden Aufschlüsse über den Gesamtzustand des Organismus Erde zulassen. Der Unterteilung in Organisches und Unorganisches kommt deshalb keine besondere Bedeutung zu, da beide gleichermaßen dem ‚organischen Zwang‘ ausgeliefert sind, sich der ‚organische Zwang‘ in ihnen und im Verhältnis zueinander gleichsam nur unterschiedlich realisiert. Es ist typisch für die romantische Naturforschung, dass sie an dem Punkt, an dem die zeitgenössische Paläontologie den Bezug zu Kosmologie, Geognostik und Mineralogie kappt und den Dialog mit der Biologie – genauer gesagt: der Zoologie – sucht, darum bemüht bleibt, den Bereich der Erforschung des Organischen und Anorganischen einem gemeinsamen Generalnenner zu unterstellen und ‚Leben‘ nicht vorrangig biologisch zu fassen. Gleichzeitig jedoch bleibt die romantische Naturphilosophie der zeitgenössischen Paläontologie verpflichtet – sowohl was deren empirisches Material als auch das methodische Selbstverständnis angeht. Maßgeblich für Steffens sind wie für so viele seiner Zeitgenossen Cuviers „Untersuchungen der Reste der Wirbelthiere“, denen er mit Blick sowohl auf „Geologie“ als auch auf „Pflanzenund Tierphysiologie“ eine wichtige Rolle zuspricht.26 Cuvier ist es auch, der Vorstellungen von unterschiedlichen Erdepochen nach Maßgabe der ihnen zugeordneten fossilen tierischen Zeugnisse zu gewinnen, und damit die Geologie paläobiologisch zu konkretisieren sucht.27
|| 25 Das Genre der Zeitreise und die Figur des Tourguide gehören zum festen Bestandteil der populären englischen Geologie des mittleren 19. Jahrhunderts, wie Ralph O’Connor am Beispiel von Hugh Miller (1802–1856) aufgezeigt hat. Vgl. Ralph O’Connor: The Earth on Show. Fossils and the Poetics of Popular Science, 1802–1856. Chicago u. London 2007, S. 391–432, insbes. S. 404–407. 26 Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 24), S. 55. 27 „Warum sahe man nicht ein, daß die Erd-Theorie den fossilen Leben-Wesen [sic] allein ihren Ursprung verdanket, daß man ohne sie wohl niemals an aufeinander folgende Epochen, an eine Folge verschiedenartiger Bildungen bei der Entstehung der Erdkugel hätte denken können?“ Georges Cuvier: Ansichten von der Urwelt. Nach der zweiten Originalausgabe verdeutscht u. mit Anmerkungen begleitet v. Dr. J. Nöggerath. Bonn 1822, S. 43. Der Geologe und Mineraloge Jacob Nöggerath (1788–1877) übersetzt und kommentiert hier den epochenmachenden Discours préliminaire nach der zweiten Ausgabe des ersten, 1821 erschienenen Bandes von Cuviers Recherches sur les ossemens fossiles de quadrupèdes, où l’on rétablit les caractères de plusieurs espèces d’animaux que les révolutions du globe paroissent avoir détruites. Erstmalig erschien der Discours préliminaire 1812.
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Dieses Interesse Steffens’ an Cuvier ist jedoch insofern nicht unproblematisch, als damit die ältere, die Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde prägende Modellierung tierischer und pflanzlicher Entwicklungs-, das heißt Individualisierungsprozesse im Bereich der Kalk- und Kieselreihe an argumentativer Kraft verliert und stattdessen zoologische Anatomie (‚Zootomie‘), Physiognomik und Morphologie – Cuvier argumentiert vor allem mit „fossilen VierfüsserKnochen [sic]“28 – zu den Gesprächspartnern der spekulativen Naturforschung werden. Man muss sich klarmachen: Trotz dieser signifikanten Umorientierung hat sich an Steffens’ Ziel nichts geändert; dieses besteht weiterhin darin, der inneren Naturgeschichte auf die Spur zu kommen. Nur glaubt er, dieses Ziel nun auf anderen Wegen erreichen zu können. Dabei kommt ihm etwas ganz Entscheidendes zupass: Seiner Einschätzung folgend integrieren sich nämlich die neuen Bezugsdisziplinen sehr gut in die „tiefste[] speculative[] Aufgabe“ der romantischen Naturforschung; ja sie neigen gewissermaßen von sich aus, etwa was die Zoologie angeht, dazu, die Entwicklung der Flora und Fauna „als eine lebendige Totalität“ zu verstehen.29 Der Grundtenor von Steffens’ Argumentation ist klar: Zoologische und geologische Forschung selbst tragen die vitalistische Signatur romantischer Naturforschung, die diese dankend registriert. In dem Maße nun, wie Steffens „Natur als ein lebendiges, und Dieses [sic] als eine nie ruhende, sich fortlaufend erneuernde schöpferische That“ begreift,30 kommt der Erschließung der einzelnen Bildungsperioden der Erde eine besondere Rolle zu, markieren diese doch den rekonstruierbaren Ausweis des schöpferischen Geschehens. Und je mehr man über sie weiß, desto deutlicher wird unser Bild des angenommenen Schöpfungsprozesses. Insofern ist es auch verständlich, dass nach Steffens die „für die Erforschung wichtigste Untersuchung erst dann erfolgreich anfangen kann, wenn wir mit einiger Sicherheit die eigenthümliche Thier- und Pflanzenwelt bestimmter Perioden zu überschauen vermögen“.31
|| 28 Cuvier: Ansichten von der Urwelt (wie Anm. 27), S. 45. 29 „Die Zoologen haben diese Thiere der Vorwelt in ihre Classificationen aufgenommen und sie werden dabei durch den, wenn auch nicht deutlich ausgesprochenen, Gedanken geleitet, daß man die Thierwelt durch alle Grade ihrer Entwickelung, als eine lebendige Totalität betrachten müsse.“ Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 24), S. 55. Bereits zu Beginn dieses Textes stellt Steffens fest, dass die „Geologie, wie sie sich zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelte, […] an die Stelle der willkührlich ersonnenen und principienlosen Cosmogonien getreten“ sei „und, indem ihr Gegenstand die Entwicklungsgeschichte der Erde ist, tritt sie der tiefsten speculativen Aufgabe unwillkührlich näher […].“ Ebd., S. 5. 30 Ebd., S. 139f. 31 Ebd., S. 55.
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2. Ich hatte darauf hingewiesen: Steffens knüpft im zweiten Teil der Polemischen Blätter nicht mehr an von Werner entlehnte Begriffe wie Kalk- und Kieselreihe an. Anschluss sucht er vielmehr, wie ich im Folgenden etwas genauer zeigen möchte, an das von der paläontologisch orientierten Zoologie der Zeit vertretene Gestalt-Denken. In den Mittelpunkt rücken damit Begriffe wie ‚Morphologie‘ und ‚Metamorphose‘; die Beziehung von Natur und Geist zeigt sich nun im Verhältnis von ‚Typus‘ und ‚Idee‘. Was eine „Organisation“ ausmacht – „innere Zweckmäßigkeit und durch diese eine geistige Einheit“ – lehrt die „Morphologie“.32 Das bezieht sich sowohl auf die Organisation rezenter Lebewesen als auch auf die Naturgeschichte. Demnach erhält das „unwandelbare Gesetz des Geistes und der Natur […] eine ächt geschichtliche Bedeutung, wenn wir die Entwicklung der Organisation durch die verschiedenen Epochen der Erdbildung hindurch verfolgen“.33 Freilich: „Die zeitliche Systematisierung der Naturerscheinungen ist für die romantischen Naturforscher eine Idealgenese, die auch eine historische Seite hat.“34 Und insofern ist für Steffens auch klar, dass die Rede von der „Metamorphose“ keineswegs so zu verstehen ist, „als wenn eine Form aus der anderen entstanden“ sei: Formen „sind nicht durch eine in der Zeit stattfindende Entwicklung, sondern durch einen geistigen Akt, durch den schöpferischen, intelligenten Willen zugleich gesetzt“.35 „Wesentlich ist“ also, darauf hat Dietrich von Engelhardt nachdrücklich hingewiesen, „der metaphysische Zusammenhang der Naturerscheinungen und nicht ihre äußere Verbindung“.36 Dennoch ist eine sich ganz auf die Realisierung der ‚Idee‘ in der Natur kaprizierende Naturgeschichte auf empirisch-paläontologisch nachweisbare Spuren angewiesen, um diesen einen geistigen Grundimpuls zuweisen zu können. Das geschichtliche Moment mag zwar der Idee äußerlich sein; es ist jedoch gleichzeitig der Punkt, an dem sich die innere Naturgeschichte in ihren unterschiedlichen epochalen Stationen zeigt. Die Gegenwart allein, das macht Steffens klar, reicht dazu nicht aus:
|| 32 Ebd., S. 149. 33 Ebd., S. 153. 34 Dietrich von Engelhardt: Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus. Freiburg i.Br. u. München 1979, S. 136. 35 Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 24), S. 150. 36 Dietrich von Engelhardt: Henrik Steffens im Spektrum der Naturwissenschaft und Naturphilosophie in der Epoche der Romantik. In: Otto Lorenz u. Bernd Henningsen (Hg.): Henrik Steffens. Vermittler zwischen Natur und Geist. Berlin 1999, S. 89–112, hier S. 103.
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Die gegenwärtige Epoche der Erde erhält nicht das ganze Maaß der Gliederungen, die durch die manigfaltigen, reichen Metamorphosen der Natur gegeben sind und nur in dem vollen Gang ihrer Entwickelung durch die Geschichte der Erde überschauet werden kann. Auch innerhalb der Grenzen der gegenwärtigen Epoche werden durch monströse Bildungen verbindende Glieder der Metamorphose verrathen, die bey dem normalen Gange der Entwickelung nicht zum Vorschein kommen. In weit ausgedehnterem Sinne bieten solche Enthüllungen sich uns dar, wenn wir die geschichtliche Entwickelung verfolgen. Wie wichtig sind in dieser Rücksicht die Saurier und Pterodactylen. Die Geologie, als Entwicklungsgeschichte der Organisation, ist ein wesentlicher Theil der Anatomie und Physiologie geworden.37
Wie das längere Zitat zeigt, in dem der Autor die Entwicklung der sich immer deutlicher disziplinär konsolidierenden Paläontologie kommentiert: Das metamorphotische Prinzip – der Entwicklung der Natur zugeschrieben – findet seine Bestätigung in der neueren, anatomisch und physiologisch orientierten paläontologischen Forschung. Da die Wissenschaft von den untergegangenen Lebewesen über ein solches Wissen um 1800 noch nicht verfügte, konnte sich Steffens in seinen Beyträgen zur innern Naturgeschichte der Erde auch noch nicht darauf beziehen. Das ist nun anders – und Steffens arbeitet sichtlich daran, neue paläontologische Erkenntnisse in den spekulativen Deutungshorizont zu integrieren, oder vielmehr der Paläontologie selbst eine Entwicklung hin zu einem spekulativen Deutungshorizont zu unterlegen. Eben erst entdeckten Landechsen („Saurier“) und Flugsauriern („Pterodactylen“), die weitaus älter sind, als die von Cuvier aus dem Gips von Montmarte oder von Buckland aus der Höhle von Kirkdale an das Tageslicht beförderten diluvialen Tiere, kommt im Rahmen des Fokus, den die morphologisch-anatomisch geprägte Paläontologie setzt, eine besondere Rolle zu: Ihre monströsen Bildungen verweisen auf die ungeheure Spannbreite des natürlichen morphologischen Repertoires, das der Natur zur Verfügung steht und das sie im Rahmen ihrer „mannigfaltigen, reichen Metamorphosen“ im Ablauf der Zeit durchmisst. Erst in der Zusammenschau aller Bildungsperioden der Erde wird der Flora und Fauna umfassende metamorphotische Reichtum „als eine lebendige Totalität“38 oder, wie man auch sagen könnte: als ‚Erdleben‘ sichtbar. Damit wären wir bei Carus.
|| 37 Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 24), S. 157f. 38 Ebd., S. 55.
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3. Carus ist derjenige, der den Begriff des ‚Erdlebens‘ prominent macht, und zwar in seinen Zwölf Briefen über das Erdleben (1841). Hier spricht er vom „Einleiben des Urbildes in das Werdende oder der Idee in die Natur“.39 Zwar gilt sein Hauptaugenmerk dem titelgebenden Erdleben, wie es sich in seiner ätherisch, meteorologisch-klimatisch bedingten, jahres- und tageszeitlich fassbar werdenden Erscheinungsvielfalt zeigt, doch weist er ihm auch eine eminent naturgeschichtliche Dimension zu: Die Wege, auf denen die Idee immer wieder neu und immer wieder anders in der Natur Gestalt gewinnt, werden durch die einzelnen Bildungsperioden der Erde angezeigt.40 „Einleiben“ ist bei ihm identisch mit „‚Lebendigsein[]‘“41 – und dieses Leben verfügt über eine eigene Geschichte. „Man darf nämlich unbedingt mit einem Worte sagen“, so der späte Carus in seinem Organon der Erkenntniß der Natur und des Geistes (1856), die Idee des Lebens auf Erden ist mit jeder dieser großen Revolutionsperioden eine andere geworden; kein Organismus, sei es Pflanze oder Thier, der nicht seine Fortbildung jedesmal nach solchen allgemeinen Umbildungen, auch in sich selbst geändert hätte, dessen Idee, dürfen wir folglich sagen, nicht in irgend einer Beziehung eine andere geworden wäre, so zwar, daß in den Palmen wie in den Cephalopoden und den höhern Thieren der Vorwelt, zwar das Allgemeine von den Palmen, den Cephalopoden und den höhern Thieren der Jetztwelt vollkommen wieder erkannt werden mag, daß wir aber doch überall begreifen, daß jetzt gegen sonst, die bestimmtesten Gattungsverschiedenheiten eingetreten sind, welche denn, da sie durch äußere Einflüsse allein nicht gegeben sein konnten, nur aus einem wirklich geänderten Ansichsein ihrer Idee erklärt werden können.42
Bereits in den Briefen über Landschaftsmalerei (1831/35) entwirft Carus sein Konzept des „Erdlebenbild[es]“,43 das geologische, meteorologische und pflanzengeographische Eigentümlichkeiten eines Naturraumes prägnant darstellen möchte. In engem Zusammenhang zu sehen ist diese „Erdlebenbildkunst“44 mit
|| 39 Carl Gustav Carus: Zwölf Briefe über das Erdleben. Stuttgart 1986 [1841], S. 54. 40 Carus konzipiert die Bildungsperioden im Rückgriff auf die ältere biblische Tradition metaphorisch als Schöpfungstage. Maßgeblich ist jedoch nicht die Genesis-Erzählung, sondern die geologische Forschung. Vgl. ebd., S. 122–141. 41 Ebd., S. 54. 42 Carl Gustav Carus: Organon der Erkenntniß der Natur und des Geistes. Leipzig 1856, S. 246. 43 Carl Gustav Carus: Briefe über Landschaftsmalerei. Zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung. Heidelberg 1972 [1835], S. 118. 44 Ebd.
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den sogenannten „geognostischen Landschaft[en]“,45 wie sie Carus in dem Abschnitt Andeutungen zu einer Physiognomie der Gebirge entwirft. Deutlich wird sowohl hinsichtlich des „Erdlebenbild[es]“ als auch mit Blick auf die „geognostische[] Landschaft“, dass es die zeitgenössische Morphologie ist, die Orientierung bieten soll. Beide Konzepte zielen auf eine kontemplative, gleichwohl wissenschaftlich fundierte und anschauungsbezogene Beschreibung der Natur ab, und beide partizipieren in ihrem Bezug zur Physiognomik an einem Denken in Gestaltzusammenhängen. Auch wenn der pflanzenphysiognomische Aspekt in der Konzeption des „Erdlebenbild[es]“ dominanter ist als im Rahmen der sich auf die Gebirgsphysiognomie konzentrierenden geognostischen Ansicht, so kann letztere doch keineswegs auf eine Vegetationsdecke verzichten – wie beispielsweise Carus’ Geognostische Landschaft. Katzenköpfe bei Zittau (1820) zeigt (Abb. 1).
Abb. 1: Carl Gustav Carus: Geognostische Landschaft (Katzenköpfe bei Zittau), 1820, Öl auf Leinwand, 91,50 x 133 cm, © Staatsgalerie Stuttgart.
|| 45 Ebd., S. 176.
38 | Norman Kasper
In den Zwölf Briefen über das Erdleben nun öffnet Carus die landschaftsphysiognomische Ästhetik der „geognostischen Landschaft“ und der „Erdlebenbildkunst“ auf die geologische Tiefenzeit hin, wenn er von „Bildungsperiode[n] des Erdlebens“,46 spricht, in denen er glaubt, unterschiedliche Realisierungen des „Ansichsein[s]“ der „Idee“47 ausmachen zu können.48 Wie Steffens versteht Carus Naturgeschichte als inneren Prozess und sieht damit in den Perioden der Erde je spezifische Realisierungen eines Inneren im Äußeren, und gleich Steffens geht er von einem Organismus-Zusammenhang aus, in dem Geist und Natur untrennbar miteinander verbunden sind. Vor der Folie dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeiten lassen sich die Unterschiede und die Wege, auf denen beide zu ihren ‚Erdleben‘-Vorstellungen gelangt sind, umso deutlicher aufzeigen. Steffens’ in den Beyträgen zur innern Naturgeschichte der Erde zentrale Rede vom ‚organischen Zwang‘ als Entwicklungsmovens betont qualitative Änderungen im Zusammenspiel der Materie, die, so die Überlegung, zu neuen, je signifikanten stofflichen Emergenzen großraumperiodisch greifbarer Erdabschnitte in Form von Umwelten führen. Erst unter dem Einfluss der immer stärker an Bedeutung gewinnenden paläontologischen Forschung beginnt er sich für zoologische Anatomie und Physiologie zu interessieren und diese Zugänge seinen erdentwicklungsgeschichtlichen Vorstellungen zu Grunde zu legen. Steffens’ Anthropologie (1822) trägt bereits deutliche Spuren dieser Umorientierung, die dann im zweiten Teil der Polemischen Blätter programmatisch wird. Da, wo Steffens ankommt, war der Arzt Carus gewissermaßen schon immer heimisch, nämlich im Bereich der zoologischen Anatomie, zeitgenössisch ‚Zootomie‘ genannt. Von dort aus überträgt Carus das morphologische, an ‚Typen‘ orientierte Denken auf landschaftsphysiognomische Zusammenhänge, das auch genetische Prozesse einschließt.49 In konkreten, im Ablauf der Naturgeschichte realisierten und damit empirisch fassbaren Pflanzen und Tieren
|| 46 Carus: Zwölf Briefe (wie Anm. 39), S. 139. 47 Carus: Organon der Erkenntniß (wie Anm. 42), S. 246. 48 Vgl. zur Entwicklung von Carus’ paläontologischem Denken Norman Kasper: Dynamische Naturgeschichte der Weltseele. Carl Gustav Carus’ paläontologisches Interesse im Ausgang einer unveröffentlichten Rede vom 03. August 1816. In: Antje Arnold u. Christof Wingertszahn (Hg.): Eroberung, Erfindung, Philosophie und Poesie. ‚Natur‘ in der Romantik. Berlin u. Boston [im Erscheinen]. 49 Vgl. zur „morphologisch-genetische[n] Methode“ Carus’ Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus. Berlin u. Boston 1995, S. 29–38, Zitat S. 29. Annette Graczyk betont neben Goethes Einfluss denjenigen des genetischen Denkens Lorenz Okens auf Carus. Vgl. Annette Grazcyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2004, S. 396.
Erdleben | 39
verbergen sich bei ihm immer ‚Typen‘, die ihrerseits ideell präfiguriert sind. Diese ideelle Präfiguration ist zwar auch Steffens prinzipiell nicht fremd – auch er unterstellt neue Lebensformen einem Schöpfungsakt –, doch betont Steffens die „verbindende[n] Glieder der Metamorphose“,50 während Carus die durch die Verschiedenheit der epochenspezifischen ‚Ideen‘ bewirkten formalen Unterschiede stark macht. Was die Beziehung beider anbelangt: Erstaunlicherweise hat Carus Steffens’ Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde wohl nicht gelesen, jedenfalls orientiert sich sein geologisches Interesse vor 1820 noch ganz an einer aufgeklärten Geologie, die in ihrer Abkehr von der älteren Geophysik (Stichwort: Burnets Telluris theoria sacra) einzelne, häufig lokal begrenzte fossile Funde recht nüchtern beschreibt – von romantischer Naturforschung ist bei Carus jedenfalls zunächst keine Spur. Erst mit der über die Zootomie vermittelten Annahme, in den einzelnen Tierformen würde sich eine bestimmte Idee des Tieres realisieren, rückt jene ideelle Grundierung in den Mittelpunkt, die Carus dann von der Analyse rezenter Arten auf den naturgeschichtlichen Befund überträgt. Nun steht also fest: Auch in den Tieren und Pflanzen der einzelnen Bildungsperioden der Erde materialisiert sich eine ideelle Potenz. Der Arzt und Landschaftsmaler Carus beschreibt urzeitliche Formen des ‚Erdlebens‘ nicht nur in seinen Texten; er zieht auch das Genre der Landschaft in Betracht, um diese vormaligen Erdzustände pflanzenphysiognomisch korrekt beschreiben zu können.51 Gewissermaßen gefolgt sind dieser Einladung Carus’, einzelne Abschnitte der Urwelt in Landschaftsbildern festzuhalten, der Paläobotaniker Franz Unger (1800–1870) und der Kunstmaler Josef Kuwasseg (1799–1859), beide Österreicher.52 Mit Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden (1851) schufen sie einen Meilenstein in der ikonografischen Repräsentation urweltlichen Lebens.53 Jedes Landschaftsbild rekonstruiert einen für eine bestimmte Periode signifikanten Lebensraum. Wie ein Blick auf die „Devonische Periode“ (Abb. 2) und die „Neuere Uebergangsperiode“ (Abb. 3) zeigt, ist das pflanzliche Kleid der Erde für die physiognomische Signatur einer „Bildungsperiode“ entscheidend.
|| 50 Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 24), S. 158. 51 „Wie bedeutungsvoll ist nicht die Art der Vegetation für den Charakter der Gegend; und die Geschichte der großen Formationen der Pflanzenwelt uns im schönen und sinnigen Gewande vorzuführen, wäre sicher eine edle Aufgabe der Kunst […].“ Carus: Briefe über Landschaftsmalerei (wie Anm. 43), S. 110. 52 Ich habe an anderer Stelle versucht, Carus’ paläobotanische Landschaftsästhetik mit dem Interesse, das die zeitgenössische Paläontologie an der Landschaft zeigt, ins Gespräch zu bringen. Vgl. Kasper: Dynamische Naturgeschichte der Weltseele (wie Anm. 48). 53 Vgl. Rudwick: Scenes from Deep Time (wie Anm. 5), S. 97–133.
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Abb. 2: Josef Kuwasseg: Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden (um 1855), „Devonisch [sic] Periode / Période Dévonienne“, Aquarell auf Karton, 48 x 66,5 cm, © Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum.
Abb. 3: Josef Kuwasseg: Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden (um 1855), „Neuere Uebergangsperiode / Période de transition moderne“, Aquarell auf Karton, 48 x 66,5 cm, © Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum.
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In diesem Punkt stehen die Österreicher durchaus in der konzeptionellen Tradition des „Erdlebenbild[es]“ und der „geognostischen Landschaft“ Carus’, auch wenn freilich der Einfluss der Pflanzengeographie Alexander von Humboldts (1769–1859), besonders derjenige seiner Ansichten der Natur (1808), maßgeblicher gewesen sein dürfte, und sich ja bei Carus wie auch bei Unger nachweisen lässt.54 Wenn auch die Pflanzenwelt im Mittelpunkt der landschaftlichen Rekonstruktionsbemühungen steht, so ist durchaus Interesse an der urweltlichen Fauna vorhanden. Die beiden dem Diluvium gewidmeten Ansichten Ungers und Kuwassegs (Abb. 4 u. 5) zeigen übrigens jene Tierwelt, die Steffens im zweiten Teil der Polemischen Blätter dioramatisch beschreibt: „Elephanten“ (allerdings keine „behaarte[n] Elephanten“, also Mammute), „Rhinoceros“ und „Auerochsen“.55
Abb. 4: Josef Kuwasseg: Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden (um 1855), „Aelteres Diluvium“, Aquarell auf Karton, 48 x 66,5 cm, © Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum.
|| 54 Zu Carus und Humboldt vgl. Graczyk: Das literarische Tableau (wie Anm. 49), S. 253–409. Zu Unger und Humboldt vgl. Marianne Klemun: ‚Humboldtian Science‘ and Beyond. The Humboldtian Way of Seeing und Knowing in Vienna and in Franz Unger’s and Friedrich Simony’s Earth Sciences. In: Earth Science History 39/2 (2020), S. 228–245, insbes. S. 235–238. 55 Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 24), S. 109.
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Abb. 5: Josef Kuwasseg: Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden (um 1855), „Diluvium / Période Diluvienne“, Aquarell auf Karton, 48 x 66,5 cm, © Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum.
Was Carus und Steffens angeht: Auf die Anschaulichkeit der Landschaftsästhetik des Dresdners verzichtet der Norweger. Beide rekurrieren jedoch auf das ‚Erdleben‘ als prozessual fassbare, epochenspezifisch differenzierte Identität von Natur und Geist, und beide reduzieren die Erscheinungsvielfalt pflanzlichen und tierischen Lebens auf ‚Typen‘, die im Ablauf der Erdgeschichte modifiziert und in konkreten Lebensformen inkarniert sind. Im ‚spekulativen‘ Zugriff der romantischen Naturforschung interessiert die empirische Fülle naturgeschichtlicher Zeugnisse nur insofern, wie sie als Spur des holistischen vitalistischen Prinzips lesbar gemacht werden kann. „So sind alle lebendigen Formen als die Gesammtbildungen [sic] eines Lebens gesetzt“56 – des ‚Erdlebens‘.
|| 56 Ebd., S. 150f.
Jesper Lundsfryd Rasmussen
„Naturgeschichte im eigentlichen Sinne“ Die Geologie Henrik Steffens’ im Kontext seiner britischen Zeitgenossen Bereits seit seiner Studienzeit setzte sich Henrik Steffens intensiv mit der Erde und deren Geschichte auseinander.1 Während jedoch seine Bedeutung für die Genese der modernen Naturphilosophie, insbesondere der Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, sowie sein Einfluss auf die dänische Romantik und Literatur allgemein anerkannt sind, ist eine substanzielle Untersuchung seiner Wirkung innerhalb der Geologie bis heute ausgeblieben.2 Glaubt man Hans Christian Ørsteds Nachruf auf Steffens, habe dessen Forschung „die Wissenschaft nicht bereichert“, dennoch sei sie „nicht ohne Wirkung unter seinen zahlreichen Lesern“ geblieben.3 Nicht nur die Anschauung der großen Natur, die er seinen Lesern vor Augen führte, sondern auch „die herrlichsten Darstellungen des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur“ haben wir Ørsted zufolge Steffens zu verdanken.4 Bisher sind Worte wie diese nur auf taube Ohren gestoßen. Keiner seiner Biographen war der Ansicht, Steffens’ Einfluss auf die Naturphilosophie und die modernen Naturwissenschaften hervorheben zu müssen.5 Noch seltener fällt sein
|| 1 Vgl. Helge Jordheim: Naturphilosophie als „innere Naturgeschichte“. Henrich Steffens in Freiberg. In: Peter Schnyder (Hg.): Erdgeschichten. Literatur und Geologie im langen 19. Jahrhundert. Würzburg 2020, S. 71–90. 2 Für Steffens’ Einfluss auf die Naturphilosophie siehe etwa Dietrich v. Engelhardt: Henrik Steffens. In: Thomas Bach u. Olaf Breidbach (Hg.): Naturphilosophie nach Schelling. StuttgartBad Cannstatt 2008. Sein Wirken in den Bereichen Politik und Bildung untersucht Marit Bergner: Henrich Steffens. Ein politischer Professor in Umbruchzeiten 1806–1819. Frankfurt a.M. 2016. Über Steffens’ Einfluss speziell auf die dänische Literatur wird noch immer gestritten. Siehe hierzu etwa Bernd Henningsen: Henrik Steffens. Ein norwegisch-dänisch-deutscher Gelehrter, ein europäischer Intellektueller, ein politischer Professor. In: Henrik Steffens: Einleitung in die philosophischen Vorlesungen. Hg. v. Bernd Henningsen u. Jan Steeger. Freiburg 2016, S. 159–199; Helge Hultberg: Den unge Heinrich Steffens 1773–1811. Kopenhagen 1973; Johnny Kondrup: Dansk guldalder på afgrundens kant. Kopenhagen 2023. 3 Hans Christian Ørsted: Mindeskrift over Professor Henrik Steffens. Kopenhagen 1847, S. 105. 4 Ebd., S. 103 u. 112. Die Übersetzung stammt von mir. 5 Vgl. Hultberg: Den unge Heinrich Steffens (wie Anm. 2); ders.: Den ældre Steffens, 1811– 1845. Kopenhagen 1981; Fritz Paul: Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik. München 1973. https://doi.org/10.1515/9783111358826-004
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Name in den Darstellungen zur Geschichte der Geowissenschaften. Obwohl Steffens als Schüler von Abraham Gottlob Werner in der Wissenschaftsgeschichte zumindest en passant erwähnt wird, sieht der ausgebildete Geologe Martin John Spencer Rudwick keinen Grund, dessen geologische Arbeiten als Beitrag zur Grundlegung der Geowissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert zu würdigen.6 Diese Nicht-Beachtung mag darauf beruhen, dass in der Geschichte der Geowissenschaften lange Zeit eine klare und betont nationale Grenze zwischen einerseits der deutschen und andererseits der britisch-französischen Wissenschaft gezogen wurde.7 Seit den 1990er Jahren gilt diese als aufgehoben. Das Verdienst dafür ist vor allem Rachel Laudan zuzuschreiben, die insbesondere Werners Bedeutung für die Neubegründung der Geologie nachgewiesen hat.8 Auch hier gilt jedoch: Steffens (und mit ihm die Naturphilosophie) bleibt in Laudans Darstellung zur Geschichte der Disziplin meist nur beiläufig erwähnt.9 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang: Man mag Charles Lyells Principles of Geology (1830–1833) als „policy for securing the philosophical foundations of geology“, mithin nicht primär als empirisches, sondern als philosophisch-spekulatives Werk hervorgehoben haben, dennoch ist sein Grundlegungsversuch im Allgemeinen eher im Kontext der empirischen Einzelwissenschaften verortet worden.10 Insofern ist der Fall Steffens ein weiteres
|| 6 John Zammito nutzt Steffens’ Autobiographie hauptsächlich als Quelle für die Erforschung der persönlichen Beziehungen zwischen den damaligen Lebenswissenschaftlern, ohne auf Steffens’ eigene Leistungen einzugehen. Genauso verfährt Robert J. Richards. Vgl. John H. Zammito: The Gestation of German Biology. Philosophy and Physiology from Stahl to Schelling. Chicago 2018; Robert J. Richards: The Romantic Conception of Life. Science and Philosophy in the Age of Goethe. Chicago 2002. Siehe auch Martin John Spencer Rudwick: The New Science of Geology. Studies in the Earth Sciences in the Age of Revolution. Aldershot, Hampshire 2004; ders.: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Chicago 2005; ders.: Worlds Before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform. Chicago 2008; Gabriel Gohau: A History of Geology. New Brunwick 1990; Kieran D. O’Hara: A Brief History of Geology. Cambridge 2018. 7 Siehe etwa die aufgestellte Liste von Vorläufern der modernen Geowissenschaft in Stephen Jay Gould: Time’s Arrow, Time’s Circle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time. Cambridge, Mass. 1987. Gould stellt die folgende Reihefolge auf: Thomas Burnet, James Hutton, John Playfair, Charles Lyell. 8 Vgl. Rachel Laudan: The History of Geology, 1780–1840. In: Geoffrey N. Cantor, John R. R. Christie, Michael Jonathan Sessions Hodge u. Robert C. Olby (Hg.): Companion to the History of Modern Science. London 1996. S. 312–325. 9 Vgl. Rachel Laudan: From Mineralogy to Geology. The Foundations of a Science, 1650–1830. Chicago 1987, S. 111 u. 186. 10 James E. Secord: Introduction. In: Charles Lyell: Principles of Geology. Hg. v. James E. Secord. London u. New York 1997, S. ix–xliii, hier S. ix.
„Naturgeschichte im eigentlichen Sinne“ | 45
Beispiel dafür, wie ungern sich die Wissenschaftsgeschichte in der Regel auf die Philosophie bzw. Naturphilosophie einlässt.11 Es bleibt zu fragen, und das ist auch der Anlass für diesen Beitrag, ob die Erschließung der Vergangenheit, sei es als Wissenschafts- oder als Geistesgeschichte, ihr Ziel auf dieser streng auf die einzelnen Wissenschaften fokussierten und monodiziplinär beschränkten Schiene erreichen kann. Nimmt man die oben erwähnten Selbstaussagen Ørsteds oder anderer Naturforscher ernst – was an dieser Stelle nicht als Ausdruck einer naiven Gutgläubigkeit gegenüber Selbstzeugnissen verstanden werden darf –, dann sind nicht nur die fachlich benachbarten Einzelwissenschaften, sondern auch die Philosophie sowie nicht-akademische Konstellationen wie etwa Literatur, Politik und Kunst von Belang für die Gesamtentwicklung wissenschaftlicher Prozesse. Im Folgenden ist anhand der Naturgeschichte, wie sie Steffens entwirft, die Bedeutung eben solcher Konstellationen für die Grundlegung der Geologie als eigenständige Disziplin zu plausibilisieren – selbst dann, wenn diese Kontexte von den jeweiligen Akteuren übergangen oder gar verschwiegen werden, mithin nur auf implizite Weise erschlossen werden können.12 Hierfür soll nach einer kurzen Darstellung der wesentlichen Aspekte der Geologie Steffens’ die Geologie Charles Lyells mit Blick auf ihre grundlegenden Prinzipien erörtert werden. Mein Anliegen ist es dabei, Steffens’ Begriff einer eigentlichen Geschichte der Natur heuristisch in diejenige Konstellation zu rücken, welcher der Brite Lyell angehörte. Damit soll weder ein direkter Einfluss Steffens’ auf den fast 25 Jahre jüngeren Lyell behauptet werden, noch, dass Lyell in seiner Geologie inhaltlich die geologische Auffassung Steffens’ vertreten habe. Vielmehr lehrt die Konstellationsforschung, dass Mitglieder einer bestimmten Konstellation durch ihre Teilnahme an einer solchen über eine Reihe möglicher Gedankengänge verfügen, die in der Instanziierung dieses oder jenes Gedankens eben diesen zugleich neu interpretieren und transformieren. Statt also einen direkten Einfluss nachzuweisen, setzt sich dieser Beitrag die bescheidenere Aufgabe, Steffens innerhalb der Konstellation und des Denkraums der britischen Geologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu zu lesen und zu verstehen.
|| 11 Siehe etwa die große Ørsted-Biographie von Dan Charly Christiensen: ders.: Naturens tankelæser. 2 Bde. Kopenhagen 2009. 12 Zur Konstellationsforschung siehe Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991; Martin Mulsow u. Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt a.M. 2005.
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1 Steffens und die Naturgeschichte im Umfeld von Kant und Schelling Bereits in seiner Dissertation von 1797 stellt Steffens fest: Die wahrhafte Geologie ist ausgehend von den rein klassifikatorischen oder – in seinen Worten – geognostischen Befunden (etwa im Gestalt von Werners Mineralogie) eigentlich nur einer Aufgabe verpflichtet, nämlich dasjenige Verhältnis zwischen den Mineralien herauszuarbeiten, das er als „Mittel zu einem Zweck“13 bestimmt. Dennoch, und mit Blick auf die geistige Umgebung Kiels und Kopenhagens vielleicht auch nicht wirklich überraschend, stellt Steffens dieses Ziel seiner Geologie noch ganz unter die Fahne der kritizistischen Transzendentalphilosophie Immanuel Kants.14 Im Rückgriff auf die Lehre der teleologischen Urteilskraft des zweiten Teils der Critik der Urtheilskraft (1790) – er verweist im Besonderen auf § 64 – spitzt Steffens seine Definition der Geologie dahingehend zu, dass sie ausschließlich mittels Mutmaßungen verfahren dürfe: „[D]ie reflektirende Urtheilskraft sucht sich die Erscheinungen verständlich zu machen, und versucht es die Art der innern Zweckmäßigkeit der unorganischen Natur muthmaßlich aufzustellen.“15 Nach diesem Verständnis ist es der Geologie untersagt, ihre Gegenstände geschichtlich oder freiheitlich zu bestimmen oder zu erklären. Während Oryktognosie, mineralogische Chemie, mineralogische Geographie und beschreibende Mineralogie (Geognosie) bezüglich ihrer Gegenstände über bestimmende Begriffe verfügen, gelten in der Geologie, die „die Mineralien als Mittel zu einem Naturzweck“16 abhandelt, nur heuristische Begriffe: Die Geologie habe im Unterschied zu den rein beschreibenden Teilen dieser Wissenschaft über „diese wechselseitige Zweckverknüpfung reflektierend, aber nicht bestimmend zu urtheilen“.17 Der Dissertation von 1797 zufolge kommt der Natur zwar eine Dimension der Freiheit, mithin eine Geschichte zu, allerdings strikt unter dem
|| 13 H. Steffens: Ueber Mineralogie und das mineralogische Studium. Altona 1797, S. 9. 14 Auch Hans Christian Ørsted und sein Bruder Anders Sandøe Ørsted setzen sich in ihrer Studienzeit in Kopenhagen mit der theoretischen bzw. praktischen Philosophie Kants auseinander. Allerdings standen die Ørsted-Brüder wesentlich kritischer Kant gegenüber als Steffens. Vgl. Hans Christian Ørsted: Dissertatio de forma metaphysices elementaris naturæ externæ, qvam, pro summis in philosophia honoribus die 5. septembris. Kopenhagen 1799 sowie Anders Sandøe Ørsted: En Fremstilling af Forholdet mellem Dydslærens og Retslærens Principper. 2 Bde. Kopenhagen 1798. 15 Steffens: Ueber Mineralogie (wie Anm. 13), S. 107. 16 Ebd., S. 106. Kursivierung im Original gesperrt. 17 Ebd., S. 79.
„Naturgeschichte im eigentlichen Sinne“ | 47
Vorzeichen des kantischen als ob. Die geologischen Begriffe können demnach die Geologie in ihrer Erforschung der Herkunft und der Bildungsprozesse der Erde leiten, bezeichnen jedoch keine wirkliche Eigenschaft eines Gegenstandes. Es ist der Geologie nur möglich zu zeigen, als ob die Natur eine Geschichte hätte. Nur scheinbar treibt die Freiheit ihr Werk in der Natur. Demzufolge schließt Steffens in seiner frühen Schrift die Möglichkeit einer eigentlichen Geschichte oder Freiheit der Natur realiter aus.18 In seinen 1801 veröffentlichten Beyträgen zur innern Naturgeschichte der Erde hat Steffens diese zurückhaltende Geste gegenüber der Geschichte und der Freiheit der Natur jedoch bereits im Wesentlichen aufgegeben. Die Epoche hatte die kantische Philosophie weitgehend umgestaltet bzw. sich von Kant abgewandt, dessen Platz nunmehr Schelling einnahm, der im Anschluss an diese Transformation zugleich die geologischen Leistungen Steffens’ für seine eigene Naturphilosophie geltend zu machen wusste. Im gleichen Zuge kam auch Steffens erst nach der Begegnung mit Schelling in Jena und dessen naturphilosophischer These von der Autarkie und Autonomie der Natur19 als Subjekt auf das Desiderat einer wohlverstandenen Geschichte der Natur, einer „Naturgeschichte im eigentlichen Sinne“. Mit folgendem Zitat bestimmt Steffens die Aufgabe seiner Geologie nun folgendermaßen: Wenn man von einer Naturgeschichte im eigentlichen Sinne des Wortes sprechen wollte, so müste man sich die Natur vorstellen, als wenn [Hervorh. J. L. R] sie in ihren Productionen scheinbar frey, die ganze Mannichfaltigkeit derselben durch stetige Abweichungen von einem ursprünglichen Original allmählig hervorgebracht hätte, welches alsdann eine Geschichte nicht der Natur-Objecte, sondern der hervorbringenden Natur selbst wäre. Wir würden sie also mit einer und derselben Summe oder Proportion der Kräfte, welche sie nie überschreiten könnte schalten und haushalten sehen, und sie in jenem Hervorbringen zwar in Freyheit, deswegen aber doch nicht in gänzlicher Gesetzlosigkeit erblicken.20
|| 18 Diese begriffliche Unterscheidung zwischen der bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft vernachlässigt Jordheim in seinem Aufsatz, wenn er behauptet, Steffens’ Dissertation sei ein Schlüsseltext für seine „Umarbeitung der Naturgeschichte sowie für den Übergang von der Naturgeschichte zur Naturphilosophie“ (Jordheim: Naturphilosophie als „innere Naturgeschichte“ [wie Anm. 1], S. 74). Unter „Naturphilosophie“ versteht Jordheim wohl nicht Naturphilosophie im engeren Sinne, sondern Naturforschung, insofern Steffens lebenslang der Überzeugung war, Naturforschung und nicht Naturphilosophie zu betreiben. 19 Für das Begriffspaar Autarkie und Autonomie der Natur siehe Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799). In: ders.: Historischkritische Ausgabe (Akademie-Ausgabe). Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Thomas Buchheim u.a. [im Folgenden: AA, gefolgt von der Bandnummer]. Bd. I,7. Hg. v. Wilhelm G. Jacobs u. Paul Ziche. Stuttgart 1976, S. 81. 20 Henrich Steffens: Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Erster Teil. Freyberg 1801, S. 97.
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Was man hier nicht direkt erkennt: Es handelt sich um ein zwar in Anführungszeichen gesetztes, jedoch ohne Angabe der Quelle angeführtes Zitat aus Schellings System des transscendentalen Idealismus (1800). Der Vollständigkeit halber soll hier die von Steffens umgearbeitete Quelle des Schelling-Zitates angeführt werden: Wenn man von einer Naturgeschichte im eigentlichen Sinn des Worts sprechen wollte, so müßte man sich die Natur vorstellen, als ob [Hervorh. J. L. R] sie, in ihren Productionen scheinbar frey, die ganze Mannichfaltigkeit derselben durch stetige Abweichungen von Einem ursprünglichen Original allmählich hervorgebracht hätte, welches alsdann eine Geschichte nicht der Naturobjecte (welche eigentlich Naturbeschreibung ist), sondern der hervorbringenden Natur selbst wäre. Wie würden wir nun die Natur in einer solchen Geschichte erblicken? Wir würden sie gleichsam mit Einer und derselben Summe oder Proportion der Kräfte, welche sie nie überschreiten könnte, auf verschiedene Weise schalten und haushalten sehen; wir würden sie also in jenem Hervorbringen zwar in Freyheit, deßwegen aber doch nicht in gänzlicher Gesetzlosigkeit erblicken. Die Natur würde also zum Object der Geschichte einerseits durch den Schein von Freyheit in ihren Productionen, weil wir nämlich die Richtungen ihrer produktiven Thätigkeit nicht a priori bestimmen können, obgleich diese Richtungen ohne allen Zweifel ihr bestimmtes Gesetz haben, andererseits aber durch die Eingeschränktheit und Gesetzmäßigkeit, welche durch die Proportion der ihr zu Gebot stehenden Kräfte in sie gelegt ist, woraus denn offenbar ist, daß Geschichte weder mit absoluter Gesetzmäßigkeit noch auch mit absoluter Freyheit besteht, sondern nur da ist, wo Ein Ideal unter unendlich vielen Abweichungen so realisirt wird, daß zwar nicht das Einzelne, wohl aber das Ganze mit ihm congruirt.21
Der Irrealis im Schelling-Zitat gibt Steffens so wieder. Im Gegensatz zu Schelling aber, der in seiner Naturphilosophie für die ‚erschaffene‘ Natur noch immer das kantische als ob beibehält, zieht Steffens die vollen Konsequenzen aus einer solchermaßen begriffenen Natur, streicht in der Wiedergabe der Passage bei Schelling das „als ob“ und kann nunmehr behaupten, mit seinem Werk den ersten wirklichen Impuls zu einer ‚Naturgeschichte im eigentlichen Sinne‘ gegeben zu haben: Die Natur entwickelt sich tatsächlich geschichtlich und gehorcht dabei der Gesetzlichkeit der Spontaneität und Freiheit. Und wie jede andere Geschichte muss auch die Geschichte der Natur narrativ erschlossen werden:
|| 21 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus (1800). In: AA I,9,1–2. Hg. v. Harald Korten u. Paul Ziche. Stuttgart 2005, hier Teilbd. 1, S. 286f. Vgl. auch ders.: Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur. In: AA I,4. Hg. v. Wilhelm G. Jacobs u. Walter Schieche. Unter Mitwirkung v. Hartmut Buchner. Stuttgart 1988, S. 57–190, hier S. 186f.
„Naturgeschichte im eigentlichen Sinne“ | 49
Was ich hier zu liefern gedenke, ist nichts, als eine blosse einfache Erzählung [Hervorh. J. L. R.]. Auch würde der Leser sich irren, wenn er neue, oder unbekannte Thatsachen zu finden wähnte. Es ist nichts als eine Darstellung der allgemein bekanntestesten Erscheinungen. Ob die Darstellung deshalb überflüssig ist, mag der Leser beurtheilen. Es ist nützlich, selbst die gewöhnlichsten Erscheinungen auf eine nicht ganz gewöhnliche Weise und aus einem neuen Gesichtspuncte zu betrachten.22
Auch diese endliche Natur gehört laut Steffens, so dürfen wir wohl schließen, zum durch Alexander von Humboldts Kosmos später berühmt gewordenen „Reich der Freiheit“23 und erfordert als solche eine entsprechend freie Wissenschaft, um eine adäquate Darstellung von ihr geben zu können. Während Humboldt aber seine Weltanschauung als eine horizontale und synchrone Weltbeschreibung ansah, war sich Steffens sehr wohl bewusst, dass eine rein horizontale Beschreibung ohne eine ergänzende, vertikale Tiefendimension sinnlos und – wissenschaftlich gesehen noch schlimmer – unsystematisch bleiben müsste. Jene horizontale Beschreibung zählt Steffens zum Geschäft der Geographie und Geognosie, d.h. zur Naturbeschreibung, wie sie etwa Abraham Gottlob Werner praktizierte. Die Notwendigkeit einer Vertiefung der Naturbeschreibung ergibt sich für Steffens aus dem geschichtlichen Blick auf die Natur im Ausgang von Schellings Freiheitschrift von 1809 (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit) und vermutlich auch dessen Weltalter-Projekt (1811–1815) und wird von Steffens vollzogen durch seine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Theorien zum Begriff der Geschichte und Zeit mitsamt dessen Anwendbarkeit im Bereich der anorganischen Natur.24 Blickt man auf die moderne Geologie, wie sie gut dreißig Jahre später vor allem mit Lyells dreibändigem Hauptwerk Principles of Geology ihre Grundlage fand, fragt sich nun, ob und inwieweit auch Steffens’ soeben umrissene Theorie der Naturgeschichte der Erde innerhalb dieser eine Generation nach ihm stattfindenden Debatte um eine neu zu begründende Geologie anschlussfähig war. In den Berliner Salons jedenfalls waren seine geologischen Arbeiten noch 1841 Gesprächsthema. Bezeugt ist dies zum Beispiel von Søren Kierkegaard während seines Berliner Aufenthalts und seiner Besuche von Vorlesungen Steffens’ zur
|| 22 Steffens: Beyträge (wie Anm. 20), S. 277. 23 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. Tübingen 1845, S. 4. 24 Steffens behauptet selber, Kenntnis von Schellings Weltalter-Druckfahne gehabt zu haben, vgl. Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2014–2022, Bd. 8, S. 224–228.
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Anthropologie.25 Ob Steffens’ Geologie aber auch für die zeitgenössische, mit Neuerungsanspruch auftretende britische Geologie rezipierbar war, ist eine andere und weitaus schwierigere Frage, deren Beantwortung im folgenden Abschnitt anhand eines systematischen Vergleichs zwischen Steffens und Lyell versucht werden soll.
2 Steffens, Schelling und die britische Geologie Steffens’ Arbeiten waren, so kann man festhalten, noch vor der Veröffentlichung von Priniciples of Geology in die räumliche Nähe von – des Deutschen durchaus kundigen – Lyell gelangt. Britische Zeitgenossen wie etwa William Whewell und Julius Charles Hare in Cambridge, denen Lyell sein philosophisches und methodologisches Grundgerüst verdankte, hatten ohnehin die deutschen Originalwerke Schellings und Steffens’ in ihren Privatbibliotheken stehen und schätzten sie.26 Beide, Whewell ebenso wie Hare, sind mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Whewell kennt man heute nur noch als den, der Lyells geologischen Entwurf mit dem Begriff uniformitarianism versehen hat, eine Beschreibung, die zwar den Kern der Sache trifft, jedoch erst nachträglich für Lyells System übernommen wurde. Darüber hinaus verdanken wir Whewell die Übersetzung von „Wissenschaft“ in „science“. Und er war auch derjenige, der unter Verweis auf Schellings Akademierede „Ueber Faradays Entdeckung“ (1832) Ørsted gegen den Vorwurf verteidigte, dieser sei nur durch bloßen Zufall gewissermaßen über den Elektromagnetismus gestolpert; Whewell konnte die Voraussage und Erforschung des Elektromagnetismus vielmehr auf Ørsteds frühe theoretische Arbeiten um 1800 zurückführen.27 Während Whewell dank eigener wissenschaftlicher Leistungen und einer intensiven Auseinandersetzung mit Wissenschaftlern seiner Zeit zu den namhaften Figuren der wissenschaftlichen Welt zählte, galt Hare hauptsächlich als Übersetzer und Kenner deutscher Werke und Autoren, so auch Barthold Georg Niebuhrs, dessen Römische Geschichte (1811) Lyell als methodologisches Vorbild
|| 25 Søren Kierkegaard: Fra SK udateret 15. dec. [1841] til F.C. Sibbern. In: Søren Kierkegaards Skrifter. Bd. 28. Hg. v. Niels Jørgen Cappelørn. Kopenhagen 2012, https://tekster.kb.dk/ text/sks-b161-txt-shoot-n162 [14.06.2023]. 26 Siehe hierzu Roger Paulin: Julian Hare’s German Books in Trinity College Library, Cambridge. In: Transactions of the Cambridge Bibliographical Society 9/2 (1987), S. 174–193. 27 Vgl. William Whewell: History of the Inductive Sciences. From the Earliest to the Present Times. 3 Bde. London 1837, S. 77f.
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diente. So zitiert Lyell am Ende des ersten Abschnitts seiner Principles of Geology Niebuhr in der englischen Übersetzung, für die Hare und Connop Thirlwall verantwortlich zeichneten: Whether our investigation of the earth’s history and structure will eventually be productive of as great practical benefits to mankind, as a knowledge of the distant heavens, must remain for the decision of posterity. […] The cultivation of geology began at a later period [than astronomy, J. L. R.]; and in every step which it has hitherto made towards sound theoretical principles, it has had to contend against more violent prepossessions. The practical advantages already derived from it have not been inconsiderable: but our generalizations are yet imperfect, and they who follow may be expected to reap the most valuable fruits of our labour. Meanwhile the charm of first discovery is our own, and as we explore this magnificent field of inquiry, the sentiment of a great historian of our times may continually be present to our minds, that „he who calls what has vanished back again into being, enjoys a bliss like that of creating“.28
Diese oft zitierte Passage verbindet Lyell und Niebuhr zunächst nur äußerlich. Aus dem Niebuhr-Zitat zieht der bereits erwähnte britische Geologe und Wissenschaftshistoriker Rudwick den naheliegenden Schluss und interpretiert die Aussage Lyells als allianzbildende Stellungnahme zum Projek Niebuhrs. Nachdem auch er dieselbe Stelle bei Lyell anführt und besonders das Niebuhr-Zitat betont, entwickelt Rudwick die hier gezogene Analogie zur Geschichtswissenschaft als einen Teil seiner Kritik an kosmogonischen Ansätzen innerhalb seines Fachs, einer Geologie, die ihr Ziel darin sieht, den zeitlichen und materiellen Anfang der Erde zu bestimmen.29 Diese kritische Lesart der kosmogonischen Geologie teilt auch Lyell, insofern ihm die Gegenwart der Ausgangspunkt für die Erschließung der fernen Vergangenheit ist. Dagegen verderbe die Identifikation der Geologie mit der Kosmogonie die Wissenschaft: „[T]he identification of it’s objects with those of Cosmogony has been the most common and serious source of confusion“.30 Bei Rudwick aber wird die Analogie direkt gegen spekulative Verfahren in der Geschichtswissenschaft, mithin in der Geologie gewendet: „[T]he model that Lyell had in mind was a reformed historiography in which grand theorizing about ultimate origins was replaced by the more limited goal || 28 Charles Lyell: Principles of Geology. Hg. v. James Secord. London 1997, S. 25. 29 Martin J. S. Rudwick: Transposed Concepts from the Human Sciences in the Early Work of Charles Lyell. In: Ludmilla J. Jordanova u. Roy S. Porter (Hg.): Images of the Earth. Essays in the History of the Environmental Sciences. Chalfont St. Giles 1979, S. 68–83. Vgl. auch ders.: Historical Analogies in the Geological Work of Charles Lyell. In: Martin J. S. Rudwick (Hg.): Lyell and Darwin, Geologists. Studies in the Earth Sciences in the Age of Reform. Burlington 2005, S. 89–107. 30 Lyell: Principles (wie Anm. 28), S. 8.
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of a critical reconstruction of the history of the particular nations.“31 So wie sich die Erschließung der Geschichte von allen Ursprungserzählungen und Mythenbildungen fernzuhalten hat, so ist es der Geologie untersagt, über den Ursprung zu spekulieren – und also auch über die Entstehung der Erde. Was unter Spekulation zu verstehen ist, bleibt bei Rudwick gleichwohl unausgesprochen. Das Prinzip bei Lyell hingegen, dessen Muster und Ursprung Rudwick bei Niebuhr identifiziert, gewinnt in dieser Darstellung jedenfalls an Nüchternheit, mithin Legitimität. Aus dieser positiven Bestimmung des Lyell’schen Projekts lässt sich im Umkehrschluss auf die von Rudwick negativ hervorgehobene, wenn auch nicht weiter definierte ‚spekulative‘ Gegenposition zu Lyell schließen – eine Position, die von Lyell ja auch tatsächlich selbst abschätzig beurteilt wurde und die er in der deutschen Mineralogie besonders in Gestalt des bereits erwähnten Abraham Gottlob Werners vor sich zu haben glaubte. So findet bei Lyell nicht selten eine Engführung von Werner mit Spekulation und Kosmogonie statt, und zwar so, dass Spekulation mit Mythologie zusammenfällt: „Werner’s mind was at once imaginative and richly stored with miscellaneous knowledge. He associated everything with his favorite science […] he indulged in the most bold and sweeping generalizations.“32 Mithin: Werner und die deutsche spekulative Geologie verkörpern sowohl für Rudwick als auch für Lyell „the great oracle of geology“, ein Wissensmodell, dessen Autorität „eventually prejudicial to the progress of the science“ gewesen sei.33 Die deutsche geologische Theoriebildung – „one of the most unphilosophical [hier zu verstehen als ‚unsinnig‘, J. L. R.] ever advanced in any science“34 – gibt so die Folie ab, vor welcher Lyell seine eigene nüchterne Geologie aufstellen zu können glaubt. Und entsprechend werden Kant, Schelling und Steffens als mögliche Gesprächspartner für die Geologie von vorn herein für irrelevant erklärt. Diesem Narrativ widerspricht jedoch ein kurzer Blick auf Lyells eigene Methodologie.
2.1 Terminus a quo und terminus ad quem in Lyells Geologie In der Festlegung des Gegenstandsbereichs der Geologie hebt Lyell das Spektrum der für die geologische Wissenschaft notwendigen Voraussetzungen deut|| 31 Martin J. S. Rudwick: Lyell and Darwin, Geologists. Studies in the Earth Sciences in the Age of Reform. Burlington 2005, S. 91. 32 Lyell: Principles (wie Anm. 28), S. 10. Vgl. ebd., S. 8. 33 Ebd., S. 10. 34 Ebd., S. 12.
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lich hervor: Da die Geologie die „successive changes that have taken place in the organic and inorganic kingdoms of nature“ erforscht,35 muss sie sich mit denjenigen Wissenschaftsbereichen verbünden, die genau diese Reiche zum Untersuchungsgegenstand haben. Ihrem Wesen nach hat die Geologie sich zu allen physischen Wissenschaften zu verhalten. Hierzu dient Lyell noch einmal die Analogie zur Geschichtswissenschaft: Geology is intimately related to almost all the physical sciences, as is history to the moral. […] It would be no less desirable that a geologist should be well versed in chemistry, natural philosophy, mineralogy, zoology, comparative anatomy, botany; in short, in every science relating to organic and inorganic nature.36
Allein dieser Wissensbereich in seiner Gesamtheit, in seinem inneren Zusammenhang, lasse „correct and philosophical conclusions from the various monuments transmitted to them of former occurences“ zu.37 Der terminus a quo der Geologie ist daher das gesamte System der modernen Naturwissenschaften, weil es uns über die Welt in ihrem Jetztzustand und ihre Gesetzmäßigkeiten informiert. Für Lyell, der die Entwicklungsgesetze der Erde als konstant voraussetzt, machen die gegenwärtigen Naturgesetze den Schlüssel zum Verständnis jener Ruinen aus, die uns die Vergangenheit ohne sichtbaren inneren oder äußeren Zusammenhang hinterlassen hat.38 Umgekehrt besteht der terminus ad quem der Geologie für Lyell in der Wiederherstellung der Vergangenheit in ihrem Ganzen, dessen lebendiger Zusammenhang uns in der Gegenwart als tot erscheint, nicht mehr als Lebendiges nachvollzogen werden kann. Entscheidend dabei ist: Auch die Vergangenheit bildet ein System, dessen innere Strukturen mittels der Gegenwart zu enträtseln, anders gesagt: zu rekonstruieren sind. Von dem solcherart zusammenzusetzenden Bild der Vergangenheit der Erde ist bereits in der oben zitierten Passage mit dem eingebetteten Zitat von Niebuhr die Rede („he who calls what has vanished back again into being, enjoys a bliss like that of creating“). In seiner Vollständigkeit liest sich das Zitat bei Niebuhr in der Übersetzung von Hare und Thirlbull wie folgt: How far I may succeed, is at the disposal of a higher power. But to the researches in this history I owe the most animated days in the prime of my life; and since the continuation of this work will no less fill my old age than Livy’s creation did his, it is a pledge to me too that my latter years will be fresh and cheerful. He who calls what has vanished back again
|| 35 Ebd., S. 5. 36 Ebd., S. 6. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 5f.
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into being, enjoys a bliss like that of creating: it were a great thing, if I might be able to scatter for those who read me, the cloud that lies on this most excellent portion of ancient story, and to spread a clear light over it; so that the Romans shall stand before their eyes, distinct, intelligible, familiar as contemporaries, with all their institutions and the vicissitudes of their destiny, living and moving.39
Inwieweit ihm dies tatsächlich gelingen wird, darüber entscheide, so Niebuhr, letztlich die Zukunft, aber er stellt seiner Leserschaft die Wiederbelebung einer Vergangenheit in Aussicht, die er vor ihren Augen wiederauferstehen, sprich neu entstehen lassen will. Seine Methodologie zielt dementsprechend darauf ab, das einst Verlorene wieder ins deutliche und klare Licht des uns bekannten Lebens hervortreten zu lassen. In der so hervorscheinenden alten kann die gegenwärtige Welt sich spiegeln und verstehen, weil jene vergangene in der präsenten Darstellung lebt und sich bewegt. Dieses Niebuhr-Zitat führt auch Rudwick in seiner Darstellung an, übersieht dabei jedoch den Kontext, in dem sich Niebuhr bewegte, als dieser seine Methodologie entwickelte. Nun schätzte Niebuhr, wie aus seinen Briefen hervorgeht, einen „Windbeutel und Charlatan wie Steffens“40 freilich nicht gerade. Dafür liest er Schelling (gemeint ist die Freiheitsschrift) „mit großer Bewunderung“,41 ja ergreift sogar Partei für diesen im sogenannten Theismusstreit, der 1811/12 zwischen Schelling und Friedrich Heinrich Jacobi ausgetragen wurde.42 Schellings Talent sei beneidenswert, so Niebuhr, denn er selbst wisse „mit rein abstrakter Metaphysik wenig anzufangen ehe [er] sie [sich] belebt und verkörpert habe“. Und er fährt
|| 39 Barthold Georg Niebuhr: The History of Rome. Bd. 1. Cambridge 1828, S. 5. Hare und Thirlwall übersetzten nicht die Erstausgabe von 1811, sondern die zweite und von Niebuhr umgearbeitete Edition von 1827. Das deutsche Original verrät mit der Hervorhebung des Schaffens, des ‚Lebens und Webens‘ und des Vor-Augen-Führens deutlicher seine romantischen, Goetheschen und idealistischen Hintergründe. Hier heißt es: „Wie weit es gelinge, darüber waltet höhere Macht. Aber den Forschungen in dieser Geschichte verdanke ich die lebensvollsten Tage meiner blühenden Jahre; und wie die Fortsezung des Werks mein Alter nicht minder erfüllen wird als Livius Schöpfung das seinige, so verbürgt sie mir auch dessen Frischheit und Heiterkeit. Wer Verschwundenes wieder ins Daseyn zurückruft, genießt die Seligkeit des Schaffens: es wäre ein Grosses, wenn es gelingen könnte für die welche mich lesen den Nebel zu zerstreuen, der auf diesem vornehmsten Theil der alten Geschichte liegt, und lichte Helle zu verbreiten: daß ihnen die Römer klar, verständlich, vertraut wie Zeitgenossen, mit ihren Einrichtungen und ihrer Geschichte vor dem Blick stehen, leben und weben.“ Barthold Georg Niebuhr: Römische Geschichte. Erster Theil. Zweyte, völlig umgearb. Ausg. Berlin 1827, S. 6. 40 Barthold Georg Niebuhr: Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs [bis 1816]. Hg. v. Dietrich Gerhard William Norvin. 2 Bde. Berlin 1926–1929, Bd. 1, S. 284. 41 Ebd., S. 263. 42 Ebd., S. 262f.
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fort: „Eben dadurch freilich glaube ich Sinn für Schellings Philosophie zu haben wenn ich mich ihr hingäbe, weil sie der toten Abstraction wesentlich entgegenzustehen scheint.“43 Weiter erklärt er sich in diesem Brief vom 9. Dezember 1813 an Friedrich Andreas Perthes bereit, an Schellings geplanter Allgemeiner Zeitschrift von Deutschen für Deutsche mitzuarbeiten.44 Letzten Endes ist also Niebuhrs Projekt bei allen Unterschieden auch im Kontext der Philosophie Schellings und Steffens’ zu verorten und zu verstehen. Wenn Lyell nun einerseits die lebendige Darstellung als Ziel der historischen Wissenschaften mit Niebuhr teilte und dessen geschichtswissenschaftliche Zielsetzung auch seiner eigenen Disziplin, der Geologie, verordnen wollte, dann verrät andererseits Lyells intellektuelle und stilistische Nähe zu Niebuhr zugleich die gemeinsame Nähe zur klassischen deutschen Philosophie und der Romantik im Allgemeinen und zur Naturphilosophie Schellings und der Naturforschung Steffens’ im Besonderen.45 Im weiteren Sinne nehmen sie alle teil an derselben Konstellation und vertreten sowohl verwandte Problemstellungen als auch ähnliche wissenschaftliche Ziele. Wie im Folgenden zu sehen ist, besteht darüber hinaus eine unverkennbare methodologische Nähe zwischen Lyell und Steffens. Denn die in der modernen Geschichtswissenschaft Konsens gewordene Einsicht, nur in der Gegenwart anfangen zu können, um sich von dort aus der Vergangenheit anzunähern, erweiterte Steffens, beeindruckt von der Naturphilosophie Schellings, schon in seinem ersten großen Werk auf die Gegenstände der Geowissenschaften.
2.2 Steffens und Lyell Zwei Schriften Steffens’ bieten sich insbesondere an, um seine Position in dieser historisch eher unwahrscheinlichen Konstellation zu untersuchen. Die ausführlichste Gesamtdarstellung seiner Geologie ist wohl in seiner 1822 erschienen Anthropologie zu finden. Trotz des auf den Menschen begrenzten Titels beinhaltet das zweibändige Werk sowohl biologische und anthropologische als auch geologische Untersuchungen, und zwar als Gesamtsystem dargestellt. Interessantere Einblicke in Steffens’ Auseinandersetzung mit der britischen Geologie liefern jedoch die Polemischen Blätter zur Beförderung der speculativen Physik, || 43 Ebd., S. 263. 44 Ebd. 45 Schon in seiner Studienzeit ging es Schelling in seiner Lehre über die philosophischen Mythen darum, deren lebendige Darstellung adäquat und systematisch zu verstehen. Vgl. Jesper Lundsfryd Rasmussen: The Young Schelling. In: Sean McGrath, Joseph Carew u. Kyla Bruff (Hg.): The Palgrave Schelling Handbook. London (im Druck).
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die als zwei Hefte herauskamen. Das erste Heft erschien ein Jahr vor dem ersten Band von Lyells Principles 1829; das zweite veröffentlichte Steffens 1835, also zwei Jahre nach dem Erscheinen des dritten und letzten Bandes von Lyell. Während das erste Heft sich polemisch, das heißt offen ablehnend der Geschichte der modernen Naturforschung zuwendet, um sowohl die aus seiner Sicht misslungenen Entwürfe innerhalb der Geologie als auch neue wissenschaftliche Entwicklungslinien zu kritisieren, nimmt das zweite das Kritisierte zum Anlass, um vor dieser Gegenfolie eine Geologie im Sinne der spekulativen Physik Schellings weiterzuentwickeln. Das Projekt gleicht, wie Steffens bemerkt, seinem in den Beyträgen verfolgten Ansatz einer ‚Naturgeschichte im eigentlichen Sinne‘. Legitimiert in seinem Versuch sieht sich Steffens dadurch, dass sich die Naturwissenschaften ja selbst radikal weiterentwickelt hätten, was zu einer entsprechenden Neukonzeptualisierung der Philosophie führen müsse: Und eben dieser Umstand gewährt mir einen wesentlichen Vortheil. Es giebt wohl keinen Theil der Naturwissenschaft, der sich in der Zeit, die hier genannt wird, so gewaltsam, so durch und durch verändert hat, wie die Geologie. Das Organ, welches mir damals zu Gebote stand (die Wernersche Geognosie) ist von demjenigen, dessen ich mich gegenwärtig bediene, so gänzlich verschieden, daß, wie es scheint, die speculative Ansicht, die ich damals zu entwickeln wagte, durch eine solche Verwandlung, selbst ihrem Wesen nach verwandelt werden müßte.46
Damit formuliert er nicht nur sein eigenes Projekt, sondern unterzieht zugleich eine seines Erachtens veraltete Vorstellung von Philosophie und Wissenschaft einer wesentlichen Revision: „Bis jetzt suchte man die Philosophie stets durch sich selbst zu begründen und die formelle Seite derselben hat nur innere Wahrheit, indem sie als ein in sich Begründetes erscheint.“47 In der Moderne muss die Philosophie Steffens zufolge aus sich herausgehen, um sich eine Grundlage oder Bestätigung ihrer Wahrheit zu suchen.48 Konfrontiert mit einem dem Den|| 46 Henrich Steffens: Polemische Blätter zur Beförderung der speculativen Physik. Zweites Heft. Zur Geologie. Breslau 1835, S. 5. 47 Ebd., S. 3. 48 Insofern stimmt seine Zielsetzung mit Schellings System von 1800 überein. Darin behauptet Schelling zwei absolute, aber aufeinander bezogene Teile seines Systems des Wissens, d.h. die Natur- und die Transzendentalphilosophie. Siehe dazu Jesper Lundsfryd Rasmussen: Freedom as Ariadne’s Thread Through the Interpretation of Life. Schelling & Jonas on Philosophy of Nature as the Art of Interpretation. In: Kabiri 1 (2018), S. 63–92; Philipp Schwab: The Fichte Schelling Debate, or: Six Models for Relating Subjectivity and Nature. In: Luca Corti u. Johannes Schülein (Hg.): Nature and Naturalism in Classical German Philosophy. New York 2022, S. 122–147. Vgl. Schellings späten Versuch, die sogenannte negative Philosophie durch eine positive zu ergänzen in: ders.: Urfassung der Philosophie der
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ken äußerlichen Bereich vermag die Philosophie nicht die von ihr sonst eingehaltene Distanz aufrechtzuhalten, sondern wird vielmehr gezwungen, lebendig und geschichtlich zu werden. Noch einmal Steffens: So kann das in sich selbst Begründete zuversichtlich in das geistige Leben hineintreten, kann die Sprache jeder Wissenschaft reden und indem es dem Formalismus, der ihm zur eigenen Begründung nothwendig war, entsagt, diesen selbst aus dem scheinbar Widerstrebenden entstehen lassen. Ja, dadurch allein wird die Philosophie geschichtlich. Es ist die Probe, die sie bestehen muß; und wer die ewige Wahrheit nur in einer bestimmten Form zu erkennen vermag, der erkennt selbst diese Form nicht, sie wird leer, wenn sie sich nicht aus den mannichfaltig wechselnden Betrachtungen des Lebens wieder zu erzeugen vermag.49
Im zweiten Heft stellt Steffens seine eigenen Beyträge auf eben diese Probe und bemerkt im selben Atemzug, dass Werner nicht mehr länger dieselbe herausragende Rolle in der Darstellung einer Theorie der Naturgeschichte der Erde einnehmen könne. Stattdessen führt Steffens die folgende Reihe von Wissenschaftlern ein, die nun die wissenschaftliche Bühne betreten hätten und die spekulative Physik neu beleben würden: Georges Cuvier, Alexandre Brongniart, Ami Boué, Gustav Leonhard, Jean Baptiste Julien d’Omalius d’Halloy, Léonce Élie de Beaumont, Henry De la Beche.50 In dieser Reihe fällt die Abwesenheit Lyells sowie deutscher Wissenschaftler auf. De la Beche galt als Kritiker Lyells. Playfair und Hutton, deren Aktualismus (Uniformitätslehre) Lyell weiterführte, werden erörtert, Lyell selbst aber nicht. Auf diese Weise schlussfolgert Steffens aus der Entwicklung der Naturwissenschaften, dass auch diejenige Ansicht, die er bisher vertreten hat, von neuem durchdacht werden muss. Allerdings referiert Steffens auch noch 1835, also im zweiten Heft seiner Polemischen Blätter, auf seine Anthropologie, in der die reifste Form seiner Geologie enthalten ist, und auf die ich zu einem späteren Zeitpunkt kurz zurückkommen werde. Ferner dokumentiert dies eindeutig Steffens’ bleibendes Interesse für die Geowissenschaften und deren Fortentwicklung sowie das internationale Spektrum seines Vorhabens. Die vielen Werke der oben genannten und noch vieler weiterer Wissenschaftler in Steffens’ Bibliothek bestätigen die Aufmerksamkeit, die er den wissenschaftlichen Neuentwicklungen bis zum Ende seines Lebens widmete.51 Wenn auch Steffens’ Lektüren nicht dokumentiert
|| Offenbarung. Hg. v. Walter E. Erhardt. Hamburg 1992. Siehe dazu Walter Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart 1955. 49 Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 46), S. 3f. 50 Ebd., S. 6f. 51 Dank Marit Bergner, die erst kürzlich das Verzeichnis der hinterlassenen Bibliothek von Steffens entdeckt hat, wissen wir nun, über welche Werke Steffens am Ende seines Lebens
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sind, so gibt das Verzeichnis der in seiner Privatbibliothek befindlichen Bücher doch einen Einblick in die Konstellation, die den Denkraum von Steffens bestimmte. Tatsächlich findet sich in ihm die 1833 veröffentlichte deutsche Übersetzung von Lyells Principles of Geology.52 In seinen Schriften erwähnt Steffens Lyell, soweit ich sehe, jedoch nicht. Mit der nordischen Geologie hatte Lyell spätestens zurzeit der Veröffentlichung seiner Principles Bekanntschaft gemacht. Im Sommer 1834 war er in Kopenhagen zu Besuch, bei dem er zusammen mit dem H. C. Ørsted-Protegé Johan Georg Forchhammer die Kreideklippen bei Møns Klint besichtigte.53 In seinen Principles findet Steffens keine Erwähnung. Die Schrift, die den Untertitel Being an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface, by Reference to Causes Now in Operation trägt, lässt Lyell mit einer Geschichte der Geologie eröffnen, in der er zwar Werners Neptunismus als „original“ lobt, letztlich aber als „extremely erroneous“ einschätzt.54 Und Lyell fährt fort: „Werner had a great antipathy to the mechanical labour of writing, and could never be pursuaded to pen more than a few memoirs.“55 An die Stelle solcher „cosmological inventions“, die weder auf der Bibel („scripture“) noch auf dem Common Sense fußen,56 setzt er nun sein Uniformitätsprinzip, demzufolge der Geologe in der Untersuchung der Vorzeit nur jene Kräfte und Wirkungen annehmen darf, die in der Gegenwart beobachtbar sind. Weil uns keine Wunder oder sprunghaften Entwicklungen in der heutigen Welt zuteilwerden, so räsoniert Lyell, dürfen wir in der Wissenschaft auch von keinen solchen in der Vorzeit sprechen. Die uns überlassenen Überreste aus der Vorzeit sind überhaupt zu gering, um von größeren Entwicklungsszenarien in Zyklen oder Pfeilen sprechen zu dürfen. Im Gegensatz zu den aktuellen Debatten über die Stratigraphie des Anthropozäns kennt die Geologie, also die Wissenschaft der Vergangenheit par excellence, Lyell zufolge keine Zukunft, denn ihr Sujet ist ausschließlich die Vergangenheit, die den Geologen fragmentarisch als Ruine vorliegt. Folglich lässt die nur in ihrer Abwesenheit zugängliche Vergangenheit auch keine Schlüsse auf die Zukunft zu.
|| verfügte. Vgl. Verzeichnis der von dem Königl. Geh. Regierungsrathe Prof. Dr. Henrich Steffens hinterlassenen ausgezeichneten Bibliothek und Landkartensammlung. Berlin 1845. 52 Ebd., S. 41. 53 Geir Hestmark: The Meaning of ‚Metamorphic‘ – Charles & Mary Lyell in Norway, 1837. In: Norwegian Journal of Geology 91 (2011), S. 247–275, hier S. 268f. Steffens war mit den Arbeiten des „geschickten Mannes (Forchhammer)“ bekannt. Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 24), Bd. 10, S. 242. 54 Lyell: Principles (wie Anm. 28), S. 11. 55 Ebd., S. 10. 56 Ebd., S. 21.
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Trotz aller Unterschiede zwischen Steffens und Lyell erschließt dieser methodologische Vergleich eine gemeinsame Orientierung, nämlich den für beide der Sache nach notwendigen Gegenwartsbezug.57 Es gibt weder für Steffens noch für Lyell eine Möglichkeit, sich auf eine wie auch immer geartete Vergangenheit oder Zukunft direkt zu beziehen bzw. sich in sie hineinzuversetzen. Vergangenheit und Zukunft sind nur mittelbar über die Gegenwart zugänglich. Diese Bedingtheit menschlichen Wissens verlangt äußerste Vorsicht bei jedem Urteil, das gefällt wird über das, was war, und das, was sein wird. Bei Steffens findet diese methodologische Einschränkung ihren prägnantesten Ausdruck in seiner Anthropologie, deren höchstkomplexe Zeit- und Geschichtstheorie nicht selten übergegangen wird. Sie zielt auf eine systematische Darstellung des Menschen, genauer gesagt eine Darstellung dessen, was mit dem menschlichen Leben weitestgehend zusammenhängt. Eine Anthropologie im eigentlichen Sinne muss für Steffens die Herkunft des Menschen aus seiner Vergangenheit, d.h. aus der anorganischen Natur, und aus seiner Gegenwart, d.h. aus der organischen Natur, beinhalten. Entsprechend werden im Verlauf der Darstellung die zeitlichen Dimensionen mit den physischen Bereichen enggeführt und als solche erschlossen. Wäre es dem Menschen nicht gegeben, sich aus der Natur heraus zu verstehen, so Steffens, würde er sich schlechthin verkennen; allein aus sich selbst begreift er sich ohnehin nie. Für die Natur aber ist der Mensch die Zukunft, das, was erst kommen soll, und zwar dasjenige, was sich durch den Versuch, in der Anthropologie die Vergangenheit und Gegenwart dem Menschen als eine Art Anamnesislehre in Erinnerung zu rufen, erschließt.58 Dies entspricht der dreiteiligen Gliederung der Anthropologie: Wir wagen den Versuch. Ruhig wollen wir die Erscheinungen der Natur verfolgen, ob wir nicht etwas über der Erscheinung Liegendes in ihnen zu erkennen vermögen. In einer dreifachen Richtung wollen wir diesen Versuch wagen, indem wir den Menschen
|| 57 Siehe beispielsweise Steffens’ eigene Darstellung dessen, was ihm zufolge seine Position einerseits mit derjenigen Schellings verbindet und anderseits von dieser unterscheidet: „Ich lebte ganz für ihn, lauerte auf eine jede Aeußerung und begriff wohl, daß, wenn auch das Fundament [Hervorh. J. L. R.] unserer wechselseitigen Verständigung dasselbe geblieben war, dennoch die fernere Ausbildung derselben uns in verschiedenen Richtungen äußerlich auseinander gebracht habe. Beide wollten wir das Leben aus einer Wirklichkeit erkennen, und doch nicht in derselben. Er schöpfte aus ganz anderen, mir zum Theil unzugänglichen Quellen. Er wollte das Geschlecht aus seinem Ursprung, aus seiner ersten, einer höhern Macht unterworfenen That begreifen, ich aus der mir vorliegenden verworrenen Gegenwart [Hervorh. J. L. R.].“ Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 24), Bd. 8, S. 225. 58 Henrich Steffens: Anthropologie. 2 Bde. Breslau 1822, Bd. 1, S. 8–10.
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1) betrachten als Schlußpunkt einer unendlichen Vergangenheit der Natur (Entwickelungsgeschichte der Erde, geologische Anthropologie); 2) als Mittelpunkt einer unendlichen Gegenwart (organische Epoche der Erde, physiologische Anthropologie); 3) als Anfangspunkt einer unendlichen Zukunft (geistige Offenbarung des Göttlichen in einem Jeden, psychologische Anthropologie).59
Daher überrascht es auch nicht, dass die Abhandlung über den Menschen im engeren Sinne nur etwa neunzig der insgesamt neunhundert Seiten, die das Werk umfasst, einnimmt; Geologie und Physiologie füllen den großen Rest des Buches. Erschwert wird das Vorhaben durch die Tatsache, dass der Mensch ausschließlich Zugang zur Gegenwart hat, zugleich aber auf die Vergangenheit als seine Herkunft angewiesen ist. Steffens’ Anthropologie ist also der Versuch, aus der Gegenwart heraus, der der Mensch nicht entkommt, d.h. aus dessen unbewusster Abhängigkeit von der Zeitdimension des Präsenten, die Vergangenheit einzuholen, um ihm dadurch die Zukunft zu eröffnen und die Möglichkeit, Freiheit zu verwirklichen. Daher kommt Steffens zu dem selbst für die heutige Leserschaft wohl eher überraschenden Ergebnis, dass der Mensch auch innerhalb der Geologie abgehandelt werden muss. Meine Leser, besonders die Naturforscher, die meine Ansichten ihrer Aufmerksamkeit würdigen möchten, ersuche ich, nicht meine Absicht zu vergessen. Weder Geologie im eigentlichen Sinne, als eigenthümliche Wissenschaft, noch Physiologie dürfen sie hier erwarten, und dennoch beides. Ich dürfte die tiefere Bedeutung, die höhere Beziehung auf das geistige Daseyn des Menschen nicht aus den Augen verlieren; und wer meine Darstellung mit Theilnahme verfolgen will, wird sich überzeugen, daß durch die Hineinbildung aller Erscheinung in eine lebendige Einheit eine besondere Evidenz entsteht, welche zwar von derjenigen verschieden, die lediglich aus der Vergleichung der Thatsachen und durch sorgfältige Untersuchung des Einzelen entspringt, ja dieser entgegengesetzt, dennoch dasselbe findet und erkennt. Diese Betrachtungsweise ist keineswegs a priori, wie man sich auszudrücken pflegt; sie ist vielmehr die lebendigste Erfahrung, und zwar eine solche, die auch da, wo die Betrachtung lediglich auf das Einzele geht, nicht entbehrt werden kann.60
|| 59 Ebd., S. 16 60 Ebd., S. iiif. (Vorrede). Diese methodologische Stellungnahme und Gegenüberstellung von a priori und a posteriori, die Steffens schon früh mit der Wendung „Ich räsoniere, ich demonstriere nicht“ (Henrich Steffens: Indledning til philosophiske Forelæsninger. Kopenhagen 1996 [1803], S. 12, Übers. J. L. R.) vermerkte, wird oft als Kritik an der Philosophie im Allgemeinen und an Schelling im Besonderen gelesen. Die Sache ist aber wesentlich komplizierter, denn Steffens fordert eben auch eine grundlegende philosophische Wissenschaft, die er aber nicht selber einlösen kann. Ihm zufolge teilt er ein selbes Fundament mit Schelling, nähert sich aber
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Steffens und Lyell teilen den Ausgangspunkt, der für beide als eine Tatsache gilt, dass uns die Vergangenheit abhandengekommen ist, dass unser Sujet in der Geologie wie ein Abgrund vor uns klafft, unser Abgrund ist, dessen Präsenz uns nur in absentia, allein in Gestalt von Ruinen zugänglich ist. Die Herkunft der Gegenwart, aus der heraus sich das menschliche Bewusstsein gezwungen sieht die Gegenwart zu verstehen, entzieht sich diesem. Im Falle Steffens’ kann man daher auch von einer ruinösen Wissenschaft sprechen. Sowohl Steffens als auch Lyell erkennen also ihre Gegenwartsgebundenheit an und sehen sich eben deswegen genötigt, eine Geschichte der Natur auszuarbeiten, deren Umfang die Gegenwart mit einbegreift. Thematisch findet dies statt in ihrer Beschäftigung mit der Geschichtlichkeit der Natur. Dieselben Tätigkeiten und Kräfte der Natur sind wirksam, damals wie jetzt, wenn auch in verschiedenen Formen, deren unterschiedliche Ausdrucksweisen sich aus Lyells bekannten Klassifikationen der Erdschichten und der geologischen Zeitenskala ergeben. Aus den neueren Erkenntnissen der Geologie zieht Steffens im Unterschied zu Lyell aber den radikalen Schluss, dass nicht nur die Natur und der Mensch eine Geschichte haben; auch Philosophie und Wissenschaft werden bei ihm geschichtlich. In der Frage also, was legitimer Gegenstand einer historisch argumentierenden Geologie ist und was nicht, unterscheiden sich beide in einem zentralen Punkt. Zwar orientiert sich Lyell wie Steffens an der Gegenwart, doch hält er im Unterschied zu diesem eine strenge und traditionelle Grenzziehung zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften aufrecht. Beide Wissenschaften weisen demnach zwar sehr nützliche Analogien auf, sind aber eben doch nur Analogien. Es steht immer ein analogisierendes Wie zwischen dem Reich der Natur und dem des Menschen, zwischen dem der Notwen|| diesem von einer anderen, empirischen Seite. Vgl. dazu das Steffens-Zitat in Anm. 56. Ein Beispiel für das komplexe Verhältnis zwischen Schelling und Steffens liefert Jesper Lundsfryd Rasmussen in ders.: „So mögen gemeinschaftlich Begeisterte in gleichem Sinn fortdichten an diesem ewigen Gedicht.“ – Weiterführung einiger Gedanken der Schellingschen Naturphilosophie bei Steffens. In: Søren Peter Hansen u. Stefanie Stockhorst (Hg.): Deutsch-dänische Kulturbeziehungen im 18. Jahrhundert = German-Danish Cultural Relation in the 18th Century. Göttingen 2018, S. 153–172. Fichte folgend (dessen Gegenstandsbereich dabei zugleich wesentlich erweiternd) verfuhr Schelling in seiner frühen Naturphilosophie ganz ähnlich wie Steffens. Vgl. etwa Schellings selbstständig veröffentlichte Einleitung zu seinem Ersten Entwurf eines Systems (1799) in: AA I,8. Hg. v. Manfred Durner u. Wilhelm G. Jacobs. Unter Mitwirkung v. Peter Kolb. Stuttgart 2004, § IV, S. 33–37, insbes. die lange Anmerkung S. 35–37. Noch näher an Steffens verfährt Schelling in seinem Weltseele-Projekt (1798), vgl. ders.: AA I,6: Von der Weltseele – eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798). Hg. v. Jörg Jantzen. Unter Mitwirkung v. Thomas Kisser. Stuttgart 2000.
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digkeit und dem der Freiheit. Weder beziehen sie sich direkt aufeinander, noch vermischen sie sich miteinander. Sie sind weder unter- noch übergeordnet, sondern als Gegenstände der jeweiligen Wissenschaften jeweils gleichermaßen gegenwärtig. Während es bei Lyell also zwei Gegenwarten gibt, eine des Geistes und eine der Natur, verortet Steffens den Menschen klar in der Natur und behauptet nur einen Gegenstand, eine Gegenwart. Genau so will er auch seine Geschichte der Natur ‚im eigentlichen Sinne‘ verstanden wissen und entsprechend in der Natur die Spuren der Freiheit ausmachen. Wir wollen dieses erzeugende Princip hier zuerst betrachten als Natur. Nicht etwa, indem wir von der Freiheit abstrahiren; denn diese Natur, wo sie sich völlig rein darstellt, – das klar erkannte, alles belebende, jede geistige Natur in ihrer Art bestätigende, befreiende Bild der ewigen Liebe – ist ja die Freiheit, und die Naturwissenschaft wird erst dadurch Anthropologie, ja eine Anthropologie ist nur dann möglich, wenn wir die Keime der Freiheit, die verborgene Stätte des sich entwickelnden Geistes in der Natur selber erkennen. Wir wollen also hier jene Urstätte der Freiheit in der Natur betrachten, wie der Religiöse alle Freiheit in ihrer höchsten Bedeutung als Gabe, als Gnade, als That Gottes, nicht als menschliche That betrachtet.61
Inwiefern diese Sichtweise mit Lyells Deismus kollidiert, sei dahingestellt. Dass aber die Gegenwart für Steffens notwendig den Menschen mit einbezieht, und zwar so, dass dieser in weiterer Konsequenz auch in der Geologie mitgedacht werden muss, unterscheidet seine von Lyells Grundlegung dieser Disziplin. Wenn dieses Grundprinzip der Steffens’schen Geologie auch noch für heutige Ohren schwierig klingen mag, so korrespondiert es zugleich mit den neusten Herausforderungen, denen sich etwa die Stratigraphie ausgesetzt sieht, die nun auch ein Zeitalter des Menschen geologisch zu begreifen hat.62
|| 61 Steffens: Anthropologie (wie Anm. 58), Bd. 1, S. 196f. 62 Siehe etwa Will Steffen u.a. (Hg.): Global Change and the Earth System. A Planet under Pressure. Berlin 2005, insbes. Kapitel 2 u. 3; Eckart Ehlers u. Thomas Krafft (Hg.): Earth System Science in the Anthropocene. Emerging Issues and Problems. Berlin 2006. Vgl. Jesper Lundsfryd Rasmussen: Geologiens udestående med filosofien. In: Kristoffer B. Willert (Hg.): Planetære frakturer. Humanistiske og socialvidenskabelige perspektiver på antropocæn. Kopenhagen 2022, S. 245–258.
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3 Zur Frage der zeitgenössischen Anschlussfähigkeit Steffens’ – ein Fazit Die gewichtigen Unterschiede zwischen Steffens und Lyell sind nicht herunterzuspielen. So war Lyell eben kein Denker einer neuen Weltanschauung, einer auf die Gegenwart bezogenen Kosmologie, wie Steffens einer war. Lyell war überhaupt ohne große philosophische Vorbildung und daher auch auf terminologische und philosophische Hilfestellung von Kollegen wie Whewell angewiesen. Demgegenüber steht eine, wenngleich heterodoxe, philosophisch fundierte Religiosität auf Seiten Steffens’. Die auch bei Lyell vorfindlichen religiösen Referenzen sind im Vergleich dazu eher konventionell: Neben seinem traditionellen deistischen Hintergrund stellt für ihn die biblisch verbriefte Entwicklungsgeschichte der Erde eine legitime Quelle der Evidenz für die Geologie dar, die er, wie wir gesehen haben, nun ausgerechnet den kosmologischen „Erdichtungen“ Abraham Gottlob Werners als die plausiblere entgegensetzen zu können vermeint; diese hätten, so Lyell, „nicht den geringsten Grund, weder in der Schrift, noch in dem gesunden Menschenverstande“.63 Vieles spricht dafür, dass Lyells Principles eher als ein methodologisches Lehrwerk zu verstehen sind. Methodologien setzen aber Grundannahmen voraus, die im Falle Lyells ein prononciertes Zeit- und Geschichtsverständnis verraten. Weder Lyell noch Steffens vertreten teleologische Weltanschauungen in irgendeinem klassischen Sinne des Wortes, weil ein Ende der Natur oder eine Zukunft, auf die man sich berufen könnte, für die Wissenschaft grundsätzlich unzugänglich sind bzw. sich erst ergeben müssen. Teleologische Erklärungen werden von beiden also abgelehnt, was aber eine (innere) Zweckmäßigkeit der Natur keinesfalls ausschließt. Stattdessen dynamisieren Steffens und Lyell die Natur dahingehend, dass ihr ein Schein der Freiheit verliehen wird, ohne aber die Prozesse der Natur gleichsam der Gesetzlosigkeit zu opfern. Diese Dynamisierung und Vergeschichtlichung der Natur nimmt bei beiden gleichwohl unterschiedliche Formen und Inhalte in der Ausarbeitung der jeweiligen Geologien || 63 Charles Lyell: Lehrbuch der Geologie. Ein Versuch, die früheren Veränderungen der Erdoberfläche durch noch jetzt wirksame Ursachen zu erklären. Übers. v. Carl Hartmann. Quedlinburg u. Leipzig 1833, S. 64. Im Original: „They [Werner‘s fictions] had not the smallest foundation, either in Scripture, or in common sense“. Lyell: Principles (wie Anm. 28), S. 21. Siehe dazu Martin J. S. Rudwick: The Strategy of Lyell’s Principles of Geology. In: Isis 61/1 (1970), S. 4–33, hier S. 33, und Michael Bartholomew: Lyell and Evolution. An Account of Lyell’s Response to the Prospect of an Evolutionary Ancestry for Man. In: The British Journal for the History of Science 6/23 (1973), S. 261–303, hier S. 265f.
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an. Letztlich aber kehrt Steffens in den Schlussworten des zweiten Hefts der Polemischen Blätter wieder zu seiner Position aus der Anthropologie zurück und kommt so einem Rückfall in die dogmatische Geologie der Vormoderne nahe, wenn er die Hoffnung äußert, in der Natur („Welt“) die „That Gottes“ zu erblicken: Der Schluß ist (potentia) da, als das Sicher Leitende der Bildung, wie er [Gott, J. L. R.], als das sicher Bildende in einer jeden lebendigen Entwickelung da ist, ja er ist, als das Erkennende, zugleich das Bildende.64
Man darf diese Passage aber nicht allzu rasch deterministisch lesen, denn „das Erkennende“ ist Teil dieses Prozesses selbst, nämlich der Mensch, der durch sein Erkennen hindurch die Entwicklung weiter vorantreibt. Wie diese göttliche Tat begrifflich zu verstehen ist, bleibt indes offen.65 Die Frage, ob Steffens’ Geologie in einen Deismus wie den Lyells mündet oder ob sie radikaler, heißt hier: kontingenter gelesen werden muss, kann nur mit Verweis auf Steffens’ offenen, freiheitlichen Entwicklungsbegriff beantwortet werden. Im allerletzten Abschnitt des zweiten Hefts bestätigt Steffens meines Erachtens diese Lesart: Sie [Steffens’ geologische Wissenschaft, J. L. R.] gestaltet sich am sichersten durch Widerspruch, der die Einseitigkeit der Darstellung ausschließt, sie will, in sich gegründet, ihren eigenen sichern Weg gehen, und das nächste Heft soll die hier von dem Gesichtspunkt der herrschenden Geologie aufgefaßten Erdprozesse als lebendige Entwickelungsprozesse darzustellen versuchen.66
Das hier angekündigte dritte Heft blieb leider aus und die weitere Entwicklung seiner Geologie stand noch offen. Doch eines ist klar: Die bei Steffens deutliche Akzentuierung der Freiheit, die in unterschiedlicher Form sowohl natürliche als auch kulturelle Prozesse vorantreibt, unterscheidet ihn letztlich von Lyell. Denn für Steffens muss die Geologie sich nicht nur mit allen physikalischen Wissenschaften verbinden, sondern mit allen Wissenschaften des Anorganischen und des Organischen, somit auch der Anthropologie. Während Lyell sich lediglich einer Analogie zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften bediente, ohne die Bedingungen der analogischen Strukturähnlichkeit zwischen den zwei Gegenstandsbereichen genauer zu erforschen, vermochte Stef-
|| 64 Steffens: Polemische Blätter II (wie Anm. 46), S. 159. 65 Auch Schelling versuchte auf seine Weise, in seiner späten Philosophie, der sogenannten positiven Philosophie, eine solche Tat als einen unvordenklichen Anfang philosophisch zu entfalten. 66 Ebd.
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fens mithilfe der Freiheit als des zugrundeliegenden Prinzips aller Prozesse diese Analogie überhaupt erst auszulegen und (im Unterschied zu Kant) wissenschaftlich zu erklären und zu beglaubigen. Die Freiheit ist das lebendige Band, kraft dessen diese Prozesse erst plausibel gemacht werden können. Insofern denkt Steffens hier geschichtlicher als Lyell. Wie weit nun mein begrifflich-struktureller Vergleich zwischen den untersuchten Autoren auch historisch als Einfluss auf die eine oder andere Weise belegt werden kann, kann noch nicht endgültig beantwortet werden. Andere Figuren müssten in diese Planspiele mit einbezogen, weitere Archive durchforstet werden. Die britische und die deutsche Konstellation verliefen jeweils nicht unabhängig voneinander, sondern überschnitten sich, wie wir zum Teil sahen, in Gestalt von Schelling, Steffens, Whewell, Hare und Lyell. Insbesondere die Frage eines neuen, methodologisch gesicherten Zugangs zur Vergangenheit und der für diesen Zweck erforderlichen lebendigen Darstellung der Erdgeschichte einte Lyell und Steffens. Halten wir also noch einmal gegen alle engen historischen Plausibilitäten fest: Steffens’ Denken war anschlussfähig innerhalb einer britischen Konstellation, die sich das radikal Neue auf die Fahnen schrieb und der auch Lyell angehörte. Seine Geologie war auf der Höhe des wissenschaftlichen Diskurses, wie er in Lyells Principles zu einer richtungsweisenden Form fand, und gehört somit in jede Studie zu dieser Wissenschaftsepoche. Ob kritisch oder eher konstruktiv, bewusst oder unbewusst: Nach einem näheren, vergleichenden Blick ist eine Verbindung zwischen Steffens und Lyell, ist beider Partizipation an ein und derselben Konstellation kaum zu leugnen, so gern man auch die eigenen nationalen Helden von den ihnen entgegengesetzten Bösewichtern fernhalten möchte.
| Teil II: Dichterparadies
Jessika Piechocki
Zwischen Zauberinsel und Waldhorntönen Henrik Steffens im Umfeld hallischer Geselligkeiten (1804–1806) Zwischen Zauberinseln und Waldhorntönen bewegte sich Henrik Steffens von 1804 bis 1806 und 1808 bis 1811 innerhalb einer lebendigen hallischen Geselligkeitskultur. Über seine prägende Zeit in der Universitätsstadt Halle notierte er rückblickend: „Es war in der That eine schöne lebendige Zeit und die wissenschaftliche Beschäftigung warf einen heiteren Glanz auch auf die geselligen Verhältnisse.“1 Auf Vermittlung Johann Christian Reils (1759−1813) war Steffens am 27. April 1804 auf eine ordentliche Professur für Naturphilosophie, Physiologie und Mineralogie an der Friedrichs-Universität Halle berufen worden. Die Professur verlieh ihm Anerkennung und finanzielle Sicherheit. „Meine ganze Lage“, resümiert er, „war indessen so günstig, wie nie bisher“2 und „mein Amt, meine Familie, meine Freunde, meine Zuhörer beglückten mich“3. Über die hallischen Kollegen und vor allem durch Vermittlung seines Schwiegervaters Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) fand er Zutritt in die geselligen Kreise der Stadt. In welchen Kreisen genau sich Steffens bewegte, wird einführend dargestellt. Im Anschluss daran soll der Versuch unternommen werden, Steffens’ Geselligkeitserfahrungen vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses von Geselligkeit als geselliger Bildung zu lesen.
1 Steffens im Umfeld hallischer Geselligkeiten Als zentrale Quellen nutze ich besonders den fünften und sechsten Band von Steffens’ Lebenserinnerungen (Was ich erlebte), in denen er über die Zeit von 1802 bis 1811 berichtet. Ergänzend ziehe ich weitere Ego-Dokumente von Zeitgenossen aus dem hallischen Umfeld hinzu. Die insgesamt zehn Bände seiner Lebenserinnerungen gelten als bedeutendes autobiographisches Dokument der
|| 1 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2014–2022, Bd. 5, S. 102. 2 Ebd., S. 104. 3 Ebd., S. 107. https://doi.org/10.1515/9783111358826-005
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Romantik,4 in welchem Steffens sein Inneres mit äußeren Ereignissen „in der Erfahrung des Außergewöhnlichen“ verbindet.5 Nach Steffens gelten als Ereignisse jene Momente, „welche die Personen aus den gewöhnlichen Kreisen des einfachen Lebens herausreißen und sie zwingen, ihr Inneres in Freude und Schmerz, in Leidenschaft und Tat nach außen zu wenden“.6 Solche finden sich in seinen Lebenserinnerungen zahl- und detailreich geschildert. Steffens’ Zeit in Halle war gekennzeichnet durch sein Wirken als Universitätslehrer, ebenso durch sein familiäres und geselliges Leben. Prägend waren nicht zuletzt auch die Triumphzüge Napoleons. Die Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt 1806 erlebte er aus nächster Nähe, beschrieb die materielle und kulturelle Not, vor allem die in Kriegszeiten empfundene akute existenzielle Bedrohung. 1806 wurde die Universität Halle infolge der Besetzung Halles durch die napoleonischen Truppen geschlossen und im selben Jahr Steffens’ Tochter Clara geboren. Noch im gleichen Jahr verließ der Gelehrte mit seiner Frau Johanna und dem kleinen Mädchen die Stadt7 und kehrte erst 18088 wieder nach Halle zurück. 1811 erfolgte seine Berufung an die neugegründete Universität in Breslau,9 an der er anschließend 20 Jahre lehrte. Als aufmerksamer Beobachter seiner Zeit vermischte Steffens in den Lebenserinnerungen Reflexionen mit Erfahrungen und Fakten mit Gerüchten. Er beschrieb soziale Milieus und gab Einblicke in europäische Aufklärungsnetzwerke, in politische und literarische Salons. Er berichtete über Bekanntschaften und charakterisierte ihm wichtige Weggefährten, so etwa in der hallischen Zeit seinen Freund Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der zeitgleich mit Steffens in Halle eine Professur erhalten hatte und zum Universitätsprediger berufen worden war.10 Schleiermacher wurde für Steffens zum engen Freund und Kollegen, zeitweilig lebten sie, bedingt durch die Kriegssituation, in einer symbiotischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gemeinsam unter einem Dach.11
|| 4 Günter Oesterle: Henrik Steffens: Was ich erlebte. Spätromantische Autobiographie als Legitimierung eines romantischen Habitus. In: Romantik im Norden. Hg. v. Annegret Heitmann u. Hanne Roswall Laursen. Würzburg 2010, S. 191–206, hier S. 191. 5 Ebd., S. 196. 6 Henrich Steffens: Novellen. Gesamtausgabe. Zweites Bändchen. Die Familien Walseths und Leith. Erster Band. 3. verb. Aufl. Breslau 1837, S. 15, zit. nach Oesterle: Henrik Steffens (wie Anm. 4), S. 196. 7 Vgl. Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 143. 8 Ebd., Bd. 6, S. 20. 9 Ebd., Bd. 7, S. 151. 10 Ebd., Bd. 5, S. 95, 97. 11 Ebd., S. 124f., 137.
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Steffens’ Beschreibung der Zeit in Halle von 1804 bis 1806 beginnt mit der Bemerkung, dass er den Schwiegereltern die „geliebte Tochter“ zurückgebracht habe.12 Mit Johanna (1785−1855), einer Tochter des hallischen Komponisten Reichardt war Steffens 1803 den Bund der Ehe eingegangen.13 In der nächsten Textpassage berichtet er über die Umstände des Antritts seiner Professur, gibt einen ersten Einblick in das Innenleben der hallischen Universität, stellt hallische Professoren und deren philosophische Positionen vor. Anschließend führt er mit Schleiermacher seinen zukünftigen Freund und Kollegen ein.14 Über ihn heißt es: Aber ich sollte hier einen Mann treffen, der von Neuem Epoche in meinem Leben machte. Es war Schleiermacher, der zugleich mit mir, oder wenige Wochen nachher, als Professor extraordinarius nach Halle berufen ward. […] Wir schlossen uns ganz und unbedingt an einander [...].15
Die hallische Universität, an der Steffens und Schleiermacher nun lehrten, stand zu dieser Zeit in ihrer zweiten Blüte, repräsentiert durch so bedeutende Gelehrte wie Reil, Justus Christian von Loder (1753–1832), Friedrich August Wolf (1759−1824) und eben auch Steffens und Schleiermacher. Am 13. Mai 1804 schreibt Ludwig Börne (1786−1837) an Henriette Herz (1767−1847): Unsre Universität wird jetzt in der That recht glänzend; die Anzahl der Studenten hat sich in diesem Frühjahr sehr vermehrt, wir haben einen Haufen neue Profeßoren bekommen […]. Unter andern hat auch ein gewißer Steffens, Reichardts Schwiegersohn, einen Ruf hierher bekommen.16
Repräsentiert durch die hallischen Professoren, hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts die Aufklärung in Halle „vergesellschaftet“17 und war auch ein Stück weit im Alltag der Stadtbevölkerung angekommen. Die Universität war zwar der stärkste Wirtschaftsfaktor der Stadt, die allgemeine wirtschaftliche Situation
|| 12 Ebd., S. 82. 13 Bernd Henningsen: Einführung in den vierten Band. In: Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 7–13, hier S. 12. 14 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 82−95. 15 Ebd., S. 95f. Vgl. zur Freundschaft zwischen Steffens und Schleiermacher Karl von Raumer: Karl von Raumers Leben von ihm selbst erzählt. Stuttgart 1866, S. 43. 16 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Neu bearb. u. hg. v. Inge u. Peter Rippmann. Bd. 1: Briefe 1802–1831. Darmstadt 1968, S. 87. 17 Holger Zaunstöck: Sonnenfinsternis und Kometenerscheinung. August Hermann Niemeyer wächst mit dem 18. Jahrhundert. In: Brigitte Klosterberg (Hg.): Licht und Schatten. August Hermann Niemeyer. Ein Leben an der Epochenwende um 1800. Halle 2004, S. 28–38, hier S. 34.
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hatte sich allerdings gegensätzlich zur zweiten Blüte der Universität entwickelt. Zum Symbol für die wirtschaftliche Krise der Stadt wurden die „Hungerunruhen“ 1804/05, sie waren „sichtbarster Ausdruck des schlechten Zustands der Stadt, der sehr fragilen sozialen Verhältnisse“, wie Holger Zaunstöck bemerkt.18 Über die Hungerunruhen und weitere Ereignisse in Halle ist auch in Steffens’ Erinnerungen zu lesen,19 die nicht minutiös chronologisch angelegt, dafür in größere Zeitabschnitte eingeteilt sind. Mit welchen geselligen Kreisen Halles er zuerst in Kontakt trat, darüber erfahren wir bei Steffens nichts Konkretes. Anzunehmen ist aber, dass er die Praxis der üblichen Visiten bedienen musste.20 Als neuer Kollege nahm er vermutlich zuerst Einladungen in die Häuser der hallischen Professoren mit ihren Familien an. Vielleicht besuchte er zuerst das Haus des berühmten Theologen und Pädagogen August Hermann Niemeyer (1754−1828), Mitdirektor der Franckeschen Stiftungen und direkter Nachfahre August Hermann Franckes (1663−1727). Unweit der Ratswaage, des zentralen Gebäudes der hallischen Universität und in direkter Nachbarschaft zur Märkerstraße, der hallischen Professorenstraße, gestalteten zu dieser Zeit August Hermann und Agnes Wilhelmine Niemeyer (1769−1847) in ihrem Haus am Großen Berlin häusliche Geselligkeiten. Besonders durch das Wirken der hochgebildeten Frau Niemeyer galt dieses Haus als Sammelpunkt höherer Bildung und Wissenschaft.21 Belegt ist Steffens’ Besuch im Haus der Niemeyers.22 Ob er in der durch Niemeyer gestifteten Montagsgesellschaft zu Gast war, ist nicht bekannt.23 Hier trafen sich die Mehrzahl der Universitätslehrer und Beamten am Montag „zu freundlicher Unterhaltung über Gegenstände der Wissenschaft und des Lebens“24 in den Gasthäusern der Stadt.25 Neben der Familie Niemeyer veranstalteten viele weitere hallische Professorenfamilien in ihren Privathäusern Geselligkeiten. Schleiermacher und Steffens luden an bestimmten Wochentagen be-
|| 18 Ebd., S. 34. 19 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 117f. 20 Vgl. exemplarisch Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 182. 21 Vgl. zur Geselligkeit im Haus der Niemeyers Jessika Piechocki: Bürgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800. August Hermann und Agnes Wilhelmine Niemeyer in Halle. Halle 2022. 22 Vgl. Wilhelm Fries: Die Franckeschen Stiftungen in ihrem zweiten Jahrhundert. Halle 1898, S. 109. 23 Vgl. Piechocki: Bürgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800 (wie Anm. 21), S. 233f. 24 [Anon.]: Des H[err]n. Kanzler Niemeyer fünfzigjähriges akademisches Lehrerjubiläum. In: Allgemeine Literaturzeitung 1/105 (April 1827), S. 857–872, hier S. 863. 25 Vgl. Carl Hugo von Hagen: Die Stadt Halle nach amtlichen Quellen historischtopographisch-statistisch dargestellt. Bd. 1. Halle 1867, S. 637.
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freundete Studenten in ihre Wohnungen ein,26 die hier auch musizierten.27 Steffens schreibt: „Ich lebte ganz meinen Studien, meinen Vorträgen, und für die Studirenden, die sich mir anschlossen.“28 Die Männer dieser Familien prägten häufig zugleich die öffentlichen Geselligkeiten als Mitglieder in den Freimaurerlogen und Vereinen der Stadt.29 Ein Ort der hallischen Geselligkeitskultur war die am 1. Mai 1800 gegründete Vereinigte Berggesellschaft als sogenannte „Abonnement-Gesellschaft“ mit dem Zweck der finanziellen Unterstützung der Freimaurerloge Zu den drei Degen. 1802 gehörten ihr schon siebzig angesehene Familien der Stadt an. Im Mittelpunkt der Treffen standen Lektüre, Musik und das Spiel, im Winter wurden Bälle und ab 1810 Konzerte veranstaltet.30 Zu einem weiteren Ort der Geselligkeit wurde im Sommer die kleine Stadt Lauchstädt. Ab 1785 gastierte hier das Weimarer Theater, welches seit 1791 unter der Leitung Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) stand.31 Belegt ist Steffens’ Besuch hier mit dem Dichter Adam Oehlenschläger (1779−1850).32 Zum wichtigsten geselligen Ort wurden für Steffens aber das Haus und der Garten seines Schwiegervaters Reichardt in Giebichenstein vor den Toren Halles. Der Komponist empfing in seiner „Herberge der Romantik“33 hallische Professoren und durchreisende Gäste, so zum Beispiel Jean Paul (1763–1825), Johann Heinrich Voß (1751–1826), die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich von Schlegel (1772–1829), Novalis (1772–1801), die Studenten Achim von Arnim || 26 Vgl. Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 101; Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1950, S. 132. 27 Vgl. exemplarisch Adolph Müller an Elise Müller, Halle, 28. Juni 1805. In: ders.: Briefe von der Universität in die Heimat. Hg. v. Ludmilla Assing aus dem Nachlass v. Karl August Varnhagen von Ense. Leipzig 1874, S. 76. 28 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 104. 29 Vgl. Andrea Hauser u.a.: Stadt im Aufbruch – Industrie, Bürgertum und Arbeiterschaft (1800–1914). In: Werner Freitag, Katrin Minner u. Andreas Ranft (Hg.): Geschichte der Stadt Halle. 2 Bde u. Registerbd. Halle 2006, Bd. 2, S. 9–88, hier S. 45f. Vgl. zur Geselligkeitskultur in Halle zur Mitte des 18. Jahrhunderts exemplarisch Holger Zaunstöck: Gesellschaft der Aufklärer oder aufgeklärte Stadtgesellschaft – die Soziabilitätskultur des 18. Jahrhunderts. In: ebd., Bd. 1, S. 447–463. 30 Vgl. von Hagen: Stadt Halle (wie Anm. 25), S. 628f. 31 Vgl. Christian Soboth: Literatur und Theater. In: Klosterberg: Licht und Schatten (wie Anm. 17), S. 240–245, hier S. 241. 32 Vgl. Adam Oehlenschläger: Meine Lebenserinnerungen. Bd. 2. Leipzig 1850, S. 11. 33 Vgl. Erich Neuß: Das Giebichensteiner Dichterparadies. Johann Friedrich Reichardt und die Herberge der Romantik. Halle 1932; Jessika Piechocki u. Pia Schmid: Gebildete Geselligkeit – gesellige Bildung. Hallisches Bildungsbürgertum um 1800: Der Kreis um J. F. Reichardt. In: Thomas Müller-Bahlke (Hg.): Bildung und städtische Gesellschaft. Beiträge zur hallischen Stadtgeschichte. Halle 2003, S. 69–77.
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(1781–1831), Clemens Brentano (1778–1842), Karl von Raumer (1783–1865) und Börne. Prägnant für diesen Kreis waren der Einbezug der musizierenden Familie Reichardts zu den Geselligkeiten sowie die Verbindung von Kunst- und Naturgenuss über die Musikaufführungen im Garten.34 1799 kam Steffens das erste Mal nach Giebichenstein. Im vierten Band seiner Erinnerungen schreibt er: „Ich trat […] als ein Fremder in das gastfreie Haus, in die Mitte einer Familie ein, deren Bildung, sowie das Interesse, welches Vater, Mutter und Töchter erregten, allgemein anerkannt war.“ Reichardt „kam mir mit der freimüthigen Offenheit entgegen, die ihn so sehr auszeichnete“.35 In seinen Erinnerungen notiert Steffens, dass sich hier die „größeren geselligen Kreise“ der Stadt versammelten.36 An anderer Stelle heißt es: Reichardt hatte seinem Kutscher und seinem Bedienten Unterricht geben lassen im Waldhornblasen, seine Töchter bildeten zusammen Gesangchöre, die in ihrer einfachen Weise großen Eindruck machten. Nicht allein um das Clavier versammelt hörte man sie gern singen. Wenn, oft an schönen lauen und stillen Sommerabenden die alten wehmüthigen lyrischen deutschen Gesänge, von dem Waldhorn begleitet, in dem stillen Garten erklangen, war der Eindruck hinreißend.37
Auf den jungen Joseph von Eichendorff (1788–1857) wirkten der Gesang der Töchter Reichardts und die Musik aus dem Garten weltentrückt, von der Ferne tönend, „wie von einer unnahbaren Zauberinsel“.38
2 Gesellige Bildung – gebildete Geselligkeit Mit Eintritt in den Kreis um Reichardt hatte sich Steffens zweifelsohne eine Welt neuer intensiver Geselligkeitserfahrungen eröffnet – immer auch im Verbund mit Schleiermacher: In der Reichardtschen Familie lebte Schleiermacher, wie ich; Spaziergänge, Lustparthien, Gesellschaften waren gemeinschaftlich; unsere besten Zuhörer, diejenigen, denen es Ernst war, gehörten uns beiden zu. Seine ethischen Vorträge und meine philosophischen schienen den Zuhörern aufs innigste verbunden, sie ergänzten sich. Aber auch wir tauschten, was wir wußten, wechselseitig ein, und wenn Schleiermacher meine physikalischen
|| 34 Vgl. Piechocki u. Schmid: Gebildete Geselligkeit (wie Anm. 33). 35 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 113f. 36 Ebd., Bd. 5, S. 104. 37 Ebd., Bd. 6, S. 66. 38 Joseph von Eichendorff: Erlebtes. Autobiographische Schriften. Leipzig 1967, S. 51f.
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Vorträge hörte, so schloß er mir die griechische Philosophie auf, und durch ihn lernte ich Plato kennen.39
Noch kurz nach seiner Ankunft in Halle hatte Steffens über die hallischen Studenten geurteilt: „Mein Verhältniß zu den Studirenden überhaupt war zwar nicht ein durchaus günstiges. Die Masse derselben war noch immer roh und meine Antipathie gegen das sogenannte Burschenleben konnte ich nicht ganz verbergen.“40 Nun beschreibt Steffens, wie ihn und Schleiermacher hallische Studenten auf Spaziergängen, zu Ausflügen und zu den Geselligkeiten seines Schwiegervaters begleiteten. Sie lauschten andächtig ihren Lehrern. Die verschiedenen Forschungsschwerpunkte beider Gelehrten vereinten sich scheinbar mühelos, ergänzten und vervollkommneten sich wechselseitig. Deutlich wird der gesellige Genuss hier mit einem Bildungserlebnis verbunden, welches gemeinschaftlich erlebt und als ein solches empfunden wurde. Die Äußerung Steffens’ fokussiert auf Geselligkeit als ein Medium, in dem der Prozess des Bildens sich vollziehen konnte. Die Art dieser Bildung lässt sich als ‚gesellige Bildung‘ bezeichnen, denn alle Beteiligten hatten diese durch den geselligen Kontakt und geistigen Austausch mit anderen Menschen erlangt, denen sie sich geistig verwandt fühlten. Bildung und Geselligkeit um 1800 sind folglich, so zeigen unterschiedliche Studien, in der Synthese beider Begriffe als gesellige Bildung zu verstehen, welche sich wiederum in gebildeten Geselligkeiten materialisieren konnte.41 Dieses Verständnis teilten offenbar auch die Studenten von Steffens und Schleiermacher. Der spätere Geograph und Pädagoge von Raumer schreibt: So schlossen sich nun viele Studenten an Steffens und Schleiermacher an. Sie theilten sich, je nachdem sie sich mehr zur Wissenschaft und Lehre, ja auch zum Vortrage des Einen oder des Anderen hinneigten. Doch artete dieß nicht entfernt in die Bildung von zwei entgegengesetzten Schulen oder gar Parteien aus. Wie die zwei Lehrer Freunde waren, sich gegenseitig förderten, so waren es ihre beiderseitigen Schüler.42
|| 39 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 96. 40 Ebd., S. 104. 41 Vgl. exemplarisch Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800. Stuttgart u. Weimar 1998; Arnim Kaiser (Hg.): Gesellige Bildung. Studien und Dokumente zur Bildung Erwachsener im 18. Jahrhundert. Bad Heilbrunn 1989; Piechocki: Bürgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800 (wie Anm. 21); Pia Schmid: Deutsches Bildungsbürgertum. Bürgerliche Bildung zwischen 1750 und 1830. Phil. Diss. Universität Frankfurt a.M. 1984. 42 von Raumer: Karl von Raumers Leben (wie Anm. 15), S. 45.
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Vergleichbar äußerte sich auch Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858). Die Vorlesungen Steffens’ waren für ihn ein stets erneuertes Fest, ein Genuß, dem man mit gleichem Vergnügen nachsah und wieder entgegenblickte. Sie zeigten aber ihren höchsten Wert erst dann, wenn man sie mit den Schleiermacherschen gleichsam in ein Ganzes verflocht. Diese Besonnenheit und jene Begeisterung schienen sich wechselseitig zu vervollständigen und beide Männer, in den Hauptsachen einverstanden und zusammenstimmend, sahen sich gern in diese Gemeinschaft gestellt, welche für die näheren und vertrauteren ihrer Jünger in aller Kraft wirklich bestand, so dass die Theologen auch Steffens hörten und die Naturbeflissenen sich Schleiermacher anschlossen.43
Die Idee der wechselseitigen Bildung hatte Schleiermacher bereits 1799 anonym im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks mit seinen Versuch einer Theorie des geselligen Betragens veröffentlicht.44 Sie gilt als Höhepunkt der frühromantischen Geselligkeitstheorie im 18. Jahrhundert.45 In seiner Utopie formulierte Schleiermacher die Idee einer zweckfreien wechselseitigen Bildung aller Menschen durch Geselligkeit jenseits sozialer, nationaler, konfessioneller und geschlechtsspezifischer Grenzen.46 Diese ‚freie Geselligkeit‘ stellte für ihn ein Gegenbild der Gesellschaft und eine Sphäre jenseits der beruflichen und häuslichen Beschränkungen dar, in der sich das Individuum frei entfalten, sich selbst verwirklichen und sich über das gesellige Miteinander bilden könne.
|| 43 Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten (wie Anm. 26), S. 135. 44 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens [1799]. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Abt. I: Schriften und Entwürfe. Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799 (= KGA I/2). Hg. v. Günter Meckenstock. Berlin u. New York 1984, S. 165–185. Dieser im Januarheft und im Februarheft 1799 im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks anonym publizierte Text blieb ein Fragment, eine Fortsetzung erfolgte nicht, vgl. Günther Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers. In: ebd., S. ix–xci, hier lf. Es ist anzunehmen, dass nicht die mangelnde Resonanz, sondern eher „Produktionshemmnisse“ in Schleiermachers Potsdamer Zeit der Grund dafür waren, vgl. Peter Seibert. Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart u. Weimar 1993, S. 313. Überlegungen Schleiermachers zur Geselligkeit finden sich auch im 3. Artikel seiner Idee zu einem Katechismus für Frauen (1798), vgl. Juliane Jacobi: Friedrich Schleiermachers „Katechismus der Vernunft für edle Frauen“. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte als Geschlechtergeschichte. In: Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000), S. 159–174, hier S. 173. 45 Vgl. Emanuel Peter: Frühromantische Neubestimmung des Menschen im Spannungsfeld von Individuation und Geselligkeit: Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ und „Reden über die Religion“. In: ders.: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 222–234, hier S. 222. 46 Vgl. ebd., S. 227.
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Schleiermachers Nachdenken über das Ideal einer zweckfreien Geselligkeit hat Steffens sicher beeinflusst. Er schreibt, allerdings ohne direkten Bezug auf dessen Schrift, über die wechselseitige Bildung im Medium des geselligen Umgangs: Es bildete sich keine Schule im engern Sinne, aber eine Einsicht von der höheren Bedeutung speculativer Betrachtungen durchdrang eine jede wissenschaftliche Beschäftigung. […] Die Lehrer waren nicht die einseitig anregenden, sie selbst wurden von dem Ernst, der die besseren Zuhörer durchdrang, angeregt und in fortdauernde Bewegung gesetzt.47
Dieses neue Ideal einer menschlichen Bildung, das sich über den Funktionsund Bedeutungswandel von Geselligkeit und Bildung ausdrückte, trug wesentlich zur Konstituierung einer bürgerlichen Gesellschaft bei, die aus mündigen und selbstverantwortlichen Individuen zusammengesetzt sein sollte.48 Als unerlässlich für die Überwindung der Diskrepanz zwischen der freien Entfaltung des Individuums und den Anforderungen der Gesellschaft an dieses, erachtete Schleiermacher die Arbeit am eigenen Selbst für eine gelingende Geselligkeit. Im Gegensatz zum Ausschluss der Frauen aus den öffentlichen Geselligkeiten, so zum Beispiel von Vereinen oder formellen Gesellschaften, sprach sich Schleiermacher sehr deutlich für die Teilhabe von Frauen an der öffentlichen Sphäre aus, da Frauen für ihn – genauso wie Männer – einen Teil der „unendliche[n] Menschheit“ darstellten.49 In seiner doppelten Bedeutung umfasste der Bildungsbegriff den Prozess des Sich-Bildens und den erreichten Zustand des Gebildetseins. Dabei umschrieb der Bildungsbegriff nicht eine vorgefundene gesellschaftliche Realität, sondern fungierte vielmehr als Ideal, als zukünftige Gesellschaftsperspektive bzw. als gesellschaftliche Utopie, die letztendlich die Konstituierung des Bürgertums als eine eigene Schicht innerhalb der noch bestehenden Ständegesellschaft beförderte.50 Mit diesen Einblicken in ein zeitgenössisches Verständnis geselliger Bildung bzw. gebildeter Geselligkeit wollen wir abschließend noch mit Steffens auf das Ende jener „schönste[n] Zeit“ seines Lebens zurückkommen, wie er in seinen Erinnerungen bekundet.51 Nach zwei glücklichen Jahren für den Gelehrten || 47 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 101. 48 Vgl. Thorsten Maentel: Zwischen weltbürgerlicher Aufklärung und stadtbürgerlicher Emanzipation. Bürgerliche Geselligkeitskultur um 1800. In: Dieter Hein u. Andreas Schulz (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996, S. 140–154, hier S. 141. 49 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Katechismus der Vernunft für edle Frauen. In: ders.: KGA I/2 (wie Anm. 44), S. 153f., hier S. 154. 50 Vgl. Piechocki: Bürgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800 (wie Anm. 21), S. 5f. 51 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 75.
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in Halle herrschte hier ab dem 6. Oktober 1806 der absolute Ausnahmezustand. Die Bewohnerinnen und Bewohner erlebten Kriegshandlungen, Plünderungen und die Einquartierung der französischen Truppen.52 Steffens’ Familie war in der Not mit Schleiermacher und dessen Schwester zusammengezogen.53 Die Gemeinschaft mit dem Freund trug Steffens durch diese schwierige Zeit: Obgleich wir nun so höchst kümmerlich lebten, so war unsere Stimmung keineswegs niedergedrückt […] und wir konnten trotz unserer Armuth, wie gewöhnlich, die Freunde und Jünglinge, die den Muth hatten, die Stadt nicht zu verlassen, den Abend an unserem Theetisch versammeln.54
In den folgenden Tagen und Wochen mussten immer mehr Studenten und Professoren infolge der Schließung der Universität die Stadt verlassen, das geistige Leben in ihr verstummte, wie sich Steffens erinnert: Denn wie die Zuhörer verschwunden waren, die mich anregten, so war auch der wissenschaftliche Verkehr, das große, schöne gemeinschaftliche Geistesleben, welches auch in der Entfernung die Gleichgesinnten verband, verstummt; das fröhliche Wechselgespräch durch Schriften, wie durch Briefe, ließ sich kaum mehr hören.55
Steffens floh Weihnachten 1806 mit seiner Familie zunächst nach Hamburg56 und kehrte im Frühjahr 1808 noch einmal für drei Jahre (bis Herbst 1811) nach Halle zurück. Seine zweite Zeit in Halle beschreibt der Gelehrte als „traurige Epoche“,57 mit der er an seine ersten beiden, ausschließlich positiv erinnerten Jahre in der Stadt nicht mehr anzuknüpfen vermochte. In jener ersten Zeit in Halle hatte Steffens eine „lebendige Kraft“58 aus dem Zusammensein mit anderen Menschen geschöpft und darüber an seiner eigenen Bildung gearbeitet. Die Quellen zeigen, dass eine bildende Geselligkeit nicht unbedingt an einen bestimmten Ort gebunden war. Sie war an jedem Ort und immer dann denkbar, sobald Menschen mit einem ähnlichen Bildungshabitus und gemeinsamen Interessen sich mit ihrer je eigenen Individualität in einen Kreis Gleichgestimmter einbrachten.59 Mögliche Orte dafür konnten der Spazier|| 52 Vgl. Christian Adam Adolph Buhle: Schicksale und fröhliche Ereignisse der Stadt Halle vom September 1813 bis 1814. Erzählungen, Beschreibungen, Gedichte. Halle 1815. 53 Vgl. Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 124f., 137. 54 Ebd., S. 137. 55 Ebd., Bd. 6, S. 37. 56 Ebd., Bd. 5, S. 143. 57 Ebd., Bd. 6, S. 22. 58 Ebd., S. 37. 59 Vgl. Schleiermacher: Versuch einer Theorie (wie Anm. 44), S. 171f.
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gang, der Schreibtisch, ein Konzert- oder Tanzsaal oder ein Platz in der Natur sein. Aus den Lebenserinnerungen wird deutlich, dass sich Steffens innerhalb der Geselligkeiten vor allem der kulturellen Praktiken des Lesens und Schreibens, des Spazierens, des Musik- und Naturgenießens bediente. Beispielhaft zeigen folgende Zeilen, wie der gemeinsame Naturgenuss Steffens und seine Freunde in eine nahezu mystische Stimmung versetzte: „Wie eine feierliche Tempelhalle umgab uns die unendliche Natur, trug, durchdrang, beflügelte einen jeden Gedanken, und der keimende Frühling erwärmte, wie die Natur, so den Geist. ... Der Erlöser war in unsere Mitte getreten“.60 Das Zusammensein in Geselligkeiten beschreibt Steffens in seinen Erinnerungen als eine wechselseitige Anregung jenseits sozialer, ständespezifischer oder geschlechtlicher Grenzen im freien Umgang miteinander. In seiner Geselligkeitstheorie hatte Schleiermacher geäußert, dass nur der „freie Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen“ den Menschen aus all seinen Beschränkungen herauslösen könne. Um all seine Kräfte harmonisch ausbilden zu können, müsse sich der Mensch „dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen“ und „alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang […] verbannen“.61 Vielleicht hat Steffens genau dies für Momente in seiner Zeit in Halle erfahren.
|| 60 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 98. 61 Schleiermacher: Versuch einer Theorie (wie Anm. 44), S. 165.
Daniel Fulda
Idylle und/oder Nation Steffens’ Autobiographie Was ich erlebte und ihre Kritik an Reichardts Garten
1 Steffens als verkürzt zitierter Kronzeuge einer hallischen Idylle Henrik Steffens hat in Halle Spuren hinterlassen – auch solche, die für jedermann erkennbar sind, soll heißen nicht bloß für besonders Interessierte, die etwas über die Geschichte der Universität oder der Mineralogie und Naturphilosophie oder über den Schwiegersohn von Johann Friedrich Reichardt und dessen berühmten Garten erfahren wollen. Eine Straße im nördlich der Altstadt gelegenen Paulusviertel trägt seit fast 100 Jahren seinen Namen,1 passenderweise in direkter Nachbarschaft zu Straßen, die nach dichterischen oder gelehrten Zeitgenossen benannt sind, die zum Teil enge Freunde waren, seien es die Weimarer Klassiker Wieland, Goethe, Herder und Schiller, der Romantiker Novalis (Friedrich von Hardenberg)2 oder Steffens’ Universitätskollegen wie der Theologe Schleiermacher oder der Mediziner Johann Christian Reil. Die Reichardtstraße liegt zudem ganz in der Nähe. Lediglich die nach Friedrich August Wolf, dem Kollegen aus der Klassischen Philologie, benannte Straße befindet sich im hallischen Süden. Steffens’ Name ist heute freilich auch den sogenannten Gebildeten nicht mehr geläufig, obwohl er zu den wissenschaftlich profiliertesten Protagonisten des romantischen Aufbruchs um 1800 sowie der idealistisch-patriotischen Neugründung der preußischen Universitäten im Zusammenhang mit der Erhebung gegen die französische Besatzung gehört.3 Niedrigschwellige Wissensvermittlung im Vorübergehen versucht daher die Bürgerstiftung Halle, indem sie eine
|| 1 Vgl. Ingrid Kühn: Universitätsgelehrte in den Straßen von Halle und Wittenberg. Halle 2001, S. 96 (hier mit der Jahresangabe 1931). 2 Die hallische Hardenbergstraße ist also nicht nach dem preußischen Minister benannt, vgl. https://www.buergerstiftung-halle.de/projekte/bildung-im-voruebergehen/strasse/hardenberg strasse/ [01.04.2023]. 3 Vgl. als Programmschrift Henrik Steffens: Ueber die Idee der Universitäten, Vorlesungen. Berlin 1809. https://doi.org/10.1515/9783111358826-006
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kleine Vorstellung unter dem Straßenschild angebracht hat.4 Ohne jede Kontextualisierung wird Steffens hingegen in einem Informationsblatt Grünes Halle entdecken, erstellt von der hallischen Stadtverwaltung, zitiert. Konkret handelt es sich um seine Beschreibung des schwiegerväterlichen Gartens (es folgt der Originaltext, nicht das Zitat mit seinen zahlreichen, zum Teil sinnentstellenden Abweichungen): Der Garten war einfach, ohne alle Ziererei; eine Fülle einheimischer und nordamerikanischer Bäume zierten ihn; ansteigende Höhen und kleine Thäler gaben ihm eine erwünschte Mannigfaltigkeit; die Ebene, die sich dem Hause anschloß, ruhige Bequemlichkeit; der in dieser sanften Umgebung mächtige Reilsberg erhob sich dicht hinter dem Garten. Der Küchengarten war von dem anmuthigen Park abgesondert, in einem Winkel angelegt. Es durfte in diesem Garten kein Schuß fallen; alle Säugethiere und Vögel, die ihn betraten, waren geschützt; Haasen knopperten an den Kräutern, ein Volk Rebhühner brütete ungestört in dem Küchengarten, eine große Schaar von Nachtigallen nistete in den Gebüschen [...]. (VI, 84f.)5
Mit demselben Zitat (mit denselben Fehlern) schmückt sich die Immobilienzeitung eines hallischen Maklers, der seine Miet- oder Verkaufs-Angebote regelmäßig mit architektur- oder eben gartenhistorischen Artikeln garniert.6 Es stammt aus der zehnbändigen Autobiographie Was ich erlebte, die Steffens in den letzten Jahren vor seinem Tod 1845 verfasste und publizierte, und ist beliebt nicht nur in Werbeblättern, sondern auch in von Germanistinnen verfassten Würdigungen des Reichardt’schen Gartens und seiner musischintellektuellen Geselligkeit. Die Passage über den radikalen Tierschutz („Es durfte in diesem Garten kein Schuß fallen“) findet sich so etwa in Heidi Ritters
|| 4 Vgl. Mitteldeutsche Zeitung, 24. Januar 2014, https://www.mz.de/lokal/halle-saale/hallesteffensstrasse-erhalt-zusatzschild-zum-namensgeber-2106515 sowie den Eintrag zu Steffens auf der Homepage der Bürgerstiftung Halle: https://www.buergerstiftung-halle.de/projekte/bildungim-voruebergehen/strasse/steffensstrasse/ [01.04.2023]. Hier wird 1929 als Datum der Straßenbenennung angegeben. Der Straßenschilderzusatz nennt Steffens’ Lebensdaten und stellt ihn als „Naturphilosoph[en], Mineraloge[n] und Dichter“ vor, der „1804–1811 Professor in Halle“ war. 5 Zitatnachweise im Text beziehen sich hier und im Folgenden auf Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Breslau 1840–1844. Die römische Ziffer bezeichnet den Band-, die arabische die Seitenzahl. Die von Bernd Henningsen herausgegebene und eingeleitete zehnbändige Nachdruck-Ausgabe (Berlin 2014–2022) ist im Netz abrufbar: https://www.ni.hu-berlin.de/de/publ/publikationsreihen/was-ich-erlebte-steffens/was-ich-erlebtesteffens_html [11.08.2023] Das Informationsblatt Grünes Halle entdecken findet sich hier: pdf_gruen_halle_060715.pdf [01.04.2023], das Steffens-Zitat steht auf S. 4. 6 Vgl. https://www.hallesche-immobilienzeitung.de/garten-architektur-in-halle-das-romantischeparadies-der-dichtkunst/, 21.09.2021 [01.04.2023]
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und Eva Scherfs Büchlein über die Vergessene Geschichte der mitteldeutschen Romantik.7 Philologisch angemessen, wird der Satz hier vollständig zitiert, so dass uns auch das abstrahierende Resümee nach dem letzten Semikolon nicht vorenthalten wird: „[E]ine stille, friedliche Ruhe herrschte auf dieser geweihten Stätte, und es war, als sollte hier das unruhige und unstete Leben des Besitzers eine versöhnende Vermittlung finden.“8 Wieder ist das Zitat allerdings nicht ganz korrekt; diesmal fehlt in der Reihe der qualifizierenden Adjektive zu „Ruhe“ ausgerechnet das dritte, klimaktische „idyllisch“. Einen anderen, direkt davorstehenden Satz zitiert Angelika Reimann in ihrer Vorstellung von Reichardts Garten in einem Literaturhaus-Führer zu Sachsen-Anhalt, ohne Steffens als Quelle zu nennen: Zwei Bedienstete ließ er [Reichardt] im Waldhornblasen unterrichten, damit sie seine Töchter begleiten konnten. „Nicht allein um das Klavier versammelt, hörte man sie gern singen. Wenn, oft an […] lauen und stillen Sommerabenden, die alten wehmütigen […] deutschen Gesänge, von dem Waldhorn begleitet, in dem stillen Garten erklangen, war der Eindruck hinreißend.“9
Übrigens weicht auch Reimann mehrfach vom Original ab, und nicht nur orthographisch.10 Die hochfrequenten Fehler beim Zitieren von Steffens’ idyllisierender Beschreibung des Gartens sind ein Indiz dafür, dass dieser kleine Ausschnitt seiner Autobiographie auch heute nicht nur ein Text für Philologen und Publikationen mit wissenschaftlichen Interessen (und Standards) ist. Oder anders akzentuiert: Bis auf diesen besonderen Punkt ist die öffentliche, über Spezialistenkreise hinausreichende Rezeption von Steffens geschrumpft. Denn der aus
|| 7 Heidi Ritter u. Eva Scherf: Die Weltseele durchlebt alles. Die vergessene Geschichte der mitteldeutschen Romantik. Halle 2006, S. 58. 8 Ebd. Im Original gibt es keines der drei Kommata, auch heißt es dort „Vermittelung“, vgl. VI, 85. Nach welcher Ausgabe von Steffens’ Autobiographie Ritter und Scherf zitieren, zeigt sich an „knapperten“ (statt „knopperten“ im Original bzw. ‚knabberten‘ als heute geläufigerem Wort): „knapperten“ ist die Form in der stark gekürzten Ausgabe: Henrich Steffens: Was ich erlebte. Hg. v. Willi A. Koch. Leipzig 1938, S. 231; dasselbe gilt für „Vermittlung“ statt „Vermittelung“ und die vom Original abweichende Interpunktion. Jacob und Wilhelm Grimm (Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. [in 32]. Leipzig 1854–1960, Bd. 5, Sp. 1484) unterscheiden knoppern (oder knappern) von knabbern und paraphrasieren: „an hartem hörbar nagen, kauen“ – was auf die „Kräuter“ vertilgenden Hasen in Reichardts Garten allerdings nicht passt. 9 Angelika Reimann: Reichardts gastlicher Garten in Giebichenstein. In: Jens-Fietje Dwars (Hg.): Dichter-Häuser in Sachsen-Anhalt. Kulturhistorische Portraits. Bucha 1999, S. 176–183, hier S. 179. 10 An den durch die Auslassungspunkte gekennzeichneten Stellen stehen im Original „schönen“ bzw. „lyrischen“, vgl. VI, 84.
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eigener Wahl deutsche und genaue preußische Patriot, als der Steffens sich in seiner Autobiographie ebenfalls präsentiert, ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts kein Sympathieträger mehr. Auffällig ist dies zumal im Vergleich mit der Steffens-Rezeption in der ersten Jahrhunderthälfte, als wiederholt gekürzte und dabei auf die deutsch-patriotischen Passagen konzentrierte Ausgaben für das sogenannte gebildete Lesepublikum erschienen.11 Der als Idylliker zitierte Steffens ist freilich ein verkürzter Steffens. Denn wie im Folgenden gezeigt werden soll, stellt der Kontext seiner Autobiographie die scheinbar so gepriesene Idylle von Reichardts Garten unter gravierende Vorbehalte. Steffens hat durchaus Sinn und Sympathie für das Idyllische, doch sieht er in der Reichardt’schen Gartenidylle eine Täuschung, genauer eine Selbsttäuschung, zumal unter den politischen Umständen, die in seiner Beschreibung des in Halle Erlebten entscheidend sind. Diese politischen Umstände – der Zusammenbruch Preußens unter dem Angriff Napoleons sowie die von Steffens herbeigewünschte und schließlich aktiv betriebene nationale Erhebung gegen die Franzosen – spielen in keinem der Texte, die Steffens’ Idyllenbeschreibung zitieren, auch nur die geringste Rolle.12 Alle diese Texte zitieren Steffens daher falsch in einem Sinne, der sich nicht bloß nach orthographischer Korrektheit bemisst, sondern, viel grundlegender, hermeneutische Kontextualisierung einschließt.13
|| 11 Vgl. Henrik Steffens: Lebenserinnerungen aus dem Kreis der Romantik. In Auswahl hg. v. Friedrich Gundelfinger. Jena 1908; ders.: Was ich erlebte. 1802–1814. Knechtschaft und Freiheit. In unwesentlichen Teilen gekürzt hg. v. Th. Landsberg. Leipzig 1913; ders.: Was ich erlebte (wie Anm. 8). Die erste dieser Auswahlausgaben enthielt wiederum nichts über Reichardt und seinen Garten. 12 Das gilt auch für Erich Neuß (Das Giebichensteiner Dichterparadies und die Herberge der Romantik. Hg. v. Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V. Halle 2007), der bis auf ein Komma korrekt zitiert, vgl. ebd., S. 57–66. In der wissenschaftlichen Literatur wird der Zusammenhang von romantischem Denken (bei Steffens und seinem Umfeld) und antinapoleonischer Politisierung dagegen durchaus gesehen, vgl. Theodore Ziolkowski: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. Aus d. Amerikanischen v. Lothar Müller. München 1994, S. 344–351. Bei Ziolkowski ‚fehlt‘ hingegen Steffens’ topische Beschreibung von Reichardts Garten. 13 Eine weitere Variante falschen Zitierens ist die Zuschreibung des (ironiefreien) Zitats „Reichardts Garten ist die schönste Komposition seines Lebens und seines Geistes“ an Steffens, so im Wikipedia-Artikel „Herberge der Romantik“ (Bearbeitungsstand: 05.02.2023), über den Reichardt’schen Garten, vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Herberge_der_Romantik &oldid=230550174 [01.04.2023]. Es stammt von dem Archäologen Wilhelm Dorow, einem Cousin von Steffens’ Frau, und beginnt so: „Reichardts Garten ist wohl […]“. Wilhelm Dorow: Erlebtes aus den Jahren 1790–1827. Bd. 3. Leipzig 1845, S. 53.
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Aber schauen wir genauer, auf welche Weise Steffens die Idylle des schwiegerväterlichen Gartens ironisiert und mit welchen Mitteln er sie als realitätsuntauglich darstellt (Kap. 2). Konzeptionell entscheidend ist die Kombination von Idyllik und nationaler Emphase in Steffens’ Autobiographie. Zum Teil handelt es sich um eine Kombination von Elementen, die Steffens als einander abstoßend begreift – das stellt der erste, längere Part meiner Analyse dar (Kap. 3). Zum Teil bringt der Autor beides aber auch zusammen. Nicht der Reichardt’sche Garten, wohl aber die Idyllen seiner Kindheit sind in Steffens’ Geschichts- und Gesellschaftsbild positive Bezugspunkte (Kap. 4).
2 Eine Gartenidylle und ihre Ironisierung Reichardts Garten ist heute ein städtischer Park. Zweieinhalb Kilometer nördlich vom Stadtzentrum liegt er nahe der Saale zwischen Porphyrfelsen, überragt von der Burgruine Giebichenstein. 1794 erwarb der preußische Hofkapellmeister das ursprünglich gut doppelt so große, bis an den Fluss reichende Gelände. Nachdem er in Berlin wegen publizistischer Parteinahme für die Französische Revolution entlassen worden war, wohnte er hier und widmete sich der Bepflanzung seines Gartens sowie der Anlage von Aussichtspunkten und Wegen. Seine Berühmtheit schon unter den Zeitgenossen verdankt der Garten zumal Reichardts prominenten Dichtergästen, die seine Schönheit, seine Ruhe, seine Vielgestaltigkeit priesen: Goethe, die Geschwister Brentano, die Schlegels, Achim von Arnim, Tieck, Varnhagen von Ense, Eichendorff, um nur einige zu nennen.14 Oder eben Steffens. Überall, wo er wie vorgeführt zitiert wird, ist er der Kronzeuge einer Idylle: von Naturnähe und -schönheit, von einer Natürlichkeit, die scheinbar keiner Kunst bedarf, von Ruhe und einem vollkommenen Frieden, der Mensch und Natur einschließlich der Tiere umfasst, von Einklang und Harmonie im konkreten musikalischen wie im abstrahiert existentiellen Sinne, von der Vermeidung sowohl von Eintönigkeit als auch aller Härten, von intensiver Stimmung, von starken, aber sanften Gefühlen der Verbundenheit. Steffens ruft in seiner Beschreibung des Reichardt’schen Gartens und der dortigen Musikpraxis zunächst zahlreiche Idyllenmotive auf und spricht auch explizit von der
|| 14 Vgl. Harald Tausch: „Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst“. Erdichtete Architekturen und Gärten in der deutschsprachigen Literatur zwischen Frühaufklärung und Romantik. Würzburg 2006, S. 209–214.
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„stillen friedlichen idyllischen Ruhe“, die darin geherrscht habe.15 Jedoch tut er dies in einer Weise und in einem Kontext, die den idyllischen Charakter des Gartens sowie des Lebens in ihm in Frage stellen. Wenn man die immanente Ironisierung, mit der Steffens seine Idyllisierung des Reichardt’schen Anwesens begleitet, sowie den keineswegs idyllischen Kontext der Gartenbeschreibung berücksichtigt, entpuppt sich Steffens als Kritiker einer Idyllik, die in Gefahr steht, über die Realität hinwegzutäuschen und im Extremfall sogar gesellschaftsuntüchtig zu machen. Steffens’ Einwand gegen die von ihm beschriebene Idylle ist, wie ich zeigen möchte, dass sie einen Frieden und eine Harmonie inszeniert, die den Rückzug aus der Gesellschaft wünschenswert und zur proaktiven Gestaltung des Lebens, sei es des eigenen, sei es der ganzen Nation, unfähig machen. Indizien für eine solche idyllenkritische Lesart bieten zum einen die zitierten Sätze: Denn der Schluss der Passage und zugleich des ganzen Absatzes enthält mit der Formulierung „es war als sollte hier das unruhige und unstete Leben des Besitzers eine versöhnende Vermittelung finden“ (VI, 85) einen Hinweis darauf, dass Reichardts Lebensrealität ganz anders aussah. Die typisch romantische Formulierung „es war als …“ mit darauffolgendem Konjunktiv II führt zudem Irrealis-Konnotationen mit sich, und in der Tat verzichtet Steffens auf eine Bestätigung, dass der Garten „versöhnend“ wirkte. Am Anfang der Gartenbeschreibungspassage wiederum wirkt die zweimalige Erwähnung von Waldhörnern arg signalhaft romantisch. Indem Steffens ausführt, wer die Waldhörner geblasen hat – nämlich der Kutscher und ein weiterer Bediensteter –, konterkariert er das romantische Motiv des üblicherweise fernen Waldhorns mit anonymem Bläser zudem durch eine sozialanalytische Konkretion, die ernüchternd wirkt. So lässt Steffens die Gemachtheit des romantischen Musikeindrucks erkennen (im selben Satz schreibt er, wie wir sahen, dass die Gesänge der Töchter „großen Eindruck machten“). Kurzum: Seine vordergründig emphatische Schilderung führt hier wie auch am Ende des Absatzes auf subtile Weise ein kritisches Moment mit. Dasselbe gilt für Steffens’ Beschreibung der paradiesischen Gewaltlosigkeit, derer sich explizit „alle“ Tiere erfreuten, sogar im Küchengarten. Während die Nachtigallen, die zahlreich in den Büschen nisten, eine perfekt romantische Ergänzung der zuvor gelobten menschlichen Stimmen durch Vogelgesang ergeben, zeugen die Hasen, die die Küchenkräuter vertilgen dürfen, von einem offenbar übertriebenen Harmoniebedürfnis der Bewohner dem Tierreich gegen-
|| 15 Grundlegend zur Idylle vgl. jetzt Jan Gerstner, Jakob C. Heller u. Christian Schmidt (Hg.): Handbuch Idylle. Verfahren – Traditionen – Theorien. Stuttgart 2022.
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über. Aber warum sehe ich hier eine Ironisierung durch Übertreibung und verstehe Steffens nicht einfach als frühen Tierrechtler? Im selben Band seiner Autobiographie gibt es eine weitere Garten- oder genauer Parkbeschreibung im Zusammenhang mit Heinrich von Krosigk und dessen Gut Poplitz 35 Kilometer nordwestlich von Halle. Steffens spricht sehr positiv davon, ohne Ironie, und betont, das in jenem Park gehaltene Wild sei mit großer ‚Achtsamkeit‘ (wie man heute sagen würde) geschossen worden (vgl. VI, 230). Aber eben geschossen, soweit ernährungsmäßiger Bedarf bestand. Das ist erkennbar gegen die als adliges Vergnügen betriebene Jagd ohne Rücksicht auf Verluste geschrieben, wodurch der ‚paradiesische Friede‘ zwischen Tier und Mensch, der bei Reichardt herrschte, zugleich als Übertreibung zur anderen Seite hin erscheint. Übrigens gibt es das Motiv, dass in einem Garten oder Park nicht gejagt oder, so wörtlich in Dorothea Schlegels Roman Florentin von 1801, „ein Schuß gehört“ werden darf, auch in anderen romantisch gestimmten Texten.16 Es handelt sich also nicht nur um ein Stück wiederhergestelltes Paradies, sondern auch um ein Ideal speziell der Literatur um 1800. Steffens ironisiert es aus noch zu ermittelnden Gründen. Zum anderen ist es der erzählerische und, vom Gegenstand her, familiengeschichtliche Zusammenhang, in dem die Schilderung von Reichardts Garten steht, der diese Idylle in Frage stellt. Denn die Gartenbeschreibung ist nur der kleinere Teil eines langen Absatzes, der zunächst und vornehmlich Steffens’ Schwiegermutter gewidmet ist. Gleich im ersten Satz charakterisiert er sie als „eine durch das Glück verzogene Frau“: Sie lebte fortdauernd in bequemer Ruhe, alles Unangenehme wurde ihr verschwiegen. Die mannigfaltigen Verdrießlichkeiten und Verwickelungen, in welche Reichardt nicht selten gerieth, wußte er seiner Frau meist zu verbergen. Selbst wenn er von Gläubigern gequält ward, lebte sie völlig sorglos. (VI, 82f.)
Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete ihre enge Bindung an das eigene Haus und den schönen Garten mit seiner, wie es in auffälliger Adjektivhäufung heißt, „stillen friedlichen idyllischen Ruhe“ (VI, 85). Johanna Reichardt (geb. Alberti, verw. Hensler) „verließ das Haus fast nie. Halle war ihr nur wenig bekannt; sie besuchte zuweilen, doch sehr selten, Freundinnen in der Stadt, aber dann fuhr sie herein und wieder heraus, ihre einzige Bewegung bestand in Spaziergängen in dem reizenden Garten.“ (VI, 83) Dieses Zurückgezogensein in der eigenen
|| 16 [Dorothea Schlegel:] Florentin. Ein Roman hg. v. Friedrich Schlegel. Bd. 1 [mehr nicht erschienen]. Lübeck u. Leipzig 1801, S. 18. Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Dr. Christiane Holm (Halle).
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kleinen, idyllisch zurechtgemachten Welt dürfte zum einen schlicht Unwissenheit darüber erzeugt haben, wie es in der Welt zugeht. Zum anderen wurde sogar die existentielle Unsicherheit des Lebens in ihrem engsten Umkreis vor ihr verborgen, wie Steffens anhand einer recht intimen Episode illustriert: Ein Sohn ertrank als Gymnasiast in Magdeburg beim Schlittschuhlaufen, aber selbst diese Todesart, die so erschütternd war, wußte man zu verheimlichen; man ließ den Sohn erkranken, die Krankheit zunehmen und zuletzt in einer mildern Form den Tod herbeiführen. Erst mehrere Jahre später erfuhr sie, wie sie das Kind verloren hatte. (VI, 83)
Ob das eine glaubhafte Schilderung ist, was die Überbringung der Todesnachricht angeht, lasse ich dahingestellt. Unverkennbar ist jedenfalls Steffens’ Absicht, die Herrin des Reichardt’schen Gartens als jemanden darzustellen, der sich über die Härten des Lebens betrügt und ebenso betrogen wird. Die Idyllik des Gartens ist Teil dieses Betrugs.17
3 Vom national indifferenten Gelehrten zum preußisch-deutschen Patrioten: Politische Gründe für Steffens’ Idyllenkritik Warum störte sich Steffens an solcher Ruhe und Idyllik? Johanna Reichardts Umgang mit dem Tod des Sohnes mag er deshalb als falsch empfunden haben, weil er kurz vor der Übersiedlung von Kopenhagen nach Halle mit dem Tod seines eigenen ersten Kindes konfrontiert gewesen war. Es starb wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Mutter, die vom Kindbett-Fieber befallen war, es nicht mehr stillen konnte (vgl. V, 107). Laut Steffens’ retrospektiver Selbstdarstellung reagierte er darauf nicht mit Verdrängung, sondern mit naturphilosophischer Sublimierung und aufbruchsbereiter Tatkraft. Zum einen spricht er von einer „Ahnung, daß der Tod eine Entwickelung sei“ (V, 108), also kein absolutes Ende bedeute, zum anderen sah er eine Zukunft vor sich, die ihn optimistisch stimmte: „[M]ir schwebte aber meine Thätigkeit in Deutschland als die Morgenröthe eines heiteren Tages vor der Seele. Ich sollte, unterstützt durch die beweglichen jugend-
|| 17 Noch einmal betont sei, dass es sich um die Perspektive von Steffens handelt und genauer um seinen Rückblick aus den frühen 1840er Jahren. Ob der Garten für seine Herrin tatsächlich eine so ausgeprägt eskapistische Funktion hatte und wie Steffens die Situation beurteilte, als er sie miterlebte, erfahren wir aus seiner Autobiographie nicht zuverlässig.
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lichen Geister eines großen Volkes, die große geistige That eines neuen Jahrhunderts vorbereiten helfen.“ (V, 109f.) Den Verlust des leiblichen Kindes hoffte er – so können wir etwas direkter sagen – durch die Zeugung geistiger Nachkommenschaft zu kompensieren. Steffens wollte wirken, und zwar in möglichst großem Maßstab, wenn auch zunächst im akademischen Bereich. Nach dem zu urteilen, was er über seine Tätigkeit an deutschen Universitäten schreibt (vgl. V, 152f.), ging diese Hoffnung in Erfüllung. An dieser Stelle ist ein wenig zum Lebensweg von Steffens nachzutragen. Sein „Vaterland“ war ursprünglich Dänemark, wie er auch 1841 noch schreibt (IV, 429). 1773 im norwegischen Stavanger geboren, das damals zur dänischen Monarchie gehörte, studierte er zunächst in Kopenhagen, und zwar Naturwissenschaften statt der eigentlich vorgesehenen Theologie. Mit einer mineralogischen Arbeit wurde er 1797 von der Kieler Universität promoviert. Auch Kiel war Teil der dänischen Gesamtmonarchie, gehörte aber nicht zu Dänemark, sondern zum Römischdeutschen Reich; der dänische König war hier Landesherr in seiner Eigenschaft als Herzog von Holstein. Fast überdeutlich handelt es sich mithin um eine Situation vor der Durchsetzung des modernen Nationalstaats. Empfindungen nationaler Zugehörigkeit und den Diskurs darüber gab es zwar schon in dieser vormodernen Gemengelage von Loyalitäten, aber es galt noch nicht das Prinzip, dass sich Nation und politische Ordnung geographisch decken sollten. Die politische Loyalität wiederum galt weniger einem Staat als – viel konkreter, weil persönlicher verstanden – dem jeweiligen Herrscher(haus). Ein weiterer Pluralisierungsfaktor war in Dänemark die Zweisprachigkeit der Führungsschichten (Dänisch und Deutsch); so bediente sich Prinzregent Frederik, der spätere Frederik VI., vorzugsweise der deutschen Sprache. Ein rigider Identitätsfaktor war nur die Konfession: In Dänemark musste man orthodoxer Lutheraner sein, und mit seiner Naturphilosophie erfüllte Steffens diese Anforderung nicht.18 Unter diesen Voraussetzungen war es keineswegs per se eine ‚nationale‘ Entscheidung, dass Steffens 1798 nach Jena ging und Professuren an drei preußischen Universitäten annahm, 1804 in Halle, 1811 in Breslau und 1832 in Berlin. Doch ist Deutschland für ihn schon früh das Land einer begründeten Wahl. Zunächst gilt das in philosophischer, literarischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht. Seine Helden sind zuerst Kant und Goethe und dann mehr noch Schel-
|| 18 Deshalb durfte er nicht in Kopenhagen lehren, als die Universität Halle von Napoleon geschlossen wurde, vgl. Bernd Henningsen: Nachwort. Henrik Steffens: Was er erlebte. Person – Programm – Rezeption. In: Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. Bd. 1. Hg. v. Bernd Henningsen. 2., korrigierte Aufl. Berlin o.J., S. 215–245, hier S. 228f.
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ling sowie Abraham Gottlob Werner, der große Mineraloge, zu dem er nach Freiberg pilgert.19 Die nach-kantische deutsche Philosophie und die von Werner verkörperte romantische Naturwissenschaft ziehen ihn an, weil sie den Mut zu einem spekulativen Denken haben, das eine All-Einheit der Welt, ja des Kosmos, sowie von Natur und Geist voraussetzt und dieser nachspürt. Vorbereitend für die 1806, im Augenblick der preußischen Niederlage gegen Napoleon, einsetzende Politisierung wirkt jedoch, dass Steffens die einheitsorientierte Spekulation jener Philosophen, Dichter und Naturwissenschaftler als spezifisch deutsch versteht und dass er auch dem gegenteiligen, empiristischen Prinzip eine Nationalität, nämlich die französische, zuordnet (vgl. IV, 416). Literarische Vorprägungen kommen hinzu, und so schreibt Steffens – der noch wenige Jahre zuvor die Französische Revolution begrüßt hatte (vgl. V, 177) – über die Zeit seiner ersten Deutschlandreise: Ich haßte Frankreich, gewiß mit jugendlichem Eifer einseitig; seine Poesie war mir von früh an schon durch Lessing verhaßt, seine Philosophie widerwärtig, und wenn mir die Revolution in ihrem ersten Ursprunge noch immer wichtig und folgenreich erschien, so kam sie mir doch, als sie ein dämonisches Princip bis auf die Spitze trieb, verhängnißvoll finster vor. (IV, 55; vgl. V, 173)
Die Schärfe der Formulierung mag hier mehr dem Rückblick, aus dem Steffens schreibt, als seinem Erleben von 1798 entsprechen. Dass er sich bereits damals für eine von ihm als spezifisch deutsch wahrgenommene Philosophie, Wissenschaft und Literatur entschied, ist jedoch deutlich genug: „[M]ir schwebte aber meine Thätigkeit in Deutschland als die Morgenröthe eines heiteren Tages vor der Seele. Ich sollte, unterstützt durch die beweglichen jugendlichen Geister eines großen Volkes, die große geistige That eines neuen Jahrhunderts vorbereiten helfen.“ (V, 109f.) Obwohl Steffens in einer national geradezu paradigmatisch uneindeutigen Gemengelage aufwuchs, nationalisiert er seine intellektuellen Sym- und Antipathien. Das war noch kein politisch definierter Nationalismus, bereitete diesen aber vor. Wir werden gleich sehen, welchen Einfluss dies auf Steffens’ Bewertung des Idyllischen hatte. Abstrakt formuliert, setzt der Autobiograph Steffens der Geschlossenheit des Gartens seinen Aufbruch in ein anderes, größeres Land entgegen und der naturhaft zyklischen Zeitlichkeit des organischen Lebens den Willen zum Ein-
|| 19 Vgl. Dezsö Gurka: Henrik Steffens’s Attempt at a Schellingian Interpretation of the Earth’s Comprehensive History. In: ders. (Hg.): Time in the „Third Kingdom of Nature“. Prehistory of Palaeontology and Palaeoanthropology and Its Philosophical Contexts. Budapest 2021, S. 101– 116.
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wirken auf den Lauf der Geschichte. Was an der Idyllik des Reichardt’schen Gartens trügerisch und falsch sei, hat er in einem wichtigen Punkt aber erst durch den preußischen Kampf gegen Napoleon gelernt. Die Anteilnahme am Kampf gegen die Franzosen beendete seinen Status eines „fremden Gelehrten, der bis dahin nur für seine Studien lebte, und sich wenig um die Politik bekümmerte“ (V, 172). Im Augenblick der Gefährdung Preußens durch Napoleon wurde Steffens zum preußischen Patrioten mit Sinn auch für das militärische Fundament jeglicher Souveränität: Ein jeder wahre preußische Bürger fing jetzt an einzusehen, daß alle höheren geistigen wie materiellen Interessen lediglich an eine kriegerische Gesinnung geknüpft waren. Mir ward es von jetzt an, ich möchte sagen, ein Axiom meines bürgerlichen Lebens, das mir Heiligste, daß Deutschland im eminentesten Sinne nur durch den preußischen Staat als solchen gerettet werden könne. Und ich darf es sagen, es gab von jetzt an keinen treueren preußischen Unterthanen, der mehr bereit gewesen wäre, sein ganzes Dasein dem Staate zu opfern, als ich. (V, 179, vgl. V, 175)
Obwohl gebürtiger Däne und ‚bloß‘ ‚Wahl-Deutscher‘, bildet Steffens damit ein geradezu idealtypisches Beispiel für die Formierung des deutschen Nationalismus, wie sie von Thomas Nipperdey beschreiben wird: „Wir sprechen von Nationalismus, wo die Nation die Großgruppe ist, der der einzelne in erster Linie zugehört, wo die Bindung an die Nation und die Loyalität ihr gegenüber in der Skala der Bindungen und Loyalitäten obenan steht, Nation ein oberster innerweltlicher Wert wird“. Wie Nipperdey einige Zeilen weiter ausführt, erhält dieser moderne Nationalismus einen „religiösen Zug“ und wird mit „religiösen Prädikaten“ belegt,20 im zitierten Fall mit dem Heiligen und sogar „Heiligsten“. Idealtypisch ist Steffens’ Fall außerdem, indem er exemplifiziert, dass es „die Herrschaft Napoleons gewesen [ist], die das klassisch-romantische Nationalgefühl und -bewußtsein der Deutschen politisch gemacht hat“.21 Das letzte Steffens-Zitat enthält zugleich eine kleine Theorie über das Verhältnis zwischen dem preußischen Staat und Deutschland als nicht staatlich verfasster Nation: Als mächtigster Staat im protestantischen Deutschland habe Preußen die Pflicht, dem ‚deutschen Geist‘ einen staatlichen Kristallisationspunkt zu bieten und dem als ideelle Heimat verstandenen Deutschland Schutz zu geben.22 (Die katholischen Landesteile laufen bei Steffens wie bei vielen
|| 20 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1998, S. 300. 21 Ebd., S. 303. 22 Zu Steffens’ Überzeugung von Preußens ‚deutschem Beruf‘ vgl. auch VI, 135–137.
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deutschen Intellektuellen seiner Zeit mit, ohne mehr als ausnahmsweise ernstgenommen zu werden.23) Dieser Punkt ist wichtig, weil Nation und Staat in Deutschland erst 1871 einigermaßen zur Deckung gekommen sind. Der deutsche Nationalismus hatte daher stets mit dem Problem zu kämpfen, dass die Nation mehr war als einer der existierenden Staaten. Ausgerechnet auf Preußen zu setzen lag nach dessen katastrophaler Niederlage bei Jena und Auerstedt zudem nicht unbedingt nahe. Steffens jedoch gewann gerade der Niederlage einen optimistisch stimmenden, patriotischen Sinn ab (so zumindest seine Autobiographie): Die Schlacht von Jena, behauptete ich, eben in diesen Tagen der Hoffnungslosigkeit, wäre der erste Sieg über Napoleon, denn er hatte die mit ihm im Bunde stehende Schwäche vernichtet, und von jetzt an in allen Preußen die innere großartige Erbitterung hervorgerufen, die sich endlich bewaffnen und siegen mußte. (V, 209)
Tätig geworden im Sinne dieser Überzeugung ist Steffens, als er 1813, und zwar noch vor dem Aufruf des Königs „An mein Volk“ vom 17. März, seine Studenten zum Kampf gegen die Besatzer aufrief (vgl. VII, 75–79)24 und selbst als preußischer Offizier in den Krieg zog. Seine Waffen waren allerdings Worte, nämlich patriotische Reden. Unsere Beobachtungen zur Idylle des Reichardt’schen Gartens einerseits und zu Steffens’ Nationalbewusstsein andererseits lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die beglückenden Verhältnisse, in denen er vor 1806 in und um Halle gelebt hatte – in freundschaftlich-begeisternder Kollegialität vor allem mit Schleiermacher,25 als Inspirator der ihn verehrenden Studenten und mit seiner Familie –, stellten sich im Lichte der Niederlage gegen Napoleon als in einer fundamentalen Täuschung befangen dar: „Aber der Boden, aus welchem ein so erfreuliches Leben hervorwuchs, war hohl, und ich ahnte es nicht.“ (V, 163) Die Idylle des Reichardt’schen Gartens weist Steffens demnach in einem Sinne als
|| 23 Vgl., als Ausnahme, Steffens’ Erzählung von seiner sympathetischen Bekanntschaft mit dem Landshuter Theologen und späteren Regensburger Bischof Johann Michael Sailer (VIII, 353–356). 24 Diese Episode akzentuiert die Auswahlausgabe der Autobiographie von 1913 (vgl. Anm. 11), dem Centenarjahr der preußischen Erhebung gegen Napoleon. Sie zeigt als Frontispiz ein Foto des Gemäldes „Professor Henrik Steffens begeistert seine Zuhörer für den Freiheitskrieg (Breslau 1813)“ von Arthur Kampf (1891), das in der Alten Nationalgalerie in Berlin hing: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Arthur_Kampf_-_Professor_Henrik_Steffens_begeistert_seine_ Zuh%C3%B6rer_f%C3%BCr_den_Freiheitskrieg_(Breslau_1813).jpg [11.08.2023]. 25 Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Bd. 1,2: 1803–1807. Hg. v. Martin Redeker. Berlin 1970, S. 109–125.
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problematisch aus, der weit über die psychische Verfassung von Steffens’ Schwiegermutter hinausreicht, nämlich in einem politischen Sinne, wenngleich der Autobiograph dies allein durch die dargelegten internen Textbezüge andeutet. (Voraussetzung meiner Interpretation ist mithin, dass es sich um einen komponierten Text handelt, der nicht allein auf die berichteten ‚Inhalte‘ hin zu lesen ist, sondern auch durch seine Form Bedeutung erzeugt.) Sich dem Ernst des Lebens oder der Lage nicht zu stellen, sondern ihn zu verdrängen, verband die auf die Spitze getriebene Idyllik des Gartens und das blinde Selbstvertrauen der preußischen Führungsschicht vor 1806. Letzteres und überhaupt das preußische Selbstverständnis musste, so Steffens, zunächst bis ins Mark erschüttert werden, um dann neu und nun selbstkritisch wieder aufgebaut werden zu können: zum Beispiel so konkret „thätig“, wie es Steffens von der Gutsherrschaft des vorhin erwähnten Krosigk berichtet, nämlich durch den Bau einer Art von „Colonistenhäusern“ für „treue Tagelöhner“ (VI, 229). Der Krosigk’sche „Landsitz“ (ebd.) mit seinem patriotisch-sozialen Nützlichkeitsprimat dient in diesem Punkt erneut als Gegenmodell zur ganz der Schönheit „geweihten Stätte“ (VI, 85) von Reichardts Garten. So macht denn auch wieder symbolischen Sinn, was 1806 mit Reichardts Besitz geschah: Wie Steffens’ Autobiographie berichtet, wurde das Haus verwüstet, und der Garten verfiel (VI, 81). Als Reichardts Frau mit den Töchtern nach Halle zurückkehrte, zogen sie notgedrungen mit in die Steffens’sche Wohnung „in der Stadt“ (VI, 82). Die Zeit der Idylle war vorbei, zumindest vorläufig. Ebenfalls bezeichnend ist, dass die Beschreibung des Gartens erst an dieser Stelle von Was ich erlebte erfolgt. Gegen die Chronologie wird von der perfekten Idylle erst erzählt, nachdem sie zerstört ist und sich herausgestellt hat, dass ihr „Boden […] hohl“ war (V, 163). Auch das ist eine Form der erzählerischen Kontextualisierung, die eine kritische Distanzierung von dem Berichteten impliziert. Ein Kronzeuge der Reichardt’schen Idylle war Steffens nicht im affirmativen Sinne, sondern indem er – wenn auch subtil, mit einiger Rücksicht auf seine Familie und durchaus selbstkritisch – die darin steckende Flucht vor der „Wirklichkeit“ aufdeckt, die er trotz seiner Neigung zur idealistischen Naturphilosophie nicht aus den Augen verlieren wollte (V, 153). Seine Beschreibung von Reichardts Garten warnt davor, sich mit der Idylle zu betrügen.
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4 Ein Syntheseentwurf: (National-)Geschichte als entelechiale Steigerung der Kindheitsidylle Verfehlt wäre es gleichwohl, Steffens eine generelle Opponierung von Idylle und Realität, Gesellschaft oder Geschichte zuzuschreiben. In einer seinen Lebensweg resümierenden Bemerkung schreibt er vielmehr, es habe „sich der stille Naturgenuß meiner Kindheit und Jugend, die Idylle meines frühern Lebens zur Geschichte gesteigert“ (VIII, 241). Idylle und Geschichte bezieht er hier aufeinander als etwas, das durch einen Steigerungsprozess miteinander verbunden ist. In einem letzten Abschnitt sei dargelegt, welche Denkweise dem zugrunde liegt und wie sie sich mit dem eben konstatierten Widerstreit von Idylle und (auch politischer und nationaler) Geschichte verträgt. Ein idyllisches Leben hatte Steffens, wie er im ersten Band seiner Autobiographie mehrfach explizit vermerkt, vor allem in seiner Kindheit (vgl. I, 82, 85, 88, 98, 320). In Naturbeschreibungen, die das eingegrenzte Landleben der Familie am Öresund gegen den weltausgreifenden Schiffsverkehr auf dem Meer profilieren (vgl. I, 97f.), wird das in ebenso unaufdringlicher wie unmissverständlicher Weise plastisch. Dazu gehörte auch religiöse Heilsgewissheit, nämlich nicht als aus der Welt herausführende Jenseitsverheißung, sondern als innerweltliche Vertrauensweckung: „Der Ostertag erschien mir als der größte Festtag der Natur, der Geschichte und eines jeden Menschen.“ (I, 152) In solch verheißungsvollem Anfang verlebte Steffens, wie er schreibt, „die reichsten [Jahre] meines Lebens“ (I, 126). Zunächst durch ein vom Vater gefördertes Interesse für die politischen Umbrüche in Amerika sowie Frankreich, durch religiöse Zweifel und dann durch sein Studium trat er jedoch aus diesem klar umgrenzten Kreis heraus, sowohl geistig als auch lebenspraktisch. Trotzdem ließ er nicht vom Ideal einer „Einheit“ ab, die die ganze Welt umfasst, in der er jeweils lebte (X, 18). Für den jungen Akademiker verbürgte die Naturphilosophie diese Einheit (vgl. VI, 37). Die Einheit von Sein und Denken, von Natur und Gott, von Empirie und Spekulation, die er als Naturphilosoph postulierte, ist, wie er weiß, jedoch nur ein Entwurf. Dass dieser sich nicht einholen lässt durch Erfahrung – sei es eine wissenschaftliche oder eine lebenspraktische Erfahrung –, wurde Steffens zum Problem, als er sein Leben nicht mehr als Weg zu diesem Ziel hin wahrnehmen konnte. Genau dies war 1806 der Fall, als die Franzosen die preußische Schutzmacht seines allintegrativen Weltbilds (so Steffens’ Darstellung) besiegten. In dieser Situation entpuppte sich die Idylle von Reichardts Garten als Täuschung.
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Der katastrophale Lauf der Geschichte zerstörte diese Idylle. Zugleich maß Steffens der Geschichte aber auch die Aufgabe zu, erneut ‚Einheit‘ heraufzuführen (vgl. X, 19). Und tatsächlich stellte sich, so seine Darstellung, mit der preußischen Erhebung gegen Napoleon dann eine bisher ungekannte Einheit von Geist und Tat, von König und Volk, von Staat und Nation, Individuum und Gemeinschaft ein (vgl. VI, 138).26 Diese ist zwar auch in Steffens’ patriotischwohlwollender Sicht nicht makellos, denn die Zeitläufte bringen immer auch „Verwirrung“ mit sich (VIII, 241). Insgesamt aber kann er die Geschichte, die er selbst erlebt und sogar mitgestaltet hat, als eine entelechiale Entwicklung begreifen, die sich der in der kindheitlichen Idylle erfahrenen Einheit auf der höheren Stufe des gesellschaftlichen Ganzen wiederannähert.27 Offenkundig ist Steffens hier der triadischen Struktur der romantischen Geschichtsphilosophie verpflichtet, mit der Einheit des Ursprungs, mit deren Verlust im Fortgang der Geschichte und mit der von derselben Geschichte erwarteten Wiederherstellung von Einheit, und zwar auf einer höheren Stufe.28 Die Idylle des lebensanfänglich Einfachen ist demnach nicht nur etwas, das der strebende Mensch hinter sich lassen muss, sondern auch Vorschein des zu Erreichenden. Diesem Vorschein gerecht wird wiederum nur der tätig Strebende und nicht, wer sich in seine private Idylle zurückzieht, wie Steffens’ Schwiegermutter es tat. In die so hoffnungsbesetzte Geschichte integriert der alte Steffens auch den Gott, dem er in seiner Kindheit vertraut hatte, bevor er ihn zum naturphilosophischen Spekulationsobjekt machte (vgl. VIII, 153). Die Erhebung Preußens gegen Napoleon stellt sich im Anschluss daran als Analogon zur Auferstehung Christi dar, die den jungen Steffens mit „Seligkeit“ erfüllt hatte (I, 151), wörtlich als „Wiedergeburt“ (VI, 196; VII, 119). Die Niederlage von 1806 wäre dann konsequenterweise der ‚Tod‘ oder eben der ‚Karfreitag‘ der Nation, und man könnte die Analogie noch dahin weiterführen, dass die idealistischen und romantischen Intellektuellen sich nicht anders als Jesu Jünger darüber täuschten, wel-
|| 26 Wie Werner Abelein (Henrik Steffens’ politische Schriften. Zum politischen Denken in Deutschland in den Jahren um die Befreiungskriege. Tübingen 1977) zeigt, bestimmte das Einheitsprinzip der Naturphilosophie auch Steffens’ politisches Denken. 27 Zur Engführung von eigenem Leben und politischer Geschichte, Innenwelt und Außenwelt als Struktur von Steffens’ Autobiographie vgl. Günter Oesterle: Henrik Steffens: Was ich erlebte. Spätromantische Autobiographie als Legitimierung eines romantischen Habitus. In: Annegret Heitmann u. Hanne Roswall Laursen (Hg.): Romantik im Norden. Würzburg 2010, S. 191– 206, insbes. S. 196. 28 Vgl. die klassische Studie von Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. 2., unveränderte Aufl. Tübingen 1994.
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che Härten auf der Agenda standen oder, anders formuliert, welchen Weg durch das ‚Reich des Todes‘ die Geschichte nehmen musste. Letztlich ist es eine Heilsgeschichte, die Steffens erzählt – und zwar vor allem eine nationale. Idylle und Geschichte bzw. Nation können darin auseinandertreten, wie er an Reichardts Garten zeigt; sie sollen aber konvergieren und tun dies im Ergebnis auch, zumindest in seiner Autobiographie.
5 Zusammenfassung Das Verhältnis von Idylle und Nation lässt sich in zwei divergente Richtungen auslegen. Zum einen als Gegensatz; in diesem Fall werden die Friedlichkeit und Begrenztheit der Idylle sowie das Selbstverständliche, Vor-Reflexive und Selbstgenügsame ihrer Lebensform betont, während eine Nation sich erst dann bilden könne, wenn die Begrenztheit und das Statische der Idylle überschritten werden. Die als Staat verfasste Nation gilt dabei als höhere Entwicklungsstufe menschlichen Zusammenlebens, doch hat auch die Idylle ihre Faszinationskraft, weil ihr ein einfacheres Leben zugeschrieben wird, ohne den Krieg insbesondere, der die post-idyllische Geschichte durchzieht. Die damit angedeutete historische Abfolge von ursprünglicher Idylle und post-idyllischer Nation kann, zum anderen, aber auch als eine zu wünschende, ja historisch notwendige Steigerung verstanden werden, in der Anlagen zu dieser Höherentwicklung bereits in der scheinbar noch so ruhigen Idylle stecken, während von der ausgebildeten Nation eine neue Idyllik mit Eintracht und Harmonie erhofft wird. Je stärker diese Höherentwicklung als kontinuierliche Steigerung gedacht wird, desto entelechischer erscheint sie. Die Autobiographie von Henrik Steffens, dem im ländlichen Dänemark aufgewachsenen, in Jena und Halle mit den Romantikern eng befreundeten und im Zuge der anti-napoleonischen Kriege zum preußischen Patrioten gewordenen Mineralogen und Naturphilosophen, ist ein Text, den beide Varianten prägen. In Steffens’ vielzitierter Beschreibung des Reichardt’schen Gartens, der sogenannten „Herberge der Romantik“ am hallischen Saaleufer, wird die gesuchte Idylle auf der einen Seite ironisiert und aus politischer Perspektive kritisiert. Auf der anderen Seite zieht sich durch seine Autobiographie eine große Steigerungslinie von der Kindheitsidylle bis zur Erhebung gegen Napoleon.
Anna Sandberg
Geselligkeit im dänischen Gesamtstaat um 1800 Henrik Steffens und die Rolle der Frauen in den Kopenhagener und Kieler Salons Eine Kartographierung der Geselligkeit und der Salons im kulturellen Leben Dänemarks um 1800 zeigt mehrere Zentren: Nicht nur Kopenhagen und Kiel waren wichtige Orte, sondern auch die Herrenhäuser und Güter auf dem Lande im Königreich und in den Herzogtümern.1 Henrik Steffens bewegte sich als ‚Kind des Gesamtstaats‘ in dieser polyzentrischen Kultur zwischen Haupt- und Residenzstadt, zwischen den Universitäten Kopenhagens und Kiels, zwischen Stadt und Land und weiter auch zwischen Dänemark und Deutschland.2 Mit dieser geographischen Mobilität ging auch eine sprachliche und soziale einher: Steffens bewegte sich zwischen Sprachen, Klassen und Geschlechtern. Diese drei Dimensionen bestimmten auch seine Teilhabe an den unterschiedlichen Formen der Geselligkeit. Um genau diese den gesamtstaatlichen Kulturraum durchziehenden Unterschiede des Salonlebens zwischen Adel und Bürgertum soll es im Folgenden gehen. Diese regionale Binnenstruktur war für die kulturelle und politische Kommunikation in vielerlei Hinsicht bedeutend. Im Zentrum soll aber insbesondere die Rolle der Frauen in den Salons stehen, denen sie vorstanden.3 Steffens war ein genauer Beobachter der geschlechtsspezifischen Performativität in den unterschiedlichen Zirkeln und trug zu ihrer Vermittlung bei.
|| 1 Vgl. vor allem Anne Scott Sørensen: Den nordiske kreds. En dansk-tysk aristokratisk salonkultur. In: dies. (Hg): Nordisk salonkultur. Et studie i nordiske skønånder og salonmiljøer 1780–1850. Odense 1998, S. 147–170. 2 Zu Steffens’ Biographie als deutsch-dänischer Grenzgänger vgl. Fritz Paul: „Ein Meister aus der Ferne“. Henrik Steffens als Grenzgänger und Kulturvermittler. In: Heinrich Detering (Hg.): Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften. Göttingen 1996, S. 115–131; Horst Joachim Frank: Der Naturphilosoph aus dem Norden: Henrich Steffens. In: ders.: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 3: 19. Jahrhundert. Teil 1: Im Gesamtstaat. Neumünster 2004, S. 43–80; Bernd Henningsen: Henrik Steffens. Ein norwegisch-dänisch-deutscher Gelehrter, ein europäischer Intellektueller, ein politischer Professor. In: ders. u. Jan Steeger (Hg.): Henrik Steffens. Einleitung in die philosophischen Vorlesungen. Freiburg u. München 2016, S. 159–199. 3 Zur Definition und Diskussion des Salons vgl. Petra Wilhelmys Einleitung in dies.: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert. Berlin u. New York 1989, S. 1–33. https://doi.org/10.1515/9783111358826-007
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Die einflussreiche These von Jürgen Habermas, wonach das literarische Leben der Aufklärungszeit als ‚Vorform‘ einer politischen Öffentlichkeit funktioniert habe und damit eine wesentliche Grundlage der modernen europäischen Demokratien gewesen sei, hat von verschiedenen Kulturhistorikern gewisse nationalkulturelle Modifizierungen erfahren. Die Faktoren des von Habermas beschriebenen Strukturwandels treffen laut Jürgen Schiewe eher auf England und Frankreich denn auf Deutschland zu.4 Im dänischen Gesamtstaat des 18. Jahrhunderts hatte sich, parallel zu den Entwicklungen im gesamten nordeuropäischen protestantischen Raum, eine Sozialstruktur herausgebildet, die Kulturleben, Geselligkeit und die entstehende Öffentlichkeit auf eine Art beeinflusste, die Dieter Lohmeier auf die Formel „Verbürgerlichung der Adelskultur“ gebracht hat.5 Damit bezeichnet er die Tatsache, dass der Adel im aufgeklärten Absolutismus weitgehend innerhalb des Staates und im fürstlichen Dienst Karriere machte und seine Sozialisation und Bildung nach den neuen bürgerlichen Normen ausrichtete. Lohmeier führt den dänischen Gesamtstaat als typische Verkörperung dieser Mischkultur vor, die zugleich in hohem Maße konfliktträchtig war: Spannungen gab es sowohl im Selbstverständnis des Adels als auch zwischen Adel und Bürgertum.6
1 Die Salons, die Frauenforschung und die Quellen Die neuere und inzwischen differenzierte und reiche Forschung zur deutschen Salonkultur der Aufklärung und der Romantik seit Ende der 1980er Jahre mit den einschlägigen Untersuchungen von Petra Wilhelmy und Peter Seibert war auch für die Aufarbeitung der Salonkultur im skandinavischen Raum anregend.7 Die
|| 4 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1962; Jürgen Schiewe: Öffentlichkeit. Enstehung und Wandel in Deutschland. Paderborn 2004; Iwan-Michelangelo D’Aprile u. Winfried Siebers: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2008, S. 23–25. 5 Dieter Lohmeier: Der Edelmann als Bürger. Über die Verbürgerlichung der Adelskultur im dänischen Gesamtstaat. In: ders.: Die weltliterarische Provinz. Studien zur Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins um 1800. Hg. v. Heinrich Detering. Heide 2005, S. 7–38. 6 Diese Entwicklung ist in Band 1 und 2 der von Ole Feldbæk herausgegebenen Dansk Identitetshistorie (Kopenhagen 1991/92) aufgearbeitet, wobei die nationalideologische Grundlage der Darstellung auch eine Zuspitzung auf das dänisch-deutsche Konfliktverhältnis bedeutet. 7 Anne Scott Sørensen verweist auf die Arbeiten von Petra Wilhelmy (Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert. Berlin u. New York 1989) und Peter Seibert (Der literarische Salon. Literatur
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dänische Salonforschung erhielt 1993 mit der ersten gesamtnordischen Frauenliteraturgeschichte wichtige Impulse, dazu kamen nach und nach Briefeditionen der Salonnières Kamma Rahbek (1775–1829) und Charlotte Schimmelmann (1757– 1816).8 Eine wesentliche Grundlage für die Untersuchung der Frauenrollen in den Jahrzehnten vor und nach 1800 bildete die zehnbändige Ausgabe der Briefe des dänisch-holsteinischen Adelskreises um das Haus von Reventlow, erschienen zwischen 1895 und 1931.9 Diese Edition erlebt aktuell in der historischen Forschung eine kritische Revision und mit ihr wird auch ein neues Licht auf die Tätigkeit und Einflussnahme von Frauen innerhalb dieser Zirkel geworfen (vgl. unten). Die Salonforschung ist überhaupt ein prägnantes Beispiel für eine Forschungslage, in der die empirischen Quellen eine grundsätzliche Neubewertung erfahren haben bzw. erfahren: Das Material, das zur Erforschung der Salonkultur herangezogen wird, besteht größtenteils aus Briefen, Tagebüchern, Autobiographien und Erinnerungen, sogenannten Ego-Dokumenten, und damit aus Quellen, die in der historischen Forschung lange als peripher angesehen wurden, u.a. weil ihnen eine andere Rezeption und ein anderer Öffentlichkeitsgrad beschieden war als etwa publizierte Werke.10 Petra Wilhelmy führt als Definitionskriterium eines Salons eine bestimmte öffentliche Reichweite durch zeitgenössische Briefe und Tagespresse an.11 Damit wird zugleich deutlich, dass Briefe um 1800 nicht privat, sondern semi-öffentlich waren, im breiteren Freundeskreis geteilt und gelesen wurden und mithin in einem kulturellen Milieu zirkulierten. Die Frauen im kulturellen Leben Dänemarks waren als Salonnières und Briefschreiberinnen tätig, nur wenige hatten die Möglichkeit, eigenständige Werke zu veröffentlichen. Karen Klitgaard-Povlsen führt in ihrer Übersicht über die Gattungen des Salons auch das – schwer zu dokumentierende – Gespräch an, das im Salon mit der höfischen Konversationsnorm bricht, indem das moderne Salongespräch auf der demokratischen Idee einer emotionalen, seelischen Gleichwertigkeit beruht.12 || und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart 1993) in ihrem „Prolog“ zu: Sørensen (Hg.): Nordisk salonkultur (wie Anm. 1), S. 9–15, hier S. 11. 8 Elisabeth Møller Jensen (Hg.): Nordisk kvindelitteraturhistorie. Bd. 2: Faderhuset. Kopenhagen 1993; Kirsten Dreyer: Kamma Rahbeks brevveksling med Chr. Molbech. 3 Bde. Kopenhagen 1993; Charlotte von Schimmelmann: Breve til Charlotte. Fra Sølyst til Weimar. Hg. v. Anne Scott Sørensen u. Annelise Ballegaard Petersen. Odense 2011. 9 Louis Bobé: Efterladte papirer fra den Reventlowske familiekreds i tidsrummet 1770–1827. 10 Bde. Kopenhagen 1895–1931. 10 Der Terminus „Ego-Dokument“ stammt von Winfried Schulze (Hg): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996. 11 Wilhelmy: Der Berliner Salon (wie Anm. 7), S. 2. 12 Karen Klitgaard Povlsen: Mellem hofkultur og dagligstue. Salonkulturen. In: Jensen (Hg): Nordisk kvindelitteraturhistorie. Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 16–22, hier S. 21.
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Eine wichtige Quelle zu Steffens sind seine Beobachtungen und Reflexionen in seinem monumentalen Erinnerungswerk Was ich erlebte. Es erschien 1840– 1844 in zehn Bänden und ist gleichermaßen eine dänisch-deutsche Kulturgeschichte und eine Autobiographie. Die Gattung gebietet Vorsicht, weil Steffens gleichsam als ‚retrospektiver Zeitzeuge‘ die Vergangenheit ebenso erdichtet wie sie sich subjektiv zurechtlegt.13 Aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums seines Erscheinens legte der dänische Kulturhistoriker Louis Bobé 1946 eine Gesamtdarstellung der kritischen zeitgenössischen dänischen und deutschen Rezeption dieses „Schlüsselromans“ vor,14 der, so erfährt man dort, sowohl von Adam Oehlenschläger (1779–1850) als auch von Alexander von Humboldt (1769–1859) mit Skepsis gelesen und nicht als wahrheitsgetreu beurteilt wurde.15 Fritz Paul analysiert Steffens’ Lebenserinnerungen als eine romantischmythologische Selbstinszenierung, in der besonders den Lebensphasen von Kindheit und Jugend eine übergroße Bedeutung zugeschrieben würden. Paul warnt vor einer kritiklosen Lektüre und einer voreiligen Übernahme des dort propagierten Selbstbildes, dem es ausgerechnet an Ironie und Humor – wichtige Kategorien der deutschen Frühromantik – letztlich fehle.16 Eine Legitimierung seines romantischen Habitus’ hebt auch Günter Oesterle als wesentliche Strategie bei Steffens hervor. Er versteht das Werk als Ergebnis einer spezifischen Textdramaturgie anhand der autobiographiestiftenden Elemente Entelechie, Wiedergeburt und Mission, interpretiert aber auch im Rückgriff auf Wilhelm Dilthey Steffens als „Mithandelnde[n]“ einer geistigen Bewegung: Dessen Subjektivität sei „nicht solipsistisch oder narzisstisch, im Gegenteil: Sie ist durch den Wechselverkehr der Geselligkeit und Freundschaft erweiterungsfähig“, so Oesterles Paraphrase einer Passage zu Steffens aus Diltheys Schleier-
|| 13 Vgl. auch Bernd Henningsen: Einführung. In: Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2014–2022, Bd. 1, S. 7– 11, hier S. 11. 14 Louis Bobé: Antegnelser til Henrik Steffens’ „Was ich erlebte“. In: Personalhistorisk Tidsskrift 1 (1946), S. 1–24, Zitat S. 1. 15 Ebd, S. 1f. Schon ein Jahr nach der deutschen Publikation von Steffens’ Lebenserinnerungen erschien eine – laut Bobé allerdings mangelhafte – dänische Übersetzung von Frederik Schaldemose, vgl. ebd., S. 3. Seit der Erstausgabe (Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Breslau 1840–1844) sind erschienen: eine von Friedrich Gundolf herausgegebene Auswahl (Jena 1908), ein Neudruck mit einer Einleitung von Dietrich von Engelhardt (Stuttgart 1995) sowie die vollständige zehnbändige Neuausgabe von Henningsen (wie Anm. 13), die ich hier verwende. 16 Fritz Paul: Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik. München 1973, S. 35–37. Vgl. auch Helge Hultberg: Den unge Henrich Steffens 1773–1811. Kopenhagen 1973; ders.: Den ældre Henrich Steffens 1811–1845. Kopenhagen 1981.
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macher-Biographie.17 Diltheys Charakterisierung kann zwar nicht für sich allein die Persönlichkeit des Porträtierten einfangen, aber sie trifft einen zentralen Wesenszug: Steffens’ ausgeprägte Sozialität. Steffens wirkte im Austausch, im Gespräch, in der Geselligkeit und setzte sich selbst stets in Bezug zu seiner jeweiligen Umgebung. Im Hinblick auf die Gattungsmerkmale seiner Lebenserinnerungen ist festzustellen, dass bei Steffens Autor, Erzähler und Protagonist identisch sind und somit die narratologischen Bedingungen der Autobiographie (nach Philippe Lejeune) als erfüllt gelten dürfen.18 Im Folgenden werde ich den Text als subjektiven Zeitzeugenbericht lesen. Im Fokus stehen insbesondere die kulturellen Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie Steffens’ Blick auf Formen der Geselligkeit, die er in den dänischen und dänisch-deutschen Salons seiner Zeit vorfindet und, damit verbunden, die Rolle, die den Frauen im kulturellen Leben dieser Epoche zukommt. Was ich erlebte ist ein Werk mit einer Wirkungsgeschichte und liest sich somit auch als ein Beitrag zu einer soziokulturellen Geschichte der Geschlechter und Genderkonstruktionen im 19. Jahrhundert. Die Salons gelten allgemein als eine Übergangszone in der Geschichte der Gleichstellung und der Frauenemanzipation, insofern hier beide Geschlechter Kunst und Kritik ausüben konnten. Frauen hatten damit eine tätige und produktive Rolle inne in einem ansonsten restaurativen 19. Jahrhundert, das sie vornehmlich als Leserinnen und Publikum, als mehr oder weniger passive Rezipientinnen von Kultur wahrnahm.19 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, inwiefern nun auch Steffens die Geselligkeit und die Geschlechterrollen in seinem Werk bewusst reflektiert und ob er den Salons die Funktion einer solchen ‚Übergangszone‘ für die Frauen seinerseits zugesteht.
|| 17 Günter Oesterle: Henrich Steffens: Was ich erlebte. Spätromantische Autobiographie als Legitimierung eines romantischen Habitus. In: Annegret Heitmann u. Hanne Roswall Laursen (Hg): Romantik im Norden. Würzburg 2010, S. 191–207, hier S. 205. Die Originalpassage, auf die Oesterle referiert, findet sich in Wilhelm Dilthey: Einleitung. In: ders.: Leben Schleiermachers. Bd. 1. Berlin 1870, S. v–xiv, hier S. xiii. Vgl. auch Per Øhrgaards thematische Lektüre des Werks als politische und kulturelle Ereignisgeschichte in ders.: Was er erlebte. Henrik Steffens’ selvbiografi og den tid, den skildrer. In: Benedikt Jager u. Heming Gujord (Hg.): Henrik – Henrich – Heinrich. Interkulturelle perspektiver på Steffens og Wergeland. Stavanger 2010, S. 50–63. 18 Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975. In Anlehnung an Serge Doubrovsky (der den Begriff der autofiction für seinen 1977 erschienenen Roman Fils erstmals gebraucht und daher als Initiator der theoretischen Diskussion gilt) könnte man die Kritik an einer strikten Trennung von Autobiographie und Fiktion auch hier anbringen und somit Steffens’ Werk als eine solche Autofiktion betrachten. 19 Sørensen: Prolog (wie Anm. 7), S. 12.
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2 Die Geselligkeit als männliche Sozialisationsform: Steffens in Kopenhagen und in Kiel Der zweite Band von Was ich erlebte ist geradezu eine Fundgrube für das Studium der Stadtgeschichte Kopenhagens in den ersten Jahren nach der französischen Revolution, für die Offenlegung der sozialen und intellektuellen Zustände an der Universität und für die Erforschung der politischen, kulturellen und sozialen Milieus der dänischen Hauptstadt, nicht zum Mindesten für die Aufdeckung des Salonlebens eines relativ kleinen städtischen Milieus, als sich die literarische und die politische Öffentlichkeit langsam zu ändern, zu modernisieren begann,
schreibt Bernd Henningsen in seiner Einführung zur Neuausgabe.20 Neben den eigentlichen Salons zählte zu den Wissensorten auch die akademischen Gesellschaften und die Bibliotheken (private und Leihbibliotheken) sowie die Klubs, in denen disputiert, diskutiert und teilweise auch sozial experimentiert wurde. Hier waren Wissenschaft, Politik und Kunst Gegenstand des Austauschs, der im Zeichen einer männlichen Geselligkeit stand. Juliane Engelhardt unterscheidet in ihrer Typologie des Vereinswesens im dänischen Gesamtstaat des 18. Jahrhunderts zwischen literarisch-wissenschaftlichen (Salons, Kaffeehäuser und gelehrte Gesellschaften), staatlich-praktischen (patriotische Gesellschaften) und literarisch-öffentlichen (Freimaurerlogen, Klubs und Lesegesellschaften) Vereinsformen, die nur zum Teil als chronologisch abgeschlossene Phasen zu verstehen sind. Die Salons existierten vielmehr im gesamten Zeitraum ab Mitte des 18. bis ins 19. Jahrhundert als wichtige kulturelle Zentren.21 Im Kopenhagen der 1790er Jahre hatte der Kritiker, Herausgeber und Schriftsteller Knud Lyne Rahbek (1760–1830) eine herausragende Rolle in der Ausbildung der männlichen Studenten der Universität inne, und zwar nicht nur
|| 20 Bernd Henningsen: Einführung. In: Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 7–11, hier S. 8. 21 Juliane Engelhardt: Borgerskab og fællesskab. De patriotiske selskaber i den danske helstat 1769–1814. Kopenhagen 2010, S. 53–65. In der u.a. von Johan Fjord Jensen herausgegebenen soziologischen Literaturgeschichte Dänemarks werden vor allem die Klubs in ihren politischen Funktionen als bürgerliche Opposition zur Aristokratie beschrieben, vgl. Johan Fjord Jensen u.a. (Hg.): Dansk litteraturhistorie. Bd. 4: Patriotismens tid (1746–1807). Kopenhagen 1983, dort das Kapitel „Borgerlig oplysning“ („bürgerliche Aufklärung“), S. 488–511. Bakkehuset wird als Anlaufpunkt für ein empfindsam-literarisches Milieu eingeordnet und knapp beschrieben, vgl. ebd., S. 474 u. 580. Vgl. auch Anne-Marie Mai: Klub og salon. In: ders: Hvor litteraturen finder sted. Bd. 2: Længslens tidsaldre 1800–1900. Kopenhagen 2010, S. 114–134.
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als literarischer Mentor, sondern auch als Wirt des geselligen Zirkels Borups Selskab, wo Theaterstücke geübt und aufgeführt wurden.22 Die jungen Männer, die mit den Worten Steffens’ „sich später in ihren erwählten Fächern am meisten auszeichneten“, zu „tüchtigsten Beamten“ wie zu den „gründlichsten Gelehrten“ avancierten,23 spielten, da weibliche Mitglieder vom Kreis ausgeschlossen waren, auch die Frauenrollen; damit funktionierte dieser Kreis auch als eine Art soziales Labor, das nicht nur auf das Leben im öffentlichen Dienst vorbereitete, sondern auch ein Experimentieren mit Geschlechterrollen erlaubte. Neben diesem künstlerischen Zirkel war Steffens auch in Kreisen unterwegs, die stärker im Zeichen von Wissenschaft und Politik standen: Er war zum einen Mitglied in der „Naturhistorischen Gesellschaft“ (Naturhistorie-Selskabet) und in der „Naturwissenschaftlichen Disputiergesellschaft“ (Det Naturvidenskabelige Disputer-Selskab), debattierte zum anderen mit politisch Gleichgesinnten im Neergaards kaffehus, das als Jakobinerklub Kopenhagens galt.24 Steffens schildert durchaus distanziert die Tendenz zur politischen Demagogie und zum ‚Gratismut‘ dieser prorevolutionären Versammlung. Allein Malthe Conrad Brun (Malte-Brun) (1775–1826) und Peter Andreas Heiberg (1758–1841) ragen für ihn als positive Ausnahmen aus dem Kopenhagener Milieu hervor; ihre öffentlich geübte Kritik an den politischen Verhältnissen zwang sie sogar ins Exil.25 In Kiel, der zweiten Universitätsstadt des Gesamtstaats, erlebte Steffens in den Jahren 1796–1798, wo er studierte, Vorlesungen hielt und promovierte, die für eine kleinere Stadt besondere Nähe zwischen Professoren und Studenten, merkte aber zugleich an, dass ein ständiges Gefühl des Fremdseins blieb. Kiel ist weder Kopenhagen noch Deutschland: In Kiel war ein fremdes Volk, hörte ich eine fremde Sprache, umgaben mich fremde Verhältnisse, ja, was ich in Deutschland suchte, schien mir hier nicht entgegen zu kommen; der mächtige Kampf der Geister fand hier, nach meiner damaligen Ansicht, keinen ächten Repräsentanten. Ich sehnte mich tiefer in das Land hinein.26
Steffens verkehrte mit Professoren im Familienkreis, besuchte sie privat und benutzte ihre Bibliotheken und Sammlungen. Die akademische Geselligkeit
|| 22 Vgl. Engelhardt: Borgerskab og fællesskab (wie Anm. 21), S. 61 sowie Paul: Henrich Steffens (wie Anm. 16), S. 51–53. 23 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 63. 24 Vgl. Frank: Der Naturphilosoph aus dem Norden (wie Anm. 2), S. 45. Zu den Jakobinerklubs in den Herzogtümern vgl. Engelhardt: Borgerskab og fællesskab (wie Anm. 21), S. 62. 25 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 154f. 26 Ebd., Bd. 3, S. 177.
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Kiels spielte sich laut des Mikrohistorikers Otto Ulbricht teilweise in Kaffee- und Wirtshäusern ab, teilweise in Gaststätten auf dem Land, besonders im Stadtteil Dorfgarten außerhalb von Kiel am Ostufer, wo sich Professoren und Studenten, aber auch Offiziere, Geistliche und Beamte trafen. Hier wurde unter Männern gegessen, geraucht, getrunken und gespielt.27 Die gemeinsamen Spaziergänge zum Dorfgarten hinaus erfüllten einen doppelten Zweck: Sie führten zum einen den Umgang zwischen Professor und Student öffentlich vor; zum anderen waren sie auch gesundheitlich motiviert, da Bewegung als gut für Geist und Körper galt. Bei Steffens lesen wir zudem von bei ihm selbst und seinesgleichen nicht weniger beliebten solitären Wanderungen abseits des geselligen Lebens.28 Sowohl die Suche nach meditativer Abgeschiedenheit als auch das soziale Leben in Verbindung mit Mittagstischen und Kaffee- und Wirtshäusern können als Einübung in eine bildungsbürgerliche Lebensweise betrachtet werden, so Ulbricht, der mit Hinweis auf Georg Simmel Geselligkeit als eine zweckfreie „gespielte Gleichrangigkeit“ (zwischen Professoren und Studenten, teilweise auch zwischen Adel und Bürgertum) versteht.29 Insgesamt stellt Ulbricht für das akademische Milieu in Kiel eine Entwicklung hin teils zu einer Auflockerung der Konventionen bzw. einer tatsächlichen Gleichrangigkeit, teils zu einer politischen Polarisierung als Folge des nachrevolutionären Klimas der 1790er Jahre fest.30 Die typischen Aktivitäten eines Salonlebens – das Vorlesen von Literatur und Briefen, Deklamation, Rollenspiel und Hausmusik – sind im Material selten dokumentiert; der Medizinprofessor Christoph Heinrich Pfaff (1773–1852) berichtet aber vom gemeinsamen Lesen von Jean Paul bei den Schimmelmanns in Kopenhagen.31 Ulbricht beschreibt die Kieler Sozialität als eine von Männern geprägte, was aber auch an den die Überlieferung dominierenden „Männerquellen“, wie er es formuliert, liegt. In den gedruckten Autobiographien von gelehrten Männern werden die Geselligkeitsformen, an denen Frauen partizipieren, weitgehend ausgeblendet.32 || 27 Otto Ulbricht: Geselligkeit im akademischen Milieu: Kiel in den 1790er Jahren. In: Peter Albrecht, Hans Bödeker u. Erich Hinrichs (Hg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820. Tübingen 2003, S. 371–396. 28 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 3, S. 177. 29 Ulbricht verweist auf Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hg.): Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a.M. Tübingen 1911, S. 1–16, vgl. Ulbricht: Geselligkeit im akademischen Milieu (wie Anm. 27), S. 372. 30 Ulbricht: Geselligkeit im akademischen Milieu (wie Anm. 27), S, 392–395. Von Steffens wissen wir zugleich, dass die Adelskreise sich weitgehend isoliert hielten, vgl. Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 3, S. 173. 31 Ulbricht: Geselligkeit im akademischen Milieu (wie Anm. 27), S. 385. 32 Ebd., S. 376.
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3 Steffens und die Salons in Holstein und Kopenhagen In den 1780er und 1790er Jahren waren die Salons von Friederike Brun (1765–1835) auf Sophienholm und der bereits erwähnten Charlotte Schimmelmann auf Seelust nördlich von Kopenhagen wichtige Zentren des kulturellen Lebens. Im Winter wurden die Aktivitäten in ihren herrschaftlichen Wohnhäusern in der Innenstadt fortgesetzt. Hier versammelten sich Vertreter des Adels, des Beamtentums, der Diplomatie, Gelehrte und Künstler der Hauptstadt zu Diskussionen, Lesungen, Musik und Theateraufführungen. Prominente Persönlichkeiten wie Fichte, Herder, Lavater, Thorvaldsen, Mynster, Brøndsted, Zoëga, Hans Christian Ørsted und natürlich Jens Baggesen, Adam Oehlenschläger und Steffens verkehrten ebenfalls dort. Finanziell ermöglicht wurden die Salons durch die Geschäftsaktivitäten der Ehemänner: Constantin Brun (1746–1836) war Großkaufmann und königlicher Administrator für den Handel mit den dänischen Kolonien in Westindien. Ernst Schimmelmann (1747–1831) war Sohn des Handelsmanns Heinrich Carl Schimmelmann (1724–1782), Generalkommerzintendant und Plantagen- und Sklavenbesitzer in den dänischen Kolonien und wie sein Vater ebenfalls Handelsmann, Produzent und Fabrikbesitzer; die Geschäfte im atlantischen Dreieckshandel waren damit Grundlage des kulturellen Lebens der sogenannten „florissanten Zeit“ Dänemarks. Ab 1784 war Ernst Schimmelmann dänischer Finanz- und Handelsminister und zusammen mit dem Sozialreformer Christian Detlev Frederik von Reventlow (1748–1827) und dem dänischen Außenminister Andreas Peter von Bernstorff (1735–1797) eine wichtige Antriebskraft in der dänischen Reformpolitik Ende des 18. Jahrhunderts, die die Bereiche Landwirtschaft, Schule, Handel und Finanzen sowie die Kulturpolitik im Zeichen eines aristokratischen Humanismus und aufgeklärten Absolutismus modernisierte.33 1792 wurde der Sklavenhandel auf Initiative der dänischen Regierung zwar verboten, in den überseeischen Kolonien bestand Sklavenarbeit jedoch weiter fort.34 Charlotte Schimmelmann betätigte sich am Schulunterricht in den Fabriken, sie engagierte sich in philanthropischer Arbeit || 33 Vgl. Niels Brimnes: Ernst Schimmelmann 1747–1831. In: danmarkshistorien.dk, 7. Januar 2013, https://danmarkshistorien.dk/vis/materiale/ernst-schimmelmann-1747-1831 [18.04.2023], der auf Christian Degns Studie Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen (Neumünster 1974) verweist. 34 Vgl. auch York Gothard-Mix: „Die Leibeigenen selbst nennen ihren Zustand Sklaverei“. Erbuntertänigkeit und Kolonialismus im dänischen Gesamtstaat der Spätaufklärung. In: Søren Peter Hansen u. Stefanie Stockhorst (Hg): Deutsch-dänische Kulturbeziehungen im 18. Jahrhundert = German-Danish Cultural Relations in the 18th Century. Göttingen 2019, S. 135–152.
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und war eine wichtige Mediatorin zwischen Kunst, Politik und Wirtschaft, insbesondere auch deshalb, weil sie zwischen Künstlern und Mäzenen vermittelte.35 Die wichtigen Kultur- und Salonzentren in Holstein waren die Güter Knoop und Emkendorf. Hier lebten Schwestern von Ernst Schimmelmann: Caroline Baudissin und Julia von Reventlow. Ein weiterer Begegnungsort war Tremsbüttel, wo Louise Stolberg (1759–1826), die Schwester des Grafen Johann Ludwig von Reventlow (1751–1801), wohnte. Die Frauen bildeten hier Zentren der norddeutschen Literatur; so verkehrten etwa auf Emkendorf neben den Autoren des Göttinger Hainbunds, den Stolberg-Brüdern, Voss, Boie, Claudius, auch die Philosophen Jacobi und Reinhold zusammen mit anderen Professoren der Kieler Universität.36 Im holsteinischen Adel kümmerte man sich in Anlehnung an den sogenannten dänischen „Insel-Adel“ (auf Fünen und Lolland) um die Gesundheit der Landbevölkerung, um Bauernaufklärung und Philanthropie, Bildung und Pädagogik, entfernte sich aber im Laufe der Jahre von der Kopenhagener Reformpolitik.37 Julia von Reventlow (1763–1816) entwickelte mit der Zeit einen konservativen Lutheranismus, der die kulturelle Vielfalt Emkendorfs etwas einengte – im Unterschied zu den kulturellen Aktivitäten in Tremsbüttel, wo die Ideale der Französischen Revolution gefeiert wurden und eine unorthodoxe Religiosität vorherrschend war.38 Sowohl die Reventlow als auch Louise Stolberg waren als Schriftstellerinnen tätig und publizierten ihre Texte in Journalen und Zeitschriften.39
4 Adel und Bürgertum im Kulturleben: Steffens’ Wahrnehmung der Salonfrauen Steffens war als Teil der Kieler Geselligkeit ein Bindeglied zwischen Holstein und Kopenhagen und trug damit zum kulturellen Kreislauf im Gesamtstaat
|| 35 Vgl Anne Scott Sørensen: Min Laterna Magica – om Charlotte Schimmelmann og Sølyst. In: dies. (Hg.): Nordisk salonkultur (wie Anm. 1), S. 76–100, kürzlich zur Monographie erweitert: dies.: Min Laterna Magica. Om Charlotte Schimmelmann og Sølyst. Kopenhagen 2020. Siehe auch den Übersichtsartikel von Kristine Dyrmann: Charlotte Schimmelmann, 1757–1816. In: danmarkshistorien.dk, 22. November 2022, https://danmarkshistorien.dk/vis/materiale/charlotte-schimmelmann1757-1816 [18.04.2023]. 36 Dieter Lohmeier: Der Emkendorfer Kreis. In: ders.: Die weltliterarische Provinz (wie Anm. 5), S. 39–70. 37 Ebd., S. 42. 38 Ebd., S. 62. 39 Vgl. Sørensen: Den nordiske kreds (wie Anm. 1), S. 157–162.
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bei.40 Seine Studienreise 1798 nach Jena, Halle und Berlin wurde ihm ermöglicht durch Ernst Schimmelmann. Steffens berichtet rückblickend in Was ich erlebte über seinen Besuch bei eben diesem in Seelust, der zwar im privaten Rahmen stattfand, von Steffens aber als eine Art ‚Männersalon zu zweit‘ beschrieben wird: Nach seiner reizenden Villa „Seelust“ (Soelyst), eine Meile von Kopenhagen, wanderte ich öfters zu Fuße hinaus, ein kleines Bündel auf dem Rücken tragend, blieb dann einige Tage da […]. Der späte Mittag versammelte die Familie, wenn der Minister aus der Stadt zurückkam. Leichte, doch immer bedeutende Gespräche erheiterten das Mahl; wenige eingeladene Gäste nahmen an diesem Theil. […] wenn nun der Abend kam, fing das vertrauliche Gespräch an. Wenn die auch gegen mich freundlich gesinnte Gräfin, wenn die Nichte und die Pflegetochter, die im Hause erzogen wurden, sich zurückgezogen hatten, ward das Gespräch immer reichhaltiger und für mich belehrender. Wenn der Minister ohne allen Zweifel an anderen Abenden im Gespräche mit ernsthaften, geschäftskundigen Männern sich über Gegenstände unterhielt, die dem Staate wichtig und heilsam sein mochten: so verschmähte er es doch nicht, an meinen naturwissenschaftlichen, philosophischen und dichterischen Träumen lebhaft Theil zu nehmen [...].41
Die Beziehung zu Schimmelmann wird trotz der Hierarchie als eine persönlichemotionale und fast symmetrische charakterisiert, weil sich beide laut Steffens der Aufklärung verpflichtet fühlen: Ich vermochte ihm nichts Anderes zu geben, als mein innerlich bewegtes, gährendes Selbst, und wie dieses nach Aufklärung rang, nach Licht strebte, und von nichts, als von unreifen Versuchen, ja meist von mislungenen zu sprechen wußte. Aber eben dieses schien ihm anziehend zu sein; seiner langen Erfahrung ungeachtet, schien er noch immer, selbst in den wenigen Stunden, die er der ruhigen Selbstbetrachtung widmen konnte, nach Licht und Klarheit zu ringen.42
Diese Charakterisierung des Ichs ist für Steffens typisch: Das Selbst ist dynamisch, begriffen in einem zugleich biologischen und epochalen Entwicklungsprozess; die organische Bildung soll der gesamtgesellschaftlichen Aufklärung
|| 40 Steffens’ soziale Rolle in Kiel und Kopenhagen wird in Johann Georg Rists Lebenserinnerungen sehr enthusiastisch beschrieben, vgl. Johann Georg Rist: Lebenserinnerungen. Erster Theil. Hg. v. Gustav Poel. Gotha 1880, S. 81–93. In Briefen Charlotte Schimmelmanns an Louise Stolberg wird sein Auftritt dagegen kritisch gesehen. Die erste Erwähung bei Schimmelmann in einem Brief von 1802 fällt noch positiv aus, in späteren Briefen (1804 und 1807) an Stolberg äußert sie sich dagegen sehr skeptisch, vgl. Charlotte Schimmelmanns Korrespondenz in Bobé: Efterladte papirer (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 217f., 230f., 252f. Vgl. auch Bobés Einleitung in ebd., Bd. 5, S. xi–cviii, hier S. lvi. 41 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 3, S. 201. 42 Ebd., S. 202.
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dienen. Die Aussage scheint fast ein Echo auf das mythologische Gespräch mit Oehlenschläger zu sein, das Steffens ähnlich als einen durch den Austausch mit dem Gegenüber in Gang gesetzten Bildungsprozess beschreibt: „Ich gab ihn sich selber, er erkannte den eigenen inneren Reichthum.“43 Im geselligen Umgang mit Männern jedenfalls scheint jenes ‚Selbst‘ für Steffens eine wichtige Komponente zu sein, die wiederum in seiner Beschreibung der Kommunikation mit Frauen keine Rolle zu spielen scheint. Die aristokratische Unterstützung durch Schimmelmann war für Steffens jedoch keineswegs unproblematisch. So deutet er in seinen Lebenserinnerungen an, dass sie Neid und Hass im Kopenhagener Milieu schürte, was auf antideutsche Ressentiments in Holstein zurückzuführen sei.44 Diese aufkeimende deutsch-dänische Opposition im Gesamtstaat hatte auch Bedeutung für das Salonleben und die Beziehungen insgesamt. In einer späteren Aufzeichnung beschreibt Steffens die bleibende Distanz zu Charlotte Schimmelmann, die sich auch in einer sozialen Hierarchie ausdrückt: Die geistreiche Gräfin, die selten oder nie das Haus verließ, wohl aber häufig Gesellschaft in ihrem Hause sah, schien mir gewogen; sie war eine vollendete Dame der großen Welt, und es war schon eine größere Aufmerksamkeit nothwendig, so wie ein vorsichtiges Betragen, wenn man sich ihre Gunst erhalten wollte.45
Diese Charakterisierung kann aber genauso gut auch als Teil einer „männerkodierten“ Wahrnehmung betrachtet werden. Die Historikerin Kristine Dyrmann zeigt in ihrer Studie auf, wie eine aus den Lebenserinnerungen des Privatsekretärs Ernst Schimmelmanns, Johann Georg Rist (1775–1847), stammende Beschreibung von Charlotte als „kränklich und reizbar“ („sygelig og pirrelig“) und „weiblichgräflich“ („kvindelig-grevelig“) von Louis Bobé 1902 in dessen Einführung zu Band 5 seiner Edition der Briefe des Reventlow-Kreises zitiert und gute hundert Jahre später vom Historiker Jens Engberg in seiner neuen Darstellung der dänischen Kulturpolitik unkommentiert wiederaufgegriffen wird.46 Hier wird ersichtlich, wie ein bestimmtes Frauenbild mehr oder weniger unkritisch weitertradiert wird.
|| 43 Ebd., Bd. 5, S. 30. 44 Ebd., Bd. 3, S. 202f. 45 Ebd., Bd. 5, S. 21. 46 Dyrmann verweist auf Louis Bobés Einführung in ders.: Efterladte papirer (wie Anm. 9), Bd. 5, S. ciii sowie auf Jens Engberg: Magten og kulturen. Dansk kulturpolitik 1750–1900. 3 Bde. Kopenhagen 2005, Bd. 1, S. 319f., vgl. Kristine Dyrmann: Salondiplomati og politisk selskabelighed. Charlotte Schimmelmann i dansk historieskrivning fra Louis Bobé til New Diplomatic History. In: 1700-tal: Nordic Journal for Eighteenth-Century Studies 17 (2020), S. 99–124, https://doi.org/10.7557/4.5650.
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5 Kamma Rahbek: Salon und Briefe Um 1800 wuchsen die politischen Spannungen im Gesamtstaat: Neben der ablehnenden Haltung gegenüber der Reformaristokratie Kopenhagens seitens des Landadels in Holstein bildete sich in der Hauptstadt eine bürgerliche Opposition heraus. Es entstanden neue Geselligkeitsformen und Institutionen, insbesondere Klubs und Treffpunkte für Gelehrte, Beamte und Kaufleute wie der Dreyers Club und die „Norwegische Gesellschaft“ (Norske Selskab), welche laut Steffens die öffentliche Meinung bestimmten und Einfluss auf die literarische Entwicklung hatten.47 Als bürgerlicher Salon auch für Frauen galt Bakkehuset („das Haus auf dem Hügel“), ab 1802 unter der Leitung von Kamma Rahbek, Ehefrau von Knud Lyne Rahbek.48 Die Salonnière wird von Steffens in ganz anderem Ton beschrieben als Charlotte Schimmelmann, mit detaillierten Angaben sowohl zu ihrem äußeren Erscheinungsbild als auch zu ihrem Auftreten: „Karen Margaretha, gewöhnlich Camma genannt, war eine höchst ausgezeichnete Frau; klein, beweglich, lebhaft.“49 Den Kontakt zu ihr schildert Steffens als einen intimen und persönlichen: Sie zog mich unwiderstehlich an. Es war eine Neigung ganz eigenthümlicher Art. Ich konnte die Freude nicht unterdrücken, wenn ich sie sah. Sie liebte es, mich und besonders meinen Enthusiasmus zum Gegenstande ihres Scherzes zu machen, aber jederzeit fand ich diesen vielsagend, geistreich, ja treffend.50
Hier ist nicht von Ehrfurcht und sozialen Unterschieden die Rede, sondern von Humor, Interaktion und einer egalitären Verhaltensweise. Bakkehuset lag abseits der Stadt in der ländlichen Gegend Frederiksberg, vor den Toren Kopenhagens. Essen und Einrichtung waren einfach-bürgerlich. Es herrschte eine informelle Stimmung, der Ton war humorvoll, und eine Umgangssprache mit Jargon und Kosenamen war üblich. Steffens erkennt Kamma Rahbeks botanisches und astronomisches Wissen an, erwähnt ihre Lesefertigkeiten in vielen Sprachen und schließt seine Charakteristik mit einer etwas überraschenden Schlussfolgerung:
|| 47 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 5, S. 36–42. Zur Entwicklung der Vereine und der Gesellschaften vgl. Engelhardt: Borgerskab og fællesskab (wie Anm. 21). 48 Fritz Paul bezeichnet Kamma Rahbek als „eine Art Madame de Staël des Nordens“. Paul: Henrich Steffens (wie Anm. 16), S. 50. Ansonsten beschränkt er sich aber weitgehend auf die Beschreibung des Ehemanns, Knud Lyne Rahbek, und dessen Bedeutung für Steffens. 49 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 13), Bd. 5, S. 29. 50 Ebd., S. 29f.
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Ich habe nie eine solche Trockenheit mit so vieler Wärme, eine so kalte Reflexion des Verstandes mit so viel geistreichem Witze verbunden gesehen. Sie schien mir völlig geschlechtslos. Desto lieber und anziehender war mir das rein Menschliche.51
Explizit verzichtet er hier auf eine Geschlechterzuordnung. Diese geschlechtsneutrale Position Kamma Rahbeks, die weder in die Rolle der Frau noch in jene des Mannes so recht hineinpassen will, verortet sich, so könnte man behaupten, jenseits der Androgynität, dieser im romantischen Denken so populären Kategorie, und scheint vielleicht eher ganz die Dualität aufzuheben. Auch Charlotte Schimmelmann gilt als ‚geistreich‘ und von ‚kaltem Verstand‘, Eigenschaften, die – darüber kann auch Steffens’ überraschendes Urteil mit Blick auf Rahbek nicht hinwegtäuschen – traditionell männlich konnotiert sind. Ein solches binäre Denken prägt die zeitgenössische Romanliteratur wie etwa Friedrich Schlegels Lucinde (1799), den Erfolgs- und Skandalroman der Epoche, wo im Teil über die „Lehrjahre der Männlichkeit“ das Feminine und das Maskuline als verschiedene Prinzipien dargestellt werden, die vereinigt eine neue Universalität hervorbringen.52 Binäres Differenzdenken mit Blick auf die Geschlechterfrage wird in der Genderforschung regelmäßig problematisiert, so auch in der neueren feministischen Romantikforschung, etwa bei Anne K. Mellor, die in der englischen Romantik Zuschreibungsmuster identifiziert: eine ‚maskuline‘ und eine ‚feminine‘ Romantik, die gegensätzlich orientiert und als ideologische und soziale Konstrukte aufzufassen sind. Die „männliche Romantik“ („masculine Romanticism“) zelebriert hiernach das autonome Selbst und das philosophische Bewusstsein, demgegenüber ist die „weibliche Romantik“ („feminine Romanticism“) auf Familie und Gemeinschaft ausgerichtet.53 Zwar gibt es in der Forschung zu Steffens bisher noch keine systematische genderkritische Analyse seines Denkens, aber in den Zitaten aus den Lebenserinnerungen lässt sich eine Typologisierung ausmachen, die allein das philosophische (Selbst-)Bewusstsein der Männer anerkennt und vielleicht gerade deshalb Kamma Rahbek mit ihrem geistreichem Witz und kühlem Verstand als nicht zur Kategorie Frau gehörend ver-
|| 51 Ebd., S. 30. 52 Vgl. hierzu Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werk – Wirkung. München 2000, S. 125f. 53 Anne K. Mellor: Thoughts on Romanticism and Gender. In: European Romantic Review 3/3 (2012), S. 343–348, hier S. 344f.
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steht.54 Es könnte zumindest ein Bewusstsein Steffens’ für den Perfomativitätsund Konstruktionscharakter von Geschlechtern andeuten.55 Wie im Fall Charlotte Schimmelmanns ist Kamma Rahbek nicht unbedingt als Kulturakteurin und Persönlichkeit, sondern vielmehr als Frau und Ehefrau in die dänische Literatur- und Kulturgeschichte eingegangen. Das Interesse für ihr Gefühlsleben und die Ehe mit Knud Lyne Rahbek ist auf zwei intensive Briefwechsel zurückzuführen, die Kamma über mehrere Jahre führte: zum einen mit dem Theologen und Pastor und späteren Bischof Jacob Peter Mynster (1775– 1854), zum anderen mit dem Bibliothekar und späteren Sprachforscher und Literaturhistoriker Christian Molbech (1783–1857). Gelesen wurden die Briefe lange als verschlüsselte Äußerungen von platonischen Liebesbeziehungen. Georg Brandes (1842–1927) behauptet in seinem langen Essay über Kamma Rahbek, dass ihre vielfältigen Geistesaktivitäten eine Kompensation für fehlende Liebesleidenschaft („Elskovslidenskab“) gewesen seien.56 Brandes glaubte so, Kamma Rahbek von den ihr gegenüber abwertenden Urteilen seiner Zeitgenossen um 1870 rehabilitieren zu können; bemerkenswert in seinem psychologisch und kulturhistorisch nuancenreichen Porträt ist seine, wenn auch nicht weiter reflektierte Beobachtung der paradoxen Tatsache, dass allein Knud Lyne Rahbek publizierend in Erscheinung trat, obwohl doch Kamma die eigentlich bessere Autorin gewesen sei, weil sie im Vergleich zu ihrem Ehemann weitaus moderner und zeitgemäßer geschrieben habe.57 Der Kirchenhistoriker Børge Ørsted bezieht in seiner Monographie über Steffens’ Einfluss auf Mynsters Religionsbegriff die große Bedeutung von Kamma Rahbek mit ein und würdigt ihre vielfältige Rolle als Diskussionspartnerin und Opponentin in Gesprächen und Briefen, als Leserin der Predigten und Texte von Mynster sowie als Netzwerkerin in Bakkehuset. Er charakterisiert sie zugleich als „geistige Hebamme“ („åndelig
|| 54 Diese These stimmt auch mit Per Øhrgaards Lektüre von Was ich erlebte überein, wenn dieser Steffens insgesamt eine konservative Auffassung von Geschlechterrollen und eine negative Bewertung von emanzipierten und gelehrten Frauen attestiert, vgl. Øhrgaard: Was er erlebte (wie Anm. 17), S. 62f. 55 Will man einmal Steffens’ Verhältnis zur großen Kategorie der Natur in der Romantik umreißen, so lässt sich, gelesen durch die analytische Brille Mellors, feststellen, dass Steffens sich vom ‚typisch maskulinen‘ Naturdenken der Zeit insofern unterscheidet, als seine Naturphilosophie nicht auf Beherrschung und Eroberung zielt. 56 Georg Brandes: Kamma Rahbek (1865, forbedret 1868). In: ders.: Kritiker og Portraiter. Kopenhagen 1870, S. 433–482, auch in ders.: Samlede Skrifter. Kopenhagen 1899–1910, hier zit. nach: Arkiv for Dansk Litteratur, https://tekster.kb.dk/text/adl-texts-brandes01tom-shootworkid55547 [04.02.2023], S. 4–6. 57 Ebd., S. 15 u. 17.
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jordemoder“) der bedeutsamen Männer ihrer Zeit.58 Mit den Worten Mynsters war Bakkehuset vor allem durch Kammas „Superiorität“ im dialektischen Diskutieren gekennzeichnet: Hier versammelten sich verschiedene Menschen, man kam und ging wieder, und ein Jeder benahm sich, wie er wollte, aber Frau Rahbeks Superiorität drückte auch der gleichgültigsten Konversation ein eigentümliches Gepräge auf. Bald ein lebendiger Widerspruch, bald ein innerlich geäußerter Beifall, bald eine bemerkte Albernheit riss das Gespräch aus dem Gewöhnlichen heraus [...].59
Aus dem Zitat geht hervor, wie Bakkehuset als ein geselliges Labor funktionierte, wie die Salonnière es verstand, verschiedene Rollen einzunehmen, um das philosophische Gespräch und das Denken anzutreiben, ähnlich der diskursiven Praxis der deutschen Frühromantiker. Hier bestätigt sich auch die Einordnung Klitgaard-Povlsens vom Salongespräch als Verwirklichung demokratischer Ideen. Kamma Rahbek und Henrik Steffens blieben auch nach 1800 im brieflichen Kontakt unter Einbeziehung von Steffens’ Ehefrau Johanna (geb. Reichardt) (1784–1855), die Kamma mit dem Kosenamen „Giebichenstein“ versah und als Korrespondentin schätzte, weil diese, so die dänische Salonnière, im Unterschied zu vielen anderen Frauen ohne jede Eitelkeit und ganz ‚natürlich‘ zu schreiben verstünde.60 Aus den Briefen geht zudem hervor, dass im geselligen Leben sowohl auf Dänisch als auch auf Deutsch kommuniziert wurde. In den politischen Krisenjahren nach der Schlacht bei Jena und der Schließung der Universität Halle durch Napoleon musste die Steffens’sche Familie bei Verwandten und Freunden in Schleswig und Holstein unterkommen. Sie lebte teilweise von Geldern, die Kamma Rahbek in Kopenhagen für sie gesammelt hatte, worüber die Briefe beredt Auskunft geben. Deren Salontätigkeit umfasste eben auch diese Form sozialer Unterstützung für Freunde in Not. Darüber hinaus lassen sich ihre Briefkorrespondenzen auch als wichtiger Beitrag für die Zirkula-
|| 58 Børge Ørsted: J. P. Mynster og Henrich Steffens. En studie i dansk kirke- og åndshistorie omkring år 1800. Bd. 1. Kopenhagen 1965, S. 392. 59 „Her samledes mange forskellige Mennesker; man kom og gik, og Enhver skikkede sig, som han vilde, men Fru Rahbeks Superioritet paatrykte ogsaa den ligegyldigste Conversation et eiendommeligt Præg. Snart en levende Modsigelse, snart et inderligen yttret Bifald, snart en bemærket Pudseerlighed rev Samtalen i en Hast ud af det Sædvanlige“. Mynster, zit. nach ebd., S. 300, Fußnote. Die Übersetzung stammt von mir. 60 Kamma Rahbek an Jacob Peter Mynster, 1806. In: Kamma Rahbek: Om Karen Margrethe Rahbeks Brevvexling og hendes Correspondenter. Hg. v. P[eter] H[enrik] Boye. Kopenhagen 1881, S. 54.
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tion von gesellschaftlichen Nachrichten über die Kriegsereignisse in Deutschland und Kopenhagen lesen.61
6 Tendenzen innerhalb der Salonforschung – ein kleiner Ausblick Abschließen möchte ich mit einem kurzen Ausblick zur komplexen Ausgangslage, wie sie die Salonforschung seit jeher kennzeichnet und in den Quellen selbst, in der Philologie, in der Wirkungsgeschichte und den verschiedenen Forschungskonjunkturen begründet liegt. Richtungsgebend für die Studienlage zu Charlotte Schimmelmann bzw. zu den holsteinischen bzw. deutschdänischen Akteurinnen im Allgemeinen war lange die von Bobé herausgegebene zehnbändige Edition der Briefe des Reventlow’schen Familienkreises (1895– 1931). Bobés Briefedition ist in der neueren Geschichtsforschung im Zeichen der sogenannten „New Diplomatic History“ und einer politisch orientierten Salonforschung einer gründlichen Kritik unterzogen worden. So weist die Historikerin Kristine Dyrmann aufgrund von vergleichenden Analysen zwischen veröffentlichtem Text und dem Material aus den Archiven Bobés verschiedene Auslassungen und Kürzungen in den publizierten Briefen nach, die insgesamt ein bestimmtes Bild der Frauen im Dienst von Kunst und Ästhetik entwerfen. Ausgeblendet werden dabei andere von Frauen in Briefen berührte Themen aus dem sozialen, gesellschaftlichen und politischen Bereich. Durch diese männlich geprägte Überlieferungstradition sind die Frauen grundsätzlich zu moralischen und künstlerischen Idealfiguren verklärt worden.62 Die zentrale Herausforderung lautet hier, Kultur und Politik weniger als getrennt voneinander existierende Sphären aufzufassen, um die dänischen Salons – und die Salonkultur schlechthin – nicht ausschließlich als Foren einer ästhetischen Kultur und Geschmacksbildung, sondern im erweiterten Sinne als politisch-soziale Geselligkeiten zu verstehen. Insbesondere neuere Forschungspositionen, wie die von Anne Scott Sørensen und Karen Klitgaard Povlsen vertretenen, werfen einen sehr viel differenzierteren Blick auf die Leistungen von Charlotte Schimmelmann und Kamma Rahbek. Sie zeigen, dass die schriftstellerischen Ambitionen dieser beiden Frauen vor allem im Medium des Briefes entfaltet wurden und
|| 61 Rahbek, in ebd., S. 49–53; Ørsted: J. P. Mynster og Henrich Steffens (wie Anm. 58), S. 285– 306. 62 Dyrmann: Salondiplomati og politisk selskabelighed (wie Anm. 46).
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dass ihre Briefe mit den dort verhandelten Fragestellungen zu ästhetischer Bildung und empfindsamer Philosophie genauso wie mit den dort thematisierten Sehnsüchten und allgemeinen Überlegungen zum Leben als Ausdruck einer weiblichen Subjektivität zu lesen sind.63 Diese Lektüren, so könnte man kritisch anmerken, tragen gerade aber auch mit ihrer Fokussierung auf die eingeschränkten Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der Salonnières zum Bild einer verunglückten weiblichen Emanzipation bei. Dass die Frauen in Salons und Briefen zugleich kulturelle und gesellschaftliche Akteure waren, ist zum großen Teil unsichtbar geblieben, teils weil die Quellenlage begrenzt ist und die Edition des Briefmaterials von bestimmten Interessen geleitet war bzw. ist, teils weil die zeitgenössischen Autobiographien der Männer nur die Geselligkeit und die Leistungen der männlichen Kollegen sichtbar machten. Aber auch die Literatur- und Kulturgeschichte weist eine Tendenz zur Tradierung von bestimmten ‚Frauenbildern‘ auf, an der nicht zuletzt auch Steffens mit seinen Erinnerungen partizipiert. Steffens vermittelt subjektiv und lebhaft seine Eindrücke von der Geselligkeit, von den Aktivitäten der Frauen und von den sozialen Oppositionen in Kopenhagen und Kiel und ist immer auch in einem Ausgleich mit anderen Quellen zu lesen. Seine Begegnung und sein Austausch mit Kamma Rahbek sind jedenfalls ein spannendes Kapitel der weiter zu erforschenden dänisch-deutschen Salon- und Frauengeschichte.
|| 63 Vgl. Sørensens Beiträge in dies. (Hg.): Nordisk salonkultur (wie Anm. 1) sowie KlitgaardPovlsen: Mellem hofkultur og dagligstue (wie Anm. 12).
Elisabeth Décultot
Farben und Landschaften bei Philipp Otto Runge und Henrik Steffens Ein Dialog Theorie und Praxis der Malerei von Philipp Otto Runge (1777–1810) gehören zu den innovativsten, aber auch rätselhaftesten Aspekten der romantischen Reflexion über Kunst (Abb. 1). Die doppelte Qualität von Originalität und Fremdheit spiegelt sich besonders in den langen Ausführungen wider, die Runge der Landschaftsmalerei und der Farbe widmet, den beiden zentralen Sujets seines theoretischen und malerischen Werks. Was bedeutet Landschaft in der modernen Malerei? Welchen Platz sollte insbesondere die Farbe in der künstlerischen Reflexion und Praxis einnehmen? Dies sind die zentralen Fragen, auf die Runges Überlegungen zur Kunst bauen – Überlegungen, zu denen Henrik Steffens wiederum einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Runge wird 1777 als Sohn einer protestantischen Reederfamilie in Wolgast geboren. Seine ersten Zeichen- und Malstunden erhält er 1797 in Hamburg, bevor er 1799 an die Königliche Kunstakademie in Kopenhagen wechselt, wo er unter der Leitung von Jens Juel (1745–1802) und Nicolai Abildgaard (1743–1809) studiert. Enttäuscht von der dortigen Ausbildung, die er als zu konventionell empfindet, zieht er im Juni 1801 nach Dresden, in der Hoffnung, hier eine Ausbildung zu erhalten, die seinen Erwartungen eher entspricht. Schon bald erhält er das Recht, die Dresdner Kunstakademie zu besuchen und in der dortigen Sammlung antiker Skulpturen und Gipsabgüsse zu arbeiten. Er freundet sich mit einer Reihe von Persönlichkeiten an, mit dem Schriftsteller Ludwig Tieck (1773–1853), dem Maler Ferdinand Hartmann (1774–1842), dem Komponisten und späterem Lehrer Mendelssohns Ludwig Berger (1777–1839) und schließlich mit Henrik Steffens, der Dresden jedoch schon im Frühjahr 1802, kurz nach Runges Ankunft verlässt. Trotz seines Weggangs bleibt Steffens für den jungen Maler bis zu dessen frühem Tod ein wichtiger Gesprächspartner,1 wird ihm später im fünften, 1842 erschienenen Band seiner Memoiren etwa dreißig Seiten
|| Abkürzungen: HS – Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften. Hg. v. Daniel Runge. 2 Bde. Göttingen 1965 (ND der zweibändigen Originalausg. Hamburg 1840/41); HS I = Bd. 1; HS II = Bd. 2. Wenn nicht anders angegeben, sind die zitierten Texte aus HS I und HS II. 1 Heinz Matile: Die Farbenlehre Philipp Otto Runges. Ein Beitrag zur Geschichte der Künstlerfarbenlehre. Bern 1973, S. 100. https://doi.org/10.1515/9783111358826-008
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widmen.2 Von der Freundschaft Runges mit Steffens berichten vor allem die überlieferten Briefe sowie eine gemeinsame Publikation: Runges berühmte, 1810 unter dem Titel Farben-Kugel erschienene Abhandlung über die Farben, der ein Traktat von Steffens mit dem Titel „Über die Bedeutung der Farben in der Natur“ beigefügt ist (Abb. 2 und 3).3 Es steht also zu vermuten, dass der Austausch mit Steffens eine Rolle bei der Entstehung von Runges kunsttheoretischen Überlegungen zur Landschaft und zur Farbe gespielt hat. Ziel dieses Aufsatzes ist es, genau dieser Frage nachzugehen.
1 Die „neue“ Landschaft nach Runge: Versuch einer Definition Runge verarbeitete seine landschaftstheoretischen Reflexionen nie zu einer geschlossenen systematischen Abhandlung. Vielmehr entwickelte er sie sukzessive in seinen Briefen vor allem an den Schriftsteller Tieck, an seine Familie und an einige Freunde. Diese Korrespondenz, die hauptsächlich in den Jahren 1802– 1804 in Dresden entstand (Abb. 4), ist durchdrungen von der prophetischen Ahnung einer bevorstehenden Geburt, einer unmittelbar anbrechenden Blütezeit der Kunstgeschichte: Ein neues Zeitalter werde anbrechen, ein Zeitalter, als dessen Messias sich Runge wiederum selbst sieht und als dessen wichtigstes Kennzeichen er die „Landschaft“ bestimmt.4
|| 2 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Breslau 1840–1844, Bd. 5, S. 335–365. 3 Philipp Otto Runge: Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zu einander, und ihrer vollständigen Affinität, mit angehängtem Versuch einer Ableitung der Harmonie in den Zusammenstellungen der Farben. Von Philipp Otto Runge, Mahler. Nebst einer Abhandlung über die Bedeutung der Farben in der Natur, von Hrn. Prof. Henrik Steffens in Halle. Mit einem Kupfer, und einer beygelegten Farbentafel. Hamburg 1810. 4 Vgl. Runge: Brief an Daniel Runge, 23. März 1803. In: HS I, S. 37; ders.: Brief an Daniel Runge, 21. November 1802. In: HS II, S. 167; ders.: Brief an seine Mutter, 18. Dezember 1802. In: ebd., S. 183. Zu Runges Landschafts- und Farbbegriff vgl. Elisabeth Décultot: Peindre le paysage. Discours critique et renouveau pictural dans le romantisme allemand. Tusson 1996, S. 159– 213; dies.: La sphère de couleurs de Philipp Otto Runge (1810). In: Techné 26 (2007), S. 35–41; dies.: „Tout converge vers le paysage“. La notion de Landschafterey chez Philipp Otto Runge et la question des frontières entre genres picturaux. In: Alain Muzelle (Hg.): Romantisme et frontière. Nancy 2009, S. 117–130; dies.: Das frühromantische Thema der „musikalischen Landschaft“ bei Philipp Otto Runge und Ludwig Tieck. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 5 (1995), S. 213–234.
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Hervorstechendstes Merkmal seiner Idee von Landschaft ist vermutlich der Aspekt des radikal Neuen, das sie in seinen Augen repräsentiert. Als einen vollständigen Bruch mit der Tradition will Runge sein Landschaftskonzept verstanden wissen – Bruch einerseits mit dem alten Vorrang der historischen Gattung: Auf das klassische, noch von der Historienmalerei beherrschte Zeitalter müsse nun ein neues folgen, das Zeitalter der Landschaftsmalerei. Mit Michelangelos Fresko des Jüngsten Gerichts aus der Sixtinischen Kapelle habe das historische Genre seinen Höhe- und zugleich Endpunkt erreicht. Seitdem werde die Kunst von einer unaufhaltsamen Tendenz zur Landschaft regiert: Michelangelo war der höchste Punkt in der Composition, das jüngste Gericht ist der Gränzstein der historischen Composition, schon Rafael hat sehr vieles nicht rein historisch Componirtes geliefert, die Madonna in Dresden ist offenbar nur eine Empfindung, die er durch die so wohl bekannten Gestalten ausgedrückt hat, nach ihm ist eigentlich nichts Historisches mehr entstanden, alle schönen Compositionen neigen sich zur Landschaft hin, – die Aurora von Guido.5
Runge versteht sein Landschaftskonzept aber auch als Bruch mit traditionellen Vorstellungen der Landschaftsgattung selbst. Um die erste Präsenz einer Landschaft in der Kunstgeschichte zu illustrieren, wählt er ein auf den ersten Blick eher verblüffendes Beispiel; er findet es nicht etwa bei Salvatore Rosa oder Lorrain, sondern bei Raffael: „Selbst Rafaels Bild hier auf der Galerie neigt sich gradezu zur Landschaft“.6 Wie anders aber lässt sich die Sixtinische Madonna als Vorausahnung einer Landschaft begreifen, wenn nicht durch eine notwendige Neudefinition des Begriffs? Runge ist sich dessen durchaus bewusst, wenn er seinem Urteil über Raffael die Bemerkung nachschickt: „Freylich müssen wir hier unter Landschaft etwas ganz anderes verstehen“.7 Diese Landschaft neuen Typs kennzeichnet eine Reihe von charakteristischen Merkmalen: Zunächst einmal ist die Landschaft, wie sie Runge in der Kunst repräsentiert sehen will, untrennbar mit einem streng christlichen Verständnis von Kunst verbunden. Runge teilt die Auffassung vieler Romantiker, wonach die Kunst integraler Bestandteil der Manifestation des Göttlichen ist, unterscheidet sich von ihnen aber noch einmal durch den besonderen Stellenwert, den er der Landschaft in diesem Gefüge zumisst. Die Notwendigkeit der
|| 5 Runge: Text von Februar 1802. In: HS I, S. 6. Erwähnt werden hier Raffaels Sixtinische Madona (1513/14), die von August III. 1754 für die Dresdner Sammlung erworben wurde, sowie Guido Renis Aurora (1613/14), ein Deckenfresko des Casino Rospigliosi in Rom. 6 Runge: Brief an Daniel Runge, 9. März 1802. In: HS I, S. 15. 7 Ebd.
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Landschaftsdarstellung ist für ihn, wie aus mehreren seiner Briefe aus dem Jahre 1802 deutlich wird, unmittelbare Konsequenz des klassischen biblischen Bilderverbots: Du sollst Dir kein Bildnis von Gott machen. Denn wenn eine direkte Darstellung untersagt ist, so ermöglicht es der Umweg über die Landschaft, die Präsenz Gottes zumindest indirekt vor Augen zu führen. Die Natur besitzt für Runge somit eine essentiell religiöse Qualität: Sie ist die einzige, die auch nach dem Sündenfall dem Schöpfer ähnlich geblieben ist. Zur Untermauerung seiner These zitiert Runge mehrfach die Stelle aus der Genesis, in der Gott, nachdem er das Universum vollendet hat, Adam damit beauftragt, den Pflanzen im Garten Eden Namen zu geben. Der Maler erkennt darin die symbolische Übertragung des noch intakten menschlichen Geistes, damit indirekt des göttlichen Odems bzw. logos, auf die Pflanzenwelt: Indem Adam so die Pflanzen auf der Erde eine nach der anderen benannte, übertrug er ihnen jene Seele, die er einst selbst von Gott erhalten hatte.8 Seit diesem Gründungsakt ist die Natur nach Runge zweifach kodiert: Sie ist beseelt, sie hat anima, das heißt sie ist im wahrsten Sinne des Wortes belebt, weil ausgestattet mit einer menschlichen Seele durch die fundierende Geste Adams, und sie ist zugleich sinntragend, da vom göttlichen logos bewohnt: Es wird mir bey allen Blumen und Bäumen vorzüglich deutlich und immer gewisser, wie in jedem ein gewisser menschlicher Geist und Begriff oder Empfindung steckt, und wird es mir so klar, daß das noch vom Paradiese her seyn muß.9
Nach dem Sündenfall hat Adam, indem er seine göttliche Reinheit verliert, auch etwas von seiner Ebenbildlichkeit mit Gott verloren. Die Natur aber, die noch vor dem Sündenfall durch Adam getauft wurde, behält ihre ursprüngliche Vollkommenheit: Sie allein repräsentiert seitdem das Ebenbild Gottes. Für Runge ist daher jede Landschaft im Grunde ein Abbild jener Urlandschaft, jener ersten von Gott geschaffenen Natur und trägt somit noch immer den Widerschein des Schöpfers in sich. Die Natur ist der einzige Überrest des Gartens Eden: [Die Landschaft] ist grade so das Reinste, was noch in der Welt ist, und worin wir Gott, oder sein Abbild – nämlich das, was Gott zu der Zeit, da er die Menschen schuf, Mensch geheißen hat – erkennen können.10
|| 8 Runge: Brief an Daniel Runge, 7. November 1802. In: ebd., S. 16; ders.: Brief an Ludwig Tieck, 1. Dezember 1802. In: ebd. S. 24, 9 Runge: Brief an Ludwig Tieck, 1. Dezember 1802. In: ebd., S. 24. 10 Ebd.
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In seiner Darstellung der Natur zeichnet der Maler also indirekt auch das Porträt Gottes. Aus seiner adamitischen Theologie zieht Runge radikale Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Hierarchie der Kunstgattungen: Nicht mehr die Historienmalerei ist die erste aller Gattungen, wie es seit der Renaissance die traditionelle akademische Theorie der Malerei vorschreibt, sondern die Landschaft als Repräsentantin einer unberührten göttlichen Natur.
2 Landschaft und Natur – der Bezug zu Steffens Runge war zuvorderst Maler und daher immer bemüht, seine landschaftstheoretischen Überlegungen konkret in sein malerisches und graphisches Schaffen einfließen zu lassen. Seine Versuche einer pikturalen Umsetzung der Theorie verweisen auf die profunde Ambivalenz seines Landschaftsbegriffs (Abb. 5). Indem er diesen nicht mehr mit einer Kunstgattung im engeren Sinne, sondern mit einer radikal neuen Ära der Kunstgeschichte gleichsetzt, bricht er gleichsam mit einem traditionellen Verständnis von Landschaft, die seit dem 16. Jahrhundert in der Malerei mit einer vorwiegend pflanzlichen und mineralischen Darstellung der Natur verbunden wurde. Wie also verhalten sich bei Runge Landschaft und Natur zueinander? Und was genau bedeutet ‚Natur‘ für ihn? Runges Verständnis von Natur ist das Resultat eines Zusammenwirkens mehrerer Einflüsse: seiner protestantischen Erziehung, für die zeitweilig der Pastor Ludwig Gotthard Kosegarten (1758–1818) zuständig war,11 des norddeutschen Pietismus12 und schließlich seiner romantischen Lektüren. Auf einer allgemeineren Ebene steht sein Naturverständnis noch in der mystischen Tradition des liber naturae nach dem Vorbild Jakob Böhmes (1575–1624), zu dem er über Tieck gefunden hatte.13 Nach den Worten seines Bruders schöpfte Runge „aus dem lebendigen Wort der Natur“ eine „Offenbarung Gottes, analog der uns in || 11 Zur Beziehung Kosegartens zu Runge vgl. u.a.: Wolfgang Roch: Philipp Otto Runges Kunstanschauung (dargestellt nach seinen „Hinterlassenen Schriften“) und ihr Verhältnis zur Frühromantik. Straßburg 1909, S. 138–140; Jörg Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog. München 1975, S. 14; Matile: Farbenlehre Philipp Otto Runges (wie Anm. 1), S. 85–87. 12 Runge stand unter dem pietistischen Einfluss des Hambuger Pfarrers Christoph Christian Sturm, der 1786 starb. Vgl. dazu Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk (wie Anm. 11), S. 34f., 45. 13 Zu Runge und Jakob Böhme vgl. Siegfried Krebs: Philipp Otto Runges Entwicklung unter dem Einflusse Ludwig Tiecks. Heidelberg 1909, S. 72–74. Zum Topos des liber naturae vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 323–325.
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der Bibel verkündigten“.14 In einer pantheistisch anklingenden Passage, die aber letztlich an die christliche Tradition eines sowohl transzendenten als auch naturimmanenten Gottes anknüpft,15 schreibt der Maler im März 1802: Wenn der Himmel über mir von unzähligen Sternen wimmelt, der Wind saus’t durch den weiten Raum, die Woge bricht sich brausend in der weiten Nacht, über dem Walde röthet sich der Aether, und die Sonne erleuchtet die Welt; das Thal dampft und ich werfe mich im Grase unter funkelnden Thautropfen hin, jedes Blatt und jeder Grashalm wimmelt von Leben, die Erde lebt und regt sich unter mir, alles tönet in einen Accord zusammen, da jauchzet die Seele laut auf, und fliegt umher in dem unermeßlichen Raum um mich, es ist kein unten und kein oben mehr, keine Zeit, kein Anfang und kein Ende, ich höre und fühle den lebendigen Odem Gottes, der die Welt hält und trägt, in dem alles lebt und würkt: hier ist das Höchste, was wir ahnen – Gott!16
Solche Stellen verweisen auf den Einfluss von Tieck, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband, verraten aber auch Spuren der Naturphilosophie Schellings, mit dem er in engem Briefkontakt stand.17 Ebenso aber scheint Runges Bekanntschaft mit Henrik Steffens eine eminente Rolle bei der Herausbildung seines Naturbegriff gespielt zu haben. Steffens sieht in der physischen Welt eine „schaffende und geistige Thätigkeit“ am Werk,18 die nicht nur das Leben der Erde, sondern auch das des Menschen umgreift – eine Formulierung, die sich in ähnlicher Weise auch bei Runge findet: „Die lebendige Kraft, wodurch Himmel und Erde geschaffen sind, und deren Abbild unsere lebendige Seele ist, muß sich auch recht in uns regen und bewegen.“19 Diese Kraft hat sowohl für Steffens als auch für Runge ihren Ursprung in Gott. In diesem animistischen und spiritualistischen Naturverständnis spielt die Kunst die zentrale Rolle der Vermittlerin, ja derjenigen, durch welche allein sich die göttliche Natur der physischen Welt offenbaren kann:
|| 14 Daniel Runge: Nachrichten von dem Lebens- und Bildungsgange des Mahlers Philipp Otto Runge. In: HS II, S. 441–512, hier S. 466. 15 In der Forschung wurde immer wieder auf Runges pantheistische Weltanschauung hingewiesen, vgl. Roch: Philipp Otto Runges Kunstanschauung (wie Anm. 11), S. 10 u. 61f.; Marcel Brion: Peinture romantique. Paris 1967, S. 213; Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk (wie Anm. 11), S. 45. 16 Runge: Brief an Daniel Runge, 9. März 1802. In: HS I, S. 9. 17 Runge: Brief an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1. Februar 1810. In: ebd., S. 156–159. 18 Henrik Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur. In: Runge: Farben-Kugel (wie Anm. 3), S. 29–60, hier S. 31. 19 Runge: Undatierter Text (zwischen 1801 und 1803). In: HS I, S. 4. Dieselbe Idee entwickelt Runge in ders.: Brief an Daniel Runge, 9. März. In: ebd., S. 9f.; ders.: Entwürfe zu Bildern. Triumph des Amor’s. In: ebd., S. 220.
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[Die Religion] will, ja sie soll sich auch sinnlich darstellen, sie soll innerhalb der sinnlichen Entwickelungsstufe, auf welcher wir leben, eine vollendete Gestaltung erhalten, sie soll irdischer Natur, d.h. Kunst werden. In dieser Richtung bleibt das Dasein zwar, wie jede historische Erscheinung, wo es eine wahre Bedeutung behält, wo es also als eine Verklärung der Geschichte erscheint, in seiner Quelle religiös. Die Religion ist das Gewissen der Kunst, wie jeder irdischen That.20
Am deutlichsten aber zeigen sich die inhaltlichen und konzeptionellen Schnittmengen zwischen Runge und Steffens in ihrem gemeinsamen Interesse für die Farbe.
3 Runge und die Farbe Im Herbst 1802 tritt die Farbe erstmals als zentrales Motiv in Runges Werk auf den Plan. Das neue Interesse an der Farbe – sowohl als Material für die Malpraxis als auch als Gegenstand theoretischer Überlegungen – erklärt sich zunächst aus dem persönlichen Werdegang des Malers. Runge, der sich nach einem fast zweijährigen Aufenthalt an der Kopenhagener Akademie, wo er seine Ausbildung absolviert hatte, 1801 in Dresden niederlässt, erkennt bereits früh tiefgreifende Differenzen zwischen sich und der sächsischen Akademie, die für seinen Geschmack zu sehr von einem eklektisch verunreinigten Klassizismus in der Tradition eines Anton Raphael Mengs (1728–1779) und eines Giovanni Battista Casanova (1730–1795) beherrscht werde. In seinen von 1802/03 datierenden Einlassungen zur Geschichte der Malerei beschreibt er seine eigene Epoche zumeist als eine quälende Zeit des Übergangs oder vielmehr des Aufeinanderprallens zweier künstlerischer Epochen, die eine noch unter dem Diktum des überholten Genres der Historienmalerei stehend, die andere im Zeichen der erst noch zu entwickelnden Gattung der Landschaft.21 In Steffens’ Memoiren finden sich nahezu identische Überlegungen zur Notwendigkeit einer neuen Kunst,22 zugleich macht der Autor klar, was ihn zu dieser Einsicht inspiriert hat:
|| 20 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 2), Bd. 5, S. 345. 21 Runge: Brief an Daniel Runge, 9. März 1802. In: HS I, S. 14f. Vgl. auch ders.: Brief an Ludwig Tieck, 1. Dezember 1802. In: ebd., S. 26; ders.: Brief an seinen Vater, 13. Januar 1803. In: ebd., S. 28; ders.: Brief an seine Mutter, 18. Dezember 1802. In: HS II, S. 183. 22 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 2), Bd. 5, S. 344: „[Wir müssen] gestehen, daß eine so tief geistig bewegte Zeit, wie die unsere, eine neue, ihr zugehörige eigenthümliche Kunst fordert.“
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Meine Bekanntschaft und innige Verbindung mit Runge rief zuerst die Bedeutung einer neuen Kunst, einer neuen Poesie, die ich erwartete, hervor; sie schwebt mit noch immer wie eine zukünftige, lebendige Hoffnung von der Seele [...].23
In dieser historischen Umbruchsphase kommt nun ausgerechnet der Frage nach dem Stellenwert der Farbe eine Schlüsselrolle zu. Runge sieht die anbrechende neue Ära der Kunst ganz im Zeichen der Farbe, was insofern überrascht, als er ihr noch kurze Zeit zuvor nur eine untergeordnete Rolle zugestanden hatte, weit hinter jener der Form und der Komposition in der Liste der notwendigen Kriterien für ein Kunstwerk.24 Im gleichen Maße, wie die Landschaftsmalerei an die Stelle der zuvor bestimmenden Kunstgattung der Historienmalerei treten muss, hat das Primat der Farbe die vormals dominierende Zeichnung abzulösen, ihrerseits Kennzeichen des überholten Klassizismus.25 Die Beschäftigung mit dem Problem der Farbe, die ab 1806 noch einmal an Intensität gewinnt, mündet schließlich in die Publikation der Farben-Kugel, einer Abhandlung, in der Runge noch kurz vor seinem Tod 1810 die wichtigsten Ergebnisse seiner Beschäftigung mit dem Thema zusammenfasst und um einen Aufsatz seines Freundes Steffens ergänzt.26 Die Einzelheiten der Runge’schen Farbenlehre sollen uns hier nicht weiter interessieren. Wir wollen vielmehr ihr Verhältnis zu den von Steffens entwickelten Positionen zur Farbe näher beleuchten. Eine Gemeinsamkeit vorneweg: Beide, Runge wie Steffens, kennen den Diskussionsstand zur Frage der Farbe genau, eine Kenntnis, die, wie Steffens über Runge anmerkt, sich in erster Linie aus ihren Lektüren von Traktaten der Renaissance speist. „Was Albrecht Dürer und vorzüglich Leonardo da Vinci über die Farben geschrieben hatten, war ihm [Runge, E. D.] wohlbekannt“.27 Beide eint noch mehr, nämlich ein identisch bestimmtes Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. In seinen Memoiren beschreibt Steffens Runge in der Postur des Chemikers, der sich mit einem „alten chemischen Laboranten in
|| 23 Ebd., S. 353. 24 Runge: Brief an Daniel Runge, 9. März 1802. In: HS I, S. 13f. 25 Runge: Brief an Daniel Runge, 7. November 1802. In: ebd., S. 17: „Wenn wir so in der ganzen Natur nur unser Leben sehen, so ist es klar, daß dann erst die rechte Landschaft entstehen muß, als völlig entgegengesezt der menschlichen, oder historischen Composition. Die Blumen, Bäume und Gestalten werden uns dann aufgehen und wir haben einen Schritt näher zur Farbe gethan!“ 26 Runge: Farben-Kugel (wie Anm. 3); Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur (wie Anm. 18). 27 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 2), Bd. 5, S. 341. Zu Runges Kenntnis der Schriften von Leonardo vgl. ders.: Entwurf zur Einleitung einer Abhandlung über die Farben, vermutlich aus dem Jahre 1806. In: HS I, S. 75.
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Altona“ an einer neuen Farbmischung versucht.28 Umgekehrt unterstreicht er die zentrale Rolle der künstlerischen Erfahrung für seine eigene wissenschaftliche Arbeit, ist die Kunst in seinen Augen doch unmittelbarer Ausdruck der unveränderlichen Naturgesetze: Aber diese Kunstprodukte legen Zeugnisse ab, von einer ordnenden, der Geschichte dienenden Gewalt über die uns fesselnde Natur; und wie eine richtige Erkenntniß der Geologie uns überzeugt von einer größern Ordnung aller organischen Elemente, welche allein ihren innern Vereinigungspunkt in der menschlichen Gestalt fand, so daß eine rohere Bewegung aller Naturkräfte in der frühern Epoche nur geringere Organisationen erzeugte – so beweisen jene Erzeugnisse, die eine so mächtige Gewalt über das gesellige Leben schon jetzt ausüben und eine nicht zu berechnende großartigere der Zukunft weissagen, eine zu erwartende, der Geschichte dienende, durch eine höhere Ordnung die Schönheit tragende anorganische Natur.29
Mit anderen Worten: Die Kunst ist für Steffens, um eine Formulierung aus seiner Abhandlung aufzugreifen, die „Lehrerin der Naturforscher“. Ausführlich heißt es dort: [E]ben weil in der Kunst die höhern Verhältnisse der Farben am reinsten hervortreten, wird sie nothwendig die Lehrerin der Naturforscher, die sich an der reinsten Darstellung des Eigenthümlichen am meisten ergötzen, und durch diese am vorzüglichsten zur Untersuchung gereizt werden. Die Bemühungen eines denkenden Künstlers können uns daher keineswegs gleichgültig seyn, und sie müssen uns um so wichtiger erscheinen, je mehr er sich vor der herrschenden Richtung der Naturwissenschaft bewahrt, und je reiner und unbefangener er sich an den eigenthümlichen Standpunct seiner Kunst festgehalten hat.30
Zur Veranschaulichung dieser Komplementarität von Kunst und Wissenschaft gibt Steffens eine Reihe von konkreten Beispielen und resümiert: „Am reinsten erkennen wir ohne Zweifel das Gesetz der Farben in der Kunst.“31 Schlussendlich sind sich die beiden Männer auch darin einig, wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen pragmatischer Zielsetzung und theoretischem Rahmen, in den die Frage der Praxis eingebettet ist, zu bestimmen. Worauf es Runge vor allem ankommt, ist, wie bereits in den ersten Absätzen der Farben-Kugel deutlich wird, dem Maler ein praktisches Rüstzeug an die Hand zu geben, das heißt für ihn eine Lehre zu entwerfen, die nicht auf die „Erkenntniß der Formen des menschlichen Körpers“ an und für sich abzielt, sondern viel-
|| 28 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 2), Bd. 5, S. 341. 29 Ebd., S. 360. 30 Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur (wie Anm. 18), S. 34f. 31 Ebd., S. 34.
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mehr auf die Formulierung praktischer Gesetze, die vor allem einem Phänomen Rechnung tragen sollen: dem „Eindruck“, den die einfallende Farbe auf dem Auge hinterlässt.32 Damit stellt Runge seine Forschung bewusst in eine bestimmte Tradition der Reflexion über die Farbe: Seine Abhandlung will weder wissenschaftlich noch philosophisch, sondern künstlerisch sein, d.h. geschrieben von einem Künstler für andere Künstler, in direkter Nachfolge von Leonardo da Vinci, auf den sich Runge, wie bereits erwähnt, gerne beruft. Nebenbei bemerkt: Runge verzichtet bewusst darauf, sein Werk explizit als Lehre oder Theorie zu bezeichnen – das unterscheidet ihn von Goethe, der bekanntlich sehr wohl eine Lehre im Sinn hat. Auch Steffens behandelt die Farbe unter empirischen Gesichtspunkten, wobei hier die Frage nach dem visuellen Eindruck, den die Farbe im Auge hinterlässt, ebenfalls im Vordergrund steht.33
4 Der Bezug zu Newton und Goethe Diese pragmatische, zugleich von einem transzendenten Kunstbegriff untermauerte Dimension erklärt nicht zuletzt auch die Nähe zwischen Runge und Steffens im Blick auf ihr Verhältnis zu Isaac Newton (1643–1727). Im Namen der Komplementarität von Kunst und Wissenschaft wirft Runge Newton vor, eine für den Maler letztlich vollkommen unbrauchbare optische Theorie vorgelegt zu haben.34 Gleich im ersten Absatz der Farben-Kugel macht er unmissverständlich klar, dass er nicht die Absicht habe, in die Fußstapfen des gelehrten Optikers zu treten, und erinnert daran, „wie hülflos den Künstler die aufgestellte Wissenschaft gelassen hat“.35 Die Lehre von der Brechung der Lichtstrahlen habe „den Mahlern nun zwar
|| 32 Runge: Farben-Kugel (wie Anm. 3), S. 2. 33 Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur (wie Anm. 18), S. 60. 34 Wie viele seiner Zeitgenossen und Vorgänger hatte Runge sehr wahrscheinlich nur eine unvollständige und indirekte Kenntnis der von Newton in Opticks dargelegten Theorien, die er zwar mehrfach, aber eher unspezifisch anführt. Diese eher oberflächliche Kenntnis lässt sich entsprechend an einer ganzen Reihe von Irrtümern ablesen, die Runge in Bezug auf Newton macht, so etwa, wenn er Purpur, Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett fälschlicherweise als die sieben Spektralfarben benennt, die Newton infolge seines Prisma-Experiments ermittelt habe (vgl. Runge: Brief an einen unbekannten Adressaten, 1807 oder 1808. In: HS I, S. 107). Tatsächlich aber unterscheidet Newton die folgenden sieben Farben: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett. 35 Runge: Farben-Kugel (wie Anm. 3), S. 1: „So natürlich, ja unumgänglich es scheint, die regelmäßigen Resultate, welche beym Vermischen färbender Materialien uns in die Augen fallen, an den Theorien des Lichts, oder der Entstehung der Farben, zu vergleichen und zu prüfen, und eine
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vermeynte Einsicht in diese Naturerscheinung gebracht, aber die Angst vor der Unüberwindlichkeit der Mittel nur vermehrt“.36 Mit anderen Worten: Newtons Forschungen mögen zwar das Wissen des Malers erweitert haben, aber sie haben ihn zugleich in seinen Bewegungen gehemmt, ein Ungleichgewicht, das nur über den Weg der Praxis, wie ihn die Farben-Kugel beschreiten will, korrigiert werden kann. Steffens seinerseits erklärt die Newton’sche Theorie des Lichts für ungültig, da sie in seinen Augen auf einer „blinden Annahme“ beruhe, die nicht durch das Experiment verifiziert werden könne.37 Zu der abweichenden Zielsetzung, mit der Runge seinen Abstand zu Newton markiert, gesellen sich tiefgreifende Unterschiede in der Auffassung des Lichts selbst. Newtons Prisma-Experiment widerspricht der Runge’schen Definition, oder besser gesagt, der Runge’schen Sicht auf das Licht in zwei wesentlichen Punkten. Für Runge ist das Licht – wie wir gesehen haben – göttlichen Ursprungs und daher zuvorderst eine einfache, d.h. nicht weiter in farbige Lichtstrahlen zerlegbare Entität. Außerdem ist das Licht, eben weil es einfach und göttlich ist, chronologisch früher als die Farben – mit anderen Worten: Erst das Licht bringt die Farben hervor, entzündet sie, und nicht etwa umgekehrt, wie es Newtons Experiment des neu zusammengesetzten weißen Lichts, nachdem die sieben Farbstrahlen eine Konvexlinse passiert haben, nahelegen könnte.38 Runges und Steffens’ Kritik an den Thesen Newtons, besser gesagt an den Thesen, die sie bei Newton vorzufinden glauben, dürfte nicht unwesentlich zu ihrer Annäherung an Goethe beigetragen haben. Runge, der in den Jahren 1801/02 noch tiefe Vorbehalte gegenüber den Weimarer Kunstfreunden geäußert hatte, weil diese eine zu klassizistische Auffassung von Kunst vertreten
|| Lehre, einen wissenschaftlichen Unterricht für den Mahler, von den Theoremen oder Hypothesen herzuleiten, aus welchem demnächst fruchtbare Regeln erwachsen könnten, so ist doch bekannt, wie hülflos den Künstler die aufgestellte Wissenschaft gelassen hat.“ 36 Runge: Entwurf zur Einleitung einer Abhandlung über die Farben, vermutlich aus dem Jahre 1806. In: HS I, S. 75. 37 Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur (wie Anm. 18), S. 33: „Obgleich die Naturforscher, wie alle Menschen, wenn man verjährte Vorurtheile angreift, in Zorn zu gerathen pflegen – und bey derjenigen Ansicht die der herrschenden Erklärung der Farben widerspricht nicht mit Unrecht, indem sie die nicht zu berechnenden Folgen, durch ein richtiges Gefühl geleitet, zu ahnden scheinen – so wird dem Unbefangenen doch immer klar bleiben, daß Newtons Erklärung der Entstehung der Farben, durch die blinde Annahme und feste Anhänglichkeit an dieselbe, als eine reine, untrügliche Naturthat, einen schändlichen Einfluß auf die Wissenschaft geäußert hat.“ 38 Runge: Brief an einen unbekannten Adressaten, 1807 oder 1808. In: HS I, S. 107.
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würden,39 korrespondierte ab 1806 regelmäßig und umfangreich mit Goethe über die Farbe. Im Oktober 1809 ließ er ihn das Manuskript seiner Farben-Kugel noch vor Veröffentlichung lesen, das beim Weimarer Dichterfürsten auf volle Zustimmung traf. Steffens wiederum platzierte an prominenter Stelle seiner Abhandlung ein nachdrückliches Lob auf Goethes Farbenlehre, unmittelbar nachdem er Newtons Theorie scharf kritisiert hatte.40 Goethe, der froh war, sich auf die Unterstützung eines Malers berufen zu können, veröffentlichte am Ende des didaktischen Teils seiner Farbenlehre einen langen Brief von Runge vom Juli 1806, der in nuce die Grundzüge der zukünftigen Farben-Kugel enthielt.41 Diese intensive intellektuelle Zusammenarbeit beruhte auf einer Reihe gewichtiger Übereinstimmungen, allen voran der gemeinsamen Ablehnung von Newtons Theorie des Lichts. Bereits 1793 hatte Goethe bekanntlich die wesentlichen Grundsätze seiner Definition des Lichts formuliert: 1. Das Licht ist das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, das wir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt. 2. Am allerwenigsten aus farbigen Lichtern. Jedes Licht, das eine Farbe angenommen hat, ist dunkler als das farblose Licht. Das Helle kann nicht aus Dunkelheit zusammengesetzt sein. 3. Inflexion, Refraktion, Reflexion sind drei Bedingungen, unter denen wir oft apparente Farben erblicken, aber alle drei sind mehr Gelegenheit zur Erscheinung, als Ursache derselben.42
|| 39 Runge: Brief an Daniel Runge, 9. März 1802. In: ebd., S. 14f.: „Und was soll nun herauskommen bey all' dem Schnickschnack in Weimar, wo sie unklug durch die bloßen Zeichen etwas wieder hervorrufen wollen, was schon da gewesen?“; ders.: Brief an Daniel Runge, 21. November 1802. In: HS II, S. 166: „– – Mit den Kunstfreunden in Weimar – –: Die Sache war recht gut im Anfange, wenn man da voraussetzen konnte, daß ihnen ein weit größerer Umfang von Kenntnissen zu Gebot stand und sie nur erst etwas herausließen; aber so ist das die allergrößte Extension gewesen und die sie am Ende bloß als Idee hatten und die nur einseitiger wurde. – Denn zuerst glaubte man doch, dass sie von allen den Forderungen euch den Grund angeben würden; sie haben aber eben die Sache auf eine individuelle Ansicht und Meynung ohne festen Grund gebaut [...].“ Vgl. auch ders.: Brief an Daniel Runge, 14. Dezember 1802. In: ebd., S. 173. 40 Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur (wie Anm. 18), S. 33: „Goethen verdanken wir bekanntlich die Ansicht, die uns einen lebendigen Gegensatz in den Farben erkennen ließ.“ 41 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe). Hg. v. Karl Richter. 20 Bde. u. 1 Registerbd. Bd. 10: Zur Farbenlehre. Hg. von Peter Schmidt. München u. Wien 1989, S. 264–271. 42 Johann Wolfgang Goethe: Neutonische Lehre. Maratische Lehre. Resultate meiner Erfahrungen. In: ebd. Bd. 4,2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797. Hg. von Klaus H. Kiefer u.a. München u. Wien 1986, S. 360f., hier S. 361.
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Diesen Sätzen sollte Runge einige Jahre später vorbehaltlos zustimmen. Goethe und Runge (wie auch Steffens zumindest in diesem Punkt) stimmen also in der Idee eines grundsätzlich einfachen, d.h. nicht weiter zerlegbaren Lichts überein, aber sie teilen auch eine gleiche Vorstellung über die Natur der Finsternis, wenn sie diese nicht wie Newton einfach negativ als die Abwesenheit von Licht, sondern positiv als ein wahrhaft aktives Prinzip, als eine dem Licht entgegengesetzte Kraft verstehen. Sowohl für den Schriftsteller als auch für den Maler entstehen Farben aus der Spannung und im Zusammentreffen der beiden gegensätzlichen Pole Hell und Dunkel.43 Ihre prinzipielle Übereinstimmung bezüglich der Natur des Lichts hat zur Folge, dass sie auch hinsichtlich der Primärfarben zu gemeinsamen Positionen finden, insbesondere in der Frage nach deren Ursprung sowie darin, den Primärfarben einen unterschiedlichen Status gegenüber Schwarz und Weiß zu attestieren. Doch es wäre unzutreffend, von Goethes Farbenlehre und Runges FarbenKugel als einer Art intellektueller Symbiose zu sprechen. Jenseits der genannten Übereinstimmungen sind sich die beiden Männer in wesentlichen Punkten noch immer uneins – zuvorderst in der Frage nach dem Status der Erfahrung und der Rolle des Phänomens. Goethe blieb bekanntlich zeit seines Lebens einer phänomenologischen Deutung der Welt verpflichtet, beruhend auf dem grundlegenden Vertrauen in die Transparenz und Lesbarkeit der Phänomene, also auf der Fähigkeit des Menschen, die Gesetze, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, mit dem Auge direkt zu erfassen und zu begreifen. Der Primat des Sichtbaren dient in seiner Farbenlehre zugleich als methodologisches Fundament. Die Gesetze, die die Farben regieren, lassen sich an den farbigen Phänomenen selbst ablesen: Das was wir in der Erfahrung gewahr werden, sind meistens nur Fälle, welche sich mit einiger Aufmerksamkeit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen. Diese subordinieren sich abermals unter wissenschaftliche Rubriken, welche weiter hinaufdeuten, wobei uns gewisse unerläßliche Bedingungen des Erscheinenden näher bekanntwerden. Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet sind, daß man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann. Ein solches Urphänomen ist dasjenige, das wir bisher dargestellt
|| 43 Johann Wolfgang Goethe: Beiträge zur Optick. Erstes Stück mit XXVII Tafeln. In: ebd., S. 264–299, hier S. 273 (§ 24): „Licht und Finsternis führen einen beständigen Streit miteinander; Wirkung und Gegenwirkung beider ist nicht zu verkennen. Mit ungeheurer Elastizität und Schnelligkeit eilt das Licht von der Sonne zur Erde und verdrängt die Finsternis; [...].“
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haben. Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der andern die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hülfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald durch einen Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück.44
Seiner Hingabe an das Phänomen bleibt Goethe auch darin treu, wenn er sich in seiner Farbenlehre gegen jeden mystischen oder religiösen Erklärungsfaktor verwahrt – ein Vorgehen, das ihn klar von Runge trennt. Für Letzteren sind Licht und Farbe Manifestationen immaterieller Mächte, die zu erfassen weit über die sinnlichen Fähigkeiten des Menschen – insbesondere den bloßen Sehsinn – hinausgehen. In diesem Punkt scheint wiederum der Geologe und Naturhistoriker Steffens der phänomenologischen Position Goethes etwas näher zu liegen, etwa wenn er sich auf den unübertrefflichen Wert von Wahrheiten beruft, die sich in der unmittelbaren Anschauung des Experiments offenbaren.45 Somit liefert der Dialog zwischen Runge und Steffens ein aufschlussreiches Zeugnis für die vielfältigen Facetten der künstlerischen, kunsttheoretischen und naturwissenschaftlichen Diskussion der Zeit um 1800.
|| 44 Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 10: Zur Farbenlehre (wie Anm. 41), S. 74. 45 Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur (wie Anm. 18), S. 33.
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Abb. 1: Philipp Otto Runge: Selbstbildnis am Zeichenbrett, 1801/02. Schwarze und weiße Kreide auf braunem Papier, 553 x 433 mm, © Hamburger Kunsthalle.
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Abb. 2: Philipp Otto Runge: Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zu einander […]. Hamburg 1810, Titelblatt.
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Abb. 3: Philipp Otto Runge: Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zu einander […]. Hamburg 1810, Farbtafel.
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Abb. 4: Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften. Hg. v. Daniel Runge. 2 Bde. Hamburg 1840/41, Bd. 1, Titelblatt.
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Abb. 5: Philipp Otto Runge: Der Morgen, 1808. Öl auf Leinwand, 106 x 81 cm, © Hamburger Kunsthalle.
| Teil III: Universität
Marit Bergner und Bernd Henningsen
Halle zur Zeit Henrik Steffens’ 1804–1811 Henrik Steffens’ Zeit in Halle ist zweigeteilt – eine ‚glückliche‘ vor 1806, danach eine ‚einsame‘. Strebte er anfangs eine Professur in Kopenhagen an, die ihm trotz seines dortigen fulminanten Auftritts 1802/03, der zudem nachhaltige kulturhistorische Folgen haben sollte, versagt wurde, erhielt er 1804 eine Professur für Physiologie, Mineralogie und Naturphilosophie in Halle. Für Steffens folgte „die glückliche Zeit meiner Wirksamkeit in Halle“,1 Unzählige wurden von seiner Naturphilosophie, insbesondere aber seiner Persönlichkeit angezogen, sein ‚Netzwerk‘ ist ein Who’s who der deutschen Romantik, der deutschen spekulativen Naturphilosophie: Jacob Grimm (1785–1863), Joseph von Eichendorff (1788–1857), Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), der Historiker und spätere Politiker (Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung), einer der „Göttinger Sieben“, Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860) und andere gehörten zu seinen Studenten; der Theologe Friedrich Schleiermacher (1768– 1834), der dänische Dichter Adam Oehlenschläger (1779–1850), der junge Wilhelm Grimm (1786–1859) und viele andere waren Gäste der Familie Steffens, manch einer wohnte über längere Zeit unter demselben Dach. In seiner Autobiografie ist nachzulesen, welche Anziehungskraft das geistige Milieu, die Geselligkeit Halles auf Wissenschaftler und Literaten gleichermaßen hatte – es versteht sich von selbst, dass Steffens bei den Nennungen gerne Goethe erwähnt … Giebichenstein, die „Herberge der Romantik“,2 der Sitz seines Schwiegervaters Johann Friedrich Reichardt (1752–1814), damals am Rande der Stadt gelegen, war ein Mittelpunkt des literarischen Austausches und ein weit über die Grenzen hinaus bekannter Garten-Salon. Auf Druck Napoleons war das Heilige Römische Reich deutscher Nation am 6. August 1806 aufgelöst worden, Kaiser Franz II. zurückgetreten; am 14. Oktober wurde Preußen in der Schlacht bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen; drei Tage später kesselten französische Truppen Halle ein (Abb. 1) und besetzten die Stadt: „Halle war die erste preußische Stadt, die er [Napoleon,
|| 1 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2014–2022, Bd. 3, S. 152. 2 Erich Neuss: Das Giebichensteiner Dichterparadies. Johann Friedrich Reichardt und die Herberge der Romantik. Halle 1949. https://doi.org/10.1515/9783111358826-009
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d. Verf.] besetzte.“3 Napoleons Truppen marschierten weiter vor und besetzten am 27. Oktober Berlin, der preußische Hof entkam nach Königsberg. Preußen verlor mit dem Frieden von Tilsit 1807 alle Gebiete westlich der Elbe, für Preußen ging damit eine Epoche zu Ende. Die preußische Friedrichs-Universität Halle wurde geschlossen, Steffens und seine Kollegen waren ohne Anstellung und Einkommen; als sie 1808 wiedereröffnet und er zurückkehren konnte, war sie nur noch eine Hülse, entleert von Studenten und Professoren, eine Anstalt der akademischen Bedeutungslosigkeit. Sie gehörte jetzt zum Königreich Westphalen, das von Napoleons Bruder, König Jérôme, von Kassel aus regiert wurde.
Abb. 1: Plan zum Gefecht bei Halle am 17. Oktober 1806, Stadtarchiv Halle (Saale), C 2048 auf 1806.
|| 3 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 131.
Halle zur Zeit Henrik Steffens’ 1804–1811 | 139
In seiner zehnbändigen Autobiografie schreibt Steffens 40 Jahre später, gleichsam in rückwirkender historischer Rechthaberei: Die Schlacht von Jena, behauptete ich, eben in diesen Tagen der Hoffnungslosigkeit, wäre der erste Sieg über Napoleon, denn er hatte die mit ihm im Bunde stehende Schwäche vernichtet, und von jetzt an in allen Preußen die innere großartige Erbitterung hervorgerufen, die sich endlich bewaffnen und siegen musste. Die Gewißheit, daß ich seinen Sturz erleben würde, verließ mich nie.4
Wenn Steffens die Niederlage ex post als Kraftquelle für die Wiederauferstehung Preußens interpretiert, so spielt er damit auf die einsetzende Diskussion der preußischen Reformpolitik an, die Stein-Hardenbergschen Gemeinde- und Verwaltungsreformen, die Schulreformen, die des Militärwesens (Gneisenau und Scharnhorst), die Universitätsneugründungen (Berlin, Breslau, Bonn): Man glaubte einzusehen, daß das unterdrückte Preußen jetzt nicht mehr durch Waffen, sondern durch Geist sich heben ließ, und dieser, zur Erfrischung und Erneuerung des Staats berufen, schien sich immer bedeutender in sich zu fassen. Wilhelm von Humboldt, Niebuhr, Schleiermacher, Graf Dohna können wir wohl als die Hauptpersonen nennen, die diesen Gedanken pflegten, und bis zur Ausführung reifen ließen.5
1 Die „glückliche Zeit“ Die wohl umfangreichste und kohärenteste Schilderung des akademischen und sozialen Milieus Halles, der darin agierenden Personen und insbesondere der Person Steffens’ stammt wohl von Karl August Varnhagen von Ense. In seinen Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens beschreibt dieser als glänzendster Stilist des deutschen 19. Jahrhunderts apostrophierte Literat, der im Sommer 1806 in Halle studierte, auf 30 Seiten die Bewohner, die sozialen Strukturen und die universitären Kabalen der Stadt; was er ebenso wahrnimmt, ist die auf Preußen und die Stadt zukommende Kriegsgefahr und die sich anbahnenden Reaktionen der Menschen. In der Bewertung muss man freilich in Betracht ziehen, dass seine Erinnerungen – genau wie die von Steffens – viele Jahrzehnte später aufgeschrieben worden sind.6
|| 4 Ebd., S. 121. 5 Ebd., Bd. 6, S. 21. 6 Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten. Hg. v. Nikolaus Gatter. Bd. 1. Berlin 2015, S. 340–371.
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Varnhagen kommt von Hamburg über Braunschweig am 21. April in Halle an und stürzt sich sogleich in das freie Studentenleben, das er akribisch in allen seinen Verwerfungen schildert; rasch findet er Zugang zum GiebichensteinMilieu und trifft dort auch auf Steffens: Besonders beglückte uns Gibichenstein mit seinen traulichen Ufern, hohen Felsen, alten Sagen und frischen Erinnerungen […]. Durch Lea Mendelssohn, war ich dem Kapellmeister Reichardt empfohlen, der in Gibichenstein mit zahlreicher Familie ein eigenes Haus bewohnte, und einen schönen Garten mit glücklichen Anlagen und Pflanzungen hügelauf erweiterte. Kunstübend und gastfrei, dabei litterarisch und nach Umständen politisch vielthätig, mit Gelehrten und Vornehmen weit und breit verbunden oder bekannt, führte Reichardt in Halle gleichsam das Ansehn und Wort des gebildeten Weltmannes.7
Reichardt, so Varnhagen, „machte es zu einer Hauptaufgabe, daß wir seinen Schwiegersohn und dessen Freund Schleiermacher […] sehen sollten“. Die immer wieder beschriebene milieubedingte Salonhaftigkeit – wohl ein Salon im Garten – wird von Varnhagen euphorisch bestätigt, der als 21-Jähriger und als neuangekommener Student sofort in den hallischen Parnass aufgenommen wird; Zugang bekommt er zu allen Salons. Bereits am zweiten Sonntag nach der ersten Begegnung mit Reichardt trifft Varnhagen auf Steffens und Schleiermacher in Giebichenstein – und nimmt sogleich Nuancen wahr: [D]er heitre sprudelnde Steffens ließ zwar unter keinen Umständen sich in seiner Lebhaftigkeit stören, und war eine so liebenswürdige als geniale Erscheinung; aber der unansehnliche, in seinem Benehmen zurückhaltende, Gemüth und Begeisterung fast verläugnende und nur zuweilen kurz und scharf dazwischen redende Schleiermacher verschwamm in der Gesellschaft […] beide Freunde zeigten sich in eingeübten Scherzen und übereinkömmlichen Redensarten dieses Kreises mehr daheim und behaglich, als uns […] lieb sein konnte […]. Die Frauen des Hauses huldigten ihm sehr, und man widersprach ihm nicht leicht, welches Steffens schon eher leiden mußte, inbesonders von Reichardt, der seine Nächsten wohl auch in Dingen, worin sie ihn übersahen, zu berichtigen liebte, und so auch seinen Schwiegersohn, zu unserem großen Aergernisse, zuweilen etwas zu hofmeistern versuchte.8
Kein Zweifel, Varnhagen war im Kreis aufgenommen, Schleiermacher und Steffens luden ihn zu ihren wöchentlichen Gesellschaften ein. Gelegentlich erfolgten auch Einladungen in Professorenhaushalte außerhalb des Lehrbetriebs. Die intellektuellen Anregungen waren jedenfalls nicht fachgebunden, man hörte bei Medizinern, Historikern, Juristen, Theologen, Philosophen, die Neugier
|| 7 Ebd., S. 341 u. 343f. 8 Ebd., S. 344.
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überwand Disziplingrenzen. Wie sehr die studentische Motivation abhängig war von der Persönlichkeit des Lehrenden, seinem Auftreten, seinem Eros im klassischen Sinne, kommt in jedem Absatz Varnhagens zum Vorschein: Bei Schleiermacher empfand ich bald entschiedenen Gewinn; seine Behandlung des Gegenstandes, die sichre Kritik, die feine Dialektik, waren bildend auch für anderweitige Einsicht, und selbst dem Gemüth eröffneten sich aus diesen geordneten und klaren Geisteswegen sittliche Einwirkungen. Steffens hingegen riß gleich von Anfang seine Zuhörer in Begeisterung fort, es war unmöglich in diesem Gedränge von tiefen Anschauungen, großartigen Verknüpfungen und blühenden Sprechweisen, die seiner Beredsamkeit entquollen, sich einer aufwallenden Theilnahme zu erwehren. Ich versetzte mich mit Leichtigkeit in die naturphilosophischen Ansichten und Ausdrücke, ich sah mit Bewunderung den begeisterten Lehrer einen ungeheuern Stoff herrschend durchschalten, ich freute mich der Liebenswürdigkeit eines Vortrags, der immer ein bewegtes Herz erkennen ließ, und selbst in dem steten Kampf des Dänen mit der nur halb bezwungenen deutschen Sprache einen neuen Reiz empfing.9
Varnhagen verlässt Halle Ende September 1806 in Richtung Berlin, das von Steffens empfundene Glück fand durch den heranziehenden Krieg ein jähes Ende. „Daß große Entscheidungen sich vorbereiteten, daran wurde ich auf dem ganzen Wege lebhaft erinnert, überall begegneten mir Soldaten in größern und kleinern Abteilungen“.10
2 Halle im Krieg Steffens lebte mit seiner Familie – Ehefrau Johanna (1784–1855) und Tochter Clara (1806–1865) – in einer kleinen Wohnung in einem Eckhaus am Paradeplatz, dem heutigen Friedemann-Bach-Platz, mit Blick zur einen Seite auf die Moritzburg und zur anderen auf die Universitätsbibliothek. Die Wohnung lag damit exponiert, um als Zuschauer quasi in erster Reihe das Näherkommen der französischen Truppen zu verfolgen. In Sichtweite des Freimaurergartens, an dessen Stelle heute die Leopoldina (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina) ihren Sitz hat, wohnte Steffens damit in unmittelbarer Nähe zur östlichen Stadtgrenze, was sich im Herbst 1806 als schicksalshaft erweisen sollte. Zunächst aber genossen Steffens, Schleiermacher und der Prediger Joachim Christian Gaß (1766–1831) die Vorteile der etwas abseits vom Stadtzentrum ge-
|| 9 Ebd., S. 348. 10 Ebd., S. 371.
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legenen Wohnung und verfolgten erst von dort aus, dann mit weiteren hallischen Professoren vom benachbarten Freimaurergarten die Kämpfe im Osten Halles: Wir sahen die Angriffe, das wechselseitige Hin- und Herschießen, das vereinzelte persönliche Zusammenstoßen der Reiter, und Alles schien natürlich im Anfange dem unkundigen Zuschauer, der nur einzelne Angriffe sah, unentschieden.11
Erst in letzter Minute erkannte man die Gefahr, in der man auf dieser selbstgewählten Zuschauertribüne steckte. Steffens und Schleiermacher entschieden, sich vor den heranziehenden Truppen in der zentral gelegenen Wohnung Schleiermachers in der Großen Märkerstraße in Sicherheit zu bringen. Da man offenbar die Niederlage der preußischen Truppen zu spät erkannt hatte, musste man sich den Weg von der Moritzburg bis in die Innenstadt mit den sich zurückziehenden und flüchtenden preußischen Soldaten teilen: Als wir da ankamen, wo die erweiterte Straße einen kleinen Platz bildend, sich nach dem großen Marktplatz eröffnet, sahen wir nun plötzlich die Gefahr, die wir zu bestehen hatten. Der Rückzug des Reservecorps ging quer durch die Stadt; der ganze Marktplatz war mit Kanonen und Munitionswagen der Fliehenden bedeckt, eine Menge Krieger suchten in Eile diese fortzubringen; aus den Straßen, die von der Saale nach dem Marktplatz führten, hörten wir Schüsse fallen, und wir sollten die Richtung der Flucht der sich drängenden, fliehenden Masse in einem rechten Winkel durchschneiden.12
Nachrückende marodierende französische Soldaten erschwerten die Flucht der beiden Familien zusätzlich und Steffens, der die zehn Monate alte Clara auf dem Arm trug, geriet dabei in große Gefahr, wie es Schleiermacher in einem Brief an den maßgeblichen Verleger der Romantik Georg Andreas Reimer (1776–1842) schilderte: Wir sputeten uns auch möglichst allein ich hatte mit Hanne noch nicht unsere Straße erreicht als schon hinter uns in der Stadt geschossen wurde, und Steffens wäre mit dem Kinde auf dem Arm beinahe in das Gedränge der retirirenden Preußen und vordringenden Franzosen gerathen.13
|| 11 Ebd., Bd. 5, S. 123. 12 Ebd., S. 124. 13 Schleiermacher an Reimer, Halle, 04.11.1806. In: Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Abt. V: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 9: Briefwechsel 1806– 1807 [= KGA V/9]. Hg. v. Andreas Arndt u. Simon Gerber. Berlin u. New York 2011, S. 180–182, hier S. 181.
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3 Erste Zeit der Besetzung – „Doch die Ruhe dauerte nicht lange“ Mit Erreichen des rettenden Schleiermacherhauses glaubte man sich anfangs in Sicherheit. Doch nur wenige Stunden später wurden die beiden Familien, sowie Gaß, Opfer von Plünderungen durch vorbeiziehende Soldaten: [W]ir mußten alle drei unsere Uhren hergeben, Gaß auch sein Silbergeld (Steffens hatte schon keins mehr) bei mir fanden sie auch nur einige Thaler aber alle meine Oberhemden nahmen sie bis auf fünf […] und alle silberne Löffel bis auf zwei.14
Die erste Nacht im besetzten Halle verbrachte die geflüchtete Gesellschaft im Haus des Jura-Kollegen Christian Gottlieb Konopaks (1767–1841), bevor man erneut bei Schleiermachers Schutz suchte. Steffens blieb mit seiner Familie bis in den November, wo man sich die Räumlichkeiten mit dort einquartierten französischen Beamten teilen musste. Entgegen der ersten Ankündigung15 durch Napoleons Marschall JeanBaptiste Bernadotte vom 19. Oktober wurde die Universität nur einen Tag später auf Befehl Napoleons geschlossen. Auslöser war der Verdacht gegen einige Professoren, Studenten mit aufrührerischen Schriften versorgt und diese zu aufsässigem Verhalten angestachelt zu haben.16 Varnhagen notierte in seinen Denkwürdigkeiten später, dass der Befehl zunächst auch für die Professoren gegolten habe; dann aber wurde „die Ausführung [...] nur durch Wohlmeinung einiger Mittelspersonen um einen Tag verzögert und dann bloß auf die Studenten beschränkt“.17 Die 1280 Studenten hatten die Stadt zu verlassen und in ihre Heimat zurückzukehren, sofern sie nicht aus Halle stammten. Die Gehaltszahlungen an die Professoren der Universität wurden eingestellt. „Wir, die Lehrer, blieben in der wüsten, öden Stadt zurück: unser Amt, unsere Thätigkeit war vernichtet, unsere zukünftige Stellung noch unbestimmt.“18
|| 14 Ebd., S. 181. 15 Siehe hierzu die Wiedergabe der französischsprachigen Ankündigung in Steffens’ Autobiografie (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 128. 16 Vgl. Günter Schenk u. Regina Meyer: Die Philosophische Fakultät der Universität zu HalleWittenberg von 1694 bis 1933. Halle 2018, S. 179. Ebenso: Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 133f. 17 Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten (wie Anm. 6), S. 382. 18 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 135.
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4 „Die schönste Aussicht […] zu Tode zu hungern“ Es folgten für Steffens anderthalb Jahre ohne eine feste Anstellung – untätig war der Wissenschaftler allerdings nicht, sondern vertiefte sich in das Verfassen eines naturwissenschaftlichen Aufsatzes zur Vegetation.19 Die Unklarheit über die berufliche Perspektive muss nicht wenig belastend gewesen sein, davon zeugen Briefe, die er nach seinem Weggang aus Halle Ende 1806 aus dem selbstgewählten Exil bei Familienangehörigen in Hamburg und bei Freunden in der Nähe von Flensburg verfasst hat. Eine Rückkehr nach Dänemark, an die Universität Kopenhagen, hatte Steffens spätestens im Sommer 1807 ausgeschlossen, nachdem er im März 1807 hoffnungsfroh nach Kiel gereist war, um während einer Audienz mit dem Prinzregenten Frederik zu verhandeln, der ihm eine Professur anbot – man habe ihm zwar „schöne, so gar glænzende Antræge“ gemacht, jedoch mit der „kleinen Bedingung nicht Vorlesungen zu halten“.20 Die Konversation ist bemerkenswert, kann man aus ihr doch schließen, dass der dänische Prinzregent Kenntnis von Steffens’ Arbeiten hatte und ihm die fachlichen und sozialen Kontroversen nicht unbekannt waren, darüber hinaus zeigen sie ein für die damaligen Konventionen ungewöhnlich direktes Verhalten: „Es ist mir lieb,“ sagte der Prinz-Regent, „daß Sie wieder zu uns kommen; Sie sind ein guter Kopf, wir werden Sie brauchen können: aber Vorlesungen dürfen Sie nicht halten.“ Weder Graf Schimmelmann [der dänische Finanzminister, d. Verf.] noch mein Bruder hatten mich einen solchen Empfang ahnen lassen. „Ich bedaure,“ antwortete ich darauf, „Ew. Königliche Hoheit, daß ich dann mich als aus meinem Vaterlande, aus dem Dienste ausgeschieden betrachten muß.“ Diese erste Anrede erschütterte mich so, daß ich mich ganz vergaß, mich verneigte, und gegen alle Sitte, Miene machte, mich stillschweigend zu entfernen. Da äußerte sich die persönliche Güte des Prinz-Regenten. „Sind Sie so kurz angebunden?“ sagte er, „wir können doch mit einander sprechen.“ Ich blieb stehen. „Ich kann Sie nicht lesen lassen,“ fuhr er fort, „Sie machen mir meine Unterthanen verrückt.“21
Der Prinzregent und der stellungslose Professor attackierten sich gegenseitig, das Gespräch wird als laut geschildert; bemerkenswert wird gewesen sein, dass Steffens, als preußischer Professor beurlaubt, unter Auflagen die Chance bekam, in
|| 19 H. Steffens: Ueber die Vegetation. In: Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft 3/2 (1808), S. 127–197. 20 Steffens an Schelling, 09.07.1807. In: Wolfgang Feigs: Deskriptive Edition auf Allograph-, Wort- und Satzniveau, demonstriert an handschriftlich überlieferten, deutschsprachigen Briefen von H. Steffens. Teil 2: Briefe 1799–1844, Kommentar, Register. Bern u. Frankfurt a.M. 1982, S. 116f., hier S. 116. 21 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 152.
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die Dienste des dänischen Staates zu treten, also ausgerechnet des Staates, der mit jener Macht verbündet war, die gerade seine Entlassung verfügt hatte – mit Napoleons Frankreich. Dass der Prinzregent sich despektierlich über die unterlegene preußische Armee äußerte, traf wiederum Steffens’ deutschen Nerv, war er doch mit Preußen identifiziert und konnte der französischen Besatzungsmacht, die in Halle marodiert hatte, nichts abgewinnen. Wenn es nicht Steffens’ Sturheit gewesen wäre, die diesmal seine Anstellung in Kopenhagen verhindert hat, dann wäre es sicher der Kriegsverlauf gewesen, der der Übersiedlung von Steffens entgegengestanden hätte: Am 16. August 1807 landeten englische Truppen nördlich von Kopenhagen, von Land und von See wurde in einem ersten Bombardement der Geschichte ein ziviles Ziel, die Innenstadt, in Schutt und Asche gelegt; auch unschätzbare isländische Handschriften wurden ein Raub der Flammen. Als „freundschaftliches Bombardement“ ist es in die Annalen eingegangen.22 Große Hoffnung setzte Steffens ab August 1807 auf eine Anstellung an der Universität München, die 1806 noch ihren Sitz in Landshut hatte. Mit seinem Freund Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854), der seit 1806 im bayerischen Staatsdienst stand und durch die Mitgliedschaft in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften breit vernetzt war, besaß er einen Fürsprecher vor Ort, der bereit war, sich für seine Berufung nach München einzusetzen. Inwiefern es ernsthafte Verhandlungen in München gegeben hat, ist nicht rekonstruierbar, doch Schellings Frage nach Steffens’ Gehalt in Halle bis 1806 zeugen von ernsthaften Versuchen des Freundes. Ebenso gibt ein von Steffens an ihn übermittelter Brief seiner Hamburger Bekannten Johanna Margaretha Sieveking (1796– 1825) Auskunft darüber, dass er versucht hatte, bei Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), dem Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Dringlichkeit einer Anstellung von Steffens zu erklären. Gleichwohl waren es wohl finanzielle Gründe, weshalb man sich entschied, keine „Auslænder“, in dem Fall nicht-bayerische Gelehrte, an die süddeutsche Universität zu holen und zunächst nur die wichtigsten Positionen neu zu besetzen.23 Ein Jahr
|| 22 Rasmus Glenthøj u. Jens Rahbek Rasmussen (Hg.): Det venskabelige bombardement. København 1807 som historisk begivenhed og national myte. Kopenhagen 2007. 23 In dem von Steffens zitierten Brief von Lene Jacobi an Johanna Margaretha Sieveking heißt es wörtlich: „In diesem Augenblick kann Fritz [Friedrich Heinrich Jacobi, d. Verf.] noch nichts für Steffens thun, so gut wir auch solche Mænner brauchen könnten; aber diese gehören für unsere hiesige Wirtschaft, die arm wie die Siebenkæsische ist, noch unter die Bratenschüsseln, wir müssen vors erste nur den Zinnschrank besezt haben“. Steffens kommentierte die Stelle abschließend verärgert folgendermaßen: „Sonst habe ich jezt entdeckt, warum ich niemals dahinkommen darf einen Braten zu essen, nehmlich weil ich selber einer bin.“ Steffens an Schelling, 02.12.1807. In: Feigs: Deskriptive Edition (wie Anm. 20), S. 130f.
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nach Schließung der Universität Halle hatte sich Steffens’ private Situation derart zugespitzt, dass er verzweifelt an Schelling schrieb: „Ich habe in der That, sollte es Euch in München nicht gelingen, die schönste Aussicht, mit meiner Familie zu Tode zu hungern.“24 Neben der Hoffnung auf München richtete sich Steffens’ Interesse auch auf Berlin, wo es Pläne zur Gründung einer Universität gab, die aber erst 1810 realisiert wurden. Schleiermacher, der Ende 1807 nach Berlin gegangen war und dort Privatvorlesungen hielt, sowie der gemeinsame hallische Medizin-Kollege Ludwig Friedrich von Froriep (1779–1847) setzten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten ebenso für Steffens ein wie auch sein hallischer Freund und Medizinkollege Johann Christian Reil (1759–1813).25 Ende 1807 erfuhr Steffens, dass die Universität Halle wiedereröffnet werden soll, und wandte sich sogleich an Johannes von Müller (1752–1809), den Direktor für öffentlichen Unterricht im Königreich Westphalen, um sich nach den Rahmenbedingungen für seine Rückkehr nach Halle zu erkundigen. So wies er auf seine wissenschaftlichen Überzeugungen in den naturwissenschaftlichen Fächern hin und kündigte an, „die Ansichten französischer Gelehrten […] bestreiten“ zu wollen. Auch spreche er weder Französisch, noch habe er „Zeit noch Lust […] es weit darin zu bringen“. Ferner habe er „unsæglich gelitten“ und könne nicht mit „geringern Gehalte, als ich hatte“, angestellt werden.26 Trotz dieser Bedingungen bot man Steffens die Wiederaufnahme seiner alten Stelle an, mangels anderer Möglichkeiten akzeptierte dieser schließlich und kehrte Mitte März 1808 zurück. Offenbar hatte man ihm die Zustände in Halle bereits in Briefen beschrieben, denn Steffens schien positiv überrascht, wie er Schelling schrieb: „[M]an hatte mir alles viel ærger geschildert, als es ist“.27
5 Zurück nach Halle Mit der Rückkehr nach Halle begann für Steffens seine zweite hallische Periode. Im Mai wurde die Universität offiziell mit einem Festakt wiedereröffnet, doch nur ein Bruchteil der früheren Studenten war zurückgekehrt. Ebenso waren viele hallische Professoren unter anderem in Reaktion auf den Verlust der Uni-
|| 24 Steffens an Schelling, 14.11.1807. In: ebd., S. 128. 25 Zu Steffens’ Bemühungen um eine Anstellung in Berlin siehe Marit Bergner: Henrich Steffens. Ein politischer Professor in Umbruchzeiten 1806–1819. Frankfurt a.M. 2016, S. 81–88. 26 Steffens an Müller, 23.12.1807. In: Feigs: Deskriptive Edition (wie Anm. 20) S. 133. 27 Steffens an Schelling, 16.03.1808. In: ebd., S. 146.
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versität Halle und in Erwartung der zu gründenden Berliner Universität abgewandert. Obgleich die Universität zu Berlin28 erst 1810 eröffnet wurde, waren neben Schleiermacher auch der Altphilologe Friedrich August Wolf (1759–1824) und der Jurist Anton Heinrich Theodor Schmalz (1760–1831) bereits nach Berlin gezogen und hielten vom Sommer 1807 bis zum Sommer 1810 öffentliche Vorlesungen,29 Reil verließ Halle 1810. Steffens’ Befürchtung, die Universität könne zu einer „Landschule“30 absinken, schien sich somit zu bewahrheiten: 174 Studenten waren im Mai 1808 immatrikuliert – noch im Sommerhalbjahr 1806 waren es 1100 gewesen.31 Vor diesem Hintergrund sind auch seine Bemühungen zu verstehen, eine Bergakademie in Halle zu errichten, um die Attraktivität der einst blühenden Universitätsstadt Halle wieder zu steigern.32 Allerdings kam die Einrichtung des neuen Instituts nicht voran, sie blieb ein „todtgebornes“,33 und auch Steffens’ Zuhörerzahlen, der er Naturphilosophie, Geognosie und Naturgeschichte der Erde vortrug, blieben mit sechs bis sieben Studenten auf sehr niedrigem Niveau. Auch von den früheren Geselligkeiten Halles waren 1808 nicht viele mehr übrig.34 Die bis zum Krieg in der Moritzburg stattfindenden öffentlichen Konzerte waren mit Kriegsbeginn eingestellt und auch nicht wieder aufgenommen worden.35 Neben den häuslichen Tischgesellschaften in den Wohnungen der hallischen Professoren wie Schleiermacher, Steffens und Niemeyer war besonders der Garten von Steffens’ Schwiegervater Johann Friedrich Reichardt in
|| 28 Zur Gründung der Universität in Berlin siehe: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810– 2010. Bd. 1: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810–1918. Hg. v. Heinz-Elmar Tenorth u. Charles E. McClelland in Zusammenarb. mit Torsten Lüdtke, Hannah Lotte Lund u. Werner Treß. Berlin 2012. 29 Vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Eine Universität zu Berlin – Vorgeschichte und Einrichtung. In: ebd., S. 3–76, hier S. 38f. Zur Konkretisierung der Berliner Universitätspläne und der Initiative der hallischen Professoren Schmalz und Froriep vgl. ebd., S. 40f. 30 Steffens an Schelling, 17.02.1808. In: Feigs: Deskriptive Edition (wie Anm. 20), S. 142. 31 Vgl. Konrad Glatzer: Aus der Geschichte der Universität Halle. Die Gründung der Friedrichsuniversität und ihre Geschichte bis zur Vereinigung mit der Universität Wittenberg nebst einer Darstellung des studentischen Lebens in Halle bis zu den deutschen Freiheitskriegen. Leipzig 1895, S. 26 u. 28. 32 Vgl. Marit Bergners Beitrag in diesem Band. 33 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 32. 34 Zu den hallischen Geselligkeiten vgl. den Beitrag von Jessika Piechocki in diesem Band sowie dies.: Bürgerliche Geselligkeit und Bildung um 1800. August Hermann und Agnes Wilhelmine Niemeyer in Halle. Halle 2022. 35 Vgl. ebd., S. 292.
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Giebichenstein ein Ort des geselligen Beisammenseins, der „Herberge der Romantik“, des intellektuellen Austauschs und des gemeinsamen Musizierens gewesen.36 Reichardt aber war mit seiner Familie nach Kassel gezogen, wo er die Leitung des Königlichen Theaters und der Königlichen Oper am Hof des westphälischen Königs Jérôme angenommen hatte. Mit den verbliebenen Kollegen hatte Steffens bereits vor der Besatzungszeit keinen privaten Umgang gepflegt; das änderte sich auch unter dem Eindruck der Wiedereröffnung der Universität nicht. Über seinen Kollegen, den Medizinprofessor Johann Horkel (1769–1846), schrieb Steffens despektierlich in seiner Autobiografie: „Horkel saß verschlossen auf seiner Stube; seine Hausgenossin war eine Schildkröte.“37 Zusammenfassend resümierte Steffens den Wiederbeginn in Halle folgendermaßen: Denn wie die Zuhörer verschwunden waren […] so war auch der wissenschaftliche Verkehr, das große, schöne gemeinschaftliche Geistesleben, welches auch in der Entfernung die Gleichgesinnten verband, verstummt; das fröhliche Wechselgespräch durch Schriften, wie durch Briefe, ließ sich kaum mehr hören.38
Die Einschränkungen des geselligen Lebens müssen für Steffens besonders schmerzlich gewesen sein, wird doch von so gut wie allen Zeitgenossen seine Neugier, die umgängliche, ja sprudelnde Art seines Umgangs bestätigt, und schreibt er doch am Ende seines Lebens, dass „in Beziehung auf meine geistige Beschäftigung und durch die ganze Art meines Lebens, durch die Neigung zur Geselligkeit“ seine Wissenschaft und seine Menschlichkeit geprägt waren – um dann fortzusetzen, dass er dadurch „von jeher mit geistreichen Frauen in Verbindung“ kam. Er nennt hier Bettina von Arnim (1785–1859), Caroline de la Motte Fouqué (1773–1831) und Rahel Varnhagen von Ense (1771–1833).39
6 Wissenschaftliche Betriebsamkeit Blickt man auf Steffens’ Veröffentlichungen aus den Jahren 1808–1811, so fällt auf, dass er, anders als man aufgrund der politischen und wissenschaftlichen
|| 36 Vgl. Jessika Piechocki u. Pia Schmid: Gebildete Geselligkeit – gesellige Bildung. Hallisches Bildungsbürgertum um 1800: Der Kreis um J. F. Reichardt. In: Thomas Müller-Bahlke (Hg.): Bildung und städtische Gesellschaft. Beiträge zur hallischen Stadtgeschichte. Halle 2003, S. 69–77. 37 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 21. 38 Ebd., S. 37. 39 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 9, S. 213.
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Umstände hätte erwarten können, in diesen vier Jahren jährlich mit einer Publikation aufwarten konnte. Zu seinen wissenschaftspolitischen Schriften ist die Veröffentlichung seiner im Wintersemester 1808/09 gehaltenen Vorlesungen Ueber die Idee der Universitäten zu rechnen, die 1809 erschienen. Es ist anzunehmen, dass die Idee dazu zum einen dem Geist der Zeit entsprungen war, zum anderen aber auch seiner Ambition, Halle gegen Berlin zu tauschen. Dass er auf einer Berufungsliste stand, wie er suggeriert, ist unwahrscheinlich – zu groß war die Zahl seiner Widersacher.40 Neben dem erwähnten Werk über die Universität von 1809 kam bereits 1808 in Schellings Journal Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft der Aufsatz „Ueber die Vegetation“ heraus,41 an dem Steffens im holsteinischen Exil gearbeitet hatte. 1810 folgte mit den Geognostisch-geologischen Aufsätzen als Vorbereitung zu einer innern Naturgeschichte der Erde42 eine weitere naturwissenschaftliche Schrift, in der sich Steffens mit der Erforschung der Erdentwicklung anhand verschiedener Beispiele auseinandersetzte. So werden die Salzquellen bei Oldesloe ebenso behandelt wie die organischen Funktionen bei der Entstehung von Gebirgen.43 Und schließlich veröffentlichte Steffens in Philipp Otto Runges (1777–1810) Abhandlung zur Farben-Kugel44 einen Aufsatz über Farben,45 von dem er selbst gegenüber Schleiermacher postulierte: „Es ist ohne Bedenken das Beste was ich jemals schrieb. Von Seiten der Sprache, der Darstellung, der Ideen ist es gewiss das Gelungenste.“46 Die vier Schriften zeugen von Steffens’ fachlicher Vielfalt und praktizierter Interdisziplinarität, insofern ‚lebte‘ er die Einheit der Wissenschaft. Sie verdeutlichen aber auch, dass seine wissenschaftliche Kreativität unabhängig von der aktuellen Lebenssituation war und er Zeit fand,
|| 40 Vgl. den Beitrag von Bernd Henningsen in diesem Band. 41 Steffens: Ueber die Vegetation (wie Anm. 19). 42 Henrich Steffens: Geognostisch-geologische Aufsätze als Vorbereitung zu einer innern Naturgeschichte der Erde. Hamburg 1810. 43 Vgl. den Beitrag von Norman Kasper in diesem Band. 44 Henrik Steffens: Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur. In: Philipp Otto Runge: Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zu einander, und ihrer vollständigen Affinität, mit angehängtem Versuch einer Abteilung der Harmonie in den Zusammenstellungen der Farben. Von Philipp Otto Runge, Mahler. Nebst einer Abhandlung über die Bedeutung der Farben in der Natur, von Hrn. Prof. Henrik Steffens in Halle. Mit einem Kupfer, und einer beygelegten Farbentafel. Hamburg 1810, S. 29–60. Vgl. auch den Wiederabdruck des Originals im Anhang. 45 Vgl. den Beitrag von Elisabeth Décultot in diesem Band. 46 Steffens an Schleiermacher, Anfang Januar 1810. In: Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Abt.V: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 11: Briefwechsel 1809–1810 [= KGA V/11]. Hg. v. Simon Gerber u. Sarah Schmidt. Berlin u. Boston 2015, S. 356–359, hier S. 358.
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frühere wissenschaftliche Korrespondenzen wiederaufzunehmen. So belegt ein Brief Steffens’ an Johann Wolfgang von Goethe vom Herbst 1809, dass er die Forschungsarbeiten anderer weiterhin im Blick hatte.47 Mit Schelling ließ der Kontakt nach der Veröffentlichung in dessen Journal 1808 dagegen nach. Für den Zeitraum zwischen September 1808 und Mai 1816 lässt sich keine Korrespondenz nachweisen, vielmehr bedauerte Steffens bei Wiederaufnahme des Kontakts 1816 die lange „Trennung, da wir so verschiedenartig angeregt wurden“ und verband den Brief mit der Hoffnung, „nach Verlauf so vieler Jahre uns wieder [zu] næher[]en“.48 Während seiner letzten Zeit in Halle begann Steffens mit der Ausarbeitung seines vierbändigen oryktognostischen Handbuchs, das er aber erst 1824 abschloss.49
7 Veränderter Alltag Es waren andere Personen, zu denen Steffens ab 1808 den Kontakt intensivierte bzw. erstmals suchte. Die Tatsache hinnehmend, dass weder aus einer Berufung nach München noch aus der großen Hoffnung auf eine Professur in Berlin etwas werden würde, schien sich Steffens mit seiner Lage in Halle arrangiert zu haben. Alte Freundschaften wurden erneuert, wie die zu Oehlenschläger, den er bereits 1802 in Kopenhagen kennen und schätzen gelernt hatte, eine für die geistes- und literaturgeschichtliche Entwicklung Dänemarks bekanntlich folgenreiche Begegnung, soll mit Steffens, vermittelt durch Oehlenschläger, doch die Romantik im Norden Einzug gehalten haben, Oehlenschläger durch Steffens zum romantischen Dichterkönig geworden sein. Schon im Sommer 1805 hatte es mit ihm ein enthusiastisches Wiedersehen gegeben, als Oehlenschläger mittels eines Stipendiums fünf Monate bei Steffens in Halle studieren und arbeiten konnte.50
|| 47 Steffens an Goethe, 03.10.1809. In: Feigs: Deskriptive Edition (wie Anm. 20), S. 162f. Die Antwort von Goethe vom 9. Oktober 1809 ist 1889 in der Sophien- bzw. Weimarer Ausgabe (Abt. IV, Bd. 21) der Schriften Goethes erschienen. 48 Steffens an Schelling, 16.05.1816. In: Feigs: Deskriptive Edition (wie Anm. 20), S. 211f. 49 Henrik Steffens: Vollständiges Handbuch der Oryktognosie. 4 Bde. Halle 1811–1824. 50 Vgl. Ejnar Thomsen: Omkring Oehlenschlägers tyske Quijotiade. Kopenhagen 1950 und Povl Ingerslev-Jensen: Den unge Oehlenschläger. Kopenhagen 1972. Der Zeitraum lässt sich besonders auch durch Briefe Oehlenschlägers verifizieren. Steffens dagegen gibt in seiner Autobiografie an, Oehlenschläger habe „fast ein Jahr“ bei ihm verbracht. Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 105.
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Bereits kurz nach ihrer Rückkehr nach Halle war die Familie Steffens vom Paradeplatz zunächst in die Große Märkerstraße 23 und dann in die Großen Ulrichstraße 12 gezogen, in eine Wohnung,51 die einer von Reils Schwestern gehörte; Reil selbst betrieb einige Häuser weiter seine Arztpraxis.52 1809 zogen auch Steffens’ Schwiegermutter und seine Schwägerinnen zurück nach Halle, während Reichardt, der in Kassel in Ungnade gefallen war, nach Wien übersiedelte. Im Sommer 1809 verwandelte sich Steffens’ Wohnung daher in „ein wahres Wirthshaus“,53 wie er Schleiermacher launig berichtete. Neben Oehlenschläger, der sich auf seiner Rückreise nach Kopenhagen ein paar Tage bei Steffens aufhielt, verbrachte Wilhelm Grimm den Sommer zur Kur in Halle, wo er sich im selben Wohnhaus wie Steffens einmietete, um ein „Herzübel“ bei Reil zu kurieren.54 Seine Übersetzungen altdänischer Gedichte waren Steffens bereits aus Kassel nach Halle zur Durchsicht übersandt worden; diesen „freute es“, dass er „ihm bei manchen zweifelhaften Stellen behülflich sein konnte“, ja die Arbeit mit Grimm hat für Steffens fast therapeutischen Charakter: Seine Beschäftigung hatte für mich etwas sehr Anziehendes, und es war mir angenehm, durch freundliches Zusammenleben und täglichen lehrreichen Umgang, durch die stille Beschäftigung und durch die gründliche Forschung eines liebreichen jungen Mannes mit einer Richtung der Literatur, die so weit von meinen eigenen Studien entfernt lang […]. Wilhelm Grimm war mit Brentano zugleich da, und natürlich bildete die alte deutsche Poesie den Hauptgegenstand unserer Gespräche.55
Dass sie sich „fast ein Jahr lang täglich“56 gesehen haben wollen, ist mit den Lebensumständen von Wilhelm Grimm indes schwer in Einklang zu bringen.57 Clemens Brentano (1778–1842), den Steffens ebenfalls bereits in Jena kennengelernt hatte, quartierte sich für sechs Wochen direkt bei ihm ein – sein Ex-postUrteil in der Autobiografie über den Mitherausgeber des Knaben Wunderhorn ist || 51 Heute Große Ulrichstraße 10, vgl. Anon.: Steffensstraße: Zusatzschilder erinnern an Namensgeber. In: Halle Spektrum, 17. Januar 2014, https://hallespektrum.de/nachrichten/vermischtes/stef fensstrasse-zusatzschilder-erinnern-an-namensgeber/82375/ [06.06.2023]. 52 Vgl. Maximilian Schochow u. Florian Steger: Johann Christian Reil (1759–1813). Stadtphysikus, Universalmediziner und Wegbereiter der Psychiatrie. In: Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 5 (2013), S. 71f. 53 Steffens an Schleiermacher, vor dem 9. Januar 1810. In: Schleiermacher: KGA V/11 (wie Anm. 46), S. 356–359, hier S. 357. 54 Vgl. Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 84. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Vgl. Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2010, S. 143–145.
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wenig schmeichelhaft: „dieser überschwengliche Dilettant, […] den man als den Urheber der fliegenden Phantasie betrachten kann“.58 Den Nachteil dieser Besuche kommentierte Steffens gegenüber Schleiermacher so: Und leider ist Halle jezt, als wenn man auf dem Lande wohnte, dass heisst, dass man sie alle allein amusiren muss. Auch stellen die meisten sich kaum vor dass ein Mann mit 1000 Rthr. Gehalt verdammt arm sein kann.59
Der Sommer 1809 bildete eine Ausnahme in traurigen Zeiten, im Ganzen empfand Steffens sein neues hallisches Leben als „einsam“,60 das ihn traurig an „die schönste Zeit meines Lebens“ erinnerte,61 wie er seine hallische Zeit vor dem Krieg bezeichnete; daran konnten auch die vergleichsweise entspannten Sommerwochen 1809 nicht anknüpfen. Wilhelm Grimm bestätigt dieses Sentiment, wenn er, im November von Berlin kommend auf der Durchreise nach Weimar, die „Familienidylle“ der Familie Steffens in Halle und auf Giebichenstein beschreibt.62 Privat folgte mit dem Jahr 1810 für Steffens ein annus horribilis – verlor er im Sommer gleich zwei seiner drei Kinder, einen wenige Wochen alten Sohn und die knapp dreijährige Tochter Anna Cecilia (1807–1810), während des Hamburger Exils geboren.
8 „Geheime politische Unternehmungen“ Über die von Steffens in der Autobiografie als „geheime politische Unternehmungen“63 bezeichneten widerständlerischen Aktivitäten der Jahre 1808/09 ist nur wenig bekannt, und das Wenige stammt von ihm selber. Sehr wahrscheinlich hatte er durch Schleiermacher Zugang zu den „antinapoleonischen Gruppierungen“ gefunden.64 Schleiermacher hatte schon kurz
|| 58 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 82. 59 Steffens an Schleiermacher, vor dem 9. Januar 1810. In: Schleiermacher: KGA V/11 (wie Anm. 46), S. 356–359, hier S. 357. 60 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 86. 61 Ebd., S. 75. 62 Martus: Die Brüder Grimm (wie Anm. 57), S. 169. 63 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 104–149. 64 Vgl. Sarah Schmidt: „Es ist doch sehr fatal, dass wir so weit auseinander sind“ – Stationen einer Freundschaft zwischen Steffens und Schleiermacher aus Briefen und Dokumenten. In:
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nach seiner Niederlassung in Berlin im Winter 1808 Kontakte zu Angehörigen der Reformpartei um Staatskanzler Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757–1831) und Karl August von Hardenberg (1750–1822). Der Wunsch, sich der französischen Besatzungsmacht durch militärische Gegenwehr zu entledigen, war in den ersten Monaten des Jahres 1808 gewachsen, nachdem Napoleon den spanischen König sowie den Thronfolger zur Abdankung gezwungen und die Krone an seinen Bruder Joseph Bonaparte (1768– 1844) übergeben hatte. Landesweit entstanden in Preußen patriotische Vereinigungen, die sich als „Organisationszentren des antifranzösischen Widerstandes“ verstanden und deren Ziel es war, „umfassende Vorbereitungen für den Kriegsfall zu treffen, wozu die Auskundschaftung der französischen Militärstärke, der Truppenverteilung des Feindes, aber auch die Waffenbeschaffung und die Knüpfung eines weitreichenden informellen Verbundssystems gehörten“.65 Diese Vereinigungen, zu denen auch der Königsberger Tugendbund gehörte, waren häufig aus freimaurerischen Verbindungen hervorgegangen und untereinander sehr gut vernetzt, so dass sich die Kontakte über ganz Norddeutschland erstreckten. Vertrauenswürdige Privatpersonen unterstützten die einzelnen Gruppierungen besonders bei den Auskundschaftungen der französischen Truppen. Schleiermacher war im Spätsommer 1808 in Königsberg gewesen, wo er Gespräche mit den preußischen Militärs August Neidhart von Gneisenau (1760– 1831) und Gerhard Johann David von Scharnhorst (1755–1813) führte und in einem codierten Brief darüber an Georg Andreas Reimer im besetzten Berlin berichtete.66 Schleiermachers Mitgliedschaft in der Berliner Widerstandsgruppe um den Berliner Stadtkommandanten Ludwig Egmont Adolph Graf von Châsot (1763–1813) ist nicht belegt, dennoch verfügte er, den Briefen nach zu urteilen, über ausreichendes Detailwissen, um als Mittelsmann fungiert gehabtzu haben.67 Im Anschluss an seine erneute Reise nach Königsberg im Oktober 1808 traf Schleiermacher auf dem Rückweg Steffens und den Prediger Ludwig Gottfried
|| dies. u. Leon Miodoński (Hg.): System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens. Berlin u. Boston 2018, S. 33–64. 65 Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. 2 Teilbde. Berlin u. New York 2004, Teilbd. 1, S. 213. 66 Schleiermacher an Reimer, Königsberg, 30.08.1808. In: Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Abt. V: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 10: Briefwechsel 1808 [= KGA V/10]. Hg. v. Simon Gerber u. Sarah Schmidt. Berlin u. Boston 2015, S. 212–214. 67 Zu Schleiermachers Königsberger Mission vgl. auch Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft (wie Anm. 65), Teilbd. 1, S. 220–230.
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Blanc (1781–1866) in Dessau. Dass es sich um kein zufälliges Treffen handelte, ist auch in Steffens’ Autobiografie nachzulesen: Ich erhielt mit meinem Freunde Blanc die Aufforderung, nach Dessau zu reisen, und als wir zur bestimmten Zeit im Gasthofe abstiegen, fanden wir dort mehrere Freunde aus Berlin. Schleiermacher, Reimer mit einem Verwandten, und Herrn v. Lützow, den jetzigen General-Lieutenant.68
Hier wurde Steffens und Blanc das Versprechen abgenommen, die Truppenbewegungen in Halle zu beobachten und „auf eine jede Bewegung des französischen Heeres aufmerksam zu sein“.69 Alle Beobachtungen sollten in Berlin durch ein „geheimes Comité“ ausgewertet werden.70 Wie im sechsten Band seiner Autobiografie ausführlich zu lesen ist, wird Steffens kurz darauf in Halle als Nachrichtenübermittler angesprochen, er gibt Ratschläge, sucht Verbündete, spricht von „Guerillakrieg“71 – die Angst vor Spitzeln als ständigen Begleiter. Beobachtungen will er dem ihn regelmäßig aufsuchenden Mittelsmann mündlich mitgeteilt oder auch in codierten Briefen direkt an Châsot weitergeleitet haben. Hierzu verwendet Steffens zwei verschiedene Techniken: Ich habe früher davon gesprochen, wie man Briefe schrieb, scheinbar gleichgültigen Inhalts, die Zeilen aber wurden mit einem Papier bedeckt, in welchem längliche Streifen ausgeschnitten waren; wenn man dieses Papier auf den Brief legte, traten einzelne Perioden hervor, die aus dem Zusammenhange gerissen, unter sich in Verbindung traten und die Nachricht, die gegeben werden sollte, oder den Auftrag, den man ertheilen wollte, enthielten. Die Schwierigkeit, einen solchen Brief zu schreiben, war so groß, die vollkommen ungenirte Hineinfügung der bedeutenden Worte in einen andern Zusammenhang eine so große Aufgabe, daß der Versuch selten gelang. Ich war überhaupt verdächtig, erhielt nicht selten von der Polizei eröffnete Briefe und wenn mir Schreiben durch Boten aus Berlin geschickt wurden, mußten sie, wenn sie in die Hände der Polizei geriethen, doppelt verdächtig erscheinen. Ich warnte, und man brauchte jetzt unsichtbare Dinte, die zwischen den Zeilen eines gleichgültigen Briefes Nachrichten oder Aufträge verzeichneten. Diese Dinte trat durch irgend ein Reagens, meist durch Schwefelwasserstoff hervor, aber dadurch ward die Gefahr eher gesteigert als abgewandt. In den unsichtbaren Zeilen äußerte man sich unverholener; je gleichgültiger der Brief war, desto verdächtiger mußte er erscheinen.72
In den Wintermonaten 1809 wurde ihm seine geheime Tätigkeit zu gefährlich, hinzu kam eine Verletzung an der Hand, die ihn am Schreiben hinderte. In
|| 68 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 112. 69 Ebd., S. 114. 70 Ebd., S. 117. 71 Ebd., S. 105. 72 Ebd., S. 119.
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einem Brief, den Blanc für ihn verfasste, teilte Steffens Schleiermacher in verschlüsselten Worten mit, dass nun auch die „Geschäfte der ArmenAnstalt“ ruhten,73 er aber die Hoffnung habe, diese wieder aufnehmen zu können, denn „[w]enn auch nur wenigen geholfen würde und auch nur ein Elender gelabt würde so ist doch schon etwas geschehen und wir trösten uns mit unsrer guten Absicht“.74 Ähnlich wie er bereits in seiner Universitätsschrift auf die Naivität der französischen Besatzer setzte,75 spielt Steffens hier mit dem im Anlaut von „ArmenAnstalt“ mitzulesenden französischen Wort für ‚Waffen‘: armes.76 Seine Spionagetätigkeit hinsichtlich der französischen Waffen- und Truppenbewegungen hatte er jedenfalls eingestellt.77 Nur einen Monat später teilte er Schleiermacher, diesmal wieder von eigener (noch unsicherer) Hand mit, nicht mehr an das „Armenwesen“ zu denken, „denn alle sind weg und es wahr doch kernfaul“.78 Damit waren Steffens’ Widerstandsaktivitäten zunächst beendet. Zum aktiven Widerständler gegen die verhasste französische Besatzungsmacht und Kaiser Napoleon wird Steffens erst wieder nach seiner Berufung in die preußische Provinz, nämlich in Breslau. Dass er um sein Leben und das seiner Familie besorgt war, spricht deutlich aus den Seiten, die in der Rückschau Anfang der vierziger Jahre geschrieben sind – Verhaftungen und Verurteilungen in seinem Umfeld scheinen an der Tagesordnung gewesen zu sein; seine Abreise nach Breslau ist daher auch eine unter den Auspizien einer möglichen Verhaftung.79 Man kann aus den Abschnitten herauslesen, dass er aus Verachtung für den französischen Usurpator – Steffens war in jüngeren Jahren
|| 73 Steffens an Schleiermacher, 07.02.1809. In: Schleiermacher: KGA V/11 (wie Anm. 46), S. 76f., hier S. 77. 74 Ebd., S. 77. 75 Vgl. hierzu Steffens eigene Ausführungen in Band 6 seiner Autobiografie (wie Anm. 1), S. 109: „‚Sie würden, schrieb Billers, verloren sein, wenn Sie nicht für Ihre Darstellung eine Sprache gewählt hätten, die dem Franzosen ein völlig unverständliches Sanscrit ist.‘“ 76 Auf die Codierung des französischen Wortes „armes“ anhand des deutschen „Armensache“ macht Sarah Schmidt aufmerksam in ihrem Aufsatz „Es ist doch sehr fatal, dass wir so weit auseinander sind“ (wie Anm. 64), S. 44, Fußnote 40. 77 Steffens’ Aufgabe in Halle war folgende gewesen: „Ich mußte mich mit den verschiedenen Waffengattungen der Franzosen, mit den Namen der Heerführer, mit Benennung und Uniform der Regimenter bekannt machen; mußte auch auf die Durchmärsche der Truppen durch Halle achten, zu erfahren suchen, wo sie herkämen und wo sie hingingen.“ Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 118. 78 Steffens an Schleiermacher, 13.03.1809. In: Schleiermacher: KGA V/11 (wie Anm. 46), S. 156. 79 Wie gut Steffens daran getan hatte, dem Ruf nach Breslau zu folgen, zeigte sich im Dezember 1811, als Blanc gemeinsam mit weiteren Männern in Halle verhaftet wurde und zwei Jahre in Kassel einsaß.
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ein Verehrer der französischen Revolution gewesen – und der unmittelbaren Kriegserfahrung in Halle, als im buchstäblichen Sinne existentiell ‚Betroffener‘, zum aktiven Teilnehmer der ‚Befreiungskriege‘ wird; von Breslau zieht er 1813 als Seconde-Lieutenant in Blüchers Armee in die Völkerschlacht bei Leipzig und mit den siegreichen Preußen weiter nach Paris, um schließlich auf eigenen Wunsch von Friedrich Wilhelm III. im Mai 1814 entlassen zu werden: Da Sie jetzt dem Staate durch Ihre Rückkehr zu den Wissenschaften unstreitig nützlicher sein werden, als in Ihrem jetzigen Verhältnis zur Armee, so billige ich Ihren […] Mir vorgelegten Wunsch um Entlassung aus dem Militairdienst, und ertheile Ihnen den Abschied aus demselben mit der Versicherung, daß ich die patriotischen Aufopferungen dankbar anerkenne, mit denen Sie Ihren Mitbürgern in der Zeit der Gefahr rühmlich vorangegangen sind.80
Das Eiserne Kreuz wird ihm einige Zeit danach ausgehändigt (Abb. 2). Das königliche Wohlwollen, die Wertschätzung der Militärs werden auch darauf zurückzuführen sein, dass seine ‚politischen Unternehmungen‘, ob sie nun geheim oder öffentlich waren, bekannt waren.
Abb. 2: Henrik Steffens mit dem Eisernen Kreuz, Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsbibliothek, ID 13338.
|| 80 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 97.
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Die hallische Epoche in Steffens’ Leben dauerte, setzt man sie in Relation zu den vielen Jahren in Breslau und Berlin, vergleichsweise kurz. Dennoch war Halle der Ausgangsort von Steffens’ Etablierung in das europäische intellektuelle Netzwerk seiner Zeit. Aller äußeren Widrigkeiten zum Trotz verließ er Halle mit Publikationen, die bis in die heutige Zeit rezipiert werden und an ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben, was insbesondere für seine Universitätsschrift gilt. Sein politisches Engagement, welches das kommende Jahrzehnt in Breslau prägen sollte, hatte seine Wurzeln in Halle.
Bernd Henningsen
Nationale Wiedergeburt durch Bildung Die Gründer der modernen Universität um 1800 Im zweiten Dezennium des 19. Jahrhunderts wurden in Preußen drei Universitäten gegründet: 1810 in Berlin (eine Neugründung), 1811 in Breslau (ein Umzug von Frankfurt an der Oder) und 1818 in Bonn (auch eine Neugründung). Die Wiedererrichtung der traditionsreichen Universität Halle nach den Schließungen und dem Abzug der Truppen Napoleons am Ende des Krieges 1814/15 ist ebenfalls erwähnenswert. Zu dieser Serie muss man die Gründung der ersten norwegischen Universität in Christiania/Oslo 1811 hinzurechnen. Sie alle haben zu tun mit dem Prozess der Nationsbildung, sie alle sind eingebettet in den Wiederaufbau der Nationen am Ende der Napoleonischen Kriege – so war es die Absicht der Gründer: nationale Wiedergeburt durch Bildung und Universitätsreform.1 Und in der Tat trugen sie ganz wesentlich zur nationalen Sinnbildung bei. Insbesondere aber markieren sie den Beginn eines neuen Wissenschaftsparadigmas, sind also Teil einer sich neuformierenden Öffentlichkeit. Mit allen oben genannten Universitätsgründungen und darüber hinaus2 war auch die Person befasst, um die es hier gehen soll: Henrik Steffens (1773–1845). Drei Schriften gelten als die Gründungstexte des Humboldt’schen Universitätsmodells, die weit über Deutschland hinaus im 19. und 20. Jahrhundert den Siegeszug der Wissenschaft in beispielgebender Weise markieren, auch in internationaler Perspektive. Sie stammen von Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814), Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835); gelegentlich werden auch die Vorlesungen von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) von 1803 und die von Steffens aus dem Jahr 1809 hinzugerechnet, insofern haben wir es tatsächlich mit fünf solchen ‚Gründungstexten‘ zu tun. Bevor ich auf Steffens ausführlicher zu sprechen komme, möchte ich einige Anmerkungen über die Zeit um 1800 machen, über die Politik und den Geist dieser Zeit – es ist jene von Reinhart Koselleck mit dem Begriff „Sattelzeit“ be-
|| 1 Schnabel führt dies vor anhand von Fichte in Jena und Halle, an Steffens in Halle, vgl. Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Die vormärzliche Zeit. Freiburg 1964, S. 43f. 2 Zu Steffens’ institutionspolitischen Bemühungen um die Etablierung einer Bergakademie in Halle vgl. den Beitrag von Marit Bergner in diesem Band. https://doi.org/10.1515/9783111358826-010
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nannte Epoche. Nicht zufällig haben sich gerade die genannten Geister beim Wiederaufbau ihrer Gesellschaften engagiert – das Einheitsdenken der idealistischen Romantiker, jedenfalls die grundlegenden Maximen ihres Denkens sahen genau diesen gesellschaftlichen und politischen Einsatz vor. Die Politisierung der Intellektuellen – ihr Engagement in den Befreiungskriegen, aber auch für die Reform des Bildungswesens, um nur diese Beispiele zu nennen – ist insofern eingebettet in ihre romantische Philosophie von der Einheit von Denken und Sein, Wissenschaft „ist von der sozialen Welt nicht zu trennen“3. Ihr Movens waren die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erschütterungen, aber eben auch die philosophische Grundüberzeugung – an Steffens kann man dies sehr gut aufzeigen.
1. Wie alle seine Zeitgenossen ist Steffens tief geprägt von den Erfahrungen der Französischen Revolution – auch wenn er zu jung gewesen war, um diese unmittelbar gemacht zu haben. Sein Vater hat ihm die Begeisterung für die Revolution vermittelt, die sich unter dem Eindruck der nachfolgenden Eroberungszüge Napoleons zu einem regelrechten Franzosen-Hass einer ganzen mitteleuropäischen Generation wandelte, insbesondere der deutschen. Im Verlaufe der Kriegshandlungen wurde 1801 die dänische Flotte vernichtet, der Konglomeratstaat Dänemark (zu dem auch Norwegen gehörte) wurde in eine Koalition mit Napoleon gedrängt, 1807 beschossen englische Truppen Kopenhagen und legten die gesamte Innenstadt in Schutt und Asche – es war das erste Bombardement einer zivilen Stadt in der modernen Geschichte. 1813 meldete Dänemark Staatsbankrott an, 1814 musste es Norwegen an Schweden abtreten. Mit ähnlich traumatisierenden Folgen besiegten Napoleons Truppen in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 die preußischen, Berlin wurde besetzt und geplündert, der Königshof und die Regierung flohen nach Königsberg – Preußen war in Auflösung. In dieser politisch und militärisch deprimierenden Gemengelage entbrannte unter den Verantwortlichen eine Diskussion über die Wiederaufrichtung von Staat und Gesellschaft. Wie auch etwa im gebeutelten Dänemark oder in
|| 3 Dietrich von Engelhardt: Naturforschung im Zeitalter der Romantik. In: Walther Ch. Zimmerli, Klaus Sterin u. Michael Gerten (Hg.): „Fessellos durch die Systeme“. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Stuttgart 1997, S. 19–48, hier S. 40.
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Schweden, das 1809 Finnland an Russland abtreten musste, bündelten sich Reformpolitiken unter der Überschrift „Nach innen gewinnen, was nach außen verloren wurde“. Eine Militärreform, vor allem aber eine Kommunal- und Verwaltungsreform wurden in Preußen in Gang gesetzt, mit der das Vertrauen in den Staat wiedergewonnen werden sollte. In unserem Zusammenhang interessiert insbesondere die in den ersten Dezennien umgesetzte Universitätsreform, deren Promotoren die vier eingangs erwähnten Geistesgrößen waren und zu denen Steffens hinzugerechnet werden muss – wobei auch zur Vorgeschichte gehört, dass die Universitäten bereits vor den politischen und militärischen Katastrophen im Fokus der Kritik standen. Der junge Schelling etwa schrieb in seinen Anfangsjahren, dass Jena „ein kleines, häßlich gebautes Städtchen [sei], wo man nichts als Studenten, Professoren und Philister“ sehe, wissenschaftlich sei dort nicht viel los …4 Steffens stellt in seiner Universitätsschrift fest, dass „der Verfall der Universitäten mit dem Verfall der Nation selbst gleichen Schritt hält“5 – die Studenten sind ihm „die Hoffnung der Nation“.6 Wilhelm von Humboldts Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin von 1808/09 wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als das entscheidende Dokument zur neuen Konzeption einer Forschungsuniversität betrachtet, aber schon Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums7 von 1803 sind hier zu nennen sowie Schleiermachers Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn.8 Fichte äußerte sich verschiedentlich, zu erwähnen ist insbesondere seine Rektoratsrede von 1811 und natürlich die Reden an die deutsche Nation von 1808 – diese und die Schleiermacher’schen Predigten geben maßgeblich dem Reformwillen der Romantiker das Gepräge und den nationalen, gegen Frankreich gerichteten Grundton. Steffens hielt im Wintersemester
|| 4 Zit. nach Schnabel: Deutsche Geschichte IV (wie Anm. 1), S. 42. 5 Henrik Steffens: Ueber die Idee der Universitäten, Vorlesungen. Berlin 1809, S. 86. 6 Ebd., S. 17. 7 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des academischen Studiums. Tübingen 1803. 8 Die Texte von Fichte, Schleiermacher und Humboldt sind abgedruckt als: Gründungstexte. Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt. Mit einer editorischen Notiz v. Rüdiger vom Bruch. Festgabe zum 200-jährigen Jubiläum der Humboldt-Universität zu Berlin. Hg. v. Präsidenten der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2010, https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/18543 [22.08.2023]. Diese und weitere Dokumente und Briefe aus der Gründungszeit sind abgedruckt bei Wilhelm Weischedel (Hg.): Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Berlin 1960.
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1808/09 in Halle seine Vorlesungen „Ueber die Idee der Universitäten“ (veröffentlicht ein Jahr später), also mitten in der nationalen Katastrophe Preußens, Napoleon hatte die Universität mehrmals geschlossen: „Es ist unsere Absicht, durch die gegenwärtigen Vorträge den höheren Sinn und die Bedeutung der Bildung zu entwickeln, welches eben in Zeiten, wie den jetzigen, wichtiger als sonst sein möge.“9 Steffens feierte in seinen Vorlesungen die Universitäten als „Pfleger des nationalen Geistes und Erwecker innerer Freiheit“;10 im Jahr 1810 erschien in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung eine ausführliche, recht wohlwollende Besprechung.11 Aus dieser Zusammenschau von staatlicher Reformnotwendigkeit, politischem Engagement der Professoren und einem Bildungsauftrag erklärt sich so denn auch der Titel der Humboldt’schen Denkschrift – allen Reformern ging es um die „innere“ und die „äußere“ Organisation von Wissenschaft.12 Steffens’ Vorlesungen fassen paradigmatisch zusammen, was über den Sinn und Zweck von Wissenschaft gedacht wurde, welche Rolle ‚Bildung‘ in der Sozialisation der Menschen einzunehmen hat und in welcher Weise sie die Entwicklung einer Gesellschaft bestimmt. Nicht zuletzt – auch Steffens hatte von der Gründung einer Universität in Berlin gehört – machte er sich strategische Hoffnungen auf eine Berufung nach Berlin, er wollte die Trostlosigkeit Halles hinter sich lassen und sich mit dieser Veröffentlichung ein Entrébillett für die neue Anstalt schreiben.
2. Die Geschichtsschreiber seit Plinius d.Ä. gingen davon aus, dass Naturgeschichte auch Kulturgeschichte ist. Diese Einheit löste sich seit dem späten 18. Jahrhundert auf, Spezialfächer entstehen, bis auch im 19. Jahrhundert die Philosophische Fakultät sich aufspaltet und die Naturwissenschaften in ihre eigenen
|| 9 Steffens: Ueber die Idee der Universitäten (wie Anm. 5), S. 1. 10 Ebd., S. 1. 11 Anon.: [Rez. zu] Über die Idee der Universitäten. Vorlesungen von Henrik Steffens [...] 1809. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 21 (24. Januar 1810), Sp. 161–168 u. 22 (25. Januar 1810), Sp. 169–171. 12 Zur Gründung der Berliner Universität vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Eine Universität zu Berlin – Vorgeschichte und Einrichtung. In: ders. u. Charles McClelland (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 1: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810–1918. Berlin 2013, S. 3–75.
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Organisationsformen entlässt;13 vor allem aber wird die Hierarchie der Fakultäten umgestoßen: die Philosophische Fakultät, traditionellerweise die unterste in der Rangordnung (die Theologische die oberste), wird zur Leitfakultät. Steffens und die romantische Naturphilosophie postulieren die Einheit vehement, Einheit von Mensch und Natur, Geist und Materie, Poesie und Wissenschaft. Für ihre Kritiker und die meisten Naturforscher des 19. Jahrhundert entfernen sie sich damit von der Empirie (die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Spekulation“ kommt eben daher) – noch für Franz Schnabel (1887–1966) sind sie verantwortlich für die Rückständigkeit der deutschen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert im Vergleich zum übrigen Westeuropa; er schließt sich damit der Auffassung an, dass empirische Forschung und romantisch-idealistische Naturphilosophie unvereinbar sind.14 Auf der thermodynamischen Grundlage der modernen Chemie kommt Bernhard Fritscher zu einer abwägenden Beurteilung: Naturphilosophen wie Steffens erhalten für die zeitgenössische (politische und) naturwissenschaftliche Auseinandersetzung um Natur ihre Bedeutung, so „erscheinen die Bemühungen der Romantiker und idealistischen Naturphilosophen gar nicht mehr so spekulativ“, ja sie „erscheinen vielmehr fast visionär“.15 Dass Steffens mit seiner Naturphilosophie für eine solche Einheit des Denkens und des Seins, der Einheit von Natur und Kultur stand, ist ein Aspekt für seine aktuelle Wiederentdeckung: „Die Natur enthält das Vorbild alles Lebens und das Gleichniß aller gesellschaftlichen Verbindungen in sich [...]. Wir können daher die Geschichte als die Fortsetzung des Naturlebens und als die vollkommenste Offenbarung desselben ansehen.“16 Der andere Aspekt ist sein Konzept der Verzeitlichung von Kultur und Natur; Geschichte ist die „Basis von Natur und Kultur“, wird zum „konstitutiven Wirklichkeitsprinzip“.17 Es zieht sich durch so gut wie alle seine Publikationen, natürlich vor allem durch die Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde18 von 1801 und das monumentale
|| 13 Zum neuen Naturgeschichtsverständnis vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976. 14 Schnabel: Deutsche Geschichte IV (wie Anm. 1), S. 237–240. 15 Bernhard Fritscher: A. G. Werner (1749–1817) als Lehrer der deutschen Naturphilosophie. Zum Werke Henrik Steffens (1773–1845). In: Zeitschrift für geologische Wissenschaften 21 (1993), S. 495–502, hier S. 501. 16 Steffens: Ueber die Idee der Universitäten (wie Anm. 5), S. 43f. u. 47f. 17 Dietrich von Engelhardt: Naturgeschichte und Geschichte der Kultur in der Naturforschung der Romantik. In: Karin Orchard (Hg.): Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum. Freiburg 1994, S. 53–59, hier S. 53. 18 Henrich Steffens: Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Erster Theil. Freyberg 1801.
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Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland von 1817.19 Dietrich von Engelhardt weist daraufhin, dass schon der Aufklärung bewusst war, dass Natur zu schützen und zu pflegen ist, aber erst mit der romantischen Naturforschung wird die Geschichte der Kultur mit der Geschichte der Natur verbunden und eine „wirkliche Achtung der Natur“ vertreten.20 Insofern wäre Steffens mit seiner Temporalisierung anzubinden an die aktuelle Diskussion um das Anthropozän und es wäre nicht auszuschließen, dass er Dipesh Chakrabarty zustimmen würde, der eine Verzeitlichung beschreibt, an deren Verständnis schließlich Steffens nicht unwesentlich beteiligt war: There is widespread recognition now that we are passing through a unique phase of human history when, for the first time ever, we consciously connect events that happen on vast, geological scales – such as changes to the whole climate system of the planet – with what we might do in the everyday lives of individuals, collectivities, institutions, and nations (such as burning fossil fuels). There is also agreement – however provisional – among scholars who debate the term Anthropocene that, irrespective of when we date it from (the invention of agriculture, expansion and colonization by Europe, the Industrial Revolution, or the first testing of the atomic bomb), we are already in the Anthropocene.21
Immerhin war für Steffens selbstverständlich, dass die gegenwärtige Welt nicht 6.000 Jahre alt war, wie aus dem alten Bibelglauben abgeleitet, sondern bereits seit vielen Millionen Jahren existierte. Er selbst paart die weltgeschichtliche Kehre im Denken mit seiner Biografie: Jena wurde für ihn zu seiner zweiten – seiner „deutschen Geburtsstadt“.22 In engem Zusammenhang mit dem Einheitsdenken steht bei Steffens die Betonung der Individualität, der Einzelpersönlichkeit und ihrem Recht auf individuelle Entfaltung (dies war ein nicht unerhebliches Motiv für die Freundschaft mit Schleiermacher). Auch aus diesem Grund ist Steffens nicht zu übergehen bei der Analyse der Traditionslinien dänischen bzw. skandinavischen Denkens: Frederik Christian Sibbern (1785–1872), seit 1813 Philosophieprofessor an der Universität Kopenhagen, besuchte Steffens in Halle und Breslau und kam tief beeindruckt zurück; zusammen mit dem ab 1830 in Christiania (Oslo), ab 1832 in
|| 19 Heinrich Steffens: Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland. Berlin 1817. 20 Engelhardt: Naturgeschichte (wie Anm. 17), S. 57. 21 Dipesh Chakrabarty: Anthropocene Time. In: History and Theory 57/1 (März 2018), S. 5–32, hier S. 6, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/hith.12044 [09.12.2019]. 22 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. Bd. 4. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2016, S. 4.
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Kopenhagen lehrenden Poul Martin Møller (1794–1838) markieren beide in der ersten Hälfte des Jahrhunderts dieses philosophische Bemühen um die Existenz des Einzelnen – bis ihr Schüler Søren Kierkegaard (1813–1855) mit seinem Insistieren auf eben jener Kategorie des Einzelnen den theologischen, den psychologischen und den philosophischen Horizont abschreitet. Sie waren keineswegs mit Steffens immer einig, es gab zum Teil heftigen Widerspruch, aber die hinterlassenen Spuren sind deutlich. Es wäre allerdings ein Missverständnis – Helge Hultberg stellt dies deutlich heraus –, dass das Kierkegaard’sche Insistieren auf der Individualität gleichzusetzen sei mit dem idealistischen deutschen Denken à la Schelling oder Steffens: Kierkegaard ist kein Anthropozentriker, sein Weltbild ist theozentrisch, der Mensch ist „ohnmächtig sündhaft“ und „von der Gnade total abhängig“ und stellt insofern einen Aufruhr gegen die idealistische Selbstherrlichkeit dar.23 Deutliche Kritik an Steffens kommt auch von Hegel, allerdings an marginaler Stelle, in seinem „Fragment zur Philosophie des Geistes“ heißt es: Steffens verflicht Geologie so sehr mit Anthropologie, daß auf die letzere etwa der 10te oder 12te Teil des Ganzen kommt. Da das Ganze aus empirischem Stoffe, aus Abstraktionen und aus Kombinationen der Phantasie erzeugt, dagegen das, wodurch die Wissenschaft konstituiert wird, Gedanke, Begriff, und Methode, verbannt ist, so hat solches Werk wenigstens für die Philosophie kein Interesse.24
Die Frage steht nach der Einheit von Geist und Natur, nach der Hierarchie im Denken – und letzten Endes nach der im Leben. Wenn Hegel im gleichen Zusammenhang feststellt, dass die „spekulative Betrachtung und Erkenntnis der Natur und Tätigkeit des Geistes in neueren Zeiten bis auf die Ahnung davon […] untergegangen“ sei, so ist dies gegen Steffens gerichtet, der nicht unterscheiden wolle zwischen „spekulativer Betrachtung“ und den „empirischen Stoffen“.25 Selbst für Goethe, der die Philosophie der Einheit der Schöpfung förderte, ging Steffens zu weit. Schon 1806 schreibt er in einem Brief an Wilhelm von Humboldt anlässlich der Lektüre von Steffens’ Grundzügen der philosophischen Naturwissenschaft, dass er diese „nicht ohne Kopfschütteln lesen konnte“:
|| 23 Vgl. Helge Hultberg: Steffens und Kierkegaard. In: Kierkegaardiana 10 (1977), S. 190–199. Kierkegaard polemisierte heftig gegen Steffens in Berlin 1840, zu einem Zeitpunkt, da er selbst seine Position noch nicht gefunden hatte – immerhin. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragment zur Philosophie des Geistes. In: ders.: Werke in zwanzig Bänden mit Registerbd. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 11. Frankfurt a.M. 1970, S. 517–550, hier S. 523. 25 Ebd.
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Erfreulich ist es auf jenes wünschenswerte Ziel hingewiesen zu werden, dass aller Zwiespalt aufgehoben, das Getrennte nicht mehr als getrennt betrachtet, sondern alles aus Einem entsprungen und in Einem begriffen, gefasst werden solle. Wenn es nun aber ans Werk geht und diese Forderung soll erfüllt werden; so kommen mir die Herren vor wie die Christen, die, um uns ein Leben nach dem Tode zu versichern, das Leben vor dem Tode zum Tode machen. Ich bin recht wohl überzeugt, dass durch Tat, Kunst, Liebe die größten Widersprüche gehoben werden; wie es aber in der Wissenschaft gelingen wird, lasse ich dahin gestellt sein. Indessen versichern uns die Herren mit glatten und eindringlichen Worten, dass der Friede Gottes wirklich bei ihnen eingekehrt, dass vor ihnen weder Tag noch Nacht sei, dass sie Absolutes und Bedingtes, Notwendigkeit und Freiheit, Vergangenes Gegenwärtiges und Künftiges, Unendliches, Endliches und Ewiges so vereint in sich tragen, dass auch nicht der mindeste Missklang weiter für sie vernehmbar sei. Weshalb wir sie denn zuletzt wohl selig, wo nicht heilig preisen können.
Und etwas später im selben Brief: Ich sage nochmals, dass ich dem Gebrauch einer solchen Symbolik gar nicht feind bin, vielmehr sie anzuwenden mich oft genötigt fühle; doch gehn die Herren über meine Überzeugung weit hinaus, und es ist unangenehm, gerade diejenigen lassen zu müssen, die man so gerne begleitete.26
Goethe mag sich an den ersten Absätzen der Steffens’schen Grundzüge gestoßen haben: Nennen wir das Erkennende ein Subjektives, das Erkannte ein Objektives, so ist das wahre Erkennen, oder das An-sich des Erkennens, weder das eine noch das andere, also weder ein erkennendes Subjekt, noch ein erkanntes Objekt, sondern die absolute Einheit beider. Der Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität ist also kein reeller Gegensatz; die wahre Realität ist nur da, wo er schlechthin verschwindet. Das Objektive sei uns hier das Mannigfaltige des Seyns, das Subjektive die Einheit des Denkens, so wird das wahre Erkennen nur da seyn, wo Denken und Seyn identisch werden.27
Auch an anderer Stelle äußert sich Goethe despektierlich zu den Grundzügen, in einem Brief an den Philologen Friedrich August Wolf (1759–1824) vom 31. August 1806 heißt es: [D]as Büchlein hat zwar in seiner Vorrede einen honigsüßen Rand, an seinem Inhalte aber würgen wir andre Laien gewaltig. Gebe nur Gott, daß es hintendrein wohl bekomme. Vielleicht geht es damit, wie mit den Brunnenkuren, an denen die Nachkur das beste seyn
|| 26 Goethe an Wilhelm von Humboldt, 22.08.1806, zit. nach Aage Jørgensen: Henrich Steffens – en mosaik. Kopenhagen 1977, S. 47f. 27 Henrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft. Berlin 1806, S. 1f.
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soll, d.h. doch wohl, dass man sich dann erst wieder gesund befindet, wenn man sie völlig aus dem Leibe hat.28
Heinrich Laube greift die Plausibilität des Steffens’schen Einheitsdenkens mit der Bemerkung auf (die man so auch bei anderen findet), dass Professor Henrik Steffens […] über Anthropologie gelesen [hatte]. In dieser Anthropologie fehlten nur die Menschen, aber die Berge, Pflanzen und Steine sprachen wunderbar interessante Dinge […]. Steffens hat einen belebenden, einen erzeugend poetischen Blick für das Vegetabile, das Halbtote, das Ganztote, er macht den Schnee und die Steine und die Berge lebendig […].29
3. Die ‚Humboldt’sche Universität‘ ist ein Post-festum-Konstrukt des 20. Jahrhunderts.30 Gemeint ist damit die aus dem Geist des Neuhumanismus entstandene Forschungsuniversität, die Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Beginn nahm und für den Wissenschaftsstandort Deutschland entscheidend und im Ausland vielfach imitiert wurde, vor allem in den Vereinigten Staaten. An ihr, so die knappste Charakterisierung, sind Forschende und Lehrende, Professoren und Studenten gemeinsam tätig, das romantisch-idealistische Einheitspostulat steht über dieser Konstruktion. Sylvia Paletschek fasst die Charakteristika in fünf Punkten zusammen: 1. die Einheit von Forschung und Lehre; 2. die Freiheit von Forschung und Lehre; 3. die Universität ist eine zweckfreie Einrichtung, sie dient nicht der beruflichen Ausbildung; 4. Wissenschaft bildet und formt die Persönlichkeit, damit ist im Deutschen ‚Bildung‘ gemeint; 5. die universitären Wissen-
|| 28 Zit. nach Dietrich von Engelhardt: Natur und Geist, Evolution und Geschichte. Goethe in seiner Beziehung zur romantischen Naturforschung und metaphysischen Naturphilosophie. In: Peter Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998, S. 58–74, hier S. 61. 29 Heinrich Laube: Gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Unter Mitwirkung v. Albert Hänel hg. v. Heinrich Hubert Houben. Bd. 4: Reisenovellen 1. Leipzig 1908, zit. nach Jørgensen: Henrich Steffens (wie Anm. 26), S. 53f. 30 Vgl. u.a. Walter Rüegg: Der Mythos der Humboldtschen Universität. In: Matthias Krieg u. Martin Rose (Hg.): Universitas in theologia – theologia in universitate. Zürich 1997, S. 155–174; zusammengefasst bei Heinz-Elmar Tenorth: Die Vergötterung. Wilhelm von Humboldt wird seit je missverstanden. Kritische Bilanz eines Mythos. In: DIE ZEIT, 23. Juni 2017, S. 26, https://www.zeit.de/2017/26/wilhelm-von-humboldt-mythos-gelehrter-politiker/komplettansicht [22.08.2023].
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schaften sind eine Einheit.31 Über dem Eingangsportal zur ‚Humboldt’schen Universität‘ steht das Postulat von der „Einsamkeit und Freiheit“ der Wissenschaft und des Wissenschaftlers, es ist eine retroperspektivische Konstruktion.32 Wie im Abschnitt zu den ‚Gründungstexten‘ erwähnt, erschien die Universitätsschrift Schellings 1803, jene Schleiermachers 1808; Steffens hielt seine sieben Vorlesungen über die Universität 1808/09 in Halle, die Schrift erschien 1809, es ist seine erste politische Abhandlung, durchzogen von Polemik gegen die französischen Besatzer, sie lesen sich wie ein großer Monolog an ein fiktives Gegenüber (er hatte sie frei gehalten und erst später zu Papier gebracht). Schleiermacher und Steffens waren 1804 nach Halle berufen worden, auch ihr persönlicher und familiärer Umgang war intim, zusammen erlebten sie 1806 die Besetzung der Stadt und die nachfolgende Schließung der Universität durch die Truppen Napoleons. Alle diese genannten Schriften zeichnet ein hohes Pathos aus, geschuldet der politischen Situation Preußens und Europas, der sie durchziehende Geist ist derselbe,33 es ist jener der später so benannten ‚Humboldt’schen Universität‘, deren Wesen sich auch bei Steffens formuliert findet: „Daher die Universitäten, die also Schulen der Selbstbildung sind, und sich eben dadurch von den frühern Unterrichts-Anstalten unterscheiden.“ Mit „Selbstbildung“ ist auf den Bedeutungshorizont der Einsamkeit des Wissenschaftlers (Studenten) verwiesen: An der Universität hat „der freie Geist des freien Forschens ungehindert“ zu walten. „Wer hier die höhere Selbstbildung zu erlangen trachtet, den treibt keine äußere Gewalt, kein fremder Wille, auch keine äußere oder endliche Rücksicht, sondern lediglich die eigene Bestimmung und seine innere Natur.“34 Humboldts nur wenige Seiten umfassende Denkschrift, die die Grundlage für die Berliner Universitätsgründung wurde, ist auf 1809 datiert, war aber in
|| 31 Sylvia Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205, weitere Literatur ebendort. Vgl. neuerdings zum Nutzen von Bildung Jürgen Schlaeger u. Heinz-Elmar Tenorth: Bildung durch Wissenschaft. Vom Nutzen forschenden Lernens. Berlin 2020. 32 Vgl. Bernd Henningsen: Einsamkeit und Freiheit. Die humboldtsche Universität und die Politik. In: ders. (Hg.): Humboldts Zukunft. Das Projekt Reformuniversität. Berlin 2007, S. 103– 131. 33 Werner Abelein hat diese an Schelling, Schleiermacher und Steffens ausgeführt in ders.: Henrik Steffens’ politische Schriften. Zum politischen Denken in Deutschland in den Jahren um die Befreiungskriege. Tübingen 1977, S. 66–91. 34 Steffens: Ueber die Idee der Universitäten (wie Anm. 5), S. 98f.
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der Folgezeit nicht frei zugänglich, sie erschien erst am Ende des 19. Jahrhunderts in Auszügen.35 Lange übersehen worden ist, dass es von Steffens eine weitere Universitätsschrift gibt: Die knappe Denkschrift über die Gründung einer Rheinischen Universität in Bonn oder Koblenz vom Mai 1814, geschrieben in Paris am Ende der Napoleonischen Kriege und adressiert an den preußischen Reformer, Reichfreiherr vom Stein, der sich nachdrücklich für den Bonner Standort eingesetzt hatte.36 Beide hatten sich 1813 in Breslau und möglicherweise auch später getroffen, vom Stein schätzte Steffens als einen Reform-Bundesgenossen, kannte seine Schriften, konnte aber mit seiner Naturphilosophie nichts anfangen, verurteilte dessen „metaphysischen Kauderwelsch“ (die Denkschrift hat vom Stein wahrscheinlich nie erreicht).37 Auf wenigen Seiten plädiert Steffens hier, seine Universitätsvorlesungen zusammenfassend, für die Gründung einer „nach liberalen Grundsätzen gebildeten Universität“ im westlichsten Teil Preußens, zu der es dann auch tatsächlich 1818 kommt.38 Es spiegeln sich in dieser Schrift nur zu deutlich die Zeitumstände: Das klare Plädoyer für Staatsferne kann nicht verdecken, dass diese Universität „auch ihrer Anlage nach im eigentlichen Sinne eine nationale“ würde – der Impuls ist gegen Frankreich gerichtet, wie schon im Jahrzehnt zuvor bei Schleiermacher ganz deutlich und heftig bei Steffens. Die deutsche Kulturnation stand für beide im Mittelpunkt. Schon die Vorlesungen von 1809 hatten dies klar zum Ausdruck gebracht, sie waren insofern extrem politisch: Die Universität soll der Ort der (Wieder-) Errichtung der Nation, die Studenten sollen die Akteure sein, die Universitäten werden zum Nukleus einer Erneuerung erklärt – erklärt von einem dänischnorwegischen Professor, nun in französischen Diensten im besetzten protestantischen Halle … Brisant für Steffens war das allemal. So gut wie alle Universitätsreformer lehnen eine eng utilitaristische Bestimmung der höheren Bildung ab, sie plädieren – so auch Steffens – mit großem Nachdruck für eine zweckfreie Bildung und Wissenschaft: Bildung, Wis-
|| 35 Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität (wie Anm. 31), S. 186f., Fn. 11 u. 12. 36 Abgedruckt bei Walther Hubatsch: Eine Denkschrift von Steffens an den Freiherrn vom Stein vom 12. Mai 1814 über die Begründung einer rheinischen Universität zu Bonn oder Koblenz. In: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 160 (1958), S. 190–200, hier S. 194–200, alle Zitate ebendort. 37 Zit. nach ebd., S. 190. 38 Die drei preußischen Universitätsgründungen des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts – in Berlin, in Breslau und in Bonn – wurden nach dem preußischen König benannt: FriedrichWilhelms-Universität; die Bonner trägt diesen Namen noch heute.
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senschaft und Forschung ganz um ihrer selbst willen. Und so dreht es sich auch bei allen um das Verhältnis Staat–Wissenschaft. Für die Naturphilosophen Schelling und Steffens, erst recht den Theologen Schleiermacher bedeutet dies die Gemeinschaft von Wissenschaft und Religion, und zwar ohne Einflussnahme des Staates, der diesen Freiheitsraum zu garantieren hat – erst dann wird Wissenschaft die an sie gestellten Qualitätsanforderungen erfüllen können. Den Reformern sind Universitäten „Schulen der Weisheit“, die sich von anderen Institutionen unterscheiden, die der Vermittlung von Fertigkeiten gewidmet sind.39 Insofern handeln diese Schriften über weite Strecken vom Verhältnis des Staates zu Bildung und Wissenschaft: Wie frei kann und soll Wissenschaft, der Wissenschaftler und staatlich angestellte Professor sein? „Was der Staat einrichtet, muß er controllieren können. Eine Controlle der Geister aber wäre der Tod aller Wissenschaften.“40 Indem er seine jungen Zuhörer wiederholt und direkt adressiert, reflektiert Steffens in drei der sieben Vorlesungen über Rolle und Funktion des Staates – steht diesem doch das Kontrollrecht zu und wird er der Abnehmer der Universitätsabsolventen sein. Dass damit ein Bruch mit der aufgeklärt-absolutistischen Bestimmung der Staatsaufgaben verbunden ist, barg in der Tat Konfliktstoff, wurde aber von der Obrigkeit nicht in Frage gestellt – schließlich ging es im Zeitalter der politischen Reformen um die Gewinnung der Loyalität des Bürgers zum Staat. Für Steffens lag diese Ausrichtung nahe, orientierte er sich doch auch in seiner philosophischen Forschung und Lehre an Spinoza und dessen Ethik, aus der er den Schluss zog, dass es keine Trennung geben dürfe zwischen einer ethisch neutralen Zone des Gelehrtenberufes und der des davon abgehobenen Privatlebens.41 Der Professor hat insofern nicht einen staatlichen Auftrag zu erfüllen, sondern vom Katheder in die Gesellschaft hineinzuwirken, ja an ihr aktiv teilzunehmen. Die Aufgabe der Universität besteht darin, freie Geister in Übereinstimmung mit sich selbst zu bringen. Ein Zuhörer charakterisierte Steffens 1809: „Bei ihm zum ersten male habe ich gesehen, daß man Gatte, Vater und sogar Professor sein kann, ohne ein Philister zu werden.“42 Steffens’ Plädoyer für eine zweckfreie Wissenschaft ist über weite Passagen durchzogen vom Gottes-, mindestens aber einem Kirchenbezug. Sein ausführlich beschworener religiöser Bezug ergibt sich zwangsläufig aus einem Legitimationsdefizit: Wenn die Universitäten zweckfreie Bildungs-Institutionen sein
|| 39 Steffens: Ueber die Idee der Universitäten (wie Anm. 5), S. 20. 40 Ebd., S. 29. 41 Vgl. Abelein: Hernik Steffens’ politische Schriften (wie Anm. 33), S. 68. 42 Zit. nach ebd., S. 69.
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sollen, dann bedarf es einer übergeordneten Legitimation, die er aus dem Dreiklang Staat–Wissenschaft–Kirche ableitet. Historisch sei dies schlüssig, denn nötig sei der Bezug auf Jesus Christus – da der Staat Teil der Geschichte ist und diese durch Religion geprägt wurde.43 Im Kontext der Zeit: Das Verhältnis zu Kirche und Religion wurde nicht nur von den Reformprotagonisten thematisiert, es war durch die napoleonische Besetzung weiter Teile des protestantischen Deutschland zu einem allgemeinen Thema geworden und das mit der Befürchtung eines neuen „Religionskrieges“.44 Im Grunde hatte Schelling mit seinen Vorlesungen einen wesentlichen Aspekt der Neuausrichtung der Universitäten vorgegeben – den der Einheit von Forschung und Lehre; dieser Gedanke wird in der Folgezeit von allen Reformern betont: „Jeder Gedanke, der nicht im Geiste der Einheit und Allheit gedacht ist, ist in sich selbst leer und verwerflich.“45 Der Naturphilosoph Steffens hatte im selben Jahr 1803 bei seinen Vorlesungen in Kopenhagen diesen Ton angeschlagen und damit den heftigen Protest der utilitaristischen Traditionalisten hervorgerufen (nicht zuletzt den des Regenten); auch darin ist ein Grund zu suchen, weshalb seine Berufung nicht erfolgte. In seiner Universitätsschrift am Ende des Jahrzehnts schreibt er: „Wie in der Natur stellt sich auch in der Geschichte das Herrlichste und dasjenige, was die Seele innerlich erquickt, nur dar, wo die Einheit des Allgemeinen und Besondern geschauet wird.“46 Auch der Theologe Schleiermacher verweist in seiner Schrift von 1808 beständig auf die „Einheit“ der Wissenschaft, die „Einheit“ des Wissens, „den notwendigen Zusammenhang aller Teile des Wissens“.47 Es bleibt aber Steffens mit seiner Universitätsschrift vorbehalten, den Bezug von Universität, Forschung, Bildung und der Wiedererrichtung der deutschen Kulturnation an Kirche und Religion zu binden – und das mit allem, geradezu pastoralen Nachdruck; sein Rezensent nennt dies 1810 „mystische Redensarten“.48 Die diesbezüglichen Passagen in der ersten und der letzten Vorlesung verweisen auf die romantische Wiederentdeckung und Verherrlichung des Mit-
|| 43 Steffens: Ueber die Idee der Universitäten (wie Anm. 5). Vgl. dazu auch Marit Bergner: Henrich Steffens. Ein politischer Professor in Umbruchzeiten 1806–1819. Frankfurt a.M. 2016, S. 75f. 44 Vgl. Abelein: Hernik Steffens’ politische Schriften (wie Anm. 33), S. 77f. 45 Schelling: Vorlesungen (wie Anm. 7), S. 298f. 46 Steffens: Ueber die Idee der Universitäten (wie Anm. 5), S. 121. 47 Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808). In: Gründungstexte (wie Anm. 8), S. 123–227, hier S. 140. 48 Anon.: [Rez. zu] Über die Idee der Universitäten (wie Anm. 11), Sp. 170.
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telalters, wie sie etwa auch 1799 von Novalis beschworen wird, der die europäische Einheit auf die eine mittelalterliche Kirche des Katholizismus bezieht.49 Steffens lässt den Bruch mit der Einheit in der Folge von Columbus, Kopernikus, dem „göttlichen Kepler“, Huss und dem „kühnen Held Martin Luther“ beginnen. Danach wurde „alles Erkennen […] auf die Seite des Leiblichen gefaßt“, als „ein Unendliches ward Gott aus dem Leben verwiesen;“50 das „Göttliche ward aus dem Leben, wie aus dem Wissen verdrängt, und nur in ein äußeres nichtiges Verhältniß gegen Beide gesetzt“.51 Der protestantische Naturforscher Steffens beschwört sodann die „Blüthezeit des Katholicismus“ mit ihren „ewig frischen Bildern der Poesie und Kunst“.52 In der seinerzeitigen Diskussion, erst recht aber in der der Folgezeit mit dem Siegeszug der positivistischen (Natur-) Wissenschaften wurde ihm dies als Metaphysik vorgehalten. Sein Plädoyer zielt aber nicht auf die Rückgängigmachung der Reformation und die Wende zum Katholizismus, er zielt vielmehr auf die Anerkenntnis der Transzendenz und auf die naturphilosophische Überzeugung von der Einheit der Natur, der belebten und der unbelebten. Es gilt einen „Mittelpunkt“ wiederzufinden, so der Appell an die Studenten: Aber welche unter den lebenden Nationen sollte die Hoffnung, den festen Mittelpunkt des Erkennens zu finden, lebhafter fassen können, als diejenige, die den religiösen Mittelpunkt am meisten in sich behielt, zu verschiedenen Zeiten, frisch erwachend, eine neue Zukunft der Geschichte schuf, eine jede schiefe Richtung wohl als ein fremdes, sich selbst verläugnend, aufnahm; aber nie die innere Eigenthümlichkeit verlohr.53
Er interpretiert die spätmittelalterlichen Umwälzungen der Weltinterpretation nicht wie die vergangenheitsverliebten Romantiker als Symptome der Entschleierung, sondern als umgekehrten Vorgang, bei dem „der Geist […] die Religiosität ergriff“,54 also nicht als eine Verweltlichung, sondern als Spiritualisierung. Steffens, seinen naturphilosophischen Überzeugungen folgend, argumentiert mithin gegen die rationalistische Verkürzung von Wissenschaft auf das ‚Äußere‘, das ‚Leibliche‘, und für eine spirituelle Erweiterung um das ‚Innere‘. Zentral bleibt der Einheitsgedanke: Es „umarmen sich Kindheit, Jugend und Alter, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und alle Widersprüche, die das || 49 Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Paul Michael Lützler (Hg.): Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Frankfurt a.M. 1982, S. 57–79. 50 Steffens: Ueber die Idee der Universitäten (wie Anm. 5), S. 5f. 51 Ebd., S. 10. 52 Ebd., S. 8. 53 Ebd., S. 16. 54 Ebd., S. 5.
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Erkennen aufzuheben strebt“, werden „in einem heiligen Daseyn vernichtet“: Der „feste Grund des Daseyns ist der Glaube“.55 Die Einheit gipfelt in der Gemeinschaft aller: „Die Gemeinschaft der Heiligen aber ist die Kirche“,56 deren König Christus ist, „der innere Herrscher aller Völker und sein Sinn der wahre Bürgersinn“.57 Nicht ohne Rührung schließe ich, denn was blühen und Früchte tragen soll, weiß nur der Ewige allein, wen aber die Rede innerlich ansprach, der bewahre sie. Die Zeit braucht Männer, die Nation Bürger, auf daß sie erstehe und der geweissagte Tempelbau anfange. Aber viele sind berufen und wenige sind auserwählt.58
|| 55 Ebd., S. 143. 56 Ebd., S. 144. 57 Ebd., S. 152. 58 Ebd., S. 154f.
Marit Bergner
Ein montanistisches Institut für die Universität Halle Steffens’ Entwurf einer Bergakademie Im Sommer 1808, als die Universität Halle nach zweijähriger, durch Napoleon verfügte Schließung, seit wenigen Wochen wieder ihren Betrieb aufgenommen hatte,1 wandte sich Henrik Steffens an die für Halle nun zuständige westphälische Regierung und schlug vor, eine Bergakademie in Halle zu errichten. Bergakademien sollten – so ihre ursächliche Funktion – jene Beamten ausbilden, die für die Wirtschaftsförderung des Staates sorgen würden, d.h. die auf den Bergakademien gewonnenen Kenntnisse sollten zur Verbesserung des Bergbaus und damit zur Steigerung der Förderung von Eisenerz und Silber beitragen, was – um es ganz banal auszudrücken – mehr Geld in die Staatskasse spülen würde.2 Steffens’ Vorschlag ordnet sich ein in eine Reihe von Überlegungen um das Jahr 1800 zu eben einer solchen Verbesserung der Bergbau-Kenntnisse und der Reformierung der montanistischen Ausbildung von Berg- und Hüttenbeamten. Neben der Anordnung an die bestehenden vier preußischen Universitäten (Frankfurt an der Oder, Wittenberg, Königsberg und Halle) in ihren Lehrplänen die Naturwissenschaften stärker zu berücksichtigen, gab es Ende der 1770er Jahre Überlegungen und Pläne, in Berlin eine Bergakademie zu errichten. Mangels einer Universität, an die man das Institut hätte anbinden können, plante man eine Schule, die „der wissenschaftlichen und technischen Ausbildung zukünftiger preußischer Berg- und Hüttenbeamten dienen sollte“,3 die letztlich aber eher als „innovative[r] Versuch“ zu sehen ist, Bergbau abseits von Bergbaugebieten zu unterrichten.4
|| 1 Am 16. Mai 1808 wurde die Wiedereröffnung der Universität Halle nun als westphälische Landesuniversität mit einem feierlichen „Wiederherstellungsfest“ begangen, vgl. Günter Schenk u. Regina Meyer: Die Philosophische Fakultät der Universität zu Halle-Wittenberg von 1694 bis 1933. Halle 2018, S. 180. Siehe auch ebd., S. 184–205. 2 Zu Bergakademien und Bergbau im Allgemeinen siehe insbesondere die Beiträge in Hartmut Schleiff u. Peter Konečný (Hg.): Staat, Bergbau und Bergakademie. Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart 2013. 3 Ursula Klein: Carl Abraham Gerhard: Wissenschaftlich-technologischer Experte und guter, preußischer Kameralist. In: ebd., S. 251–273, hier S. 259. 4 Michael Engel: Der berg- und hüttenmännische Unterricht in Berlin 1770 bis 1810, die sogenannte Bergakademie. In: ebd., S. 161–189, hier S. 171. Zur Berliner Bergakademie siehe auch Ursula Klein: Ein Bergrat, zwei Minister und sechs Lehrende. Versuche der Gründung einer https://doi.org/10.1515/9783111358826-011
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In diesem Beitrag soll die Entstehung der hallischen Bergakademie rekonstruiert werden. Was ist über das Institut bekannt? Wer waren, neben Steffens, die Akteure? Wie sahen Steffens’ Vorschläge konkret aus und was waren die Hintergründe, vor denen er seinen Vorschlag einreichte?
1 Die Quellen Weder in der einschlägigen Forschungsliteratur zu Steffens5 noch zur Universität Halle6 wurde die Bergakademie in Halle ausführlicher behandelt. Michaela Haberkorn erwähnt in einem kurzen Satz ihrer Studie Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800 zwar, dass Steffens, vom Freiberger Vorbild inspiriert, in Halle ein wissenschaftliches Bergwerksinstitut habe einrichten wollen, verzichtet leider aber gänzlich auf Nachweise.7 Auch Richard Petersen berichtet in seiner dänischen Steffens-Biografie aus dem 19. Jahrhundert lediglich von einem „Bergwerks-Institut in Halle [Übers. M. B.]“, dem Steffens vorstehen sollte, führt aber ebenfalls keine Belege an.8 Beide dürften sich auf Steffens selbst bezogen haben, der ausführlich im sechsten Band seiner Autobiografie über seinen Vorschlag schreibt: Ich schlug nämlich der westphälischen Regierung vor, ein wissenschaftliches BergwerksInstitut in Halle zu errichten. Dieser Vorschlag fand im Anfange großen Widerstand […]. Der Berghauptmann v. Meding und der Bergrath Jordan wünschten das Institut nach Clausthal verlegt. Diesem Vorschlage war nun leicht entgegenzutreten; denn die Ausführung desselben erforderte die Anstellung mehrerer Lehrer, und zugleich die Einrichtung wissenschaftlicher Sammlungen, und daher Ausgaben, zu welchen die westphälische Regierung keineswegs geneigt war. Es konnte, sollten meine Vorschläge angenommen werden, nur von Göttingen oder Halle die Rede sein. Auf den Universitäten fand man schon Sammlungen und
|| Bergakademie in Berlin um 1770. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 18 (2010), S. 437–468. 5 Ein vollständiger Überblick der Forschungsliteratur zu Steffens findet sich auf der HenrikSteffens-Portal-Seite des Nordeuropa-Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin: https://www.ni.hu-berlin.de/de/projekte/henrik-steffens-portal#werke [11.12.2023]. 6 Leo Stern u.a. (Hg.): 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bd. 2: Halle 1694–1817. Halle-Wittenberg 1817–1945. Halle 1952; Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Erster Teil. Berlin 1894. 7 Vgl. Michaela Haberkorn: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner (Goethe, A. v. Humboldt, Novalis, Steffens, G. H. Schubert). Frankfurt a.M. 2004, S. 234. 8 Richard Petersen: Henrik Steffens. Et livsbillede. Kopenhagen 1881, S. 206.
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Lehrer, die für die Ausbildung der Bergeleven benutzt werden konnten. Indem ich nun vorstellte, wie viel Halle, welches doch auch in der Mitte bedeutender Bergwerke lag, gelitten hatte, drang ich, unterstützt vom Bergrath Gerhard, […] in der That durch. Das Bergwerksinstitut ward genehmigt und errichtet. Ich ward Direktor desselben gescholten […].9
Mit einem Brief an Friedrich Schelling vom 10. August 1808 liegt zudem eine zeitgenössische Schilderung seiner Pläne vor: Ich habe einen Vorschlag zur Errichtung einer Bergacademie in Halle eingereicht. Dieser ist im ganzen Umfange genehmigt. Ich forderte die Ausfertigung eines Befehls, das alle Bergwerkbeamte des Königreichs verpflichtet sein sollten mir eine vollständige Suite der geognostischen und oryktognostischen Merkwürdigkeiten ihres Districts, mit Bemerkung der Verhältnisse der Vorkommen einzuschicken, so dass allmæhlig ein Hauptbureau für alle mineralogische Schäze des Landes hier entstande. Ich habe alle diejenigen Bergwerksbeamte, die gebildeter sind, zur Theilnahme an einer Schrift, der Geognosie des Landes gewidmet eingeladen, ich habe die Anstellung einiger Lehrer bewirkt, und stehe in Mittelpunkt einer Unternehmung, die, da ich mir nur das Theoretische vorbehalten habe – wenn der Grund nur nicht unsicher wære – für mich höchst wichtig werden kann. Wenigstens hoffe ich eine Darstellung geognostischer Verhæltnisse vorzubereiten, wie sie noch nicht stattfindet. Diese beschäftigt mich nun im hohen Grade. Eine fürchterliche Correspondenz, die ich, bis ich erst einen Secretair habe, selbst besorgen muss, fordert ungeheure Zeit – Man fordert von mir, bei der ersten Einrichtung alles, und ich suche es zu leisten.10
Tatsächlich aber existieren noch sowohl die ausgearbeiteten Vorschläge von Steffens als auch die Reaktionen der westphälischen Regierung und seiner Hallenser Kollegen, so dass Steffens’ Behauptung in seiner Autobiografie nicht nur belegt werden kann, sondern auch eine Rekonstruktion der Pläne möglich ist.
|| 9 Henrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. 10 Bde. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2014–2022, Bd. 6, S. 30f. 10 H. Steffens an F. W. J. Schelling, 10. August 1808, zit. nach Wolfgang Feigs: Deskriptive Edition auf Allograph-, Wort- und Satzniveau, demonstriert an handschriftlich überlieferten, deutschsprachigen Briefen von H. Steffens. Teil 2: Briefe 1799–1844, Kommentar, Register. Bern u. Frankfurt a.M. 1982, S. 154. Dieses Schreiben ist der einzige bislang publizierte Brief, in dem auf die Bergakademie verwiesen wird. Briefe von Steffens finden sich mangels Nachlasses in verschiedenen Briefeditionen seiner Zeitgenossen, so etwa in Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. V. Abt.: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 9–14. Hg. v. Andreas Arndt, Simon Gerber u. Sarah Schmidt. Berlin u. Boston 2011–2022; F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente. 3 Bde. Hg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1962, 1973 u. 1975; Briefe an Ludwig Tieck. Ausgewählt u. hg. v. Karl von Holtei. 4 Bde. Breslau 1864; Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Bd. 5: 1805–1810. Weimar 1992; Letters of Ludwig Tieck. Hitherto Unpublished. 1792–1853. Hg. v. Edwin H. Zeydel, Percy Matenko u. Robert Herndon Fife. New York u. London 1937.
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Begibt man sich auf die Spur der hallischen Bergakademie, so sind zwei verschiedene Orte und Archive aufzusuchen. Im Universitätsarchiv in Halle findet sich die Akte „Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie betref. 1808“.11 In dem Faszikel vorhanden sind die Korrespondenzen zwischen Steffens und seinen Hallenser Kollegen, deren Stellungnahmen zu seinem Vorschlag sowie die Korrespondenz zwischen dem Universitätsrektor August Hermann Niemeyer und Joseph Jérôme Siméon, Innenminister des Königreichs Westphalen, zu dem Halle von 1806 bis 1813 gehörte. Im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin wiederum findet sich neben der Korrespondenz der westphälischen Behörden und damit der internen Kommunikation zwischen dem westphälischen Finanzminister Hans von Bülow, Innenminister Siméon und dem Direktor für öffentlichen Unterricht, Johannes von Müller, auch der Schriftverkehr zwischen den Behörden und der Universität Halle und den Behörden und Steffens.12 Beide Bestände zusammengenommen ergeben Einblicke in ein bislang unerforschtes Thema: die Geschichte der Bergakademie in Halle.
2 Die Bergakademie in Freiberg Als Steffens 1808 seinen Vorschlag zur Gründung einer Bergakademie in Halle entwickelte, hatte er die Akademie vor Augen, an der er selbst fast drei Jahre lang unter Abraham Gottlob Werner13 gelernt und die dort übliche Ausbildung durchlaufen hatte, und die heute als die „erste[] montanwissenschaftliche[] Lehranstalt der Welt“14 gilt: die Bergakademie in Freiberg. Die Freiberger Bergakademie war 1765 als Ausbildungsstätte für sächsische Bergbeamte gegründet worden, nachdem bereits in den 1740er Jahren erste Vorschläge für die Gründung einer Einrichtung in Freiberg geäußert worden || 11 Universitätsarchiv Halle-Wittenberg (= UAHW), Rep. 3, Nr. 98. 12 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (= GStA PK), V. HA Königreich Westphalen, Rep. B 3 Spez. Nr. 839 sowie Nr. 843. 13 Zu Werner siehe Peter Schimkat: Kameralistische Naturforschung: Das mineralogische System von Abraham Gottlob Werner. In: Schleiff u. Konečný (Hg.): Staat, Bergbau und Bergakademie (wie Anm. 2), S. 231–247 und Andre Wakefield: Abraham Gottlob Werner: Geld, Romantik, Klassifikation. In: Olaf Breidbach u. Roswitha Bruswick (Hg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft und Philosophie? München 2012, S. 139–160. 14 Gerd Grabow: 250 Jahre Bergakademie Freiberg – die älteste montanistische Hochschule der Welt. In: BHM: Berg- und Hüttenmännische Monatshefte 160/8 (2015), S. 379–382, hier S. 380.
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waren.15 Der Gründung ging die Erkenntnis voraus, dass für eine gesteigerte Förderung von Eisenerz und Silber eine generelle technische und organisatorische Verbesserung des Bergbaus sowie ein Ausbau der Infrastruktur notwendig waren und dafür entsprechende Fachleute in Bergbau und Hüttenwesen ausgebildet werden mussten.16 Im Jahr 1799, als Steffens nach Freiberg kam, hatte die dortige Akademie bereits international Anerkennung erlangt. Steffens war nicht der erste ausländische Schüler, wie er selbst feststellte: Esmark, der Norweger, Elhyar, der spanische Mexikaner, Andrada, der brasilianische Portugiese, waren wenige Jahre früher da gewesen. Zu meiner Zeit fand ich dort noch den Irländer Mitchel, der in England schon einen bedeutenden Ruf in seinem Fache besaß; Jameson, den Schottländer, dessen Verdienste um die Geognosie seit seiner Reise durch Schottland allgemein geschätzt wurden.17
Mit Steffens war sein norwegischer Landsmann Jacob Nicolai Møller (1777– 1862), den er bei einem Zwischenstopp in Berlin kennengelernt hatte, nach Freiberg gereist.18 Die Besonderheit der Freiberger Akademie war von Beginn an die enge Verbindung von Natur und Technik, von Theorie und Praxis. Die Bergeleven sollten eine umfassende kameralistische Ausbildung erhalten und auch die theoretischen Hintergründe der praktischen Arbeit verstehen. Der Unterricht in Freiberg war daher zweigeteilt: Die Studenten fuhren an den Vormittagen mit in die Gruben, erlernten den Umgang mit Bergwerkzeugen wie Eisen und Schlägel und erhielten Einblicke in den Aufbau der Grubenschächte, die Förderung der Erze ans Tageslicht und die Entwässerungsstollen.19
|| 15 Fast zeitgleich, 1762, war im österreichisch-ungarischen Schemnitz eine Bergschule gegründet worden. Freiberg war nach den Vorbildern Potosi in Bolivien (1557–1786), Kongsberg in Norwegen (1757–1814) und Prag (1762–1772) gegründet worden. 1747 war die École des Ponts et Chaussées in Paris gegründet worden. 16 Zur Geschichte Freibergs siehe exemplarisch Jakob Vogel: Aufklärung untertage: Wissenswelten des europäischen Bergbaus im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Schleiff u. Konečný (Hg.): Staat, Bergbau und Bergakademie (wie Anm. 1), S. 13–31 und Warren Dym: Scholars and Miners. Dowsing and the Freiberg Mining Academy. In: Technology and Culture 49/4 (2008), S. 833–859. 17 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 127f. Hier und im Folgenden: Orthografie, Hervorhebungen, Streichungen und Unterstreichungen entsprechen den Originaltexten. 18 Steffens hatte die Matrikelnummer 539, vgl. Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Königl. Sächs. Bergakademie zu Freiberg am 30. Juli 1866 Dresden 1866, S. 239. Zum Digitalisat: http://data.onb.ac.at/rec/AC09857644 [24.01.2023]. 19 Vgl. das ausführliche Kapitel über Wilhelm von Humboldts Aufenthalt in Freiberg in Ursula Klein: Humboldts Preußen. Wissenschaft und Technik im Aufbruch. Darmstadt 2015, S. 57–71.
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Auch Steffens verwandelte sich in Freiberg zum Bergmann: Wir verschafften uns ein Bergmanns-Habit, in welchem wir fleißig die Gruben befuhren. […] Allerdings kostete es uns nicht geringe Mühe, in der Dunkelheit, von den GrubenLampen spärlich erleuchtet, die Gangmasse und die Fossilien, aus welcher sie zusammengesetzt war, durch Feuchtigkeit und Schmutz bedeckt, zu unterscheiden.20
An den Nachmittagen folgte die theoretische Ausbildung in für den Bergbau notwendigen wissenschaftlichen Grundlagenfächern. Üblich waren Vorlesungen in Mineralogie, Geognosie, Chemie, Physik, Mathematik, aber auch Bergbaukunst und sogar Bergrecht. Die Studenten erhielten Unterricht im Umgang mit Bergbauinstrumenten und Markscheidekunst; sie lernten den Metallgehalt von Gold- und Silbererzen zu bestimmen und Gruben zu vermessen, um Grubenrisse zu erstellen. Neben den Vorlesungen fanden Mess- und Zeichenübungen statt und es wurde unter Anleitung an Modellen gearbeitet und experimentiert. Weiter war Zeit, um zu den praktischen Erlebnissen der Vormittage Berichte zu schreiben, sogenannte Elaboratorien, wie sie auch heute noch aus den naturwissenschaftlichen Fächern bekannt sind.21 Freiberg war für Steffens’ Ausbildung zum Mineralogen sehr wichtig, und es ist dieser Zeit zu verdanken, dass er 1804 neben der Professur für Naturphilosophie auch auf die Professur für Mineralogie in Halle berufen wurde.
3 Die Professur für Mineralogie in Halle Als Professor für Naturphilosophie und Mineralogie an der Universität Halle hatte Steffens seine universitäre Laufbahn ohne eine ausreichend ausgestattete Mineraliensammlung, wie sie an Universitäten üblich war, begonnen. Allerdings war er auch der erste ausgebildete Mineraloge in Halle, seine Vorgänger Friedrich Hoffmann (1616–1742), Johannes Gottlieb Goldhagen (1742–1788) und Johann Reinhold Forster (1729–1798) waren Mediziner und Theologen, wenngleich sie auch die Grundlage für das hallische Mineralienkabinett gelegt hatten. Als Steffens 1804 seine Stelle in Halle antrat, existierte zwar seit 1787 eine solches Kabinett, das die Universität seinem Vorgänger Goldhagen für stattliche
|| 20 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 135. 21 Ursula Klein: Steffens Mineralogie. In: Sarah Schmidt u. Leon Miodoński (Hg.): System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens. Berlin u. Boston 2018, S. 145–153, hier S. 146f.
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2500 Taler abgekauft hatte.22 Dennoch war Steffens nicht zufrieden, wie er im Oktober 1804 an König Friedrich Wilhelm III. schrieb. Ihm sei für seine Professur der Mineralogie und Geognosie die Mineraliensammlung angewiesen und durch ein königliches Rescript aufgetragen worden, „zweckmæssige Verbesserungen vorzuschlagen“.23 Nun sei es aber so, dass der Bergkommissar Hübner24 die Aufsicht über die mineralogische und zoologische Sammlung des Universitätsmuseums habe und er, Steffens, somit über keinerlei Befugnisse verfüge. Steffens erbat sich in diesem Schreiben entweder gleichberechtigte Befugnisse zugesprochen zu bekommen oder aber eine Teilung beider Sammlungen und die alleinige Aufsicht über die Mineraliensammlung. Durch die Pläne des Senats und die seiner Majestät bereits vorliegende Bitte, die Mineraliensammlung des Orientalisten Johann Severin Vater anzukaufen, würde die mineralogische Sammlung „ansehnlich vermehrt“.25 Ein Lehrer der Mineralogie müsse bei einer Mineraliensammlung „die Anordnung der Methode seines Vortrages gemæss besorgen“, um sich „in jedem Augenblick orientieren zu können“.26 Steffens’ Wunsch wurde stattgegeben – mit Auflage eines „gutachterlichen Bericht[s]“27 wurde 1805 das Mineralienkabinett von der zoologischen Sammlung getrennt und mit dem Ankauf der Sammlung Vaters für die nächsten zwanzig Jahre die Grundlage der mineralogisch-geologischen Mineraliensammlung in Halle geschaffen.28 Drastischer fiel Steffens’ Urteil zur Mineraliensammlung in seiner Autobiografie aus, wo er sie als „völlig unbrauchbar“29 bezeichnete. || 22 Vgl. Thomas Kaemmel u. Rudolf Gaedeke: Zur Geschichte der Mineralogie an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Hercynia N. F. 22 (1985), S. 1–12. 23 Steffens an Friedrich Wilhelm III., 16. Oktober 1804, GStA PK, I. HA alt Ältere Oberbehörden für Wissenschaft, Kunst, Kirchen- und Schulsachen, II Nr. 107, Bl. 26r. 24 Gemeint war der Arzt Johann Gottfried Hübner (1744–1812), der Inspektor des akademischen Museums in Halle und Mitglied der hallischen Naturforschenden Gesellschaft war. 25 Ebd., Bl. 27r. 26 Ebd., Bl. 26r. 27 Julius Eberhard von Massow an die Universität Halle, 19. Oktober 1804, ebd., Bl. 29r. 28 Vgl. Walter Steiner: Henrik Steffens (1779–1845) als Lehrer der Mineralogie und Geologie an der Universität Halle und sein Ausscheiden aus dieser Lehranstalt. In: Hercynia N. F. 6 (1969), S. 440–454. Noch 1820 schien die hallische Mineraliensammlung auf dem Stand von 1808 geblieben zu sein, wie Steffens in einem Gesuch an Staatsminister Altenstein anmerkte und darum bat, Karl von Raumer bei dessen Weggang aus Breslau für den Neubeginn in Halle die von diesem erwirtschafteten 400 Reichstaler für die Vervollständigung der mineralogischen Sammlung in Halle zu überlassen, was auch bewilligt wurde, vgl. Steffens an Karl von Altenstein, 13. August 1820, GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium V a Sekt. 4 Tit. X Nr. 23 Bd. 1, Bl. 103–105 sowie Altenstein an Steffens, 8. September 1820, ebd., Bl. 108. 29 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 9), Bd. 5, S. 83.
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Erst 1808 – als, wie erwähnt, die Universität Halle nach zweijähriger Schließung unter nun französischer Schirmherrschaft wieder öffnete – konnte Steffens den Wunsch, die Mineraliensammlung möglichst zu vervollständigen, wieder aufgreifen und nutzte dies, um der für Halle nun zuständigen westphälischen Regierung gleichzeitig die Errichtung eines kompletten BergwerkInstituts, eine Bergakademie, vorzuschlagen. Denn mit der von Napoleon verfügten Schließung im Herbst 1806 war die Universität in einen Dornröschenschlaf verfallen, an dem sich auch mit der Wiedereröffnung zum Sommersemester 1808 nicht viel geändert hatte, wie Steffens in einem Brief (Abb. 1) an Johannes von Müller (1752–1809), Direktor des öffentlichen Unterrichts im Königreich Westphalen, im Juni 1808 ausführte: Ich muss es bekennen, meine hiesige Lage ist mir lästig und unangenehm. Ich bin zu jung einen pensionierten Gelehrten vorzustellen und es gnügt mir nicht für 6–8 junge Menschen, die die Schulen eben verlassen haben, keine physicalische Kenntnisse besitzen, also für meinen Unterricht durchaus unreif sind, Lehren vorzutragen, die die grösste Anstrengung und mannichfaltige Kenntnisse erfordern. Vormals kamen aus allen Gegenden Deutschlands junge, gebildete Mænner her, waren auch viele unreife unter meine Zuhörer, so waren doch auch viele, die treffliche Kenntnisse besassen. Viele Zweige der Naturwissenschaft wurden bearbeitet, sie theilten die Arbeit mit mir, Schwierigkeiten, die viele unüberwindlich glaubten, wurden glücklich gehoben, und es gelang mir, in der kurzen Zeit von zwei Jahren eine kleine Schule zu bilden die leider zu früh zerstreuet ward. Die Gebirgsgegenden in der Nähe wurden durchsucht, und ich habe selbst Werner in Freiberg mehrere seiner besten Schüler zugeschickt. So war meine Zeit ausgefüllt und die Zukunft versprach noch mehr.30
Auch um die Mineraliensammlung machte sich Steffens im selben Brief Gedanken: „Ich habe dem Hrn. Kanzler Niemeier eine Darstellung der Lage [...] der hiesigen Naturaliensammlung mitgetheilt. Sie wird zu Grunde gehen, wenn sie nicht unterstüzt wird.“31 In diesem Brief vom 12. Juni 1808 präsentierte Steffens Müller zugleich eine Idee, wie man Halle erneut zur Blüte und ihn selbst wieder in eine betriebsamere Beschäftigung bringen könne: durch die Etablierung einer Bergakademie.
|| 30 Steffens an Johannes von Müller, 12. Juni 1808, GStA PK, V. HA Königreich Westphalen, Rep. B 3 Spez. Nr. 839. 31 Ebd.
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Abb. 1: Erste Seite des Schreibens von Steffens an Johannes von Müller, 12. Juni 1808, GStA PK, V. HA Königreich Westphalen, Rep. B 3 Spez. Nr. 839.
4 Der Vorschlag Als „mineralogische Schule“ bezeichnete Steffens das Resultat seiner Ausführungen gegenüber Müller. Zunächst einmal ging es ihm um die für die Minera-
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logie und damit seinen Unterricht notwendige Verbesserung der Mineraliensammlung: „Einen Vorschlag die Mineraliensammlung zu vermehren, für die Universität wichtig zu machen, diese sogar dadurch zu heben habe ich beigefügt.“32 Dieser Vorschlag sah die Forderung vor, dass alle Bergwerksbeamten des Königreichs angewiesen werden müssten, Steffens „die Merkwürdigkeiten ihres Districts, für die hiesige Sammlung vollständig zu liefern“, wodurch eine „Sammlung einheimischer Fossilien und geognostischer Suiten“ entstehen würde, „die sehr lehrreich wære“.33 Neben Müller wandte sich Steffens zusätzlich an den westphälischen Finanzminister, Hans von Bülow, dem er am 27. Juni einen vermutlich nahezu identischen Brief schickte. Das Original ist nicht erhalten, doch Bülow hatte den Brief ins Französische, die Amtssprache in Westphalen, übersetzen lassen und ihn mit einer eigenen Einschätzung am 13. Juli an den Innen- und Justizminister Joseph Jérôme Siméon gesandt. In Anlehnung an die Freiberger Bergakademie, aber auch die französische Bergwerksschule in Paris wollte Steffens, wie er an Bülow schrieb, ebenfalls in Halle eine wissenschaftliche Einrichtung etablieren, die sich ausschließlich dem Thema Bergbau widmen sollte, denn „von allen öffentlichen Einrichtungen ist eine Bergwerkschule zweifellos eine der wichtigsten“.34 Der Bergbau war einer der wichtigsten Wirtschaftszweige im Königreich Westphalen, und Halle umgeben von den bedeutenden Bergwerken in Eisleben, Mansfeld, und Rothenburg. Ein solches Institut sei zwar kostspielig, so Steffens, aber anstatt es direkt an eins der vorhandenen Bergwerke anzuschließen, müsse es an eine Universität angebunden werden, um ein Alleinstellungsmerkmal unter den Universitäten in Mitteleuropa zu erlangen: „Pour être utile et séparé de tout autre, cet établissement seroit dispendieux.“35 Halle sei aufgrund seiner Lage der perfekte Ort: „Halle liegt mitten im Flözgebirge. Umgeben, in geringer Entfernung von dem wichtigsten Bergbau, Steinkohlenwerke, Salinen.“36 Anders als noch gegenüber Müller brachte Steffens den mitten im Gebirge gelegenen Ort Clausthal gar nicht mehr ins
|| 32 Ebd. 33 Ebd. 34 „Detoutes [sic] les Institutions publiques une des plus importantes est sans doute une école des Mines“. Der im deutschen Original nicht mehr erhaltene Brief von Steffens an Hans von Bülow vom 27. Juni 1808 ist nur in französischer Übersetzung überliefert in ebd., Nr. 843. Diese Rückübersetzung sowie alle weiteren Übersetzungen stammen von der Verfasserin. 35 Ebd. 36 Steffens an Müller, 12. Juni 1808, ebd., Nr. 839.
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Gespräch.37 Denn neben der geografischen Lage sprach für Halle vor allem auch die bereits existierende Universität: „Hier sind ohnehin Lehrer der Physik, Chemie, Mathematik. Alle Zweige der theoretischen Bergbaukunde könnten auf der Universität leicht vorgetragen werden.“38 Zudem sollte in Halle ein „Hauptbüreau für alle mineralogischen Schäze des Königreichs“ entstehen und ein reger internationaler Tauschhandel von Fossilien und Mineralien begründet werden.39 Der für Steffens wichtigste Grund, weshalb er die Bergwerksschule in Halle haben wollte, war aber ein persönlicher, wie er an Müller schrieb: Vielleicht wäre Cassel […] oder Göttingen eben so gut. Aber ich bin nun einmahl hier und Ew. Excellenz werden verzeihen, wenn ich, scheinbar unbescheiden, von mir selbst spreche. Ich bin – so viel ich weiss – der erste, bis jetzt der einzige der auf einer deutschen Universität die Geognosie vorträgt.40
Mit dieser Aussage traf Steffens einen wichtigen Punkt. Geognosie war eine spezifische Art, wie Erdgeschichte beschrieben wurde, ihre Besonderheit die enge Anlehnung an die Montanwissenschaften.41 Steffens führte daher auch ausführlich seine praktischen Erfahrungen auf diesem Gebiet auf, verwies auf seine Zeit in Freiberg, seine „für die dänische Regierung practisch bergmännische[n] Untersuchungen“ sowie seine zehnjährigen Reiseerfahrungen in „den Gebirgen Deutschlands, Pohlens, Ungerns, Schwedens und Norwegens“.42 Gleichzeitig machte Steffens deutlich, dass er keine Gehaltserhöhung durch die Übernahme der Leitung eines solchen Bergwerksinstituts anstrebe – „[i]ch suche nur einen grössern, für die Wissenschaft und den Staat gleich
|| 37 1803 hatte der französische Berginspekteur Héron de Villefosse gegenüber der westphälischen Bergbauverwaltung vorgeschlagen, eine Bergschule in Clausthal zu errichten, vgl. Vogel: Aufklärung untertage (wie Anm. 16), S. 28. 38 Steffens an Müller, 12. Juni 1808, GStA PK, V. HA Königreich Westphalen, Rep. B 3 Spez. Nr. 839. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Zur noch spezielleren preußischen Geognosie vgl. Bernhard Fritscher: Erdgeschichtsschreibung als montanistische Praxis: Zum nationalen Stil einer ¸preußischen Geognosie‘. In: Schleiff u. Konečný (Hg.): Staat, Bergbau und Bergakademie (wie Anm. 2), S. 205–229. Zur Begriffsgeschichte der Geognosie in Relation zum Begriff der Geologie siehe Marianne Klenum: Geognosie versus Geologie: Nationale Denkstile und kulturelle Praktiken bezüglich Raum und Zeit im Widerstreit. In: Wissenschaftsgeschichte 38 (2015), S. 227–242, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/ 10.1002/bewi.201501728 [19.01.2023]. 42 Steffens an Müller, 12. Juni 1808, GStA PK, V. HA Königreich Westphalen, Rep. B 3 Spez. Nr. 839.
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nüzlichen Wirkungskreis“ –, bat aber um Mittel für die Begleichung von Korrespondenz- und Transportkosten sowie um eine offizielle Bekanntgabe der westphälischen Regierung in den einschlägigen Zeitungen, um neue Studenten nach Halle zu locken.43
5 Die Akteure Hans von Bülow unterstützte Steffens Vorschlag sofort: „Die Einrichtung erschien mir nützlich, der Plan durchdacht, der Autor aufgrund seiner Talente und seiner Erfahrung geeignet.“44 Auch hatte Bülow bereits die Grubenbeamten angewiesen, sich mit Steffens in Verbindung zu setzen und ihm „die Informationen ebenso wie die Materialien zukommen zu lassen, die er benötigt“.45 Siméon reagierte zurückhaltender. Zwar teilte er Steffens in einem Schreiben vom 18. Juli mit, dass er Bülows Interesse an Steffens’ Vorschlag teile und die Entscheidung, die Bergbaubeamten zu beauftragen, mit Steffens zu korrespondieren, unterstütze. Doch scheitere das Vorhaben an den finanziellen Mitteln: Die Umstände erlauben es derzeit nicht, diesen wichtigen Teil des öffentlichen Dienstes positiv zu organisieren und Gelder, die alle ihre besondere Bestimmung haben, dafür einzusetzen. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass man zu einem günstigeren Zeitpunkt daran denken wird und ich werde der Erste sein, der die Aufmerksamkeit seiner Majestät auf dieses Thema lenkt.46
Johannes von Müller sah das ähnlich. Nachdem er auch vom Rektor der Universität, August Hermann Niemeyer, am 20. Juli eine Kurzfassung und Empfehlung von Steffens’ Plan erhalten hatte, wandte er sich, wie auch Bülow zuvor, am 21. Juli an Siméon und legte zusätzlich zu Steffens’ Vorschlag, den || 43 Ebd. 44 „L’institut me paroit utile, le plan réfléchi, l’auteur propre à l’exécution et par ses talens & par son expérience.“ Hans von Bülow an Joseph Jérôme Siméon, 13. Juli 1808, ebd. Nr. 843, Bd. 1, o.P. 45 „[...] et de lui transmettre et les renseignements & les matières dont il a besoin.“ Ebd. 46 „Les circonstances ne permettent pas dans le moment actuel d’organiser positivement cette partie importante du service public, et d’y conserver des fonds qui tous ont [...] leur destination particulière. Mais il n’y a pas de doute que dans un temps plus opportun on songera à l’en occuper et je serai le premier a attirer cet objet l’attention de Sa Majesté.“ Siméon an Steffens, 18. Juli 1808, ebd., o.P.
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er offenbar nicht übersetzen ließ, auch ein eigenes vierseitiges Schreiben auf Französisch bei, in welchem er die Idee Steffens’ grundsätzlich unterstützte und darauf hinwies, dass man das Ansehen der Universität durch ein solches Institut im In- und Ausland steigern könne: „Nichts ist besser geeignet, den Erfolg der Universität zu steigern“.47 Er befürwortete auch die Herausgabe der Namen der westphälischen Bergbaubeamten sowie die Erteilung der Erlaubnis, dass Steffens sich mit diesen in Verbindung setzen könne. Allerdings verwahrte sich Müller dagegen, Steffens’ Bitte nach finanzieller Entschädigung für Transporte, Korrespondenz und Exkursionen zu unterstützen, da er sich, so Müller, nicht vorwerfen lasse wolle, neue Ausgaben vorzuschlagen. Auch Steffens’ Wunsch nach einer formalen Anzeige in den Gelehrtenblättern traf nicht auf Müllers Zustimmung, da dies „für andere Mineralogen an unseren Universitäten etwas Anstößiges und Beleidigendes hätte und dem Geist unserer Gesetze widerspricht, da sie gegen Privilegien und Monopole verstößt“.48 Wie sehr man in Halle selbst bereit war, die Einrichtung einer Bergakademie zu unterstützen, zeigt auch ein Schreiben Niemeyers (Abb. 2), der am 20. Juli den Justiz- und Innenminister Siméon in einem Bericht über die geglückte Wiedereröffnung der Universität zugleich höflich an den Plan erinnerte, in Halle eine „école de mines“ einzurichten, und diesem Rapport drei Bitten beifügte: erstens, dass Professor Steffens den Titel eines Professors der Bergbaukunst erhalte, zweitens, dass die Eröffnung der Bergbauschule unter der Autorität der Regierung im Vorlesungsverzeichnis angekündigt werden dürfe und drittens, dass Siméon den Finanzminister Bülow dazu anhalten möge, die Bergwerksbeamten des Königreichs Westphalen darüber zu unterrichten und das Mineralienkabinett der Universität Halle von Zeit zu Zeit zu ‚bereichern‘ („enrichir“). Von einer finanziellen Unterstützung durch die Regierung sei nicht die Rede.49
|| 47 „Rien de plus propre à augmenter les succès de l’université“. Müller an Siméon, 21. Juli 1808, ebd. Nr. 839. 48 „Comme la troisième aurait quelque chose d’humiliant et d’offensant pour d’autres minéralogistes dans nos universités et comme elle repugne à l’esprit de nos lois, contraire à des privilèges, des monopoles“. Ebd. 49 August Hermann Niemeyer an Siméon, 20. Juli 1808, ebd. Nr. 843, Bd. 1, o.P.
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Abb. 2: August Hermann Niemeyer an Joseph Jérôme Siméon, 20. Juli 1808, GStA PK, V. HA Königreich Westphalen, Rep. B 3 Spez. Nr. 843, Bd. 1.
Siméon reagierte auf alle drei Bitten grundsätzlich positiv. In seinem Antwortschreiben vom 31. Juli (Abb. 3) erteilte er Niemeyer die Befugnis, im „Verzeichnis den neuen Kurs, um den es sich handelt, anzukündigen“ und informierte ihn über Bülows an die Bergbaubeamten ergangene Anordnung, mit Steffens in Verbindung zu treten. Den Wunsch, Steffens den Titel eines Professors der Bergbaukunst zu verleihen, konnte er nicht erfüllen, da ein Professor dieser Fachrichtung „in der Lehre dieser Wissenschaft die Praxis und Theorie“ verbin-
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den müsse. Steffens benötige allerdings keine Erlaubnis, um „seine Arbeiten und seine Vorlesungen, die er seinen Studenten gibt, zu erweitern“.50
Abb. 3: Siméon an Niemeyer, 31. Juli 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 10r–v.
Bereits am 22. Juli hatte der königlich-westphälische Unterpräfekt Johann August Wilhelm Frantz der Leitung der Königlichen Friedrichs-Universität Halle in einem förmlichen Schreiben mitgeteilt, dass das Gouvernement „[w]egen des Nutzens den eine solche Anstalt für die Stadt und die Universität Halle haben kann“ die Vorbereitung zu einer Bergakademie in Halle unterstütze und man alle Bergwerks-Behörden des Königsreichs beauftragt habe, sich mit dem Herrn Professor Steffens in die nöthige Communication zu setzen demselben die ihm etwa wissenswerthen Notizen über manchen Zweig der Bergkunde zu geben, ihm
|| 50 Siméon an Niemeyer, 31. Juli 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 10r.
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von allen mineralischen Produiten der ihnen anvertrauten Werke noch und noch Exemplare zukommen zu lassen, kurz ihm von ihrer Seite allen möglichen Beistand zu leisten.
Die Universität Halle fordere man auf, mit dem Herrn Professor Steffens solche Arrangements zu treffen, daß dies Institut mit der Universität selbst in die möglichst genaueste Beziehung gesetzt und das anzufangende Cabinet als Eigenthum der Universität behandelt und fortgeführt wird.51
Auch Finanzminister Bülow schrieb am 30. Juli noch einmal persönlich an Niemeyer, um ihn nach dessen „fortdauernden Anfragen […] vom 20. des Monats zur Errichtung einer Bergwerkschule in Halle“ mitzuteilen, dass er Steffens in einem Schreiben auffordern werde, Niemeyer „die bisher von seinem Institut getroffenen Vorkehrungen“ mitzuteilen, „welche ich genehmigt habe“ und für die auch der Präfekt der Saale bereits Anweisungen erhalten habe.52 Somit lagen Ende Juli 1808 alle formellen Genehmigungen vor, um mit den Vorbereitungen zur Einrichtung einer Bergakademie in Halle beginnen zu können.
6 Die Details Der Anweisung von Frantz wurde am 2. August Folge geleistet, als Prorektor Johann Gebhard Ehrenreich Maaß seine Kollegen an der Philosophischen Fakultät über Frantz’ Schreiben in Kenntnis setzte53 und an Steffens folgende Aufforderung ergehen ließ:
|| 51 Johann August Wilhelm Frantz an die Königliche Friedrichs-Universität, 22. Juli 1808, ebd., Bl. 2r. 52 „Monsieur le Recteur, d’après les demandes contenues dans Votre letter [sic], du 20 de ce mois, relativement à l’établissement d’une École des Mines, à Halle, projettée par Mr. Steffens, je lui écris pour qu’il ait à vous communiquer les dispositions faites jusqu’ici pour la mise en activité de son etablissement, que j’ai autorisée, et pour le quelle [sic] Mr. le Préfet de la Saale areçu [sic] les ordres nécessaires: je ne doute pas qu’il ne s’empresse à correspondre avec Vous sur cet Objet. Recevez, Monsieur le Recteur, l’assurance de ma Considération distinguée. Le Ministre des Finances Bülow“. Bülow an Niemeyer, 30. Juli 1808, ebd., Bl. 8. 53 Maaß reichte das Schreiben von Frantz weiter und betonte dessen Vorgabe, „daß das anzulegende Institut der Universität angehöre“. Man müsse zunächst „dem Herrn Pr. Steffens seine Erklärung darüber ab[]fordern“. Johann Gebhard Ehrenreich Maaß an seine Kollegen, 31. Juli 1808, ebd., Bl. 1r.
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Es ist uns von Seiten der Universität die Mittheilung gemacht worden: daß die Regierung die von Ihnen in Vorschlag gebrachte Sache, hierselbst eine Vorbereitung zu einer Bergacademie zu etabliren, genehmigt habe. Wir sind dabei aufgefordert worden, „mit Ihnen solche Arrangements zu treffen, daß dies Institut mit der Universität in die möglichst genauste Beziehung gesetzt, und das anzufangende Cabinet als Eigenthum der Universität behandelt und fortgeführt werde“. Ew. Wohlg. ersuche ich daher, Ihre Gedanken und Vorschläge darüber sobald als möglich mir gefälligst mitzutheilen.54
Abb. 4: Maaß an Steffens, 2. August 1808, UAHW, Rep. 98, Nr. 3, Bl. 1v.
Seine achtseitige Ausarbeitung legte Steffens dem Consilium der Philosophischen Fakultät bereits vier Tage später vor. Sie ist ausführlicher als sein Schreiben an Müller, wenngleich er viele bereits an Müller und auch an Bülow kommunizierte Punkte aufgriff, wie etwa die Auflistung der Vorteile, die Halle gegenüber anderen Standorten besitze. Weiter teilte er mit, von Hans von Bülow, Joseph Jérôme Siméon, aber auch Berghauptmann Franz August von Meding und Bergrat Johann Carl Ludwig Gerhard Schreiben erhalten zu haben, die allesamt Unterstützung versprachen. Von diesen Schreiben ist heute nur das Schreiben Siméons in Konzeptform auffindbar. Gerhard, der in Rothenburg tätig war, habe ihm bereits eine „vollständige Suite der geognostischen und oryktog-
|| 54 Maaß an Steffens, 2. August 1808, ebd., Bl. 1v.
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nostischen Merkwürdigkeiten seines grossen Districts“ für die universitäre Sammlung versprochen.55 Durch den Gewinn Gerhards als Unterstützer für seine Pläne hatte Steffens nun gerade den Mann gewinnen können, dessen Vater Carl Abraham Gerhard 1770 von der preußischen Regierung beauftragt worden war, Pläne für die Einrichtung einer Bergakademie in Berlin auszuarbeiten.56 Wie in Freiberg sollten der praktische Bergbau und die theoretische Wissenschaft in Halle an einer Bergwerksschule zusammengeführt werden, wobei Steffens zugestand, dass „auf einer solchen Universität nur die theoretische Grundlage gelegt werden könnte“.57 Da aber kein Ort über alle Bergbauarten verfüge, müsse eine Bergakademie nicht zwangsläufig im Gebirge liegen: „Die theoretische Bergwerksschule der Franzosen ist daher auch in Paris.“58 Um den Unterricht dennoch so anschaulich wie möglich zu gestalten, legte Steffens erneut seine Forderung dar, wonach „diejenigen Beamte des Königreichs, die sich mit dem eigentlichen Bergbau beschäftigen – Bergmeister, Obergeschworne, Markscheider u.s.w.“ angewiesen werden müssten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen und ihm „eine vollständige geognostische Suite ihres Districts, gute frische wohlerhaltene Exemplare der Gebirgsarten usw. […] mit Nachrichten über die Art des Vorkommens, der Streichen, Einschuessen usw.“ sowie „eine vollständige oryktognostische Sammlung aller Fossilien ihres Districts“ zukommen zu lassen.59 Das dadurch entstehende mineralogische „Hauptbureau“, welches er bereits gegenüber Müller vorgeschlagen hatte, würde dadurch „ein Mittelpunkt für grössere Verbindungen“ sein, so dass „ein lebhafter Tauschhandel von Mineralien“ entstünde.60 Mit Frantz hatte Steffens bereits einige Räumlichkeiten besichtigt, um die vergrößerte Mineraliensammlung dort unterzubringen, und auch ein passendes gefunden: Ich Es fand ein sol besteht aus vier Stuben. Eine liesse sich bequem zum Auditorio einrichten, zwei, zu einer vereinigt zur Aufnahme der Sammlung, und eine Kammer zum Auspacken u.s.w. einrichten.61
|| 55 Steffens an seine Kollegen, 6. August 1808, ebd., Bl. 4v. 56 Vgl. hierzu besonders Ursula Klein: Ein Bergrat, zwei Minister und sechs Lehrende. Versuche der Gründung einer Bergakademie in Berlin um 1770. In: NTM. Zeitschrift für Wissenschafts-, Technik- und Medizingeschichte 18 (2010), S. 437–468 sowie dies.: Carl Abraham Gerhard: Wissenschaftlich-technologischer Experte und guter, preußischer Kameralist. In: Schleiff u. Konečný (Hg.): Staat, Bergbau und Bergakademie (wie Anm. 2), S. 251–273. 57 Steffens an seine Kollegen, 6. August 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 3r. 58 Ebd., Bl. 3v. 59 Ebd. 60 Ebd., Bl. 4r. 61 Ebd., Bl. 6r.
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Für diese Räumlichkeiten seien nach Schätzung des Baumeisters Friedrich 100 Reichstaler notwendig. Zusätzlich bat Steffens um die Erhöhung der von Niemeyer bereits für die Mineraliensammlung zugesagten Summe von 200 auf 400 Taler, um nicht nur die Räumlichkeiten, sondern auch „die Sammlung einzurichten, Schrænke anzuschaffen u.s.w.“, denn es müssten auch „solche Fossilien“ angekauft werden, „die nur in dem Handel vorkommen“. Weiter veranschlagte Steffens eine Summe von mindestens 200 Talern, die jedes Jahr nötig seien, um „Grubenzeichnungen, Correspondenz, Schreibereien, Transport u.s.w. zu besorgen“.62 Um neben Ausgaben auch Einnahmen zu generieren, habe er, so Steffens, bereits die Bergwerksbeamten des Königreichs eingeladen, „als Mitarbeiter an einer Schrift Theil zu nehmen, die durchaus der Oryktognosie und Geognosie des Königreichs gewidmet sein sollte“ – Einkünfte aus der Publikation sollten der Bergakademie zugutekommen.63 Um bei internationalen mineralischen Tauschgeschäften schnell handlungsfähig zu sein, forderte Steffens darüber hinaus, dass man ihm „freie Hand“ lasse, so dass er eigenverantwortlich über Ankäufe und Tausche entscheiden könne. Im Gegenzug bot er an, „alle Jahr, oder wenn man es nöthig finden sollte alle halbe Jahr die strengste Rechenschaft abzulegen“.64 Auf Grundlage dieses Mineralienkabinetts könne er seine Vorlesungen in Mineralogie und Geognosie abhalten und parallel „Excursionen, nach allen geognostisch merkwürdigen Gegenden des Königreichs anstellen, und auf diese Weise die Gebirgsuntersuchung praktisch lehren“.65 Auch auf den Unterricht ging Steffens in konkreten Ausführungen ein. So notierte er, dass Chemie, Physik und Mechanik „ohnehin“ auf der Universität Halle gelehrt werde und man „ausgezeichnete Lehrer in diese[n] Fächer besitze“.66 Diese Kollegen lud er ein, gemeinsam mit ihm Vorträge zu planen, die montanistische Themen wie Hüttenkunde, Probierkunst67 und Maschinenlehre abdeckten. Als Dozenten für die Vorlesungen in Hüttenkunde schlug er Karl Christoph Schmieder68 und Johann Friedrich Christian Düffer69 vor, die beide bereits als Privatdozenten in Halle tätig waren – Letzterer hätte den Vorteil,
|| 62 Ebd. 63 Ebd., Bl. 6r–6v. 64 Ebd., Bl. 6v. 65 Ebd., Bl. 4r. 66 Ebd. 67 Im Fach Probierkunst lernten die Schüler mittels chemischer Verfahren den Metallgehalt von Erzen zu bestimmen. 68 Karl Christoph Schmieder (1778–1850) war Mineraloge und Schriftsteller, der 1832 eine Geschichte der Alchemie veröffentlichte. 69 Johann Friedrich Christian Düffer (1775–1831) war Apotheker.
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dass ihm „ein Laboratorium zu Gebothe“ stünde,70 so Steffens. Für die Fächer Bergbau und Markscheidekunst71 schlug Steffens seinen ehemaligen Freiberger Kommilitonen Friedrich Carl Benjamin Dietrich72 vor, der mittlerweile in Stettin tätig sei und für den vom Oberbergrat und Direktor des niedersächsischen und magdeburg-halberstädtischen Bergamtes zu Rothenburg Johann Carl Ludwig Gerhard73 bereits die Erlaubnis vorliege, auch in Halle lesen zu dürfen. Sollte Dietrich nicht alle Bereiche der Fächer abdecken können, so müsse der Kollege Prange74 „angehalten werden, bei seinem Unterricht vorzüglich auf Grubenrisse, Grubenzeichnungen, Maschinenzeichnungen, Zeichnungen von Hochöfen, Pochwerke u.s.w. Rücksicht zu nehmen“.75 Hierzu würde Steffens seine neu gewonnene Verbindung mit den Bergbaubeamten nutzen, um für Prange um möglichst viele Zeichnungen für den Unterricht zu bitten. Kritik brachte Steffens auch am Bestand der Universitätsbibliothek an, die für montanwissenschaftliche Fächer schlecht ausgestattet sei. Für die neuen Vorlesungen sei die Anschaffung neuer Bücher, vor allem „mineralogische und bergmännische Schriften“ notwendig, denn „[b]eide Fächer sind bisher durchaus vernachlässigt“.76 Besonders interessant ist der Hinweis, dass das einzurichtende Institut nicht als dauerhafte Einrichtung in den Räumlichkeiten der Universität geplant war, sondern so lange existierten sollte, bis die Bergakademie als unabhängige Einrichtung auf eigenen Füßen stehen würde: Da nun Halle, auch wenn zukünftig eine vollständige Bergwerksschule eingerichtet werden sollte, ein sehr bequemer Ort ist, da eine interimistische Einrichtung nothwendig ist,
|| 70 Ebd., Bl. 5r. 71 Markscheidekunst lehrte das geometrische Vermessen eines Grubenfeldes unter und über Tage und das Anfertigen sogenannter Grubenrisse, Querschnittszeichnungen eines Grubengeländes. 72 Über Friedrich Carl Benjamin Dietrich ist lediglich bekannt, dass er wie Steffens 1799 sein Studium in Freiberg aufnahm und aus Preußen stammte, vgl. Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Königl. Sächs. Bergakademie zu Freiberg (wie Anm. 18), S. 240. 73 Johann Carl Ludwig Gerhard (1768–1835) war ein Sohn Carl Abraham Gerhards und nach 1806 in westphälischer Verwaltung tätig: ab dem 15. März 1808 Geheimer Ober-Bergrat und Direktor des niedersächsischen und magdeburgisch-halberstädtischen Oberbergamtes zu Rothenburg, 1810 preußischer Oberberghauptmann, 1813 Chef der gesamten preußischen Bergund Hüttenverwaltung. Rolf Straubel: Biographisches Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740–1806/15. Teil 1: Biographien A–L. München 2009, S. 303. 74 Christian Friedrich Prange (1756–1836) war Professor für Philosophie an der Universität Halle. 75 Steffens an seine Kollegen, 6. August 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 5v. 76 Ebd.
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damit der theoretische Unterricht den zukünftigen Bergwerksbeamten nicht ganz entgehe, so reiche ich folgenden Vorschlag zu einer interimistischen Einrichtung ein.77
Zuletzt wies er in einem Nachtrag auf die Notwendigkeit hin, bereits im nächsten Vorlesungsverzeichnis die neuen Veranstaltungen anzukündigen.78 Damit sei zunächst alles getan, um eine Bergakademie in der von der westphälischen Regierung vorgegebenem Rahmen zu errichten.
7 Die Reaktionen an der Universität Halle Nachdem Steffens’ Ausarbeitung zur Errichtung einer Bergakademie bei den Kollegen vorlag, bat Maaß die Mitglieder des akademischen Rats um ihre Meinung zu Steffens’ Vorschlägen. Während die Mehrheit unterzeichnete, die „Vorschläge für zweckmäßig und so beschaffen“ zu halten, „daß sie alle Unterstützung verdienen“,79 reichten der Professor für Geographie und Statistik Johann Samuel Ersch,80 der Professor für Mathematik und Physik Georg Simon Klügel,81
|| 77 Ebd., Bl. 3v. 78 „Ich nehme mir die Freiheit einem hochzuverehrenden Concilio darauf aufmerksam zu machen, dass es ohne allen Zweifel nothwendig ist, dass schon in dem nächsten Lectionscatalog auf diese, von der Regierung genehmigte Veranstaltung Rücksicht genommen wird, und dass die Zeit bis dahin sehr kurz ist.“ Ebd., Bl. 7r. 79 Die Mitglieder des Consiliums notierten ihre Gedanken, Anmerkungen und Kritikpunkte eher wild durcheinander auf Vorder- und Rückseiten zweier Bögen im Folio-Format. Namentlich unterschrieben: Johann Christian Woltaer (1744–1815, Professor der Rechte, ab 1801 Ordinarius der Juristischen Fakultät an der Universität Halle), Heinrich Johann Otto König (1748– 1820, Professor der Rechte), Carl Christoph Christian von Dabelow (1768–1830, Professor der Rechte), Kurt Polycarp Joachim Sprengel (1766–1833, Professor für Medizin und Leiter des Botanischen Gartens in Halle), Traugott Gotthilf Voigtel (1766–1843, Professor für Philosophie und Geschichte, Leiter der Universitätsbibliothek), Georg Christian Knapp (1753–1825, seit 1777 Professor für Theologie an der Universität Halle und ab 1799 Direktor der Frankeschen Anstalten in Halle), Johann August Eberhard (1739–1809, ab 1778 Professor für Philosophie in Halle), Christian Gottfried Schütz (1747–1832, Direktor des Philologischen Seminars Halle, Mitgründer der Allgemeinen Literaturzeitung), Johann Christlieb Kemme (1738–1815, Professor für Medizin an der Universität Halle, Leiter der Marienbibliothek in Halle), Johann Christoph Hoffbauer (1766–1827, ab 1799 Professor für Philosophie in Halle, Mitglied in Det Kongelige Norske Videnskabers Selskab) und Johann Horkel (1769–1846, Professor für Medizin). Vgl. ebd., Bl. 11r. 80 Johann Samuel Ersch (1766–1828), ab 1802 Professor für Philosophie, ab 1803 Professor für Geographie und Statistik sowie ab 1808 Oberbibliothekar an der Universität Halle 81 Georg Simon Klügel (1739–1812), ab 1787 Professor für Mathematik und Physik an der Universität Halle.
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der Professor für Staatsrecht und Kameralwissenschaften Christian Daniel Voß82 und der Professor für Mathematik, Physik und Chemie Ludwig Wilhelm Gilbert83 zusätzliche Schreiben ein, in denen sie zu Steffens’ Vorschlag Stellung bezogen. Ersch befürwortete die Einrichtung eines eigenen montanistischen Instituts, da ihn Mineralogie selbst sehr interessiere und es sein „lange [...] erklärter Wunsch“ gewesen sei, dass „unsere Universität einen eigenen Lehrer des ganzen Umfangs dieser wichtigen Wissenschaft in einem geschätzten Mineralogen erhielt“.84 Auch wenn, wie bereits erwähnt, mit Hoffmann, Goldhagen und Forster die Grundlage für das Mineralienkabinett gelegt worden war, so hatte sich vor allem der Mathematiker Johann Joachim Lange (1699–1765) für die „Umgestaltung und Erweiterung“ des naturwissenschaftlichen Unterrichts an der Universität Halle engagiert. 1746 hatte Lange bereits einen „Entwurf eines ordentlich zusammen hängenden Unterrichts vom Bergwerck und was dazu gehöret“ in den Wöchentlichen Hallischen Anzeigen veröffentlicht85 und gab bis zu seinem Tod 1765 jährlich eine praxisbezogene Vorlesung mit dem Titel „Collegium Mineralogico-Metallurgicum“, welche nach Langes Tod von einem seiner Studenten als Buch herausgegeben wurde.86 In den 1770er Jahren bot der Mediziner und Philosoph Johann Peter Eberhard (1727–1779) ein sogenanntes BergbauKollegium an, in dem er Mechanik, Optik und Wasserbau vortrug.87 Gab es also auch schon vor Steffens erste Spuren von montanwissenschaftlichem Unterricht an der Universität Halle, so war Steffens nun tatsächlich der erste ordentliche Professor für Mineralogie, der diesem Fach als Hauptbeschäftigung nachging. Hinsichtlich der Bibliothek versprach Ersch, der seit 1808 auch als Oberbibliothekar tätig war, seine volle Unterstützung bei der Ausstattung der Bibliothek mit montanwissenschaftlichen Büchern.
|| 82 Christian Daniel Voß (1761–1821) war Professor für Staatsrecht und Kameralwissenschaften in Halle. 83 Ludwig Wilhelm Gilbert (1769–1824), Professor für Mathematik und Physik und Inhaber des Lehrstuhls für Chemie. 84 Stellungnahme von Johann Samuel Ersch, o.D., ebd. 85 Wöchentliche Hallische Anzeigen, 28. November 1746, Sp. 761. 86 Johann Joachim Lange: Einleitung zur Mineralogia metallurgica in welcher die Kenntniß und Bearbeitung der Mineralien nebst dem Bergbau kurz und deutlich vorgetragen wird [...]. Hg. u. mit Anmerkungen versehen v. [...] Herr Madihn. Halle 1770. Vgl. Andreas Kleinert: Johann Joachim Lange (1699–1765): Ein hallescher Mathematikprofessor als Pionier der Montanwissenschaften. In: Schleiff u. Konečný (Hg.): Staat, Bergbau und Bergakademie (wie Anm. 2), S. 193–204, hier S. 196f. 87 Vgl. ebd., S. 202.
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Klügel willigte ein, das neue Institut mit mathematischen Vorträgen zu unterstützen, bat aber um Gelder zur Anschaffung von Instrumenten und Modellen, um auch Markscheidekunst und Maschinenlehre unterrichten zu können. Für Exkursionen stünde er mangels „physischer Kräfte“ nicht zur Verfügung. Deutlich wurde Klügel in Hinblick auf die Funktion des BergwerksInstituts (Abb. 5): Hier kann nur eine Vorbereitungsanstalt, keine eigentliche Bergwerksschule, wie in Freyberg errichtet werden. Die Universität, als allgemeine Lehranstalt, bleibt immer die Hauptsache; die Bergwerksschule nur ein annexum.88
Abb. 5: Stellungnahme von Georg Simon Klügel, o.D., UAHW, Rep. 98, Nr. 3, Bl. 11v.
Klügel kritisierte die geforderte Summe für das Mineralienkabinett als zu hoch, da Unterhalt und Ausbau der zoologischen Sammlung teurer seien und man sich bei den Mineralien „durch Tausch“ helfen könne. Vor einer frühzeitigen Ankündigung der neuen Vorlesungen warnte er, um „nicht mehr [zu] versprechen, als wir mögen leisten können“.89 Voß positionierte sich als einziger deutlich gegen Steffens’ Vorschlag. Zum einen zweifelte er an der Bereitschaft der Bergbeamten, Steffens unentgeltlich die gewünschten Proben und Berichte zu schicken und Beiträge für eine wissenschaftliche Publikation selbst zu verfassen, „denn die Obern möchten dies wohl den Unterbedienten überlassen und diese werden fragen: was wird uns dafür?“ Zum anderen setzten Exkursionen, so Voß, sehr gute theoretische Kenntnisse voraus, die die Studenten zunächst erwerben müssten, und auch hier sei es schwierig, die Notwendigkeit zu begründen, da „die meisten Officianten in diesem Fache mehr Gelernte als Studierte sind“ und ihre Kenntnisse prak-
|| 88 Stellungnahme von Georg Simon Klügel, o.D., UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 11v. 89 Ebd.
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tisch, „auf einem andern Wege“ erlangt hätten.90 Zuletzt drückte er seine Verwunderung darüber aus, dass der Kameralist Johann Christoph Christian Rüdiger91 mit seinen mineralogischen und technologischen Kenntnissen von Steffens nicht berücksichtigt worden sei. Gilbert schließlich bat sich Zeit aus, um ein Privatvotum zu verfassen, in dem er seine Gedanken zur Gründung einer Bergakademie in Ruhe ausbreiten wollte, da er die „Angelegenheit von so großer Wichtigkeit für einen der Hauptindustrie-Zweige“ im Königreich Westphalen halte, dass Ideen und Vorschläge gründlich geprüft werden müssten.92 Ob er dieses Privatvotum tatsächlich gefertigt hatte, ist nicht mehr festzustellen, denn mit dieser Stellungnahme enden die Dokumente in der Akte des Universitätsarchivs Halle.
8 Die Bergakademie Wann wurde die Bergakademie in Halle offiziell eröffnet? Die Antwort ist: gar nicht. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Wie Siméon schon deutlich gemacht hatte, mangelte es schlicht an den finanziellen Mitteln. Ständige Kontributionen an Frankreich trugen sicherlich dazu bei, dass für Ausgaben wie die Errichtung eines neuen wissenschaftlichen Instituts keine Gelder aus dem ohnehin schmalen Bildungsetat von 30.000 Francs jährlich freigegeben werden konnten.93 Ein Blick ins Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1808 zeigt aber, dass Steffens’ Vorschläge zur Einrichtung von Vorlesungen in Hüttenkunde und Markscheidekunst bereits für das Herbstsemester umgesetzt wurden. Sowohl der von Steffens genannte Schmieder als auch Dietrich und Düffer boten Vorträge zu montanwissenschaftlichen Themen an, so im Herbst 1808 zur Metallurige („Arteus metallurgicam“) und zur Bergbaukunde („Doctrinam de ratione metalla effodiendi, idoneisque machinationibus“).94 Dietrich lehrte zudem die
|| 90 Stellungnahme von Christian Daniel Voß, o.D., ebd., Bl. 11v–12r. 91 Johann Christoph Christian Rüdiger (1751–1822) war 1791 zu außerordentlichen Professor für Kameralwissenschaften an der Universität Halle berufen worden, ab 1804 leitete er die Neue Ökonomische Gesellschaft in Halle. 92 Stellungnahme von Ludwig Wilhelm Gilbert, o.D., ebd., Bl. 12r. 93 Arthur Kleinschmidt: Geschichte des Königreichs Westphalen. Gotha 1893, S. 160f. 94 Catalogus Praelectionum in Academia Fridericiana Halensi […] publice privatimque habendarum [WS 1808], Halle 1808, S. 6, UAHW, Rep. 41, Nr. 101. Siehe auch: Allgemeine Literatur-Zeitung 277 (21. September 1808), Sp. 180.
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„Geometriam subterraneam“ (Markscheidekunst) und Düffer erläuterte Mineralogie basierend auf den Lehren von Karl-Heinrich Titius.95 Steffens selbst las sowohl zur Naturgeschichte der Erde („Historiam naturalem terrae internum“) als auch zur Mineralogie basierend auf den Lehren Werners und René-Just Haüy96 („Mineralogiam publice docibus Wernero et Hauyo“) vor.97 Klügel hielt sein Versprechen und bot Vorlesungen zur Praktischen Mechanik an,98 sein Kollege Carl Brandan Mollweide (1774–1825) hielt Vorträge zur geographischen Mathematik sowie zur theoretischen und praktischen Mechanik basierend auf den Lehren von Johann Friedrich Schultz (1739–1805). Als Steffens Halle 1811 für eine Anstellung an der Universität Breslau verließ, sorgte er sich um den Fortbestand der Mineralogie. In einem Schreiben an seine Kollegen vom 11. August 1811 drückte er seinen unbedingten Wunsch aus, dass „die Mineraliensammlung, die, durch geringe Mittel, unter meinen Händen entstanden ist, unter die Aufsicht eines Kenners kommen möchte“ und notierte ebendort zur Bergakademie: Sollte das Bergwerksinstitut, welches freilich bis jezt nur wenigen Fortgang gehabt hat, noch fortdauern, so wäre es doch wohl nothwendig für die Mineralogie einen eignen Lehrer zu haben. Es ist aber wenigstens möglich, dass in der Zukunft das Bergwerksinstitut bedeutender werden kann. Ein königl. Decret sichert seine Existenz. Wird aber die Professur der Mineralogie ganz aufgehoben, so giebt es gar keinen Lehrer, der mit dem Bergwerksinstitut in irgend einer unmittelbaren Beziehung stände, und es gäbe vielleicht in ganz Deutschland keine Universitæt, wo, für die Bergwerkswissenschaften in Specie weniger gesorgt wære, wie hier, welches, da das Institut nicht aufgehoben ist, doch fast sonderbar wære.99
|| 95 Eandem secundum Titii librum (Klassification der mineralogischen Fossilien Lips. 1805) explicat Düfferus eamque exemplis e fuis aliorumque collectionibus illustrabit. In: Catalogus Praelectionum in Academia Fridericiana Halensi […] publice privatimque habendarum [WS 1808], Halle 1808, S. 6, UAHW, Rep. 41, Nr. 101. Gemeint ist die Studie von Karl-Heinrich Titius: Klassifikation der mineralogisch-einfachen Fossilien nach ihren Bestandtheilen nebst der Karstenschen Eintheilung der Gebirgsarten. Leipzig 1895. 96 Réne Just Haüy (1743–1822) war ein französischer Mineraloge, der besonders durch seine Abhandlungen zur Kristallografie (z.B. Traité de cristallographie, 1822) bekannt wurde. Steffens bezog sich 1808 auf Haüys Traité de minéralogie von 1801. 97 Catalogus Praelectionum in Academia Fridericiana Halensi […] publice privatimque habendarum [WS 1808], Halle 1808, S. 6, UAHW, Rep. 41, Nr. 101. 98 Ebd. 99 Steffens an seine Kollegen, 11. August 1811, ebd., Rep. 21, Nr. 429. Vollständig abgedruckt ist die Stellungnahme von Steffens bei Steiner: Henrik Steffens als Lehrer der Mineralogie (wie Anm. 28), S. 445–452.
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Steffens gab zu allen für die Stelle angedachten Personen100 seine persönliche Einschätzung ab. Obwohl er den Juristen und Werner-Schüler Ernst Friedrich Germar (1786–1853) für seine Nachfolge empfahl, blieb die Professur für Mineralogie bis 1819, als Karl von Raumer (1783–1865) sie übernahm, unbesetzt. Germar und Schmieder hielten weiterhin private Vorlesungen ab, doch wurde Germar tatsächlich erst nach Raumers Weggang 1824 auf die außerordentliche Professur für Mineralogie berufen, die er sich mit Friedrich Hoffmann (1797– 1836) teilte.101 Die Nichtbesetzung von Steffens’ Stelle hatte auch Folgen für die Mineraliensammlung, die in den kommenden Jahren ein Schattendasein fristete. Als Steffens’ Schwager Raumer nach den Breslauer Turnstreitigkeiten auf eigenen Wunsch nach Halle versetzt wurde, wandte sich Steffens an den preußischen Staatsminister Karl von Altenstein und bat ihn, Raumer für die hallesche Mineraliensammlung dessen in Breslau erwirtschafteten Gelder in Höhe von 400 Reichstalern zu überlassen: [I]ch schwelge in den Reichthum, den ich ihm verdanke, während er nichts hat, als eine völlig unzulängliche Sammlung, die ich selbst, unter die ungünstigsten Umstände, zusammenbrachte und die seit der Zeit, wie es scheint, wenig zugenommen hat.102
Erst unter Germar aber wurde die Mineraliensammlung erweitert und es entstand eine „bedeutende paläophytologische und paläzoologische Sammlung“.103
9 Zusammenfassung und Ausblick Das Projekt einer Bergakademie in Halle erwies sich bestenfalls als der Versuch, das Fach Mineralogie zu erweitern und Unterricht in Berg- und Hüttenkunde anzubieten, wie es bereits im Rahmen naturwissenschaftlicher Vorlesungen durch Lange und Eberhard in den 1760er und 1770er Jahren geschehen war.
|| 100 Genannt waren der bereits 1808 von Steffens genannte Düffer und Schmieder sowie Heinrich Friedrich Link (1767–1851) und Ernst Friedrich Germar (1786–1853). 101 Vgl. Kaemmel u. Gaedeke: Zur Geschichte der Mineralogie an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg (wie Anm. 22), S. 3. 102 Steffens an Altenstein, 13. August 1820, GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. X, Nr. 23, Bd. 1, Bl. 104v. Die Bewilligung Altensteins vom 8. September 1820 siehe ebd., Bl. 108. 103 Steiner: Henrik Steffens als Lehrer der Mineralogie (wie Anm. 28), S. 453.
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Gleichzeitig stand die hallische Bergakademie in einer Reihe mit Gründungen (Freiberg und Paris104) oder Initiativen (Berlin) anderer Bergakademien. Im Unterschied zum Berliner Modell, wo die berg- und hüttenmännischen Vorlesungen öffentlich waren, sollte der Zugang in Halle beschränkt bleiben und nur immatrikulierten Studenten möglich sein. Da die Vorträge aber in den Privaträumen der Dozenten, meist gegen ein Honorar stattfanden, ist es wahrscheinlich, dass auch in Halle „Nichtstudenten“ teilnahmen, wie es Christian Keferstein in seinen Erinnerungen bestätigt.105 Aber wie in Berlin wurde eben auch in Halle lediglich ein „fachspezifischer Unterricht“106 etabliert; wie in Berlin gab es keine Gründungsurkunde, keinen offiziellen Lehrplan oder eine Satzung zum Studiengang. Wer interessiert war, konnte die von Steffens, Düffer, Schmieder und Dietrich angebotenen Vorlesungen besuchen – einen Abschluss erlangen konnte man nicht. Auch über die Ziele der geplanten hilleschen Bergakademie blieb Steffens vage. Während Carl Abraham Gerhard für Berlin das deutliche Ziel vorgegeben hatte, das „Bildungsniveau[] aller preußischen Berg- und Hüttenbeamten“107 zu heben, findet sich in Steffens’ Ausarbeitung keine konkrete Angabe, welchen Zweck der in Halle angebotene Unterricht an einer solchen Einrichtung haben würde. Doch wenn er von Verhinderung „alle[r] handwerksmässige[r] Einseitigkeit“108 dank einer zusätzlichen theoretischen Ausbildung sprach, so hatte auch er die Verbesserung der Bergbau-Kenntnisse bei den Berg- und Hüttenbeamten und damit eine Reformierung des Bergbaus im Sinn: „Denn der Bergbau, ist im Königreich von grosser Bedeutung.“109 Dennoch dürfte seine persönliche Situation in Halle den Ausschlag gegeben haben, weshalb er sich im Sommer 1808 für die Etablierung einer Bergakademie in Halle einsetzte, wie dieser Satz in seinem Schreiben an Müller zeigt: „Ich suche nur Thätigkeit“.110 Doch bereits die Bemühungen von Steffens, die Mineraliensammlung dem Studiengang angemessen zu erweitern, waren, wie schon erwähnt, nicht erfolgreich gewesen, auch wenn er dies in seiner Autobiografie anders darstellen mag:
|| 104 Die Pariser École des Mines war 1783 nach Freiberger Vorbild gegründet worden, vgl. Vogel: Aufklärung untertage (wie Anm. 16), S. 27. 105 Christian Keferstein: Erinnerungen aus dem Leben eines alten Geognosten und Ethnographen mit Nachrichten über die Familie Keferstein. Halle 1855, S. 34. 106 Engel: Der berg- und hüttenmännische Unterricht in Berlin (wie Anm. 4), S. 172. 107 Klein: Ein Bergrat, zwei Minister und sechs Lehrende (wie Anm. 56), S. 442. 108 Steffens an seine Kollegen, 6. August 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 3r. 109 Ebd. 110 Steffens an Müller, 12. Juni 1808, GStA PK, V. HA Königreich Westphalen, Rep. B 3 Spez. Nr. 839.
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Der Vortheil, der aus dieser Anstalt für mich entstand, war nun vorzüglich die Erweiterung der Mineralien-Sammlung, durch Harzer Stufen, und eine lebhafte Correspondenz mit gebildeten Bergbeamten und Mineralogen, die ebenfalls zur Erweiterung des Mineralien-Cabinets beitrugen.111
Gleichwohl konnte er als Mineraloge interessierte Studenten wie Christian Keferstein gewinnen, der noch rückblickend über Steffens’ Vorträge schwärmte: In den, für die hiesige Universität noch sehr traurigen Jahren 1808 und 1809, gab nun Steffens […] einem kleinen Kreise, meist Nichtstudenten […] eine ausführliche Darlegung seiner Ansichten und Studien, die das höchste Interesse einflößten, daher die Stunden bei diesen Vorträgen zu den genußreichsten meines Lebens gehören. Steffens war ein unendlich geistreicher Mann mit sehr umfassenden positiven naturhistorischen Kenntnissen (von denen z. B. sein treffliches Handbuch der Mineralogie Kunde giebt), auch hatte er im Experimentiren viel Geschick und einen ganz hinreißenden Vortrag, den der fremde norwegische Accent nicht beeinträchtigte.112
Auch das breite Angebot an montanwissenschaftlichen Vorlesungen im Wintersemester 1808 blieb während Steffens’ Zeit in Halle einzigartig – bereits im Sommersemester 1809 boten neben Steffens nur noch Klügel, Dietrich und Düffer entsprechende Vorträge an und ein Jahr später hatten auch diese ihre Vorlesungen zu montanwissenschaftlichen Themen eingestellt.113 Wie bedeutend für Steffens das Projekt einer Bergakademie in Halle dennoch war, lässt sich in einem Schreiben an Justus Gruner114 aus dem Jahr 1816 ablesen, in welchem Steffens seine finanziellen Schwierigkeiten und seinen beruflichen Werdegang beschrieb. Obwohl die Bergakademie nie als eigenständiges Institut eröffnet wurde, heißt es dort: „Auf meinem Vorschlag ward in Halle eine Bergacademie errichtet, ich war der Director. Der Finanzminister Bülow weiss es.“115 Dagegen gestand er in seinen Lebenserinnerungen ein, dass alle Bemühungen zur Errichtung der Bergakademie erfolglos waren. Obgleich er mit seinen Plänen auf positive Reaktionen in der westphälischen Verwaltung stieß, verhinderte die politische Lage die Bewilligung finanzieller Mittel, um ein komplett neues wissenschaftliches Institut zu errichten.
|| 111 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 9), Bd. 6, S. 31f. 112 Keferstein: Erinnerungen (wie Anm. 108), S. 34. 113 Vgl. die entsprechenden Vorlesungsverzeichnisse in: Allgemeine Literatur-Zeitung 73 (15. März 1809), Sp. 495–597 sowie Allgemeine Literatur-Zeitung 99 (11. April 1810), Sp. 787f. 114 Justus Gruner (1777–1820, ab 1815 auch Justus von Gruner) war königlich preußischer Geheimer Staatsrat und der erste Polizeipräsident von Berlin. 115 Steffens an Justus Gruner, 7. Januar 1816, GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl Justus Karl von Gruner (der Ältere), Nr. 108.
Ein montanistisches Institut für die Universität Halle | 203
Obgleich es mir nun keineswegs gelang, das beschlossene Bergwerks-Institut ins Leben zu rufen, so war mir doch die Beschäftigung lieb. Sie besonders brachte mich dazu, mich lebhaft mit der Mineralogie zu beschäftigen, und es gelang mir auch in der That, einige Zuhörer zu interessiren.116
Das Resultat dieser Beschäftigungen war schließlich das von 1811 bis 1824 publizierte vierbändige vollständige Handbuch der Oryktognosie,117 das, so Ursula Klein, „die umfangreichen mineralogischen Kenntnisse seines Autors, seine Vertrautheit mit den fachlichen Schwierigkeiten der Mineralogie und sein Bemühen mit der neuesten Forschung Schritt zu halten“ zeigte.118 Nach dem ersten Jahr des Versuchs, in Halle montanwissenschaftlichen Unterricht zu etablieren, verlagerte sich Steffens’ Interesse: die Gründungsabsichten der Berliner Universität erfüllten ihn mit der Hoffnung, dort dabei sein und wieder in preußische Dienste treten zu können. Seine im Wintersemester 1808/09 in Halle gehaltenen Vorlesungen „Ueber die Idee der Universitäten“ – die nicht im Vorlesungsverzeichnis angekündigt waren – und die ein Jahr später folgende Publikation119 sind nicht nur als Bewerbung für Berlin zu verstehen, sondern zeigen auch, in welche Richtung sich Steffens’ Denken zu bewegen begann: Das kommende Jahrzehnt sollte geprägt sein von seiner Politisierung, seiner Teilnahme am Krieg gegen Napoleon und dem Umzug nach Breslau.120
|| 116 Steffens: Was ich erlebte (wie Anm. 9), Bd. 6, S. 32. 117 Henrich Steffens: Vollständiges Handbuch der Oryktognosie. 4 Bde. Halle 1811–1824. 118 Klein: Steffens Mineralogie (wie Anm. 21), S. 151. 119 Henrik Steffens: Ueber die Idee der Universitäten, Vorlesungen. Berlin 1809. Zu Steffens’ Universitätsidee vgl. u.a. den Beitrag von Bernd Henningsen in diesem Band. 120 Marit Bergner: Henrich Steffens. Ein politischer Professor in Umbruchzeiten 1806–1819. Frankfurt a.M. 2016.
| Teil IV: Anhang
Marit Bergner
Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie betref. 1808 Edition der Akte UAHW Rep. 3, Nr. 98 Editorische Notiz: Bei den hier publizierten Texten der „Bergakademie-Akte“1 aus dem Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg handelt es sich um Handschriften aus dem frühen 19. Jahrhundert in deutscher und französischer Sprache. Die Faszikel stammen aus dem Zeitraum zwischen dem 22. Juli und dem 15. August 1808 und sind ebenso in deutscher und französischer Sprache verfasst. Die Besonderheit liegt in der Schriftart: Während Steffens als gebürtiger Norweger die zu dieser Zeit in Skandinavien vorherrschende lateinische Schrift ebenso wie der aus Frankreich stammende Joseph Jérôme Siméon verwendete, sind die Briefe seiner hallischen Kollegen – allesamt deutsche Muttersprachler – in Kurrentschrift verfasst. Neben offiziellen Briefen beinhaltet die Akte auch informelle Schreiben und Notizen der Hallenser Professoren. Alle Texte werden im Originalwortlaut und in Schreibweise und Zeichensetzung unverändert wiedergegeben, Fehler in Orthografie und Grammatik somit übernommen, ohne dass diese eigens kenntlich gemacht werden. Unterstreichungen und Streichungen im Text entsprechen dem Original, fehlende Buchstaben oder Wörter werden kursiv in eckigen Klammern zugefügt. Hochgestellte Endungen wie im Wort „Reichsthaler“ werden nivelliert. Wörter oder Wortteile, die nicht entzifferbar sind, werden in ein in geschweifte Klammern gesetztes Spatium gesetzt. Die französischsprachigen Briefe wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt. Für das Verständnis der übersetzten Texte notwendige Erläuterungen wurden im Text in eckige Klammern gesetzt. Marit Bergner
|| 1 Es wird der Titel verwendet, wie er bei Anlegung der Akte vergeben wurde. In den Beständen des Universitätsarchivs der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (= UAHW) ist die Akte mittlerweile verzeichnet unter dem Titel „Anregung des Prof. Heinrich Steffens zur Errichtung einer Bergakademie in Halle“ und trägt die Signatur UAHW Rep. 3 (Rektorat der Universität Halle bis 1817), Nr. 98. https://doi.org/10.1515/9783111358826-012
208 | Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie
Abkürzungen aus den Handschriften und editorische Zeichen Ew.
Euer, Eure
Hr/Hh.
Herr
Hrn
Herrn
Mr./Mr
Monsieur
pp
Perge perge, pergite (und so weiter)
Pr./Prof.
Professor
Rthr
Reichsthaler
Sr.
Seiner
Wohlg.
Wohlgeboren
|
Seitenwechsel in der Vorlage
[kursiv]
Ergänzung der Herausgeberin
[…]
Ausgelassenes aus dem Original
]
Lemmazeichen
〈〉
Streichung des Schreibers oder Abschreibers
{}
Unsichere Lesart
{...}
Nicht lesbar, Überlieferungsverlust
Edition der Akte UAHW Rep. 3, Nr. 98 | 209
1. Der königlich-westphälische Unterpräfekt Johann August Wilhelm Frantz2 an die Königliche Friedrichs-Universität Halle, Königreich Westphalen, SaalDepartement, Distrikt von Halle, Halle, 22. Juli 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 2 Der Herr Professor Steffens hat beim Gouvernement den Wunsch unmittelbar geäußert, hier in Halle eine Vorbereitung zu einer Berg-Academie zu machen. Wegen des Nutzens den eine solche Anstalt für die Stadt und die Universität Halle haben kann entrirt das Gouvernement auch dieses Projait. Es hat daher alle Bergwerks Behörden des Königreichs beauftragt, sich mit dem Herrn Professor Steffens in die nöthige Communication zu setzen 5 demselben die ihm etwa wissenswerthen Notizen über manchen Zweig der Bergkunde zu geben, ihm von allen mineralischen Produiten der ihnen anvertrauten Werke noch und noch Exemplare zukommen zu lassen; kurz ihm von ihrer Seite allen möglichen Beistand zu leisten. 10 Indem ich mich beehre, der Königl. Friedrichs Universität von dieser Lage der Sache wie sie mir eben officiell bekanndt geworden ist, Kenntniß zu geben, ersuche ich dieselbe mit dem Herrn Professor Steffens solche Arrangements zu treffen, daß dies Institut mit der Universität selbst in die möglichst genaueste Beziehung gesetzt und das anzufangende Cabinet als Eigenthum der Universität behandelt und fortgeführt wird. 15 Königl. Westphäl. Unterpräfectur Frantz
|| 2 Johann August Wilhelm Frantz (1769–1852) war vom 11. Januar 1808 bis zum 25. Oktober 1808 Unterpräfekt für den Distrikt Halle, der zum Departement der Saale gehörte, einem Verwaltungsbezirk des 1807 von Napoleon gegründeten und von seinem Bruder Jérôme regierten Königreichs Westphalen.
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2. Finanzminister Ludwig Friedrich Victor Hans von Bülow3 an den Rektor der Universität Halle, August Hermann Niemeyer4, Kassel, 30. Juli 18085, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 8 Ministère des Finances, du Commerce et du Trésor [...] Bureau du Secrétariat général Objets divers Cassel, les 30 Juillet 1808 Le Ministre répond, à Mr. Niemeyer que – l’etablissement projetté par Mr. Steffens doit être en activité d’après les Ordres donnés au Préfet de la Saale qu’au surplus on écrit à Mr. Steffens pour qu’il communique à Mr. Niemeyer ce qui à été fait jusqu’à ce jour. N° 2122 Registre d’ordre
Monsieur le Recteur, d’après les demandes contenues dans Votre letter, du 20 de cemois, relativement à l’établisement d’une École des Mines, à Halle, projettée par Mr. Steffens, je lui écris pour qu’il ait à vous Com5 muniquer les dispositions faites jusqu’ici pour la mise en activité de son établissement, que j’ai autorisée, et pour le quel Mr. le Préfet de la Saale areçu les ordres nécessaires: je ne doute pas qu’il ne s’empresse à correspondre avec Vous sur cet Objet. Recevez, Monsieur le Recteur, l’assurance de ma Consi- 10 deration distinguée. Le Ministre des Finances Bülow
Übersetzung Ministerium für Finanzen, Handels und Schatzwesen [...] Büro des Generalsekretariats Verschiedenes Kassel, 30. Juli 1808 Der Minister antwortet Herrn Niemeyer, dass – die von Herrn Steffens geplante Einrichtung in Betrieb gehen soll gemäß den Anordnungen, die dem Präfekten der Saale gegeben worden sind, dass man im Übrigen an Herrn
Herr Rektor, nach den fortdauernden Anfragen in Ihrem Brief vom 20. des Monats zur Errichtung einer Bergwerkschule in Halle, geplant von Herrn Steffens, schreibe ich ihm, damit er Ihnen die bisher von seinem Institut getroffenen Vorkehrungen zur Inbetriebnahme seiner Einrichtung mitteilen kann, welche ich genehmigt habe, und für welche der Herr Präfekt der
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|| 3 Ludwig Friedrich Victor Hans von Bülow (1774–1825) war von 1808 bis 1811 Finanzminister im Königreich Westphalen. 4 August Hermann Niemeyer (1754–1828) war seit 1779 Theologieprofessor an der Universität Halle, der er nach seiner einjährigen Geiselhaft durch Napoleon und ihrer Wiedereröffnung von 1808–1816 als Rektor vorstand. 5 Zu diesem Brief findet sich in der Akte auch eine als solche gekennzeichnete Kopie in anderer Handschrift, aber ohne die Unterschrift Bülows. Unterschiede gibt es in der Schreibweise einiger Wörter. Hier wurde das Original transkribiert und Schreibfehler wie bei „letter“ in Zeile 2 („lettre“ in der Kopie) übernommen. Die Anordnung der Textzeilen entspricht dem Original, links der Registraturvermerk, rechts das eigentliche Schreiben.
Edition der Akte UAHW Rep. 3, Nr. 98 | 211
Steffens schreibt, damit er an Herrn Niemeyer berichte, was bisher gemacht wurde. N. 2122 Registervermerk
Saale die notwendigen Anweisungen erhalten hat: ich zweifele nicht daran, dass er sich beeilen wird, mit 10 Ihnen über dieses Thema zu korrespondieren. Empfangen Sie, Herr Rektor, die Zusicherung meiner vorzüglichen Hochachtung. Der Finanzminister Bülow
3. Johann Gebhard Ehrenreich Maaß, Professor für Philosophie in Halle, mit seinen Kollegen der naturwissenschaftlichen Fakultät an ein unbekanntes Komitee, Halle, 31. Juli 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 1v
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Für hochlöbl Comité überreiche ich hierbei ein Schreiben des Hrn Unterpräfecten. Es ist allerdings zu wünschen, daß das anzulegende Institut der Universität angehöre. Zunächst dürfte wohl dem Herrn Pr. Steffens seine Erklärung darüber abzufordern seyn. Halle 31 Jul 8 Maaß6 Ich trete obigen durchgehend bey[.] Woltaer7. Ich halte dies auch für etwas sehr Erfreuliches und bin völlig gleicher Meinung. Schütz8 Knapp9 Hoffbauer10 Gilbert11 Ersch12 Kemme13 Reil14 Klügel15 Eberhard16
|| 6 Johann Gebhard Ehrenreich Maaß (1766–1823), Professor für Philosophie und 1806/07 Prorektor der Universität Halle. Eigenhändige Unterschrift. 7 Johann Christian Woltaer (1744–1815), Professor der Rechte, ab 1801 Ordinarius der Juristischen Fakultät an der Universität Halle. Eigenhändige Unterschrift. 8 Christian Gottfried Schütz (1747–1832), Direktor des Philologischen Seminars Halle, Mitgründer der Allgemeinen Literaturzeitung. Eigenhändige Unterschrift. 9 Georg Christian Knapp (1753–1825), seit 1777 Professor für Theologie an der Universität Halle und ab 1799 Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle. Eigenhändige Unterschrift. 10 Johann Christoph Hoffbauer (1766–1827), ab 1799 Professor für Philosophie in Halle, Mitglied in Det Kongelige Norske Videnskabers Selskab. Eigenhändige Unterschrift. 11 Ludwig Wilhelm Gilbert (1769–1824), Professor für Mathematik und Physik sowie Inhaber des Lehrstuhls für Chemie an der Universität Halle. Eigenhändige Unterschrift. 12 Johann Samuel Ersch (1766–1828), ab 1802 Professor für Philosophie, ab 1803 Professor für Geographie und Statistik sowie ab 1808 Oberbibliothekar an der Universität Halle. Eigenhändige Unterschrift. 13 Johann Christlieb Kemme (1738–1815), Professor für Medizin an der Universität Halle, Leiter der Marienbibliothek in Halle. Eigenhändige Unterschrift. 14 Johann Christian Reil (1759–1813), seit 1787 Professor für Medizin, ab 1788 Direktor des klinischen Instituts in Halle. Eigenhändige Unterschrift. 15 Georg Simon Klügel (1739–1812), ab 1787 Professor für Mathematik und Physik an der Universität Halle. Eigenhändige Unterschrift. 16 Johann August Eberhard (1739–1809), ab 1778 Professor für Philosophie in Halle. Eigenhändige Unterschrift.
212 | Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie
4. Johann Gebhard Ehrenreich Maaß an Henrich Steffens, Halle, 2. August 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 1v–r.
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Es ist uns von Seiten der Universität die Mittheilung gemacht worden: daß die Regierung die von Ihnen in Vorschlag gebrachte Sache, hierselbst eine Vorbereitung zu einer Bergacademie zu etabliren, genehmigt habe. Wir sind dabei aufgefordert worden, „mit Ihnen solche Arrangements zu treffen, daß dies Institut mit der Universität in die möglichst genauste Beziehung gesetzt, und das anzufangende Cabinet als Eigenthum der Universität behandelt und fortgeführt werde.“ Ew. Wohlg. ersuche ich daher, Ihre Gedanken und Vorschläge darüber sobald als möglich mir gefälligst mitzutheilen. Halle 2 Aug 8.
5. Justiz- und Innenminister Joseph Jérôme Siméon17 an August Hermann Niemeyer, Kassel, 31. Juli 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 10 Ministère de la Justice et de l’Intérieur, [...] 2e Division, Bureau de l’Inston Publique Réponse à la lettre du 20 de ce mois. Mr Steffens est autorisé [à] ouvrir en cours Spécial de l’Art des mines Cassel, le 31 Juillet 1808 Monsieur, Je réponds à l’article de votre lettre du 20 de ce mois, relatif à la demande de Mr Steffens Professeur de minéralogie, qui désire être révetu du Titre de Professeur de L’Art des mines, et autorisé conséquemment à ouvrir un cours sur cette partie de la Science qu’il professe. 5 J’ai écrit particulierement à Mr Steffens pour l’encourager dans cette entreprise qui ne peut que lui donner des droits à la bienveillance de sa Majesté, lorsqu’Elle s’occupera d’Etablir en ce genre une Ecole Spéciale. mais d’ailleurs il n’est pas besoin d’un acte formel émané d’Elle pour autoriser Mr Steffens à donner cette extension à ses Travaux et aux Leçons qu’il donne à ses Elèves. Le titre de Professeur d’une science quelconque suppose néces10 sairement le droit de Joindre dans l’enseignement de cette Science, la pratique à la théorie. En tant que de besoin, Monsieur, je vous donne l’autorisation nécessaire pour annoncer dans votre Catalogue le nouveau cours dont il s’agit, et j’en apprendrai même le succès avec plaisir. quant à la correspondance que le Professeur desire entretenir avec les agents des mines pour enrichir la collection de Minéraux déjà formée, mon collègue le ministre 15 des finances, m’ a [fait] savoir qu’il avait dans cette vue donné tous les ordres nécessaires. Je vous renouvelle Monsieur l’assurance de ma parfaite considération. Le Ministre de la Justice et de l’Intérieur. Simeon
|| 6 Mineralienkabinett (französisch cabinet) || 17 Joseph Jérôme Siméon (1749–1842) war von 1807 bis Ende 1808 Justiz- und Innenminister im Königreich Westphalen.
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Übersetzung Das Justiz- und Innenministerium [...] Antwort auf den Brief vom 20. des Monats. Herr Steffens ist befugt, einen Spezialkurs im Bergbau zu eröffnen. Kassel, 31. Juli 1808
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Mein Herr, Ich antworte auf einen Gegenstand aus Ihrem Brief vom 20. dieses Monats betreffend die Anfrage von Herrn Steffens, Professor der Mineralogie, welcher wünscht, das Amt eines Professors der Bergbaukunst zu bekleiden und dass es ihm entsprechend erlaubt sei, einen Kurs zu diesem Teil der Wissenschaft, in der er lehrt, abzuhalten. Ich habe insbesondere an Herrn Steffens geschrieben, um ihn in diesem Vorhaben zu ermutigen, das ihm zu Recht das Wohlwollen seiner Majestät schenken wird, wenn sie [seine Majestät] sich darum bemühen wird, eine Spezialschule dieser Art zu errichten. Aber im Übrigen bedarf es keiner formellen Urkunde, die von ihr [seiner Majestät] ausgestellt wird, um Herrn Steffens zu erlauben, seine Arbeiten sowie die Vorlesungen, die er seinen Studenten gibt, in diesem Sinne zu erweitern. Der Titel des Professors einer solchen Wissenschaft beinhaltet notwendigerweise das Recht, innerhalb der Lehre dieser Wissenschaft Praxis und Theorie zu verbinden. Soweit erforderlich, mein Herr, erteile ich Ihnen die notwendige Befugnis, in Ihrem Verzeichnis den neuen Kurs, um den es sich handelt, anzukündigen, und ich werde mit Freude vom Erfolg desselben erfahren. Bezüglich der Korrespondenz, die der Professor mit den Bergbaubeamten zu unterhalten wünscht, um die bereits bestehende Mineraliensammlung zu bereichern, hat mich mein Kollege, der Finanzminister wissen lassen, dass er in dieser Hinsicht bereits alle notwendigen Anordnungen erteilt hat. Ich versichere Ihnen erneut meine vorzügliche Hochachtung, mein Herr Der Minister für Justiz und Inneres Simeon
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6. Henrik Steffens an seine Kollegen, Halle, 6. August 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 3–6
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Magnifice! Ew. Magnificenz wünschen, dass ich, sobald wie möglich einem hochzuverehrenden Concilio meine Gedanken und Vorschläge über eine in Halle zu errichtende Bergacademie mittheilen möchte, und eile um so mehr diesen Wunsch zu erfüllen, da meine Hofnung so sehr auf das Interesse beruht, welches ich; für diese Unternehmung, bei allen hochzuverehrenden Mitgliedern des Concilii zu erregen hoffe. Ich schrieb an Sr. Excellenz den Hrn Finanzminister, Freiherrn v. Bülow, an Sr. Excellenz den Hrn Staatsrath v. Müller18 und an Sr. Magnificenz den Hrn Kanzler Niemeier, ihnen vorstellend, dass unter den Einrichtungen, deren das Königreich bedarf und nicht besitzt, eine Bergwerksschule eine der wichtigsten sei. Denn der Bergbau, ist im Königreich von grosser Bedeutung. Eine solche Bergwerkschule, wurde, wenn sie vollständig und für sich eingerichtet werden sollte, vielen Aufwand erfordern. Ich glaubte, dass, selbst wenn man diesen darauf wenden wollte, es doch am besten wære eine solche Schule in Verbindung mit einer Universität zu bringen, und Halle hat in dieser Rücksicht eine sehr vortheilhafte Lage. Die wichtigen Bergwerke in Eisleben, Mansfeld, Rothenburg umgeben die Stadt in geringer Entfernung, bedeutende Steinkohlengruben sind in der Nähe, Salinen mitten in der Stadt, der Harz so nahe, dass ein Lehrer mit seinen Schülern, ohne Beschwerlichkeit Excursionen dahin anstellen kann, und ein jeder Schritt von hier bis nach dem Harz hin biethet die lehrreichsten geognostischen Verhältnisse dar. Dabei würde die lebendige Verbindung mit allen übrigen Theilen der Naturwissenschaft alle handwerksmässige Einseitigkeit verhindern. Es versteht sich von selbst, dass auf einer solchen Universität nur die theoretische Grundlage gelegt werden könnte.| Die practische Ausbildung muss sich, je nachdem der Schüler hier oder dort thätig zu sein wünscht, nach dem Locale richten. Legte man auch, mitten im Gebürge eine Bergwerkschule an, so würde doch im Urgebirge nur der Gangbergbau, im Flözgebirge nur der Flözbergbau gelehrt werden können. Die theoretische Bergwerkschule der Franzosen ist daher auch in Paris. Da nun Halle, auch wenn zukünftig eine vollständige Bergwerksschule eingerichtet werden sollte, ein sehr bequemer Ort ist, da eine interimistische Einrichtung nothwendig ist, damit der theoretische Unterricht den zukünftigen Bergwerksbeamten nicht ganz entgehe, so reiche ich folgenden Vorschlag zu einer interimistischen Einrichtung ein. Ich glaubte selbst bei einer solchen Einrichtung nüzlich werden zu können, da ich eine lange Reihe von Jahren den Gebirgsuntersuchungen dem Bergbau u.s.w. gewidmet habe, 32
|| 3 eine] folgt 〈zu errich〉 22 solchen] folgt 〈Bergwerk〉 32 so] folgt 〈schlage〉; Einrichtung] folgt 〈vor〉 || 18 Johannes von Müller (1752–1809), bis Februar 1808 Staatsminister im Königreich Westphalen, anschließend Direktor des öffentlichen Unterrichts im Königreich Westphalen.
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und silchte nun einen Befehl auszuwirken, dass diejenigen Beamte des Königreichs, die sich mit den eigentlichen Bergbau beschäftigen – Bergmeister, Obergeschworne, Markscheider u.s.w. sich mit mir in Correspondenz sezen müssten und mir 1) eine vollständige geognostische Suite ihres Districts, gute frische wohlerhaltene Exemplare der Gebirgsarten u.s.w. besonders solche, die die Übergänge auf eine instructive Weise zeigten, mit Nachrichten über die Art des Vorkommens, der Streichen, Einschuessen u.s.w. 2) eine vollständige oryktognostische Sammlung aller Fossilien ihres Districts mitzutheilen verpflichtet würden. Es würde, auf diese Weise ein Hauptbureau aller mineralogischen Schäze des Königreichs in Halle entstehen, deren es eine grosse Menge besitzt. Es entstünde eine lehrreiche Verbindung der Empirie und Theorie, denn in vielen Gegenden des Königreichs sind sehr verdiente Mænner angestellt, nur ihr spezielles Geschäft erlaubt ihnen nicht den | allgemeinen organisirenden Überblick. Von mannichfaltiger Nuzen würde eine solche Verbindung sein. Viele Irrthümer haben sich in dem empirischen Bergbau festgesezt, viele wichtige Beobachtungen gehen in der Seele mancher Bergwerksbeamten, aus Mangel an lebendiger Verbindung mit der Wissenschaft unter der Masse tödtender Empirie zu Grunde, viele falsche Ansichten haben sich in der Wissenschaft fixirth, die durch die einfachsten Erfahrungen zu wiederlegen sind, nicht geringer ist, [die] Masse herrlicher Ideen, die nur ihre Bestätigung suchen. Aber diese Sammlung müsste als ein Mittelpunkt für grössere Verbindungen dienen. Von hier aus müsste ein lebhafter Tauschhandel von Mineralien und Ideen nach allen Gegenden entstehen. Mehrere schäzbare Beobachtungen der geschickteren Beamte würde[n] verdienen öffentlich bekannt gemacht zu werden. Auf diese Weise würde ein Institut ohne Kosten entstehen, welches, da nichts æhnliches auf einer anderen Universität stattfindet, sobald es von der Regierung bekannt gemacht wurde, viele, die sich der Bergbaukunde widmen wollten, herziehen müsste. Die gewöhnliche Mineralogie, wie sie auf den Universitäten getrieben wird, giebt gar keinen Begriff von der Struktur der Gebirge. Ich würde Excursionen, nach allen geognostisch merkwürdigen Gegenden des Königreichs anstellen, und auf diese Weise die Gebirgsuntersuchung practisch lehren. Die Bergwerkbeamten müssten verpflichtet sein mich, wenn ich ihre Gegenden berührte, zu unterstüzen. Die Chemie, Mechanik, Physik wird ohnehin auf der Universität vorgetragen, und wir besizen ausgezeichnete Lehrer in diese[n] Fächer. Sie würden bei ihre[n] Vorträge auf den vorliegenden Zweck bestimmtere Rücksicht nehmen müssen. Einige andere Einrichtungen würden sich wohl treffen lassen, durch welche der Unterricht der zukünftigen Bergwerksbeamten lehrreicher und zweckmässiger werden könnte. | Dieser Vorschlag ward von den höhern Behörden in Cassel mit Beifall aufgenommen. Ich erhielt ein Schreiben von Sr. Excellenz den Hrn Finanzminister Freiherrn v. Bülow – datirt d. 15 Julii, worin mir gemeldet ward, dass mein Vorschlag genehmigt wäre, und dass an den Bergwerksbeamten eine Ordre ergangen wære mich mit allem, was ich für nöthig erachtete zu versehen, und mir die nothwendige[n] Aufklærungen zu ertheilen. 55
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|| 54 Tauschhandel] folgt 〈nach〉 63 mich] folgt 〈bei diesen〉 72 Julii,] folgt 〈in welchem〉 74 Aufklærungen] folgt 〈erthei〉
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Ein Schreiben von Sr. Excellenz den Minister des Innern Hrn Simeon desselben Inhalt war datirt d. 18 Julii. Er erklært hierinn wie sehr er sich für die Unternehmung interessire, bedauerte, dass die gegenwærtige Lage des Reichs keine grosse[n] Aufopferungen erlaubte, verspricht aber zu gleicher Zeit die Aufmerksamkeit und die Unterstüzung der Regierung sobald, es die Lage erlaubte, welche zu einer Zeit, die nicht mehr weit entfernt sein 80 dürfte, hoffentlich eintreten würde. Ein wiederhohltes Schreiben von Sr. Excellenz den Hrn Finanzminister wiederhohlt dasselbe und erklärt, dass mein Vorschlag in allen seinen Details Beifall gefunden hatte. Zu gleicher Zeit liefen Schreiben von Hrn Geheimerrath und Berghauptmann Freiherrn v. Meding19 in Clausthal und von den Hrn Geheimerath Gerhard20 in Rothenburg ein. Beide versprachen die Unternehmung auf das Thä85 tigste zu unterstüzen, und der lezte wird mir, binnen kurzer Zeit, eine vollständige Suite der geognostischen und oryktognostischen Merkwürdigkeiten seines grossen District für die Sammlung der Universität überlassen. Ich habe den Hrn Berghauptmann ersucht mir eine Liste derjenigen Bergwerksbeamten, mit denen ich vorzüglich in Correspondenz treten müsste zu schicken. Von Hrn Geheimerath Gerhard habe ich schon eine solche er-| 90 halten und mich darauf unverzüglich an mehrere, zum Theil als Schriftsteller bekannt, gewandt. Ich habe gesucht auch ihr Interesse für die Unternehmung zu erregen; da auf den guten Willen der Bergwerksbeamte viel ankömmt. Da nun die Regierung ihren Beifall so deutlich zu erkennen gegeben hat, so halte ich es für unsere Pflicht alles zu thun, um den Willen der Regierung zur Beförderung eines 95 gewiss nüzlichen, der Universität wie dem Staate ersprieslichen Einrichtung zu erfüllen. Ich theile daher hiermit dem hochzuverehrenden Concilio meine Gedanken über dasjenige, was die Universität, ohne grossen Kostenaufwand zur Einrichtung einer Bergacademie thun könnte, mit. 1, Müsste allerdings das Ganze durchaus als eine Sache der Universität betrachtet wer100 den. Die Schüler sind Studenten, werden immatrikulirt u.s.w. Es kömmt daher vorzüglich darauf an, dass bei denjenigen Wissenschaften, die mit dem Bergbau in ein[er] genauen Verbindung steht, die Vorträge eine bestimmtere Richtung gegen den vorliegenden Zweck nehmen daher lade ich 2, die Hrn Prof. der Chemie, Physik und Mathematik in mit mir in Verbindung zu treten, 105 damit wir der Cyclici unserer Vorträge überlegen könnten. Vorzüglich muss in den chemischen Vorträgen auf Hüttenkunde und Probierkunst, in den mathematischen auf die Maschinenlehre Rücksicht genommen werden. Der mineralogische und geognostische 75
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|| 78 Zeit] folgt 〈eine ne〉 79 welche] folgt 〈r nicht lang〉 80 In] korr. aus Ein 94 Pflicht] folgt 〈den Willen〉 104 2,] folgt 〈alle〉; Chemie] folgt 〈und || 19 Franz August von Meding (1765–1849), 1802–1812 Berghauptmann in Clausthal und verantwortlich für den Ausbau der Bergschule, der heutigen Technischen Universität Clausthal. 20 Carl Abraham Gerhard (1738–1821), preußischer Bergrat. Gerhard hatte sich um 1770 bereits für die Gründung einer Bergakademie in Berlin eingesetzt.
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Vortrag muss so ausführlich sein, wie es mir Sammlung und Excursionen erlauben. 3, Wære es wohl gut, wenn die Hüttenkunde ausserdem vorgetragen wurde. Hr Prof. Gilbert meint, dass Hr Dr Schmieder fürs erste diesen Vortrag übernehmen könnte. Er hat sich mit der Hüttenkunde beschäftigt. Ich nehme mir die Freiheit auch auf Dr Doeffert21 aufmerksam zu machen, der den Vortheil hat, dass ihm ein Laboratorium zu Gebothe steht. 4, Ich kannte einen fähigen jungen Mann, der mit mir in | Freiberg studiert hat und gegenwärthig in Stettin angestellt ist. Er könnte vorläufig Bergbau und Markscheidekunst vortragen. Ich fragte deswegen den Hrn Geheimerath Gerhard, und dieser [ist] willig ihm zu erlauben, dass er mit Beibehaltung seines Gehalts in Halle wohne, und hier Vorlesungen halte, nur dass er verpflichtet wird sich einzustellen, wenn man seiner, als Markscheider bedarf. Auf diese Weise würden wir, ohne Kosten einen nüzlichen Mann für das Institut gewinnen. Sein Nahme ist Dietrich. Und ich mache einem hochzuverehrenden Concilio auf das Nüzliche seiner Anstellung, durch welche eine wesentliche Lücke ausgefüllt wird, aufmerksam, und hoffe, dass das hochzuv. Conc. seine Anstellung billigen wird. 122 5, Müsste, wenn nicht, wie ich fast vermuthe 1Hr Dietrich im Stande wäre dieses zu leisten, der Hr Prof. Prange angehalten werden, bei seinem Unterricht vorzüglich auf Grubenrisse, Grubenzeichnungen, Maschinenzeichnungen, Zeichnungen von Hochöfen, Pochwerke u.s.w. Rücksicht zu nehmen. Um ihn dazu in den Stand zu sezen, würde ich meine Verbindung mit den Bergwerksbeamten dazu benuzen so viel möglich solche Zeichnungen zu erhalten. Dieses würde zwar mit einigen Ausgaben verbunden sein. Ich glaube aber diese durch die Summe besorgen zu können, die [ich] hoffentlich erhalten werde, um Transport, Correspondenz u.s.w. zu bestreiten. 6, Müsste bei der Anschaffung neuer Bücher aus der Bibliothek mehr wie bis jezt für mineralogische und bergmännische Schriften gesorgt werden. Beide Fächer sind bisher durchaus vernachlässigt. 7, Müsste für ein Locale für die Sammlung gesorgt werden. Wo sie steht, im Auditorio des Naturaliencabinetts könnte sie unmöglich bleiben. Ich habe den Hrn Unterpræfecten ersucht, mit mir ein Locale aufzusuchen, und wir fanden ein solches, welches | ohne allen Zweifel sehr passend sein wird mit der Residenz. Es besteht aus vier Stuben. Eine liesse sich bequem zum Auditorio, zwei, zu einer vereinigt zur Aufnahme der Sammlung, und eine Kammer zum Auspacken u.s.w. einrichten. Diese Einrichtung würde, nach dem Anschlage des Hrn Baumeister Friedrich 100 Rthr erfordern. Da dieses Locale frei steht und zur Disposition der Regierung, so glaube ich nicht leicht, dass wir ein solches wohlfeiler und zugleich bequemer finden könnten. Der Hr Unterpræfect wird sich in Cassel dafür interessiren. 119
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|| 118 er] folgt 〈si〉 122 Conc.] folgt 〈sich〉 124 vermuthe] folgt 〈t〉 138 Residenz.] folgt 〈Ich〉; Es] folgt 〈fand ein sol〉 139 Auditorio] folgt 〈einrichten〉 || 21 Gemeint sein dürfte der Pharmakologe Johann Friedrich Christian Düffer (1775–1831), der als Professor für Medizin an der Universität Halle tätig war.
218 | Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie
145 8, Muss ich doch noch nothwendig über eine Summe disponiren können. Sr. Magnifizenz der Hr Kanzler hat mir gemeldet, dass 400 Rthr für das Naturaliencabinet ausgesezt sind. Davon würden nun freilich die 200 Rthr der Mineraliensammlung gehören – aber diese Summe müsste angewandt werden, um solche Fossilien zu kaufen, die nur in dem Handel vorkommen. Denn nichts ist nothwendiger, als eine durchaus vollständige, ja in 150 einiger Rücksicht glänzende Mineraliensammlung. Ausserdem aber brauchte ich nothwendig eine Summe zur Einrichtung des Locales – 100 Rthr, ebensoviel, um die Sammlung einzurichten, Schrænke anzuschaffen u.s.w. und gewiss 200 Rthr jæhrlich, um Grubenzeichungen, Correspondenz, Schreibereien, Transport u.s.w. zu besorgen. Könnten wir mehr erlangen, so wære es zwar gut, denn noch mancherlei Anlagen würden 155 Kostenaufwand erfordern. Es kömmt aber hier vorzüglich darauf an anfänglich – und wahrscheinlich für eine kurze Zeit, mit so wenig Kostenaufwand wie möglich zu reichen. Der Hr Finanzminister hat mich zwar bis jezt nur privatim, wissen lassen, dass er sich dafür interessiren würde, dass mir das Dringendste zugestanden würde, und ich habe, in ein an ihm ergangenes Schreiben, die angeführte Summe nach einer Rücksprache mit 160 dem Hrn Unterpræfecten genannt. Um nun aber diese Summe zu vergrössern habe ich die Bergwerksbeamten des Königreichs – unter welche mehrere Schriftsteller sind – eingeladen, als Mitarbeiter an einer Schrift Theil zu nehmen, |die durchaus der Oryktognosie und Geognosie des Königreichs gewidmet sein sollte. Die Einkünfte werde ich der Anstalt überlassen, ausser in so fern 165 irgend einer der Herausgeber Honorar verlangen sollte. 9, Nehme ich mir die Freiheit einem hochzuverehrenden Concilio vorzustellen, dass wenn der Tauschhandel lebhaft und mit Nuzen geschehen soll, es durchaus nothwendig ist, dass mir freie Hand gelassen wird, dasjenige, was ich, bei der genauesten Kenntniss der Sammlung für überflüssig ansehe zu vertauschen. Sollte ich jedesmahl, wenn ein 170 Stück vertauscht würde, erst um Rath fragen, so würde es mir unmöglich sein, bei einer beträchlichen Erweiterung des Tauschhandels die besten, schnell sich darbiethenden und schnell verschwindenden Gelegenheiten gehörig zu benuzen. Ja um den Nuzen eines Tausches zu beurtheilen wird nothwendig erfordert, dass man die Sammlung durchaus, und in allen seinen Theilen kenne, welches nur dem Aufseher möglich ist. Hoffentlich 175 wird ein hochzuverehrendes Concilium das Zutrauen zu mir haben, dass ich nur auf das Beste Sammlung sehen werde. Ich erbiethe mich aber, für eine zu ernennende Commission, alle Jahr, oder wenn man es nöthig finden sollte alle halbe Jahr die strengste Rechenschaft abzulegen. Dieses wäre es, was ich glaube, dass wir jezt schon thun könnten dem Willen der Regie180 rung Genüge zu leisten. Ich empfehle diese, der Wissenschaft, wie der Universität und dem Staate gewiss nüzliche Unternehmung der Theilnahme eines hochzuverehrenden Concilii, und schliesse mit der Versicherung, dass ich alles thun werde, was in meiner Kræfte steht, sie so nüzlich wie möglich zu machen. Mit der grösten Hochachtung verharre ich 185 Eines hochzuverehrenden Concilii und Ew. Magnifizenz ganz ergebenster H. Steffens Halle d. 6 August 1808 146
|| 145 Sr.] korr. aus Der
Edition der Akte UAHW Rep. 3, Nr. 98 | 219
7. Henrik Steffens in einem Nachtrag an seine Kollegen, Halle, 6. August 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 7 Ich nehme mir die Freiheit einem hochzuverehrenden Concilio darauf aufmerksam zu machen, dass es ohne allen Zweifel nothwendig ist, dass schon in dem nächsten Lectionscatalog auf diese, von der Regierung genehmigte Veranstaltung Rücksicht genommen wird, und dass die Zeit bis dahin sehr kurz ist.
8. Schreiben von Johann Gebhard Ehrenreich Maaß an seine Kollegen an der Universität Halle, Halle, 15. August 1808, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 11v
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M. Herren Hierbei erhalten Sie drei Actenstücke, die Idee einer Vorbereitung zu einer Bergacademie betreffend. Wer zur Ausführung dieser Idee mitzuwirken Gelegenheit hat, wird den Dank der Univ. verdienen. Halle d. 15 Aug. 8 Maaß
9. Bestätigung der Kenntnisnahme von Maaß’ Schreiben durch verschiedene Professoren der Universität Halle, ohne Datum, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 11v
5
So weit ich als Laye in diesem Fache die Sache ansehe, halte ich die Vorschläge für zweckmässig und so beschaffen, daß sie alle Unterstützung verdienen.21 Woltaer Koenig22 Dabelow23 Sprengel24 Voigtel25 Knapp Eberhard Schütz Horkel26 Ersch Die angezeigten Actenstücke habe ich nicht in der Listel gefunden. Kemme Hoffbauer Tieftrunk27
|| 22 Heinrich Johann Otto König (1748–1820), Professor der Rechte. Eigenhändige Unterschrift. 23 Carl Christoph Christian von Dabelow (1768–1830), Professor der Rechte. Eigenhändige Unterschrift. 24 Kurt Polycarp Joachim Sprengel (1766–1833), Professor für Medizin und Leiter des Botanischen Gartens in Halle. Eigenhändige Unterschrift. 25 Traugott Gotthilf Voigtel (1766–1843), Professor für Philosophie und Geschichte, Leiter der Universitätsbibliothek. Eigenhändige Unterschrift. 26 Johann Horkel (1769–1846), Professor für Medizin, ab 1811 Professor für Physiologie in Berlin. Eigenhändige Unterschrift. 27 Johann Heinrich Tieftrunk (1760–1837), Professor für Philosophie. Eigenhändige Unterschrift.
220 | Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie
10. Stellungnahme von Johann Samuel Ersch28, Halle, ohne Datum, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 11v Da Mineralogie einer meine liebsten Nebenbeschäftigungen gewesen ist, und ich sie hier gelehrt habe, bis mein lange daher erklärter Wunsch erfüllt ward, daß unsere Universität einen eigenen Lehrer des ganzen Umfangs dieser wichtigen Wissenschaft in einem geschätzten Mineralogen erhielt: so freue ich mich um so mehr der Genehmigung der in 5 diesen Blätter[n] geschilderten neue Einrichtung, und die ganze Universität wird gewiß alles dazu beitragen, um dieses Institut zu unterstützen, dessen Leitung in nicht bessern Händen seyn kann. daß die Oberaufsicht der Universität so liberal sey, als es gewünscht wird, besteht schon in dem Begriff eines Verbundes zum besten der Wissenschaften. Durch ein zu nahes Anschließen der Lehrer, die den Zöglingen der Bergwissenschaften 10 nützen, können leicht Collisionen entstehen. Mir scheint der Verein nur in so weit nöthig zu seyn, daß alle Collegia, die dieses Institut fordert, in jedem Jahre gelesen werden. In Absicht der Bibliothek würde ich schon aus eignem Antriebe für dieses Fach mit gesorgt haben, itzt werde ich es mir doppelt zur Pflicht machen: Ich bemerke nur noch, daß die Studenten der Bergakademie {…} 15 Ersch 11
11. Stellungnahme von Georg Simon Klügel29, Halle, ohne Datum, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 11r
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Magnifice, Ich bin sehr bereit in Absicht auf den mathematischen Vortrag dem Institut meine Dienste zu widmen. Allein ich muß zu dem Unterrichte in der Markscheidekunst die nöthigen Instrumente, und zu der Maschinenlehre Modelle haben, wozu also das nöthige Geld anzuschaffen ist. Excursionen werde ich mit den Zöglingen schwerlich machen können, weil andere Collegia und meine eigenen Arbeiten darunter leiden würden, meine physischen Kräfte es auch nicht erlauben möchten. Ich rathe nicht, schon jetzt eine Ankündigung ins Publicum ausgehen zu lassen, damit wir nicht mehr versprechen als wir mögen leisten können. Hier kann nur eine Vorbereitungs-
|| 11 werden] und diese Herren alle gewinnen durch die vermehrte Anzahl der Studierenden[…] ] Mit Einfügungszeichen über der Zeile || 28 Die Unterschrift von Ersch wurde mit einer deutlich dünneren Feder als der Fließtext gesetzt. Der Bogen ist im unteren Teil stark beschädigt, so dass der Text in seinem Abschluss auch nicht mehr rekonstruiert werden kann. 29 Georg Simon Klügel (1739–1812), Professor für Mathematik, Universität Halle.
Edition der Akte UAHW Rep. 3, Nr. 98 | 221
10 anstalt, keine eigentliche Bergwerksschule, wie in Freyberg errichtet werden. Die Universität als allgemeine Lehranstalt, bleibt immer die Hauptsache; die Bergwerksschule nur ein annexum. Ich finde die Halbirung der für das Naturaliencabinett ausgesetzten Summe zu gleichen Theilen zwischen dem zoologischen und mineralogischen zu nachtheilig für jenes. die Anschaffung der zoologischen Exemplare in sechs bedeutenden Classen erfor15 dert viel mehr Geld als die Mineralien, bey welchen man noch durch Tausch sich helfen kann. Klügel
12. Stellungnahme von Christian Daniel Voß30, Halle, ohne Datum, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 11r
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Ich wünsche einer Seits diesem Institute das beste Gedeihen, ob ich gleich gestehen muß, daß meine Erwartung daran noch sehr ungewiß ist. Denn schwerlich wird dieß Gedeihen eintreten, wenn die Berg- und Hütten bedienten sich nicht wirklich und thätig dafür interessiren und dieß mögte ich sehr bezweifeln, indem ich fürchte, daß schon der bed. hier und die Vorbereitung mit der Universität ihnen zum Anstoß gereichen dürfte. Die festgesetzte Korrespondenz und {…}| Einsendung des Manuscripts p. dürften auch ihre Schwierigkeiten haben. denn die Obern möchten dies wohl den Unterbedienten überlassen und diese werden fragen: was wird uns dafür? Überdieß wenn die Regierung nicht Geld anwendet und besonders auch auf d. Unterstützung des Berg-Eleven Instituts {…}, so mögte auch wohl schon um so mehr die Frequenz nicht groß seyn, da sie hier nicht Gelegenheit haben, etwas nebenher zu verdienen: und schon das theoretische und praktische an Bergsachen {…} selbst-Art gewählt werden muß, womit gewöhnlich auch mehr Kosten verbunden sind. Auch die Exkursionen kosten Geld, wenn die Regierung nichts dazu ansetzt. Und da überhaupt, besonders am Harz, die meisten Officianten in diesem Fache mehr Gelernte als Studierte sind, so mögte es zuförderst darauf ankommen und schwer fallen, diese zu überzeugen, daß der theoretische Kursus nothwendig und fähig sey, die Kenntnisse zu geben, welche sie auf einem andern Wege erlangt haben. Für interimistische Institute bin ich überhaupt nicht, aus Gründen, die hier zu ‘un’wichtig sein könnten {…} zu {sagen} Übrigens kann ich nicht umhin meine Verwunderung zu bezeugen wenn Hh. Prof Rüdiger gar nicht berücksichtigt ist, da dessen technologischen, mineralogischen pp Kenntnisse anerkannt sind und er nur wegen seiner Verhältnisse und Verdienste dem Institute gewiß förderlich seyn könnte, wenn er näher dafür interessirt würde. Voß
|| 10–11 Universität,] folgt 〈die〉 || 30 Christian Daniel Voß (1761–1821) war Professor für Staatsrecht und Kameralwissenschaften an der Universität Halle.
222 | Acta Königl. Friedrichs Universität zu Halle die Errichtung einer Bergakademie
13. Stellungnahme von Ludwig Wilhelm Gilbert, Halle, ohne Datum, UAHW, Rep. 3, Nr. 98, Bl. 12 Magnifice Ich habe den beiliegenden Bericht unsres hochgeehrtest. Collegen, des Herrn Professor Steffens, vom 6ten August 1806 mit desto größerer Aufmerksamkeit gelesen, je näher mich diese Angelegenheit interessirt, und da es das Erste ist, was ich hierüber mitgetheilt 5 erhalte. Es bleiben mir indeß, sowohl über die Idee selbst, als über ihre Ausführung, und über den Willen der Regierung so viele Dunkelheiten und Zweifel, ich halte die ganze Angelegenheit von so großer Wichtigkeit für einen der Hauptindustrie-Zweige in unserm Staate, und sie scheint mir so nahe mit der Ehre und dem guten Namen derjenigen, die es unternehmen diese Ideen in Ausführung zu bringen, in Zusammenhang zu stehn, – daß es 10 mir Pflicht gegen den Staat, gegen die Universität und gegen mich selbst zu seyn dünkt, meine Gedanken hierüber umständlich auseinander zu setzen. Ich wähle dazu die Form eines Privatvotums, und ersuche Ew. Magnificenz dasselbe, nach vorhergehender Mittheilung an ein hochzuverehr. General Concilium, dem Berichte beizulegen, welchen die Universität an die höchste Behörde in dieser Angelegenheit unstreitig erlassen wird, damit 15 Sachverständige die Ideen und diese Gedanken prüfen und abwägen mögen, da es aber hierbei auf reifliche Erwägung ankömmt und ich die Listel nicht zu lange aufhalten darf, so erbitte ich mir von Ew. Magnificenz zwei Tage Zeit um dieses Votum einzureichen. Gilbert 12
|| 12 P r i v a t v o t u m s ] folgt 〈welches ich für〉
Henrik Steffens: „Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur“ Wiederabdruck des Erstdrucks von 1810 Editorische Notiz: Henrik Steffens’ Abhandlung „Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur“ erschien 1810 bei Perthes in Hamburg als Anhang zu Philipp Otto Runges Farben-Kugel.1 Die gemeinsame Veröffentlichung war das Ergebnis einer jahrelangen Bekanntschaft und Korrespondenz. Steffens und Runge trafen sich zum ersten Mal im Sommer 1801 in Tharandt, wo Runge seine Arbeit an „Achill and Skamandros“ für die von Johann Wolfgang von Goethe ausgeschriebenen Weimarer Preisaufgaben plante. Zu dieser Zeit hielt sich Steffens bei seinem Lehrer Abraham Gottlob Werner an der Bergakademie in Freiberg auf, wo er sein erstes Hauptwerk zur Geologie ausarbeitete.2 Die Freundschaft entwickelte sich entlang der Berührungspunkte zwischen Farbenlehre und Kunst auf der einen und Naturforschung und Naturphilosophie auf der anderen Seite. Dabei rückten die Farben ins Zentrum. Spätestens mit Beginn der Neuzeit nahm die Auseinandersetzung über die Frage nach dem ‚Wesen‘ der Farben eine Sonderstellung in Kunst und Wissenschaft ein. Einerseits begeisterten die italienischen Meister, wie etwa Michelangelo Merisi da Caravaggio, die Welt mit eindrucksvollen Gemälden, belebt von Licht, Kontrast und einer auf der Farbgebung beruhenden Ausstrahlung. Andererseits verloren die Farben als sogenannte Sekundärqualitäten ihre Bedeutung für eine Wissenschaft, die mithilfe der neuen, analytischen Mathematik zunehmend auf reine Formen, wie etwa die Ausdehnung, zurückgeführt wurde. So behandelt Isaac Newton die Farben in ihrer Reinheit als Brechungen des Lichts, die in einem siebenteiligen Farbenkreis dargestellt werden können.3 Immanuel Kant lehnt in der Critik der Urtheilskraft (1790) die Möglichkeit einer Wissenschaft der Farben und Töne wiederum ab, weder Newton noch Leonhard Euler hätten, trotz ihrer Verdienste, der Ton- und Farbenlehre den sicheren Weg einer || 1 Philipp Otto Runge: Farben-Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zu einander, und ihrer vollständigen Affinität, mit angehängtem Versuch einer Ableitung der Harmonie in den Zusammenstellungen der Farben. Von Philipp Otto Runge, Mahler.Nebst einer Abhandlung über die Bedeutung der Farben in der Natur, von Hrn. Prof. Henrik Steffens in Halle. Mit einem Kupfer, und einer beygelegten Farbentafel.Hamburg 1810. Siehe auch den Beitrag von Elisabeth Décultot in diesem Band. 2 Henrich Steffens: Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Erster Theil. Freyberg 1801. 3 Isaac Newton: Opticks. London 1704. https://doi.org/10.1515/9783111358826-013
224 | Henrik Steffens: „Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur“
stengen Wissenschaft weisen können.4 Mit demselben Argument, mit dem er 1786 die Chemie als Wissenschaft ablehnen wird, spricht Kant wegen der Nichtmathematisierbarkeit auch dem Verständnis der Farben und Töne alle Wissenschaftlichkeit ab.5 Runge war all dies bekannt, er verfolgte die Diskussion mit großem Interesse. Angeregt durch seinen Bruder Daniel und dessen Freundschaftskreis in Hamburg (ab 1795) beschäftigte er sich intensiv mit Werken und Gedanken antiker und zeitgenössischer Autoren und Philosophen. Zu seinen Lektüren gehörte u.a. die von Goethe zwischen 1798 und 1800 herausgegebene kunsttheoretische Zeitschrift Propyläen.6 Nach seinem eklatanten Scheitern anlässlich der Weimarer Preisaufgabe von 18017 und näherer Bekanntschaft mit Vertretern der Romantik änderte sich jedoch seine bis dahin positive Meinung zum Weimarer Klassizismus. Wenngleich er an Goethe als persönlichem Vorbild weiter festhielt, war er spätestens 1802 weitgehend auf Distanz zum klassizistischen Dogma gegangen.8 Zu den wichtigsten persönlichen Begegnungen in dieser Periode gehören neben jener mit Steffens auch das Zusammentreffen mit den Brüdern Schlegel und mit Ludwig Tieck, der Runges Interesse an Jacob Böhme weckt.9 Gleichlaufend zu seiner Abkehr vom Klassizismus rücken für ihn zunehmend Themen in den Vordergrund wie die Finsternis, das Licht, die Farben und deren inneres Verhältnis, einschließlich ihrer religiösen Bedeutung.10
|| 4 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Beilage: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Mit Einleitungen und Bibliographie hg. v. Heiner F. Klemme. Mit Sachanmerkungen v. Piero Giordanetti. Hamburg 2009, §§ 14 u. 51. 5 Zur Kants Bewertung der Chemie siehe Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Mit einer Einleitung hg. v. Konstantin Pollok. Hamburg 1997, S. 7. 6 Auskunft über Runges Lektüren gibt Peter Betthausen in ders.: „Vorwort“. In: Philipp Otto Runge: Briefe und Schriften. Hg. v. Peter Betthausen. Berlin 1981, S. 5–19, hier S. 7–9. Vgl. Runge an Goethe, 23. August 1801. In: ebd., S. 54. Namen wie Goethe, Kant, Schiller, Fichte, Newton, die Brüder Schlegel, Swedenborg, Herder, Novalis usw. finden sich häufig in seinen Schriften. 7 Die wahrscheinlich von Heinrich Meyer stammende, wenig schmeichelhafte Besprechung von Runges Einreichung, einer mit „Achill und Skamandros“ betitelten Zeichnung, ist nachzulesen in Johann Wolfgang von Goethe: Weimarische Kunstausstellung von 1801. Und Preisaufgaben für 1802. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 1 (1802), S. iii–xxviii, hier S. xiv–xv. 8 P. O. Runge an D. Runge, 9. März 1802. In: Runge: Briefe und Schriften (wie Anm. 6), S. 71; P. O. Runge an D. Runge, 20. März 1802. In: ebd., S. 78. 9 P. O. Runge an D. Runge, 20. März 1802. In: ebd., S. 77; P. O. Runge an D. Runge, 26. März 1802. In: ebd., S. 79; P. O. Runge an D. Runge, 2. Dezember 1801. In: ebd., S. 66. 10 Vgl. P. O. Runge an D. Runge, 27. November 1802. In: ebd., S. 102–106, insbes. S. 102f.
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Ab 1804 nimmt er Malunterricht in Altona.11 Als Maler kann Runge mit der Wissenschaft der reinen Farben jedoch nur wenig anfangen. Erst durch die Verbindung des Malunterrichts mit der durch Steffens, Tieck und Böhme vermittelten Naturphilosophie beginnt Runge die Arbeit an seinem Modell der Farbkugel.12 Seine Argumentation läuft dabei im Unterschied zu Newtons und Goethes zweidimensionalen Farbenkreisen auf eine dreidimensionale Figur hinaus, eine Kugel, die das innere Verhältnis und die Mischungen der Pigmentfarben aus den drei nicht weiter reduzierbaren Grundfarben (Blau, Gelb, Rot) darstellt. Schellings dynamischer Darstellung des Raums entsprechend konstruiert Runge zunächst ausgehend von drei in gleichen Abständen voneinander postierten Punkten, den Primärfarben, sukzessiv die zweidimensionale Fläche (Farbkreis) und schließlich den dreidimensionalen Raum (Farbkugel).13 Dem von ihm aus den Grundfarben konstruierten zweidimensionalen, also flächigen Farbkreis, wie wir ihn auch von Newton und Goethe kennen, fügt Runge also eine dritte Dimension hinzu: Schwarz (Finsternis) und Weiß (Licht) werden als außerhalb des Kreises liegende, absolute Mischpole eingeführt. Die vollständige Mischung aller Farben, d.h. das räumliche Zentrum oder der Indifferenzpunkt der Kugel, erzeugt bei Runge im Gegensatz zu Newton nicht die Farbe Weiß, sondern die Farbe Grau. Runge muss die Wissenschaftlichkeit der Farbenlehre also nicht erst mithilfe der Mathematik begründen, sondern kann sie über das Verfahren einer „Construktion“, wie schon der Titel der Farben-Kugel ankündigt, und anhand der Praxis des Kolorierens beglaubigen. Die Beurteilung und Interpretation seines Entwurfs überlässt er Steffens, dessen wissenschaftliches Interesse an Farben und deren Bedeutung in der Natur schon aus seiner Studienzeit herrührte.14 In einem Brief vom März 1809,
|| 11 P. O. Runge an D. Runge, 27. Juli 1804. In: Philipp Otto Runge: Briefe und Schriften. 4 Bde. Hg. v. York-Gothart Mix. Paderborn 2021, Bd. 3, S. 429. 12 Als Forschungsprogramm geht die Arbeit an der Farben-Kugel spätestens aus einem Brief Runges an Ludwick Tieck hervor, vgl. P. O. Runge an Tieck, 29. März 1805. In: ebd., S. 453–455. Explizit kommt Runge auf Steffens im Kontext seiner Farben-Kugel in einem Brief an Goethe vom Frühjahr 1808 zu sprechen, vgl. P. O. Runge an Goethe, 19. April 1808. In: ebd., S. 610– 615. Runge und Steffens hatten sich 1807 mehrmals persönlich getroffen, vgl. P. O. Runge and Georg Andreas Reimer, 26. Januar 1808. In: ebd., S. 603. Ich danke Marit Bergner für den Hinweis. 13 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus (1800). In: Historisch-kritische Ausgabe (Akademie-Ausgabe). Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Thomas Buchheim u.a. Bd. 9,1–2. Hg. v. Harald Korten u. Paul Ziche. Stuttgart 2005, hier Teilbd. 1, S. 136–140. 14 Vgl. H. Steffens: Ueber Mineralogie und das mineralogische Studium. Altona 1797; ders.: Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Erster Theil. Freyberg 1801.
226 | Henrik Steffens: „Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur“
dem Runge seine fertiggestellte Farbenlehre beilegt, bittet er Steffens um Hilfe.15 Auf eine Antwort muss er ein halbes Jahr warten.16 Steffens teilt ihm schließlich im September mit, den ihm zur Ansicht geschickten Aufsatz mit „einigen Bogen über die Bedeutung der Farben in der Natur“ begleiten zu wollen und verspricht, Runges Manuskript an Goethe weiterzuleiten.17 Am 23. September 1809 wendet sich Runge seinerseits in einem Brief an Goethe mit der Bitte, ihm seinen Aufsatz nach der Lektüre zurückzusenden. Des Weiteren bittet er ausdrücklich um das Einverständnis Goethes in die Veröffentlichung seiner Ausführungen zur Farbkugel, die nun also vor dessen eigener Farbenlehre erscheinen sollten.18 Von einem Anhang, den Steffens beisteuern würde, ist in einem weiteren Brief Runges an Goethe von Anfang Oktober noch nicht die Rede.19 Dieser erhält jedenfalls von Steffens am 3. Oktober 1809 das angekündigte Manuskript Runges, das Goethe am 9. Oktober mit der Bitte, seine Danksagung an Runge weiterzuleiten, an Steffens (und nicht, wie von Runge erbeten, an ihn selbst) zurücksendet.20 Erst am 12. Januar 1810 kann Runge Adam Gottlob Oehlenschläger berichten: „Steffens hat mir auchso eben einen kleinen Anhang zu mein Farben büchlein geschickt und ich hoffe nun bald damit zu erscheinen“.21 Am 1. Februar 1810 schließlich kann Runge das gedruckte „Büchlein“ mitsamt Steffens’ Abhandlung an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling senden; ein Exemplar der Farben-Kugel lässt Runge am selben Tag noch auch an Goethe zugehen, verbunden mit dem Wunsch, Steffens’ Text möge diesem „so viel Vergnügen
|| 15 P. O. Runge an Steffens, März 1809. In: Runge: Briefe und Schriften (wie Anm. 11), Bd. 3, S. 647–653. Vgl. P. O. Runge an Friedrich August von Klinkowström, 24. Februar 1809. In: ebd., S. 643. 16 P. O. Runge an Klinkowström, 1. September 1809. In: ebd., S. 669f. 17 Steffens an P. O. Runge, 11. September 1809. In: Philipp Otto Runge: Die Begier nach der Möglichkeit neuer Bilder. Briefwechsel und Schriften zur bildenden Kunst. Hg. mit Einleitung u. Anmerkungen v. Hannelore Gärtner. Leipzig 1982, S. 279. 18 P. O. Runge an Goethe, 23. September 1809. In: Runge: Briefe und Schriften. Bd. 3 (wie Anm. 11), S. 671. 19 P. O. Runge an Goethe, September/Oktober 1809. In: ebd., S. 673. 20 Steffens an Goethe, 3. Oktober 1809. In: Goethe und die Romantik. Theil 1. Hg. v. Carl Schüddekopf u. Oskar Walzel. Weimar 1898, S. 284–286; Goethe an Steffens, 9. Oktober 1809. In: ebd., S. 286f. Ich danke Marit Bergner für den Hinweis. 21 P. O. Runge an Oehlenschläger, 12. Januar 1809. In: Runge: Briefe und Schriften (wie Anm. 11), S. 682. Vgl. auch Steffens an Friedrich Christoph Perthes, 5. Januar 1810. In: Wolfang Feigs: Deskriptive Edition auf Allograph-, Wort- und Satzniveau, demonstriert an handschriftlich überlieferten, deutschsprachigen Briefen von H. Steffens. Teil 2: Briefe 1799–1844, Kommentar, Register. Bern u. Frankfurt a.M. 1982, S. 166f. Ich danke Marit Bergner für den Hinweis auf Perthes.
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machen“ wie ihm selbst.22 Goethe stand da schon länger mit Runge in Kontakt und arbeitete seit Jahren an einer eigenen Farbenlehre, die dann im Mai 1810 mit einem langen Auszug eines Briefes von Runge als Buch erschien.23 Steffens’ Anhang ist zunächst eine Auslegung der Farbkugel im Reich der Natur. Vorbehaltlos übernimmt er Runges Thesen als Ausgangspunkt seiner eigenen Argumentation und verwendet sie als Schlüssel zum Verständnis natürlicher und vor allem chemischer und organischer Prozesse. Der innere Zusammenhang, d.h. die Gesetzmäßigkeit der Farben, ermöglicht laut Steffens einen Rückschluss auf eine entsprechende Gesetzmäßigkeit chemischer und mineralogischer Prozesse. Wenn sich eine innere Notwendigkeit der Farben aus Grundprinzipien anhand der theoretischen Durchdringung ihrer internen Zusammenhänge im Modell nachweisen lässt, wie Runge es sich vorgenommen hat, führt diese Einsicht zu der Vermutung, dass auch die Farbveränderungen in der Natur einem inneren Zusammenhang entsprechen müssen. Chemische Prozesse, die wir äußerlich anhand von Farbwechseln feststellen können, sind demnach nicht nur experimentell zu erschließen, sondern gehorchen Naturgesetzen, die systematisch-wissenschaftlich untersucht gehören. Die Zusammenarbeit von Runge und Steffens baute auf Wechselwirkung. Sie trug sowohl zu einer Verwissenschaftlichung des Kolorierens bei, also dem Farbunterricht an den Kunstakademien, die bisher nur Zeichnung und Formlehre angeboten hatten, als auch zu einer Verwissenschaftlichung der Chemie und Biologie, ohne auf die Mathematik zurückgreifen zu müssen. Diese Konstellation aus Runges Farbkugel und Steffens’ Naturforschung bietet uns gleichermaßen einen Schlüssel zur Interpretation der Gemälde Runges wie zu den Tiefendimensionen von Steffens’ Naturforschung. Mit der Farbenlehre gehen Runge und Steffens einen Schritt weiter als Abraham Gottlob Werner, der mit seiner Farbennomenklatur seit 1774 ein Schema zur deskriptiven Klassifizierung der Natur angeboten hatte und die 1814 mit Patrick Symes Kolorierung dieser Nomenklatur von prominenten Wissenschaftlern wie etwa Charles Darwin verwendet wurde.24 Die Wirkungsgeschichte
|| 22 P. O. Runge an Goethe, 1. Februar 1810. In: Runge: Briefe und Schriften (wie Anm. 11), Bd. 3, S. 687. 23 Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre. Tübingen 1810, S. 339–349. 24 Vgl. Abraham Gottlob Werner: Von den äusserlichen Kennzeichen der Fossilien. Leipzig 1774 sowie Patrick Symes: Werner’s Nomenclature of Colours. Adapted to Zoology, Botany, Chemistry, Mineralogy, Anatomy, and the Arts. London 2018. Zu Darwins Verwendung von Werners Nomenklatur siehe Leonard Jenyns: The Voyage of H. M. S. Beagle, Under the Command of Captain Fitzroy, R. N. During the Years 1832 to 1836 IV (Fish). London 1842, S. x.
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dieser Farbenlehre und deren Vielfältigkeit reichen weit in das 20. Jahrhundert hinein – bis in das theoretische Fundament der Malkunst eines Paul Klee.25 Dem Wiederabdruck liegt der Text der Erstausgabe zugrunde. Der vorliegende Text gibt diese Vorlage wortwörtlich wieder mit der einzigen Ausnahme, dass die Sperrschrift des Originals in kursiv gesetzt wurde. Jesper Lundsfryd Rasmussen
Ueber die Bedeutung der Farben in der Natur. Von Hrn. Prof. Steffens. In den Farben spielt der zarteste Geist der Natur, und indem sie hier leicht aufgetragen, leicht wechselnd, mannichfaltig spielend, dort festgehalten, gleichsam erstarrt erscheinen, zeigen sie, im Lebendigen wie im Todten, bestimmte Richtungen und wechselnde Spiele eines höhern Lebens, das wir zwar schauen, aber kaum in den schnellen Wendungen des vielfachen Wechsels verfolgen können. Was sich dem gröbern Sinne als ein Getrenntes zeigt, wird durch die Uebereinstimmung der Farben in eine höhere Einheit aufgenommen, und was Eins zu seyn scheint, tritt, durch schnellen Wechsel, reizende Uebergänge der Farben, in einem zarten Leben, sich lebendig spielend entgegen. Schon frühe ahndete man die innige Verwandtschaft der Farben mit dem Lichte, und, wenn es uns klar geworden ist, daß die schaffende und geistige Thätigkeit der Erde sich keinesweges in sinnlosen und verworrenen Productionen darstellt, so liegt uns die Ansicht nahe, daß sich das Licht in den Farben am reinsten spiegelt, wie die Seele in ihren Gedanken, und daß sie die heitersten und geistigsten Außerungen großer und tiefer Naturideen seyn mögen. Denn, wie in den Tönen sich eine innere Welt, voll Uebereinstimmung und Leben entfaltet, in welche alle Formen des Daseyns aufgelöst und dem innern Sinn wieder erzeugt werden, so scheint auch dem Gesicht eine höhere und geistigere Ansicht aller Verhältnisse des Daseyns mit den Farben eröfnet zu seyn. Nur daß die Töne, auch wo die bestimmte Richtung mit der Sprache verschwindet, und sie sich wechselnd, einander innig ergreifend, in die unendliche
|| 25 Klees Vorlesungen zur bildnerischen Formlehre und bildnerischen Gestaltungslehre sind online zugänglich auf der Internetseite vom Berner Zentrum Paul Klee. Siehe Paul Klee: Bildnerische Formenlehre, http://www.kleegestaltungslehre.zpk.org/ee/ZPK/BF/2012/01/01/156/ [25.10.2023], BF/156, und ders.: Bildnerische Gestaltungslehre, http://www.kleegestaltungslehre.zpk.org/ee/ZPK/BG/2012/ 01/02/120/ [25.10.2023], BG I.2/120.
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Melodie verlieren, sich in das Gefühl ganz auflösen, und uns so mit unserm innersten, eigensten Daseyn inniger verwandt dünken; während das Schauen sich in die Unendlichkeit der Welt verliert, und der Mittelpunct der Harmonie der Farben aus den innersten Tiefen der ganzen Schöpfung zu entspringen scheint. So erscheinen uns die Töne zwar nicht begreiflicher, aber näher, die Farben zwar nicht fremder, aber entfernter. Mit der Sprache keimt Verwirrung mancherley Art. Die Sprachen trennen sich selbst unter sich und in sich, Begriffe stehen streitend gegen Begriffe auf, und wechselseitige Zerstörung und Widerspruch scheinen dem Blicke die höhere Einheit des Lebens zu verbergen. Aber über der Sprache steht, als der innere Geist derselben, die Musik, in welcher die Töne, wie heitere, jugendliche Geister, im frischen Kampf sich inniger verbinden, Krieg und Frieden sich ewig vermählen, ein jeder die übrigen ergreift, das Schwerste, seiner Natur gemäß, leicht nimmt, das Heiligste spielend verschenkt und tändelnd wieder erwirbt. So die Farben in der Natur. Während die Dinge sich bekämpfend und zerstörend entgegentreten, scheinen sie im lichten Tanze die Zerstörung selbst zu feyern. Nicht mit dem Leben allein verbinden sie sich; aus der Verwüstung, aus dem Zerfallen treten sie scherzend hervor, und ein leichtes, buntes, lebendiges Farbenspiel scheint oft das heitere Grablied des Unterganges zu seyn. Und doch waltet in diesem freyen, leichten Leben der Farben und Töne ein strenges Gesetz, wie überall das Gesetz am reinsten hervortritt, wo die Freyheit am frischesten und fröhlichsten gedeiht. Dieses Gesetz in seinen Hauptmomenten zu ergreifen, ist das Geschäft der Naturforscher. Leider schien es mehr die Absicht es zu erklären, als es in seiner Darstellung einfach zu erkennen. Und dieses Schädliche hat jede Erklärung, welche als ein Anknüpfungspunct an ein Außeres, aus welchem das Erforschte, selbst seinem Wesen nach entspringen soll, sich zu ihm wie eine Wirkung zu ihrer Ursache verhaltend, alle lebendige Eigenthümlichkeit des Erklärten aufhebend, es in einen Schatten eines andern verwandelt, daß sie uns mit dem nichtigen Besitz eines bloß erträumten, wunderbar zu täuschen vermag. Obgleich die Naturforscher, wie alle Menschen, wenn man verjährte Vorurtheile angreift, in Zorn zu gerathen pflegen – und bey derjenigen Ansicht die der herrschenden Erklärung der Farben widerspricht nicht mit Unrecht, indem sie die nicht zu berechnenden Folgen, durch ein richtiges Gefühl geleitet, zu ahnden scheinen – so wird es dem Unbefangenen doch immer klar bleiben, daß Newtons Erklärung der Entstehung der Farben, durch die blinde Annahme und feste Anhänglichkeit an dieselbe, als an eine reine, untrügliche Naturthat, einen schädlichen Einfluß auf die Wissenschaft geäußert hat. Goethen verdanken wir bekanntlich die Ansicht, die uns einen lebendigen Gegensatz in den Farben
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erkennen ließ. Es ließ sich voraussehen, daß die Naturforscher, die die lebendigen, zarten Verhältnisse der Farben in einer engen Erklärung zu fesseln gewußt hatten, auch die Thatsachen, die Goethe aufstellte, zu erklären wissen würden. Denn das Eigene hat die Erklärung, wie der alles auf Verhältnisse des Erscheinenden reducirende Verstand im Leben und Handeln überhaupt, daß sie alles mit leichter Mühe, das höhere Problem nicht ahndend, in ihren Kreis hinein zuziehen, das Fremde aber durch leichte Handgriffe zu sublimiren, und so zu entfernen weiß. Wir überlassen dem Stifter der neuen Ansicht, der sie wohl allein in ihrer ganzen Fülle durchschauet hat, diese weiter und in allen ihren Zweigen erläuternd auszuführen, so wie die herrschende scharf prüfend zu widerlegen, und wenden uns zu den Bemühungen des Freundes, die wir mit eignen Betrachtungen zu begleiten entschlossen sind. Am reinsten erkennen wir ohne Zweifel das Gesetz der Farben in der Kunst. Denn in der ordnenden und schaffenden Seele des Künstlers muß das Gesetz der Harmonie der Farben heimisch seyn und bestimmend hervortreten. In der Kunst sehen wir daher am deutlichsten, was sich sucht und flieht, was sich widerstrebt und versteht, was sich aufhebt und wechselseitig unterstützt. Denn mit ihrer ganzen Naturbedeutung tritt die Farbe in der Kunst auf, und der tiefe Eindruck, den ein wohlgewähltes Colorit auf uns macht, entsteht daher, weil die Sprache der Natur in eine Sprache der Liebe verwandelt wird, ohne daß jene ursprüngliche, tiefe Naturbebedeutung verschwindet. Aber eben weil in der Kunst die höhern Verhältnisse der Farben am reinsten hervortreten, wird sie nothwendig die Lehrerin der Naturforscher, die sich an der reinsten Darstellung des Eigenthümlichen am meisten ergötzen, und durch diese am vorzüglichsten zur Untersuchung gereizt werden. Die Bemühungen eines denkenden Künstlers können uns daher keinesweges gleichgültig seyn, und sie müssen uns um so wichtiger erscheinen, je mehr er sich vor der herrschenden Richtung der Naturwissenschaft bewahrt, und je reiner und unbefangener er sich an den eigenthümlichen Standpunct seiner Kunst festgehalten hat. Wer in diesem Sinne Naturforscher ist, dem werden die Bemühungen unsers Freundes, nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Wissenschaft sehr wichtig erscheinen. Denn eben die unbefangene Art der Darstellung, die nichts zu erklären, nur einfach zu ordnen sucht, die nirgends über ihre Grenze geht, die innere Fülle des Eigenthümlichen aber wohl zu schätzen weiß, hat eine große Klarheit und Strenge in dem Ganzen hervorgebracht, so daß sich alles wechselseitig trägt und unterstützt. Auch die Eigenthümlichkeit der Ansicht und der Darstellung wird ihm niemand ableugnen können. Aus keiner der bekannten Ansichten der Farben ist diese entstanden, und selbst Goethe’s Beyträge, die zwar durch sie sehr bestätigt werden, haben nur geringen Antheil an
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der Richtung seiner Betrachtung. Eben so wenig wird man seine Bemühungen mit Leonardo da Vinci’s, Schäfer’s, Schiffermüller’s, Lambert’s, Mayer’s oder Lichtenberg’s zu sammenstellen, oder durch diese als überflüssig ansehen. Merkwürdig ist es aber, daß die Darstellung unseres Freundes, was wir, obgleich unbekannt mit Goethe’s ferneren Bemühungen, wissen, mit diesen aufs genaueste übereinstimmt. Man glaube nicht, daß er alles gegeben hat, was er zu geben vermochte. Wir selbst sind, theils durch mündliche, theils durch schriftliche Mittheilungen im Besitz mancher Erläuterungen und höherer Ansichten, die dasjenige, was hier einfach dargestellt ist, an das Höchste und Tiefste der Kunst anknüpfen, und sich an seine größeren und vielseitigeren Bemühungen bedeutungsvoll anschließen. Indem wir uns aber entschlossen haben, die Darstellungen des Freundes mit einigen Betrachtungen zu begleiten, dünkt es uns am schicklichsten, was er auf seine Weise gefunden hat, durch eine Untersuchung auf unserm Wege zu bewähren; was uns um so leichter wird, indem eine ähnliche Ansicht uns lange, durch die Natur uns aufgedrungen, leitete, so daß dasjenige, was wir auf ganz verschiedenem Wege gefunden, ohne unsere Bemühungen wechselseitig zu kennen, in einem gemeinsamen Mittelpunct die nehmliche Deutung annimmt. Bey der Ausführung unseres Vorhabens zeigten sich indessen bedeutende Schwierigkeiten, und manches, was uns die Ahndung zu versprechen schien, wollte uns die wirkliche Untersuchung keinesweges gewähren. Wir bekennen daher, daß wir nur weniges zu leisten vermögen. Unsere Absicht war nehmlich, der Bedeutung der Farben in der Natur, dem Zusammenfallen derselben mit eigenthümlichen Functionen nachzuspüren. Obgleich nun, was wir durch eine einfache Darstellung der Thatsachen zu geben im Stande sind, mit der Ansicht unsers Freundes auf eine überraschende Weise übereinstimmt, so dürfen wir uns doch keinesweges rühmen, den Gegenstand erschöpft, ja nur die erste sichere Grundlage mehr als angedeutet zu haben. Was wir hier zum Voraus erinnern müssen, damit man uns nicht beschuldige, daß wir einen so wichtigen Gegenstand leichtsinnig behandelt, oder wol gar die Größe des Themas verkannt haben. Zuerst wird sich die Untersuchung zur Betrachtung des Weißen und Schwarzen wenden müssen, um, so viel möglich, die Bedeutung derselben zu erforschen. Denn wenn gleich beyde nicht eigentlich Farben genannt werden können, so erscheint dieser Gegensatz doch als der gemeinschaftliche Träger der sich lebendig bewegenden und entgegengesetzten Farben. Nun fällt es einem jeden auf, daß die weiße Farbe mit dem Hellen, die schwarze aber mit dem Finstern in einer genauen Verbindung steht, und wenn man auch weiß und hell, schwarz und dunkel, nicht als dasselbe betrachten kann, so ist der
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Unterschied doch nur darin zu suchen, daß das Helle und Finstere mehr allgemein, das Weiße und das Schwarze aber an bestimmten Körpern fixirt ist, so daß das Weiße, als der an den Körpern fixirte Tag, das Schwarze aber, als die auf die nehmliche Weise fixirte Nacht angesehen werden kann. Der Tag aber zeigt sich, bey der allgemeinsten Betrachtung, als das Sondernde der Erde. Der Planet lebt dann nur in sich. Für die Betrachtung – die mit dem Leben eins ist – schwinden die allgemeinern Verhältnisse zum Universo, und wie die Erde im Ganzen, gesondert ist, sondert sich auch alles auf ihr. Die besondern Körper treten, als solche, gegen einander, das lebendige tritt, in sich lebend, energischer hervor. Die Nacht aber ist das Hervortreten allgemeinerer Verhältnisse, die Erde verliert sich in die Unendlichkeit des Universums, das Leben tritt, im Ganzen, zurück, und die gesonderten Körper deckt die allgemeine vereinigende Finsterniß. Aehnliche Verhältnisse nun lassen sich beym Weißen und Schwarzen aufweisen. Der Verbrennungsproceß ist das Sondernde der Erde, alle verbrennlichen Körper aber können als solche angesehen werden, die, mehr dem Allgemeinen angehörig, für jede Sonderung empfänglich sind. Die Naturforscher haben gelernt jenen Sonderungsproceß auch in seinen zarteren Regungen zu verfolgen, und wir wissen, daß der Sauerstoff der Chemiker eine solche Richtung des Körperlichen angiebt, die so durchaus in die Gewalt der sondernden Thätigkeit versunken ist, daß er, in der Erscheinung, für das Princip derselben gelten kann. Den ihm entgegengesetzten Wasserstoff kann man, aus einem ähnlichen Grunde, als das Princip der Verallgemeinerung betrachten. Die Veränderung eines Körpers, durch welche er, mehr oder weniger energisch, von der Richtung des Sauerstoffs, (die Oxydation), oder die ihr entgegengesetzte, durch welche er von der Richtung des Wasserstoffs ergriffen wird, (die Hydrogenisation), kann auf eine universellere Weise, als bloß äußerlicher Gegensatz, gleichsam als todt, und auf eine individuellere Weise, als lebendig, betrachtet werden. Nun ist unsere Behauptung, daß das Weiße, Graue und Schwarze die ersten universellern Veränderungen, das Rothe, Gelbe und Blaue die zweyten individuellern geben, so daß das Weiße und Schwarze sich zu den eigentlichen Farben wie die anorganische Natur zur organischen verhält, und eben daher die allgemeinen Träger derselben sind, welches wir erstlich von dem Weißen und Schwarzen uns zu beweisen bemühen werden. Die Metalle, die in beyden Richtungen bewegt werden können, sehen wir mit einer herrschenden grauen Farbe, denn selbst, wo in der Metallreihe sich das Farbenbild zu regen anfängt, indem nehmlich das Kupfer, als ein contrahirtes und mehr gesondertes Metall, roth erscheint, das Bley, als ein expandirtes und mehr universelles, blau, und das in der Mitte stehende Gold, gelb, ist die
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Farbe doch nur bey dem letztern vollkommen rein, und vermag sich bey den übrigen aus dem herrschenden schmutzigen Grau nicht heraus zu arbeiten. Sobald aber die Metalle in irgendeiner Richtung der Sonderung oder Verallgemeinerung gefangen sind, so sehen wir sie sich in Farben mancherley Art verlieren, und zwar vor allem auf der Seite der Oxydation, weil diese häufiger, wechselnder, energischer hervortritt. Nun ist in der That die herrschende Farbe derjenigen Metalle die in die Gewalt der universellern Richtung gerathen, die schwarze, wie uns die galvanischen Versuche lehren. Alle sogenannten Hydrures des Silbers, des Bleyes, des Kupfers u. s. w. die bekannt sind, sind schwarz. Auch der Schwefel, der, wie die Metalle, in beyden Richtungen der Oxydation und Hydrogenisation beweglich ist, erscheint, mit Wasserstoff verbunden, schwarz. Hierher können wir nun auch die schwarzen schwefelhaltigen Niederschläge der Metalle rechnen, die hydrogener Natur sind, als: das schwarze schwefelhaltige Quecksilber, oder der mineralische Mohr, das schwarze schwefelhaltige Kupfer, das durch schwefelwasserstoffhaltiges Kali gefällt worden, das eben so gefärbte schwefelhaltige Eisen, auf die nehmliche Weise gefällt, ferner das schwarze schwefelhaltige Bley und Nickel, endlich mit großer Wahrscheinlichkeit die schwarzen Schwefelverbindungen des Wismuth und Kobalt, wenn gleich die Natur dieser Verbindungen, wie die des gelben schwefelhaltigen Urans, und des grünentenden Titans, weniger bekannt sind. Die erste allgemeine Anlage zur Oxydation aber ist mit einer weißen, oder wenigstens hellen Farbe verbunden, wie die Beobachtung uns lehrt, wo es uns erlaubt ist sie zu betrachten. Bey den edeln Metallen nehmlich, die einer jeden Richtung widerstreben, indem in ihnen die Neigung sich in der eigensten Gestalt zu behaupten am stärksten ist, tritt die künstliche Anstrengung, durch heftig erhöhte Temperatur zu gewaltsam hervor, als daß es uns erlaubt seyn sollte, die erste Anregung zu fixiren. Untersuchen wir aber die übrigen Metalle, so finden wir einige von der Art, daß die erste Anregung der Oxydation von weißer oder wenigstens heller Farbe ist, welche Farbe in der Atmosphäre in eine dunklere verwandelt wird. So ist die leiseste Oxydation des Kupfers, die die Kunst darzustellen vermag, mit einer hellen Orange farbe verbunden, die sich nachher in eine blaugrüne oder dunkle verändert. Die leisen Anregungen zur Oxydation des Eisens, die sich in der galvanischen Säule zeigen, beweisen, daß Chenevix Recht hat, wenn er vermuthet, daß die erste Farbe die weiße ist, auf welche die grüne und endlich die schwarze folgt. Das Kobalt wird, wenn es rothglühend der Wirkung der Luft ausgesetzt wird, erst hell blau, dann immer dunkler, endlich schwarz, das Magnesium aber, welches sich in der Luft sehr leicht verändert, erst grau, dann dunkelviolett, braun, und endlich schwarz.
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Durch die Verbindung mit Säuren treten bey vielen Metallen bewegliche Momente hervor, wo das Zusammenfallen der Oxydation mit der weißen Farbe auffallend und auch keinesweges den Naturforschern entgangen ist, aber diese Beyspiele sind auch vorzüglich erläuternd für die Veränderung der hellen Metalloxyde. Das phosphorsaure und blausaure Eisen bilden weiße Niederschläge, die in der Luft blau werden, salpetersaures Silber ist grau und wird in der Luft schwarz, salzsaures Silber (Hornsilber) ist weiß und unterliegt der nehmlichen Veränderung. Von diesem letztern wissen wir, daß diese Veränderung nicht unter jeder Bedingung, sondern nur im Hellen statt findet. Dasselbe gilt sicher von allen dunkler werdenden Metall oxyden. Sonderbar genug sind die Naturforscher auf diesen Umstand bey den übrigen Oxyden nicht aufmerksam gewesen, nur der genau beobachtende Scheele bemerkt, daß das gelbgrünliche Oxyd des Silbers im Lichte schwarz wird. Aber die hervortretende Schwärze ist eine Hydrogenisation, die das Licht in allen beweglichen Körpern hervorruft. So in den Blättern der Pflanzen, in der übersauren Salzsäure, in den lebendigeren hellen Metalloxyden und metallischen Salzen. Der Tag widerstrebt einer jeden Oxydation, wo sie nicht in Erstarrung übergegangen ist, oder wo sie nicht einen eignen innern Heerd gefunden hat – der innerlich aufgegangene Tag – wie im thierischen Leben. Aber Buchholz’s und Ritter’s Versuche beweisen, daß jene Hydrogenisation und Verfinsterung mit fortschreitender Oxydation in dem nehmlichen Körper stattfindet. Denn, wenn sie das salpetersaure oder salzsaure Silber dem Sonnenlichte aussetzten, ward die ganze Masse keinesweges schwarz: vielmehr, indem die Oberfläche schwarz ward, erhielt sich die unter derselben liegende Fläche grau oder weiß, ja, wenn sie beym salzsauren Silber schon grau war, ward die weiße Farbe wieder hervorgerufen. Man denke sich, was hier als FarbenGegensatz äußerlich geschauet werden kann, noch unendlich tiefer gehend, und man wird einsehen, wie, beyden oben erwähnten dunkler werdenden Metalloxyden selbst die innerliche fortschreitende Oxydation mit einer äußerlich gegen das Licht gekehrten entgegengesetzten Function verbunden seyn kann. Indessen ist es kaum von irgend einem Metalloxyd bewiesen, daß es, während es dunkler ward, an Oxydation zunahm, das Braunsteinoxyd ausgenommen. Aber dieses zeigt auch so viele heterogene Erscheinungen, eine solche Neigung sich zu reduciren, ja selbst in eine merkwürdige höchst bewegliche Spannung der Hydrogenisation zu treten (als Chamaeleon), daß es in dieser Rücksicht, unserer Ansicht nach, doppelt belehrend wird. In einigen Fällen scheint beyden Metallen der erste hellere Moment der Oxydation schnell verschwindend und kaum bemerkbar. So läuft das Quecksilber in der Luft schwarz an, und erhält durch Schütteln die nehmliche Farbe.
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Zink, so merkwürdig durch die Begierde mit der es der Richtung der Oxydation entgegeneilt, wird ebenfalls schwarz, und das Wismuth läuft blau, oder eigentlich vielfärbig an. Doch sind diese Fälle selten, und wir zweifeln nicht, daß man auch bey ihnen den hellen Moment keimender Oxydation bey genauerer Beobachtung wird entdecken können. Desto häufiger sind diejenigen Metalle, die diesen Moment festhalten. So läuft das Zinn graulich weiß an, das Bley wird an der Luft grau, dann weiß: Antimonium, Tellurium und Arsenik verflüchtigen sich als weiße Oxyde. Die übrigen Metalle, Wolfram, Molybdän, Uranium und Chromium sind in Rücksicht ihrer ersten, beweglichern Oxydationsregungen zu unbekannt, als daß wir von ihnen etwas erwähnen könnten. Zwischen diesem Weiß der Oxydation und dem Schwarz der Hydrogenisation brechen nun die lebendigern Farben der Oxyde hervor. Diejenigen Metalle, die dem Mittelpunct der Metallität näher liegen, suchen mit der respectiven Intensität ihrer ursprünglichen Natur, ihre eigenthümliche Art zu behaupten, daher rufen sie, wenn sie der Gewalt der Oxydation zu unter liegen befürchten, die entgegengesetzte Richtung hervor, und zwischen beyden spielen die mannichfaltigen Farben des Eisens, Kupfers, Kobalts, Bleyes u. s. w. Diejenigen Metalle dahingegen, die von dem Mittelpunct der Metallität entfernter sind, und daher von der Richtung der Oxydation stärker ergriffen werden, bleiben entweder weiß, wie Antimonium, Tellurium, Arsenik, oder sie erblassen nach einem kurzen, durch wechselnde Farben angedeuteten Leben. So ist das Wolframmetall erst schwarz, dann heller gelb, das Chromium erst grün, dann braun, dann heller orange, das Titan erst blau, dann roth, zuletzt weiß, endlich das Zink erst gelb, dann weiß. Am deutlichsten erkennen wir aber die Leichname durch große Naturprocesse längst getödteter Metalle, in den Erden deren metallische Natur jetzt mehr als vermuthet wird, deren Erstarrung durch Oxydation keinem Zweifel unterworfen ist, und die bekanntlich alle weiß sind. Man könnte uns einwenden, daß eine Menge Körper, wie Leinewand, Papier, Wachs, Talg, weiß und verbrennlich sind. Aber eben diese werden unsere Ansicht am auffallendsten bestätigen und erläutern. Denn erstens ist es grade bey diesen bekannt, daß die Oxydation mit der weißen Farbe zusammenfällt, die auch durch sie erhöht wird (worauf das Bleichen mit Salzsäure beruht), und dann brennt ja in der That nie das Weiße, sondern das entgegengesetzte Schwarze wird erst hervorgerufen, und aus diesem Gegensatze, am Rande des Weißen und Schwarzen, entspringt die Flamme, als ein lebendiges, bewegliches Farbenbild, unten blau, in der Mitte gelb, und wenn die Flamme vollständig ist, immer auf der Spitze roth.
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Eine schöne und bedeutende Bestätigung gewähren uns die Gebirge. Nachdem die Zusammensetzung – aus Feldspath, Glimmer und Quarz – die auf einen innern Widerstreit der Actionen deutet, von welcher Art dieser auch seyn mag, allmählig verschwunden ist, durch Granit, Gneus und Glimmerschiefer, erscheint die einfache Masse der Erstarrung und einseitigen Oxydation im Thonschiefer, anscheinend schwarz. Aber der Thonschiefer ist in der That weiß, wie der weiße Strich, den jeder an unsern Schreibtafeln kennt, überzeugend darthut. Das Schwarzwerden der Oberfläche ist jene merkwürdige Function des Lichts, also ein anfangend es Verbrennlichwerden, wie die Schwärze des Lichtschnuppens, der Metalloxyde, des brennenden Papiers. Daß es wirklich eine atmosphärische Function ist, davon überzeugt uns die allgemein bekannte Erfahrung. Denn der weiße Strich wird, befeuchtet, in der Atmosphäre schwarz. Allmählig, wie in den jüngern Gebirgen der Proceß der Verbrennlichkeit zunimmt, hört der weiße Strich auf, die Hydrogenisation ist tiefer in die Materie hineingedrungen, die fortwährende, und jetzt tiefer greifende Lichtfunction hat die entgegengesetzte Richtung mächtiger erregt, das zeugende, und für das Leben empfängliche Princip der Nacht hervorgerufen, und endlich erscheint die, jetzt von der bestimmbaren Unendlichkeit durchdrungene Masse, als Kohlenblende, als Steinkohle, und die Flamme bricht heraus. Wenn wir daher, aus Gründen die nicht unbekannt sind, den Kohlenstoff, als das Element des festen Landes bestimmen, so ist dieser Stoff keinesweges schwarz, sondern, als das ursprünglich Erstarrte, vielmehr weiß, und erscheint nur schwarz in der ihm nicht ursprünglichen Richtung der Verallgemeinerung. Erfahrungen unterstützen unsere Behauptung, denn die brennende schwarze Kohle ist, wie Winterl und Berthollet bewiesen haben, hydrogenisirt. Auch im Leben fällt die universellere Sonderung mit der weißen Farbe zusammen. Die weißen Säfte und alle weißen Theile der Pflanzen sind bekanntlich vorzugsweise oxydirt, und aus der Mitte des Weißen und des in dem Grünen verborgenen, durch das Leben gemilderten, Schwarz der Kohle, entspringen, als die lebendigen Flammen, die gefärbten Blüthen, durch das eigenthümliche Leben in einer Richtung der Färbung festgehalten. In den niedern Thieren, wo die Sonderung universeller, mehr an das allgemeine Leben der Erde geknüpft ist, wie schon das Anschließen an das indifferente Wasser, oder an den Wechsel seiner Spannungen in der Atmosphäre durch das jährliche Absterben, kund thut, wo das Leben träger und weniger beweglich erscheint, ist daher das Blut weiß und kalt. Nicht allein bey den Pflanzen, auch bey der Vegetation der Thiere (Haare, Federn) deutet die weiße Farbe auf Erstarrung (todte Oxydation). Daher erblassen diese Theile, wo das regere Leben zurücktritt. Die Farben der Säugthiere, der Vögel, wie die der Blüthen, treten gegen Norden
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zurück. Endlich finden wir im höchsten Norden fast lauter weiße Thiere, so die Hermeline, Haasen u. s. w. die, wie die Erde, im Winter weiß werden, die weißen Bären und das Heer weißgefiederter Vögel. Auch die weiße erstarrte Schneedecke des Winters deutet auf eine allgemeine Sonderung; denn es ist bewiesen, daß das erfrorne Wasser und vor allem der Schnee oxydirt sey. Aber die bunten Farben verschwinden mit den Metallen, bey welchen noch der lebhafte Streit entgegengesetzter Richtungen statt findet, zeigen sich nur als Fremdlinge, durch die Metalle hervorgerufen, in der Epoche der herrschenden Erden, wo die einseitig herrschende Erstarrung waltet, und erscheinen erst wieder in der stets beweglichen lebendigen Luft, und in den lebenden Pflanzen und Thieren. Suchen wir nun denjenigen Mittelpunct aller Materie, in welchen alle diese Richtungen, sowohl des Weißen und Schwarzen, als die des beweglichern und lebendigern Farbenbildes, sich auf eine völlig gleichgültige Weise verlieren, so daß sie aus diesem Mittelpunct, durch die äußere, belebende Bestimmung der Lichtfunctionen, bald auf diese, bald auf eine andere Weise hervorgerufen werden können, so finden wir diesen, wie alle Erfahrungen einstimmig darthun, im Wasser. Denn alle jene Oxydationen und Hydrogenisationen der Metalle werden durch das Wasser vermittelt, wie die lehrreichen Versuche von Madame Fulhame, und die allgemein bekannten der bestätigenden galvanischen Säule beweisen. Und keiner, der die gegenwärtige Physik mit einem allgemeinern und umfassendern Blicke überschauet, wird zweifeln, daß die Form des Galvanismus die bestimmende des angehenden chemischen Processes sey. Von so vielen Seiten und so vielfältig ist dieses, zumahl von Ritter, bewiesen, daß wir es weitläufiger zu entwickeln überhoben seyn können. Alle jene von dem Hellern ins Dunklere übergehende Metalloxyde, zeigen jene Veränderungen nur, wenn sie feucht sind, und nicht das salzsaure und salpetersaure Silber allein, auch das orangefarbige Kupferoxyd, das grünlichgelbe Silberoxyd, und ohne allen Zweifel alle auf erwähnte Weise veränderliche Metalloxyde, bleiben, wenn sie trocken sind, unverändert. Bey einem jeden Oxydations- oder Hydrogenisationsund Neutralisationsproceß wird Wasser gespannt, oder wie die Chemiker sich ausdrücken, zerlegt oder erzeugt, und es ist in dieser Rücksicht der gleichgültige, unbestimmte, unendliche Träger aller Farben. Aber das Wasser ist auch das allgemeinste Grau der Natur. Das Meer erscheint nur differenzirt und in Farben spielend, wo es sich an Ufern und flachen Betten bricht, und das Grau der Atmosphäre ist, wie allgemein bekannt, mit ihrer Wasserproduction eins. Indem nun, aus dem allgemeinen und unendlichen Grau, getragen von dem starren Gegensatz des Weißen und Schwarzen, das Farbenbild entspringt, oder
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sich vielmehr in und mit dieser seiner allgemeinen Welt bildet, entdecken wir gleich in ihm die Spuren des höhern Lebens: nehmlich in der herrschenden Triplicität, da bey dem Weiß und Schwarz nur die Duplicität waltet. Denn obgleich das Roth und Blau als ein lebendiger Gegensatz angesehen wird, ist doch keinesweges das Gelbe als die bloße Indifferenz zwischen beyden zu betrachten. Das Weiße und Schwarze sind nehmlich nur durch ihre Relation gegen einander, und das Graue drückt nichts anders aus, als das Gleichgültige dieser Relation. Bey den Farben hingegen ist der Mittelpunct, und mit diesem die Extreme, wahrhaft selbstständig und in sich gegründet, wie unser Freund bewiesen hat. Und diese Selbstständigkeit verliert sich nie, sondern behauptet sich, so lange die Functionen leben, auch in dem scheinbarsten Minimo der entgegengesetzten Mischung. Aber daraus folgt nun, daß das Ganze sich in einem jeden Gliede durchdringt, und eben dadurch ein höheres, beweglicheres Leben hervorruft, indem Roth, Gelb und Blau als eben so viele Mittelpuncte eines unendlichen Gegensatzes erscheinen. Dieser Gegensatz, wenn gleich auf eine lebendigere Weise, ist nun der nehmliche, den wir im Weiß und Schwarz, obgleich als eine bloße scheinbare todte Erstarrung erkannten. Denn das Roth und Blau zeigt uns abermals den Widerstreit der Oxydation und Hydrogenisation. Selbst bey dem ersten Keimen des prismatischen Farbenbildes, das aus dem herrschen den Grau der Metallreihe hervorbricht, erkennen wir das Roth auf der Seite des starreren, also am meisten individualisirten Metalls, im Kupfer, das Blau auf der Seite des expandirteren, also universellern Metalls, im Bley, und das Gelb bey dem in der Mitte stehenden edleren Gold. Und zwar diese Farbe, als das gleichsam in dem Mittelpunct der Masse fixirte Licht, am reinsten. Herrschel’s und Ritter’s Versuche stimmen aber durchaus überein, ja sie bezeichnen auf eine lehrreiche Weise das Nehmliche. Denn indem Ritter beweist, daß die rothe Farbe des prismatischen Bildes die Oxydation nicht nur unterhält, sondern auch hervorruft, die blaue Farbe aber hydrogenisirt, so ist die individuellere Contraction auf der Seite der rothen Farbe, die universellere Expansion aber auf der Seite der blauen. Bey dem allgemeinen Zusammenhange aller Dinge ist aber eine Contraction eines Körpers (durch die Oxydation) mit der Expansion der Umgebung unmittelbar verknüpft, welches die Erscheinung der Wärmeerregung nach Herrschel in der rothen Farbe hervorruft. Eben so ist eine jede Expansion eines Körpers mit der Contraction der Umgebung verknüpft, wodurch die Erscheinung der relativen Wärmeverminderung nach Herrschel in der blauen Farbe erzeugt wird. Daß aber die Herrschelsche Wahrnehmung auf keinen Irrthum gegründet sey, hat trotz alles Widerspruchs von Leslie, Wünsch und andern, Ritters gründliche kritische Untersuchung bewiesen.
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Wir folgern aus dem bisherigen, was aus ihm mit Nothwendigkeit gefolgert werden muß, überzeugt, daß uns die Wahrnehmung der ewig consequenten Natur, sind wir nur auf dem rechten Wege, nicht widersprechen wird. Da nehmlich das Graue die Indifferenz des Weißen und Schwarzen, und zugleich die universelle, unbestimmte, nicht individualisirte Erscheinung aller Farben ist, so ist es klar, daß, wo das Weiße und Schwarze in steter Spannung gegen einander erhalten werden, ohne sich ins Graue zu indifferenziren, die lebendigere Hineinbildung des Einen in das Andere nur durch den beweglicheren Farbengegensatz vermittelt werden kann. Denn die Farben sind ja nichts anders als das Leben des Grauen, was das Weiße und Schwarze in ihrer Spannung gegen einander ebenfalls sind. Alle hellen Farben sind aber nur durch die Gewalt des Weißen, alle dunklen durch die Gewalt des Schwarzen. Was daher von der Spannung des Weißen und Schwarzen, gilt auch von der Spannung der hellen und dunklen Farben. Aber nicht von diesen allein, auch von dem Hellen und Finstern überhaupt. Es ist gewiß, daß das Tageslicht mit einem Oxydationsproceß verknüpft ist, wie die angeführten Hydrogenisationen der Metalloxyde, der Pflanzen u. s. w. beweisen. Im Finstern müssen wir schon eine Hydrogenisation annehmen, weil es dem Hellen entgegengesetzt ist, wenn auch nicht andere auffallende Thatsachen, die wir später erwähnen werden, dafür sprächen. Selbst die künstliche Erhellung, durchleuchtende Flamme, hydrogenisirt, wie Decandolle durch seine Versuche mit Pflanzen bewiesen hat. Man denke sich hier kein Extrem der Oxydation oder Hydrogenisation, wie es das grob sinnliche chemische Experiment zu fixiren vermag. Nur die lebendige Combination vermag diese leisen Außerungen für die Betrachtung zu gewinnen. Kurz, es muß zwischen allen hellen und dunklen Körpern, die sich berühren und wechselseitig spannen, ein der Flamme ähnliches Farbenbild hervorbrechen, wie zwischen dem weißen Talg und der schwarzen Lichtschnuppe, den lebendigen, durch die Spannung unterhaltenen Gegensatz bezeichnend. Dieses Farbenbild ist am Tage unsichtbar, wie die Flamme im Sonnenlicht, erscheint aber nicht im Dunkeln, weil das Dunkle die Spannung zwischen Weiß und Schwarz, und mit dieser die Bedingung der Erscheinung aufhebt. Das Prisma nun ist für diesen lebendigern Gegensatz, was das Microscop für die kleinen sonst unsichtbaren Gegenstände, der Entdecker, keinesweges der Erzeuger desselben. Und man braucht nicht einmahl das Prisma, um die lebendige, zwischen Weiß und Schwarz verschlossene Farbenflamme zu entdecken. Man mahle nur ein tief schwarzes Quadrat, etwa einen halben Zoll lang und breit, auf ein weißes Papier. Daneben mahle man einen viereckigen schwarzen Rand, etwa ein viertel Zoll breit und zwey Zoll lang, der eine lange, schmale, drey bis
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vier Linien breite weiße Fläche von allen Seiten umschließt. Beyde betrachte man anhaltend und genau, mit fast zugeschlossenen Augen. Hierbey bewegen sich die Augen von selbst schnell blinzelnd auf und nieder. Also wird das Weiße in das Schwarze, dieses in jenes hineingebildet, und aus dieser Hineinbildung entspringt in der That das prismatische Bild, und zwar ganz nach den Gesetzen der Goethischen Farbenvertheilung, bey nach unten gekehrtem Winkel des Prisma, nehmlich, bey der schwarzen Fläche auf weißem Grunde oben blau, unten roth und gelb, bey der weißen Fläche auf schwarzem Grunde oben roth und gelb, unten blau. Wir haben diese gefärbten Ränder, bey hundertfältiger Wiederholung, wenn gleich schmal, recht deutlich gesehen. Wie es scheint, gelingt es den Kurzsichtigen gar nicht, oder schwer. Mit einiger Aufmerksamkeit kann ein jeder, der nicht kurzsichtig ist, den Versuch anstellen. In einer andern Rücksicht tritt das zerstreuende Prisma in Gegensatz gegen das concentrirende Brennglas, und das prismatische Farbenbild, das in der dunklen Kammer, oder durch die Lichtzerstreuung des kegelförmigen Prisma’s hervorgerufen wird, ist die an den Gegensatz des Weißen und Schwarzen gekettete Flamme, so wie die Flamme, die durch eine jede Verbrennung, auch durch das Brennglas hervorgerufen wird, das aus demselben Gegensatz lebendiger hervorbrechende, in sich beweglichere Farbenbild. Wo das Farbenbild erscheint, ist oder wird der Gegensatz vom Hellen und Dunkeln erzeugt, und von diesem bezwungen erscheint es, nur durch die Richtung, keinesweges durch die Function, von der Flamme verschieden. Daß es sich auf diese Weise verhält, beweisen die genauern Versuche mit dem weißen salzsauren Silber auf eine auffallende Weise. Bey dem Hrn. Dr. Seebeck in Jena haben wir nehmlich schöne, sorgfältig erhaltene Präparate dieses gegen die Lichtaction so beweglichen Salzes gesehen, welche, indem sie in einer dunklen Kammer der Einwirkung des prismatischen Bildes ausgesetzt wurden, nicht allein in der blauen Farbe schwarz, in der rothen Farbe weiß wurden, sondern auch aufs deutlichste selbst die Farben des Prisma’s, wenn gleich etwas matter, erhalten hatten, so daß das sonst weiße, roth, das sonst schwarze, blau, in der Mitte aber das Gelb erschien. Diese mit großer Sorgfalt angestellen Versuche, die mannichfaltig modificirt sind, hat der Entdecker leider nicht bekannt gemacht. Sie erscheinen uns aber höchst wichtig. Denn ist es nicht klar, daß hier die Farben mit den Functionen identisch werden, daß diese beweglichern Momente, wie die farbige Flamme aus den brennenden Körpern, aus dem Gegensatz des Hellen und Dunkeln hervorbrechen, nur an diesen allgemeinen Gegensatz gebunden? Die rothe Farbe schließt sich im Allgemeinen an die weiße, wie sie auch, in den bekannten Versuchen von Goethe, ins Weiße hineinstrahlt, die blaue an die schwarze, wie ebenfalls in den
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erwähnten Versuchen. Daß aber diese ursprüngliche Vertheilung auf mancherley Weise modificirt werden kann, daran zweifeln wir keinesweges. Die Gesetze der Vertheilung der Farben an entgegengesetzten dunklen Rändern heller, und hellen Rändern dunkler Körper, bey nach oben oder unten gekehrtem brechenden Winkel des Prisma’s, eröffnen der Betrachtung ein unendliches Feld, das durch Goethe so glücklich gewonnen ist, und für die Theorie des Lichts von entschiedener Wichtigkeit werden wird, hier aber nur angedeutet werden kann. Indessen verdient es wohl bemerkt zu werden, daß etwas, dieser Vertheilung ähnliches, selbst bey den Flammen sich äußert, zumahl bey den brennenden Metallen, indem die ursprünglich contrahirteren Metalle mit rother oder bunter Flamme brennen, wie Kupfer, Eisen u. s. w. die expandirteren mit blauer, wie Antimonium, Arsenik, selbst Schwefel und Phosphor. Die höchste Intensität der Flamme aber scheint den Gegensatz aufzuheben, und in einen bloßen hellen Schein zu verwandeln, wie die Weißglühhitze, die Verbrennung des Phosphors in Sauerstoffgas u. s. w. Auch die mancherley Modificationen der Lichtfunctionen des prismatischen Bildes, durch die verschiedene Beschaffenheit der Prismen, sind durch die scharfsinnige und streng prüfende combinatorische Zusammenstellung der Versuche von Herrschel, Englefield, Leslie und Wünsch, durch Ritter, höchst wichtig geworden. Bey allen diesen Untersuchungen werden wir aber nie übersehen, daß selbst der Gegensatz vom Hellen und Dunklen nur als Lichtfunction zu betrachten ist, und das Licht selbst so wenig durch diese Gegensätze aus seiner Einheit heraustritt, als die Seele die Einheit ihres Wesens durch den Wechselstreit eigener Gedanken aufhebt. Die Flamme ist also die Zusammendrängung der individualisirten Thätigkeit des Lichts, die aus der Mitte des Gegensatzes von hell und dunkel auf die lebendigste Weise hervorbricht. Und wenn Weiß und Schwarz eine individuellere Darstellung des Hellen des Tages und des Finstern der Nacht ist, so ist das Farbenbild wieder die höhere Individualisirung des Weißen und Schwarzen, indem aus dem äußern Gegensatz die höhere Triplicität hervorbricht; diese selbst wird aber, durch die höchste Individualisirung in der Flamme, zur ursprünglichen lebendigen Einheit zurückgeführt, aus welcher sie herstammt. Wo das Maximum der Verfinsterung hervortritt, da ist keine Flamme, sondern nur feurige rothe Gluth, das Extrem der Concentration, welches die Zwischenglieder des Farbenbildes zurückdrängt, um gleich das Höchste darzustellen. Durch die rothe Gluth bricht daher wieder die Erstarrung des Weißen als Asche hervor. So sehen wir am Lichte, da wo der Ruß die höchste Spannung des Verbrennlichen, also die Verfinsterung andeutet, auf der Spitze des Licht-
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schnuppens, die Gluth mitten aus der beweglichen Flamme den Uebergang zum entgegengesetzten Extrem des Verbrannten angeben, und daher mit Asche bedeckt. Auf die nehmliche Weise leuchten die Lichtmagnete, der Diamant, der Cantonsche Phosphor, das faule Holz, das Meerwasser und so viele andere Körper, nachdem sie dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen sind, im Finstern. Im Licht nehmlich wird eine leise Hydrogenisation, durch die waltende Oxydation der Atmosphäre hervorgerufen. Im Finstern bricht diese, durch die herrschende Hydrogenisation gesteigert und gespannt, in einer leisen Verbrennung aus, die sich durch die Phosphorescenz offenbart. Wir können das Roth, welches im Violett des Farbenbildes hervortritt, als die keimende Anlage eines neuen Gegensatzes ansehen, als ein Roth, welches eben so aus dem Extrem des Blauen hervorbricht, wie die Gluth aus dem Schwarz der Kohle. Die stille Gluth der Lichtmagnete bricht ebenfalls in der blauen Farbe des Prisma’s hervor, wie früher Wilson, später Ritter bewiesen haben. Wenn wir das Dargestellte genau erwägen, so können wir nicht daran zweifeln, daß alle Pigmente, die metallischen sowohl als die vegetabilischen, als verschlossene Flammen, fixirte Stufen derselben, anzusehen sind, und zwar so, daß die Eigenthümlichkeit der fixirten Function sich durch die Farbe entdecken läßt. Zwar wird es kaum möglich seyn, diese Functionen in allen ihren leisen Veränderungen zu verfolgen, weil die Verwickelungen fast unendlich sind, indem das Helle sowohl als das Dunkle alle Stufen des Farbenbildes durchlaufen, und eine jede Farbe alle Modificationen des Hellen und Dunkeln theilen kann. Indessen liegen allerdings in einer jeden Farbe alle anderen, und bey vielen Pigmenten sehen wir sie auf eine merkwürdige Weise bey der leisesten Anregung hervortreten. So Winterl’s mineralisches Chamaeleon oder hydrogenisirtes Braunsteinoxyd, bey welchem die Hydrogenisation so energisch ist, daß selbst das Kali im Gegensatz gegen dasselbe als Säure auftritt und sich mit ihm neutralisirt. Wenn auch nur die leiseste Säure die Function der Oxydation hervorruft, so steigert sich erst die allgemeinere Hydrogenisation, und die Masse wird aus einer dunkelgrasgrünen in eine schwarzgrüne und schwarze verwandelt. Aus diesem Schwarz regt sich nun die blaue Farbe, erst schwarzblau, dann rein blau. Aus diesem bricht das Roth hervor durch das Violettbläuliche, Violette, Violettpurpurne, Purpurne, Purpurrothe, Rubinrothe, und bleibt bey der Feuerfarbe der Morgenröthe stehen. Grade wie jene Gluth der glühenden Kohle, die nur, durch eine lebendigere Action, mit Zurückdrängung aller Zwischenstufen, das feurige Extrem aus dem düstern Schwarz augenblicklich hervorruft. Was die leise Oxy-
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dation aufhebt, bey geringer Menge selbst die Berührung mit dem Finger, vernichtet die rothe Farbe, die ursprüngliche grüne schnell wieder her. Die in den Pflanzen fixirten Lichtfunctionen durchlaufen ähnliche Stufen, wie Wahlenberg gezeigt hat. So wird die grüne Farbe des Extractivstoffs durch Kali gelb, wie aus den Beeren des Rhamnus catharticus und aus den Knospen des Populus balsamifera. Die gelben werden durch Kali roth (oder braunroth), wie aus den Wurzeln der Curcuma, die rothen werden durch das Kali violett, wie beym Fernambukholz, die scharlachrothen werden durch dasselbe Reagens blau, wie der Extractivstoff aus den Blumenblättern des Papaver dubium: die violetten endlich werden dadurch grün, wie der aus den Beeren der Actaea spicata und der aus den Blumen blättern der Viola odorata. Die anfänglich grüne Farbe wird also von dem Kali nach und nach in die gelbe, rothe, blaue, und dann wieder in die grüne umgeändert. Alle diese durch Kali hervorgerufenen Farben werden nicht allein durch Säuren wieder aufgehoben, sondern viele natürliche werden durch die letztern verändert, und zwar in einer umgekehrten Ordnung – also vom Grün zum Blau, Roth u. s. w. grade wie das oben erwähnte Chamaeleon. Um die Art dieser Verwandlung zu begreifen, müssen wir folgendes erwägen. Das Kali wirkt als ein Erreger der Hydrogenisation, woran wir nicht zweifeln können, indem es theils den oxydirenden Säuren entgegengesetzt ist, theils im Lichte, das für die Pflanzen hydrogenisirend ist, oft die Farben in der nehmlichen Ordnung verändert werden, wie durch das Kali. So werden die gelblichen, rothbraun, wie bey dem Extractivstoff aus der Rinde der Alnus, die rothe Corolle der Pulmonaria wird blau u. s. w. Dieses hydrogenisirende Reagens steigert also erst die Oxydation, und durchläuft daher immer die rothe Farbe, die gewöhnlich auch hier hell ist, bis aus dem hellern Roth das Blau hervorbricht. Den umgekehrt en Weg, den des Chamaeleons, nimmt die Säure. Die leisesten Farbenspiele treten beym Anlaufen der Metalle hervor, und zwar hier, nachdem die Anregung hellerer Oxydation zurückgedrängt ist, meist mit denjenigen Farbenfolgen, die unser Freund die monotonen und disharmonischen nennt. Diese haben in der Natur ein höheres Interesse als in der Kunst, weil sie auf die spielende Entstehung hinweisen. So alle Farben des Regenbogens, die in voller Pracht und bogenförmig beym grauen Spiesglaserz hervortreten, weniger deutlich beym Bleyglanze und Eisenglanze. Manchmahl ist helleres Blau mit lichterem Grün und wenig Roth und Gelb sanft verbunden, wie beym Wismuth, Buntkupfererz, Kupferkies; öfters wieder ein dunkles Braun, Blau, Grün und Gelb zusammen, wie vorzüglich prachtvoll bey dem Elbaer Eisenglanz. Das gehärtete Stahl läuft wie Spieskobalt und Kupferglas mit einem blassen Blau und Gelb an. Alle diese Farben sind nun deutlich genug leichte
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Spiele der Oxydation und Hydrogenisation, zwischen dem helleren der angehenden Erblassung und dem dunkleren Metall hervorbrechend, und erregt durch die leichte Beweglichkeit des atmosphärischen Wassers. Der Schwefel daher, der das Wasser in dieser Verbindung vorzüglich leicht zu spannen vermag, macht die Metalle vor allem dafür empfänglich. Die harmonischen Farben kommen zwar selten in der Natur vor, doch auf eine sehr merkwürdige, und die Ansicht unseres Freundes auffallend bestätigende Weise. Nehmlich bey den opalisirenden Fossilien. Der Labradorstein zeigt uns diese Erscheinungen nur unrein, weil bey ihm die Verwitterung, mehr oder weniger versteckt, den Farbenwechsel hervorruft; aber diese ist mit der allmähligen Metamorphose verknüpft, die die monotonen Uebergänge liebt. Am reinsten und lehrreichsten erscheint das Nebeneinanderseyn der harmonischen Farben, und zwar auf eine solche Weise, daß sie sich wechselseitig erheben, und zwischen sich das Universelle der ganzen Reihe, das Grau, hervorrufen, im Opal. Daß das harmonische Farbenspiel des Opal’s aus dem allgemeineren Grau des Wassers hervortritt, leidet keinen Zweifel, denn der Opal liefert eine bedeutende Menge Wasser, und der erstorbene Opal (der Hydrophan) wird wieder belebt durch Eintauchen in Wasser, wodurch das erloschene Farbenspiel wieder erweckt wird. Hier nun zeigt sich eine Spannung des lebendigen Farbenbildes selbst, aus welcher, wie in der Flamme, die Einheit wider die Duplicität hervortritt. Aber wo diese hervortritt entsteht eine wahre Musik, das Thema wird durchgeführt, bis alle Töne sich in eine Harmonie auflösen. Dem brennenden Roth gegenüber erscheint das glänzendste Grün, die ganze Farbenreihe in einen Accord verschmelzend. Als ein ruhiger Durchgangspunct erscheint das mildernde Grau, schnell entstehend und verschwindend: dann bricht das Gelb hervor, und ihm gegenüber, als ein neuer vollständiger Accord, das Blau und Roth im Violett. Nochmahls erscheint, in einem schnell vorbeyeilenden Moment, das Grau, und aus diesem der dritte alles lösende Accord, das Blau, mit gegenüberstehendem Roth und Gelb als Orange. Bescheidener, zurückgedrängt, zeigt sich bey dem gemeinen Opal nur das Spiel des blässeren Blau, mit dem, dem Orange sich nähernden Brandgelb. Das wundersame Spiel des durch die Kieselerde gespannten Wassers reflectirend zu zerlegen, möchte wohl unmöglich seyn. Das müssen wir aber ausdrücklich bemerken, daß die Farbe des stark opalisirenden Fossils, sowohl bey dem edlen als bey dem gemeinen Opal, keinesweges, wie es in den Beschreibungen heißt, weiß, sondern wahrhaft grau ist. Wir schließen die Betrachtung mit einigen kurzen Sätzen und Fragen. Ist nicht das Morgenroth, als die rothe Seite des großen täglich sich bewegenden Farbenbildes anzusehen, das sich in das Helle des Tages hineinwirft;
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der Mittag als das herrschende Gelb, und die Abendröthe als das Violett, das sich in die finstere Nacht hinein verliert? Erhellt nicht die tiefe Bedeutung der Farben schon daraus, daß die höchsten Functionen der Pflanzen von den Farben gefangen genommen sind, und zurücktreten? So duften nicht die Pflanzen mit reinen glänzenden Farben, und bey den duftenden Blüthen erscheinen die Farben bescheidener, verlieren sich mehr oder weniger in das unendliche, unbestimmte Grau. Man vergleiche die Tulpen mit den Nachtviolen. Selbst bey den bunten Nelken sind die Farben trübe und unrein. Ist nicht auf einer höheren Stufe der Gesang der Vögel, was der Duft der Blüthen ist? Und auch dieser verstummt, wo das glänzende, mit reinen blendenden Farben geschmückte Gefieder hervortritt. Daher sind die Singvögel häufiger gegen Norden, wo das Gefieder weniger glänzend, matter, sich in Grau verliert. Man vergleiche unsere Nachtigallen und Lerchen mit den Papageyen. Tritt nicht in der großen Farbenmusik des Totalorganismus, das Grün der Pflanzen dem Roth der höheren Thiere gegenüber, wie in dem harmonischen Farbenspiel des Opals? Bey den höheren Thieren tritt das prismatische Farbenbild in dem arteriellen und venösen System hervor. Die universelle Verfinsterung ist zurückgedrängt, sucht höchstens in dem Pfortadersystem der vegetativen Bauchhöhle sich hervorzudrängen; aber die weiße Farbe ist, als ein innerer allgemeiner Tag, und allem Wechsel entzogen, in dem Nervensystem aufgegangen. Die allgemeine weiße Farbe deutet, besonders bey dem Menschen, auf die Erstarrung des ruhigen Todes, die rothe Farbe auf eine krankhafte, tödtende Beweglichkeit. Die innige Verschmelzung und geordnete Temperatur beyder ist die höchste Gesundheit und Schönheit. Was wir geleistet haben ist wenig, viele Probleme sind nicht gelöst, kaum berührt. Mancher Zweifel ist noch zu heben, und Widersprüche werden entstehen, die wir zum Theil ahnden. Indessen glauben wir den rechten Weg nicht ganz verfehlt zu haben. Einige Accorde sind angeschlagen, und es ist die ganze Natur, die wiedertönt. Aber schüchtern treten wir zurück vor jener feurigen wechselnden Gluth der Abend- und Morgenröthe, vor jenen Farben, die, wie ein stummes Geheimniß in den mannichfachen Blüthen ruhen, durch die edlen Steine in der verborgenen erstarrten Masse der Erde festgehalten werden, vor jenem unendlichen wogenden Farbenmeer, das in räthselhaften Verschlingungen aus Luft, Meer, Erde, Thieren und Pflanzen, uns da vor allem, wie eine alle Töne in einen gemeinsamen Accord auflösende Musik, entgegentritt, wo die Natur, am lebhaftesten erregt, in heißer Begeisterung auf allen Saiten spielt.
Die Autorinnen und Autoren Marit Bergner leitet das DFG-Henrik-Steffens-Briefprojekt am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, sie promovierte zu Henrik Steffens als „politischer Professor“ an der Freien Universität Berlin. Elisabeth Décultot ist Professorin für Neuere Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und leitet dort das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA). Marie-Theres Federhofer ist Professorin für deutsche Literatur und Kulturstudien an der Universität Tromsø – Norwegens Arktische Universität, von 2018 bis 2022 war sie Henrik-SteffensProfessorin am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Daniel Fulda ist Professor für Neuere Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Präsident der International Society for Eighteenth-Century Studies (ISECS). Bernd Henningsen ist em. Professor am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und war dessen Gründungsdirektor. Norman Kasper ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Jessika Piechocki ist Lehrkraft in der beruflichen Bildung, sie promovierte in Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Jesper Lundsfryd Rasmussen ist Carlsberg Reintegration Fellow am Institut für Didaktik der Naturwissenschaften (Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte) der Universität Kopenhagen, er promovierte an der Universität Freiburg und der Syddansk Universitet in Odense zu Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Anna Sandberg ist Associate Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Kopenhagen.
Personenregister Abildgaard, Nicolai 116 Arnim, Achim von 4, 73, 85 Baggesen, Jens 105 Baudissin, Caroline 106 Beaumont, Léonce Élie de 57 Berger, Ludwig 115 Bernadotte, Jean-Baptiste 143 Bernstorff, Andreas Peter von 105 Bjornerud, Marcia 10 Blanc, Ludwig Gottfried 153–155 Blumenbach, Johann Friedrich 29 Bobé, Louis 100, 107f., 113 Boie, Heinrich Christian 106 Böhme, Jacob 119, 224f. Bonaparte, Jérôme 138, 148 Bonaparte, Joseph 153 Börne, Ludwig 71, 74 Boué, Ami 57 Brandes, Georg 111 Brentano, Clemens 4, 74, 85, 151 Brøndsted, Peter Oluf 105 Brongniart, Alexandre 57 Brun, Constantin 105 Brun, Friederike 105 Brun, Malthe Conrad 103 Buckland, William 31, 35 Bugge, Thomas 21 Bülow, Hans von 178, 184, 186–188, 190f., 202, 210f., 214f. Burnet, Thomas 29f., 39, 44
Dietrich, Friedrich Carl Benjamin 194, 198, 201f., 217 Dilthey, Wilhelm 100f. Düffer, Johann Friedrich Christian 193, 198– 202, 217 Dyrmann, Kristine 108, 113 Eberhard, Johann Peter 196, 200 Eberhard, Johann August 211, 219 Eichendorff, Joseph von 74, 85, 137 Engberg, Jens 108 Engelhardt, Dietrich von 19, 34, 164 Ersch, Johann Samuel 195f., 211, 219f. Euler, Leonhard 223 Fichte, Johann Gottlieb 5, 105, 160f., 224 Forchhammer, Johan Georg 58 Forster, Johann Reinhold 180, 196 Fouqué, Caroline de la Motte 148 Francke, August Hermann 72 Frantz, Johann August Wilhelm 189 Franz II. 137 Frederik VI. 89 Frederik, Prinzregent 89 Friedrich Wilhelm III. 156, 181 Fritscher, Bernhard 163 Froriep, Ludwig Friedrich von 146
Caravaggio, Michelangelo Merisi da 223 Carus, Carl Gustav 25f., 35–39, 41f. Casanova, Giovanni Battista 121 Chakrabarty, Dipesh 164 Châsot, Ludwig Egmont Adolph Graf von 153f. Claudius, Matthias 106 Cronstedt, Axel 16 Cuvier, Georges 16, 29, 32f., 35, 57
Gaß, Joachim Christian 141, 143 Gerhard, Carl Abraham 192, 201, 216f. Gerhard, Johann Carl Ludwig 177, 191f., 194, 201 Germar, Ernst Friedrich 200 Gilbert, Ludwig Wilhelm 196, 198, 211, 217, 222 Gneisenau, August Neidhart von 153 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 38, 73, 81, 85, 89, 124–128, 138, 150, 165f., 223– 227, 229–231, 240f. Goldhagen, Johannes Gottlieb 180, 196 Grimm, Jacob 4, 83, 137 Grimm, Wilhelm 4, 83, 137, 151f.
Dahlmann, Friedrich Christoph 137 Darwin, Charles 227 De la Beche, Henry 57
Haberkorn, Michaela 176 Habermas, Jürgen 98 Hardenberg, Friedrich von 4, 73, 81, 172
https://doi.org/10.1515/9783111358826-015
250 | Personenregister
Hare, Julius Charles 50f., 53f., 65 Hartmann, Ferdinand 115 Haüy, René-Just 199 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 165 Heiberg, Peter Andreas 103 Henningsen, Bernd 102 Herder, Johann Gottfried 81, 105, 224 Herz, Henriette 71 Hoffmann, Friedrich 180, 196, 200 Horkel, Johann 148, 195, 219 Hultberg, Helge 165 Humboldt, Alexander von 41, 49, 100 Humboldt, Wilhelm von 5, 139, 159, 161, 165, 168 Jacobi, Friedrich Heinrich 54, 106, 145 Jean Paul (= Johann Paul Friedrich Richter) 73, 104 Jordheim, Helge 17, 28, 47 Juel, Jens 115 Kant, Immanuel 14, 46f., 52, 65, 89, 223f. Keferstein, Christian 2, 201f. Kierkegaard, Søren 49, 165 Klaproth, Martin Heinrich 15 Klee, Paul 228 Klein, Ursula 203 Klitgaard-Povlsen, Karen 99 Klügel, Georg Simon 195, 197, 199, 202, 211, 220f. Konopaks, Christian Gottlieb 143 Kosegarten, Ludwig Gotthard 119 Koselleck, Reinhart 159 Kuwasseg, Josef 39–42 Laube, Heinrich 167 Laudan, Rachel 44 Lavater, Johann Caspar 105 Lavoisier, Antoine Laurent de 11 Leonardo da Vinci 122, 124, 231 Leonhard, Gustav 57 Loder, Justus Christian von 71 Lorrain, Claude 117 Lyell, Charles 16, 19, 44f., 49–53, 55–59, 61–65 Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich 190f., 195, 211f., 219
Meding, Franz August von 176, 191, 216 Mengs, Anton Raphael 121 Molbech, Christian 111 Møller, Poul Martin 165 Møller, Jacob Nicolai 179 Mollweide, Carl Brandan 199 Müller, Johannes von 146, 178, 182–187, 191f., 201, 214 Mynster, Jacob Peter 105, 111f. Napoleon I. 1, 70, 84, 89–92, 95f., 112, 137– 139, 143, 145, 153, 155, 159f., 162, 168, 175, 182, 203, 209f. Newton, Isaac 124–127, 223–225, 229 Niebuhr, Georg 50–55, 139 Niemeyer, Agnes Wilhelmine 72 Niemeyer, August Hermann 72, 147, 178, 186–190, 193, 210–212 Nipperdey, Thomas 91 Novalis, s. Hardenberg, Friedrich von Oehlenschläger, Adam 4, 73, 100, 105, 108, 137, 150f., 226 Ørsted, Børge 111 Ørsted, Hans Christian 11, 44–46, 50, 58, 105 Omalius d'Halloy, Jean Baptiste Julien d’ 57 Paletschek, Sylvia 167 Paul, Fritz 100, 109 Perthes, Friedrich Andreas 55, 223 Petersen, Richard 176 Pfaff, Christoph Heinrich 104 Prange, Christian Friedrich 194, 217 Raffael 117 Rahbek, Kamma (= Karen Margrethe) 99, 109–114 Rahbek, Knud Lyne 102, 109, 111 Raumer, Karl Georg von 4, 74f., 181, 200 Reichardt, Johann Friedrich 4, 69, 71, 73f., 81–87, 91–94, 96, 137, 140, 147f., 151 Reil, Johann Christian 4, 69, 71, 81 Reimer, Georg Andreas 142, 153f. Reventlow, Christian Detlev Frederik von 105 Reventlow, Johann Ludwig von 106, 113 Reventlow, Julia von 106, 113 Rist, Johann Georg 107f.
Personenregister | 251
Rosa, Salvatore 117 Rüdiger, Johann Christoph Christian 198 Rudwick, Martin J. S. 44, 51f., 54 Runge, Philipp Otto 115–133, 149, 223–227 Scharnhorst, Gerhard Johann David von 139, 153 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 1, 3–5, 9–11, 17, 19–21, 43, 46–50, 52, 54–56, 59, 64f., 120, 145f., 149f., 159, 161, 165, 168, 170f., 177, 225f. Schiewe, Jürgen 98 Schiller, Friedrich 81, 224 Schimmelmann, Charlotte 99, 104f., 107–111, 113 Schimmelmann, Ernst 105–108 Schimmelmann, Heinrich Carl 105 Schlegel, August Wilhelm 85, 224 Schlegel, Dorothea 87 Schlegel, Friedrich Wilhelm 20, 73, 85, 110, 224 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 1, 4f., 70–72, 74–79, 81, 92, 137, 139–143, 146f., 149, 151–155, 160f., 164, 168–171 Schmalz, Anton Heinrich Theodor 147 Schmieder, Karl Christoph 193, 198, 200f. Schnabel, Franz 163 Schultz, Johann Friedrich 199 Seibert, Peter 98 Sibbern, Frederik Christian 164 Sieveking, Johanna Margaretha 145 Siméon, Joseph Jérôme 178, 184, 186–189, 191, 198, 207, 212f., 216 Simmel, Georg 104 Sørensen, Anne Scott 98, 113 Steffens, Clara 70, 141f. Steffens, Johanna, geb. Reichardt 70f., 87, 112, 141 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 153, 169 Stolberg, Louise 106f. Symes, Patrick 227 Thirlwall, Connop 51, 54 Thorvaldsen, Bertel 105 Tieck, Ludwig 4, 85, 115f., 119f., 224f. Titius, Karl-Heinrich 199
Ulbricht, Otto 104 Unger, Franz 39, 41 Varnhagen von Ense, Karl August 76, 85, 137, 139–141, 143 Varnhagen von Ense, Rahel 148 Vater, Johann Severin 181 Voß, Christian Daniel 196f., 221 Voß, Johann Heinrich 73 Werner, Abraham Gottlob 2, 4, 9, 16, 28f., 34, 44, 46, 49, 52, 56–58, 63, 90, 178, 199, 223, 227 Whewell, William 50, 63, 65 Whiston, William 29 Wieland, Christoph Martin 81 Wilhelmy, Petra 98f. Wolf, Friedrich August 71, 81, 147, 166 Woodward, John 29 Zaunstöck, Holger 72 Zittel, Karl Alfred von 28 Zoëga, Georg 105