Heile Seelen: Was macht die Psyche gesund, was macht sie krank 9783666462542, 9783525462546


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German Pages [240] Year 2007

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Heile Seelen: Was macht die Psyche gesund, was macht sie krank
 9783666462542, 9783525462546

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Für Alexander und Katharina

Ulrike Schäfer / Eckart Rüther

Heile Seelen Was macht die Psyche gesund, was macht sie krank

Mit 13 Abbildungen und 13 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-46254-6 Fotos im Buch: © Dr. med. Ulrike Schäfer

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schrift lichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schrift liche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Seele – Psyche – Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ort des Fühlens und Denkens – Gene oder Umwelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Begriffe zur Gehirnstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verschiedenen Hirnstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist bewusst und was ist unbewusst? . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kommunikation der Nervenzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . Gen-Umwelt-Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie bei seelischen Störungen – was passiert dabei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elemente der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist unter Heilung zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist psychische Gesundheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 14 18 21 22 23 25 27 28 28

2. Psychisch gesund – psychisch krank? Psychische Erkrankungen, Syndrome, Psychopathologie . . . . . . . . . . . 31 3. Irren ist menschlich – Irrtümer über psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtum 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 35 36 36 37 38 38 39 39

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Inhalt

Irrtum 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Psychische Erkrankungen – Ich doch nicht! Über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . 43 5. Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen – Erster Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 6. Mehr als nur Reden – Was bewirkt Psychotherapie? . . . . . Was wirkt nun eigentlich in der Psychotherapie? . . . . . . . . Wann ist überhaupt eine Psychotherapie indiziert? . . . . . . Die verschiedenen Psychotherapieverfahren . . . . . . . . . . . . Sonderformen der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entspannungstherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrische, sozialpsychiatrische, psychotherapeutische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoedukation und Selbstmanagement . . . . . . . . . . . . . .

51 52 55 55 61 72 74 75

7. Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . Wirkungen der Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Kombinationsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . Psychopharmakotherapie und Psychotherapie kombiniert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Wen es trifft – spezielle einzelne psychiatrische Störungsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bipolare Störungen (manisch-depressive Erkrankungen) Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypochondrische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatoforme Schmerzstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anpassungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnien) . . . . . . . . . . . Ein- und Durchschlafstörungen bei organischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Behandlung von Erwachsenen mit ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Behandlung begleitender psychischer Störungen . . . . Behandlungen, die nicht helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suchterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisch bedingte psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . .

7 129 141 144 160 163 168 169 183 191 193 194 194 195 204 215 217

9. Tickt die alte Seele anders? Gerontopsychiatrische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Vorwort

Längst haben wir Erkenntnisse, dass seelische (psychische) Befindlichkeiten unsere Gesundheit im Wesentlichen bestimmen. Immer häufiger finden sich in der Presse, in den verschiedensten Medien, Fernsehen, Rundfunk Beiträge zu psychischen Störungen oder Erkrankungen. Immer mehr setzen sich auch in den klassischen medizinischen Disziplinen, wie beispielsweise der Kardiologie, Erkenntnisse durch, dass seelische Faktoren zu einem erheblichen Teil die Erkrankung oder den Erkrankungsverlauf mitbestimmen. Viel zu lange wurde in der Medizin eine einseitige Sicht vertreten – nämlich ausschließlich auf die körperlichen Funktionen. Nach wie vor sind psychische Störungen oder Erkrankungen einem erheblichen Stigma ausgesetzt. Wer psychisch krank ist oder sich psychisch beeinträchtigt fühlt, fürchtet immer noch von der Umwelt als »verrückt« angesehen zu werden. Häufig ist dies der Grund, warum viele Menschen keine adäquate Hilfe in Anspruch nehmen. Ausgrenzung, Etikettierung und Stigmatisierung psychischer Störungen verhindern eine Inanspruchnahme von wirksamen Hilfen. Dem steht gegenüber, dass 41 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland zu Lasten psychischer Erkrankungen gehen. Beispielsweise sind Depressionen in den westlichen Industrienationen eine der häufigsten Erkrankungen. Allein in Deutschland leiden 3 bis 5 Millionen Menschen unter Depressionen. Oder nehmen wir als Beispiel Schlafstörungen – sie sind ein weit verbreitetes Problem, etwa 25 Prozent aller Menschen kennen Schlafstörungen aus eigner Erfahrung. Nicht erholsamer Schlaf führt zu Tagesmüdigkeit, Erschöpfbarkeit und zu einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit im beruflichen Alltag. Neben volkswirtschaftlichen Aspekten, nämlich Belastung des gesamten Gesundheitssystems durch Krankheitstage und Frühbe-

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Vorwort

rentungen, ist der psychisch Erkrankte selbst leidvoll in seiner Lebensqualität eingeschränkt. Meist ist nicht nur er selbst betroffen, sondern seine Angehörigen und seine Familie ebenso. Von vielen psychischen Störungen ist bekannt, dass sie entweder nicht erkannt oder aber nicht ausreichend behandelt werden. Viel zu wenig sind wirksame Therapiemethoden bei den Patienten, aber auch bei den ersten Ansprechpartnern, den Hausärzten, bekannt. Selbst Fachleute wie Psychotherapeuten oder Psychiater verschanzen sich häufig hinter einer einseitigen Sichtweise, schauen nicht über den Tellerrand hinaus und propagieren ein EntwederOder. Insbesondere kommt es immer noch zu Grabenkämpfen zwischen den eher biologisch orientierten Psychiatern und den Psychotherapeuten. Glücklicherweise neigt sich diese Zeit des Schwarz-Weiß-Denkens selbst unter Fachleuten ihrem Ende zu. Zunehmend ist es in der Wissenschaft und längst auch in der Praxis zu der Erkenntnis gekommen, dass psychische Störungen sowohl biologische als auch soziale und psychologische Entstehungsbedingungen haben, die sich auf vielfältige Weise gegenseitig beeinflussen oder verstärken. Entsprechend sind in den letzten Jahren zunehmend multimodale Behandlungsansätze etabliert worden. Es schließen sich keinesfalls mehr klassische medikamentöse Behandlungen und Psychotherapien aus, sondern sie ergänzen einander. Aus neurowissenschaftlichen Untersuchungen ist bekannt, dass Lebenserfahrungen ein Gehirn krank machen können. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass durch Herbeiführung bestimmter Erfahrungen durch Psychotherapie dieses Gehirn wieder gesünder gemacht werden kann. Hierzu gibt es bereits eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen: Durch Psychotherapie können bestimmte neuronale Strukturen (Gehirnstrukturen) tatsächlich verändert werden im Sinne eines Genesungsprozesses. Es ist zu erwarten, dass mit Einsatz modernster bildgebender Techniken weitere hilfreiche Erkenntnisse über die Verzahnung von Neurobiologie und Psychotherapie gewonnen werden. Es bleibt zu hoffen, dass am Ende die Konkurrenz, das Entweder-Oder und die Ignoranz sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite beendet werden.

Vorwort

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Emotionale Prozesse, psychische Störungen, Umgang mit Stress, Erleben von Angst, Depressionen, Schlafstörungen, Reaktionen auf belastende Lebensereignisse – all dies hat eine Entsprechung (Korrelat) im Gehirn, führt zu Veränderungen des Gehirns, welche sowohl pharmakologisch als auch psychotherapeutisch beeinflussbar sind. Anliegen dieses Buches ist es, Betroffenen von psychischen Störungen oder Erkrankungen, aber auch deren Angehörigen und Familien umfassend und verständlich über die derzeit wirksamen Behandlungen zu informieren. Ziel ist es, durch eine umfassende Aufklärung den Betroffenen und ihre Familien zu Experten zu machen, damit eine Hilfestellung auf dem Boden eines partnerschaftlichen Verhältnisses zum Fachmann/zur Fachfrau möglich ist. Aktiver Umgang mit psychischen Erkrankungen oder Störungsbildern setzt Information und Aufklärung voraus. Unser Anliegen ist es, den derzeitigen wissenschaftlichen Stand bei der Behandlung psychischer Störungen zu vermitteln. Es wird nicht darum gehen, die »Wunderpille« oder die »einzig richtige Methode der Psychotherapie« darzustellen, denn weder das eine noch das andere gibt es. Dieses Buch ist dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass sich ein seit Jahrzehnten ausgewiesener wissenschaftlicher Experte psychischer Erkrankungen und eine niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin mit Basis- und Alltagserfahrungen in der Behandlung von psychisch Erkrankten zusammengefunden haben. Wir hoffen, dass es uns gelingt, psychiatrische Störungsbilder oder Erkrankungen vorurteilsfrei den Lesern näher zu bringen, spannende Anregungen zu geben und Mut zu machen, wirksame Hilfen in Anspruch zu nehmen. Ulrike Schäfer Eckart Rüther

1. Seele – Psyche – Gehirn

Vom Ort des Fühlens und Denkens – Gene oder Umwelt? Schon Hippokrates ging davon aus, dass das Gehirn nicht nur Ort des Gedächtnisses und des Denkens ist, sondern auch das Organ, das unsere Gefühle entstehen lässt, Wahrnehmungen verarbeitet und unsere Handlungen steuert. Auch Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, war der Ansicht, dass die von ihm postulierten psychischen Instanzen Ich, Es und Über-Ich irgendwo im Gehirn lokalisiert seien. Waren dies bei ihm noch Vermutungen, so ist es heutzutage dank moderner Technik zur Gewissheit geworden. Darüber hinaus dient das Gehirn zur sozialen Interaktionsfähigkeit. Fühlen, Denken, Handeln eines Menschen haben somit eine klare neurobiologische Grundlage: das Gehirn. Neben erblichen Anlagen (Genetik) sind bei der Entwicklung neuronaler Strukturen (Gehirn) individuelle Verarbeitungsprozesse psychosozialer Erfahrungen (und somit Umwelteinflüsse) von größter Bedeutung. Der alte Streit – Umwelt oder Anlage – gilt als überwunden. Mit Seele (Psyche) sind Identität des Menschen, Zustände und Funktionen wie Fühlen, Befindlichkeiten, Wahrnehmungen, Denken, dem Willen entsprechende Handlungen und der Verstand gemeint. Schon Freud – als einer der Ersten – beschrieb, dass das Gehirn aus untereinander verknüpften Nervenzellen (Neuronen) besteht, die in ihrer Gesamtheit komplizierteste Netzwerke bilden, die – wie wir heute wissen – kein starres System darstellen, sondern – wie kaum ein anderes Organsystem des Körpers – sich stets und ständig je nach äußeren Umständen anpassen und ändern können: Das Gehirn ist im steten Wandel.

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Seele – Psyche – Gehirn

Wenn nun das Gehirn Ort der Gefühle (Emotionen) und Affekte (Befindlichkeiten), Wahrnehmungen, von Gedächtnis, Gedanken und Handlungsplanungen ist, werden wir, wenn wir uns mit seelischen Prozessen beschäftigen wollen – sei es mit den gesunden oder mit den veränderten, krankhaft gestörten, und mit ihrer Behandlung sei es mit Hilfe von Psychotherapie, sei es durch Medikamente –, nicht verhindern können, uns einige grundlegende Kenntnisse über das Gehirn anzueignen. Wenn Ihnen das alles viel zu kompliziert erscheint, reicht dieser Erkenntnisgewinn vielleicht fürs Erste: In der Tat, das Funktionieren des menschlichen Gehirns ist derart komplex, vielseitig und verschaltet, dass es schwierig ist, es einfach und verständlich darzulegen. Das Gehirn ist so kompliziert, dass wir es kaum mit unserem Gehirn begreifen können – das Gehirn versteht sich sozusagen selbst nicht. Es verarbeitet in rasender Geschwindigkeit Milliarden von Informationseinheiten.

Einige Begriffe zur Gehirnstruktur Das Gehirn ist aus drei Arten von Gewebe aufgebaut: die graue Substanz, die weiße Substanz und das Nervenwasser (Liquor). Die graue Substanz besteht aus Nervenzellen (Neuronen). Diese sind die Kommandozellen des Gehirns, im Großhirn existieren etwa 1012 dieser Zellen. Jede dieser Nervenzelle besteht aus einem Zellkern, der die Erbinformation trägt, aus Energieerzeugern (Mitochondrien) und aus kleinen Organen, die Enzyme, Proteine (Eiweiße) und Botenstoffe (Neurotransmitter) herstellen können. Die Produktion dieser Botenstoffe ist sehr wichtig, denn mit ihrer Hilfe kommunizieren die Nervenzellen untereinander. (Dazu später.) Die Nervenzellen sind von kleinen Ästen (Dendriten) umgeben, die es der Zelle erlauben, viele Informationen zugleich zu empfangen. Empfängt ein Neuron genügend Reize, wird die Information als elektrischer Puls seinem Axon (langgezogener Nervenzellfortsatz) entlang weitergegeben. Damit dies schnell geschehen kann, ist das Axon von einer Isolierschicht (Myelin) umgeben, die zu einer Lei-

Einige Begriffe zur Gehirnstruktur

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Abbildung 1: Aufbau einer Nervenzelle

tungsgeschwindigkeit von ca. 20 bis 60 Metern pro Sekunde führt. Die Axone ermöglichen den Nervenzellen, über lange Distanz hinweg zu kommunizieren. Die Axone mit den Myelinscheiden bilden die weiße Substanz des Gehirns. Am Ende des Axons wird der elektrische Impuls mit Hilfe der Neurotransmitter auf die nächste Nervenzelle weitergegeben, indem sich die Botenstoffe an so genannte Bindungsstellen (Rezeptoren) legen. Die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen heißen Synapsen. Die Aktivität der Neurone führt auch zur Aktivierung des

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Seele – Psyche – Gehirn

Zellkerns und darüber zur Bildung von Eiweißen aufgrund der genetischen Informationsablage im Zellkern. Das führt dann zur Ausbildung von Dendriten und Synapsen. Das heißt: Aktivitäten (Reize) führen zur Bildung von Hirnstrukturen und Hirnstrukturen beeinflussen wiederum die Aktivitäten. Es besteht – und zwar lebenslang! – Formbarkeit (Plastizität) des Gehirns. Ein Wechselspiel zwischen Vererbung und Umwelt. Je nach Aufgabe werden verschiedene Arten von Neuronen unterschieden: sensorische, motorische Neurone und Interneurone. Die sensorischen Neurone sind für Informationen für die Sinnesverarbeitung (Sehen, Hören, Riechen, Tasten …), die motorischen Neurone sind für die Bewegung der Muskeln und Drüsen zuständig, während die Interneurone, auch Projektionsinterneurone genannt, für Informationsübermittlungen über große Instanzen im Gehirn sorgen. Sie stellen die größte Anzahl der Nervenzellen dar. Interneurone führen zur Aktivierung oder Hemmung andere Neurone. Sie sind für Erinnerung, Bildung von Assoziationen und Lernen immens wichtig. Neurone und Interneurone sind Grundlage des komplexen Netzwerks Gehirn. Durch die immensen Wechselwirkungen, Rückkopplungswege und Vielfältigkeiten der Verschaltungen, durch die Fähigkeit des Gehirns, sich selbst stets anzupassen, zu ändern, Aktivitäten in bestimmten Regionen zu steigern oder zu hemmen, ist einerseits eine lebenslange Formbarkeit und Lernen möglich, andererseits auch die Individualität des Gehirns bedingt. Es ist sicher, dass kein Gehirn wie ein zweites arbeitet! Diese unglaubliche Komplexität ist Grundlage unserer vielfältigen Denk- und Handlungsmöglichkeiten, unserer individuellen Gefühle und somit unserer einzigartigen Persönlichkeit. Die Oberfläche des menschlichen Gehirns ist »runzelig« gefaltet. Auf diese Weise ist es der Natur im Lauf der Evolution gelungen, möglichst viele Neurone in unseren Schädel hineinzupacken, ohne dass dieser zu groß würde. Von allen Sinnesorganen gelangen etwa 2,5 Millionen Nervenfasern (Axone) ins Gehirn. Jede dieser Fasern gibt bis zu 300 Impulse pro Sekunde ab. Die Nervenfasern, die das Gehirn verlassen, betragen etwa 1,5 Millionen. Neurone werden bereits in der Schwangerschaft im großen Umfang gebildet (in der 8. bis 25. Schwangerschaftswoche), mit

Einige Begriffe zur Gehirnstruktur

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einer Geschwindigkeit von etwa 250.000 Neuronen pro Minute. Sie begeben sich dann auf »Wanderschaft« je nach ihrer Bestimmung (Infektionen während der Schwangerschaft können diesen Prozess beeinträchtigen). Sobald die Neurone an ihrem Platz im Gehirn angekommen sind (zum Zeitpunkt der Geburt), werden Verbindungen untereinander geknüpft. Das Auswachsen der Dendriten ist in den ersten Lebensjahren besonders aktiv, dauert aber das ganze Leben an. Die Synapsenbildung erfolgt in der Zeit von der 15. Schwangerschaftswoche bis zum 3. Lebensjahr. Werden Synapsen nicht verwendet, sterben sie ab. Das geschieht zwischen dem 3. bis 19. Lebensjahr, vom 19. Lebensjahr an bis zum Lebensende findet ein ständiger Auf- und Abbau der Synapsen statt. Synapsen, die wenig oder gar nicht benutzt werden, sterben ab, die, die viel benutzt werden, verstärken sich. Je nach individueller Erfahrung kann es zu einer Verstärkung oder Abschwächung der Verbindungen kommen. Somit geschieht durch die Verarbeitung der Ereignisse eine Wandlung im Nervensystem oder anders ausgedrückt: Die Strukturierung des Gehirns durch Erfahrung führt zur Verfestigung. Das Gehirn ist somit ein Informationsverarbeitungssystem, das sich selbst strukturiert je nach Interaktion und Erfordernis durch die Umwelt. Die Gehirnentwicklung eines jeden Individuums wird durch physische und psychische Erfahrungen gestaltet. Jede Erfahrung, jede Wahrnehmung, jedes Denken und Fühlen führt zu Aktivierungen im Gehirn, die Spuren hinterlassen – kleine Veränderungen im Gehirn. Das bedeutet aber auch, dass das Gehirn eines jeden von uns individuell ist, keines dem anderen gleicht, denn jeder Mensch macht seine eigenen Erfahrungen und diese hinterlassen individuell im Gehirn eines jeden eigene Spuren. Umwelterfahrungen beeinflussen die Gehirnentwicklung. Dabei werden kritische Perioden deutlich: So bilden sich bestimmte neuronale Zentren (zum Beispiel das Sehzentrum) in bestimmten Entwicklungszeiten. Fehlen zu dieser Zeit entsprechende Reize, so können diese Nervenzellen nicht gebildet werden. Ähnliches gilt für das Sprachzentrum. Aktivitätsabhängiges Lernen, psychische und biologische Umwelteinflüsse bewirken Veränderungen des Gehirns. Auch über-

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Seele – Psyche – Gehirn

wältigende Erfahrungen (zum Beispiel Traumata) führen zu Veränderungen im Gehirn.

Die verschiedenen Hirnstrukturen Hirnstrukturen werden unterschieden in Großhirn (linke und rechte Gehirnhälfte, die über das Corpus callosum verbunden sind), Kleinhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn und Brücke. Parietallappen (Scheitel)

Frontallappen (Stirnhirn)

Okzipitallappen

Kleinhirn Temporallappen

verlängertes Rückenmark

Brücke

Abbildung 2: Hauptregionen des Gehirns (Schema)

Zwischenhirn und Basalganglien Mittelhirn

Die verschiedenen Hirnstrukturen

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Tabelle 1: Die wichtigsten Hirnregionen und ihre Funktionen Hirnregion

Funktion

Kortex (Rinde)

graue Substanz

Neokortex (neue Rinde)

jüngere Rindenareale

Corpus callosum (harter Körper)

verbindet die zwei Hirnhälften

Hippocampus (Seepferdchen)

Gedächtnis

Amygdala (Mandelkern)

emotionales Gedächtnis

limbisches System (Randstreifensystem)

reguliert Appetit, Emotionen und Gedächtnis

Nucleus accumbens (wörtlich: daneben liegender Kern)

reguliert Emotionen

Thalamus (Ehebett)

hat zentrale Filter- und Schaltfunktionen

Hypothalamus (unter dem Ehebett)

reguliert Triebe und vegetative Funktionen

Zerebellum (Kleinhirn)

Koordination von Bewegungen, Denken und Fühlen

Diese Tabelle ist nicht vollständig, benennt aber die wichtigsten Hirnstrukturen.

Die Hirnrinde ist unterteilt in verschiedene Gebiete, die spezifische Aufgaben erfüllen. Die Aufgaben der Hirnrinde sind Bedeutungsverarbeitung, Aktionen planen und Eindrücke verarbeiten. Bewegungen vorbereiten

Muskelbewegungen

Körperempfindungen

Planen, Denken

Sprechen

Hören Sehen

Gefhühle, Erinnerungen Kleinhirn Rückenmark

Abbildung 3: Funktionen der Hirnrinde (vereinfachtes Schema)

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Seele – Psyche – Gehirn

Auf zwei Hirnsysteme sei an dieser Stelle besonders eingegangen: Das präfrontale System (präfrontaler Cortex = Frontallappen = Stirnhirn). Es macht etwa ein Drittel der Großhirnrinde des Menschen aus und ist für das abstrakte Denken, Problemlösen und zeitliche Strukturieren von Verhalten von besonderer Wichtigkeit. Es stellt zugleich unsere moralische Instanz dar und entspricht dem von Freud postulierten Über-Ich oder auch dem Gewissen. Hier wird bewertet, für gut oder schlecht befunden. Enge Verbindungen bestehen zu einer weiteren wichtigen Hirnstruktur: dem limbischen System. Dies ist der Ort der Emotionen, in etwa das Es bei Freud, Ort der Überlebenstriebe. Während das Frontalhirn entwicklungsgeschichtlich die jüngste Region der Großhirnrinde ist, stellt das limbische System eine ältere Struktur dar. Zwischen beiden Regionen bestehen zahlreiche Verbindungen. Aufgabe des limbischen Systems sind das Erleben und die Regulation von Emotionen. In diesem limbischen System fließen Informationen aus vielen anderen Hirnregionen ein, so zum Beispiel aus dem Gyrus cinguli, aus dem Hippocampus, aus dem Hypothalamus und dem Thalamus. Grundlegende körperliche Funktionen wie Durst, Hunger, sexuelle Impulse werden vom limbischen System aus reguliert. Weitere Aufgaben sind das Reagieren auf Umweltreize, Verarbeiten emotionaler Erfahrungen und das Verknüpfen mit Erinnerungen. Der Mandelkern (Amygdala) ist besonders als Schaltzentrale bei Angstreaktionen wichtig. Der Hypothalamus ist das Kontrollzentrum für Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Sexualverhalten, Schlaf- und Wachzustand, Temperatur- und Kreislaufregulation, Angriffs- und Verteidigungsverhalten. Der Hippocampus ist der Organisator für das Gedächtnis unter Einbezug komplexer Verschaltungen von Amygdala, Hypothalamus, Rahpe-Kernen und Locus coeruleus, Nucleus accumbens. Der Nucleus accumbens wird als Ort des Belohnungssystems angesehen. Er wird dann aktiviert, wenn ein Ereignis besser als erwartet ausfällt. Die Hirnstrukturen sind untereinander vielfach verschaltet, vernetzt, und stehen in ständiger Wechselwirkung. Darum kann die Frage nicht lauten: Gefühl oder Verstand? Emo-

Was ist bewusst und was ist unbewusst?

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tionen sind nicht Gegenspieler des Verstands, sondern stehen in sich ergänzenden und verzahnenden Bedingungen zueinander. Nur in Ausnahmesituationen, wenn das hochkomplexe System aus den Fugen geraten ist, die notwendige Feinabstimmung nicht mehr funktioniert, können Gefühle die Überhand gewinnen und zur alleinigen Steuerung des Verhaltens führen. Die kognitive Kontrolle, die Vernunft, ist dann sozusagen abgeschaltet. (Bei Patienten mit Stirnhirntumoren oder Schlaganfällen in dieser Region kann es beispielsweise dazu kommen.)

Was ist bewusst und was ist unbewusst? Unter Bewusstsein können Zustände verstanden werden, die von einem Menschen erlebt werden wie zum Beispiel Sinneswahrnehmungen, geistige Tätigkeiten wie Denken, Vorstellen, Erinnern, Gefühle, Bedürfnisse, Erleben der eigenen Identität, Kontrolle der eigenen Handlungen, Erleben des eigenen Körpers in Zeit und Raum, die Fähigkeit, zwischen Realität und Vorstellung zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu wird das Unbewusste abgegrenzt: Erlebnisse, die bewusst waren, aber ins Unbewusste abgesunken sind, unterschwellige Wahrnehmungen, Vorgänge in Gehirnregionen außerhalb der Großhirnrinde, alle Prozesse, die im Gehirn des Fötus, des Säuglings und Kleinkindes vor Ausbildung des assoziativen Cortex (Teil der Hirnrinde) abgelaufen sind. In der derzeitigen Hirnforschung wird davon ausgegangen, dass unbewusste Gehirnvorgänge wirksam sind und die bewussten Vorgänge beeinflussen. Besonders Aktivitäten des limbischen Systems sind dabei von Bedeutung. Unbewusst arbeitende limbische Aktivitäten wirken auf unser Bewusstsein in Form von positiven oder negativen Gefühlen, Gedanken und Assoziationen. Auch hier kommt es zum Übereinstimmen alter freudscher Theorien (das Unbewusste lenkt unser Handeln stärker als unser bewusstes Ich) und moderner neurobiologischer Psychiatrie.

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Seele – Psyche – Gehirn

Die Kommunikation der Nervenzellen Die »Sprache« der Nervenzellen, ihre Verständigung untereinander, wird mit Hilfe chemischer Botschaften vollzogen. Die chemischen Kuriere – Neurotransmitter genannt – übermitteln Informationen. Die Neurotransmittersysteme (Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, Acetylcholin, GABA, Glutamat) sind in den verschiedenen Orten des Gehirns unterschiedlich verteilt und wiederum vielfältigst miteinander verwoben, so dass eine großartige, fein abgestimmte Organisation des Gehirns möglich ist. Dennoch sind bei einigen psychischen Erkrankungen Fehlfunktionen verschiedener Botenstoffe anzunehmen, beispielsweise eine Dopamin-Störung bei der Schizophrenie (siehe Seite 153ff.), Noradrenalin-Stoffwechselstörung und Serotonin-Störungen bei Depressionen und Angsterkrankungen (siehe Seite 114, 135). Andererseits muss betont werden, dass das Noradrenalin- und das Serotonin-System eher eine modulierende Funktion haben und insbesondere bei der Regulierung von strukturellen Veränderungen (Auf- und Umbau neuronaler Verschaltungen) und Reorganisationsprozessen im Gehirn sowie während der Gehirnentwicklung als auch im Erwachsenengehirn mitwirken. Serotonin hat also mehr als nur Überträgerfunktion. Ferner kommt es zu wechselseitigen Beeinflussungen des Serotonin-Systems mit dem Noradrenalin-System. Diese Wechselbeziehungen sind bei medikamentöser Beeinflussung, zum Beispiel durch selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI, siehe Seite 91ff.), zu berücksichtigen. Das Acetylcholin-System hat besondere Bedeutung bei der Speicherung von Gedächtnisinhalten. Das dopaminerge System ist besonders für die Bewegungssteuerung nötig.

Gen-Umwelt-Problematik

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Zusammenfassung: Nach aktuellem Wissensstand ist das Gehirn aus weit verzweigten Schaltkreisen zusammengesetzt. Was immer wir tun (Verhalten), denken, fühlen – es kommt von Aktivitäten verschiedenster Hirnregionen und führt gleichsam zu Aktivitäten in Hirnregionen. Die Komplexität des Gehirns ist vergleichbar mit einem Symphonieorchester. Nur durch ein fein abgestimmtes Zusammenspiel entsteht eine wohlklingende Musik. Ein jeder von uns spielt individuell seine eigene komplexe Symphonie, die er zugleich komponiert und selbst dirigiert. Unser Gehirn ist das Ergebnis unserer Erfahrungen, es ist einmalig und einzigartig und macht den individuellen Menschen in seiner Persönlichkeit aus.

Gen-Umwelt-Problematik Gerade bei der Beschäftigung mit seelischen Befindlichkeiten und gar mit psychischen Erkrankungen sind wir häufig mit dem Problem konfrontiert, was durch die genetische Anlage oder was durch die Umwelt verursacht ist. Umwelt und genetische Anlagen sind keine Konkurrenten, die ein Entweder-Oder erzwingen. Dies ist ein altes Vorurteil, mit dem es aufzuräumen gilt. Die Genetik liefert nicht einen vollständigen Plan, sie bestimmt nicht, wie das Leben – ob mit oder ohne Erkrankung – abläuft. Sie legt uns nicht fest, determiniert uns nicht. Natürlich sind wir Menschen bei der Geburt nicht leer, nicht eigenschaftslos. Wir bringen individuelle genetische Anlagen mit. Aber unsere Gene besitzen eine hohe Flexibilität, die es uns im Lauf unserer Entwicklung ermöglicht, uns je nach Bedürfnissen der Umwelt anzupassen. Wie das Gehirn das macht, haben wir bereits erläutert. Genetische Ausstattung kann in gewissem Maß eine Verletzlichkeit (Vulnerabilität) oder Robustheit bedingen, die uns je nach Umwelt und Lebensereignissen anfälliger oder immun machen kann. Häufig wird eine Erkrankung nicht direkt vererbt, sondern nur das Risiko dafür. Je nach Lebensereignissen steigt oder sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankung ausbricht. Die Frage, ob

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nun Umweltereignisse oder Genetik wichtiger seien, beantwortet der Physiologe Donald O. Hebb so: »Was ist einem Rechteck wichtiger – die Länge oder die Breite?« Dieses Modell gilt für viele psychische Erkrankungen. Zusammenhänge von Stress, Verlusterfahrung, Trauma mit psychischen Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen sind in der so genannten Life-event-Forschung untersucht worden. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen, die auf ungünstige Ereignisse beispielsweise mit Depressionen reagieren, anlagebedingt eine erhöhte Verletzbarkeit aufweisen. Dagegen sind andere Menschen ohne diese Vulnerabilität trotz widriger Lebensereignisse nicht aus der Bahn zu bringen. Beim Beispiel der depressiven Erkrankung ist inzwischen bekannt, dass Umwelt und Genetik interagieren. Mit Hilfe moderner Untersuchungstechniken wurde aufgezeigt, dass diese Veranlagung mit einer Fehlfunktion des SerotoninSystems in Verbindung steht. Genetische Untersuchungen zeigen, dass diese Menschen ein verändertes Serotonin-Transporter-Gen haben (Serotonin-Transporter = Wiederaufnahmeeiweiß, das für den Rücktransport des Serotonins in die ursprünglich ausschüttende Zelle sorgt). Das Auftreten von depressiven Beschwerden bei zusätzlich bestehenden widrigen Lebensereignissen hängt von dieser genetischen Veranlagung ab. Das heißt aber auch unmissverständlich: Die Genetik allein bestimmt nicht, wie das Leben abläuft, sondern erst durch die vielfältigen Wechselwirkungen mit der Umwelt werden wir zu dem, was wir sind. Weder die Genetik allein noch die Umwelt allein legen uns fest! Für unsere Entwicklung ist das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren von entscheidender Bedeutung. Aber genau darin liegt die Freiheit unserer individuellen Geschichte. Wir sind nicht Spielball unserer Umwelt und nicht die Marionetten unserer Gene. Und hierin liegt auch eine große Chance: Wissen wir um die Vulnerabilität, so können wir uns darauf einstellen und entsprechende Gegenregulationsmaßnahmen treffen. In anderen Bereichen der Medizin ist das schon längst Wirklichkeit: Der vererbten Anlage zum gestörten Blutfettstoffwechsel, der mit einer Erhöhung des Cholesterins einhergeht und das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte erhöht, begegnen wir mit einer entsprechenden Diät

Psychotherapie bei seelischen Störungen – was passiert dabei?

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und Medikamenten und lassen keinesfalls der genetischen Veranlagung ihren schicksalhaften Verlauf. Ein weiterer komplexer Zusammenhang entsteht durch die Tatsache, dass die Gene, die wir in all unseren Zellen unseres Körpers tragen (Ausnahme: die roten Blutkörperchen), nicht grundsätzlich »angeschaltet«, also aktiviert sind. Von den Umständen, Lebensereignissen, den Wechselwirkungen mit der Umwelt ist es abhängig, ob sie passiv oder aktiv, ab- oder angeschaltet sind. Fachleute nennen dies die Genexpression. Die Möglichkeit der Gene, flexibel zu reagieren durch »An« oder »Aus«, rettet uns vor genetischem Determinismus. Forschungsbemühungen um die Regulation der Genexpression werden uns Hinweise auf Krankheitsursache und möglicherweise auch Behandlungen geben können. Genregulationen durch Stress oder Hormone sind bereits bekannt. Zusammenfassend ist festzustellen: Veranlagung (Gene) sind keine starren Strukturen, die uns orakelhaft bestimmen. Sie stehen in ständiger Wechselbeziehung zur Umwelt und sind einem ständigen dynamischen Prozess unterworfen, in dem sie mit Flexibilität und Plastizität reagieren – ähnlich wie es auch das Gehirn tut.

Psychotherapie bei seelischen Störungen – was passiert dabei? Jedes Ereignis und jede Erfahrung eines Menschen hinterlassen in seinem Gehirn Spuren, die zu Veränderungen seiner Gehirnaktivität und Struktur führen können – mehr oder weniger, je nach individueller Lebenssituation und genetischer Veranlagung. Alle Leistungen des Gehirns (Vernunftbotschaften, Bewertungen, Gefühle, Sinneswahrnehmungen, Bewegungen usw.) sind Funktionen von Neuronennetzwerken, die als Produkt der Wechselwirkungen von Anlage und Umwelt beziehungsweise Erfahrung zu verstehen sind. Psychische Erkrankungen beruhen auf funktionsbeeinträch-

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tigten Veränderungen dieser Neuronennetzwerke, insbesondere im limbischen System, sei es durch anlagebedingte Vulnerabilität (Verletzbarkeit), vorgeburtliche, frühkindlich erworbene oder im späteren Lebensalter erlittene Beeinträchtigungen körperlicher oder seelischer Natur. Diese gestörten Veränderungen können zum Beispiel eine erhöhte oder erniedrigte Neurotransmitterfunktion (zum Beispiel von Serotonin oder Dopamin) sein. Bildgebende Verfahren zeigen, dass bei psychischen Störungen die Aktivität der Neuronen im limbischen System erhöht oder erniedrigt ist. Ziel der Psychotherapie muss es sein, die seelische Befindlichkeit des Patienten so zu bessern, dass die Fehlfunktionen, etwa der limbischen Neuronennetzwerke, behoben werden. Sowohl Psychotherapie als auch Psychopharmakotherapie versuchen jede auf ihre Art, dies zu tun, indem sie »Spuren« hinterlassen. Mit Hilfe moderner bildgebender Techniken konnte dies gezeigt werden. Wenn wir bei psychischen Beeinträchtigungen oder seelischen Erkrankungen Einfluss nehmen, dass diese Störung durch eine neue Erfahrung, etwa durch neue Erkenntnisse, die der Patient in der Therapie gewinnt, sich bessert, bedeutet dies eine Veränderung der Funktionsabläufe im Gehirn. Psychotherapie kann dann – jedenfalls bei Gelingen – zu Veränderungen von Verhaltensmustern und Emotionen führen, die wiederum mit Veränderungen von Aktivitäten in Neuronen und Synapsen – oder einfacher: in den neuronalen Netzwerken – einhergehen. Psychotherapie erfolgt dann, wenn psychische Störungen mit emotionalen Zuständen wie zum Beispiel Angst oder Traurigkeit einhergehen und zu einem entsprechenden Leidensdruck und Veränderungswunsch bei dem Patienten führen. Psychotherapie erzeugt wiederum selbst Gefühle und aktiviert somit emotionale Strukturen wie Vertrauen und Sicherheit (jedenfalls bei geglückter Beziehung), aber auch Gefühle wie Freude und Stolz oder Angst und Unsicherheit wegen der Veränderung durch den therapeutischen Prozess selbst. Neuere bildgebende Verfahren zeigen die Plastizität (Veränderbarkeit) des Gehirns, die durch eine Psychotherapie bewirkt wird, wenn eine emotionale Restrukturierung und damit neue, gesündere Handlungspositionen erreicht werden.

Elemente der Psychotherapie

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So konnte beispielsweise bei Patienten mit Zwangsstörungen gezeigt werden, dass nach einer Psychotherapie eine Veränderung der neuronalen Verschaltungen möglich war. Es ist davon auszugehen, dass Psychotherapie in vielen Fällen psychischer Störungen geeignet ist, die grundsätzlich vorhandenen Potentiale des Gehirns zu nutzen, um entsprechende Reorganisationsprozesse neuronaler Netzwerke auf der Ebene des Fühlens, Denkens und Handelns auszulösen. Bei unzureichendem Gelingen oder bei ausgeprägten psychischen Störungen sind medikamentöse Behandlungen weitere Möglichkeiten, dieses plastische Potential des Gehirns zu reaktivieren. So können beispielsweise Dysbalancen im Neurotransmittersystem durch langfristige Gabe von Serotonin- oder Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern ausgeglichen werden und zur Harmonisierung führen, die dann zur Folge hat, dass die Patienten weniger anfällig auf Stress oder andere psychische Belastungen reagieren.

Elemente der Psychotherapie Bedeutsam für das gute Gelingen einer Psychotherapie ist die Aufnahme einer guten, von Vertrauen, Wärme, Echtheit und Toleranz geprägten Patienten-Therapeuten-Beziehung, die es dem Patienten ermöglicht, Zuversicht darin zu entwickeln, sein psychisches Befinden zu verändern. Dies setzt auf Seiten des Patienten den Wunsch und den Willen zur Veränderung voraus. Erarbeiten wichtiger Erkenntnisse des psychischen Leidens und Auflösen erhärteter und verfestigter Erlebens-, Wahrnehmungsund Verhaltensmuster und Ermöglichen alternativer emotionaler Erfahrungen und Gedanken sowie Entwicklung von Autonomie sind wesentliche Bestandteile der Psychotherapie. Ziel der Psychotherapie – gleich welcher Richtung – ist die Heilung.

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Seele – Psyche – Gehirn

Was ist unter Heilung zu verstehen? Unter Heilung werden Prozesse verstanden, die in der Lage sind, die Krankheitsursachen zu beheben. Dies kann einerseits durch Abbau und Behebung der Krankheitssymptome und negativer Verhaltensweisen geschehen und andererseits durch Aufbau und Förderung positiver Verhaltensweisen und Integration und Stärkung des Ich sowie Auf- oder Ausbau einer Autonomie. Damit verbunden sind bewusstseinsbildende und lebensqualitätserhöhende Maßnahmen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit.

Was ist psychische Gesundheit? Unter psychischer Gesundheit wird meist verstanden: – Gefühl seelisch-körperlichen Wohlbefindens, – Selbstverwirklichung, Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten, – positives Selbst- und Fremdbild, Wertschätzung, – Gute soziale Anpassung, gute Rollenbewältigung, gute zwischenmenschliche Fähigkeiten, – realistische Wahrnehmung, – Kontrolle der eigenen Handlungen. Theoretische Überlegungen dazu gehen davon aus, dass jeder Mensch letztlich nach Glück strebe und entscheidend für die seelische Gesundheit die Fähigkeit sei, sein Glück gestalten zu können. Seelische Gesundheit ist also Glücksfähigkeit. Psychotherapie sollte damit die Fähigkeit zum Glücklichsein ermöglichen. Glück wird als Fähigkeit zum Erleben von Freude, Lebensfreude und Lebenszufriedenheit und subjektivem Wohlbefinden verstanden. Über das Glück gibt es viele Philosophien. Für die Psychotherapie relevant ist, dass sich Glück möglicherweise einstellt beim Erfüllen selbst gewählter Aufgaben, die zur Sinnerfüllung führen:

Was ist psychische Gesundheit?

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schöpferisch sein, sich Menschen zuwenden sowie Schicksalsschläge ertragen (Logotherapie nach Viktor Frankl). Andere (zum Beispiel Klaus Grawe) beschreiben zum Erlangen des Glücks oder Lebenszufriedenheit Erfüllung und harmonisches Miteinander der Grundbedürfnisse Orientierung und Kontrolle, Lustgewinn und Unlustvermeidung, Bindung und Selbstwerterhöhung. Ziel der Psychotherapie ist es, diese Grundbedürfnisse zu befriedigen und in Einklang zu bringen. Wie Untersuchungen zeigen, weisen glückliche Menschen eher ein hohes Selbstwertgefühl auf, das Gefühl persönlicher Kontrolle (das Gefühl, das eigene Schicksal selbst in der Hand zu haben), Freude am Umgang mit anderen Leuten, weniger Bereitschaft, sich um alles Sorgen zu machen, und die Fähigkeit, hoffnungsvoll (optimistisch) in die Zukunft zu schauen (vgl. auch das Kapitel über psychologische Modelle zur Entstehung der Depression, Seite 112ff.). Andere fügen dem noch körperliche Gesundheit, hohes Aktivitätsniveau und Energie sowie eine religiöse Einstellung hinzu. Im Umkehrschluss heißt das: In der Psychotherapie wird es darum gehen, unnötige Ängste, Sorgen, negative Selbstbewertungen, übertriebene Zweifel (an sich und an der Zukunft) zu erkennen, zu bearbeiten und durch andere Gedanken und Gefühle zu ersetzen (vgl. auch das Kapitel über Verhaltenstherapie, Seite 56ff.). Psychische Heilung kann zum Ziel haben, einmal im Leben gesetzte, aber zu eng gewordene Grenzen zu überwinden, Entwicklung von Selbstvertrauen, Mobilisierung von Mut zu Veränderungen, Akzeptanz eigener und anderer Schwächen und Anfälligkeiten und Akzeptanz und Bejahung unveränderbarer Tatsachen. Verkürzt könnte man sagen: trotz aller Widrigkeiten, Enttäuschungen und Schmerzen weiter Mut und Glauben bewahren und darauf vertrauen, dass die Träume nicht vergebens sind. Psychische Heilung bedeutet im Weiteren auch körperlich-sinnliche Lebendigkeit und Fähigkeit zur Liebe, die durch Geduld, Zuverlässigkeit, Verbundenheit, Nähe, Friedfertigkeit, Herzlichkeit, Demut, Vertrauen und Zärtlichkeit gekennzeichnet ist. Psychisch gesund bedeutet dann, eingebunden zu sein in den liebevollen Umgang mit anderen Menschen, wissend um die eigene schöpferische Kraft, die Erfahrung eigener Lebendigkeit und das Bewahren seiner Träume.

2. Psychisch gesund – psychisch krank? Psychische Erkrankungen, Syndrome, Psychopathologie

Psychische Erkrankungen werden aufgrund des Vorliegens eines Syndroms definiert, das heißt, bei verschiedenen klinischen Beschwerden und in Verbindung mit der Vorgeschichte (Anamnese) und dem Verlauf der Beschwerden wird diese oder jene Erkrankung angenommen. Dabei sind Überschneidungen häufig, wie beispielsweise bei Angst und Depression. Syndromale Zuordnung finden sich in der heutigen Psychiatrie in den Klassifikationssystemen der DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) oder in der ICD-10 (International Classification of Mental Diseases). In diesen diagnostischen Manualen werden bestimmte Symptome oder Symptomkonstellationen für die jeweilige Erkrankung als diagnostisches Kriterium aufgeführt. Es handelt sich dabei um rein beschreibende (deskriptive) Definitionen unabhängig von möglichen ursächlichen Faktoren. Ziel dieser diagnostischen Manuale war, eine Vergleichbarkeit und Übereinstimmung zwischen Ärzten zu erreichen, um miteinander zu kommunizieren, zu forschen und Behandlungsstrategien zu vergleichen. Wann immer wir versuchen, komplexe Zusammenhänge – und dies sind psychische Erkrankungen sicherlich – zu vereinfachen, entstehen Unzulänglichkeiten, so auch bei diesen Manualen. Individuelle Besonderheiten, Einzigartigkeiten des jeweiligen Patienten, persönliche Lebensereignisse und -erfahrungen lassen sich nicht katalogisieren. Wie werden psychische Symptome erhoben? (Fachleute nennen dies den »psychopathologischen Befund«). Im Gespräch mit dem Ratsuchenden/Patienten/Klienten gilt es zu klären, welche Kernbeschwerden er hat. Der Patient selbst beschreibt, was er fühlt, was sich im Vergleich zu früher geändert hat, in seinem Erleben, in seinen Wahrnehmungen, in seinem Denken und Handeln. Er kann

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Psychisch gesund – psychisch krank?

dabei durch gezielte Fragen des Arztes und durch ergänzende Angaben seiner Angehörigen (Fremdanamnese) unterstützt werden. Grundlage für dieses Gespräch ist, dass sich der Patient in seinen Sorgen ernst- und angenommen fühlt, dass er Vertrauen zum Arzt gewinnen kann. In diesen Gesprächen wird zum aktuellen Befinden, zur aktuellen Erkrankung Auskunft gegeben oder es wird erfragt: Beschwerden? Beginn? Auslöser? Bisherige Therapien? Welche Vorstellungen hat der Patient über seine Erkrankung? Welche Erwartungen hat er? Gab es früher bereits einmal/mehrmals ähnliche Beschwerden? Bestehen oder bestanden körperliche Beschwerden? Wie war der bisherige Verlauf? Wie war die bisherige Biographie? Gibt/gab es Belastungen? Konflikte? Stresssituationen? Einschneidende Lebensereignisse? Welche Unterstützungen erfährt der Betroffene? Welche Ressourcen stehen ihm zur Verfügung? In welcher sozialen Situation lebt er? Besteht familiärer Zusammenhang? Gibt es Freunde? Welche Bewältigungsmöglichkeiten sieht der Patient? Was hat er selbst versucht? Wodurch werden die Beschwerden gelindert oder verstärkt? Gibt es Hinweise für süchtiges Verhalten (Nikotin, Alkohol, Drogen)? Während des Gesprächs gewinnt der Arzt/Therapeut neben diesen Informationen auch Aufschluss über das aktuelle Verhalten des Patienten. Spricht er verlangsamt, leise? Ist sein Gesichtsausdruck traurig, starr, fröhlich? Ist der Patient unruhig oder getrieben, kann der Patient auf Fragen angemessen eingehen? Erkennt er Zusammenhänge oder ist er sprunghaft, abgelenkt, im Denken beeinträchtigt? Kann er sich erinnern, wie nimmt er die Realität wahr? Der Arzt/Therapeut versucht aus den Berichteten und Beobachtungen Informationen zu erhalten über die Bewusstseinslage (ist der Patient orientiert über Zeit, Raum und Ort oder ist er verwirrt?), über Aufmerksamkeit und Gedächtnis (versteht der Patient Fragen, Anweisungen, kann er sich konzentrieren?), über sein Denken (Sprechgeschwindigkeit, Sprache, logische Zusammenhänge), über Ängste (zum Beispiel Panikattacken), über Befürchtungen (zum Beispiel unheilbar krank zu sein), über Zwänge (zum Beispiel Waschzwang), über Wahn (fühlt sich der Patient zum Beispiel gesteuert?), über Sinnestäuschungen (hört der Patient zum Beispiel Stimmen?), über Ich-Erleben (glaubt der Patient,

Psychische Erkrankungen – Syndrome – Psychopathologie

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sein Denken werde beeinflusst?), über Stimmung (fühlt sich der Patient zum Beispiel bedrückt, traurig, gefühllos-leer?) und über seinen Antrieb (fällt es dem Patienten schwer, seine Alltagsaktivitäten durchzuführen?) sowie über mögliche bestehende Suizidalität (Selbsttötungsabsichten). Ergänzend können neuropsychologische und psychologische Testverfahren zur Anwendung kommen, die spezifische kognitive Leistungen (zum Beispiel Gedächtnisleistungen, Aufmerksamkeitsleistungen) oder Intelligenzleistungen und Sprachfähigkeiten untersuchen. Störungsspezifische Testverfahren, etwa bei Depressionen, bei Ängsten, bei Schizophrenie oder bei Persönlichkeitsstörungen, können ebenfalls verwendet werden.

3. Irren ist menschlich – Irrtümer über psychische Störungen

Irrtum 1 »Psychische Störungen sind Folge von Willensschwäche, Disziplinlosigkeit oder Erziehungsfehlern. Es gibt keine biologischen Ursachen für psychische Störungen.« Bei vielen psychischen Störungen liegen inzwischen zahlreiche Untersuchungen vor, die biologische (hirnbiologische, neurochemische oder genetische) Entstehungsbedingungen belegen. Beispiel hierfür sind neurobiologische Forschungen zu Depressionen, genetische Forschungen bei manisch-depressiven Erkrankungen, genetische Ursachen bei Zwängen, biologische Vulnerabilität (Empfindsamkeit) bei Angststörungen und bei Schizophrenie, neurochemische Faktoren bei Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), genetische Faktoren bei der Entstehung von Demenzprozessen. Auf die einzelnen möglichen Entstehungsbedingungen wird bei den spezifischen Störungsbildern in diesem Buch eingegangen. Es ist davon auszugehen, dass selbstverständlich auch bei psychischen Störungen biologische Faktoren eine große Rolle spielen.

Irrtum 2 »Psychische Störungen oder Erkrankungen werden grundsätzlich nur mit Psychotherapie behandelt.« In den letzten Jahren ist es zu einer zunehmenden Verzahnung von biologischen Behandlungsansätzen und Psychotherapie gekommen. Die klassische Psychoanalyse (»Behandlung auf der Couch«) wird eher in Ausnahmefällen angewandt. Viel häufiger

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Irren ist menschllich – Irrtümer über psychische Störungen

sind psychiatrische Störungen mit einer Kombination aus Psychopharmaka und Psychotherapie (zum Beispiel Verhaltenstherapie) zu behandeln. Wie auch in anderen Bereichen der Medizin üblich, ist bei der Behandlung mit Psychopharmaka und Psychotherapie ein Wirksamkeitsnachweis zu fordern. Entsprechende Untersuchungen liegen vor. Bei den verschiedenen psychischen Störungen werden wir die Behandlungsmethoden nennen, die diesen Wirksamkeitsnachweis erbracht haben.

Irrtum 3 »Psychiatrisch Erkrankte sind alle schizophren.« Häufig wird die Schizophrenie – obwohl insgesamt im Rahmen der gesamten psychiatrischen Störungen eine eher seltene Erkrankung – als »die« psychiatrische Erkrankung angesehen. Oft wird das Wort »schizophren« umgangssprachlich als Schimpfwort oder fälschlich etikettierend gebraucht. Die Verwendung der Bezeichnung »schizophren« im Sinne widersprüchlichen Handelns, stellt einen Sprachmissbrauch dar, der zur Stigmatisierung des an einer Schizophrenie Erkrankten führt und negativ-entwertend beurteilt. Die Schizophrenie ist eine von vielen psychiatrischen Erkrankungen. Auf die Besonderheiten der Schizophrenie wird in einem gesonderten Kapitel eingegangen.

Irrtum 4 »Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen müssen sich nur zusammenreißen, dann wird es schon besser, sie sollen sich nicht so anstellen.« Diese Ratschläge werden häufig insbesondere depressiven Patienten mit auf den Weg gegeben. Das führt meist dazu, dass sich bei diesen Menschen die depressiven Beschwerden noch verschlechtern, sie fühlen sich nicht verstanden, als »faul« oder »unfähig« abgestempelt. Ihr ohnehin herabgesetztes Selbstwertgefühl geht noch

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weiter in den Keller. Niemand käme auf die Idee, einem herzkranken Patienten zu sagen, er solle sich doch »mehr zusammenreißen«. Viele psychische Störungen sind Folge von biologischen und lebensgeschichtlichen Ereignissen und hinterlassen Spuren, so dass ein einfaches »Zusammenreißen« nicht möglich ist. Sie bedürfen einer gezielten Behandlung, oft einer Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie. Welche einzelnen Behandlungsmöglichkeiten es gibt, wird in den folgenden Kapiteln erläutert.

Irrtum 5 »Alle Psychopharmaka machen abhängig.« Oft werden unter Psychopharmaka lediglich die Beruhigungsmittel, wie beispielsweise Benzodiazepine (zum Beispiel Valium®), verstanden. Beruhigungsmittel sind jedoch nur eine Substanzgruppe von vielen anderen psychopharmakologischen Medikamenten. Beruhigungsmittel sollten wegen der Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung nur in Ausnahmefällen und nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden. Die viel größere Bedeutung bei der Behandlung von psychischen Störungen haben Psychopharmaka wie Antidepressiva (Medikamente gegen Depressionen, Ängste und Zwangserkrankungen), Antipsychotika (Medikamente gegen psychotische Symptome wie beispielsweise bei der Schizophrenie). Antidepressiva und Antipsychotika machen nicht abhängig. Oft fürchten Patienten, dass die ihnen verordneten Medikamente abhängig machen. Das ist bei Antidepressiva und Antipsychotika nicht der Fall. Auf die einzelnen Behandlungsmöglichkeiten wird im Kapitel Pharmakotherapie eingegangen.

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Irren ist menschllich – Irrtümer über psychische Störungen

Irrtum 6 »Entweder werden psychiatrische Erkrankungen mit Psychotherapie oder mit Medikamenten behandelt. Beides gleichzeitig ist nicht möglich.« Diese Auffassung ist nicht nur bei Laien, sondern auch häufig von Fachleuten zu hören. Dies stimmt aber keinesfalls. Häufig lässt sich erst durch eine gezielte medikamentöse Behandlung eine Bereitschaft und eine Möglichkeit zur Psychotherapie erreichen. So kann beispielsweise ein depressiver Patient in seinem Antrieb so gemindert sein, dass er nicht mehr in der Lage wäre, eine Verhaltenstherapie zu beginnen. Antidepressiva müssen also zunächst eingesetzt werden, damit der Patient quasi biologisch wieder in die Lage versetzt wird, eine Verhaltenstherapie zu beginnen und die dort besprochenen Verhaltensweisen und Aktivitäten in seinen Alltag umzusetzen. Bei Psychosen, etwa schizophrenen Erkrankungen, ist eine medikamentöse Behandlung eine Voraussetzung, damit überhaupt psychotherapeutische und rehabilitative Maßnahmen greifen können. Bei den meisten psychischen Erkrankungen ist eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie erforderlich. Sie ergänzen einander und schließen sich nicht aus.

Irrtum 7 »Wer davon spricht, sich selbst zu töten, der tut es ohnehin nicht.« Dies ist ein folgenschwerer Irrtum. Die meisten Menschen, die sich selbst töten (suizidieren), haben dies zuvor mehrfach angekündigt. Suizidale Äußerungen sind also immer ernst zu nehmen! Am meisten tritt Suizidalität bei depressiven Erkrankungen auf. Aber auch bei anderen psychischen Störungen oder akuten lebensbelastenden Situationen kann es zu Suizidalität kommen. Lebensmüde Gedanken oder Äußerungen sind immer höchstes Alarmsignal und sollten auf keinen Fall bagatellisiert werden.

Irrtümer

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Irrtum 8 »Bei Schlafstörungen helfen nur Schlafmittel.« Schlafstörungen müssen zunächst genau unterschieden werden. Es gibt viele verschiedene Ursachen, weswegen der Schlaf gestört sein kann. So können internistische oder neurologische Erkrankungen vorliegen, Schlafstörungen können Folge von unruhigen Beinen (Restless-legs-Syndrom) oder eines Schlafapnoe-Syndroms (Atemaussetzer während des Schlafens) sein. Diese Erkrankungen müssen erkannt, untersucht und spezifisch behandelt werden. Bei vielen psychischen Erkrankungen sind Schlafstörungen ein Symptom, häufig auch ein erstes, so beispielsweise bei Depressionen, die dann vorrangig behandelt werden müssen. Viele Patienten mit Schlafstörungen sind in einem Teufelskreis gefangen. Aufklärung über so genannte schlafhygienische Maßnahmen (Was kann jeder Einzelne tun, um seinen Schlaf zu bessern?) und Einführen von Schlafritualen, eines Schlaftagebuchs sowie Unterstützung bei Hilfestellungen für einen gesunden Schlaf sind vorrangig nötig. Verschiedene verhaltenstherapeutische Techniken können helfen und sind oft wirksamer als Schlafmittel. Diese sind allenfalls zeitlich begrenzt einsetzbar und nur in Ausnahmefällen unter ärztlicher Überwachung als Dauerbehandlung angezeigt. Auf die verschiedenen Schlafstörungen und deren Behandlungen wird in dem entsprechenden Kapitel eingegangen.

Irrtum 9 »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) tritt ausschließlich im Kindes- und Jugendalter auf.« Dieser Irrtum wird selbst von Fachleuten noch häufig verbreitet. Früher waren Meinungen zu hören wie: »Eine ADHS des Kindesund Jugendalters wächst sich aus.« Inzwischen ist bekannt, dass bei etwa 30 Prozent die ADHS-Problematik bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt (persistierende ADHS des Erwachsenenalters). Bei vielen erwachsenen Patienten wird ADHS nicht erkannt oder fehldiagnostiziert. Im Kindes- und Jugendalter ist besonders die

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Irren ist menschllich – Irrtümer über psychische Störungen

motorische Unruhe bei diesem Störungsbild auffällig. Umgangssprachlich heißt es das »Zappelphilipp-Syndrom«. Im Erwachsenenalter nimmt die motorische Unruhe ab, während jedoch die Aufmerksamkeitsstörung und die Impulsivität weiterhin bestehen bleiben. Häufig kommt es im Erwachsenenalter bei ADHS-Patienten zusätzlich zu anderen psychischen Störungen wie beispielsweise Depressivität. Auf mögliche Einflussnahmen mit Hilfe von Medikamenten und Psychotherapie wird im entsprechenden Kapitel eingegangen.

Irrtum 10 »Kontrolliertes Trinken bei einem Alkoholiker ist erlernbar.« Die Alkoholabhängigkeit ist eine Erkrankung. Oft werden Alkoholiker stigmatisiert und mit gut gemeinten Ratschlägen wie »Nun hör doch endlich auf zu trinken« vergeblich konfrontiert. Die Meinung, nur wohldosiert Alkohol konsumieren zu können, wird häufig von betroffenen alkoholkranken Menschen vertreten, sie ist jedoch nicht realisierbar. Alkoholabhängigkeit erfordert eine Behandlung, die die Alkoholabstinenz zum Ziel hat.

4. Psychische Erkrankungen – Ich doch nicht! Über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen

Psychische Erkrankungen sind häufig. Nach einer Erhebung der Weltgesundheitsbehörde (WHO) aus dem Jahr 2004 wird das Auftreten psychischer Erkrankungen innerhalb von 12 Monaten (12Monatsprävalenz) auf 9,1 Prozent angegeben. Schwer krank sind 1,2 Prozent, mäßig krank 3,3 Prozent und leicht krank 4,5 Prozent. Behandelt werden von den Schwerkranken 49,7 Prozent, von den Mäßigkranken 30,5 Prozent und von den Leichtkranken 27,9 Prozent. Bei einer Erhebung von psychischen Störungen in einer Allgemeinpraxis im Rahmen einer 1-Monatsprävalenz wurden zu 9,8 Prozent Alkoholabhängigkeit oder -missbrauch angegeben, 8,7 Prozent Depressionen, 8,5 Prozent generalisierte Angststörungen und 2,9 Prozent Panik und Agoraphobie (dazu im Vergleich: Diabetes 2 Prozent). Etwa ein Drittel der Patienten in deutschen Allgemeinarztpraxen ist von psychischer Erkrankung betroffen. Ein Drittel bis die Hälfte der psychischen Störungen werden von den Hausärzten nicht erkannt. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass psychische Erkrankungen häufig vorkommen, oft jedoch nicht erkannt werden oder nicht ausreichend behandelt werden. Hierfür können unterschiedliche Gründe vermutet werden. Möglicherweise werden psychische Erkrankungen nicht erkannt, weil der Betroffene ausschließlich körperliche Beschwerden beklagt. Die körperlich orientierten Untersuchungen zeigen dann einen unauffälligen Befund. Oft hören diese Patienten dann: »Sie sind völlig gesund, machen Sie sich keine Sorgen.« Doch damit ist es nicht getan. Denn der betroffene Patient fühlt sich krank und ist auch krank, nämlich psychisch krank. Oft verstecken sich hinter körperlichen Beschwerden wie Schwindel, Druckgefühl, Herzrasen, Übelkeit, Schmerzen, Appe-

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Psychische Erkrankungen – Ich doch nicht!

titveränderungen oder Schlafstörungen psychische Erkrankungen, so beispielsweise depressive Erkrankungen oder Angststörungen. Nicht selten erlebt der Patient eine Odyssee an Untersuchungen und Konsultationen verschiedenster Fachärzte, bevor die richtige – psychiatrische – Diagnose gestellt wird. Andererseits scheuen sich häufig Patienten aus Angst vor der Überweisung zum Psychiater oder Psychotherapeuten, über ihre Beeinträchtigung in der Befindlichkeit ihrem Arzt zu berichten oder über Ängste und niedergeschlagene Verstimmungen zu klagen. Nicht selten ist damit nach wie vor in der Bevölkerung eine Stigmatisierung und Etikettierung verbunden, die es erschwert, eine psychische Erkrankung zu akzeptieren. Obwohl in den letzten Jahrzehnten wirksame Behandlungsmethoden – sei es medikamentöser Art oder psychotherapeutischer Art – vorhanden sind, bleiben viele Patienten mit psychischen Erkrankungen unbehandelt oder nicht ausreichend behandelt. Auch dafür lassen sich verschiedene Vermutungen anstellen. Einerseits haben die Betroffenen größte Skepsis und Zweifel gegenüber einer psychotherapeutischen oder psychopharmakologischen Behandlung. Sie fühlen sich doch nicht »verrückt«. Oder aber sie fürchten sich vor »Veränderung der Persönlichkeit«, vor Manipulation. Andererseits werden selbst von Behandlern, sei es von Allgemeinärzten oder von Psychiatern – je nach persönlicher Ausrichtung –, Zweifel und Missachtung an etablierten Therapiemethoden geäußert. So gibt es immer noch Psychotherapeuten, die eine gleichzeitige medikamentöse Behandlung des Patienten während der Psychotherapiephase ablehnen, und umgekehrt gibt es Psychiater, die meinen, psychische Erkrankungen ausschließlich mit Medikamenten behandeln zu können. In Anbetracht der Häufigkeit psychischer Erkrankungen sind einerseits detaillierte Information und Aufklärung der Bevölkerung vonnöten, andererseits müssen Stigmatisierungen und Vorurteile gegenüber psychisch Erkrankten aufgehoben werden. Nur wenn es gelingt, psychische Erkrankungen genauso ernst zu nehmen wie körperliche Erkrankungen, wird es langfristig möglich sein, eine rechtzeitige und umfassende Behandlung psychischer Störungsbilder zu erzielen.

5. Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen – Erster Überblick

Grundsätzlich ist zwischen einer medikamentösen und einer nichtmedikamentösen Behandlung zu unterscheiden. Nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren sind beispielsweise verschiedene Psychotherapien wie die Verhaltenstherapie, die psychodynamisch orientierte Psychotherapie, Familientherapie, Paartherapie und Gesprächspsychotherapie. Zu den nichtmedikamentösen Behandlungsverfahren gehört auch die Psychoedukation, das heißt die Aufklärung und Information für den Patienten über seine Erkrankung, Hilfe zum Selbstmanagement und psychiatrische Rehabilitationsverfahren. Die medikamentöse Behandlung bei psychischen Erkrankungen erfolgt mit Psychopharmaka. Das sind Medikamente, die auf das psychische Befinden Einfluss nehmen. Unter Psychopharmaka sind beispielsweise Mittel gegen Depressionen (Antidepressiva) zu verstehen, Mittel gegen Psychosen (Antipsychotika), Beruhigungsmittel (Tranquilizer), Schlafmittel (Hypnotika), Medikamente gegen die Demenz (Antidementiva), Psychostimulanzien (stimulierende Medikamente) sowie Entzugs- und Entwöhnungsmittel. Im praktischen Alltag ist bei den meisten psychischen Erkrankungen eine Kombinationsbehandlung von Psychotherapie und Pharmakotherapie erforderlich. Es gibt nicht ein Entweder-Oder, sondern sie ergänzen einander und stehen in vielfältiger Wechselbeziehung miteinander. So kann beispielsweise ein sehr antriebsgeminderter depressiver Patienten von einer antidepressiven medikamentösen Therapie profitieren und erst durch die Wirkung der Antidepressiva wieder ausreichend Tatkraft bekommen, um die in der Verhaltenstherapie besprochenen Aktivitäten überhaupt durchzuführen. In diesem Beispiel ist die Psychopharmakotherapie die Basis, um die Psychotherapie durchzuführen. Umgekehrt gibt es Situationen, in denen der psychisch Kranke

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Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen

durch die Psychotherapie einen angemessenen Umgang mit seiner psychischen Erkrankung lernt. Unter Umständen bedeutet dies, dass er in der Psychotherapie auch lernt, regelmäßig seine Medikamente zu nehmen und auf mögliche Alarmsymptome oder Frühwarnzeichen seiner Erkrankung zu achten (zum Beispiel bei schizophrenen Patienten). Weitere Verzahnungen dieser beiden Behandlungsmöglichkeiten sind bei Schlafstörungen oder Angststörungen angemessen. So kann es zu Beginn der Therapie bei chronischen Schlafstörungen notwendig sein, zunächst ein Schlafmittel für eine kurze Zeit einzusetzen, damit der Patient aus dem Teufelskreis der Schlafstörung ausbrechen kann und die Erfahrung machen kann, schlafen zu können. Im Anschluss daran können psychotherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden. Ein Entweder-Oder-Denken ist also aufzugeben: Medikamentöse Behandlungen und Psychotherapie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander. Viele Studien beweisen, dass – eine richtige Anwendung der Medikamente vorausgesetzt – Psychopharmaka wirksam sind. Damit überhaupt ein Medikament eine Zulassung für die Behandlung einer Erkrankung erhält, fordert der Gesetzgeber den Nachweis der Wirksamkeit und Verträglichkeit. In den letzten Jahren gab es auch Untersuchungen zur Wirksamkeit von Psychotherapie. Bei den einzelnen Störungsbildern werden wir die jeweils am besten untersuchte Psychotherapiemethode nennen. Bildgebende Verfahren zeigen, dass sowohl Psychotherapie als auch Psychopharmakotherapie Veränderungen im Gehirn bewirken. Das mag für viele vielleicht zunächst erschreckend klingen: Eine Gehirnveränderung – wer will das schon? Wir werden bei den verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen darauf hinweisen, welche Störungen im Gehirn vorliegen. In diesen gestörten Hirnstoffwechsel greifen die Psychopharmaka ein und führen zu einer Normalisierung. Sie verändern also nicht die Persönlichkeit, sondern sie sorgen dafür, dass die »alte, wahre« Persönlichkeit wieder zurückkehrt.

6. Mehr als nur Reden – Was bewirkt Psychotherapie?

Die Psychotherapie ist eine Behandlung, die mit wissenschaftlich begründeten und geprüften psychischen Verfahren das Ziel hat, seelisch (psychisch) bedingte Störungen zu bessern oder zu beheben. Die psychotherapeutischen Verfahren werden von ausgebildeten ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten durchgeführt. Oft versteht der Laie unter Psychotherapie ausschließlich die Psychoanalyse, sie ist jedoch nur eine der Formen von Psychotherapie. Neben psychodynamisch orientierten Psychotherapien wird die Verhaltenstherapie häufig angewandt. Weitere Verfahren sind Gesprächstherapie, Familientherapie, Paartherapie. Für spezifische Krankheitsbilder wurden verschiedene Sonderformen der Psychotherapie entwickelt, beispielsweise die Traumatherapie oder die Traumbeeinflussungstherapie. Oft vermischen sich verschiedene psychotherapeutische Elemente. Kritiker sagen manchmal, dass so viele verschiedene Psychotherapieformen gebe, wie es Therapeuten gibt. Oft gab es und gibt es heute teilweise immer noch »Grabenkämpfe« zwischen den verschiedenen Psychotherapieformen, gerade in den letzten Jahren ist es jedoch zu einer Annäherung der verschiedensten psychotherapeutischen Techniken gekommen. Es ist in der Tat so, dass Elemente aus den verschiedenen Verfahren kombiniert werden und je nach Problemsituation und Störungsbild individuell abgestimmt werden.

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Mehr als nur Reden – Was bewirkt Psychotherapie?

Was wirkt nun eigentlich in der Psychotherapie? Der am besten belegte Wirkfaktor ist eine positive Therapeutenbeziehung. Darunter wird eine intensive vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Patienten oder Klienten und dem Psychotherapeuten oder der Psychotherapeutin verstanden. Diese emotionale, vertrauensvolle Beziehung ermöglicht dem Hilfesuchenden, seine Gefühle zu erleben und Fähigkeiten zu erarbeiten, seine Erkrankung zu bewältigen. Vermittlung von Hoffnung und Erfolgserlebnissen sind wichtiger Bestandteil. Dabei gilt in der Psychotherapie, dass der Patient aktiv mitarbeiten muss. Es ist also Arbeit von beiden Seiten. Das stellt sicherlich einen grundsätzlichen Unterschied dar zu sonstigen Belehrungen, Ratschlägen oder Informationen. Je nach psychischem Störungsbild oder Erkrankung ist die eine oder andere Form der Psychotherapie besser wirksam. Auch Kombinationen von Psychotherapie und medikamentöser Therapie sind bei den verschiedenen Psychotherapierichtungen möglich. Psychotherapeutische Verfahren haben nach Beendigung der Psychotherapie einen prophylaktischen Effekt, das heißt, ihre Wirkung überdauert die Behandlungszeit. Neben wirksamen Psychotherapien gibt es eine Reihe von angepriesenen Behandlungen, die sich ebenfalls Psychotherapien nennen, deren Wirksamkeit aber nicht nachgewiesen ist. Kommt es bei diesen Therapien zu einer Besserung, so muss als Ursache neben einer Spontanremission (Besserung des Zustandsbildes von sich aus) ein charismatischer Therapeut angenommen werden. Hier wirkt dann mehr die Persönlichkeit des Psychotherapeuten als die angewandte Psychotherapiemethode. Es kann jedoch auch sein, dass die Therapie wirksam ist, aber bisher wissenschaftlich nicht untersucht worden ist. Nach heutigen Kenntnissen sollte man sich nicht einseitig darauf konzentrieren, welche Therapiemethode die richtige sei. Wie Untersuchungen ergeben haben, stehen die therapeutische Beziehung und das Therapieergebnis in einem engeren Zusammenhang als die verschiedenen Therapietechniken und das jeweilige Ergebnis. Nach diesen Untersuchungen ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich die Patienten von dem Therapeuten akzeptiert und

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verstanden fühlen, sie ihn empathisch (einfühlsam), warm und unterstützend erleben. Therapeutisches Verhalten wie Vorwürfe, Missachtung oder Zurückweisung wirken sich negativ aus. Dabei ist eine rein »liebende« und »verstehende« Einstellung nicht ausreichend, manchmal sogar hinderlich. Auch klare Strukturen in der therapeutischen Beziehung, Anforderungen und dosierte Frustrationen sind therapeutisch umzusetzen. Allen Therapieformen ist gemeinsam, dass der Patient zunächst die Möglichkeit erhalten muss, seine psychische Problematik zu schildern. Dabei soll er im Gespräch ermuntert werden, über mögliche Entstehungsbedingungen und aufrechterhaltende Bedingungen seiner Symptome zu berichten. Biographische Begebenheiten, Kindheitsentwicklung wie auch aktuelle Lebensbedingungen sind zu erläutern. Dabei ist nicht nur auf die problematischen Situationen und Verhaltensweisen zu achten, sondern es sollte auch der Blick auf mögliche Ressourcen geschult werden sowohl in früherer als auch in gegenwärtiger Zeit. Es sollte herausgefunden werden, welche Stärken und Fähigkeiten der Hilfesuchende hatte beziehungsweise hat. Gelingt es, dass sich der Patient verstanden fühlt, so hilft dies beim Abbau von Angst und beim Aufbau einer positiven emotionalen Beziehung zum Therapeuten. Nach der Problemanalyse geht es im Weiteren darum, Therapiererwartungen zu klären, mögliche Ressourcen aufzuspüren und je nach Diagnosestellung eine individuelle Therapieplanung mit dem Psychotherapeuten vorzunehmen. Je nach zugrunde liegender Störung und je nach Ausprägung der Störung werden unterschiedliche Behandlungskonzepte zur Anwendung kommen. Dabei ist zu betonen, dass bei allen Schritten der Patient aktiver Mitarbeiter ist und nur dann ein Behandlungskonzept erfolgversprechend ist, wenn es mit den Vorstellungen und Erwartungen des Patienten übereinstimmt. Klärung, Bewältigung, Problemaktualisierung und Ressourcenaktivierung sowie eine tragfähige therapeutische Beziehung wirken zusammen und ermöglichen dem Patienten ein erweitertes Bewusstsein über seine psychische Befindlichkeit, seine Konflikte und Einsicht und Interpretationen des emotionalen Erlebens. Können die bisher als unbegreiflich oder unverständlich bewerteten Erleb-

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nisweisen oder Handlungen für den Patienten verstehbarer und als zusammenhängend erlebt werden, so ist zu erwarten, dass er eine Steuerungsfähigkeit oder Kontrolle über die Situation erleben wird. Dies führt zu Angstreduktion und zu Handlungskompetenz. Können intrapsychische Zusammenhänge erkannt und dem Patienten verständlich erscheinen, so wird es ihm gelingen, einen neuen gedanklichen als auch gefühlsmäßigen (kognitiven und emotionalen) Standpunkt zu entwickeln und alternative Erlebens- und Verhaltensweisen kennen zu lernen. Ferner geht es in der Psychotherapie darum, Problembewältigungsstrategien zu erlernen. Hierbei können Entspannungstechniken, Kommunikationstraining, Vermittlung von Fertigkeiten zur Stresstoleranz oder Selbstsicherheitstraining wichtig sein. Ein Perspektivenwechsel wird dem Patienten dadurch ermöglicht, dass alte (krankmachende) Erfahrungen mit neuen (durch die positive therapeutische Beziehung hervorgerufene) Erfahrungen verglichen werden. Bedeutsame alte Erlebnismuster werden reaktiviert, in der aktuellen Beziehung interpretiert und die Beziehungen oder Erlebnisweisen neu organisiert. Dieses Wirkprinzip ist besonders in der psychoanalytischen Psychotherapie im Sinne der Übertragung ein wichtiges Element. Es kommt jedoch in allen anderen Psychotherapieformen ebenso als Wirkfaktor vor. Gefühle wie Furcht, Ekel, Scham, Schuld, Eifersucht, Wut, Hass werden aktiviert und der Patient kann mit Hilfe des Therapeuten lernen, statt mit seinen alten, krankhaften oder schädlichen Verhaltensmustern zu reagieren, diesen neue entgegenzusetzen. Dabei ist es während des gesamten therapeutischen Prozesses wichtig, Ressourcen, Stärken, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu aktivieren. Die Erkenntnis und das Erleben, dass der Hilfesuchende Möglichkeiten zu Veränderungen in sich trägt, machen ihn nicht nur für den therapeutischen Prozess stark, sondern befähigen ihn, problematisches Verhalten aufzugeben und die Verantwortung für seine weitere Entwicklung zu übernehmen. Das bedeutet letztlich, dass der Patient die Zuversicht entwickelt, selbstständig zu werden und auf die Unterstützung durch den Therapeuten langfristig nicht mehr angewiesen zu sein. Ziel jeglicher Psychotherapie ist es, den Patienten von Einschränkungen und verzerrten Wahrnehmungen zu befreien. Dabei sind

Die verschiedenen Psychotherapieverfahren

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Umgebungsfaktoren, die das problematische Verhalten verstärken und aufrechterhalten, ebenso zu berücksichtigen wie Faktoren, die es dem Patienten ermöglichen, positive Alternativen zu erproben.

Wann ist überhaupt eine Psychotherapie indiziert? Psychotherapie ist bei seelischen Störungen besonders dann indiziert, wenn der Patient eine seelische Ursache seiner Erkrankung akzeptiert und für eine Behandlung motiviert ist. Insbesondere bei konfliktbedingten Störungen, bei Depressionen, bei Angststörungen, bei Zwängen oder Traumaerlebnissen ist Psychotherapie nötig, wenn die seelischen Mechanismen den Krankheitszustand und -verlauf wesentlich bedingen. Ziele der Psychotherapie sind die Entwicklung eines Selbstwertund Identitätsgefühls, die Ermöglichung eines differenzierten Erlebens eigener Gefühle und die Entwicklung eines Selbstvertrauens, sich auf neue Situationen einlassen zu können. Die Psychotherapie führt dazu, sich selbst besser kennen zu lernen und die Wechselwirkung der eigenen Person zu anderen zu verdeutlichen. Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und die Entwicklung einer neuen Sicht innerhalb eines Beziehungsgefüges sind mögliche Ziele.

Die verschiedenen Psychotherapieverfahren Gesprächspsychotherapie Im Rahmen der Gesprächspsychotherapie ist besonders die therapeutische Beziehung hervorzuheben. Grundlage der Gesprächstherapie ist die Annahme eines positiven Bild vom Menschen, wobei seine Entwicklungsfähigkeit hervorgehoben wird. Empathie, Wertschätzung und Echtheit auf Seiten des Therapeuten sind (wie bei jeder Form von Psychotherapie) von größter Wichtigkeit. Im Dialog von Therapeut und Patient erlebt der Patient, dass er verstanden wird, dass er sich öffnen, dass er Vertrauen haben und in

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dieser Atmosphäre der Wertschätzung sich positiv seelisch entwickeln kann. Das Bedürfnis nach Nähe, Sicherheit und Vertrauen wird im therapeutischen Prozess gestillt, es kommt zu einer verbesserten Selbstbewertung und Selbstachtung sowie Selbstakzeptanz, einer Verringerung von Angst oder Unruhe und zu einer besseren Bewältigung gefühlsmäßig belastender Situationen. Untersuchungen konnten die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie bei einigen Störungsbildern belegen, jedoch ist von großer Bedeutung, dass die Patienten eine hohe Motivation haben, sich einzubringen und aktiv den Therapieprozess zu gestalten.

Verhaltenstherapie Es geht in der Verhaltenstherapie um beobachtbares Verhalten, das in Interaktion mit Umweltreizen steht. Das Konzept der Verhaltenstherapie besteht im Umlernen und Umdenken. Es geht um Veränderungen im Denken und Handeln, im Hier und Jetzt. Ziel der Verhaltenstherapie ist es, Störungen und Probleme zu bewältigen, das heißt letztlich, mit vorhandenen Problemen besser umzugehen. Verhaltenstherapie arbeitet mit Modelllernen und mit kognitiven Modellen. Beim Modelllernen werden von Vorbildern durch Beobachtung oder Imitation Verhaltensweisen übernommen. Kognitive Modelle gehen davon aus, dass jedes Individuum Informationen wahrnimmt, speichert und verarbeitet. Dieser Prozess ist abhängig von biologischen Gegebenheiten, der persönlichen Biographie und der jeweiligen Motivationslage. Das Individuum bewertet anhand von Normen und Erfahrungen Situationen, so dass nicht nur reale Tatsachen, sondern vor allem die Interpretation dieser Tatsachen das individuelle Verhalten und die Kommunikation bestimmen. Besonders negative innere Monologe (Selbstgespräche) können zu so genannten selbsterfüllenden Prophezeiungen führen. Es geht in der Verhaltenstherapie darum, die Verknüpfung von Gedanken, Gefühlen und Verhalten aufzudecken und die jeweiligen Wechselwirkungen zu erkennen. Im Rahmen der Verhaltenstherapie wird zunächst eine genaue

Die verschiedenen Psychotherapieverfahren

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und individuelle Problemanalyse durchgeführt, die einerseits die unterschiedlichen Symptome, andererseits auch die aufrechterhaltenden Bedingungen des störenden oder krankhaften Verhaltens einbezieht. Sowohl auf der Ebene der individuellen Lerngeschichte als auch auf der kognitiven (gedanklichen) Ebene werden die Symptome oder das problematische Verhalten analysiert: – Welche Modelle standen individuell dem Patienten zur Verfügung? – Welches Verhalten wird positiv oder negativ verstärkt? – Welche Situationen oder Bedingungen halten die Symptome oder das störende Verhalten aufrecht? – Mit welchen Gedanken geht das Krankheitsverhalten einher? – Welche Erwartungen, Normen oder gedanklichen Grundmuster liegen vor? – Welche Auswirkungen hat das Verhalten in der Interaktion mit dem psychosozialen Umfeld wie Partner, Familie oder Arbeitskollegen? – Welche Ressourcen hat der Patient? Unterschiedliche verhaltenstherapeutische Techniken kommen innerhalb der Therapie zum Einsatz wie beispielsweise die Reizkonfrontation. Zum Beispiel wird der Patient bei Angststörungen mit den angstauslösenden Reizen konfrontiert. Diese so genannte Exposition kann abgestuft oder massiv im Sinne eines Floodings (Reizüberflutung) sein. Ferner wird versucht, im Rahmen der Therapie eine Reaktionsverhinderung bei der Konfrontation herbeizuführen, dies bedeutet, dass zum Beispiel bei Angstpatienten das sonst übliche Vermeidungsverhalten oder Herauslaufen aus der Situation verhindert wird. Andere Techniken sind die der systematischen Desensibilisierung. Darunter wird verstanden, dass beispielsweise bei Angstpatienten die angstauslösende Situation zunächst in der Vorstellung (in sensu), später in Wirklichkeit (in vivo) aufgesucht wird. Gleichzeitig hat der Patient zuvor eine Entspannungstechnik wie beispielsweise die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson gelernt. Während der angstauslösenden Situation wird der Patient angehalten, diese Entspannungstechnik zu benutzen. Diese Technik wird besonders

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bei spezifischen Ängsten (Phobien) eingesetzt. Alternativ kommt die Behandlungsmethode des Floodings in Betracht. Die Wirksamkeit der Expositionsverfahren sind bei Ängsten, Zwangsstörungen und Phobien belegt. Andere Techniken innerhalb der Verhaltenstherapie sind der Aufbau erwünschter Verhaltensweisen, etwa Aktivitätsaufbau bei Interessenverlust im Rahmen von depressiven Erkrankungen, Aufbau sozialer Kontakte bei sozialen Rückzugstendenzen, Strukturierung des Alltags bei Antriebslosigkeit, zum Beispiel bei depressiv oder schizophren Erkrankten. Das kann ein Training sozialer Fertigkeiten sein, ein Erlernen von Nein-Sagen bei unzureichenden Abgrenzungsfähigkeiten gegenüber Wünschen und Anforderungen Dritter, Erlernen von Problemlösungsstrategien, insbesondere wenn bevorstehende Aufgaben als nicht lösbar erscheinen. Kognitive Umstrukturierung erfolgt dann, wenn quälende Grübeleien oder Gedankenkreisen im Vordergrund stehen, aber auch bei dysfunktionalen Gedanken (wie in der Depression: »Ich schaffe gar nichts, ich bin für nichts mehr gut, ich habe das sowieso in meinem Leben noch nie richtig gut hingekriegt«). Weitere Techniken sind Selbstkontrollstrategien, um zu erkennen, welche abwertenden Gedanken und Gefühle bei herabgesetztem Selbstwertgefühl oder Selbstabwertung, zum Beispiel im Rahmen einer Depression, vorliegen. Neben diesen Selbstsicherheits-, Problemlösungs- und sozialen Kompetenztrainings kommen weitere kognitive Verfahren zur Anwendung. Insbesondere in der Depressionsbehandlung haben sich kognitive Therapien durchgesetzt. Hier geht es um Aufdeckung willkürlicher Schlussfolgerungen, Erkennen eines Alles-oderNichts-Denkens, übertriebener Verallgemeinerung, Übertreibung der Fähigkeiten anderer und Untertreibung der eigenen Fähigkeiten, Erkennen von unrealistischer Übernahme eigener Verantwortung (sie auch im Abschnitt »Depressionen«, Seite 112ff.). In den kognitiven Therapieverfahren geht es darum, Prozesse der Informationsaufnahme und -verarbeitung zu verändern. Einstellungen, Erwartungen und Bewertungen spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von störendem oder krankhaftem Verhalten eine große Rolle. Durch entsprechende Änderungen dieser gedanklichen Einstellungen können psychische Beschwerden

Die verschiedenen Psychotherapieverfahren

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gemildert werden. Aufdecken automatisch ablaufender Gedanken, Erkennen verzerrter Gedanken und Ersetzen dieser verzerrten Kognitionen durch angemessenere Gedanken und Bewertungen sind Ziele der kognitiven Verhaltenstherapie. Andere Techniken der Verhaltenstherapie sind beispielsweise die der Selbstverbalisierung, darunter ist ein inneres Sprechen zu verstehen, welches das eigene Handeln begleitet (innerer Dialog). Dieses Verfahren wurde zunächst bei Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter entwickelt und später auch im Erwachsenenalter fortgeführt. Es wird ein inneres Sprechen mit positiven, selbstermutigenden Sätzen gelernt. Das Problem soll in einzelne Schritte zerlegt werden, zu jedem einzelnen Schritt werden Problemlösungsschritte geübt. Eine andere Technik ist das Stressimpfungstraining zur Bewältigung von Stress und anderen Belastungssituationen. Wiederum geht es um die Analyse der stressauslösenden und -aufrechterhaltenden Bedingungen. Neben der Anwendung der verschiedenen beschriebenen Methoden und Techniken im Rahmen der Verhaltenstherapie ist der Aufbau einer guten therapeutischen Beziehung auch bei dieser Therapie von elementarer Wichtigkeit. Voraussetzung sind gegenseitiger Respekt, Achtung, Wertschätzung, Verständnis und Geduld. Ferner ist die Änderungsmotivation zu klären, dann schließlich die Verhaltensanalyse durchzuführen und eine genaue Zielanalyse zu beschreiben: Welches problematische Verhalten soll sich wie ändern, was soll das Ziel der Therapie sein? Dabei ist Transparenz (der Patient weiß, mit welchen Möglichkeiten welches Ziel erreichbar ist) von entscheidender Bedeutung. Eine aktive Mitarbeit ist notwendig, diese beschränkt sich nicht nur auf die Zeit der Therapiesitzungen, sondern meist wird der Patient angehalten, »Hausaufgaben« zu erledigen, also im realen Alltag die veränderten Verhaltensweisen zu erproben, Tagebücher zu führen und so weiter. Schließlich soll der Patient ohne Therapeut »Experte seiner Störung« werden. Auch gehört innerhalb der Therapie eine Rückfallprophylaxe dazu, das heißt, es wird mit dem Patienten besprochen, wie er sich verhalten soll, wenn erneutes störendes oder krankhaftes Verhalten auftritt. Der Patient wird aufgefordert, seine

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Wünsche zu äußern, insbesondere auch Veränderungswünsche an den Therapeuten zu stellen.

Die psychoanalytische oder psychodynamisch orientierte Psychotherapie Die psychoanalytischen oder psychodynamisch orientierten Psychotherapien gehen davon aus, dass seelische Störungen Folge früherer gestörter Beziehungen sind. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud (1856–1939), hatte eine Theorie entwickelt, nach der bestimmte seelische Störungen aus nicht bewältigten unbewussten Kindheitskonflikten (zum Beispiel Vertrauen–Misstrauen, Selbstwert–Selbstunwert, Nähe–Trennung) entstehen. Freud beschrieb die Übertragung als wichtiges zwischenmenschliches Phänomen. Darunter ist zu verstehen, dass der Patient frühere Beziehungserfahrungen auf den Therapeuten überträgt und ein ähnliches Beziehungsverhalten vom Therapeuten fordert, wie er es beispielsweise bei der Mutter oder beim Vater erlebt hat. Er erlebt also gegenüber dem Therapeuten Gefühle, die sich in Wirklichkeit auf eine andere Person seiner früheren Geschichte beziehen. Dadurch werden alte Beziehungen und damit zusammenhängende Konflikte wiederholt. Dies ist dem Patienten nicht bewusst. In der therapeutischen Arbeit werden diese Aspekte aufgedeckt und verdeutlicht, wie im Hier und Jetzt frühere Beziehungsmuster wiederholt werden und so die Gegenwart beeinflussen. Die therapeutische Beziehung ist in der Psychoanalyse grundlegender Wirkfaktor. Der Patient erlebt in der Behandlung, dass er die Beziehung gestalten kann und nicht Opfer seiner früheren Lebenserfahrung ist. Im Lauf der Entwicklung dieser Therapieform sind weitere Aspekte in den Mittelpunkt der Behandlung gerückt, wie beispielsweise das Erleben der eigenen Identität, der Autonomie und der Selbstachtung und die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Regulierung des Selbstwertgefühls. In der analytischen Psychotherapie besteht die Grundregel, alles mitzuteilen, alle Gefühle, Vorstellungen oder Gedanken zu berichten.

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Neben der Übertragung sind die Abwehrmechanismen von großer Bedeutung. Sie werden unbewusst eingesetzt, um vor schmerzvollen Erlebens- und Verhaltensweisen zu schützen. Das Unangenehme wird verdrängt, eine unliebsame Eigenschaft auf andere projiziert oder ein Fehlverhalten rational begründet. Störende Gefühle, Gedanken und Phantasien werden somit unterdrückt, verleugnet oder vermieden. In der therapeutischen Beziehung soll der Patient die Möglichkeit erhalten, fehlgelaufene Entwicklungsprozesse zu korrigieren. In der Übertragung werden Erlebnisse oder Verhaltensmuster reaktiviert, die in früheren Beziehungen vorzufinden sind. Neben der klassischen psychoanalytischen Methode haben sich in den letzten Jahren verschiedene Behandlungstechniken entwickelt. Insbesondere die Fokaltherapie, die eine begrenzte Behandlungsphase beinhaltet, konzentriert sich auf bestimmte äußere oder innere Konfliktsituationen und schränkt damit den Problemfokus ein. Grundlegend bei den psychodynamisch orientierten Methoden ist das Konzept, dass ein unbewusstes Verhalten Beziehungen beeinflusst. Krankmachende Konflikte gilt es aufzudecken und zu bearbeiten. Diese Therapiemethode kann bei Ängsten, bei Depressivität, bei Aggressivität, Störung des sexuellen Erlebens, Trennungs- und Verlusterlebnissen, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen eingesetzt werden.

Sonderformen der Psychotherapie Paar- und Familientherapie Bei der Paar- und/oder Familientherapie wird nicht ein einzelner Patient behandelt, sondern das Paar oder die Familie. Es wird davon ausgegangen, dass die Störung oder die Erkrankung durch die Beziehungen der Personen untereinander entsteht oder den Verlauf der Störung entscheidend mitbestimmt. Familientherapeutische Ansätze gewinnen zunehmend an Bedeutung. Die Familientherapie geht davon aus, dass sich die Fami-

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lie als soziales System darstellt und psychische Störungen und Erkrankungen nicht nur auf individuellen Faktoren beruht, sondern durch ein komplexes Beziehungsgefüge entstanden sind und sich entsprechend behandeln lassen. In der Paar- und Familientherapie sind verschiedene therapeutische Richtungen vertreten: die psychoanalytische, die systemische, die Gesprächs- und Verhaltenstherapie. Insbesondere der Einsatz verhaltentherapeutischer Techniken zeigt eine hohe Wirksamkeit bei der Paartherapie. Im Alltag werden jedoch mehr und mehr integrative Therapieformen angewandt, das heißt, aus verschiedenen Schulen stammende Techniken werden kombiniert. Besonders bei Familien mit einem schizophren erkrankten Familienmitglied kommen familientherapeutische Interventionen zum Einsatz, um krankheitsfördernde Kommunikationsstrukturen und eine sich negativ auswirkende familiäre Atmosphäre zu bearbeiten.

Traumatherapie Für Menschen nach einem schweren Trauma oder einschneidenden Lebensereignissen (plötzlicher Tod eines nahen Angehörigen, Opfer eines Verkehrsunfalls oder einer Katastrophe, wie zum Beispiel Eisenbahnunglücke, Schiffs- oder Fährunglücke, Flugzeugabstürze, Brandkatastrophen, Explosionen oder Naturkatastrophen wie Flutkatastrophen, Lawinenunglücke, Erdbeben oder Zeuge oder Betroffener von Traumata, die durch menschliche Gewalt, Terror, Krieg oder Kriminalität verursacht wurden) ist eine spezielle Psychotherapie, eine Traumapsychotherapie erforderlich. Ziel der Traumapsychotherapie ist es, dass die Traumaerfahrungen bearbeitet werden und eine Integration sowohl körperlicher als auch gefühlsmäßiger Anteile der Traumaerfahrung erreicht werden. Es ist nicht ausreichend, nur über das Trauma zu sprechen. In der Traumatherapie wird auf allen Ebenen menschlicher Existenz gearbeitet, auf der körperlichen, der seelischen und der mentalen (geistigen) Ebene. In der Traumatherapie wird ein Wiedererleben der eigenen Traumaerfahrung unter der Leitung eines erfahrenen Psychothe-

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rapeuten durchgeführt, so dass langfristig der Traumaschmerz auf allen Ebenen gelöst werden kann und eine Besserung oder Heilung möglich wird. Wie bei anderen Psychotherapieformen auch, ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Betroffenem Voraussetzung für eine Traumatherapie. Besonders in der Traumatherapie ist es von entscheidender Bedeutung, dass gesunde Anteile unterstützt werden und ressourcenorientiert gearbeitet wird. Verschiedene erfolgreiche Formen der Traumapsychotherapie stehen zur Verfügung. Zum einen gibt es überwiegend verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Traumapsychotherapie, zum anderen psychodynamisch orientierte Psychotherapien, wobei ihnen gemeinsam ist, dass sie verschiedene Elemente in der Traumaverarbeitung nutzen. In der Traumapsychotherapie werden verschiedene Phasen unterschieden. Zu Beginn ist zunächst eine Stabilisierung notwendig. Das bedeutet, dass der betreffende Patient neben der äußeren Sicherheit (zum Beispiel geschützte äußere Bedingungen wie sichere Wohnung, Unterlassen von weiteren Kontakten zum Täter) auch eine innere Sicherheit erlernen muss. Das Erlernen einer inneren Ruhe steht zu Beginn der Traumatherapie im Vordergrund. Hier stehen unterschiedliche Übungen zur Verfügung wie beispielsweise Imaginationsübungen (Vorstellungsübungen). Sie ermöglichen, einen »Sicheren inneren Ort« zu entwickeln. Dafür werden die Patienten darin geübt, in ihren Gedanken oder Vorstellungen oder sich in gemalten Bildern an einen Ort zu begeben, an dem sie sich wohl und geborgen fühlen. Weitere Imaginationsübungen sind die der »Inneren hilfreichen Wesen«, diese sollen den Patienten unterstützen und helfen. Andere Stabilisierungsübungen sind die Baumübung oder die Tresorübung. Bei der Baumübung wird der Patient angehalten, sich einen Baum vorzustellen oder in der Vorstellung selbst ein Baum zu sein, der von Erde, Luft, Wasser und Sonne genährt wird und der fest in der Erde mit Wurzeln verankert ist. In der Imagination soll der Patient erfahren, dass auch er – wie der Baum – genährt wird und Energien von der Erde und der Sonne erhält. In der Tresorübung soll der Patient in einen Tresor seine schrecklichen Bilder und Filme ablegen, die das Unangenehme beinhalten,

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das er erfahren musste. Für den Patienten ist es hilfreich, wenn er merkt, dass es ihm gelingt, für einen kurzen Zeitraum belastende Dinge »in den Tresor wegzupacken«. Ferner wird es in der Stabilisierungsphase der Traumatherapie notwendig sein, das Ich des Betroffenen zu stärken. Es geht darum zu schauen, was Freude macht, was gut gelingt, mit welchen Menschen man gern zusammen ist. Unterstützend können hierbei Yoga-, Thai-Chi- oder QigongÜbungen hilfreich sein. Erst nach der Stabilisierungsphase kann es mit der Traumaexposition weitergehen. Diese Phase hat das Ziel, die Traumasynthese und Integration hervorzurufen. Das bedeutet, dass die während des Traumageschehens getrennten Worte und Bilder (Kognitionen), Gefühle und Körperwahrnehmungen wieder zusammengeführt werden zu einem ganzheitlichen Gesamtgeschehen. Das war während des Traumas nicht möglich, weil ein ganzheitliches Erleben des Traumas unerträglich gewesen wäre. Ziel ist es, dass die Patienten während der Begegnung mit dem traumatischen Inhalt nicht die Kontrolle verlieren. Die Patienten lernen, ein Stoppsignal zu setzen, wenn es ihnen zuviel wird. In der traumazentrierten Behandlung geht es darum, dass das Vergangene zur Vergangenheit wird und dass das spürbar und zweifelsfrei erfahrbar wird: »Es war dort und damals und ist nicht Hier und Jetzt.« Verschiedene therapeutische Techniken können während der Traumaexposition eingesetzt werden. Zum einen ist die Beobachtertechnik, zum anderen die Bildschirmtechnik und das EMDR zu nennen. Bei der Beobachtertechnik wird der Patient angehalten, zunächst in Form eines Kurzberichts – wie bei einer kurzen Zeitungsnotiz – die traumatische Szene zu berichten. Er ist also in der Beobachterposition. Dann macht eine Gestalt, der »innere Beobachter«, eine Zeitreise und schildert das Traumaereignis wie ein Reporter. Das traumatische Geschehen wird beobachtet als Teil der individuellen Geschichte, als Vergangenes in Form einer langen Zeitreise. Damals, dort, nicht hier, nicht jetzt. Bei der Bildschirmtechnik wird die traumatische Erinnerung wie ein alter Film von der Patientin und dem Therapeuten gemeinsam betrachtet. Das hat den Vorteil, dass das traumatische Geschehen

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gut dosierbar wird. Einzelne Szenen können abgespeichert, hervorgerufen oder ausgeblendet werden. Mit der Technik des EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing – Augenbewegung, Desensibilisierung und Neuverarbeitung) wird besonders häufig gearbeitet. Dies ist eine Methode, die speziell für Traumapatienten entwickelt wurde. Belastende Gedanken sind leichter zu verarbeiten, wenn gleichzeitig die Augen sich hin und her bewegen. Das bedeutet, dass die Patienten während der Traumaerinnerung schnelle Augenbewegungen durchführen müssen. Meist folgen sie den sich bewegenden Fingern des Therapeuten mit den Augen. Mit Hilfe dieser Technik ist es möglich, die Traumaerfahrungen auf körperlicher, gefühlsmäßiger und geistiger Ebene noch einmal zu durchleben. EMDR gilt derzeit als die am besten untersuchte Methode und ist eine sehr wirksame Therapiemethode für posttraumatische Erkrankungen. Sie wird eingebettet in einen Gesamtbehandlungsplan. Die Traumaexposition beinhaltet die Integration des Traumas, seine Akzeptanz und Trauer um den Verlust. Es geht darum, zu akzeptieren, dass die Dinge, wie sie stattgefunden haben, passiert sind. Bei der Trauerarbeit kann es hilfreich sein, Rituale oder Meditationen anzuwenden. Nach der Phase der Trauer gilt es, einen Neubeginn zu machen. Die hier skizzierten Therapieabschnitte können nur eine grobe Orientierung sein, immer sind individuelle Formen nötig. Die Darstellung macht deutlich, dass der Betreffende derjenige ist, der die Therapie macht, begleitet von einem fachkundigen Traumapsychotherapeuten. Meist werden verschiedene Methoden miteinander verbunden. So sind kunsttherapeutische Elemente in der Traumatherapie zu finden, hier stehen Gestaltung, Malen, Ausdrucksmöglichkeiten für Gefühle im Vordergrund. Auch beruhigendes Mandala-Malen oder das Malen von Träumen können hilfreich sein. Ferner können Elemente der Traumbeeinflussungstherapie helfen, um eine positive Beeinflussung der Träume im Rahmen der Therapie herbeizuführen, besonders bei den Patienten, die unter quälenden Alpträumen leiden.

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Traumbeeinflussungstherapie Eingebettet in einen Gesamtbehandlungsplan und einer Psychotherapie kann die Traumbeeinflussungstherapie insbesondere bei Patienten, die unter Schlafstörungen oder unter Alpträumen leiden, oder belastende Lebensereignisse durchlebt haben, hilfreich sein. Der Traumschlaf findet hauptsächlich in der so genannten REM-Phase des Schlafs statt. REM bedeutet »rapid eye movement« (= schnelle Augenbewegungen). Beim Schlafen werden verschiedene Schlafstadien unterschieden: das Einschlafstadium, das Leichtschlafstadium, das Tiefschlafstadium und die REM-Phasen. Zu unterscheiden sind die unterschiedlichen Phasen durch die Ableitung eines Elektroenzephalogramms (EEG). Je nach Entladungsfrequenz und Stärke der Entladung (= Amplitude) sind Rückschlüsse auf die Gehirnaktivität möglich. Die Frequenzen beim wachen Menschen zeigen – vorausgesetzt, die Augen sind geschlossen – eine Frequenz von etwa 10 Hertz und eine kleine Amplitude. Wir sprechen dann von Alphawellen. Werden die Augen geöffnet, steigt die Frequenz auf circa 20 Hertz an, diese Wellen werden dann Betawellen genannt. Betawellen kommen nicht nur im Wachzustand vor, sondern auch während des REM-Schlafs, also in der Traumphase. In den anderen Schlafstadien treten langsamere Wellen auf, die so genannten Theta- und Deltawellen. In den Tiefschlafphasen gibt es ausschließlich Deltawellen. Während einer Nacht werden verschiedene Schlafstadien in regelmäßiger Abfolge durchlaufen, gefolgt von REM-Schlafphasen. In der Nacht kommt es zu 4 bis 5 solcher Schlafzyklen von jeweils etwa 90 Min. Dauer. Jeder Schlafzyklus beginnt mit dem Einschlafstadium und endet mit der REM-Schlafphase. Die Dauer der REM-Phasen nehmen von einem Zyklus zum nächsten zu, insgesamt werden etwa ein Viertel der Schlafzeit im REM-Schlaf und etwa drei Viertel im Nicht-REM-Schlaf verbracht. Geträumt wird auch in den anderen Schlafphasen, jedoch ist nur die Erinnerungsfähigkeit an die besonders lebhaften Träume des REM-Schlafs groß. Schlafforscher gehen davon aus, dass im REM-Schlaf die größte Regeneration (Erholung) sowohl für das Nervensystem als auch für

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die Psyche erfolgt. Im REM-Schlaf erfolgt die nächtliche Nachbearbeitung von Erfahrungen und Erlebnissen, dabei schreiben sich im Gehirn dauerhafte Erinnerungsspuren ein. Es ist bekannt, dass wir in unseren Träumen beherrschende Eindrücke der Wirklichkeit verarbeiten. Wir brauchen sozusagen den REM-Schlaf. In Träumen treten Gefühle zutage, die uns ohne Traum verborgen geblieben wären (zum Beispiel Ängste, Zurückweisung, Verlusterfahrungen). Es ist mit Hilfe der Gefühle des Traums möglich, zu überlegen, in welcher Beziehung diese Gefühle zur Befindlichkeit der Realität (des Alltags) stehen. Es kommt nicht so sehr auf den Inhalt der Träume an, sondern es geht in erster Linie um die Gefühle im Traum. Es spiegeln sich in Träumen einerseits Erlebnisse des Tages wider, andererseits können wir aber gerade die Dinge träumen, die am Tag im Wachzustand zu wenig unsere Beachtung fanden, aber für unsere Befindlichkeit dennoch Bedeutung haben. Wir können anhand unserer Träume klären, inwieweit die Gefühle (Affekte) der Träume sich auf unseren Wachzustand auswirken. Hängen die Nachtträume nach? Beschäftigen sie mich noch? Machen sie mir am Tag noch Angst, nehmen mich gefangen und belasten sie mich? Es kann sein, dass im Traum Lösungswege, alternative Handlungsweisen und mögliche Veränderungen angeboten werden. Im Lauf der Therapie wird versucht, Einfluss auf die Gefühle im Traum zu nehmen. Von der Vorstellung ausgehend, dass im REMSchlaf besonders Gefühle dargestellt werden und auch in dieser Phase besonders angehbar sind, wird versucht, auf die Gefühle in der Traumphase Einfluss zu nehmen. Während des REM-Schlafs entsteht eine »Unordnung« im Gehirn, die ordnende Kontrolle unseres Großhirns ist während dieser Phase unterdrückt, so dass völlig gelockert alle Gefühle/Affekte, Ideen und Vorstellungen in Form unserer Träume entstehen können. In dieser Traumphase ist es uns möglich, mit unterschiedlichen Gefühlen zu spielen. Bei der Traumbeeinflussungstherapie ist es wichtig, die Gefühle während des Traums, beim Aufwachen und während des Nacherzählens zu erfragen sowie die Traumgefühle mit den Gefühlen der Realität, sowohl beim Nacherzählen als auch im Alltagsleben, in Beziehung zu setzen.

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Die Patienten werden angehalten, am Abend Folgendes durchzuführen: – Bitte nehmen Sie das besondere Ereignis dieses Tages in Ihre Erinnerung auf. – Bitte versetzen Sie sich in das Ereignis zurück. – Fühlen Sie nach, was Sie zu diesem Zeitpunkt gefühlt haben. – Versuchen Sie, noch einmal den ganzen Zeitablauf zu fühlen. – Versuchen Sie, auch die widerstrebenden Gefühle, die genaue Situation, zu fühlen. – Versuchen Sie, für diese Situation ganz andere Gefühle zu empfinden. – Haben Sie noch andere Möglichkeiten der Gefühle? – Noch andere? Dieses Spiel wird in der Nacht fortgesetzt. – Machen Sie sich bewusst, dass dies ein Spiel war. Zunächst werden mit dieser Technik neutrale Inhalte zum Einüben von spielerischen Möglichkeiten der gefühlsmäßigen Erlebnisfähigkeit verwendet. Bei dieser Methode benötigt der Patient etwa ein halbes Jahr, bis er an tatsächliche, für ihn belastende emotional verkrustete Inhalte herangehen kann. Wenn der Patient die Übung am Abend macht, muss er sich selbst sagen, dass es hier um eine spielerische Verarbeitung von Gefühlen geht, die in der Nacht während des Traums fortgesetzt wird. Im Lauf der Behandlung merken die Patienten, dass sie ihre am Tag vorgefassten belastenden Gefühlsabläufe nicht mehr so erleben müssen, sondern ihnen neue Möglichkeiten der Gefühle zur Verfügung stehen. Es kann hilfreich sein, in Form eines Traumtagebuchs (s. Abb. 4) die Träume beziehungsweise die Gefühle im Traum aufzuschreiben und mögliche Verknüpfungen zu den Gefühlen des Alltags herzustellen (vgl. Schäfer u. Rüther, 2004b).

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Traumtagebuch Inhalt des Traums: Was habe ich geträumt?

Meine Gefühle im Traum:

Bezug zur Realiltät: Welchen möglichen Bezug zu meinem Alltag könnten meine Gefühle im Traum haben? Was belastet mich im Alltag besonders? Was hat mich in der Realität besonders beeindruckt? Welcher Trauminhalt belastet mich im Wachzustand noch?

Welche Gefühle werden in dem Traum deutlich? Stehen sie in Beziehung zu meiner derzeitigen Befindlichkeit im Alltag? Welchen Bezug haben meine Traumgefühle zu meinen Gefühlen am Tag?

Meine Gefühle beim Aufwachen:

Meine Gefühle beim Erzählen/Aufschreiben des Traums:

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Mehr als nur Reden – Was bewirkt Psychotherapie?

Könnte der Traum mir auch Lösungswege / alternative Handlungsweisen / Empfehlungen für meinen Alltag geben?

Wie könnte der Traum auch anders (für mich positiver) geträumt werden (Tagtraum, »gute Imagination«)? Versuchen Sie den Traum auch mit anderen Gefühlen zu erleben.

Abbildung 4: Traumtagebuch (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Tagebuch meiner Depression. Aktiv mit der Erkrankung umgehen. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber, 2003, S. 76ff.)

Die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese spezifische Psychotherapie entstand zunächst für Patienten, die sich selbst verletzten oder Selbsttötungsversuche hinter sich hatten. Aus dieser Therapieform entwickelte sich das Konzept der dialektisch-behavioralen Verhaltenstherapie für die Borderline-Störung. Diese Therapieform ist inzwischen gut in Deutschland etabliert. Die DBT wird sowohl ambulant als auch stationär durchgeführt. In diese Therapieform fließen Erkenntnisse der Verhaltenstherapie ebenso wie des Zen-Buddhismus und der dialektischen Gesprächsführung ein. Annahme ist, dass die Borderline-Symptome verständliche Reaktionen im Sinne nicht optimaler Lösungsstrategien sind, zum Beispiel bei dem Symptom der Selbstverletzung: Der Betroffene Borderline-Patient ist nicht mehr in der Lage, sein eigenes Gefühl wahrzunehmen oder richtig zu bewerten. Er gerät unter Anspannung. Die Selbstverletzung ist ein möglicher Lösungsversuch diese Anspannung abzubauen. Im Mittelpunkt der Behandlung steht, dass der Borderline-Betreffende lernt, seine Gefühlsschwankungen wahrzunehmen und sie zu akzeptieren. In der Therapie geht es darum, Gefühlszustände zu erkennen, die für den Betreffenden unklar sind oder zur Verunsicherung beitragen.

Sonderformen der Psychotherapie

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Ein Schwerpunkt wird darauf gelegt, das Erleben der großen Wut, das bei Borderline-Patienten ein häufiges Problem ist, zu bearbeiten. Wut führt häufig zu selbstverletzendem Verhalten bei Borderline-Patienten. Alternative Verhaltensweisen werden entwickelt. Voraussetzung ist, dass die typischen belastenden Situationen, die zu Wut führen, erkannt werden. Neben den genauen Analysen der eigenen Gefühle geht es in der DBT darum, bestimmte Fertigkeiten zu erlernen. Insbesondere im Umgang mit Mitmenschen und im Umgang mit belastenden Situationen oder Anspannungssituationen sind neue Fertigkeiten und Fähigkeiten notwendig. Dazu gehören Training der sozialen Kompetenz, das Emotionstraining, das Stressbewältigungstraining und das Entspannungstraining. Im Training sozialer Kompetenz soll der Betroffene lernen, wie er in Konfliktsituationen angemessener reagieren kann. Im Emotionstraining sollen grundlegende Gefühle wie Schuld, Trauer, Ärger, aber auch Heiterkeit, Freude und Liebe erkannt und erlebt werden. Den Borderline-betroffenen Patienten fällt es häufig schwer, ihre Emotionen eindeutig zuzuordnen. Der Wunsch nach Nähe ist verbunden mit der Angst vor dem Verlassenwerden. Ziel ist es, die verschiedenen Emotionen besser einzuordnen und eine verbesserte Wahrnehmung der eigenen Gefühle zu erlangen. Beim Training der Stressbewältigung geht es um das Erkennen von bedeutenden Stressfaktoren. Im Entspannungstraining werden Übungen durchgeführt, die den Betroffenen dafür wachsam machen sollen, innere Anspannungszustände wahrzunehmen und in diesen belastenden Situationen Entspannungstechniken anzuwenden. Schwerpunkt der DBT-Therapie ist Abbau des selbstgefährdenden Verhaltens und der Suizidalität (Selbsttötungsabsichten). Die DBT eine Sonderform der Psychotherapie, in der verschiedene Elemente unterschiedlicher Therapieformen zusammenfließen und die eine spezielle Psychotherapieform für Borderline-Patienten (siehe Seite 211f.) darstellt.

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Mehr als nur Reden – Was bewirkt Psychotherapie?

Entspannungstherapien Verschiedene Entspannungsmethoden werden meist in andere Psychotherapieformen integriert. So werden Entspannungstechniken im Rahmen der Verhaltenstherapie bei Angststörungen eingesetzt oder auch bei der Behandlung von Schlafstörungen. Es gibt unterschiedliche Entspannungstherapien. Allen gemeinsam ist, dass sie zunächst täglich angewandt und geübt werden müssen, damit sie langfristig ihre Wirksamkeit entfalten können. Konzept der Entspannungstherapie ist es, dass über eine körperliche Entspannung auch eine innere Entspannung auftritt.

Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson Bekannt ist die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Bei dieser Entspannungsmethode werden systematisch Muskelgruppen angespannt und anschließend wieder bewusst locker gelassen. Dadurch kommt es zu einer muskulären Entspannung und zu einer verbesserten Wahrnehmung der An- und Entspannung. Diese Methode wirkt besonders bei Patienten, die muskulär vermehrt angespannt sind. Häufig ist dies bei Angstpatienten oder bei schlafgestörten Patienten der Fall. Das Verfahren der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson ist relativ einfach zu lernen, häufig werden Kurse an Volkshochschulen oder Familienbildungsstätten angeboten. Der Wechsel zwischen Anspannung (5 bis 10 Sekunden) und Entspannung (20 bis 40 Sekunden) wird systematisch angewandt, zum Beispiel folgendermaßen: Die Faust wird für 5 bis 8 Sekunden geballt und somit angespannt, dann locker gelassen für 30 bis 40 Sekunden, anschließend wird sie erneut geballt und dann wieder locker gelassen. Erst erfolgt die Übung mit der rechten Hand, dann mit der linken Hand. Weitere Muskelgruppen (Oberarmbeugung, Oberarmstreckung, Schulter-, Nacken- und Gesichtsmuskulatur, Brust- oder Rückmuskulatur, Bauchmuskulatur, Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur, Waden- und Unterschenkelmuskulatur) werden wie beschrieben angespannt und locker gelassen, jeweils pro Muskelgruppe 2 Mal rechts und links im Wechsel.

Entspannungstherapien

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Das Autogene Training Beim Autogenen Training wird mit Vorstellungen über körperliche Befindlichkeiten und Funktionen gearbeitet. Auch das Autogene Training kann im Rahmen einer Psychotherapie integriert werden oder aber gesondert in Kursen bei VHS oder Familienbildungsstätten gelernt werden. Die Übungen finden im Liegen in Rückenlage statt, die Augen sind geschlossen. Die Übungen sollten in einem ruhigen Raum stattfinden, die Ruhe soll auf den Betreffenden wirken und er soll sich auf den Satz konzentrieren »ich bin ruhig«. Dieser Satz wird wiederholend gedacht, bis wirklich Ruhe verspürt wird und keine anderen Gedanken mehr stören. Anschließend erfolgt die Schwereübung, der Satz »mein rechter Arm ist schwer« wird gedacht, die Schwere im rechten Arm wird versucht zu spüren. Anschließend erfolgt dies mit der linken Seite, bis auch dort die körperliche Schwere gespürt wird. Dann werden die gleichen Übungen für die Beine durchgeführt. Anschließend erfolgt die Wärmeübung, indem sich der Betreffende auf den Satz konzentrieren soll »meine Arme sind warm, wohlig warm«. Im Anschluss daran erfolgt die gleiche Übung mit den Beinen. Dann können einzelne Körpersysteme, zum Beispiel Atmung und HerzKreislauf-Organe, oder der Kopf einbezogen werden. Oft reichen die Übungen der Ruhe, Schwere und Wärme aus, um einen entspannten Zustand herbeizuführen. Das Autogene Training wird bei vielen Störungen eingesetzt. Auch bei Schlafstörungen hat es eine positive Wirkung. Wie bei allen anderen Entspannungsverfahren gilt, dass nur eine regelmäßige tägliche Übung erfolgreich ist.

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Mehr als nur Reden – Was bewirkt Psychotherapie?

Psychiatrische, sozialpsychiatrische, psychotherapeutische Rehabilitation Da besonders psychiatrische Erkrankungen häufig mit einschneidenden sozialen Folgen verbunden sind, ist die sozialpsychiatrische Therapie bei vielen psychiatrisch kranken Menschen, insbesondere bei chronisch psychisch kranken Menschen erforderlich. Neben der fachärztlichen psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung geht es bei sozialpsychiatrischen Ansatzpunkten um Unterstützungsmöglichkeiten für die Bewältigung psychosozialer Krankheitsfolgen und für die Sicherung der Lebensqualität trotz Beeinträchtigung. Neben psychosomatischen Rehabilitationskliniken haben Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke und Behinderte (RPK) eine große Bedeutung. Versorgungsangebote für Angehörige, Freunde, Nachbarn, Selbsthilfegruppen, Hilfsangebote für Freizeit- und Kontaktklubs, Tagesstätten, sozialpsychiatrische Zentren, Unterstützungen bei der Wohnsituation (Wohnheim, Wohngemeinschaft, betreutes Wohnen, Familienpflege) sowie Unterstützung im Arbeitsbereich (Selbsthilfefirmen, Arbeit unter geschützten Bedingungen) sind Inhalte eine sozialpsychiatrischen Versorgung. Besonders bei chronisch psychisch erkrankten Menschen, beispielsweise bei schizophrenen Patienten, sind spezielle Rehabilitationsprogramme nötig, um eine schrittweise Wiedereingliederung der Patienten in ihre Wohn- und Arbeitswelt zu ermöglichen. Ziel der Rehabilitation ist es, die vorhandenen Fähigkeiten zu erhalten, durch die Erkrankung verloren gegangene Fähigkeiten wiederherzustellen oder Fähigkeiten zu fördern, die verloren gegangenen Fähigkeiten ersetzen. Es ist das Ziel, die Lebensqualität des Patienten zu verbessern. Wesentliche Rehabilitationsaufgaben sind, den Übergang von einer stationären in die ambulante psychiatrische Behandlung zu erleichtern und Hilfestellungen bei der Wohnsituation zu geben, die Wiedereingliederung am Arbeitsplatz zu ermöglichen oder eine Schul- oder Berufsausbildung zu planen. Rehabilitationsleistungen sollen den Erkrankten wieder in die Lage versetzen, sein Leben in der Familie, im Beruf und in der

Psychoedukation und Selbstmanagement

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Gesellschaft selbstständig zu führen. Es gibt fließende Übergänge zwischen Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen. Ist es zu dauernden sozialen Beeinträchtigungen gekommen, so ist es Aufgabe der Rehabilitationsmaßnahme, die Patienten dauerhaft zu unterstützen und die durch die Behinderung bedingten Funktionseinbußen auszugleichen.

Psychoedukation und Selbstmanagement Wann immer Patienten über eine längere Zeit erkrankt sind und eine Zusammenarbeit mit dem Therapeuten oder Arzt notwendig ist, muss der Betroffene angemessen über seine Erkrankung aufgeklärt sein und ihm die Möglichkeit der Krankheitsverarbeitung gegeben werden. Sachliche Aufklärung und Informationsvermittlung auf der einen Seite, emotionale Unterstützung und Entlastung zur Verarbeitung der Diagnose für den Patienten selbst, aber auch für seine Angehörigen auf der anderen Seite sind Voraussetzung für Therapieerfolge. Patientenratgeber zu speziellen psychiatrischen Erkrankungen und Selbsthilfeprogramme stehen zur Verfügung (siehe Literaturhinweise). Auf die Bedeutung von Angehörigengruppen und Selbsthilfegruppen wird bei den einzelnen Krankheitsbildern eingegangen. Kliniken, niedergelassene Nervenärzte und Ambulanzen bieten Psychoedukationsgruppen an. Ziel dieser Arbeit ist es, für Laien verständliche Informationen über die jeweilige Erkrankung zu vermitteln. Der Austausch von Betroffenen und auch von ihren Angehörigen untereinander kann eine große Hilfe bei der Krankheitsverarbeitung sein. Gerade im Hinblick auf eine unter Umständen langjährige Behandlung ist die Psychoedukation unabdingbare Voraussetzung, um eine langfristige Bereitschaft zur Mitarbeit von Patienten und Angehörigen zu erzielen. Der Einbezug von Angehörigen psychiatrisch Erkrankter ist von großer Bedeutung, zumal die Angehörigen von psychisch Erkrankten oft erheblichen Belastungen ausgesetzt sind, unter denen sie nicht selten selbst psychisch erkranken, so beispielsweise die pflegenden Angehörigen von Demenzerkrankten.

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Mehr als nur Reden – Was bewirkt Psychotherapie?

Neben Informationsvermittlung sind Austausch über individuelle Krankheitsvorstellungen, Erkennen von Frühsymptomen bei Wiederauftreten von Krankheitsbeschwerden und Symptombewältigung Inhalte von psychoedukativen Gruppen. Auch gibt es Gruppenangebote für Angehörige. Dies ist besonders dann sinnvoll, wenn immer wiederkehrende psychische Erkrankungsphasen die Familienangehörigen treffen. Von ihnen wird eine hohe Flexibilität erwartet, sie müssen zum einen den erkrankten Familienangehörigen entlasten und unterstützen, dann wieder, wenn dieser gesund ist, darauf achten, ihn nicht unnötig zu schonen und ihn nicht einzuschränken. Aus diesem Grund sind Angehörigengruppen oft eine Erleichterung, diese schwierige Gratwanderung zu bewerkstelligen.

7. Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka?

Grundsätzliches zur Psychopharmakotherapie Psychopharmaka sind vor rund 50 Jahren entdeckt worden und haben entscheidend dazu beigetragen, dass viele psychische Erkrankungen behandelt werden können. In vielen Situationen sind Psychopharmaka in der Therapie psychischer Erkrankungen unentbehrlich. Psychopharmaka gehören zu den meistverordneten Medikamenten, jedoch wird keine andere Arzneimittelgruppe so kontrovers diskutiert. Fast schon ideologisch mutet der Streit an, oft finden sich in der Laienpresse unqualifizierte Beiträge über entweder »glückversprechende Wunderpillen« oder aber »persönlichkeitszerstörende und abhängigmachende Psychopillen«. Beschreibungen wie »chemische Zwangsjacke« oder »herbeigeführte Beruhigung« verunsichern nicht nur die psychisch Erkrankten, sondern auch ihre Angehörigen und führen in der Bevölkerung zur Stigmatisierung psychiatrisch Erkrankter und deren Behandlungsmöglichkeiten. Es ist unklar, wie viele Menschen, die aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung dringend einer medikamentösen Behandlung bedürften, darin entweder gar nicht erst einwilligen oder aber die Medikamente von sich aus absetzen. Unklar ist, wie viele Menschen deswegen Selbsttötungsversuche (Suizidversuche) unternehmen oder qualvoll in ihrer Lebensqualität aufgrund ihrer Erkrankung eingeschränkt sind. Oft wurden Gehirn und Psyche voneinander unabhängig betrachtet, was zur Folge hatte, dass zwar bei Gehirnerkrankungen selbstverständlich Medikamente zum Einsatz kamen und kommen (z. B. bei Anfallserkrankungen oder Tumorerkrankungen), bei Erkrankungen der Psyche hingegen oft angenommen wurde, dass ausschließlich eine Psychotherapie hilfreich sei.

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

Psychopharmakotherapie sollte nicht pauschal abgelehnt und damit ideologisiert werden. In der Zwischenzeit sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse so weit gekommen, dass eine Trennung von Gehirn und Psyche nicht mehr möglich ist. Wie die Psychotherapie Veränderungen im Gehirn bewirkt, so rufen auch Medikamente, die bei psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt werden, Veränderungen im Gehirn hervor, um somit Symptome zu mildern oder zu beheben. Deshalb stellt sich in der heutigen Zeit nicht mehr die Frage, ob die psychische Erkrankung entweder mit Medikamenten oder mit Psychotherapie zu behandeln ist, oft ist eine Kombination aus beiden Behandlungsmöglichkeiten die beste Lösung. Je nach Art der psychischen Erkrankung wird der Schwerpunkt entweder mehr auf der medikamentösen oder mehr auf der psychotherapeutischen Behandlung liegen. Bei den psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie, manisch-depressiven, affektiven Störungen, schizoaffektiven Psychosen, ausgeprägten Zwangsstörungen oder starken Angststörungen wird auf eine medikamentöse Behandlung nicht zu verzichten sein. Viele Patienten fürchten bei Einsatz von Psychopharmaka eine Abhängigkeitsentwicklung. Dies liegt zum einen daran, dass es erhebliche Informationsdefizite gibt. Häufig werden Psychopharmaka mit »Beruhigungsmitteln«, wie beispielsweise Benzodiazepine (ein Vertreter ist z. B. das Valium®) gleichgesetzt. Bei dieser Substanzgruppe ist eine Abhängigkeitsentwicklung tatsächlich die größte Gefahr. Benzodiazepine stellen aber nur eine kleine Gruppe von möglichen Psychopharmaka dar, andere wie beispielsweise die Antidepressiva oder die Antipsychotika (früher Neuroleptika genannt) machen nicht abhängig. Neben Informationsmängeln bezüglich der verschiedenen Psychopharmaka gibt es sie auch hinsichtlich der verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen und ihres Schweregrads. Oft werden beispielsweise Depressionen nicht als Krankheit gesehen, sondern als Charaktermangel, Erziehungsfehler oder Befindlichkeitsstörung. Ausgeprägte Beschwerden einer Depression wie Wahn, Antriebshemmung, Suizidgefährdung und Konzentrationsstörungen sind in der Bevölkerung kaum bekannt. Eine Erhebung zur Einstellung der deutschen Bevölkerung zur

Grundsätzliches zur Psychopharmakatherapie

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Behandlung mit Psychopharmaka ergab, dass zur Behandlung einer Schizophrenie, einer Depression oder einer Angst-/Panikstörung nur jeder siebte zu Psychopharmaka rät. Mehr als doppelt so viele würden von dem Gebrauch gar abraten. Laien scheinen keinen Unterschied dahingehend zu machen, ob es sich um die Behandlung einer Schizophrenie, einer Depression, einer Angstoder Panikstörung handelt. Immer wieder wird deutlich, dass eine Unterscheidung der verschiedenen Psychopharmakagruppen nicht vorgenommen wird. Meinungen und Einstellungen, die beispielsweise über Tranquilizer gewonnen wurden, werden auf die anderen Psychopharmakagruppen übertragen. Diesen Untersuchungen stehen Befragungen von Patienten in psychiatrischen Kliniken gegenüber. Die meisten Patienten selbst haben in den letzten Jahren eine medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka als positiv und hilfreich beurteilt. Dank der modernen Psychopharmaka ist es heutzutage möglich, dass sehr viele psychisch Kranke beruflich und sozial wieder integriert werden können. Natürlich ist vor unkritischer und unkontrollierter Verwendung der Psychopharmaka zu warnen. Immer gehört eine Psychopharmakotherapie eingebettet in einen Gesamtbehandlungsplan, der Soziotherapie, Psychotherapie und Psychoedukation beinhaltet. Selbstverständlich ist die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung bei Einsatz von Schmerzmitteln oder Beruhigungsmitteln (Tranquilizer) oder Schlafmitteln (Hypnotika) zu berücksichtigen. Deshalb wird von fachlicher Seite der Einsatz von Tranquilizern und Hypnotika, die eine Abhängigkeitsentwicklung herbeiführen können, immer zeitlich befristet empfohlen. Pychopharmaka werden nicht nur bei psychiatrischen Störungen eingesetzt, sondern etwa 30 bis zu 50 Prozent der Verordnungen von Psychopharmaka erfolgen bei Patienten, die keine psychiatrische Diagnose haben, sondern eine rein körperliche. Unter diesen Bedingungen muss der Einsatz von Psychopharmaka besonders gesichert sein. Wenn Psychopharmaka eingesetzt werden sollen, so ist eine sorgfältige und kritische Auswahl und ein richtiger Umgang mit ihnen erforderlich. Die Verordnung von Psychopharmaka gehört in die Hand eines Facharztes.

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

Die Entwicklung in den letzten zehn Jahren war so, dass die Verordnungen von Antidepressiva und Antipsychotika zunahmen, während die Verordnung von Tranquilizern, also den Medikamenten, die zu Abhängigkeit führen, deutlich abnahmen. Oft finden sich in Befragungen Angaben, wonach Angst vor einem Kontroll-, Identitäts- oder Persönlichkeitsverlust bei Einnahme von Psychopharmaka bestehe. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Bei psychischen Erkrankungen sind häufig Kontrolle und Identität verloren gegangen, sie wiederzugewinnen ist Aufgabe der gezielt einzusetzenden Medikamente. Während es offensichtlich keine großen Probleme für Menschen darstellt, bei körperlichen Erkrankungen, so beispielsweise bei Diabetes mellitus, die regelmäßige Insulingabe zu akzeptieren, stellt es für psychisch Erkrankte ein Problem dar, im Bereich des Gehirns Veränderungen durch Medikamente zu akzeptieren. Gerade die Psychopharmaka haben in den letzten Jahrzehnten erheblich dazu beigetragen, die Psychiatrie menschlicher zu machen. Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen sind dank moderner Psychopharmakotherapien zur Rarität geworden. Ebenso haben die psychopharmakotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten eine Verkürzung der stationären Verweildauer in Nervenkliniken ermöglicht. Unumstritten ist die Bedeutung der Psychopharmaka in der Behandlung von Menschen mit Psychosen und Depressionen. Psychopharmaka werden heute in folgende Gruppen eingeteilt: – Antidepressiva: Medikamente, die gegen Depressionen eingesetzt werden, aber auch bei Angststörungen, bei Zwangserkrankungen und niedrig dosiert bei Schlafstörungen oder chronischen Schmerzen. – Phasenprophylaktika: Medikamente, die bei wiederkehrenden psychischen Erkrankungsphasen, etwa bei der manisch-depressiven Erkrankung, einen erneuten Rückfall verhüten; Hauptvertreter sind beispielsweise Lithium, Carbamazepin, Valproat, Lamotrigin. – Antipsychotika (früher Neuroleptika genannt) sind Psychopharmaka, die bei Psychosen, zum Beispiel bei der Schizophrenie, eingesetzt werden. In niedriger Dosierung auch bei Unruhezuständen oder aggressiven Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer Demenzerkrankung.

Wirkungen der Psychopharmaka

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– Tranquilizer und Anxiolytika sind beruhigende und angstlösende Medikamente. Hauptvertreter ist zum Beispiel Benzodiazepin (auf das Abhängigkeitspotential ist besonders zu achten). – Hypnotika sind Schlafmittel, hierunter zählen verschiedene Psychopharmaka, die bei Schlafstörungen eingesetzt werden. – Psychostimulanzien werden beispielsweise beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom eingesetzt. – Antidementiva sind Medikamente, die bei Demenzerkrankungen, zum Beispiel bei Morbus Alzheimer, eingesetzt werden. Schließlich gehören noch Substanzen zu den Psychopharmaka, die bei Entzugserkrankungen oder bei Alkoholabhängigkeit eingesetzt werden.

Wirkungen der Psychopharmaka Psychopharmaka wirken über eine Veränderung der Neurotransmitter, indem sie entweder deren Ausschüttung hemmen oder fördern. Ferner können Psychopharmaka die Empfindlichkeit (Sensitivität) der Bindungsstellen (Rezeptoren) beeinflussen. Neurotransmitter sind Überträgersubstanzen (Botenstoffe), die bei der Informationsweiterleitung von einer Nervenzelle auf die andere eine wichtige Rolle spielen. Im Gehirn stehen etwa 100 Millionen Nervenzellen miteinander in Verbindung. Jede Nervenzelle hat zu circa 20.000 anderen Nervenzellen Kontakt, dieses Nervennetzwerk würde hintereinander geschaltet etwa eine Länge von 300.000 Kilometern betragen. Die Verständigung der Nervenzellen, das heißt, wie sie ihre Informationen austauschen beziehungsweise weiterleiten, geschieht über die Botenstoffe. Indem eine Nervenzelle an ihrem Ende Botenstoffe ausschüttet, kommuniziert sie mit der nachfolgenden Nervenzelle. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Nervenzellen keinen direkten Kontakt haben, sondern über die so genannten Synapsen (das sind Verbindungsstellen der Nervenzellen) in Beziehung stehen. Im synaptischen Spalt werden die chemischen Botenstoffe

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

von der jeweiligen Nervenzelle ausgeschüttet. Diese Überträgerstoffe (Neurotransmitter) setzen sich an die Bindungsstellen der nachfolgenden Nervenzelle und vermitteln auf diese Art und Weise die Information. Es werden verschiedene Transmitterwirkungen je nach Art der Bindungsstelle (Rezeptor) unterschieden. Die Weiterleitung von Information innerhalb einer Zelle geschieht durch Spannungsänderungen an der Zellmembran. Sie können entweder eine Erhöhung oder Erniedrigung der Spannung bedeuten, entsprechend eine Hemmung oder Erregung der Zielzelle. Andere mögliche Wirkungen sind die Freisetzung weiterer Informationsstoffe in der Zelle, der so genannten second messenger. Es ist bekannt, dass die Psychopharmaka die wichtigsten Transmittersysteme wie Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Gammaaminobuttersäure (GABA) beeinflussen. Es ist unstrittig – viele Untersuchungen haben es gezeigt –, dass bei psychiatrischen Störungen Beeinträchtigungen des Transmitterhaushalts vorliegen. So wird zum Beispiel bei schizophrenen Psychosen eine Dysfunktion des dopaminergen Systems vermutet, bei Depressionen eine Dysfunktion der noradrenergen und serotonergen Systeme. Bei den einzelnen Erkrankungen werden wir auf die unterschiedlichen Neurotransmitterstörungen näher eingehen. Es wird deswegen verständlich, dass Antipsychotika dazu beitragen, den Transmitterüberschuss wie beispielsweise bei der schizophrenen Erkrankung, zu beeinflussen, während dagegen Antidepressiva dafür sorgen, dass der bei Depressionen angenommene Transmittermangel des Serotonins durch die Antidepressiva behoben wird. Die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin im synaptischen Spalt wird erhöht, indem sie die Rückaufnahme des Serotonins in die Zelle hemmt. Beispielhaft und stark vereinfacht ist dies in Abbildung 5 dargestellt.

Wirkungen der Psychopharmaka

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Impuls

synaptischer Spalt

Nervenendigung

Serotonin Noradrenalin Rezeptoren

Der Botenstoff löst sich vom Rezeptor und wird wieder in die abgegebene Zelle aufgenommen (= Wiederaufnahme).

Impuls

Antidepressivum

Rezeptoren Die Wiederaufnahme des Botenstoffes wird durch das Antidepressivum gehemmt. Somit entsteht eine höhere Konzentration an Botenstoffen im synaptischen Spalt, die zudem noch länger aufrechterhalten wird.

Abbildung 5: Rückaufnahme des Serotonins und Hemmung der Wiederaufnahme (aus: Ulrike Schäfer: Depressionen im Erwachsenenalter. Ein kurzer Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Hans Huber Verlag, 2001, S. 43)

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

Diese Darstellung über Wirkweisen der Psychopharmaka kann nur sehr vereinfachend sein. Die sehr komplexen verschiedenen biochemischen Systeme, die sich gegenseitig beeinflussen, sind in Wirklichkeit erheblich komplizierter und je nach Hirnstruktur unterschiedlich. In den verschiedenen Gehirnabschnitten kommt es zum Überwiegen mal des einen, mal des anderen Neurotransmitters und je nach Störungsbild gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte. So deuten Befunde der letzten Jahre darauf hin, dass nicht Mangel oder Überschuss einzelner Neurotransmitter für die Entstehung beispielsweise psychotischer Symptome entscheidend ist, sondern eher eine Störung der feinen Abstimmung innerhalb des hochkomplexen Regulationssystems der verschiedenen Überträgersysteme. Man könnte sich vielleicht ein Mobile vorstellen oder eine Waage, bei der es innerhalb dieses komplexen Systems zu einer Dysbalance gekommen ist. Nicht nur die Neurotransmittersysteme sind für die Regulationen der Hirnfunktionen von Wichtigkeit, sondern eine weitere Gruppe wirksamer Substanzen sind die so genannten Neuropetide. Das sind Eiweißmoleküle, die wiederum die Neurotransmitter beeinflussen können. Weitere Wirkmechanismen von Psychopharmaka sind mögliche Beeinflussungen des Hormonsystems. Noch existieren keine Medikamente, die direkt an den Neuropeptiden oder an den Hormonrezeptoren bei der Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen ansetzen. Es ist anzumerken, dass – wie bei allen anderen zugelassenen Medikamenten in der Medizin auch – Psychopharmaka, bevor sie überhaupt verschrieben werden können, eine Vielzahl von Prüfungen und pharmakologischen Prüfreihen durchlaufen müssen, so dass sie hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und ihrer potentiellen Nebenwirkungen gut untersucht sind. Ein erheblicher Faktor bei der Psychopharmakotherapie ist die Compliance, das heißt die Akzeptanz der Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung. Hier spielt einerseits die Patientenaufklärung eine große Rolle, andererseits die Verträglichkeit des Medikaments. Je besser der Patient über die Wirkweise, die potentiell auftretenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen (Neben-

Wirkungen der Psychopharmaka

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wirkungen) informiert ist, desto größer ist seine Bereitschaft, über längere Zeit, unter Umständen ein Leben lang, ein Medikament zu nehmen. Aber nicht nur Patienten unterschätzen das Risiko, ein Medikament vorzeitig abzusetzen, sondern auch die Therapeuten. So besteht auf der einen Seite die Gefahr, die Medikamentendosis zu reduzieren oder das Medikament ganz abzusetzen, weil ein Rezidiv einer psychiatrischen Erkrankung unterschätzt wird, auf der anderen Seite, weil Nebenwirkungen überschätzt werden. Immer sollte individuell gefragt werden, welche Folgen eine erneute Erkrankung für den Betroffenen haben könnte (beispielsweise Verlust des Arbeitsplatzes). Nicht nur das Geben von Medikamenten birgt potentielle Gefahren, auch das Unterlassen einer wirksamen Medikation kann nachteilige Folgen haben. Neben der Information von unerwünschten Arzneimittelwirkungen sind Interaktionen verschiedenster Arzneimittelgruppen von Wichtigkeit. Insbesondere bei älteren Menschen, die wegen anderer, etwa körperlicher Erkrankungen (Herzerkrankungen, Lungenerkrankungen usw.) Medikamente nehmen, können Wechselwirkungen von Psychopharmaka mit diesen Medikamenten, beispielsweise Herzmitteln, auftreten. Im Einzelfall muss genau geprüft werden, welches Medikament bei welchen Patienten einzusetzen ist und ob es sich mit den bereits eingenommenen Medikamenten verträgt. Besonderheiten in der Verstoffwechselung von Medikamenten sind ebenso zu berücksichtigen. Medikamente werden meist über die Leber abgebaut. Bestimmte Enzymsysteme stehen individuell zur Verfügung. Bei einigen Menschen kommt es zu einem vermehrten Abbau, sie sind so genannte Rapid metabolizer. Dies kann dazu führen, dass eine erhöhte Dosis des Medikaments notwendig wird, um eine ausreichende Wirksamkeit zu erzielen. Anderseits stehen diesen Rapid metabolizern so genannte Slow metabolizer gegenüber, bei denen es zu einer langsameren Verstoffwechselung der Medikamente kommt und somit schon bei geringeren Dosen ein erhöhter Wirkspiegel des Medikaments im Blut festzustellen ist. Kommt es bei Patienten zu einer verminderten Wirksamkeit und besteht der Verdacht eines Rapid metabolizers, so kann ein

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

so genanntes Drug monitoring erfolgen. Das ist eine Blutentnahme, bei der die Konzentration des jeweiligen Medikamentenwirkstoffs im Blut gemessen wird. Bei vielen Medikamenten gibt es so genannte therapeutische Bereiche, das sind Spiegel, die wirksam sind; der zu messende Wert sollte im günstigsten Fall im mittleren therapeutischen Bereich liegen. Ebenso ist das Drug monitoring anzuwenden bei Verdacht auf Überdosierung, was sich durch Intoxikations-(Vergiftungs-)erscheinungen zeigen kann oder wenn die Wirksamkeit des Medikaments ausbleibt. Um mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen rechtzeitig zu erkennen, sind bei zahlreichen Psychopharmaka viele Kontrolluntersuchungen wie Blutuntersuchungen (z. B. Blutbild, Leberwerte, Nierenwerte, Schilddrüsenwerte, Fettwerte) notwendig, ebenso Überprüfung des EKG, des Blutdrucks und des Pulses. Bei einigen Medikamenten sind auch regelmäßige EEG-Kontrollen (Ableitung der Hirnströme) erforderlich. Dank der Weiterentwicklung der Psychopharmaka sind viele der noch eben genannten Kontrolluntersuchungen bei den modernen Substanzen überflüssig geworden. Auf die notwendigen Kontrolluntersuchungen und der verschiedenen Arzneimittelnebenwirkungen wird bei den einzelnen Substanzgruppen eingegangen. Spezielle Probleme sind die Gabe von Psychopharmaka während der Schwangerschaft oder während des Stillens. Medikamente treten durch die Plazenta (Mutterkuchen) meist auf den kindlichen Organismus über oder gelangen über die Muttermilch in den kindlichen Organismus. Besonders im ersten Drittel der Schwangerschaft ist größte Vorsicht geboten. Grundsätzlich gilt, dass Psychopharmaka während der Schwangerschaft nur bei großer Notwendigkeit gegeben werden dürfen. Es gilt, eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung vorzunehmen. Einige Psychopharmaka sind streng kontraindiziert in der Schwangerschaft, das heißt, sie dürfen unter keinen Umständen während der Schwangerschaft genommen werden. Ein anderes spezielle Problem ist die Einnahme von Psychopharmaka und die Verkehrstauglichkeit. Bei Medikamenten, die zur vermehrten Müdigkeit führen können, ist das Unfallrisiko erhöht. Grundsätzlich muss bei der Verordnung von Psychopharmaka ausreichend über diesen Sachverhalt aufgeklärt werden. Andererseits

Probleme der Kombinationsbehandlung

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muss betont werden, dass Psychopharmaka auch zur Verbesserung der Verkehrsfähigkeit führen können, so beispielsweise bei Einsatz von Stimulanzien bei Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Untersuchungen bei neueren Antidepressiva zeigen, dass die Fahrtauglichkeit nicht beeinträchtigt ist. Bei der Einnahme von Antipsychotika ist individuell zu beurteilen, ob die Verkehrsfähigkeit beeinträchtigt ist. Eine erhöhte Gefährdung des Straßenverkehrs durch nichtbehandelte Psychosekranke ist aber möglich. Bei der Einnahme von Lithium ist die Fähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht gemindert. Unabhängig von der Psychopharmakotherapie ist bei Vorliegen von schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen, wie beispielsweise bei akuten Psychosen, ausgeprägter Demenz oder Suchtkrankheiten, das Fahren eines Kraftfahrzeugs nicht möglich. Eine weitere Problematik stellt die Psychopharmakotherapie im höheren Lebensalter dar. Im höheren Lebensalter kommt es zu altersbedingten Veränderungen der Verstoffwechselung von Medikamenten. Aus diesem Grund sind Medikamente im höheren Lebensalter oft geringer zu dosieren. Insbesondere ist im höheren Lebensalter bei möglicher Multimorbidität (mehrere Krankheiten liegen gleichzeitig vor) auf Wechselwirkungen der verschiedenen Medikamente zu achten. Individuelle Dosierungen, Berücksichtigung der erhöhten Empfindlichkeit gegenüber Medikamenten und weiterer medikamentöser Behandlungen anderer Erkrankungen sind bei Einsatz von Psychopharmaka im höhren Alter immens wichtig.

Probleme der Kombinationsbehandlung Häufig kommt es zu einer kombinierten Psychopharmakotherapie, dann werden mehrere Psychopharmaka gleichzeitig gegeben. Dies kann im Einzelfall Vorteile bieten, grundsätzlich wird eine Monotherapie angestrebt, also die Gabe eines einzigen Medikaments. Andererseits kann es sinnvoll sein, bestimmte Kombinationen von Psychopharmaka zu wählen. So kann es beispielsweise zu Beginn einer antidepressiven Medikation angebracht sein, zusätzlich

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

einen Tranquilizer zu geben, um die Zeit bis zum Einsetzen der Wirkung der Antidepressiva (ca. 2 Wochen) zu überbrücken und die die Lebensqualität beeinflussenden Symptome wie Schlafstörungen, Angst, Unruhe oder Suizidgefährdung positiv zu beeinflussen. Ebenso kann eine Kombination aus einem Antidepressivum und einem Phasenprophylaktikum sinnvoll sein, beispielsweise bei bekannten manisch-depressiven affektiven Störungen. Andere Kombinationen, die im Individualfall zum Einsatz kommen, sind beispielsweise ein stark wirksames Antipsychotikum und ein eher sedierendes Antipsychotikum, beispielsweise in der Anfangsbehandlung einer akuten Schizophrenie, wenn der Patient sehr unruhig oder erregt ist. Auch die Kombination eines Antipsychotikums und eines Antidepressivums erscheint dann sinnvoll, wenn beispielsweise bei Depressionen wahnhafte Symptome auftreten. Grundsätzlich gehört eine differenzierte Psychopharmakotherapie in die Hand eines erfahrenen Arztes.

Psychopharmakotherapie und Psychotherapie kombiniert? Wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass eine Psychopharmakotherapie eine Psychotherapie nicht ausschließt und umgekehrt. Häufig ist eine kombinierte Behandlung mit Psychopharmaka und Psychotherapie am ergolgreichsten. Oftmals ist eine medikamentöse Behandlung Voraussetzung, damit der Patient überhaupt von der Therapie profitieren kann. Andererseits kann die Psychotherapie die Bereitschaft zur regelmäßigen medikamentösen Behandlung beim Patienten erhöhen. Das EntwederOder-Denken hat ein Ende. Sowohl für die Psychotherapie als auch für die Psychopharmakotherapie ist eine Wirksamkeitskontrolle zu fordern. Eine häufige Kombinationsbehandlung ist die der Psychopharmakotherapie und der kognitiven Verhaltentherapie. Probleme können entstehen, wenn typischerweise Angstpati-

Spezielle Pharmakotherapie

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enten, die sich in Psychotherapie befinden, gegenüber Medikamenten skeptisch eingestellt sind. Auch kann die medikamentöse Gabe dazu führen, dass der Patient zu passiv bleibt, die Fortschritte oder Milderung seiner Symptome nur auf eine medikamentöse Wirkung bezieht und weniger die positive Wirkung der Psychotherapie berücksichtigt. Immer ist in der individuellen Situation zu prüfen, welche Medikamente wie lange bei zusätzlicher Psychotherapie zur Anwendung kommen.

Spezielle Pharmakotherapie Antidepressiva Antidepressiva können bei depressiven Störungen eingenommen werden. Häufig werden sie bei Vorliegen von depressiven Episoden genommen oder bei manisch-depressiven Erkrankungen (sog. bipolaren affektiven Störungen). Antidepressiva sind unabhängig von der Ursache der Depression wirksam. Depressionen können auch bei Psychosen auftreten, dann können Antidepressiva in Kombination mit einem Antipsychotikum genommen werden. Auch bei chronisch-depressiven Syndromen, wie beispielsweise der Dysthymia (siehe Seite 110), wirken Antidepressiva, vorausgesetzt, sie werden ausreichend lange Zeit genommen. Bei ausgeprägten Schlafstörungen können beruhigende Antidepressiva in niedriger Dosierung zur Nacht, also vor dem Schlafengehen, genommen werden. Die Winterdepression (saisonal bedingte Depression) ist gut behandelbar mit Antidepressiva der selektiven Serotonin-ReuptakeInhibitoren (SSRI). Antidepressiva – insbesondere die SSRI oder SSNRI (selektive Serotonin-Noradrenergen-Reuptake-Inhibitoren) helfen auch bei Angst und bei Panikstörungen. Ferner können Antidepressiva bei Zwangs-, Ess- und Schmerzstörungen sowie bei der Entzugsbehandlung eingesetzt werden.

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

Häufig fürchten Patienten, dass Antidepressiva abhängig machen. Das ist nicht der Fall. Antidepressiva führen nicht zu einer Abhängigkeit. Zu unterscheiden ist bei der Behandlung einer depressiven Erkrankung zwischen einer Akutbehandlung, einer Erhaltungstherapie und einer Propyhlaxe. Die akute Behandlungsphase hat zum Ziel, die aktuellen Beschwerden der Depression zu beheben, die Erhaltungstherapie beugt einem möglichen Rückfall bei bestehender depressiver Episode vor und die Vorbeugung (Prophylaxe) soll weitere erneute Episoden verhindern. Häufig werden die Antidepressiva nicht ausreichend lang und in zu geringer Dosis genommen, so dass keine richtige Wirkung erzielt werden kann. Es ist somit eine wichtige Regel, dass die Antidepressiva ausreichend lange und in ausreichend hoher Dosierung genommen werden müssen. Es stehen unterschiedliche Antidepressiva zur Verfügung. Sie können nach chemischer Struktur oder nach Wirkschwerpunkt unterschieden werden. Beispiele sind tri- und tetrazyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (SSNRI), selektive noradrenerge Wiederaufnahmehemmer (SNRI) und spezifisch serotonerges Antidepressivum (NaSSA), ferner MAO-Hemmer sowie pflanzliche Antidepressiva wie Johanniskrautextrakt. Antidepressiva wirken depressionslösend und stimmungsaufhellend, je nach Substanz können sie eher beruhigend (sedierend) und angstlösend sein (z. B. Amitriptylin, Doxepin, Trimipramin), antriebsneutral (z. B. Imipramin) oder antriebssteigernd (z. B. Desipramin). Leider ist es nicht möglich, in der individuellen Situation vorherzusehen, welches Antidepressivum wirkt, so dass von Patientenseite oft viel Geduld erforderlich ist. Hat der Patient bereits aus früheren Krankheitsphasen positive Erfahrungen mit dem einen oder anderen Medikament gemacht, so sollte auf dieses wieder zurückgegriffen werden. Wichtig ist zu wissen, dass die Wirkung des Antidepressivums

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meist etwas auf sich warten lässt, so sind zunächst zwei bis drei Wochen abzuwarten, bis es zu einer subjektiv spürbaren Besserung der depessiven Beschwerden kommt. Unglücklicherweise ist es so, dass zu Beginn der Behandlung mit einem Antidepressivum die Nebenwirkungen auftreten, im weiteren Behandlungsverlauf nehmen sie jedoch ab. Je nach Art des Antidepressivums können unterschiedliche Nebenwirkungen auftreten, zum Beispiel kann es bei Johanniskrautextrakten zu photoallergischen Reaktionen der Haut kommen, das heißt, Sonnenbestrahlung kann Hautreaktionen hervorrufen, so dass lange Sonnenbäder oder gar der Besuch des Solariums unbedingt zu vermeiden sind. Außerdem vermindert Johanniskraut die Wirkung der Antibabypille. Bei anderen Antidepressiva wie beispielsweise Amitriptylin oder Doxepin kann es zu Verschwommensehen und Mundtrockenheit kommen, ferner zu EKG- und Blutbildveränderungen, weswegen regelmäßige Kontrolluntersuchungen eingehalten werden müssen. Bei den moderneren Substanzen (SSRI, SNRI, SSNRI) sind die Nebenwirkungen geringer, am Anfang der Einnahme können jedoch Übelkeit, zum Teil mit Erbrechen, im weiteren Verlauf Schlafstörungen, Kopfschmerzen und sexuelle Störungen auftreten. Wenn keine oder nur eine unzureichende Wirkung unter einem Antidepressivum eintritt, obwohl das Medikament in ausreichender Dosierung genommen wird, kann auf ein anderes Antidepressivum einer anderen Wirkgruppe ausgewichen werden. Meist wird zuvor der behandelnde Arzt eine Blutspiegelkontrolle durchführen, um zu sehen, ob bei dem individuellen Patienten mit der eingenommenen Menge des Medikaments überhaupt ein wirksamer Spiegel des jeweiligen Medikaments nachzuweisen ist. Wie bereits an anderer Stelle betont, werden Antidepressiva bei der Behandlung von Depressionen oft in Kombination mit weiteren Maßnahmen wie Verhaltenstherapie, Wachtherapie oder Lichttherapie gegeben.

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Medikamente – nein Danke?! Was machen Psychopharmaka

Tabelle 2: Übersicht über die derzeit in Deutschland auf dem Markt befindlichen Antidepressiva Substanzgruppe Trizyklische Antidepressiva und analoge Substanzen »klassische Antidepressiva«

Substanz Amitriptylin Clomipramin Desipramin Doxepin Imipramin Maprotilin Opipramol

Trimipramin selektive SeroCitalopram tonin-Reuptake- Escitalopram hemmer Fluoxetin

Komplexe serotonerge Substanzen serotonerges Antidepressivum für Sonderfälle Serotonin-Noradrenalin-Reuptakehemmer NoradrenalinReuptakehemmer MAOInhibitoren

Fluvoxamin Paroxetin Sertralin Mirtazapin Trazodon

Bemerkungen weltweit Standardsubstanz auch gegen Panik- und Zwangsstörungen auch gegen Kokain-Entzugssyndrom auch als Schlafmittel eingesetzt historisch erstes Antidepressivum tetrazyklische Substanz Sedativum, antidepressive Wirkung schwach Auch als Schlafmittel eingesetzt wenig Interaktionen wenig Interaktionen viele Interaktionen, weltweit Standardsubstanz viele Interaktionen viele Interaktionen wenig Interaktionen Körpergewichtsanstieg, sediert deutlich sediert deutlich, gelegentlich Priapismus

Mianserin

sediert deutlich, Appettitssteigerung, sehr selten Blutbildstörungen

Venlafaxin Duloxetin

wenig Interaktionen

Reboxetin

sediert nicht, kein Körpergewichtsanstieg

Tranylcypromin Moclobemid Tryptophan

auch gegen soziale Phobien Serotoninbei Depressionen schwach wirksam Präkursoren pflanzliche Anti- Johanniskraut- antidepressive Wirkung eher schwach depressiva Extrakt

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Stimmungsstabilisierende Medikamente (mood stabilizer) zur Phasenprophylaxe Treten wiederholt depressive Phasen oder manisch-depressive Phasen auf, können verschiedene stimmungsstabiliserende Medikamente zur Vorbeugung (Prohphylaxe) eingesetzt werden, wie beispielsweise Lithium, Valproat, Carbamazepin oder Lamotrigin. Lithium kann auch bei ausschließlich wiederkehrenden depressiven Episoden (sog. monopolare rezidivierende Depressionen) verordnet werden. Da Lithium bei längerfristiger Einnahme zu Nieren- und Schilddrüsenveränderungen führen kann, sind vor und während der Einnahme Kontrolluntersuchungen notwendig. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Patient und behandelndem Arzt ist bei einer Lithium-Behandlung immer notwendig. Als wichtige Nebenwirkungen unter einer Lithium-Behandlung sind vermehrtes Durstgefühl, häufiges Wasserlassen, Zittern (Tremor) und Gewichtszunahme neben den bereits genannten Schilddrüsen- und Nierenveränderungen zu nennen. Während der Behandlung mit Lithium müssen regelmäßige Blutspiegelkontrollen durchgeführt werden, um eine Unter- oder Überdosierung zu erkennen. Die Lithium-Medikation wird in der Regel als Dauerprophylaxe eingesetzt, das heißt, die Einnahme erfolgt über Jahre, eventuell auch lebensbegleitend.

Weitere stimmungsstabiliserende Medikamente Valproat, Lamotrigin oder Carbamazepin können bei manisch-depressiven Erkrankungen zur Phasenprophylaxe eingesetzt werden. Alle drei genannten Medikamente wurden ursprünglich in der Behandlung von anfallskranken Menschen eingesetzt. Sie sind jedoch auch wirksam in der Prophylaxe von biploaren (manisch-depressiven) Erkrankungen. Auch bei Valproat, Carbamazepin oder Lamotrigin sind verschiedene Blutkontrollen erforderlich, sowohl vor als auch während der Medikation. Der Patient sollte sich bei seinem behandelnden Arzt genau darüber informieren.

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Bei der manisch-depressiven Erkrankung kann als Phasenprophylaxe auch Olanzapin zur Anwendung kommen, ein Antipsychotikum der zweiten Generation (siehe im Kapitel »Antipsychotika«, S. 96ff.). Welches Medikament zur Phasenprophylaxe eingesetzt wird, muss individuell entschieden werden. Der Patient muss mit seinem behandelnden Nervenarzt besprechen, welches der möglichen phasenprophylaktischen Medikamente für ihn, bei seiner Verlaufsform der depressiven oder manisch-depressiven Erkrankung und unter Berücksichtigung bestehender Vorerkrankungen sowie möglicher Nebenwirkungen das Günstigste ist. Weitere detailliertere Informationen zur Behandlung der manisch-depressiven Erkrankung sind zu finden im Ratgeber für Patienten und Angehörige von Schäfer und Rüther (2004c).

Antipsychotika Früher wurden Antipsychotika Neuroleptika genannt. Antipsychotika wirken auf psychotische Symptome, sie werden zur Behandlung der Schizophrenie oder der manischen Symptome bei einer manisch-depressiven Erkrankung genommen. Die Antipsychotika werden eingeteilt in die der 1. Generation (ältere Substanzen) und der 2. Generation (neuere Substanzen). Vorteile der neueren Substanzen (Antipsychotika der 2. Generation) sind, dass sie zu weniger Nebenwirkungen führen als die Substanzen der 1. Generation, weswegen sie bevorzugt genommen werden sollten. Vereinfachend und zusammenfassend kann folgender Vergleich zwischen Antipsychotika der 1. und 2. Generation gemacht werden: Tabelle 3: Vergleich der Antipsychotika der 1. und 2. Generation Funktion Gefühle Denken Antrieb

1. Generation Dämpfen Blockieren Hemmen

Wirkung 2. Generation Regulieren Verbessern Ausgleichen

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Schizophrenie. Eine Krankheit – kein Unwort. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 63)

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Nebenwirkungen der Antipsychotika der 1. Generation sind insbesondere extrapyramidale Störungen. Darunter sind Bewegungsstörungen zu verstehen, die mit Ruhelosigkeit, Zittern, Gefühl der Steifheit in den Muskeln und Einschränkungen der Beweglichkeit einhergehen. Besonders gefürchtet sind Spätdyskinesien. Das sind unwillkürliche Bewegungen in der Muskulatur, die überwiegend im Gesichtsbereich auftreten, aber auch an Händen und Füßen vorkommen können. Diese Spätdyskinesien sind die unangenehmsten Nebenwirkungen der Antipsychotika der 1. Generation und am meisten gefürchtet. Andere Nebenwirkungen unter Antipsychotika der 1. Generation wie Kreislaufstörungen, Erhöhung des Augeninnendrucks, Libidoverlust, Leberwertveränderungen erfordern eine engmaschige Kontrolle des Patienten durch den behandelnden Nervenarzt. Mögliche Nebenwirkungen unter Antipsychotika der 2. Generation sind Blutzuckererhöhungen, Veränderung des Blutfettwertes sowie Gewichtszunahme und seltener EKG-Veränderungen, weswegen auch hier der Patient regelmäßige Kontrolluntersuchungen beim behandelnden Arzt durchführen lassen muss. Grundsätzlich ist die Dosierung der Antipsychotika individuell, der Patient muss in Zusammenarbeit mit seinem behandelnden Arzt die für ihn richtige Dosis herausfinden. Sie sollte so gering wie möglich sein, aber auch so hoch wie nötig, damit die psychotischen Symptome nicht mehr auftreten. Neben dem Einfluss auf die psychotischen Symptome, wie beispielsweise Wahn oder Halluzinationen, haben die Antipsychotika der 2. Generation auch eine positive Wirkung auf die Negativsymptome (Antriebsstörungen, Konzentrationsstörungen), die häufig den Patienten auf Dauer viel mehr belasten, weil sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung beispielsweise bei der Arbeit oder bei der Durchführung von Alltagsaktivitäten führen. Tabelle 4: Antipsychotika der 1. und 2. Generation Antipsychotika der 1. Generation (Beispiele) Wirkstoffgruppe Handelsname Benperidol Glianimon® Clopenthixol Ciatyl®

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Flupentixol Fluphenazin Fluspirilen Haloperidol Levomepromazin Perazin Perphenazin Pimozid Zuclopenthixol

Fluanxol® Dapotum® Imap® Haldol® Neurocil® Taxilan® Decentan® Orap® Ciatyl-Z®

Antipsychotika der 2. Generation Wirkstoffgruppe Amisulprid Aripripazol Clozapin Olanzapin Quetiapin Risperidon Ziprasidon Zotepin

Handelsname Solian® Abilify® Leponex®, Elcrit® Zyprexa® Seroquel® Risperdal® Zeldox® Nipolept®

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Schizophrenie. Eine Krankheit – kein Unwort. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 65)

Tranquilizer/Anxiolytika Eine weitere Gruppe der Psychopharmaka sind Tranquilizer und Anxiolytika, die bei Angst und Spannungszuständen eingenommen werden können. Ein Hauptvertreter der Anxiolytika sind Benzodiazepine. Benzodiazepine werden häufig synonym gebraucht für den Begriff Tranquilizer. Benzodiazepin-Tranquilizer sind die am häufigsten verordneten Psychopharmaka überhaupt. Der bekannteste Vertreter eines Benzodiazepins ist Diazepam (Valium®). Obwohl die Wirkung der Angstminderung und Beruhigung gut ist, dürfen Benzodiazepine jedoch nur kurzfristig eingenommen werden, da ein hohes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential besteht. Wenn Benzodiazepine nach längerer Einnahme abrupt abgesetzt werden, kann es zu erheblichen Entzugserscheinungen kommen.

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Vor einer längerfristigen Benzodiazepin-Einnahme ist dringend zu warnen. Insbesondere bei Erkrankungen, die über einen längeren Zeitraum bestehen, wie beispielsweise Angststörungen, sollten Benzodiazepine nur in Ausnahmefällen und nur unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden. Mögliche Nebenwirkungen von Benzodiazepinen sind Müdigkeit, Konzentrationsminderung, Gedächtnisstörungen, depressive Verstimmungen und, wie bereits erwähnt, die Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung.

Andere Beruhigungsmittel Als Beruhigungsmittel werden auch Antipsychotika eingenommen. Bei dieser Substanzgruppe besteht kein Abhängigkeitspotential. Die Einnahme sollte jedoch genau überwacht werden, da Antipsychotika auch zu extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen führen können.

Trizyklische Antidepressiva Sedierende (beruhigende) Antidepressiva können ebenfalls als Tranquilizer eingesetzt werden, wie beispielsweise Opipramol, Amitriptylin, Doxepin.

Chemisch andersartige Tranquilizer Zu dieser Gruppe gehört Buspiron (Bespar®). Es besteht kein Abhängigkeitspotential, die angstlösende Wirkung ist jedoch geringer als bei Benzodiazepin-Tranquilizern.

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Pflanzliche Tranquilizer Bei leichteren Beschwerden können auch pflanzliche Beruhigungsmittel eingesetzt werden, wobei der wissenschaftliche Nachweis der pflanzlichen Tranquilizer nur unzureichend ist. Beispiele hierfür sind Baldrian, Hopfen, Johanniskraut, Lavendelblüten, Melissenblätter, Passionsblumenkraut.

Betarezeptorenblocker Betarezeptorenblocker (Betablocker) gehören nicht zur eigentlichen Gruppe der Psychopharmaka, sondern sie werden hauptsächlich zur Behandlung eines erhöhten Blutdrucks, einer koronaren Herzerkrankung oder bei Herzrhythmusstörungen genommen. Bei Angststörungen, die mit erheblichen körperlichen Beschwerden wie vermehrtem Herzschlag, Schwitzen, Zittern einhergehen, können jedoch auch Betablocker genommen werden. Auch bei Prüfungsängsten, Lampenfieber oder Flugangst kann die Einnahme günstig sein.

Schlafmittel Hypnotika sind Arzneimittel, die bei Schlafstörungen genommen werden können. Zum einen sind die bereits erwähnten Benzodiazepine zu nennen, die jedoch wegen des Abhängigkeitspotentials gemieden werden sollten und nicht zu einem langfristigen Einsatz geeignet sind. Andere Schlafmittel wie Zolpidem oder Zopiclon sind günstiger. Zum anderen können bei Schlafstörungen auch sedierende (beruhigende) Antidepressiva oder niedrig dosierte Antipsychotika genommen werden. Auch pflanzliche Beruhigungsmittel werden häufig eingesetzt. Schlafstörungen sind jedoch nicht allein durch die Einnahme von Medikamenten zu behandeln. Dennoch kann es im Einzelfall notwendig sein, Schlafmittel einzusetzen. Nicht-BenzodiazepinHypnotika wie Zolpidem oder Zopiclon sollten dann bevorzugt genommen werden. Bei diesen Substanzen ist die Gefahr einer

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Abhängigkeitsentwicklung geringer. Empfehlenswert ist eine Intervallbehandlung. Darunter wird verstanden, dass der Patient die medikamentöse Behandlung seiner Schlafstörung auf maximal 4 Wochen beschränkt, anschließend muss er ein medikamentenfreies Intervall einhalten, das mehrere Wochen betragen sollte. Dann kann er wieder für einen festgelegten Zeitraum das Medikament nehmen. Eine andere Möglichkeit ist die so genannte intermittierende Gabe von Schlafmitteln. Dabei legt der Patient von vornherein fest, an welchen 2 oder 3 Abenden er pro Woche das Schlafmittel nehmen möchte. Er legt also vor Beginn der Arbeitswoche fest, an welchen Tagen er besonders gut ausgeschlafen sein muss. Eine Einnahme im Bedarfsfall (der Patient nimmt nur dann etwas zum Schlafen, wenn er merkt, dass er nicht schlafen kann), sollte unbedingt vermieden werden. Alternativ können auch niedrig dosiert beruhigende Antidepressiva zum Einsatz kommen, wie beispielsweise Amitriptylin, Trimipramin oder Doxepin sowie Mirtazapin. Auch bei diesen Substanzen besteht keine Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung. Regelmäßige Kontrollen muss der Patient bei seinem behandelnden Arzt jedoch durchführen (z. B. Blutbild-, Leberwert- und EKG-Messungen). Insbesondere dann, wenn Schlafstörungen im Zusammenhang mit Depressionen auftreten, sollten vorzugsweise Antidepressiva eingenommen werden. Niedrigpotente Antipsychotika wie beispielsweise Melperon, Pipamperon oder Promethazin können bei Schlafstörungen eingesetzt werden. Alternativ können Antipsychotika der 2. Generation, die insgesamt weniger Nebenwirkungen haben, bei Schlafstörungen genommen werden wie beispielsweise Quetiapin (Seroquel®) oder Olanzapin (Zyprexa®). Pflanzliche Präparate haben insgesamt weniger unerwünschte Nebenwirkungen, zeigen jedoch auch deutlich weniger Wirkung. Genommen werden können beispielsweise Baldrian, Hopfen oder Melisse sowie verschiedene Kombinationen aus diesen Substanzen. Vorsicht ist jedoch dann geboten, wenn diese Naturpräparate in alkoholhaltiger Lösung verabreicht werden! Melatonin hat eine schlafanstoßende und schlaffördernde Wirkung. Insbesondere bei Schlafstörungen nach Zeitzonenver-

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schiebungen (Jetlag) kann die Substanz genommen werden. Sie ist jedoch in Deutschland nicht im Handel erhältlich, so dass der Patient das Medikament nur über die internationale Apotheke besorgen kann. Auf einzelne verschiedene Schlafstörungen und deren differenzierte Behandlungsmöglichkeiten wird im Kapitel über Schlafstörungen näher eingegangen.

Antidementiva Unter Antidementiva werden Medikamente verstanden, die Hirnfunktionen wie Gedächtnis-, Konzentrations-, Lern- und Denkfähigkeit verbessern sollen und somit die kognitiven Leistungsstörungen im Rahmen dementieller Erkrankungen günstig beeinflussen sollen. Cholinesterasehemmer vermindern den Abbau von Acetylcholin und führen somit zu einer Erhöhung des zur Verfügung stehenden Acetylcholin. Bei der Alzheimer-Demenz geht man davon aus, dass ein Acetylcholinmangel vorliegt. Eine Heilung ist nicht möglich, es kann ein vorübergehender Stillstand der Erkrankung im Sinne einer Stabilisierung günstigstenfalls erreicht werden. Ziel ist, die Pflegebedürftigkeit, zu der es bei der Alzheimer-Demenz im fortgeschrittenen Stadium kommt, aufzuschieben, was für den Patienten und seine Angehörigen einen Gewinn an Lebensqualität bedeutet. Verschiedene Cholinesterasehemmer stehen in Deutschland zur Verfügung, wie beispielsweise Donepezil (Aricept®), Rivastigmin (Exelon®) und Galantamin (Reminyl®). Ein anderes wirksames und zugelassenes Medikament zur Behandlung der Demenz ist Memantine (Axura®, Ebixa®). Grundsätzlich ist bei jeglicher medikamentöser Behandlung immer eine engmaschige Therapiekontrolle durch den behandelnden Nervenarzt notwendig, um über die Wirksamkeit und Fortsetzung der Behandlung zu entscheiden und um mögliche Nebenwirkungen zu erfassen. Neben den bereits erwähnten Antidementiva können bei der Demenzerkrankung zusätzlich andere Psychopharmaka genommen werden, beispielsweise bei auftretenden Verhaltensstörungen

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wie agitiert-unruhigem Verhalten, Aggressionen, Wutausbrüchen, psychotischen Symptomen oder Schlafstörungen. Dann können Antipsychotika der 2. Generation, wie zum Beispiel Risperidon (Risperdal®), Quetiapin (Seroquel®) oder Olanzapin (Zyprexa®), genommen werden (ausführlichere Darstellungen im Kapitel Demenzerkrankungen, Seite 223f.).

Psychostimulanzien Psychostimulanzien (z. B. Methylphenidat) sind Medikamente, die die psychische Aktivität steigern, die Konzentrationsfähigkeit erhöhen und eine vermehrte motorische Unruhe herabsetzen sowie die Impulsivität mindern. Bei ausgeprägter Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei Kindern und Jugendlichen werden sie ergänzend zu weiteren psychotherapeutischen Maßnahmen eingesetzt. Beim bleibenden Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssysndrom im Erwachsenenalter sind sie jedoch bisher noch nicht zugelassen. Die Behandlung mit Stimulanzien beim Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung des Kindes- und Jugendalters ist von vielen ideologischen Einflüssen und verzerrten Darstellungen in den Medien begleitet. Bei sorgfältiger Diagnosestellung sind Stimulanzien für den betroffenen Patienten oft eine wertvolle Hilfe, eine verbesserte Steuerungsfähigkeit und Konzentrationsleistung zu erhalten, und ermöglichen überhaupt erst die Möglichkeit, eine psychotherapeutische Behandlung durchzuhalten. Voraus-gesetzt sind natürlich immer eine sorgfältige Diagnose, eine fachärztliche (meist kinder- und jugendpsychiatrische) Behandlung und engmaschige Kontrollen, insbesondere zur Frage der Wirksamkeit und der weiteren Notwendigkeit der Behandlung. Die Behandlung mit Stimulanzien im Kindes- und Jugendalter gehört auf jeden Fall in die Hand eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die medikamentöse Behandlung ist immer eingebettet in ein multimodales Behandlungskonzept (siehe Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, Seite 191ff.). Eine andere Substanz, die beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsyndrom im Kindes- und Jugendalter eingenommen

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werden kann, ist Atomoxetin (Strattera®). Diese Substanz ist kein Stimulanz, sondern gehört pharmakologisch in die Gruppe der selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Atomoxetin führt jedoch ebenso wie Methylphenidat zur Verbesserung der Konzentrationsleistung und der Impulsivität sowie zur Abnahme der motorischen Unruhe. Wie bei Methylphenidat gilt auch hier, dass eine engmaschige Behandlung bei einem Facharzt für Kinderund Jugendpsychiatrie, regelmäßige Kontrollen hinsichtlich weiterer Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung sowie Erfassung möglicher Nebenwirkungen erforderlich sind. Auch diese Substanz wird ergänzend zu weiteren psychotherapeutischen Maßnahmen eingesetzt. Eine alleinige medikamentöse Behandlung ist bei der Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung nie ausreichend. Mögliche Nebenwirkungen von Stimulanzien, wie beispielsweise Methylphenidat, können Appetitminderung, Schlafstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen, dysphorische (herabgesetzte) Stimmung, Blutdruckanstieg und Herzfrequenzanstieg sein, weswegen entsprechende Kontrolluntersuchungen erforderlich sind. Auch bei der Narkolepsie (siehe im Kapitel Schlafstörungen, Seite 178f.) können Stimulanzien eingenommen werden (z. B. Vigil®).

Entzugs- und Entwöhnungsmittel Medikamente, die bei Entzugssymptomen oder zur Unterstützung der Alkoholentwöhnung eingenommen werden, gehören eigentlich nicht zur Gruppe der Psychopharmaka im engeren Sinn. Da sie jedoch bei psychiatrischen Erkrankungen wie der Alkoholabhängigkeit genommen werden können, sollten sie kurz hier erwähnt werden. Acamprosat (Campral®) kann zur Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit genommen werden. Unter diesem Medikament kommt es zur Abnahme des Verlangens nach Alkohol (»AntiCraving«). Diese medikamentöse Behandlung ist immer begleitet von einer psychotherapeutischen Betreuung. Mögliche Nebenwirkungen können Durchfall, Libidostörungen und Juckreiz sein. Bei Drogenabhängigkeit kann eine Behandlung mit Naltrexon erfolgen, wenn eine Opiatentgiftung bereits durchgeführt wurde.

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Weitere Medikamente zur Entzugsbehandlung wie Clomethiazol oder Clonidin oder Disulfiram werden nicht näher erläutert, weil diese Medikamente ausschließlich während einer stationären Behandlung eingesetzt werden und eine engmaschige medizinische Überwachung erfordern.

Sexualtherapeutika Bei Erektionsstörungen können verschiedene Sexualtherapeutika, beispielsweise Sildenafil (Viagra®) oder Tadalafil (CIALIS®) genommen werden. Das Medikament wirkt über eine Erweiterung der glatten Muskulatur, so dass es über einen verstärkten Bluteinstrom zur Erektion kommt. Es wird als Einmaldosis etwa eine Stunde vor einem geplanten Sexualverkehr eingenommen. Mögliche Nebenwirkungen können Schwindel, Kopfschmerzen, Blutdrucksenkung sowie eine veränderte Farbwahrnehmung sein. Vor erster Einnahme sollte der Betroffenen jedoch mit seinem Hausarzt klären, ob mögliche Gegenanzeigen gegen diese Einnahme bestehen oder ob er Medikamente nimmt, die sich nicht mit diesem Medikament vertragen.

8. Wen es trifft – spezielle einzelne psychiatrische Störungsbilder

Affektive Störungen Unter den affektiven Störungen werden Erkrankungen verstanden, die mit wechselnden Stimmungen beziehungsweise Gefühlen (= Affekte) einhergehen, wobei diese wechselnden Stimmungen und Gefühle sehr ausgeprägt, heftig und länger anhaltend sind. Es wird unterschieden zwischen ausschließlich depressiven Verstimmungsphasen und depressiven und manischen Episoden. Bei ausschließlich depressiven Störungen spricht man von rezidivierenden depressiven Episoden, bei Auftreten von sowohl depressiven als auch manischen Episoden spricht man von einer manisch-depressiven Erkrankung oder einer bipolaren affektiven Störung.

Depressionen Symptomatik Depressionen sind niedergeschlagene Stimmungen, die über den normalen Kummer und eine gesunde Trauerreaktion hinausgehen. Gefühle von Traurigkeit, Hoffnungs- und Freudlosigkeit können bei allen Menschen gelegentlich auftreten und sind an sich normal. Diese Gefühle gehören zum alltäglichen Leben genauso wie Freude, Zorn oder Angst. Es sind menschliche Erfahrungen und Wahrnehmungen. Oft sind erschütternde Erlebnisse, Verletzungen, berufliche Niederlagen oder Verlust einer nahen stehenden Person vorausgegangen. Im Allgemeinen sind Gefühle wie Traurigkeit vorübergehend und sie sind erklärbar.

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Wen es trifft – spezielle einzelne psychiatrische Störungsbilder

Anders als bei dieser normalen Traurigkeit ist es bei der Depression so, dass sich der Betroffene traurig oder niedergeschlagen fühlt, sich »leer« fühlt, keinen Zugang mehr zu seinen Gefühlen hat, er kann nicht angeben, warum er traurig ist, er verspürt die Leere und kann sich seinen niedergedrückten Stimmungszustand nicht erklären. Interessen- und Freudlosigkeit drücken sich häufig dadurch aus, dass der depressive Mensch seine Hobbys aufgibt, keinen Spaß mehr empfindet, sich zunehmend von Freunden oder von der Familie zurückzieht, kein Interesse mehr am Beruf oder an anderen, früher liebgewonnenen Tätigkeiten hat. Sein Antrieb, sein innerer Schwung sind verloren gegangen oder herabgesetzt. Normale Alltagsaktivitäten sind nur mit großer Mühe oder Kraftanstrengung zu bewerkstelligen. Oft klagen depressive Menschen, dass der Alltag wie ein Berg vor ihnen stehe. Zusätzlich kommt es im Rahmen der Depression häufig zu einer inneren Unruhe. Die Patienten fühlen sich innerlich nervös und getrieben, häufig treten auch Ängste auf, ohne dass genau beschrieben werden kann, wovor diese Ängste bestehen. Das Selbstwertgefühl ist herabgesetzt. Der depressive Patient ist davon überzeugt, nichts zu taugen, er fühlt sich wertlos und glaubt, dieser Zustand werde nie zu Ende gehen. Die Konzentration ist im Rahmen der Depression gemindert, viele Patienten befürchten »verrückt« oder »dement« zu werden. Häufig ist die Stimmung besonders am Morgen herabgesetzt, wir sprechen von einem Morgentief. Die Stimmung kann im Lauf des Tages schwanken, zum Abend wird sie meist besser, wir sprechen von Tagesschwankungen. Körperliche Symptome wie Appetitverlust, Gewichtsverlust, diffuse Schmerzen, Schwindel oder Engegefühl in der Brust sowie Kloßgefühl im Hals oder andere körperliche Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Übelkeit und Kraftlosigkeit können im Rahmen einer Depression vorkommen. Es wird deutlich, dass die Depression nicht nur eine vorübergehende Befindlichkeitsschwankung ist, sondern den ganzen Menschen erfasst. Die Depression beinhaltet Veränderungen des Erlebens (Kränkungen, Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit), des Denkens (Katastrophenvorstellungen, negative Selbsteinschätzung),

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des Verhaltens und Antriebs (Passivität, sozialer Rückzug) und des Körpers (Schlafstörungen, Schmerzen, Unruhe). Ist die Depression sehr ausgeprägt, so treten auch suizidale Gedanken oder Handlungen auf (Selbsttötungsgedanken, -versuche, -handlungen). Wann immer solche Gedanken auftreten oder ausgesprochen werden, sind sie sehr ernst zu nehmen, und es ist dann unbedingt fachliche Hilfe einzuholen. Im Rahmen einer depressiven Erkrankung können auch Wahnideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor (Starrheit) auftreten. Der Wahn beinhaltet meist Themen wie Versündigung oder an einer nicht heilbaren Krankheit erkrankt zu sein, gänzlich zu verarmen, bevorstehende Katastrophen. Akustische Halluzinationen (Trugwahrnehmungen) sind meist anklagende Stimmen. Wahn und Halluzinationen verschwinden, wenn die Depression richtig behandelt wird. Kernsymptome der depressiven Störung sind: – depressive Verstimmung, – Antriebshemmung, – Schlafstörungen; Tagesschwankungen mit Morgentief, Appetitminderung, – Selbsttötungsgedanken, Selbsttötungsversuche. Weitere depressive Symptome können sein: – Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, – Herabgesetztes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, – negative Zukunftsgedanken, – Ein- und Durchschlafstörungen, Früherwachen, – Gewichtsabnahme mit vermindertem Appetit, – Interessen- und Freudlosigkeit, – Gefühl der Leere, – Libidoverlust, – Ängste. Eine Depression wird in erster Linie durch ein Gespräch mit dem Patienten und durch die Angaben von Angehörigen (Fremdanamnese) sowie durch die Verhaltensbeobachtungen (wenig Mimik und Gestik, verlangsamte, leise Sprache, zurückgezogenes Verhalten) untersucht.

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Immer gilt es, organische (körperliche) Ursachen, die eine Depression hervorrufen können, auszuschließen, wie beispielsweise Schilddrüsenunter- oder -überfunktion, Vitamin-B12-Mangel, Eisenmangel oder Entzündungen. Entsprechende Untersuchungen sollten erfolgen (unter Umständen sind auch bildgebende Verfahren einzusetzen; neurologische und internistische Untersuchungen gehören ebenfalls zur Diagnostik). Oft werden ausschließlich körperliche Beschwerden bei der Depression geschildert, weswegen Depressionen häufig verkannt werden. Körperliche Beschwerden im Rahmen der Depression wie Verstopfung, Kopf- oder Herzschmerzen, Muskelkrämpfe, Übelkeit, Schwindel, Magenbeschwerden sind einerseits körperlich abzuklären, bei negativem körperlichen Befund sollte an eine Depression (sog. lavierte Depression) gedacht werden. Depressive Verstimmungsepisoden können immer wieder auftreten, es ist dann von rezidivierenden depressiven Episoden auszugehen. Dem gegenüber steht eine chronisch-depressive Verstimmung, die Dysthymie genannt wird. Sie ist nicht so schwerwiegend wie eine depressive Episode. Oft leiden die Patienten unter vermehrter Müdigkeit, leichter depressiver Verstimmung, jedoch nicht so ausgeprägt wie bei einer depressiven Episode. Die Patienten mit einer chronisch-depressiven Verstimmung wie bei der Dysthymie sind meist in der Lage, ihren normalen Lebensalltag zu bewerkstelligen. Oft sind dysthyme Menschen genussunfähig, sie grübeln häufig, schlafen schlecht und fühlen sich häufig überfordert.

Verlauf der Depression In 70 bis 80 Prozent der Situationen kommt es zu erneuten depressiven Symptomen. Mit zunehmender Erkrankungsdauer nimmt die Zahl der depressiven Episoden zu. Besonders gefährlich ist das erhöhte Selbsttötungsrisiko. Außerdem führt das Vorliegen einer depressiven Erkrankung zu einem erhöhten kardiovaskulären Risiko (z. B. Herzinfarkt).

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So genannte doppelte Depressionen (gleichzeitiges Vorhandensein von Dysthymie und depressiven Episoden) können vorkommen. Ferner kommt es im Rahmen der Depression häufig auch zu Angststörungen und Panikattacken sowie zu Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Essstörungen wie die Magersucht oder Essattacken mit Erbrechen (Bulimie) gehen häufig mit Depressionen einher. Auch die Alkoholerkrankung ist häufig mit einer Depression vergesellschaftet.

Entstehung der Depression Bei der Entstehung der Depression ist von einem multifaktoriellen Geschehen auszugehen, es spielen mehrere Faktoren – genetische, biologische, psychologische, reaktive und soziale – für die Entstehung und den Verlauf einer Depression eine wichtige Rolle. Nicht ein einzelner Faktor ist ursächlich, sondern die verschiedenen Faktoren stehen in einem sich gegenseitig bedingenden Gefüge. Diese können sein: – aktuelle Belastungssituationen (Beruf, Partnerschaft, Familie), – genetische Faktoren (familiäre Häufung von Depressionen), – hirnorganische Faktoren (zum Beispiel Zustand nach einem Schlaganfall), – körperliche, medikamentöse oder krankheitsbedingte Einflüsse (zum Beispiel depressive Verstimmungen im Rahmen einer chronischen körperlichen Erkrankung oder durch Medikamente ausgelöste depressive Verstimmungen), – Suchterkrankung (Alkoholismus). Neurobiologische Untersuchungen weisen auf die Bedeutung eines gestörten Stoffwechsels der Botenstoffe insbesondere Serotonin und Noradrenalin hin. Eine Empfänglichkeit (Vulnerabilität) für Depressionen ist nicht nur aufgrund genetischer Dispositionen anzunehmen, sondern auch in Form von frühkindlichen oder anderen lebensgeschichtlichen schwerwiegenden Ereignissen (Traumata), insbesondere bei Verlusterlebnissen. Hormonelle (neuroendokrinologische) Faktoren weisen auf eine

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Störung im Bereich der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde- beziehungsweise Schilddrüsen-Achse hin. Mit moderner Bildgebung (PET, SPECT, funktionelle Kernspintomographie) können Veränderungen in bestimmten Hirnsstrukturen (Basalganglien, im Frontalhirn und im limbischen System) festgestellt werden. Neben möglichen ursächlichen Faktoren sind Auslösefaktoren für Depressionen zu nennen, wie der Tod eines nahen Angehörigen, Ehe- und Beziehungsprobleme, Vereinsamung, Probleme am Arbeitsplatz, Verlust von Beziehungen, Trennungen, Umzüge, langanhaltende Belastungen oder Überforderungssituationen. Psychologische Konzepte gehen von einer gelernten Hilflosigkeit aus. Darunter ist zu verstehen, dass depressive Patienten sich häufig als hilflos erleben, so, als ob sie keine Kontrolle mehr über ihre eigenen wichtigen Lebensbedingungen hätten. Sie fühlen sich ausgeliefert, haben das Gefühl, keinen Einfluss auf ihr Leben zu haben, fühlen sich ohnmächtig. Passivität und Resignation sind die Folgen. Ferner gehen die psychologischen Modelle davon aus, dass der depressive Patient eine negative Sichtweise sowohl von der Welt als auch von der eigenen Person und der Zukunft hat. Depressive Patienten fühlen sich als Versager, sie glauben, alles falsch zu machen. Ihre eigenen Leistungen schätzen sie nicht wert, während sie die Leistungen anderer überschätzen. Kleinste Fehler, die sie machen, werden als Katastrophe erlebt. Kennzeichnend für depressive Menschen ist, dass sie eher negative Erfahrungen, Fehler oder Misserfolge wahrnehmen. Die positiven Fähigkeiten und Seiten werden nicht gesehen. Oft laufen solche gedanklichen Verzerrungen und Fehlwahrnehmungen automatisch ab. Dem depressiven Menschen sind diese pessimistischen Grundüberzeugungen selbst nicht bewusst. Oft kommt es zu diesen negativen automatischen Gedankenabläufen infolge von Kränkungs- und Verlusterfahrungen. Typische Denkstrukturen bei depressiven Menschen sind: 1. Alles-oder-nichts-Denken: Du siehst alle Dinge in Schwarz-Weiß-Kategorien. Sobald deine Leistungen nicht ganz so perfekt ist, siehst du dich als totalen Versager an.

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Übertriebene Verallgemeinerung: Du siehst ein einzelnes negatives Ereignis als Modell einer unendlichen Serie von Niederlagen. Geistiger Filter: Du greifst dir ein einzelnes negatives Detail heraus und suhlst dich ausgiebig darin, so dass dein gesamtes Wirklichkeitsbild getrübt wird, genauso wie ein Tropfen Tinte einen ganzen Becher Wasser einfärbt. Abwehr des Positiven: Du weist positive Erfahrungen ab, indem du darauf bestehst, dass sie aus irgendeinem Grund ›nicht zählen‹. Auf diese Weise kannst du deine negative Grundüberzeugung aufrechterhalten, die ganz im Gegensatz zu deinen alltäglichen Erfahrungen steht. Voreilige Schlussfolgerungen: Du gelangst zu negativen Interpretationen, auch wenn keine unumstößlichen Tatsachen vorhanden sind, die deine Schlussfolgerung erhärten können. Gedankenlesen: Du bildest dir ein, dass dir jemand ablehnend gegenübersteht, und machst keinerlei Anstalten, dir darüber Klarheit zu verschaffen. Falsche Vorhersagen: Du erwartest, dass die Dinge sich ungünstig entwickeln werden, und du bist davon überzeugt, dass deine Vorhersage eine bereits feststehende Tatsache ist. Über- und Untertreibung: Du überschätzt die Wichtigkeit bestimmter Dinge (zum Beispiel einen deiner Fehler oder die Leistung eines anderen) oder unterschätzt andere Aspekte so stark, dass sie schließlich ganz winzig erscheinen (zum Beispiel deine eigenen Fähigkeiten oder die Schwächen anderer Leute). Emotionale Beweisführung: Du nimmst an, dass deine negativen Gefühle notwendigerweise genau ausdrücken, was wirklich geschieht: ›Ich fühle es, also muss es wahr sein.‹ Wunschaussagen: Du versucht, dich mit Aussagen wie ›man sollte‹ oder ›man sollte nicht‹ zu motivieren. Anforderungen, wie ›man muss‹ oder ›es hätte sich gehört‹ gehören ebenfalls dazu. Durch den Druck, der dadurch entsteht, fühlst du dich aber teilnahmslos. Etikettierungen: Hierbei handelt es sich um eine besonders übertriebene Form der Verallgemeinerung. Anstatt dir über deinen Irrtum klar zu werden, drückst du dir ein negatives Etikett (Selbstbeschreibung) auf. Es lautet: ›Ich bin ein ewiger Verlierer‹. Wenn das Verhalten eines anderen bei dir Anstoß erregt, gibst du ihm ein negatives Etikett: ›Er ist ein Vollidiot!‹. Falsches Etikettieren bedeutet, ein Ereignis mit einer ungenauen und emotional aufgeladenen Sprache zu beschreiben. Dinge persönlich nehmen: Du glaubst, für ein negatives äußeres Ereignis verantwortlich zu sein, obwohl du damit in Wirklichkeit gar nichts zu tun hast.«

(aus: M. Hautzinger: Depression. Göttingen: Hogrefe, 1998)

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Andere psychologische Modelle gehen davon aus, dass es in der Vergangenheit von depressiven Patienten, insbesondere in der Kindheit, zu Verletzungen, zu Verlust- und Mangelerfahrungen gekommen ist, die »psychische Narben« hinterlassen haben. Fehlen an ausreichender Anerkennung und Wertschätzung, Ablehnung, häufige Überforderungen, zu hohe Leistungserwartungen und zu hohe Ansprüche kennzeichnen oft die Erfahrungen depressiver Menschen in der Kindheit. Wie bereits erwähnt, wird bei der Depression davon ausgegangen, dass ein Mangel des Botenstoffs Noradrenalin oder Serotonin vorliegt. Insgesamt scheint es zu einem Ungleichgewicht der verschiedenen Botenstoffe zu kommen. Es besteht ein relatives Überwiegen des Botenstoffes Acethylcholin und ein relativer Mangel an Botenstoffen Noradrenalin oder Serotonin. Serotonin und Noradrenalin sind wichtige Botenstoffe, die für Antrieb, Konzentration und Schwung verantwortlich sind. Eine Verzahnung von biologischen und psychologischen Modellen ist dadurch gegeben, dass psychologische Belastungen zu einer verstärkten Beanspruchung der Noradrenalin- und Serotoninsysteme führen. Die Pufferkapazität der Noradrenalin- und Serotoninsysteme ist bei Stresssituationen oder psychologischen Belastungen erschöpft. Bei genetischer oder lebensgeschichtlich bedingter Schwäche der Noradrenalin- oder Serotoninsysteme reichen schon geringe seelische Belastungen aus, um das System in ein Ungleichgewicht zu bringen. Tabelle 5: Entstehungsbedingungen von Depressionen Biologisch Psychisch Gestörte Neurotransmit- Tiefenpsychologisch Lerntheoretischter-Balance kogniv Herabgesetzte Pufferkapazität der Noradrenalin- und Serotoninsysteme

Belastende Lebensereignisse Soziale Einflussfaktoren Persönlichkeitsfaktoren

Konzept der erlernten Hilflosigkeit Nichtkontrolle

Depressionen

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Neuroendokrinologische, hirnmorphologische Befunde Kalziumstrombeeinflussung (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Im Auf und Ab der Gefühle. Manie und Depression – die bipolare affektive Störung. Ein Ratgeber. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004)

Neben den eben beschriebenen depressiven Episoden sind organisch bedingte Depressionen abzugrenzen, die ursächlich eine körperliche Erkrankung haben, wie beispielsweise Schädelhirnverletzungen, Durchblutungsstörungen, entzündliche Gehirnerkrankungen. Auch unter Drogen oder Alkohol kann es zu einer Depression kommen, es wird dann von einer substanzinduzierten Depression gesprochen. Eine Sonderform der Depression ist die saisonal abhängige Depression, die typischerweise in der dunklen Jahreszeit auftritt und im Gegensatz zu den sonstigen Depressionen eher mit einer Appetitssteigerung und Gewichtszunahme einhergeht bei vermehrtem Schlafbedürfnis. Es handelt sich dann um eine Winterdepression, die durch Lichtmangel bedingt ist. Diese Depression spricht besonders gut auf eine Lichttherapie an. Eine andere Sonderform einer dysphorischen (leichten depressiven) Verstimmung ist das so genannte prämenstruelle Syndrom, das sich bei etwa 5 Prozent aller Frauen findet und einige Tage vor der Menstruation (Monatsblutung) auftreten kann. Es bestehen eine Stimmungsverschlechterung, vermehrte Ängstlichkeit, vermehrte Reizbarkeit sowie Konzentrationsprobleme, Heißhungerattacken und vermehrtes Schlafbedürfnis oder auch Schlafstörungen. Weitere Sonderformen sind kurzfristige Verstimmungen nach Entbindungen (»baby blues«), aus denen sich eine schwere depressive Episode entwickeln kann. In Zeiten hormoneller Umstellungen wie beispielsweise in der Pubertät, nach Entbindung oder in der Postmenopause (Klimakterium) kann es zu depressiven Verstimmungen kommen.

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Eine Reihe von Medikamenten kann zu Depressionen führen, wie beispielsweise – Antihypertonika (Medikamente gegen hohen Blutdruck), – Herzmittel, – Kortisonpräparate, – Antibabypille, – Antibiotika, – Zytostatika, – Benzodiazepine.

Behandlung (Therapie) der Depression Bei der Behandlung der Depression kommen verschiedene Formen zum Einsatz: zum einen Psychotherapie – psychodynamischorientierte Psychotherapie oder Verhaltenstherapie (insbesondere kognitive Verhaltenstherapie) – und zum anderen medikamentöse Behandlung. Die Akutbehandlung soll die aktuell bestehenden depressiven Beschwerden lindern. Antidepressiva kommen zum Einsatz. Die Erhaltungstherapie, die einen Rückfall verhindern soll, wird ebenfalls mit Antidepressiva durchgeführt. Zur Vorbeugung einer erneuten Episode (Prophylaxe) kann Lithium oder das Antidepressivum, das in der Akutbehandlung zur Besserung geführt hat, eingesetzt werden. Ergänzende Maßnahmen wie Sport (Joggen, Walking), der Einsatz von Lichttherapie (insbesondere bei der saisonalen Depression) oder Wachtherapie (Schlafentzug) sind wichtig. Unter einem Schlafentzug ist zu verstehen, dass der Patient entweder die ganze Nacht (totaler Schlafentzug) oder partiell (ab 2.00 Uhr morgens) wach bleibt und den darauf folgenden Tag ebenfalls ganz wach bleibt. Bei Patienten, die unter einem ausgeprägten Morgentief leiden, wirkt Schlafentzug besonders gut. Auch bei Patienten, die sehr unter Schlafstörungen zu leiden haben, kann der Einsatz eines Schlafentzugs helfen. Günstig ist, wenn der Patient Unterstützung von Partnern oder Freunden hat, um den Schlafentzug durchzuhalten. Hilfreich kön-

Depressionen

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nen in der schwierigen Zeit von 2.00 Uhr bis 5.00 Uhr morgens leichte motorische Tätigkeiten wie Aufräumen, Backen oder Kochen sein. In sehr ausgeprägten depressiven Phasen und bei Therapieresistenz (fehlendes Ansprechen auf die genannten therapeutischen Maßnahmen) kann auch eine Elektrokrampftherapie durchgeführt werden. Immer ist die Behandlung der Depression multimodal, eine ausschließliche medikamentöse Behandlung der Depression ist nicht sinnvoll. Die Auswahl des Antidepressivums richtet sich nach den jeweiligen Beschwerden: Bei ängstlich-unruhiger Depression sollte eher ein sedierendes Antidepressivum eingesetzt werden. Bei im Vordergrund stehender Antriebshemmung sollte eher eine psychomotorisch-aktivierende Substanz genommen werden. Eine wichtige Regel ist, dass die Antidepressiva ausreichend lange und in ausreichend hoher Dosis gegeben werden müssen, bevor über Wirksamkeit oder unzureichenden Therapieeffekt entschieden werden kann. Geduld ist erforderlich! Als Faustregel gilt, dass ein Antidepressivum mindestens 3 Wochen genommen werden muss, um über seine Wirksamkeit zu entscheiden. Häufig werden Antidepressiva in zu niedriger Dosis genommen. Über die verschiedenen Antidepressiva ist im Kapitel Pharmakotherapie (Seite 91ff.) informiert worden. Zu betonen ist hier noch einmal, dass die unerwünschten Arzneimittelwirkungen der Antidepressiva insbesondere in den ersten 2 bis 3 Wochen der Behandlung auftreten und im Laufe der Behandlung meistens abnehmen oder verschwinden. Wichtig ist, dass – egal welches Antidepressivum letztlich zum Erfolg führt, also die Depression mildert oder die depressiven Symptome behebt – dieses Medikament mindestens für einen Zeitraum von einem halben bis zu einem Jahr im Sinne einer Erhaltungstherapie weiter genommen wird. Viele Patienten machen den Feh-

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Wen es trifft – spezielle einzelne psychiatrische Störungsbilder

ler, dass sobald die depressiven Symptome nicht mehr vorhanden sind, sie das Medikament absetzen. Der Rückfall ist dann programmiert. Bei immer wiederkehrenden depressiven Episoden ist eine Vorbeugung in jedem Fall sinnvoll. Wichtig ist noch einmal der Hinweis, dass Antidepressiva nicht zu einer Abhängigkeit führen.

Lichttherapie Bei saisonal bedingten Depressionen (Winterdepressionen) kann Lichttherapie hilfreich sein. Das angewandte Licht hat die Zusammensetzung des natürlichen Sonnenlichts bei fehlender UV-Bestrahlung (etwa 5000 bis 10000 Lux). Tägliche – meist frühmorgendliche – Anwendung ist zu empfehlen.

Psychotherapie Neben der antidepressiven medikamentösen Behandlung sollte bei Depressionen eine Psychotherapie erfolgen. Neben Aufbau positiver Aktivitäten, Alltagsstrukturierung, Verbesserung der Kommunikation, Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls, Abbau der negativen Sichtweisen und Abbau perfektionistischer Ansprüche ist die therapeutische Beziehung von entscheidender Bedeutung. Psychotherapieformen, die bei Depressionen angewandt werden, sind insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierte Verfahren. Ergänzend können Entspannungsverfahren wie Muskelrelaxation nach Jacobson eingesetzt werden. Eine Hilfe für Angehörige können Angehörigengruppen sein, in denen Angehörige einen adäquaten Umgang mit dem depressiv Erkrankten lernen und über das depressive Erkrankungsbild informiert werden und sich gegenseitig austauschen können.

Manische Symptome

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Bipolare Störungen (manisch-depressive Erkrankungen) Bei der bipolaren affektiven Störung sind sowohl Episoden depressiver Verstimmung als auch manischer Hochstimmung kennzeichnend. Die Episoden können voneinander scharf abgegrenzt sein, sie können aber auch gemischt auftreten, das heißt, es gibt sowohl depressive als auch manische Symptome in einer Krankheitsphase. Oft entscheidet erst der Verlauf, ob bei einem Patienten eine bipolare affektive Störung vorliegt. Zwischen dem ersten Auftreten von Krankheitssymptomen und einer zweiten Phase können Jahre vergehen. Depressive Phasen sind häufiger als manische. Es werden verschiedene Typen bipolarer Störungen unterschieden: Tabelle 6: Typen bipolarer Störung Bipolar I:

Hier kommt es zu mindestens einer oder mehrerer manischer Episoden und depressiver Episoden.

Bipolar II:

Hierunter werden rezidivierende Depressionen mit leichten manischen Nachschwankungen (Hypomanie) verstanden.

Bipolar III:

Rezidivierende Depressionen ohne Hypomanie, aber mit hyperthymen Temperament.

Bipolar IV:

Es kommt zu rezidivierenden depressiven Episoden ohne Hypomanie, aber mit bipolarer Familienanamnese.

Manische Symptome Bei der Manie kommt es zu einer Hochstimmung, einer euphorischen, übernatürlich guten Stimmung. Zum Teil kann diese Stimmung auch gereizt sein, mit Aggressivität, Distanz- und Kritiklosigkeit. Es bestehen ein vermehrter gesteigerter Antrieb, vermindertes Schlafbedürfnis, vermehrtes sexuelles Interesse, vermehrte Ablenkbarkeit und Enthemmung. Häufig kommt es zu sinnlosen Käufen mit hohen Geldausgaben. Größenwahnsymptome (der Patient glaubt, einen hohen Lottogewinn gemacht zu haben) können auftreten.

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Wen es trifft – spezielle einzelne psychiatrische Störungsbilder

Im Denken ist der manische Patient ideenflüchtig, er hat selbst oft das Gefühl des Gedankenrasens, er ist sprunghaft und abgelenkt. Es kommt zur Selbstüberschätzung und zu einem gesteigerten Selbstwertgefühl. Häufig haben manische Patienten einen erhöhten Rededrang, es besteht eine motorische Unruhe mit erhöhtem Bewegungsdrang. Oft gefährdet sich der manische Patient sozial erheblich: Seine berufliche und soziale Leistungsfähigkeit sind beeinträchtigt und durch die Distanzlosigkeit entstehen leicht viele Konflikte. Leider ist der manische Patient häufig nicht krankheitseinsichtig, er fühlt sich »gesund wie noch nie« und meint fälschlicherweise, er sei in »Höchstform«. Die wichtigsten manischen Symptome sind: – Steigerung des Selbstwertgefühls – Grandiose Gedanken (»ich bin der Reichste, der Schönste« usw.) – Omnipotenzgefühle (»ich kann alles«), unbändige Schaffenskraft – Größenwahn (»ich stamme von Gott ab oder vom König«) – Distanzlosigkeit und Enthemmung (alle Welt wird geduzt, jeder wird angesprochen, hohe Geldausgaben) – Antriebssteigerung (vieles wird angefangen, aber nichts wird zu Ende gebracht) – Ideenflucht und Rededrang (keiner kommt zu Wort, viele Gedanken) – Ablenkbarkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen – Vermindertes Schlafbedürfnis und Verkürzung der Schlafdauer – Libidosteigerung und Steigerung der sexuellen Aktivitäten (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Im Auf und Ab der Gefühle. Manie und Depression – die bipolare affektive Störung. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 18)

Wenn die Beschwerden nicht sehr stark ausgeprägt und von kürzerer Dauer sind, sprechen wir von Hypomanie. Die Patienten verhalten sich meist sozial angepasst und noch selbstkontrolliert. Mischzustände, bei denen sowohl manische als auch depressive Symptome zugleich auftreten, kommen vor. Auch kann es zu

Manische Symptome

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einem »rapid cycling« kommen, bei der rasch wechselnde Phasen von Depressionen und Manien auftreten.

Entstehungsbedingungen Hinsichtlich der Ursachen unterscheiden sich bipolare und unipolare Depressionen. Bei bipolaren Störungen ist von einer noch höheren genetischen Belastung auszugehen. Ferner werden Störungen in Transmittersystemen (im Noradrenalin-, Serotonin-, Gamma-Aminobuttersäure-, Acetylcholin-System) angenommen.

Untersuchungen Wichtigste Untersuchung ist das Beobachten des Verlaufs der Erkrankung. Der Wechsel von manischen und depressiven Phasen ist das entscheidende Kriterium. Leider tritt die bipolare Erkrankung in 20 Prozent schon vor dem 20. Lebensjahr auf, also sehr früh, was unter Umständen berufliche und familiäre Folgen und Auswirkungen hat (der Schulabschluss und die berufliche Ausbildung sind gefährdet).

Behandlung der Manie Je nach Form der manischen Episode kommen verschiedene Medikamente zum Einsatz. Bei der klassisch-euphorischen Manie ist Lithium das Medikament der Wahl. Bei der gemischten Episode ist Valproat oder Carbamezepin dem Lithium vorzuziehen, bei »Rapid cycling« ist Valproat oder Carbamazepin einzusetzen. Ergänzend können Antipsychotika eingesetzt werden, zum Beispiel Olanzapin (Zyprexa®), Ziprasidon (Zeldox®), Risperidon (Risperdal®), Quetiapin (Seroquel®). Bei der bipolaren affektiven Erkrankung wird ebenfalls zwischen der Akuttherapie, der Erhaltungstherapie und der Rezidivprophylaxe (Vorbeugung gegen Rückfälle) unterschieden. Die Akutbehand-

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lung der Manie erfolgt mit den bereits genannten Medikamenten (Lithium, Valproat, Carbamazepin und Antipsychotika). Eine Rezidivprophylaxe setzt voraus, dass der Patient seine Erkrankung akzeptiert. Eine entsprechende Psychoedukation (Aufklärung und Information des Patienten und der Angehörigen) ist notwendig. Eine Langzeittherapie sollte mit dem verträglichsten Medikament erfolgen. Bei Erstmanifestation im Rahmen einer Depression ist eine Erhaltungstherapie von 6 bis 12 Monaten erforderlich, bei Vorliegen einer 2. depressiven Episode eine Therapie von 2 Jahren. Bei einer Erstmanifestation einer bipolaren Erkrankung ist eine Langzeittherapie von 6 bis 12 Monaten erforderlich. Bei Auftreten von 2 oder mehr Episoden innerhalb von 4 Jahren ist eine lebenslange prophylaktische Medikation (Vorbeugung) empfehlenswert. Auf Wirkweisen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Kontrolluntersuchungen ist im Kapitel Psychopharmakotherapie eingegangen worden.

Psychotherapie bei bipolaren Erkrankungen Neben Information und Aufklärung, Erkennen von belastenden Lebensereignissen und Stressoren, rechtzeitigem Erkennen von erneuten Krankheitssymptomen kommen zusätzlich Psychotherapie zur Bewältigung zwischenmenschlicher und sozialer Probleme zum Einsatz. Kognitive Verhaltenstherapie, Einbezug von Angehörigen, verhaltenstherapeutische Maßnahmen zur Stabilisierung des biopsycho-sozialen Rhythmus, Vermeidung von Über- und Unterforderung, Erkennen von Frühsymptomen im Sinne von Warnsymptomen, regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus mit geregelter Lebensführung (insbesondere bipolare Patienten sollten einen ausreichenden Nachtschlaf haben) sind wichtige Themen im Rahmen der Psychotherapie. Anleitung zum Selbstmanagement, beispielsweise Führen eines Stimmungstagebuchs, ist hilfreich. Weitere Anregungen zum aktiven Umgang mit depressiven Erkrankungen finden sich in dem »Tagebuch meiner Depression – Aktiv mit der Krankheit umgehen« (Schäfer u. Rüther, 2003).

Schlafbedürfnis gemindert, benötigt kaum Schlaf

ruhelos, gehetzt, 10 9 erhöhter Bewegungsdrang, benötigt keine Ruhe

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innerlich unruhig, nervös, rastlos, ziellos

Ein- und Durchschlafstörungen zerschlagen, kann aber gar keinen Schlaf finden

antriebslos, willenlos, entschlusslos,

überaus ängstlich und verunsichert, Zukunftsangst

depressiv tief traurig-verstimmt, extrem bedrückt

Abbildung 6: Stimmungstagebuch: manisch-depressiv (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Im Auf und Ab der Gefühle. Manie und Depression – die bipolare affektive Störung. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 79)

10 9

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gesteigert, getrieben, sprunghaft

Aktivität

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keine Angst, risikofreudig, waghalsig zukunftsfroh

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Angst

manisch Stimmung über die Maßen fröhlich, besonders gut gelaunt, aufgedreht

Somatoforme Störungen

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Weitere Informationen zur bipolaren affektiven Störung sind im Ratgeber »Im Auf und Ab der Gefühle« (Schäfer u. Rüther, 2004c) zu finden.

Somatoforme Störungen Unter somatoformen Störungen werden Erkrankungen verstanden, bei der der Patient ausschließlich körperliche Beschwerden hat, die jedoch nicht durch eine körperliche Erkrankung erklärt werden können. Leider ist es häufig so, dass sich der Patient gegen die Erklärung einer psychischen Ursache sträubt. Oft kommt es zu einem dauerhaften Verlauf, der zu erheblichen Beeinträchtigungen sowohl in körperlicher Hinsicht als auch im psychosozialen Bereich führt. Es besteht eine hohe Komorbidität (gleichzeitiges Auftreten) mit Depressionen und Angststörungen. Es versteht sich von selbst, dass organische Erkrankungen zunächst ausgeschlossen werden müssen. Oft wechseln die körperlichen Beschwerden. Am häufigsten werden Schmerzen beklagt, körperliche Missempfindungen, Übelkeit, Erbrechen, Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen, Taubheitsgefühle, sexuelle Störungen, Menstruationsbeschwerden und vieles mehr.

Behandlung Hilfreich kann eine kognitive Verhaltenstherapie sein. Leider lehnen die meisten Patienten eine Psychotherapie ab. Eine medikamentöse Behandlung kann mit trizyklischen Antidepressiva erfolgen, die besonders bei somatoformen Schmerzstörungen günstig sind.

Posttraumatische Belastungsstörungen

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Hypochondrische Störungen Hierunter wird ein psychisches Störungsbild verstanden, bei dem die Patienten eine unbegründete Angst haben, an einer schweren körperlichen Erkrankung zu leiden. Immer muss eine organische Erkrankung ausgeschlossen werden. Körperliche Missempfindungen können im Rahmen einer Depression oder einer schizophrenen Psychose auftreten. Die medikamentöse Behandlung erfolgt bei hypochondrischer Störung mit Antidepressiva, zusätzlich sollte eine Psychotherapie erfolgen.

Somatoforme Schmerzstörungen Bei chronischem Schmerzsyndrom ohne organische Ursache muss insbesondere eine genaue Medikamentenerhebung gemacht werden, da viele Patienten über längere Zeit Schmerzmittel missbrauchen. Die Therapie sollte eine Psychotherapie sein, die besonders die Schmerzwahrnehmung und Schmerzbewertung bearbeiten sollte. Das Erlernen von Stressbewältigung ist wichtig. Eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) kann erfolgen. Besteht eine Schmerzmittelabhängigkeit, so muss eine entsprechende Entzugsbehandlung durchgeführt werden.

Psychosomatosen Psychosomatosen sind Erkrankungen mit einer organischen Ursache, bei denen angenommen wird, dass psychische Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung und auf den Krankheitsverlauf haben. Beispiele hierfür sind Ulcus ventriculi (Magengeschwüre), Asthma bronchiale, Colitis ulcerosa (Darmentzündung), Hypertonie (hoher Blutdruck) und Morbus Crohn (chronische Darmentzündung).

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Oft sind Patienten mit Psychosomatosen betroffen, die Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen. Viele Patienten halten an ihrer organischen Ursachenerklärung fest. Psychische Mitbeteiligung wird oft geleugnet. Häufig haben diese Patienten vermehrte Stressfaktoren wie Konflikte in der Familie und im Beruf, so dass eine Kombinationsbehandlung aus Psychotherapie und körperlicher Therapie anzustreben ist.

Anpassungsstörungen Unter Anpassungsstörungen sind psychische Beeinträchtigungen zu verstehen, die Folge akut belastender Lebensereignisse sind, zum Beispiel Verlusterlebnisse, schwerer Erkrankungen, Trennungen oder beruflicher Probleme. Die Anpassungsstörung kann mit vorherrschenden Beschwerden, beispielsweise depressiver Verstimmung, einhergehen oder mit Angst oder mit Auffälligkeiten im Sozialverhalten (dies besonders im Jugendalter). Am häufigsten sind depressive Beschwerden.

Akute Belastungsreaktion Unmittelbar nach einem belastenden Ereignis kann eine psychische Störung auftreten bei Menschen, die sonst psychisch völlig unauffällig sind. Häufig bestehen ängstlich-depressive Symptome, es kann aber auch zu Überaktivität kommen, ebenso kommt Rückzugsverhalten vor. Die akute Belastungsreaktion kann mit sedierenden Antidepressiva gemildert werden. Anxiolytika sind zur kurzfristigen Entspannung zeitlich begrenzt einsetzbar, eine längerfristige Gabe ist wegen des Abhängigkeitsrisikos zu vermeiden. Stützende Gespräche in der akuten Situation sind hilfreich, bei bleibenden Beschwerden ist eine Psychotherapie zu überlegen.

Posttraumatische Belastungsstörungen

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Posttraumatische Belastungsstörungen Unter einer posttraumatischen Belastungsstörung sind psychische Reaktionen zu verstehen, die sich auf eine außergewöhnliche Belastung oder Katastrophe hin entwickeln, wobei die Symptome auch noch nach Wochen bis Monaten, selten Jahre, nach dem akuten Ereignis auftreten können. An Beschwerden bestehen meist wiederkehrende Erinnerungen an ein Trauma, Nachhallerinnerungen, es kommt zu Vermeidungsverhalten, Ängsten, Übererregbarkeit, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen und depressiven Beschwerden. Menschen, die ein Trauma erlitten haben, sind durch wiederkehrende und oft eindringliche Erinnerungen an das traumatische Ereignis beeinträchtigt. Träume, Alpträume mit Nachhallerinnerungen, Übererregbarkeit, Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit kommen ebenso vor wie Gleichgültigkeit, soziales Rückzugsverhalten und Vermeiden von Aktivitäten oder Situationen, die den Patienten an das Trauma erinnern könnten. Das Trauma ruft Gefühle absoluter Hilflosigkeit, extremer Angst und Wirkungslosigkeit und Ohnmacht hervor. Beispiele traumatisierender Ereignisse sind – Verkehrsunfälle, – Katastrophen (Eisenbahnunglücke, Flugzeugabstürze, Explosionen), – Naturkatastrophen wie beispielsweise Flutkatastrophen, Vulkanausbrüche, Waldbrände, – Traumata durch menschliche Gewalt, Terror, Krieg oder Kriminalität (Vergewaltigung, Sexualverbrechen, Geiselnahme). Andere Ereignisse des Alltags können ebenso traumatisierend wirken wie zum Beispiel – Trennung, – der plötzliche Tod eines nahe stehenden Menschen, – Fehl- oder Totgeburt. Im Vordergrund der Traumabewältigung muss die Angstreduktion stehen. Der traumatisierte Mensch muss wieder lernen, die Kontrolle über sich und sein Leben zu gewinnen. Es ist wichtig, dass

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der betreffende traumatisierte Mensch lernt, dass das Trauma als Teil des eigenen Lebens zur Vergangenheit gehört und nicht im Hier und Jetzt ist. Reaktionen auf ein Trauma – Nachhallerinnerungen, – Flashbacks, – Ängste, – Schlafstörungen, – Alpträume, – Gefühlstaubheit, – Vermeidungsreaktion, – gesteigerte Erregbarkeit, – vermehrte Schreckhaftigkeit, – Konzentrationsstörungen, – körperliche Reaktionen (Schmerzen), – Depressionen, – Selbstverletzungen, – sexuelle Störungen, – Schuldgefühle.

Therapie Bei traumatisierten Patienten ist eine Psychotherapie, die sich darauf spezialisiert hat, Traumaverarbeitung durchzuführen, meistens nötig, wenn die beschriebenen Reaktionen auf ein Trauma länger anhalten. Dabei geht es um die Bewältigung der Traumareaktionen: für äußere Sicherheit und Ruhe sorgen, Imaginationsübungen (siehe im Kapitel Traumatherapie, Seite 62ff.), Entspannungsübungen, Schlafrituale, Vermeiden von Alkohol und Drogen, positive Aktivitäten, Konditionssport (Joggen, Walken), Abbauen von Selbstvorwürfen, Umgang mit Schuld- und Ohnmachtsgefühlen lernen, Selbstheilungskräfte aufspüren und aktivieren, die Zukunft neu planen – das sind einige Ziele innerhalb der Traumatherapie. Verschiedene Traumapsychotherapien sind entwickelt worden. In erster Linie geht es um Stabilisierung: sorgen für äußere und

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innere Sicherheit, Selbstberuhigungsstrategien erlernen, Imaginationsübungen und Achtsamkeitsübungen durchführen. In der Traumaexposition kommen verschiedene Techniken wie Beobachtertechnik, Bildschirmtechnik, EMDR, Exposition und Traumbeeinflussungstherapie zur Anwendung (siehe Traumapsychotherapie, Seite 62ff.). Letztlich geht es um eine Traumasynthese und Integration mit Akzeptanz des Traumas, Trauer und Neubeginn. Ergänzend können medikamentöse Behandlungen mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern wie beispielsweise Paroxetin, Citalopram, Escitalopram, Sertralin und Fluoxetin zur Anwendung kommen. Bei hartnäckigen Schlafstörungen können sedierende Antidepressiva niedrigdosiert eingesetzt werden. Wichtig ist, die Angehörigen von traumatisierten Menschen in die Behandlung einzubeziehen, insbesondere sie über mögliche Traumareaktionen aufzuklären, damit die Angehörigen nicht durch unverständliche Reaktionen den Traumatisierten zusätzlich belasten. Weitere Informationen für Patienten und Angehörige finden sich in Schäfer, Sachsse und Rüther (2006).

Angststörungen Jeder Mensch kennt Ängste. Angst ist ein lebensnotwendiges Gefühl, das uns auf Gefahren aufmerksam macht und uns bei Bedrohung kurz entschlossen und schnell handeln lässt. Angst ist ein Alarmsystem, ohne dass ein Überleben der Menschheit nicht möglich gewesen wäre. Unser Angstalarmsystem ruft in kürzester Zeit immense Kräfte in unserem Körper hervor, damit wir gut gerüstet sind, Gefahren abzuwehren. Angst ist ein uraltes System der Evolution. Körperliche Reaktionen der Angst sind Herzrasen, Schwitzen, vermehrte Atmung und Zittern. Diese Körperreaktionen laufen automatisch ab. Unser Körper reagiert noch so, als müssten wir wie unsere Vorfahren bei Gefahren kämpfen oder weglaufen. Der Körper reagiert, bevor wir überhaupt nachdenken. Immer geht die

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Angst mit körperlicher Erregung einher. Oft kommt es jedoch bei der Angststörung zur Fehldeutung dieser Reaktionen. Im Laufe unserer Entwicklung sind je nach Lebensalter verschiedene Ängste vorübergehender Art zu finden, so beispielsweise das Fremdeln von etwa 8 Monate alten kleinen Kindern (die Acht-Monats-Angst). Sie entsteht, weil die Kinder aufgrund der Entwicklung ihrer optischen Wahrnehmung nun in der Lage sind, zwischen einem vertrauten Gesicht (z. B. das der Mutter) und fremden Gesichtern zu unterscheiden. In der weiteren Entwicklung entstehen Trennungsängste (zwischen dem 8. und 24. Lebensmonat). Die Kinder reagieren mit Ängsten, wenn die vertraute Bezugsperson weggeht. Im Alter zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr entwickeln viele Kinder vorübergehend Ängste vor Hunden, Dunkelheit und vor dem Alleinsein. Im Vorschulalter kann es zu Ängsten vor Blitz und Donner, Ungeheuern, Geistern, Hexen, Einbrechern und medizinischen Behandlungen kommen. Im Alter von 10 Jahren können Kinder aufgrund ihrer kognitiven Entwicklung und Vorstellung von der Unwiderruflichkeit des Todes entsprechende Ängste vor dem Sterben entwickeln. Wenn die normalerweise vorhanden Angstreaktionen außer Kontrolle geraten, wenn altersgebundene Ängste bestehen bleiben oder wenn Ängste auftreten ohne entsprechende gefährliche Situationen, liegen Angststörungen vor. Verschiedene Angststörungen werden unterschieden: – Panikstörungen, – Agoraphobie, – Soziale Phobie, – Spezifische Phobie, – Generalisierte Angststörungen. Häufig halten Menschen, die unter Angststörungen leiden, diese geheim, aus der berechtigten Sorge, missverstanden oder missachtet zu werden. Noch immer sind viele Irrtümer über Angststörungen verbreitet, wie beispielsweise, dass Angst immer einen Grund habe (gerade das ist nicht der Fall, denn die Ängste sind nicht nachvoll-

Angststörungen

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ziehbar, weder für die Kranken noch für die Gesunden). Oder dass die Angst ein rein seelisches Phänomen sei (das stimmt aber nicht, denn die Angstreaktion geht immer mit körperlichen Beschwerden einher, das Herz rast, die Atmung wird schneller, der Schweiß bricht aus). Ein anderer wohlgemeinter, aber völlig falscher Rat wäre, die angstauslösenden Situationen zu meiden, denn genau das Gegenteil ist der Fall: Angstpatienten müssen sich in die angstauslösenden Situationen begeben, um die Angst zu überwinden. Wenn wir Situationen meiden, vor denen wir Angst haben, wird die Angst größer.

Panikstörung Bei der Panikstörung kommt es zu wiederholten Panikattacken. Eine Panikattacke ist eine zeitlich klar zu begrenzende Situation, die mit intensivster Angst meist aus heiterem Himmel auftritt. Die Beschwerden sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt, der eine hat Brustschmerzen, der andere Erstickungsgefühle. Allen Patienten ist gemeinsam, dass sie um ihr Leben fürchten. Folgende Beschwerden können bei Panikattacken auftreten: – Atemnot, – Erstickungsgefühle, – Gefühl, in Ohnmacht zu fallen, – Schwindel, – Mundtrockenheit, – unregelmäßiger oder schneller Herzschlag, – Zittern, – Schwächegefühl, – Schweißausbruch, – Schluckbeschwerden, – Bauchschmerzen, – Übelkeit, – Engegefühl in Brust oder Hals, – Entfremdungsgefühl, – Gefühl, nicht wirklich da zu sein, – Gefühl, von sich selbst losgelöst zu sein,

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Wen es trifft – spezielle einzelne psychiatrische Störungsbilder

– – – – – – – –

Kribbeln der Haut, Taubheitsgefühle, Kälteschauer, Frösteln, Schmerzen, Angst vor einem Herzinfarkt, Angst zu sterben, Angst, verrückt zu werden oder die Selbstbeherrschung zu verlieren. Natürlich müssen organische Erkrankungen beim ersten Auftreten einer Panikattacke sicher ausgeschlossen werden, wie beispielsweise Herz- und Gefäßerkrankungen, Anfallsleiden, Asthma, Blutzuckererkrankungen, Schilddrüsenstörungen. Ferner sind Nebenwirkungen von Medikamenten oder übermäßiger Alkohol-, Koffein- oder Drogeneinnahme auszuschließen. Im Verlauf einer Panikerkrankung entsteht die Angst vor der Angst. Ein Teufelskreis beginnt. Körperliche Beschwerden, die an eine Panikattacke erinnern, zum Beipsiel erhöhter Herzschlag, führen zu Angst. Die Angst erzeugt vermehrten Herzschlag, es entsteht noch mehr Angst und es kommt zu einer weiteren Verstärkung der Angst. vermehrter Herzschlag

körperliche Beschwerden, die an die Panikattacke Angst erinnern, zum Beispiel Herzschlag

noch mehr Angst

weitere Verstärkung

Abbildung 7: Teufelskreis der Angst (nach: Schäfer u. Rüther, 2005b, S. 49)

Folge der Angststörung ist, dass die Patienten zunehmend Vermeidungsstrategien anwenden. Sie versuchen, der angstauslösenden Situation auszuweichen, was sie in ihrem Alltag und ihrer Lebensqualität erheblich einschränken kann. Oft laufen Patienten aus der

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angstauslösenden Situation heraus. Sie bringen sich damit um die Erfahrung, dass die Panikattacken aufhören, dass nichts Schlimmes mit ihnen passiert. Die Panikattacke ist nicht lebensgefährlich! Eine Panikattacke begrenzt sich selbst. Unser Alarmsystem ist zeitlich begrenzt. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass Panikattacken etwa eine halbe Stunde andauern. Wenn die Patienten sich gegen die Panikattacke wehren, dauert sie länger. Bei vielen Patienten ist die Panikstörung mit einer Agoraphobie kombiniert.

Agoraphobie Unter Agoraphobie (auch Platzangst genannt) sind Ängste zu verstehen, sich an Orten oder in Situationen aufzuhalten, in denen Panikattacken auftreten könnten. Typische Situationen sind beispielsweise Menschenmengen in Kino, Theater, Diskothek, Restaurant oder sonstigen Versammlungen, öffentliche Plätze, Reisen mit weiter Entfernung von zu Hause, Reisen ohne Begleitung, Benutzung von Bussen, Flugzeugen oder Autos. Die Menschen haben Angst davor, eingeengt zu werden und nicht sofort aus der Situation herauslaufen zu können, wenn sie beispielsweise Herzrasen oder Schwindel spüren.

Soziale Phobie Bei der sozialen Phobie haben die Betroffenen große Angst, von anderen schlecht bewertet oder beurteilt zu werden. Sie trauen sich nicht zu, sich vor anderen Menschen zu äußern, möchten nicht im Mittelpunkt stehen, fürchten auf Sitzungen, Partys oder sonstigen Zusammentreffen angesprochen zu werden, brechen häufig soziale Kontakte ab oder beschränken sie auf wenige Menschen. Soziale Ängste können als Schüchternheit verkannt werden. Meist führen sie zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität. Häufig treten sozial-phobische Störungen schon in der Schulzeit auf. Die Grenze zwischen sozialer Phobie und extremer Schüchternheit ist fließend. Soziale Phobie ist daran zu erkennen, dass der Betreffende ver-

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meidet, im Mittelpunkt zu stehen (z. B. eine Rede zu halten), etwas zu schreiben, wenn andere zusehen (z. B. an der Tafel zu schreiben), in der Öffentlichkeit zu sprechen (z. B. ein Referat zu halten, jemanden nach dem Weg zu fragen), Fremde anzusprechen, mit anderen Menschen zu essen oder zu trinken; seine eigene Meinung durchzusetzen, mit Fremden zu telefonieren, zu Partys oder sonstigen gesellschaftlichen Anlässen zu gehen.

Isolierte (spezifische) Phobien Darunter sind umschriebene Ängste zu verstehen vor Umweltsituationen (z. B. Höhen) oder Gegenständen (Spritzen, Blut) oder vor Situationen (Tunnel, Fahrstühle) oder bestimmte Handlungen durchzuführen (Klettern, Fliegen). Viele Menschen haben solche umschriebenen Ängste. Ein Krankheitswert kommt ihnen erst dann zu, wenn der Lebensalltag dadurch beeinträchtigt wird. Häufige Phobien sind auf Tiere (Ratten, Kakerlaken, Schlangen, Spinnen), Umweltphänomene (Höhen, Dunkelheit, Gewitter), medizinische Behandlungen (Zahnarzt, Blutsehen, Spritzen) oder einengende Situationen (Flugzeug, Fahrstuhl) gerichtet.

Generalisierte Angststörung Die generalisierte Angststörung ist gekennzeichnet durch Sorgen, dass ein Unglück passiert (Unfall, Tod, finanzielle Probleme, Krankheit). Sie geht – wie auch die Panikstörung – mit erhöhter Herzfrequenz und vermehrtem Schwitzen einher. Es kann zu Zittern, Mundtrockenheit, Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl, Schwäche, Schwindel, Angst zu sterben, Schmerzen, Hitze- oder Kältegefühl, Kribbeln, Verspannungen, Schluckbeschwerden, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Einschlafstörungen kommen. Ferner bestehen die Unfähigkeit, sich zu entspannen, und das Gefühl, aufgedreht, innerlich unruhig und nervös zu sein. Die generalisierte Angststörung hat oft ihren Beginn in der

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Kindheit oder Jugend. Sie ist weit verbreitet und tritt häufig familiär auf. Es wird vermutet, dass ein »hoch eingestelltes Angstregulationssystem« vererbt wird. Häufig ist die generalisierte Angststörung mit Panikattacken kombiniert. Die Gefahr besteht, dass Patienten durch Alkohol oder Drogen versuchen, ihre chronischen inneren Anspannungen abzubauen. Viele Patienten werden bei der generalisierten Angststörung zusätzlich depressiv.

Angst und Depression Angstsymptome und depressive Störungen können nebeneinander gleichzeitig auftreten. Neben den Angststörungen kommen die bereits beschriebenen depressiven Symptome wie herabgesetzte Stimmung, Interessen- und Freudlosigkeit, Antriebsstörungen, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Gewichtsverlust, innere Unruhe und Libidoverlust hinzu.

Entstehungsbedingungen für Angsterkrankungen Es wird angenommen, dass eine erhöhte Empfindlichkeit (Vulnerabilität) als Ausdruck einer erhöhten Angstbereitschaft vorhanden ist und zusätzlich äußere Faktoren wie beispielsweise belastende Lebensereignisse oder traumatische Kindheitserlebnisse hinzukommen. Auch Modelllernen (das Übernehmen von Angstreaktionen von den Eltern) wird diskutiert. Die erhöhte Empfindlichkeit kann genetisch bedingt sein und möglicherweise spielen neurobiologische Faktoren wie Veränderungen im Botenstoffwechsel (insbesondere Noradrenalin und Serotonin) eine Rolle. Es ist also insgesamt von einem komplexen Geschehen auszugehen, bei dem Wechselwirkungen psychischer, familiärer und sozialer Faktoren auf dem Boden einer biologischen Veranlagung zum Tragen kommen. Bestimmte Hirnstrukturen spielen bei der Entstehung der

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Angsterkrankung eine Rolle. Insbesondere das limbische System hat eine Schlüsselfunktion bei der Angst-Alarm-Reaktion. Ferner spielen der Botenstoff Serotonin, aber auch Noradrenalin eine große Rolle. Es scheint zu einer Dysbalance dieser Botenstoffe zu kommen. Erfolgreiche medikamentöse Beeinflussung der Angststörungen durch Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) oder Noradrenalin-Serotonin-Reuptake-Inhibitoren unterstützen diese Vermutung. Psychische Faktoren wie einschneidende Lebensereignisse (Trennung, Scheidung, ernsthafte Erkrankungen, Tod naher Angehöriger, Arbeitslosigkeit, Auszug aus dem Elternhaus, Geburt des ersten Kindes, Hochzeit eines Kindes, Unfälle, Verletzungen, Verlust von Eigentum, Überarbeitung, Streitigkeiten, neuer Arbeitsplatz und anderes mehr) sind ebenfalls als mögliche Auslöser für Angsterkrankungen zu nennen. Traumatische Erlebnisse oder Erfahrungen in der Kindheit, wie beispielsweise innerfamiliäre Gewaltanwendung und sexueller Missbrauch, können ebenfalls bedeutender Faktor bei einer Angststörung sein. Andere psychologische Erklärungen für eine Angstentwicklung sind problematische Bindungen, wobei das Augenmerk auf die Mutter-Kind-Beziehung gelegt wird und von einer unsicheren Bindung oder so genannten ambivalenten Bindung ausgegangen wird. Besondere Bedeutung kommt der Erwartungsangst zu: Ist es einmal zu einer Angstsituation gekommen, so kann ein Teufelskreis der Angst entstehen. Die Erwartungsangst löst Vermeidungsreaktionen aus, das Vermeidungsverhalten wiederum führt zu verstärkter Angst. Angststörungen können im Rahmen von internistischen Erkrankungen auftreten, die deshalb diagnostisch auszuschließen sind. Dazu zählen beispielsweise die Blutzuckererkrankung, Eisenmangel, Anämie, Schilddrüsenstoffwechselstörungen, Elektrolytstörungen, Magen-Darm-Störungen, Lungenerkrankungen, Synkopen (kurze Bewusstlosigkeiten), Herzrhythmusstörungen, Herzinfarkt. Auch neurologische Erkrankungen, die mit Ängsten zusammen auftreten können, müssen ausgeschlossen werden, wie beispiels-

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weise cerebrale Krampfanfälle, Multiple Sklerose, Aids, Gefäßerkrankungen des Gehirns. Entsprechende Untersuchungen (Blutuntersuchung, EKG, EEG, bildgebende Verfahren) sind nötig. Angst kann bei vielen anderen psychischen Erkrankungen, etwa bei Psychosen, bei Depressionen, bei Alkohol- und Drogenmissbrauch, bei Entzugssymptomen, auftreten. Zur Untersuchung sind sowohl Selbstbeobachtung als auch Fremdbeobachtung und Fremdanamnese nötig. Es existieren verschiedene Angst-Selbstbeobachtungs-Skalen.

Therapeutische Behandlung von Angststörungen Die Behandlung von Angststörungen besteht in Information und Aufklärung über Angstentstehung, Angstreaktionen und Ablauf der Angst, Anleitung zum Selbstmanagement, Einbeziehen von Angehörigen, Aufnahme einer Verhaltenstherapie, bei der mit der Exposition oder Konfrontation mit der angstauslösenden Situation gearbeitet wird. Die Exposition kann langsam Schritt für Schritt erfolgen oder durch eine Reizüberflutung mit dem angstauslösenden Reiz (z. B. muss der Hunde-Phobiker sich in einen Hundezwinger setzen). Entscheidend ist, dass der Patient lernt, die Angst auszuhalten, und mit sich die Erfahrung macht, dass bei ausreichend langer Exposition die Angst abnimmt. Der Patient wird von seinem Therapeuten anfänglich begleitet. Besonders bei phobischen Ängsten ist die Exposition wichtig. Beispiele für Konfrontationsübungen sind Zug- oder U-BahnFahren, Theater- oder Kinobesuche, Teilnahme an Massenveranstaltungen, Aufenthalt in Kaufhäusern, Fahrstuhlfahren, durch einen Tunnel gehen, Flugzeugfliegen. Die systematische Desensibilisierung kann mit Entspannungsübungen und Konfrontation kombiniert werden. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie sollen gedankliche Irrtümer und Fehlgedanken korrigiert werden. So denken viele Patienten: »Ich werde die Panikattacke nicht überleben, es wird nie vorbeigehen.« Realistische Überzeugungen müssen diesem Denken entgegengesetzt werden, beispielsweise: »Ach ja, es ist wieder

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eine Panikattacke, sie wird bald vorüber sein, niemand stirbt an einer Panikattacke!« Automatisch ablaufende Gedanken wie beispielsweise bei Herzrasen »Ich bekomme einen Herzinfarkt« oder bei Schwindel »Ich falle in Ohnmacht« müssen als solche aufgedeckt werden. Das Lernen von Alternativgedanken muss erfolgen. Dabei ist es hilfreich, diese automatisch ablaufenden Gedanken aufzuspüren.

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Tabelle 7: Automatische Gedanken Auslöser (Situation, Gedanke):

Gefühl:

automatischer Gedanke:

Auswirkung:

Alternativgedanken:

Verlauf:

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Ängste – Schutz oder Qual? Angststörungen. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2005, S, 76)

Neben der Verhaltenstherapie bei den verschiedenen Angststörungen kann die psychodynamisch orientierte Psychotherapie eingesetzt werden. Psychodynamische Modelle gehen davon aus, dass ein unbewusster Konflikt oder eine Konfliktbelastung auslösend für die Angststörung ist.

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Medikamentöse Behandlung der Angststörung Verschiedene Antidepressiva, insbesondere selektive SerotoninReuptake-Inhibitoren oder Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren, werden bei Angststörungen eingesetzt (s. Tab. 4). Wichtig ist zu berücksichtigen, dass die Antidepressiva erst nach einiger Zeit spürbar wirken. Außerdem ist zu beachten, dass sie ausreichend lange und ausreichend hoch dosiert gegeben werden. Verschiedene Antidepressiva, insbesondere selektive Serotoninreuptakeinhibitoren oder Serotonin-Noradrenalinreuptakeinhibitoren, werden bei den unterschiedlisten Angststörungen eingesetzt. Einen Überblick gibt Tabelle 8. Tabelle 8: Medikamente bei Angststörungen Art der Angststörung Panikstörung

Neuere Medikamente Citalopram (Sepram®, Cipramil®) Escitalopram (Cipralex®) Fluoxetin (Fluctin®) Fluvoxamin (Fevarin®)

Ältere Medikamente Imipramin (Tofranil®) Clomipramin (Anafranil®)

Paroxetin (Seroxat®) Venlafaxin (Trevilor® ret.) Paroxetin (Seroxat®) generalisierte Angststörung

Venlafaxin (Trevilor® ret.), Buspiron (Bespar®) Paroxetin (Seroxat®)

Imipramin (Tofranil®)

soziale Phobie

Moclobemid (Aurorix®)

Opipramol (Insidon®)

(nach: U. Schäfer, E. Rüther: Ängste – Schutz oder Qual? Angststörungen. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2005, S, 80)

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Ergänzende Maßnahmen Positiv wirkt sich Konditionssport aus wie zum Beispiel Jogging. Ferner können Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation nach Jacobson ergänzend eingesetzt werden.

Zwangsstörungen Bei Zwangsstörungen treten wiederkehrende, auch für den Patienten sinnlos erscheinende Zwangsgedanken, Zwangsimpulse und/ oder Zwangshandlungen auf. Der Beginn liegt meist in der Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter. Die Patienten sind infolge der Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen sehr gequält und in ihrer Lebensqualität erheblich eingeschränkt. Zwangshandlungen dienen dazu, Anspannungen und Ängste klein zu halten: Nach Ausführung der Zwangshandlungen nehmen zwar die Ängste ab, aber ein Teufelskreis beginnt: Die Zwangshandlungen, die zur Abnahme der Ängste führen sollen, werden verstärkt. Zwangsgedanken können sein: zwanghaftes Zweifeln (»Habe ich das Licht ausgemacht?«), zwanghafte Impulse (»gleich muss ich losschreien«) oder zwanghafte Vorstellungen und Bilder (zum Beispiel aggressive oder sexuell getönte Inhalte). Typisch für zwanghaftes Denken ist das Zweifeln. Nichts ist sicher, alles muss noch einmal durchdacht werden, es muss kontrolliert und überprüft werden. Zwangsgedanken beziehen sich häufig auf Verschmutzung, Genauigkeit oder Gleichförmigkeit. Oft entsteht aus Zwangsgedanken ein Vermeidungsverhalten, zum Beispiel bei Verschmutzungsgedanken das Meiden von öffentlichen Toiletten. Dem Patienten ist die Unsinnigkeit seiner Zwangsgedanken klar. Es nützt nichts, ihn mit rationalen Erklärungen davon abzubringen. Zwangsgedanken drängen sich ihm auf, ob er will oder nicht.

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Zwangshandlungen Darunter sind ritualisierte, zum Teil stereotyp ablaufende Handlungen zu verstehen, die der Patient ausführen muss, anderenfalls würde er erhebliche Ängste erleben. Die Unsinnigkeit dieser Zwangshandlung ist dem Patienten bewusst. Häufig treten Waschzwänge oder Kontrollzwänge auf. Den Kontrollzwängen gehen häufig Zwangsgedanken voraus, wie beispielsweise »Ich habe das Licht nicht ausgemacht«. Entsprechende Kontrollen müssen dann durchgeführt werden. Im Verlauf der Zwangserkrankung kommt es immer häufiger zu erheblichen Alltagsbeeinträchtigungen, der Patient verspätet sich, weil er die Kontrollhandlungen durchführen muss, bevor er das Haus verlassen kann. Probleme am Arbeitsplatz und in der Familie sind sich unschwer vorzustellen. Zwangshandlungen und Zwangsgedanken kommen häufig gemischt vor. Zwangsstörungen kommen mit depressiven Erkrankungen gemeinsam vor. Ferner kann die Zwangsstörung zusammen mit dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom auftreten; das ist eine Erkrankung, bei der es zu unwillkürlichen motorischen und stimmhaften (vokalen) Äußerungen kommt.

Entstehungsbedingungen der Zwangsstörung Die Entstehungsbedingungen liegen ähnlich wie bei der Angsterkrankung in einer erhöhten Empfindlichkeit (Vulnerabilität). Oft spielen zusätzlich starke Belastungen in der Lebensgeschichte eine Rolle. Bei Zwangsstörungen besteht ebenfalls ein hoher genetischer Anteil.

Untersuchungen Zur Diagnostik (Untersuchung) gehören neben dem Gespräch eventuell auch psychologische Untersuchungen anhand von Fragebögen, Selbstbeobachtungsbögen und eine Fremdanamnese, insbesondere auch um Aufschluss darüber zu bekommen, ob die

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Angehörigen in die Zwangsrituale einbezogen werden. Dann ist unbedingt die Beratung der Angehörigen erforderlich.

Therapie Wie bei der Angsterkrankung auch wird die Behandlung der Zwangsstörung zweigleisig durchgeführt: Zum einen können Medikamente (insbesondere die selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren, siehe Kapitel Psychopharmakotherapie, Seite 91f.) eingesetzt werden, zum anderen wird Verhaltenstherapie durchgeführt (siehe Kapitel Psychotherapie, Seite 56ff.). Bei der medikamentösen Behandlung mit den selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren ist unbedingt darauf zu achten, dass diese Medikamente bei der Zwangserkrankung über einen längeren Zeitraum einzunehmen sind und eine höhere Dosierung erforderlich ist, als es bei Angsterkrankungen oder Depressionen der Fall ist. Im Rahmen der Verhaltenstherapie wird der Patient mit Situationen konfrontiert, die bei ihm Angst auslösen und in denen er sonst seine Zwangshandlungen durchführen würde. Er wird dann im Rahmen der Therapie an der Ausübung seiner Zwangshandlungen gehindert. Therapeutische Begleitung ist dabei erforderlich. Der Patient lernt, seine Angst auszuhalten und dass bei ausreichend langer Exposition die Angst abnimmt. Eine längere Exposition in Anwesenheit des Therapeuten ist wirksamer als eine kurzzeitige. Die Konfrontation mit angstauslösenden Reizen und die Reaktionsverhinderung (der Patient wird daran gehindert, seine Zwangshandlungen durchzuführen) sind wesentliche Bestandteile der Verhaltenstherapie. Der Einsatz mehrerer verhaltenstherapeutischer Techniken ist wirkungsvoll. Die Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung kann sinnvoll sein. Folgende Medikamente können zur Anwendung kommen: – Fluoxetin (Fluctin®) – Clomipramin (Anafranil®) – Paroxetin (Seroxat®)

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– Fluvoxamin (Fevarin®) – Sertralin (Zoloft®)

Schizophrenie In der Öffentlichkeit wird Schizophrenie oft gleichgesetzt mit jeglicher psychiatrischer Erkrankung, obwohl sie nur eine unter vielen ist. Das Wort schizophren kommt aus der griechischen Sprache und bedeutet »gespaltener Geist oder Seele«. Es bedeutet aber nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, dass das Ich des schizophren Erkrankten in zwei Personen aufgeteilt ist im Sinne einer gespaltenen Persönlichkeit. Schizophrenie bedeutet, dass bei den Patienten das Denken und die Gefühle nicht miteinander verbunden sind (Gespaltenheit). Unter der Schizophrenie werden die psychiatrischen Erkrankungen zusammengefasst, die das Denken, die Überzeugung, die Wahrnehmung, die Gefühle und den Antrieb beeinträchtigen. Es kommt zum Auseinanderfallen gedanklicher Verbindungen, die Lockerung von Verknüpfungen zwischen Ausdruck, Gefühlen und Inhalten bestimmt das Krankheitsbild. Es treten Denk- und Sprachstörungen auf oder es fehlt eine Übereinstimmung zwischen Stimmung und Berichten von Denkinhalten, so werden beispielsweise bedrohliche Situationen lachend und mit heiterem Gesichtsausdruck erzählt. In der Bevölkerung existieren viele Vorurteile und Irrtümer über die Schizophrenie, Formulierungen wie »das ist ja schizophren« werden in der Umgangssprache gern verwendet, um Widersprüchlichkeiten zu beschreiben. Meist gehen damit negative und entwertende Beurteilungen einher und es kommt zur Stigmatisierung von schizophren Erkrankten. Die gebräuchliche Bezeichnung widersprüchlichen Handelns als schizophren ist nach unserer Meinung ein Sprachmissbrauch, der zur Stigmatisierung führt. Oft werden schizophren Erkrankte in der Presse als gefährlich oder gewalttätig dargestellt, dem ist aber nicht so. Die Schizophrenie ist weder ansteckend noch selbst- oder fremdverschuldet. Sie ist

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eine Krankheit, die eine biologische Grundlage hat. Die Beschwerden können vielfältig behandelt und günstig beeinflusst werden, sie sind von Patient zu Patient unterschiedlich, es gibt leichtere und schwerere Verlaufsformen. Der an der Schizophrenie Erkrankte hat keine gespaltene Persönlichkeit, die Erkrankung führt auch nicht zum Hirnabbau (Demenz).

Beschwerden der Schizophrenie Störung des formalen Denkens (Denkstörung) Ein Beispiel für Denkstörungen ist: »Mein Vater hat mir gesagt, er habe Sie gestern gesehen, ich war mit meinem Hemd beschäftigt und habe meine Brille nicht gefunden, heute warte ich auf den Mond, Ihr Gesicht ist blau, warum wollen Sie mit mir sprechen? Ich bin gesund …« Viele Patienten berichten, dass sie das Gefühl haben, ihr Kopf wird von vielen, zum Teil sehr unsinnigen Gedanken überschwemmt. Patienten mit Denkstörungen fällt es schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Sie verlieren den roten Faden, sind meist nicht mehr in der Lage, einem längeren Gespräch zu folgen. Für Außenstehende erscheint dies sehr verwirrend oder chaotisch, nicht nachvollziehbar (deswegen wird der Kranke häufig von Laien als »verrückt« bezeichnet). Auffällig ist, dass der Gedankengang verlangsamt ist und die Gedanken plötzlich abreißen. Vielen Patienten fällt es schwer, abstrakt zu denken, sie haften am Konkreten (dies zeigt sich in der Schwierigkeit der Patienten, beispielsweise den Inhalt von Sprichwörtern zu erklären). Ferner kommt es zu gelockerten, gedanklichen Verknüpfungen (gelockerte Assoziationen). Die Patienten greifen einzelne Worte aus einem Gesprächsverlauf auf, reihen Wörter aneinander, die keine Logik mehr aufweisen. Man spricht von Zerfahrenheit. Es kann auch zu Sprachstörungen kommen, bei denen der Patient Wortneuschöpfungen (Neologismen) verwendet.

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Halluzinationen (Sinnestäuschungen) Unter Halluzinationen werden Sinnestäuschungen (Trugwahrnehmungen) verstanden. Es werden optische (das Sehen betreffende), akustische (das Hören betreffende), taktile (das Gefühl betreffende) und olfaktorische Halluzinationen (bezüglich des Geruchssinns) unterschieden. Akustische Halluzinationen in Form von Stimmenhören sind häufig; diese Stimmen können sich unterhalten, können dem Patienten Befehle oder Anweisungen erteilen oder ihr Handeln kommentieren. Ein Beispiel dafür: »… und die Stimme sagt mir ›mach das, mach das‹ oder sie lacht oder sie beschimpft mich schrecklich. Manchmal verbietet sie mir, mit Menschen zu sprechen, manchmal sind auch viele Stimmen da, die sich unterhalten oder durcheinander schreien. Die Stimmen sind schrecklich laut, ich halte mir die Ohren zur, aber es nützt nichts …« Unter dem Einfluss von Stimmen, die Patienten etwas befehlen, kann es zu selbst- oder fremdschädigendem Verhalten kommen. Bei optischen Halluzinationen sehen Patienten Dinge, die nicht vorhanden sind, zum Beispiel Blitze, Gegenstände oder Personen, geometrische Muster. Bei Körperhalluzinationen nehmen die Patienten Berührungen wahr, die nicht vorhanden sind, oder haben Körpermissempfindungen, beispielsweise »Stromblitze sind in meinem Magen«. Bei Geruchs- und Geschmackshalluzinationen werden Gerüche wahrgenommen, die nicht existent sind, zum Beispiel »Hier überall riecht es nach süßem Gas«.

Ich-Erlebnisstörungen Unter Ich-Störungen sind Störungen zu verstehen, bei denen der Patient das Ich-Gefühl teilweise verliert. Die Grenze zwischen ihm und der Umwelt wird durchlässig, die Patienten fühlen sich von außen beeinflusst, erleben sich als Marionette, die von außen gesteuert wird. Beispiele sind: »die Gedanken in meinem Kopf kommen aus dem Radio« (Gedankeneingebung) oder »meine Gedanken werden mir gestohlen« (Gedankenentzug) oder »jeder kann meine Gedanken lesen« (Gedankenausbreitung).

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Wahnvorstellungen Häufig treten bei schizophrenen Patienten Wahnvorstellungen auf. Unter Wahn wird eine krankhafte Fehlbeurteilung der Realität angenommen, die beim Betroffenen zur Gewissheit geworden ist und sich jeglicher Realitätskontrolle entzieht. Der Erkrankte hält an seiner falschen Überzeugung fest, auch wenn sie im deutlich Widerspruch zur Realität steht. Der Betroffene hat kein Bedürfnis, seine Wahrnehmungen zu überprüfen. Es gibt unterschiedliche Wahninhalte wie Krankheits-, Beziehungs- oder Größenwahn: »Morgen werde ich zum Kaiser von Italien gekrönt« oder »ich weiß, dass ich von James Bond verfolgt werde« oder »durch das Radio habe ich erfahren, dass mich mein Mann vergiften will«. Oft wird vieles, was der Patient erlebt, in dieses Wahnsystem eingebaut. Häufig geht der Wahnentwicklung eine so genannte Wahnstimmung voraus, darunter ist zu verstehen, dass der Patient belanglose Vorgänge einer geheimnisvollen Bedeutung beimisst, der Patient fühlt sich im Mittelpunkt des Geschehens, er bezieht alle Äußerungen auf sich. Häufige Wahnthemen sind Beeinträchtigungs-, Verfolgungsund Beziehungswahn. Oft ist der Wahn für die Patienten ausgesprochen quälend und beängstigend.

Erregung Viele Patienten, selbst wenn sie nach außen ruhig wirken, können innerlich ausgesprochen unruhig, erregt und angespannt sein. Die Patienten erleben große Angst und Ratlosigkeit, schwerste Zustände von Erregung und Bewegungsstarre (Katatonie) werden beobachtet. Wahnsymptome, Halluzinationen, Ich-Erlebnisstörungen, Fremdbeeinflussungserlebnisse, Denkstörungen und Erregung werden zu den so genannten Positivsymptomen gerechnet. Negativssymptome sind: Verarmung der Sprache, des Fühlens, Depressionen.

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Im Gespräch ist der schizophren Erkrankte oft wortkarg, das Gespräch gestaltet sich dann sehr mühsam. Die Gefühle werden weniger (Affektverflachung), es kommt zur Einschränkung, sich gefühlsmäßig auszudrücken oder zu reagieren. Oft fühlen sich die Patienten »leer«, »teilnahmslos« oder »gleichgültig«. Meist tritt eine niedergeschlagene Stimmung auf (Depressivität) mit Hoffnungslosigkeit, vermehrtem Grübeln und Interessenverlust. Ferner kann es zu widersprüchlichen Gefühlen (Ambivalenz) kommen. Der Patient fühlt sich von einer Person geliebt und gehasst zugleich; er ist oft unentschlossen, gezielte Handlungen sind nicht mehr möglich. Auch kann es zu inadäquaten Gefühlsreaktionen kommen (Parathymie). Beispiel: Der Patient berichtet lachend, dass er grausam misshandelt wurde.

Antriebsstörungen, Energiemangel (Apathie) Viele schizophrene Patienten haben einen fehlenden oder herabgesetzten Antrieb. Es kommt demzufolge zur Vernachlässigung, beispielsweise der Körperpflege, die Patienten fühlen sich kraftlos, eine sinnvolle Alltagsstrukturierung gelingt ihnen nicht mehr, sie ziehen sich sozial zurück, leben isoliert, es kommt zu erheblichen sozialen Beeinträchtigungen. Oft werden diese Antriebsstörungen von Angehörigen als »Faulheit« fehlinterpretiert und es werden dem Patienten gegenüber Schuldvorwürfe oder gar feindselige Bemerkungen und Kritik geäußert, was ihn zusätzlich belastet.

Kognitive Defizite (Aufmerksamkeitsstörungen) Schizophrene Patienten haben häufig Konzentrationsstörungen, sie fühlen sich vorzeitig erschöpft, sie sind nur eingeschränkt in der Lage, ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, es fällt ihnen schwer, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, sie werden von Eindrücken überflutet, es scheint, dass die Filterfunktion des Gehirns erheblich gestört ist. Möglicherweise ist der soziale Rückzug der schizophrenen Patienten auch ein Schutz vor den sie überflutenden Eindrücken und Wahrnehmungen. Positive und negative Symptome können gleichzeitig vorhanden sein. Besonders die negativen Symptome wie depressive Beschwerden führen zu sozialen Beeinträchtigungen, Isolation und Motiva-

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tionsverlust. Eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität ist die Folge. Lange bevor es zum Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung kommt, können so genannte Prodromalsymptome auftreten. Dieses sind in erster Linie depressive Verstimmungen, Unruhe, Angst, Denk- und Konzentrationsstörungen, Antriebsminderung und Energieverlust. Symptome der Schizophrenie

Prodromalsymptome (= Frühsymptome) • depressive Verstimmung • Unruhe • Angststörungen

Positivsymptome

Negativsymptome

• Wahnsymptome

• Sprachverarmung

• Denk- und Konzentrationsstörungen • Antriebsminderung

• Halluzinationen • Ich-Erlebnisstörungen • Fremdbeeinflussungserlebnisse • Denkstörungen

• Energieverlust

• Erregung

• Gefühlsverarmung • Antriebsstörungen • Engergieverlust • Freudlosigkeit, Depressionen • Konzentrationsstörungen • Kontaktstörungen

Abbildung 8: Symptomgruppen bei der Schizophrenie (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Schizophrenie. Eine Krankheit – kein Unwort. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 25)

Unterformen der Schizophrenie Je nach vorherrschenden Beschwerden können folgende Unterformen der Schizophrenie unterschieden werden: – Paranoide Schizophrenie, – Hebephrene Schizophrenie, – Katatone Schizophrenie, – Undifferenzierte Schizophrenie, – Postpsychotische Depression, – Schizophrenes Residuum, – Schizophrenia simplex.

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Am häufigsten ist die paranoid-halluzinatorische Form der Schizophrenie. Hier herrschen paranoide Symptome wie Wahnerleben und Halluzinationen (Trugwahrnehmungen) vor. Viele Patienten haben große Angst, fühlen sich ratlos und sind sehr misstrauisch. Die hebephrene Form beginnt die typischerweise in der Jugendzeit. Die Patienten wirken meist unbekümmert und sind im Hinblick auf die Situation unangemessen heiter. Häufig kommt es zu Auffälligkeiten im Sozialverhalten. Der Beginn dieser Verlaufsform ist schleichend über Jahre hin, es kommt zu erheblichen Leistungseinbrüchen und die soziale Entwicklung ist sehr gefährdet. Die Erkrankung hat häufig fehlenden Schulabschluss und fehlende Berufsausbildung zur Folge. Der seltene katatone Verlaufstyp wird durch Beeinträchtigungen der Bewegung bestimmt. Oft verharren die Patienten in bizarren und unnatürlichen Körperstellungen, die sie selbst nicht verändern können. Es kann auch Bewegungsdrang auftreten. Ferner kann es bei der katatonen Form zu Temperaturanstieg kommen, der begleitet ist durch Blutveränderungen und HerzKreis-Laufstörungen, unter Umständen kann ein lebensbedrohliches Krankheitsbild vorliegen, das intensiver medizinischer Behandlung bedarf. Unter einer postpsychotischen Depression wird eine länger anhaltende depressive Episode verstanden, die im Anschluss an eine psychotische Episode auftritt. Unter einem schizophrenen Residuum wird ein meist nicht ausreichend behandelter schizophrener Zustand verstanden, bei dem eine deutliche Antriebsminderung und Affektverflachung (Gefühlsarmut) im Vordergrund stehen. Die Schizophrenia simplex bezeichnet eine Form der schizophrenen Erkrankung, die langsam und schleichend beginnt und meist erst nach Jahren als Schizophrenie diagnostiziert werden kann. Typische Symptome wie Wahn, Ich-Störungen oder Halluzinationen kommen meist nicht vor.

Schizophrenie

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Verlauf der Erkrankung Der Verlauf einer Schizophrenie ist sehr unterschiedlich. Bei etwa 22 Prozent tritt nur eine einzige psychotische Episode auf, die ohne Folgen ausheilt. Dies ist der günstigste Verlaufstyp. Bei etwa 35 Prozent kommt es zu mehreren Krankheitsepisoden, jedoch ohne eine Einschränkung. Bei etwa 8 Prozent treten mehrere Episoden und gleichbleibende Einschränkungen auf. Rund 38 Prozent leiden unter mehreren Krankheitsepisoden mit zunehmender Einschränkung. Neben dem Fortbestehen negativer Krankheitssymptome, wie Antriebsstörungen, Depressivität, Konzentrationsstörungen, beeinflussen insbesondere familiäre Interaktionen, die mit ablehnender Kritik verbunden sind, den Verlauf der schizophrenen Erkrankung ungünstig. Insofern ist es wichtig, auf das Familienklima Einfluss zu nehmen, um Feindseligkeit auf der einen, aber auch Überfürsorglichkeit auf der anderen Seite zu vermeiden. Auf die Früherkennung und Frühbehandlung sei eindrücklich hingewiesen. Je früher die Erkrankung auftritt, desto ungünstiger ist die soziale Entwicklung, denn Schul- und Berufsausbildung sind im jüngeren Lebensabschnitt noch nicht abgeschlossen. Besondere Bedeutung kommt der erhöhten Rückfallrate nach psychotischen Episoden besonders im ersten Jahr nach Entlassung aus der Behandlung zu. Je früher die erste Episode behandelt wird, desto günstiger scheint der Verlauf zu sein.

Das Risiko der Selbsttötung Infolge der depressiven Verstimmung ist bei schizophren Erkrankten das Selbsttötungsrisiko besonders erhöht. Dies ist Folge der meist ausgeprägten depressiven Verstimmung.

Untersuchungen bei Schizophrenie Gespräche mit dem Betroffenen wie auch mit Angehörigen, Verhaltensbeobachtungen sowie eine körperliche (internistische und

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neurologische) Untersuchung sind notwendig, ferner kommen bildgebende Verfahren, Blut- und Urinuntersuchung eventuell auch die Nervenwasseruntersuchung zum Ausschluss möglicher organischer Erkrankungen in Frage. Wichtig ist, hirnorganische Erkrankungen, die zu schizophrenähnlichen Symptomen führen können, auszuschließen, wie beispielsweise eine bestimmte Anfallsform (Temporallappenepilepsie), Hirntumore, Entzündungen des Gehirns (Multiple Sklerose, Syphilis, Aids), degenerative Hirnerkrankungen wie die Alzheimer-Krankheit. Ferner können sich bei Alkohol- und Drogenkonsum schizophrene Symptome entwickeln. Im Alkoholentzug (Delir) kann es zu Verfolgungswahn und zu optischen Halluzinationen kommen. Schilddrüsenerkrankungen, entgleister Blutzucker, Erkrankungen der Hirnanhangsdrüse, Einnahme von Medikamenten wie Amphetamine, Barbiturate, Drogenkonsum mit Cannabis, LSD, Kokain oder Opiaten können zu Schizophrenie-Symptomen führen. Schizophrenie kann gemeinsam mit Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit auftreten. Internistische Erkrankungen wie Infektionen oder arteriosklerotische Erkrankungen wie Herzerkrankungen sind bei den Schizophrenie-Erkrankten häufiger. Schizophrenie tritt öfter gleichzeitig auf mit: Internistischen Suchterkrankungen Depressionen Erkrankungen z. B.: • Infektionen • Alkohol • im Prodromalstadium • Arteriosklerose • Medikamente • Herzinfarkte • Drogen (besonders • als Frühzeichen einer Cannabis) Wiedererkrankung • nach einer psychotischen Episode Abbildung 9: Gemeinsames Auftreten von Schizophrenie mit anderen Erkrankungen (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Schizophrenie. Eine Krankheit – kein Unwort. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 42)

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Risikofaktoren und Entstehungbedingungen Grundsätzlich gilt, dass es nicht eine Ursache der Schizophrenie gibt. Es wird davon ausgegangen, dass mehrere in Wechselwirkung stehende Bedingungen an der Entstehung der Schizophrenie beteiligt sind (multifaktorielle Entstehung). Zu den wichtigsten Risikofaktoren gehören – genetische (die Vererbung betreffende) Belastungen, – Hirnfunktions- und Hirnentwicklungsstörungen, – Störungen des Botenstoffwechsels, besonders des Dopaminund Serotonin-Stoffwechsels, – eine kritische und feindselige Familienatmosphäre (diese ist besonders für den Verlauf entscheidend), – belastende Lebensereignisse (besonders als Auslöser für Rückfälle belegt).

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell Dieses Modell besagt, dass schizophrene Patienten empfindsamer auf äußere und innere Reize reagieren, ihre biologische Voraussetzung, mit Stress zurechtzukommen, ist eingeschränkt. Die genetisch bedingte erhöhte Empfindsamkeit (Vulnerabilität) führt zur verminderten Widerstandsfähigkeit, so dass Patienten mit Stress weniger gut umgehen können. Bei Auftreten von vermehrten Problemen (Stress) wird die kritische Schwelle überschritten und es können psychotische Symptome ausbrechen. Mögliche Stresssituationen sind Prüfungen, Leistungsdruck, Überforderungssituationen, Arbeitsplatzwechsel, zwischenmenschliche Konflikte, Todesfälle in der Familie und anderes mehr. Das Erkennen der individuellen Stressfaktoren ist besonders wichtig, um den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen und Wiedererkrankungen zu vermeiden. Besonders Konflikte in der Partnerschaft und innerhalb der Familie sind häufig Anlass für eine Verschlechterung der schizophrenen Symptome und Auslöser für Wiedererkrankungen. Ferner wird bei der Schizophrenie angenommen, dass es zu einer Dysbalance (Ungleichgewicht) des Neurotransmitterstoffwechsels kommt. Besonders Dopamin und Serotonin, aber auch das GABA-System und das Glutamat-System sind betroffen. Es wird

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davon ausgegangen, dass die Positivsymptome eher durch einen Dopamin-Überschuss entstehen, während die Negativsymptome mit einem Dopamin-Mangel in Verbindung gebracht werden. Bei der Entstehung der Schizophrenie sind genetische Faktoren beteiligt. So haben Verwandte 1. Grades ein Risiko von 15 bis 17 Prozent, bei Verwandten 2. Grades sind es 2 bis 4 Prozent (das Risiko der Normalbevölkerung, an einer Schizophrenie zu erkranken, beträgt 1 Prozent). Bei Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung fanden sich gehäuft Schwangerschaft- und Geburtskomplikationen. Hormonelle Einflüsse, insbesondere vom Östrogen, werden angenommen. Frauen erkranken später als Männer, was auf einen gewissen schützenden Faktor des Östrogens schließen lässt.

Das Expressed-emotion-Modell (EE-Konzept) Unter Expressed-emotion wird feindliche, ablehnende Kritik innerhalb der Familie verstanden. Heftige gefühlsmäßige Reaktionen zwischen den Angehörigen und den Patienten können auftreten und bestimmen ein ungünstiges Familienklima, eine feindselige Familienatmosphäre. Dieses feindliche Klima führt zur Dauerbelastung für den schizophren Erkrankten, der den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflusst. Es ist bekannt, dass in Familien, in denen solch ein negatives Familienklima herrscht, Patienten häufiger Rückfälle erleiden als andere schizophrene Patienten. Kennzeichnend in diesen Familien ist, dass bereits kleinste Anlässe zu Kritik führen, wobei mit der Kritik Ablehnung, Missbilligung, Ärger und Wut einhergehen. Anderenfalls ist es für den Krankheitsverlauf ebenfalls nicht günstig, wenn in der Familie eine Überfürsorglichkeit herrscht. Damit sind große Sorgen um den Patienten gemeint, die dazu führen, dass seine Familienangehörigen ihn permanent beaufsichtigen, kontrollieren oder ihn in seinem Aktivitätsradius einschränken. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Familienatmosphäre, in der emotionale Wärme herrscht, mit Wohlwollen und unterstützendem Verhalten gegenüber dem Kranken, eine positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf hat. Wichtig ist deshalb, Angehörige über die Erkrankung, ihren Verlauf und die Krankheitssymptome gut zu informieren, um Fehleinschätzungen vorzubeugen. Insbe-

Schizophrenie

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sondere ist es wichtig, Angehörige über die negativen Symptome wie beispielsweise Antriebsarmut oder Interessenlosigkeit aufzuklären, damit sie diese dem Patienten nicht vorwerfen. genetische gestörter psychoFaktoren Botenstoff- soziale wechsel Faktoren – Dopamin – familiär

Hirnfunk- immunotionsstö- logische rungen Faktoren

hormonelle Faktoren (Östrogen)

– Schwan-

– Serotonin

gerschafts-

– GABA

und

– Glutamat

Geburtskomplikationen

Vulnerabilität (Verletzbarkeit) = erhöhte Erkrankungsbereitschaft Auslösende Faktoren Lebensereignisse Schicksalsschläge Stress Drogen Überforderung Konflikte Psychose Abbildung 10: Ursachen, Risikofaktoren, Entstehungsbedingungen der Schizophrenie (nach: Schäfer u. Rüther, 2004d)

Medikamentöse Behandlung Entsprechend der Komplexität des Krankheitsbildes ist es nicht verwunderlich, dass auch eine umfangreiche Behandlung notwendig ist (multimodale Therapie). Neben einer medikamentösen Psychopharmakologischen Behandlung ist immer auch eine psychotherapeutische Behandlung notwendig. Entscheidend für den Verlauf der Schizophrenie-Erkrankung ist die Frühbehandlung.

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Die pharmakologische Behandlung ist eine Behandlung mit Antipsychotika (früher Neuroleptika genannt). Grundsätzlich können Antipsychotika der 1. Generation oder der 2. Generation zum Einsatz kommen (siehe Kapitel Psychopharmakologie, Seite 96ff.). Bei ausgeprägten depressiven Zuständen sind zusätzliche Antidepressivagaben möglich. Bei akuten Erregungszuständen oder ausgeprägten Angstzuständen können Anxiolytika eingesetzt werden. Antipsychotika wirken auf die Positivsymptome wie Wahn, Halluzinationen, Beeinflussungserlebnisse. Die Antipsychotika der 2. Generation haben zusätzlich eine Wirkung auf die Negativsymptomatik. Insbesondere beeinflussen sie die kognitiven Störungen positiv, so dass eine Verbesserung der Konzentration und des Gedächtnisses festzustellen ist. Dies ist für die berufliche Integration von entscheidender Bedeutung. Auf Wirkmechanismen und Nebenwirkungen wurde im Kapitel Psychopharmakotherapie/Antipsychotika (S. 96ff.) schon eingegangen. Bei der Schizophrenie-Behandlung ist zwischen einer Akutbehandlung, einer Erhaltungstherapie und einer Rezidivprophylaxe (Vorbeugung) zu unterscheiden. Die Akutbehandlung hat vorrangig das Ziel, die akuten psychotischen Symptome zu mildern. Eine Erhaltungstherapie sollte im Anschluss mindestens für die Dauer von 1 bis 2 Jahren erfolgen. Es ist bekannt, dass Patienten, die eine Erhaltungstherapie bekommen, weniger Rezidive (Wiedererkrankungen) aufweisen. Ist es bereits zu wiederholten Erkrankungsphasen gekommen, so ist eine lebenslange Verordnung der Antipsychotika nötig. Grundsätzlich gilt es, ein Medikament auszuwählen, das für den Patienten individuell gut wirkt und am besten verträglich ist. Es scheint so zu sein, dass die Rezidivprophylaxe mit einem Antipsychotikum der 2. Generation günstiger ist, da die Patienten weniger Nebenwirkungen haben und eher bereit sind, eine langfristige Behandlung mit diesen gut verträglichen Medikamenten durchzuführen. Der Wirkmechanismus der Antipsychotika ist durch eine Beeinflussung des Dopamin-Botenstoffwechsels erklärbar. Antipsychotika verhindern die bei Schizophrenie angenommene Dopamin-

Schizophrenie

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Überflutung. Die Dopamin-Bindungsstellen werden somit vor einer Überreizung von Dopamin geschützt, weil die Antipsychotika die Dopamin-Bindungsstellen blockieren (= Rezeptorblockade). Entscheidend ist, dass möglichst frühzeitig auf die psychotischen Symptome Einfluss genommen wird, deshalb ist es besonders wichtig, erste Symptome wahrzunehmen. So genannte Frühwarnsymptome können sein: – länger anhaltende Schlafstörung, – erneutes Stimmenhören, – Konzentrationsstörungen, – Abgespanntheit, – Erregung, – Gereiztheit, – Energieverlust, – Angst, – Misstrauen, – Interessenlosigkeit, – Depressionen, – Rückzugstendenz. Individuell sollte jeder Patient lernen, auf seine individuellen Frühwarnzeichen zu achten. Bei der Rückfallprophylaxe ist zu berücksichtigen, dass eine ausreichend hohe, aber so niedrig wie mögliche Antipsychotika-Medikation erfolgt und die Medikamente regelmäßig eingenommen werden. Der Patient und seine Angehörigen sollten angeleitet werden, Frühwarnzeichen zu erkennen, gegebenenfalls sollte mit dem Patienten und seinen Angehörigen ein Krisenplan abgesprochen werden (z. B. bei Auftreten von Frühwarnzeichen Erhöhung der Medikamente). Stresssituationen sollten vermieden werden. Der Patient sollte eine unterstützende Psychotherapie erhalten. Soziotherapeutische Maßnahmen stellen eine hilfreiche Unterstützung dar. Außerdem soll darauf geachtet werden, dass in der Familie eine ausgeglichene emotionale Atmosphäre herrscht. Immer sollten die Angehörigen in den Gesamtbehandlungsplan einbezogen werden. Wichtig ist, begleitende Depressionen zu erkennen, um die erhöhte Selbsttötungsgefahr einzudämmen.

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Psychotherapie und sozialtherapeutische Maßnahmen Neben der psychopharmakologischen Behandlung der Schizophrenie sind Psychotherapie und psychosoziale unterstützende Maßnahmen notwendig. Verschiedene Therapiemaßnahmen kommen zum Einsatz, so beispielsweise ein Training sozialer Fertigkeiten(soziales Kompetenztraining). Es soll den Patienten in seinen Fähigkeiten verbessern, Informationen zu verstehen, Wünsche zu äußern, bessere Kommunikationsstrukturen zu erlernen und mehr Selbstsicherheit zu gewinnen. Eine Verbesserung der sozialen Wahrnehmung und der Kommunikation sowie der Alltagsstrukturierung sollen damit erreicht werden. Zusätzlich kommen Stressbewältigungsprogramme zum Einsatz, bei dem der Patient lernen soll, seine individuellen Stressfaktoren zu erkennen und einen adäquaten Umgang damit zu erlernen. Insbesondere bei belastender Familienatmosphäre hat sich eine Familientherapie bewährt, um auf der einen Seite ein feindseliges Klima abzubauen und auf der anderen Seite eine Überfürsorglichkeit einzudämmen. In der kognitiven Verhaltenstherapie soll es für den Patienten um die Akzeptanz seiner Erkrankung gehen, ferner die Akzeptanz seiner erhöhten Vulnerabilität (Empfindsamkeit) und das Erlernen von Verhaltensänderungen. Aufklärung, Information, Tagesstrukturierung, Erkennen von Frühwarnzeichen, Einbeziehen von Angehörigen, Erlernen von Problemlösungsstrategien, Stressbewältigungstraining und soziales Kompetenztraining sind Inhalte der Verhaltenstherapie und führen zu verringerter Rückfallhäufigkeit, zur besseren Krankheitsverarbeitung und zur Beeinflussung der psychosozialen Beeinträchtigung. In einem speziellen Frühwarnsymtpom-Training soll der Patient lernen, seine individuellen Frühwarnzeichen rechtzeitig zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern.

Essstörungen

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Rehabilitationsprogramme Unter Rehabilitation wird eine schrittweise Wiedereingliederung des Patienten in seine Wohn- und Arbeitswelt verstanden. Rehabilitationsmaßnahmen sind beispielsweise: – Unterstützung bei der Wohnsituation (Wohngruppen, beschütztes Einzelwohnen, Wohnheime), – Hilfestellung bei der Tagestrukturierung und Freizeitgestaltung, – Teilnahme an Selbsthilfegruppen, Kontakt zu sozialpsychiatrischen Diensten, Angehörigengruppen, – Hilfestellung zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen, – Wiedereingliederung in den Beruf, – Arbeitstrainingsprogramme, Umschulungsmaßnahmen, Berufs- oder Schulausbildung unter beschützenden Bedingungen mit psychologischer Begleitung, Tätigkeit in Werkstätten für Behinderte, – medizinische Rehabilitation mit medikamentöser Behandlung und medikamentöse Rückfallprophylaxe sowie psychotherapeutische und psychosoziale Trainingsprogramme. In Deutschland existieren unterschiedliche Rehabilitationseinrichtungen, spezielle Einrichtungen für psychisch Kranke (RPK) zeigen gute Erfolgsaussichten. Sie werden meistens von gesetzlichen Rentenversicherungsträgern (LVA, BFA) finanziert.

Psychoedukation Maßnahmen zur Aufklärung und Information über die Erkrankung sowie zur Lebensführung sind äußerst notwendig. Akzeptanz der Erkrankung, Erlernen von Bewältigungsstrategien, Unterstützung bei der Behandlungsbereitschaft sind mögliche Bausteine. Angehörigen- und Selbsthilfegruppen können folgende Ziele haben: – Verständliche Darstellung der Erkrankung, ihres Verlaufs und ihrer Behandlungsmöglichkeit, – Entlastung für Patienten und Angehörige,

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– Förderung der Behandlungsbereitschaft und Förderung der langfristigen Zusammenarbeit, – Erlernen von Bewältigungsstrategien, – Aufbau von Hoffnung, Erfahrungsaustausch mit Betroffenen oder Angehörigen, – Entlastung von Schuldgefühlen bei Angehörigen, – Vorbeugung von Überforderung der Angehörigen, – Umgang und Erkennen von Frühwarnzeichen, – Eventuell auch politische Einflussnahme durch Forderung von Angehörigen für mehr Arbeitsplätze für psychisch Kranke und ambulante Einrichtungen zur Tagestrukturierung für psychisch Kranke, – regelmäßiger Urlaub für Angehörige, die psychisch Kranke versorgen.

Ambulante oder stationäre Behandlung Dank der verbesserten psychopharmakologischen Behandlung konnte die Dauer und Häufigkeit der stationären psychiatrischen Behandlung bei schizophren Erkrankten in den letzten Jahren reduziert werden. Im Rahmen akuter psychotischer Episoden ist eine stationäre Behandlung nicht immer zu umgehen. Sie sollte so kurz wie möglich, so lang wie nötig sein. Bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung ist eine stationäre Behandlung auch gegen den Willen des Patienten nicht immer zu vermeiden.

Essstörungen Essstörungen im engeren Sinn sind die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa). Hauptkennzeichen für Anorexie und Bulimie sind Wahrnehmungsstörungen bezüglich des eigenen Körpers, die überwertige Idee, zu dick zu sein, oder die Angst, zu dick zu werden, ferner die Veränderung der Wahrnehmung für Hunger.

Schlafstörungen

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Die Patienten sind übermäßig mit dem Körpergewicht, der Figur oder dem Essen beschäftigt.

Anorexia nervosa Bei der Magersucht wird ein Gewichtsverlust absichtlich herbeigeführt, die Patientinnen (der überwiegende Teil der betroffenen ist weiblich) werden untergewichtig. Sie versuchen durch sehr viele körperliche Aktivitäten, Fasten, Diäten oder Missbrauch von Abführmitteln, Schilddrüsentabletten, wassertreibenden Medikamenten oder durch Erbrechen ihr Gewicht zu reduzieren. Die magersüchtigen Patienten haben eine erhebliche Körperwahrnehmungsstörung, sie fühlen sich zu dick, was im krassen Gegensatz zu ihrem erheblichen Untergewicht steht. Infolge des Gewichtsverlusts bei der Magersucht kommt es zu körperlichen Veränderungen wie Ausbleiben der Periode, hormonellen Veränderungen, Verlangsamung des Herzschlags, Blutdruckabfall, Erniedrigung der Körpertemperatur, trockener, rauer Haut, Hauteinblutungen, Blaufärbung der Fingerspitzen und Fußspitzen. Bei der Blutuntersuchung zeigt sich häufig eine Unterzuckerung, ein vermindertes Eiweiß und zu niedrige weiße Blutkörperchen und Blutplättchen. Elektrolytverschiebungen sind durch selbst herbeigeführtes Erbrechen und durch Missbrauch von Abführmitteln sowie Missbrauch von wassertreibenden Mitteln möglich.

Bulimia nervosa Die Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch Heißhungerattacken. Die Patienten essen in diesen Phasen große Nahrungsmengen, sie verschlingen insbesondere Nahrungsmittel mit hohem Fettgehalt und Süßigkeiten. Die Patienten erleben während dieser Essattacken einen Kontrollverlust über ihr Essverhalten. Zur Gegenregulation erbrechen sie oder betreiben einen Missbrauch von Abführmitteln, Appetitzüglern oder wassertreibenden Medikamenten. Bulimische Patienten haben meist ein Normalgewicht. Bei ih-

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nen fallen eine niedrige Selbstachtung und eine hohe Abhängigkeit von der Meinung anderer auf. Da mit der Anorexia nervosa und der Bulimia nervosa viele körperliche Beschwerden einhergehen können (Ohnmachtsanfälle, Krampfanfälle, Zahnschäden, Herzrhythmusstörungen, Magenbeschwerden, Nierenerkrankungen, Ausbleiben der Periode, Osteoporose, Bauchspeichelentzündungen usw.), muss eine entsprechende organische Diagnostik zum Ausschluss anderer Erkrankungen durchgeführt werden.

Entstehungsbedingungen Neben biologischen Faktoren (genetische, neurochemische und physiologische) werden soziokulturelle Faktoren (Familie, Schule, Massenmedien) wie auch auch entwicklungsbedingte Faktoren (Störungen in der Kindheit und Pubertät) unterschieden. Gestörte familiäre Beziehungsmuster und dauerhafte Schwierigkeiten und belastende Lebensereignisse sind anzunehmen. Überschneidungen mit affektiven Erkrankungen und Suchterkrankungen kommen vor.

Behandlung Es wird zwischen einer therapeutischen und körperlichen Behandlung unterschieden. Bei der körperlichen Behandlung (somatische Therapie) geht es um die Behandlung der Folgeschäden, beispielsweise müssen fehlende Elektrolyte zugeführt werden, Eiweiß- und Vitaminmangel bei starkem Untergewicht aufgehoben werden; eventuell ist eine Östrogengabe angezeigt. Die psychotherapeutische Behandlung der Essstörungen beinhaltet die Bearbeitung von Körperwahrnehmungsstörungen, Hunger- und Sättigungswahrnehmung, Wahrnehmungen des eigenen Körpers und eigener Gefühle. Zusätzlich müssen bei Vorliegen von Depressionen oder Suchterkrankungen diese gesondert behandelt werden. Wenn möglich, sollten die Familie oder nahe Angehörige einbezogen werden. Häufig kommen verhaltenstherapeutische Programme in Frage, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie (siehe dort, Seite 56ff.). Medikamentös können trizyklische Antidepressiva oder Sero-

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tonin-Wiederaufnahmehemmer kurzfristig bei Bulimia nervosa hilfreich sein. Ist die Essstörung mit einem deutlichen Untergewicht verbunden oder ist es zu erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen gekommen, so muss eine Behandlung unter stationären Bedingungen erfolgen. Immer sollten bei essgestörten Patienten während der Therapie regelmäßige Gewichtskontrollen durchgeführt werden.

Schlafstörungen Ein- und Durchschlafstörungen sind häufige Beschwerden. Schlafstörungen können ganz unterschiedliche Ursachen haben. Immer ist eine genaue Diagnostik zu fordern. Bevor wir über die Schlafstörungen im Einzelnen sprechen, soll ein Überblick verschafft werden, warum Schlaf überhaupt notwendig ist. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass Schlaf ein passiver Zustand ist, ist festzustellen, dass das Gehirn im Schlaf sehr aktiv ist. Der Schlaf dient der Erholung, er ist der Hüter unserer geistigen Gesundheit. Ferner werden im Schlaf verschiedene Hormone ausgeschüttet (Wachstums- und Schilddrüsenhormone) sowie das Abwehrsystem unterstützende Stoffe. Außerdem benötigen wir Schlaf für unser Gedächtnis. Unzureichender Schlaf führt zu Tagesmüdigkeit, Konzentrationsminderung, Reizbarkeit, Gedächtnisschwierigkeiten bis hin zu Verwirrtheitszuständen. Es werden verschiedene Schlafstadien unterschieden. Sie sind messbar in einem Schlaflabor mit Hilfe einer so genannten polysomnographischen Untersuchung, bei der die Hirnströme, Ableitungen von verschiedenen Muskeln, Atemfluss und Luftfluss durch Nase und Mund, Schnarchgeräusche, EKG, Brust- und Bauchbewegung und die Sauerstoffsättigung des Blutes gemessen werden. Es werden insgesamt 4 Schlafstadien und die REM-Phase (Rapid Eye Movement), die so genannte Traumphase, unterschieden.

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Das Schlafstadium I ist das Einschlafstadium, das Schlafstadium II das Leichtschlafstadium, gefolgt vom Tiefschlafstadium III und Tiefschlafstadium IV. Die Phasen I bis IV werden auch als NonREM-Schlaf zusammengefasst. Sie unterscheiden sich durch die unterschiedlichen Hirnaktivitäten. Jede Nacht werden bei einem gesunden Menschen etwa 4 bis 5 Schlafzyklen von jeweils etwa 90 Minuten durchschlafen. Jeder Zyklus ist vom Schlafstadium I bis IV und einer sich anschließenden REM-Schlafphase streng geordnet. Je nach Alter ist die Tiefschlafphase variabel. Die Tiefschlafstadien III und IV nehmen innerhalb einer Nacht ab und die REM-Phasen (der Traumschlaf) nehmen zu. Tabelle 9: Wachsein/Schlafstadien und EEG Wachsein mit geschlossenen Augen: Wachsein mit geöffneten Augen: Schlafstadien Schlafstadium I Schlafstadium II (Leichtschlafstadium) Tiefschlafstadium III Tiefschlafstadium IV REM-Phase (rapid eye movement)

α-Wellen (ca. 8–10 Hz) ß-Wellen (ca. 20 Hz)

EEG-Wellen Theta-Wellen (7 Hz) Schlafspindel K-Komplexe Deltawellen (3 Hz) Deltawellen (3 Hz) Traumphase ß-Wellen (12 – 20Hz)

Anteil am Gesamtschlaf 2 – 5 Prozent 40 – 50 Prozent 3 – 8 Prozent 10 –15 Prozent 20 – 25 Prozent

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 20)

Die Aufgabe der Träume ist es, Erlebnisse des Tages zu verarbeiten und Spannungen des Gefühlslebens abzubauen. Im Traum treten Gefühle auf, die uns im Wachsein verborgen sind, ferner dient der Traum zum Speichern von Gelerntem im Langzeitgedächtnis.

Schlafdauer Die Schlafdauer ist individuell unterschiedlich, es besteht eine große Variabilität von Schlafdauer und Schlafablauf. Die meisten

Schlafstörungen

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Erwachsenen benötigen 7 bis 8 Stunden Schlaf. Es gibt jedoch auch Menschen, die wesentlich weniger oder wesentlich länger schlafen, die so genannten Kurz- beziehungsweise Langschläfer. Ferner werden Abendtypen von Morgentypen unterschieden. Die Abendtypen sind Menschen, die besonders in den Abendstunden ihre Leistungshochs haben, spät zu Bett gehen und spät aufstehen, während die Morgentypen Frühaufsteher sind und ihre Leistungsspitzen in den Morgenstunden haben und entsprechend abends früh zu Bett gehen. Die Schlafdauer ist auch vom Lebensalter abhängig. Säuglinge und Kleinkinder schlafen wesentlich mehr als Vorschulkinder oder Schulkinder. Während der Pubertät kommt es zu einer vorübergehenden Schlafphasenverschiebung: Die Jugendlichen werden erst später müde und wollen morgens länger schlafen, was jedoch aufgrund gesellschaftlicher Normen (Schulbeginn) meist nicht möglich ist. Das führt sehr häufig dazu, dass die Jugendlichen in ein Schlafdefizit kommen. Mit zunehmendem Lebensalter nimmt die Schlafdauer ab, ferner der Tiefschlaf, das Einschlafen ist erschwert und ein früheres Erwachen wird häufiger. Meist ist der Nachtschlaf bei älteren Menschen auf 5 bis 6 Stunden reduziert.

Untersuchungen bei Schlafstörungen Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Gespräch mit dem Patienten. Es ist zu erfragen, ob eine Ein- oder Durchschlafstörung vorliegt, wie die Einschlafdauer ist, die Durchschlaffähigkeit, die Häufigkeit von nächtlichem Erwachen, die Erholsamkeit des Schlafs und die Schlafdauer. Ferner ist zu besprechen, ob ein vermehrtes Grübeln vor dem Einschlafen stattfindet und welche Gefühle das nächtliche Wachsein begleiten. Auf körperliche Beschwerden wie Herzrasen, Schwitzen, Unruhe, Atmungsstörung, unruhige Beine ist zu achten. Gibt es Alpträume? Kommt es zu Angstattacken?

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Entscheidend ist die Frage nach der Befindlichkeit am Tage. Besteht Tagesmüdigkeit oder Schläfrigkeit? Wie sind der Antrieb, die Konzentration und die Leistungsfähigkeit? Wichtig ist es herauszufinden, wie lange die Bettliegezeit ist und wie viele Stunden von der Bettliegezeit geschlafen werden. Wie ist die Abendgestaltung? Wie sind die Einschlafgewohnheiten? Gibt es ein Schlafritual? Welche schlafstörenden Verhaltensweisen lassen sich herausfinden (Nikotin, Alkohol, Kaffee, aufregende Tätigkeiten am Abend usw.). Wird ein zu langer Mittagsschlaf gemacht? Besteht Schichtarbeit? Gibt es belastende Konflikte, Ärger, Probleme, Beziehungskonflikte? Bestehen Stresssituationen? Werden zurzeit Prüfungen gemacht? Bestehen psychiatrische Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen, Manie, Angsterkrankungen? Nimmt der Patient Medikamente? Trinkt er viel Alkohol, Koffein, Tee, Cola? Wie steht es mit Drogenkonsum? Werden Schlafmittel eingesetzt? Welche Selbstbehandlungen hat der Patient bereits durchgeführt? Gibt es Vorbehandlungen oder Voruntersuchungen? Immer sollte auch ein Gespräch mit dem Bettpartner erfolgen, um Angaben zum Schlafverhalten zu erfahren. Zusätzliche internistische und/oder neurologische Untersuchungen dienen zur Abgrenzung von körperlich bedingten Schlafstörungen. Eventuell ist eine Schlaflaboruntersuchung erforderlich, insbesondere bei Verdacht auf körperlich bedingte Schlafstörungen wie beispielsweise Schlafapnoe-Syndrom (Atemaussetzer im Schlaf) oder Restless-legs-Syndrom (Syndrom der ruhelosen Beine). Viele Faktoren können Einfluss auf den Schlaf haben: Licht/ Sonne, soziale Kontakte, Umgebungsfaktoren wie Temperatur, Lärm, Luftfeuchtigkeit, Mahlzeiten, Alkohol, Nikotin, Koffein und die Schlafzimmergestaltung. Von erheblichem Einfluss ist die emotionale Ausgeglichenheit, die Möglichkeit, die Tagesgedanken abzuschalten und eine Entspannung, insbesondere auch eine Muskelentspannung, herbeizuführen. Die Tagesbefindlichkeit und der Umgang mit Stress sind weitere Faktoren, die den Schlaf beeinflussen. Es kommt zu sich gegenseitig bedingenden Wechselbeziehungen

Schlafstörungen

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von Entstehungsfaktoren beim gestörten Schlaf: Während Ängste, Stress, Sexualstörungen, Spannungen, Termindruck, Konflikte in Beruf, Partnerschaft oder Familie zu einem gestörten Schlaf führen können, erzeugt umgekehrt ein gestörter Schlaf Ängste, Stress, Sexualstörungen, Konflikte, Spannungen und Termindruck.

Körperliche Erkrankungen und Schlafstörungen Eine Reihe von internistischen, neurologischen und orthopädischen Erkrankungen können zu Schlafstörungen führen. Verschiedene Schmerzzustände (z. B. Gichtanfälle, Karpaltunnel-Syndrom, Migräne, Bandscheibenerkrankungen) können Ursache für Schlafstörungen sein. Andere Erkrankungen wie beispielsweise Herzerkrankungen, die mit Schmerzen einhergehen, Atemnot bei Bronchitis, nächtliche Durchfälle bei Entzündungen des Darms, Unruhe und nächtliches Schwitzen bei Schilddrüsenüberfunktion, nächtlicher Juckreiz bei Hauterkrankungen oder Lebererkrankungen sowie Polyneuropathie können mögliche Ursachen für Schlafstörungen sein.

Verschiedene Formen der Schlafstörungen Es werden Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnien) von Tageschläfrigkeit (Hypersomnie), Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und Parasomnien (Besonderheiten während des Schlafs, zum Beispiel Schlafwandeln) unterschieden. Bei den Ein- und Durchschlafstörungen ist das Einschlafen verzögert oder der Schlaf wird durch Aufwachen gestört. Die Tagesbefindlichkeit ist infolgedessen beeinträchtigt. Bei der Tagesschläfrigkeit kommt es zum unerwünschten Einschlafen am Tage und zu einer erschwerten Erweckbarkeit. Bei Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus ist die Schlafzeit vor- oder rückverlagert oder unregelmäßig. Bei den Parasomnien kommt es zu besonderen Störungen während des Schlafens.

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Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnien) Folge einer Insomnie ist die Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit mit verminderter Leistungsfähigkeit. Der Schlaf ist zu kurz, zu oberflächlich und nicht erholsam. Meist kommt es während des Wachliegens zu vermehrtem Grübeln und Problemdenken. Angst, Ärger und Unruhe sowie Verzweiflung über den gestörten Schlaf treten auf. Trotz subjektiv erlebter Müdigkeit zeigt sich bei der Messung, dass der Patient einen erhöhten Erregungszustand hat, insbesondere vor und zu Beginn des Einschlafens. Gründe für diese Erregungsstörungen können körperlich (physisch), gedanklich (kognitiv) oder gefühlsmäßig (emotional) sein. Das Nicht-abschalten-Können, schlafstörende Verhaltensweisen, emotionale Störfaktoren wie Anspannung, Ängstlichkeit und vermehrte Stresssituationen können dem zugrunde liegen. Mögliche Ursachen der Schlafstörungen können physische Ursachen sein (organische Faktoren wie Schlafapnoe-Syndrom, Syndrom der ruhelosen Beine, periodische Beinbewegungen, Herz-, Lungen- oder Stoffwechselerkrankungen, Schmerzsyndrome) oder störende Außeneinflüsse wie Licht und Lärm. Weitere physiologische Faktoren sind gestörte Schlafhygiene wie zu lange im Bett liegen, zu langer Mittagsschlaf, aufregende Abendgestaltung, häufig wechselnde Schlafzeiten, Schichtarbeit, Wechsel von Zeitzonen. Psychologische Faktoren sind belastende Lebensereignisse, Beziehungskonflikte, Sorgen, Berufsprobleme, Stress und Nicht-abschalten-Können. Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenie, Manie, Angsterkrankungen, dementielle Abbauprozesse und Essstörungen können ebenfalls Schlafstörungen nach sich ziehen. Pharmakologische Faktoren sind die Einnahme von schlafstörenden Medikamenten (wie beispielsweise Hochdruckmittel, Kortikoide, aktivierende Antidepressiva), abendlicher Genuss von Kaffee, Tee oder Coca Cola, Alkohol-, Nikotin- oder Drogenmissbrauch.

Schlafstörungen

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Ein- und Durchschlafstörungen bei organischen Erkrankungen Unter Schlafapnoe werden nächtliche Atemaussetzer während des Schlafens verstanden. Meist kommt es zu einem zeitweisen Verschluss der Atemwege, so dass keine Luft mehr in die Lunge hereinoder herauskommen kann. Der Atemstillstand führt zu Sauerstoffmangel, der letztlich über eine Erhöhung des Kohlendioxydgehalts im Blut eine Weckreaktion auslöst. Das führt zum Erwachen des Schlafenden, auf diese Weise kommt es zu Durchschlafstörungen. Die Weckreaktionen sind nur von kurzer Dauer, oftmals bemerken die Patienten dies nicht als Wachwerden. In der Schlaflaboruntersuchung werden sie jedoch als sehr viele kurze Schlafunterbrechungen registriert. Infolgedessen ist der Tiefschlaf vermindert und der Erholungswert des Schlafs so beeinträchtigt, dass es am Tage zu einer Tageschläfrigkeit kommt, die zu unwillkürlichem Einschlafen am Tage führt, insbesondere bei gleichförmigen Tätigkeiten oder in Ruhe. Als Folge des Schlafapnoe-Syndroms können Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Leistungsminderung, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Hochdruck im Lungenkreislauf (pulmonale Hypertonie) sowie die so genannte Rechtsherzinsuffizienz auftreten. Schlafapnoe-Patienten leiden häufiger an hohem Blutdruck, Herzkranzgefäßverengung, Hirndurchblutungsstörungen, Schlaganfällen und Herzinfarkten. Risikofaktoren für ein Schlafapnoe-Syndrom sind Übergewicht und Alkohol. Ferner wird es begünstigt durch die Rückenlage. Schnarchen scheint ein Risikofaktor für das Schlafapnoe-Syndrom zu sein, es muss jedoch betont werden, dass Schnarchen häufig auftritt, ohne dass es zur Schlafapnoe kommt.

Behandlung des Schlafapnoe-Syndroms Neben einer Gewichtsabnahme bei Übergewicht kommen nächtliche Beatmungssysteme zur Anwendung. Auf Alkohol- und Nikotinverzicht ist zu achten. Der Schlaf sollte in Seitenlage erfolgen. Beruhigungsmittel oder sedierende Mittel sollten nicht genommen werden.

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Als wichtigste therapeutische Maßnahme ist die CPAP-Beatmung zu nennen. Sie besteht aus einem Beatmungsgerät, das kontinuierlich Luft in die Atemwege drückt und somit das Verlegen der Atemwege verhindert. Die Atemwege werden durch den Druck des Atemgeräts so offen gehalten, dass die Atmung im Schlaf wieder völlig normal ist, es kommt infolge dessen nicht mehr zu Apnoen, der Patient hat keinen zerhackten Schlaf mehr, es entstehen keine Weckreaktionen mehr infolge eines Sauerstoffabfalls.

Restless-legs-Syndrom (RLS), das Syndrom der unruhigen Beine Typische Beschwerden bei Vorliegen eines Restless-legs-Syndrom sind Missempfindungen, Jucken, Brennen oder eine Bewegungsunruhe in den Beinen im Zustand der Ruhe oder Entspannung. Durch Bewegung können diese Beschwerden gelindert werden. Infolge der Beschwerden ist das Einschlafen erschwert, der Tiefschlaf weniger ausgeprägt, die Schlafqualität gemindert, entsprechend ist die Leistungsfähigkeit am Tage reduziert. Infolgedessen kommt es zu einem vermehrten Angespanntsein mit Angst vor der nächsten Nacht, so dass sich die Schlafstörung verstärkt. Häufig kommt es während der Nacht zu unwillkürlichen, das heißt nicht vom Willen gesteuerten Fuß- und Beinbewegungen. Der Betroffene merkt dies meist nicht selbst, sondern der Bettpartner bemerkt es eher, wenn er getreten oder gestoßen wird. Im Schlaflabor können typische Befunde wie periodische Beinbewegungen, Weckreaktionen mit den Schlafunterbrechungen, verminderter Tiefschlaf und verlängerte Einschlafdauer gesehen werden. Es wird zwischen einem primären und einem sekundären Restless-legs-Syndrom unterschieden. Das primäre Restless-legs-Syndrom kommt häufig familiär vor, es kann auch schon bei Kindern auftreten. Das sekundäre Restless-legs-Syndrom ist Folge einer anderen Erkrankung, beispielsweise einer Nierenerkrankung, eines Eisenmangels, Folge von Medikamenteneinnahme, im Rahmen einer

Schlafstörungen

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rheumatoiden Arthritis, eines Morbus Parkinson, einer Schilddrüsenerkrankung. Das sekundäre Restless-legs-Syndrom kann auch während einer Schwangerschaft auftreten.

Die Behandlung des Restless-legs-Syndrom Beim primären Restless-legs-Syndrom steht eine medikamentöse Behandlung mit L-Dopa oder Dopamin-Agonisten im Vordergrund. Es handelt sich um eine rein symptomatische Behandlung, ursächlich ist das Restless-legs-Syndrom nicht zu behandeln. Beim sekundären Restless-legs-Syndrom ist neben der Behandlung der Grunderkrankung auch eine L-Dopa-Therapie oder eine Behandlung mit Dopamin-Agonisten möglich (mit Ausnahme der Schwangerschaft). Führen L-Dopa-Präparate oder Dopamin-Agonisten nicht zum erwünschten Therapieerfolg, so kann der Einsatz von Opiaten notwendig werden. Bei Auftreten periodischer Bewegungen im Schlaf mit unwillkürlichen Fuß- und Beinbewegungen werden ebenfalls symptomatisch, wie beim Restless-legs-Syndrom, Medikamente eingesetzt.

Behandlungen der Schlafstörungen bei internistischen und neurologischen Erkrankungen Verschiedene internistische oder neurologische Erkrankungen können zu Schlafstörungen führen (Abb. 11). Die Therapie der Schlafstörungen bei körperlichen Erkrankungen ist zunächst die Behandlung der Grunderkrankung. Entsprechend gründlich müssen die Untersuchungen erfolgen.

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Augenerkrankungen, z. B. Glaukom, bei Blindheit

Atemwegserkrankungen, z. B. nächtliches Asthma, Husten

Schmerzen, z. B. nach Operationen, bei Krebserkrankungen Nierenerkrankung, z. B. Nierensteinkolik, Niereninsuffizienz

Schlafstörungen

Juckreiz, z. B. Erkrankungen der Leber Magen-DarmErkrankungen, z. B. Durchfall Infektionserkrankungen

Hormonelle Störungen, z. B. in der Menopause, in der Schwangerschaft

Degenerative ZNSErkrankungen, z. B. Morbus Parkinson, Morbus Alzheimer, Krampfanfälle, Hirntumore

Stoffwechselstörungen, Blutzuckererkrankung, Schilddrüsenüberfunktion, Kaliummangel Herz-KreislaufErkrankungen, z. B. Bluthochdruck, Luftnot, nächtliches Wasserlassen, Herzrhythmusstörungen

Abbildung 11: Erkrankungen, die zu Schlafstörungen führen können (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 80)

Medikamente, die zu Schlafstörungen führen können Folgende Medikamente haben einen potentiell schlafstörenden Einfluss: Antibiotika, Antidepressiva (z. B. SSRI), Bluthochdruckmittel, Appetitzügler, Atemwegspräparate, Kortisonpräparate, Diuretika, Schilddrüsenhormone, Zytostatika, Stimulanzien. Eventuell muss die medikamentöse Behandlung verändert werden.

Schlafstörungen

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Schlafstörungen bei psychischen Erkrankungen Schlafstörungen sind ein häufiges Symptom bei Depressionen, Manien, Schizophrenie, Angststörungen, Zwangserkrankungen, Essstörungen und Suchterkrankungen. Im Vordergrund der Behandlung steht die Therapie der Grunderkrankung (siehe die jeweiligen Kapitel). Depression

Posttraumatische Belastungsstörung

akute Belastungssituation

Manie

Schlafstörung bei psychischen Erkrankungen

Demenz

Schizophrenie

Angsterkrankung

Essstörung

Alkoholabhängikeit

Abbildung 12: Schlafstörungen bei psychischen Erkrankungen (nach: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 80)

Primäre Insomnie Unter einer primären Insomnie wird eine Schlafstörung verstanden, bei der weder eine organische noch eine andere psychische Erkrankung zugrunde liegt. Es besteht ein gestörtes Erregungsverhalten. Gründe für die vermehrte Erregbarkeit können körperlicher, gedanklicher oder gefühlsmäßiger Art sein. Ein Nicht-abschaltenKönnen, eine Fixierung auf das Nicht-schlafen-Können, vermehrte Ängstlichkeit, Anspannungen, Konflikte, Stresssituationen und unzureichende Verarbeitungsmöglichkeiten von Stress bedingen die Schlafstörung. Meist besteht sie über Jahre. Infolge der Schlafstörung kommt es bei dem Patienten zu Ängsten vor der Schlafstörung, die die Schlafstörung wiederum verstärkt, es entsteht ein Teufelskreis der chronischen Schlafstörung (s. Abb. 13).

Leistungs- und Konzentrationsschwäche, Einschränkung sozialer Kontakte, depressive Verstimmung, Tagesmüdigkeit

Angst vor Versagen

Schlafstörung

Angst vor der Schlafstörung

erhöhtes Erregungsniveau

Erzwingen des Schlafs, Grübeln, negative Erwartungshaltung, Ärger, Wut, körperliche Anspannung

Alkohol- und Schlafmittelmissbrauch

Ausstattung mit anfälligem SchlafWach-System

schlafstörende Verhaltensweisen

belastende Lebensereignisse, aktuelle Tagesprobleme

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Abbildung 13: Teufelskreis der chronischen Schlafstörung (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 94)

Schlafstörungen

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Behandlung der chronischen Schlafstörung Bei der Behandlung der chronischen Schlafstörung werden meist mehrere Behandlungsstrategien verfolgt. Zum einen kommen verhaltenstherapeutische Maßnahmen zum Einsatz und eine Verbesserung der Schlafhygiene soll erlernt werden. Empfehlungen zur Schlafhygiene sind: – Nur soviel schlafen, wie individuell notwendig ist. – Regelmäßige Schlafzeiten einhalten. – Regelmäßiges Zubettgehen und morgendliches Aufstehen zu festen Zeiten. – Verzicht auf Tageschlaf. – Angenehme Schlafbedingungen herbeiführen: das Schlafzimmer sollte ein angenehmer und schlaffördernder Raum sein, ruhig, nicht zu warm, nicht zu kalt, mit ausreichender Luftfeuchtigkeit, so eingerichtet, dass wir nicht an Stressfaktoren des Alltags erinnert werden (z. B. keine Aktenberge, keine Bügelwäsche usw.). Es sollte keine Uhr im Schlafzimmer zu sehen oder zu hören sein. – Auf ausgeglichene Ernährung, insbesondere auf fettarme, leicht verdauliche Speisen am Abend achten. – Kein abendliches Trinken von Kaffee, Cola oder schwarzem Tee. – Auf Alkohol und Nikotin verzichten. – Regelmäßiges körperliches Training ins alltägliche Leben integrieren. – Abendliche Tätigkeiten ausführen, die zur Entspannung beitragen. – Aufregende Tätigkeiten und Aktivitäten mit vermehrter Konzentration am Abend vermeiden. Zusätzlich kommt eine so genannte Stimuluskontrolle zu Anwendung, die eine hohe Wirksamkeit nachweist. Die Regeln der Stimuluskontrolle sind: Der Patient soll nur dann zu Bett gehen, wenn er müde ist und glaubt, einschlafen zu können. Das Bett ist ausschließlich zum Schlafen da. Es ist nicht erlaubt im Bett zu essen, zu lesen oder zu arbeiten oder fernzusehen. Einzige Ausnahme von dieser Regel sind sexuelle Aktivitäten. Wenn das Einschlafen

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nicht möglich ist, muss der Patient das Bett und das Schlafzimmer verlassen. Er soll solange aufbleiben, bis er merkt, dass er wieder müde wird. Gelingt das Einschlafen dann immer noch nicht, so muss er wieder aufstehen und das Schlafzimmer erneut verlassen. Das morgendliche Aufstehen soll immer zur gleichen Zeit sein, unabhängig, wie viel und ob gut oder schlecht geschlafen wurde. Schlafen am Tag wird nicht erlaubt. Die Stimuluskontrolle muss mit engmaschiger Betreuung durchgeführt werden, da sie eine Compliance des Patienten voraussetzt. Ferner bieten Entspannungsverfahren (z. B. Muskelrelaxation nach Jacobson) und Psychotherapie Unterstützung.

Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen Bei Jetlag, Nacht- und Schichtarbeit oder bei Schlafphasenvor- oder -rückverlagerung kann es zu Schlafstörungen kommen. Maßnahmen beim Jetlag sind wie folgt: »– Möglichst Schlafmangel vor einem Flug vermeiden; – Schlaf- und Wachzeiten 2 Tage vor dem Flug um 1 bis 2 Stunden in Richtung der neuen Zeit verschieben, das heißt bei einem Flug nach Westen später, bei Flug nach Osten früher ins Bett gehen. – Die Lebensweise bereits im Flugzeug auf die neue Uhrzeit einstellen (Armbanduhr umstellen), nicht unbedingt schlafen. – Im Flugzeug wenig oder keinen Alkohol und wenig koffeinhaltige Getränke zu sich nehmen, keine Schlafmittel. – Nach Ankunft am Zielort den Schlaf-Wach-Rhythmus des Zielortes annehmen, insbesondere morgens pünktlich aufstehen. – Möglichst lange im Sonnenlicht aufhalten, um den eigenen Rhythmus umzustellen. – Wenn möglich, sollten wichtige Arbeitstermine erst nach einem Adaptationstag erfolgen. – Auch sollten wichtige Termine nicht in die gewohnte Schlafzeit gelegt werden. – Beim Zubettgehen sollten schlafhygienische Maßnahmen angewandt werden (siehe Seite 179f.). – Bei sehr ausgeprägten Beschwerden kann vorübergehend me-

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dikamentös ein kurz wirksames Schlafmittel, zum Beispiel Triazolam (Halcion®), eingesetzt werden; maximal jedoch für drei Tage.« (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 97)

Tipps zur Verbesserung von Schlafstörungen bei Schichtarbeit sind: »– Möglichst im Uhrzeigersinn wechselnde Schichten durchführen (erst Frühschicht, dann Spätschicht, dann Nachtschicht). – Möglichst nur einzeln eingestreute oder kurzdauernde (3 Tage) Nachtschichten machen, dabei den normalen Schlaf-WachRhythmus beibehalten, das heißt nur kurz am Tag schlafen. – Eine andere Möglichkeit ist, möglichst lange Nachtschichtperioden (z. B. über 2 Wochen) zu machen, um dann den SchlafWach-Rhythmus soweit wie möglich ganz umzustellen (am Tage regelmäßige Schlafperioden, die jedoch eine rücksichtsvolle Umgebung mit Lärm- und Lichtabschirmung notwendig machen). – Während des Nachtdienstes kann dieser Schlaf-Wach-Rhythmus noch durch helle Beleuchtung unterstützt werden. – Auf Alkohol und Koffein sollte verzichtet werden. – Beim Zubettgehen sollten allgemeine schlafhygienische Maßnahmen durchgeführt werden. – Bei ausgeprägten Einschlafbeschwerden können medikamentöse Hilfen wie beispielsweise kurz- bis mittellang wirksame Schlafmittel angewandt werden, jedoch maximal 3 Tage lang. Bleiben die Schlafstörungen weiterhin bestehen, so muss eine Freistellung von der Schichtarbeit erfolgen.« (aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 98)

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Parasonmien (abnorme Ereignisse während des Schlafs) Unter Parasomnien werden Schlaftrunkenheit, Schlafwandeln, nächtliches Aufschrecken (Pavor nocturnus) sowie nächtliche wiederkehrende Bewegungen wie nächtliches Kopfschlagen (Jactatio capitis nocturna) verstanden; ferner plötzliche kurze Bewegungen der Beine während der Einschlafphase (Einschlafmyoklonien), nächtliche Beinkrämpfe, Alptraumerwachen, Schlafparalyse (der Patient ist während des Einschlafens oder nach dem Erwachen in der Nacht oder am Morgen nicht in der Lage, seine Muskulatur zu bewegen), schlafbezogene schmerzhafte Peniserektionen, REM-Schlafverhaltensstörungen (heftige körperliche Aktivitäten während des REM-Schlafs in Verbindung mit Traumerlebnissen, die üblicherweise in dem REM-Schlaf auftretende Muskelerschlaffungen kommen nicht zustande, es besteht eine hohe motorische Aktivität, die bis zu Gewalttätigkeiten gegenüber Personen oder sich selbst führen kann), Zähneknirschen (Bruxismus), nächtliches Einnässen (Enuresis nocturna). Eine Behandlung dieser Ereignisse während des Schlafs ist nur dann nötig, wenn es zu einer erheblichen Beeinträchtigung kommt. Auf die Unfallgefahr beim Schlafwandeln ist zu achten.

Narkolepise (Schlaffallsucht) Bei der Narkolepsie handelt es sich um eine Erkrankung, die mit einer vermehrten Tageschläfrigkeit und mit unwillkürlichen Einschlafattacken am Tage einhergeht. In der Nacht kommt es zu Einund Durchschlafstörungen. Infolge der Tageschläfrigkeit sind die Patienten sehr gefährdet, einen Unfall zu erleiden. Bei der Narkolepsie kommt es für wenige Sekunden zu anhaltenden Muskelerschlaffungen, so genannte Kataplexien, diese werden häufig durch starke Gefühle, wie zum Beispiel Lachen, ausgelöst. Die Ursache der Narkolepise ist bisher nicht geklärt. Genetische Einflüsse scheinen eine Rolle zu spielen. Die Untersuchung erfolgt in einem Schlaflabor. Die medikamentöse Behandlung besteht in der Gabe von Psychostimulanzien, wie beispielsweise Modafinil oder Methylphe-

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nidat. Alternativ kommen Antidepressiva wie Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) zum Einsatz. Bei der Narkolepsie können zusätzlich Restless-legs-Syndrome oder Schlafapnoe-Syndrome vorliegen.

Nichtmedikamentöse Behandlungen der chronischen Schlafstörung – Psychoedukation (Aufklärung und Beratung über Schlaffunktion, normale Schlafdauer, Ursachen und Folgen der Schlafstörung); – Verhaltenstherapie mit Schlafhygiene, Schlafhilfen, Schlafritualen, Stimuluskontrolle, Schlafrestriktion (dabei wird die Bettliegezeit zeitlich begrenzt); – paradoxe Intentionen (Aufforderung wach zu bleiben, um die Angst vor dem Einschlafen zu reduzieren); – Gedankenstopp bei schlafstörenden Gedankenkreisen; – Entspannungstherapien; – psychotherapeutische Behandlung (kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamisch-orientierte Psychotherapie und Traumbeeinflussungstherapie). Hilfreich kann das Führen eines Schlafprotokolls und eines Traumtagebuchs sein (s. Abb. 4, S. 69f.).

Praktische Tipps zur Schlafhygiene »– Bleiben Sie nicht länger im Bett, als es notwendig ist. Stehen Sie auf, wenn Sie wach sind, bleiben Sie nicht wach im Bett liegen. – Gehen Sie jeden Tag zur gleichen Zeit ins Bett und stehen Sie morgens zur gleichen Zeit auf, auch wenn Sie müde sind. – Tagsüber zu schlafen, auch der Mittagsschlaf, ist verboten. – Richten Sie Ihr Schlafzimmer so angenehm und gemütlich ein, wie es geht. Räumen Sie störende, an Arbeit erinnernde Dinge aus dem Schlafzimmer heraus. – Essen Sie abends leicht Verdauliches, vermeiden Sie koffeinhal-

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– – –





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tige Getränke wie Kaffee oder Cola. Trinken Sie keinen schwarzen Tee mehr nach 17 Uhr. Verzichten Sie auf abendlichen Alkohol. Schränken Sie das Rauchen, so weit es geht, ein. Versuchen Sie regelmäßig Sport zu treiben, jedoch nicht unmittelbar vor dem Zubettgehen, sondern 4 bis 6 Stunden zuvor, das fördert den Schlaf. Sorgen Sie für entspannende Abendgestaltung, vermeiden Sie aufregende Tätigkeiten, notieren Sie Ihre Probleme im Tagebuch. Führen Sie ein Schlafritual ein: Schließen Sie den Arbeitstag bewusst ab, entspannen Sie beim Lesen eines für Sie angenehmen Buches, versuchen Sie mit Übungen der Entspannungstherapien den Übergang von Aktivität zur Ruhe zu fördern, führen Sie jeden Abend vor dem Schlafengehen das gleiche Einschlafritual aus. Dies könnte zum Beispiel sein: • Letzte Eintragung in den Terminkalender und Führen des Tagebuches, Probleme sind dort festgehalten, jetzt müssen sie nicht mehr begrübelt werden. • Machen Sie einen kleinen Abendspaziergang, anschließend trinken Sie einen »Schlummertrunk« (z. B. 1 Glas Milch, 1 Glas Bier oder Wein). Setzen Sie sich dazu in einen bequemen Sessel, trinken Sie dieses Glas bewusst zur Entspannung, trinken Sie aber bitte nur 1 Glas, insbesondere vom Alkohol. • Sie können noch ein wenig Musik hören oder aber eine entspannende Geschichte lesen. Machen Sie dann Ihre Abendtoilette, kalte oder heiße Duschen oder Bäder sollten vermieden werden. Gehen Sie dann ins Bett, nehmen Sie Ihre gewohnte Einschlafhaltung ein. Denken Sie an schöne, für Sie angenehme und beruhigende Situationen (z. B. Ferien, am Strand, Opernbesuch, Wanderungen).«

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 116)

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

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Schlafmitteleinsatz: Für und Wider Vorteil von Schlafmitteleinsatz ist eine schnelle Beschwerdelinderung. Schlafmittel führen zur Verringerung der Angst, nicht schlafen zu können, und durchbrechen somit den Teufelskreis der Schlafstörung. Nachteile sind das Auftreten möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen, die Gefahr des Missbrauchs und der Abhängigkeit, insbesondere bei Einsatz von Benzodiazepinen. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass der Patient in die Rolle des Passiven kommt, statt aktiv seiner Schlafstörung entgegenzuwirken. Verschiedene Medikamente zur Behandlung der Schlafstörung stehen zur Verfügung (siehe das Kapitel Pharmakotherapie/Schlafmittel, Seite 100ff.).

Selbstmanagement Wichtig ist, dass der Patient selbst zum Experten seiner Schlafstörung wird. Hilfreich kann das Führen von Schlafprotokollen und Tagebuch werden. Beispiele hierfür sind die Tabellen 10 und 11. Das Schlafprotokoll wird am Morgen ausgefüllt. Bitte beurteilen Sie die vergangene Nacht.

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Tabelle 10: Schlafprotokoll Datum

Wie haben Sie geschlafen? (gut, mittel, schlecht)

Von wann bis wann waren Sie im Bett?

Wie viele Stunden haben Sie tatsächlich geschlafen?

Wie oft sind Sie nachts aufgewacht?

Wie geht Welche es Ihnen Schlafjetzt? mittel haben Sie (gut, mittel, eingeschlecht) nommen?

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 152)

Das Tagebuch wird am Abend ausgefüllt. Bitte beurteilen Sie den abgelaufenen Tag. Tabelle 11: Tagebuch-Schema Datum

Haben Sie etwas erlebt, was Sie seelisch belastet?

Waren Sie geistigen Anforderungen ausgesetzt?

(nein, wenig, viel, sehr viel)

(nein, wenig, viel, sehr viel)

Hatten Sie körperliche Anstrengungen?

Wie fühlen Sie sich gesundheitlich?

Sind Sie mit dem Tag zufrieden?

(nein, wenig, viel, sehr viel)

(schlecht, eher schlecht, gut, sehr gut)

(nein, teilweise, ja, voll und ganz)

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Berlin © ABW Wissenschaftsverlag, 2004, S. 153)

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

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Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (= ADHS) kommt im Kindes- und Jugendalter häufig vor. Jungen sind öfter betroffen als Mädchen. In 30 bis 60 Prozent der Fälle bleiben die Beschwerden im Erwachsenenalter bestehen. Während im Kindesalter besonders die motorische Unruhe auffällig ist – neben der Aufmerksamkeitsstörung und der Impulsivität –, nimmt die Unruhe im Jugend- und Erwachsenenalter ab. Die Aufmerksamkeitsstörungen und die Impulsivität bleiben bestehen. Wenn eine ADHS im Erwachsenenalter festgestellt wird, muss eine Beeinträchtigung bereits im Kindesalter vorgelegen haben. Die ADHS beginnt immer im Kindesalter. Aufgrund der Aufmerksamkeitsprobleme mit Konzentrationsminderung, aber auch aufgrund der emotionalen Impulsivität sind Schul- und Ausbildung sowie die soziale Entwicklung (Freundschaften, Partnerschaften) in Mitleidenschaft gezogen. Infolge der immer wiederkehrenden Misserfolgserfahrungen haben Menschen mit ADHS ein gering entwickeltes Selbstwertgefühl. Sie sind als Kind oft in der Sündenbockrolle gewesen: – von Eltern und Lehrern häufig kritisiert, – von Gleichaltrigen abgelehnt und ausgegrenzt, – in der Schule und Ausbildung oft aufgrund der Konzentrationsstörungen mit Misserfolgen und Abbrüchen konfrontiert, – aufgrund der emotionalen Impulsivität ohne ausreichende Steuerung und – in viele Konflikte geratend. Bei ADHS-Betroffenen besteht die Gefahr, Alkohol und/oder Drogen zu missbrauchen. Es gibt auch eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität, sie wird als ADS (attention deficit disorder) bezeichnet. Die Aufmerksamkeitsstörung zeigt sich an einem Mangel an Konzentration und vermehrter Ablenkbarkeit. Diese Unaufmerksamkeit führt beispielsweise dazu, dass der Betroffene häufig Einzelheiten nicht beachtet oder Flüchtigkeitsfehler macht. Er wirkt vergesslich und »verschusselt« vieles. Sein Arbeitstil ist flüchtig. Häufig hat der Betroffene Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit

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bei Aufgaben über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Er ist vermehrt abgelenkt, wechselt die Tätigkeiten, ohne sie zu Ende zu führen. Häufig entsteht der Eindruck, er höre nicht richtig zu. Das führt dann oft dazu, dass Anweisungen anderer nicht vollständig durchgeführt werden. Entsprechend sind die Konflikte, beispielsweise bei den Schularbeiten oder bei Pflichten am Arbeitsplatz, programmiert. Dem Betroffenen fällt es schwer, seine Aufgaben in einzelne Abschnitte zu zergliedern. Er hat Schwierigkeiten, seine Aktivitäten zu organisieren, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Oft besteht eine Abneigung gegen Tätigkeiten, die eine länger andauernde geistige Anstrengung erfordern. Die Ablenkbarkeit ist oft durch äußere Reize gegeben, wie zum Beispiel durch Geräusche im Nachbarzimmer oder laufendes Fernsehen. Die Hyperaktivität äußert sich häufig durch Zappeligkeit mit Händen oder Füßen, Unruhe beim Sitzen, insbesondere in Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird wie beispielsweise im Schulunterricht, beim Essen oder bei einem Restaurant-, Konzertoder Theaterbesuch. Häufig werden diese Situationen von den Betroffenen vermieden. Bei Kindern kommt es in solchen Situationen zu Umherlaufen. Bei Erwachsenen zeigt sich diese Hyperaktivität oft nur noch durch Zappeln mit den Füßen oder Schnippen mit den Fingern. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, sich mit ruhigen Freizeitaktivitäten zu beschäftigen. Sie ziehen es oft vor, mit Risiko verbundene Sportarten zu treiben. Für Außenstehende wirkt die motorische Unruhe häufig als seien sie »auf Achse« oder als sei der Betroffene »getrieben«. Oftmals fällt auch ein vermehrtes Reden auf, das Sprechen ist sehr schnell, sie neigen dazu, anderen ins Wort zu fallen, und haben Probleme bei einem Thema zu bleiben, dadurch wirken sie sprunghaft. Die Impulsivität äußert sich dadurch, dass es dem Betroffen schwerfällt abzuwarten. Sie platzen häufig mit ihren Antworten heraus, bevor die Frage überhaupt zu Ende gestellt ist. Sie haben Schwierigkeiten, mit ihren Ideen zurückzuhalten. Sie haben Probleme abzuwarten, bis sie an die Reihe kommen. Ungeduld beim Schlangestehen oder im Stau beim Autofahren sind auffällig. Sie

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unterbrechen oder stören andere, was die Betroffenen häufig in eine Außenseiterposition bringt und im zwischenmenschlichen Bereich zu vielen Konflikten führt. Infolge dieser Symptome kommt es bereits in der Schule zu Lern- und Leistungsproblemen. Häufig ist eine motorische Entwicklungsbeeinträchtigung festzustellen (Koordinationsstörungen, Schreibprobleme mit unleserlichem Schriftbild). Ferner entstehen emotionale Probleme wie starke Stimmungsschwankungen, rasches Wütendwerden, vermindertes Erkennen von Gefahren mit zum Teil waghalsigem Verhalten. Für Menschen, bei denen ausschließlich eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität vorliegt (der Volksmund nennt sie auch »Träumerchen«), sind die Konzentrationsstörungen, die leichte Ablenkbarkeit, das Verträumtsein, ein verlangsamtes Denken und Reagieren, rascher Stimmungswechsel, Umstellungsprobleme auf neue Situationen sowie Ängste und soziale Isolation kennzeichnend. Infolge der ADHS-Beschwerden haben erwachsene Betroffene besonders viele Probleme am Arbeitsplatz. Sie sind schnell abgelenkt, verlieren den roten Faden, können ihre Arbeit nicht organisieren, planen oder strukturieren. Unerledigte Dinge, bleiben liegen. Das Chaos ist allgegenwärtig. Entsprechend sind die Konflikte sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause programmiert.

Auswirkungen der ADHS Bei Menschen mit ADHS kommt es bereits im Schulalltag zu einer Beeinträchtigung, oft ist die Ausbildung lückenhaft oder unvollständig, es kommt oft zu Abbrüchen und zu häufigem Partnerwechsel. Es entstehen Probleme in der Selbstorganisation, die sowohl das Zeitmanagement als auch das Finanzmanagement betreffen. Die Beeinträchtigung der Entwicklung ist bereits im Kindesalter vorhanden. Aufgrund der verminderten Aufmerksamkeit können die Kinder eine altersentsprechende Entwicklung nicht machen, so dass es in unterschiedlichen Bereichen zu Entwicklungsverzögerungen kommen kann wie beispielsweise: Beeinträchtigungen der

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Motorik mit Koordinationsstörungen, Beeinträchtigung der Feinund Grobmotorik. Aber auch sprachliche Entwicklungsstörungen kommen vor. Im Schulalter stehen Schulleistungsprobleme im Vordergrund. Oft fallen die Kinder durch Stören im Unterricht auf. Kritik, Tadel und Beschimpfungen sowohl von Lehrern, Ausgrenzungen von Mitschülern und Dramen bei den Hausaufgaben sind an der Tagesordnung. Häufig kommt es zusätzlich zu einer Teilleistungsstörung, etwa einer Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie) oder einer Rechenschwäche (Dyskalkulie). Die soziale Entwicklung der Betroffenen bleibt zurück, sie werden von den Gleichaltrigen ausgegrenzt. Im Jugendalter besteht nicht selten die Gefahr einer dissozialen Entwicklung (Abgleitung in ein delinquentes Verhalten bis hin zur Kriminalität). Häufig kommt es zu Alkohol- und/oder Drogenkonsum, vielleicht wird dieser eingesetzt als »ungeeigneter Selbstbehandlungsversuch«. Das gilt ebenso für übermäßigen Nikotinkonsum. Die sexuelle Entwicklung ist ebenfalls beeinträchtigt. Typisch sind häufige Partnerwechsel, vorzeitige sexuelle Tätigkeiten. Bei ADHS-Betroffenen finden sich vermehrte Teenagerschwangerschaften. Die zwischenmenschlichen Konflikte und negativen Auswirkungen der ADHS kennzeichnen die familiäre Situation. Diese Konflikte verstärken sich besonders dann, wenn ein Elternteil selbst von der ADHS-Problematik betroffen ist. Infolge der gehäuften Misserfolgserfahrungen entstehen ein negatives Selbstbild und ein herabgesetztes Selbstwertgefühl. Wut und Trauer sind häufige Reaktionen. Im Erwachsenenalter tritt deshalb neben der Aufmerksamkeitsproblematik vorrangig eine depressive Symptomatik hervor mit herabgesetztem Selbstwertgefühl, Ängsten, Selbstzweifel und verminderter Selbstachtung. Im Erwachsenenalter ist Desorganisation kennzeichnend. Fehlendes Zeit- und Geldmanagement, fehlende Strukturierungen, unzureichendes Prioritätensetzen, Vergesslichkeit, Launenhaftigkeit und heftige Wutausbrüche mit Stimmungswechsel führen zu Konflikten sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich.

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Häufigkeit der ADHS ADHS tritt etwa bei 5 bis 6 Prozent aller Kinder auf, bei 30 bis 60 Prozent bleibt die Störung bis ins Erwachsenenalter bestehen. Man geht davon aus, dass 1 und 6 Prozent aller Erwachsenen ADHS haben. Häufig werden die Symptome jedoch im Erwachsenenalter verkannt, insbesondere dann, wenn weitere psychiatrische Störungen die ADHS begleiten wie Depressionen, Ängste oder Alkohol- und/oder Drogenabhängigkeit.

Gleichzeitiges Auftreten von ADHS und anderen psychiatrischen Erkrankungen Bei der ADHS im Erwachsenenalter kommt es zusätzlich häufig zu affektiven Störungen (Depressionen), Angststörungen, Zwängen, Suchterkrankungen (Alkohol, Drogen), Tic-Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. – Bei Vorliegen von Depressionen werden Stimmungsminderung und Antriebsstörungen, herabgesetztes Interesse und Freudlosigkeit sowie Schlaf- und Appetitsstörungen auffällig. – Bei den Angststörungen können Panikattacken, umschriebene oder soziale Ängste auftreten. – Zwänge (z. B. Kontrollzwänge) können als versuchte Kompensation angesehen werden. – Ebenso kann der Alkohol- und/oder Drogenkonsum als »ungeeigneter Selbstbehandlungsversuch« gesehen werden, als Versuch, »endlich Ruhe zu haben«. – Persönlichkeitsstörungen – insbesondere die antisoziale Persönlichkeitsstörung –, die gekennzeichnet sind durch dissoziale Verhaltensweisen (z. B. Fahren ohne Führerschein, Diebstähle), können ebenfalls mit ADHS kombiniert auftreten. Ferner kann es zu Überschneidungen mit Borderline-Störungen (siehe Kapitel dort, Seite 208ff.) kommen.

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Entstehungsbedingungen der ADHS Es wird nicht von einer einzigen Ursache für ADHS ausgegangen, sondern verschiedene, in wechselseitiger Beziehung stehende Bedingungen und Verzahnungen von biologischen und psychologischen Faktoren sind anzunehmen. Der erbliche Einfluss ist eindeutig belegt. ADHS tritt familiär gehäuft auf. Es ist nicht ein einzelnes Gen für die Vererblichkeit verantwortlich, sondern ein Zusammenspiel mehrerer Gene ist an der ADHS-Entstehung beteiligt. Zusätzlich finden sich Hinweise, dass bei ADHS-Betroffenen ein Mangel an Überträgersubstanzen im Gehirn vorliegt. Insbesondere scheint Dopamin – neben Noradrenalin – die Hauptrolle zu spielen. Dopamin liegt bei AD(H)S-Betroffenen im Frontalhirn vermindert vor. Dies ist Folge davon, dass ein Eiweiß, das für den Abtransport aus dem synaptischen Spalt (Verbindungsstellen der Nervenzellen) zuständig ist, vermehrt vorhanden ist. Das Frontalhirn ist für steuernde und kontrollierende Verhaltensweisen zuständig. Bei unzureichender Funktion – etwa infolge des Dopamin-Mangels – entstehen die beobachtbaren Impulskontrolldefizite. Weitere Risikofaktoren für das Auftreten von ADHS sind Geburtskomplikationen, Nikotin, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft und eine Frühgeburt mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm. Psychosoziale Risikofaktoren sind die so genannte Brokenhome-Situation, insbesondere alleinerziehende Mütter in wirtschaftlich schlechter Lage, ein niedriges Einkommen, beengter Lebensraum, frühere psychiatrische Erkrankungen/Behandlungen der Mutter und väterlicher Alkoholismus.

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Tabelle 12: Entstehungsfaktoren bei ADHS Umweltfaktoren – broken home – Alkoholerkrankung des Vaters – Psychiatrische Erkrankung der Mutter – niedriges Einkommen – beengter Lebensraum

Biologische Faktoren – Vererbung – Botenstoffwechselstörung – Neuroanatomie

Risikofaktoren – Alkohol, Drogen, Nikotin während der Schwangerschaft – Frühgeburt mit Geburtsgewicht unter 1500 gr

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: ADHS im Erwachsenenalter. Ein Ratgeber für Betroffene. Göttingen: Hogrefe, 2005, S. 47)

Häufig kommt es durch Darstellungen in verschiedenen Medien zu irrtümlichen Annahmen bezüglich der Entstehungsbedingungen. So ist die ADHS keine Modeerkrankung, sie ist nicht Folge von übermäßigem Konsum von Computerspielen, Fernsehen oder Videos. Sie ist auch nicht Folge einer Allergie, Hormonstörung oder Pilzinfektion. Sie ist ebenso kein Erziehungsfehler.

Abgrenzung der ADHS von anderen Erkrankungen Es gibt zahlreiche körperlich bedingte Erkrankungen, die mit Unruhe und Aufmerksamkeitsstörungen einhergehen können, beispielsweise: – Schilddrüsenerkrankungen, – Syndrom der unruhigen Beine (Restless legs), Narkolepsie (Form einer Schlafstörung), – Schlafapnoe-Syndrom (Atemaussetzer im Schlaf), – durch Medikamente ausgelöste Unruhe und Aufmerksamkeitsstörung, – Sinnesbeeinträchtigungen (Seh- oder Hörstörungen), – Tic-Erkrankungen, – Schädelhirnverletzungen, – Gehirnentzündungen, – Hirntumore, Krampfanfälle, – Allergien.

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Psychische Erkrankungen, die mit Unruhe und Aufmerksamkeitsstörungen einhergehen können, sind beispielsweise: – Minderbegabung (schulische Überforderung), – Hochbegabung (schulische Unterforderung), – Teilleistungsschwächen (z. B. Legasthenie, Dyskalkulie), – Oppositionelle Verhaltensweisen im Kindesalter, – Suchterkrankungen, – Angststörungen, – Zwangsstörungen, – Depressionen, – bipolare affektive Störungen (manisch-depressive Erkrankungen), – Psychosen, – autistische Entwicklungsstörungen, – Persönlichkeitsstörungen, z. B. Borderline-Störungen, – Posttraumatische Belastungsstörungen (z. B. Misshandlungserfahrungen, Missbrauchserfahrung), – dissoziale Entwicklung, – psychosoziale Konfliktsituationen (Streit- und Spannungssituationen in der Familie, Scheidung, Arbeitslosigkeit).

Untersuchungen Es ist eine ausführliche Untersuchung (Diagnostik) erforderlich. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht das Gespräch mit dem Arzt/Psychologen und dem Betroffenen beziehungsweise auch mit den Familienmitgliedern. Im Gespräch muss geklärt werden, wem welches Verhalten wann und in welchen Situationen auffällig erscheint und wodurch dieses Verhalten verstärkt oder abgemildert wird. Es sind die Kindheitsentwicklung, die schulische und berufliche Entwicklung, Vorerkrankungen, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, bestehender Suchtstoffmissbrauch (Alkohol/Drogen), bestehende Allergien zu erheben. Ferner muss geklärt werden, ob weitere Familienangehörige von der ADHS betroffen sind und ob andere psychiatrische Erkrankungen in der Familie auftreten, wie die Familie mit dem ADHS-Betroffenen

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umgeht und welche Beschwerden aktuell im Vordergrund stehen. Welche Folgen haben die Beschwerden für den Betroffenen bisher gehabt, welche Veränderungswünsche gibt es, welche Stärken und Ressourcen hat der Betroffene und seine Familie? Immer sollte eine neurologische und internistische Untersuchung einschließlich einer Hör- und Sehüberprüfung stattfinden. Gegebenenfalls sind bildgebende Verfahren (Computer- oder Kernspintomogramm) sowie Blutuntersuchungen durchzuführen. Ergänzend kommen testpsychologische Untersuchungen zur Frage der allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeit (Intelligenzleistungen) und zu Aufmerksamkeit und Konzentration zur Anwendung. Zusätzlich können Fragebogen zur Selbst- und Fremdbeurteilung eingesetzt werden. Einblicke in Zeugnisse und Arbeitszeugnisse weisen auf die bestehenden Symptome oft ergänzend hin.

Behandlung – Information und Aufklärung über das Störungsbild ADHS, – Psychotherapie für die Betroffenen, – Beratungen für die Familienangehörigen, Selbstmanagementtraining, – medikamentöse Therapie der ADHS und – Behandlung begleitender Erkrankungen machen ein multimodales Behandlungskonzept aus.

Psychotherapie Neben Aufklärung und Information (Psychoedukation) geht es in der Psychotherapie darum, begleitende psychische Störungen wie Ängste oder Depressionen zu behandeln, die Folge der ADHS sein oder unabhängig davon begleitend auftreten können. Verarbeitung der Erkrankung, Abbau der depressiven Beschwerden und Ängste und Aufbau neuer Verhaltensweisen sind wesent-

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liche Inhalte der Psychotherapie neben der Erfahrung einer therapeutischen Beziehung, indem der Patient Wertschätzung erfährt und die Möglichkeit hat, zu einem stabilen Selbstwertgefühl zu gelangen. Das Einbeziehen des Partners ist häufig erforderlich, da bei vielen ADHS-Betroffenen Partnerschaftskonflikte auftreten. Die Vermittlung von Selbstmanagement, um dem Alltagschaos entgegenzuwirken, ist wichtig. Finanz- und Zeitmanagement sowie Strukturierung zu erlernen ist wichtig. Praktische Tipps für erwachsene ADHS-Patienten sind beispielsweise in Anlehnung an Krause und Krause (2003, zitiert nach Schäfer u. Rüther 2005a, S. 63): – »Tricks: In der ersten Reihe sitzen und den Vortragenden beobachten, statt hinten zu sitzen und die Umgebung zu studieren. – Oropax: Die Geräusche durch andere lenken in Prüfungssituationen nicht ab, hilft die Konzentration zu erhalten. – Marker benutzen: Hilft den Lernstoff durch Farbreize attraktiver zu machen; Möglichkeit, einen Text zu strukturieren. – Ruhe suchen: Lernen zu Zeiten, wenn alle anderen in der Umgebung schlafen, weil dann die Konzentration länger anhält. – Nie ein neues Projekt beginnen, bevor nicht die letzte Arbeit beendet ist, auch wenn es noch so spannend ist – für mehrere Aufgaben gleichzeitig reichen selten die Kraft und Ausdauer. – Für einige Betroffene gilt: Lieber fertig als perfekt! Die Belohnung liegt in der abschließenden Betrachtung, nicht alle Aufgaben können interessant sein! – Ruhepausen einplanen, es ist erlaubt, nichts zu tun, wenn vorher auch langweilige Tätigkeiten eingeplant worden sind. – Routine schaffen, sie ist zwar nicht spannend, aber sie hilft gegen Chaos, außerdem ist sie weniger anstrengend als tägliches Neustrukturieren übersprudelnder Ideen und neuer Lebensformen.«

Suchterkrankungen

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Medikamentöse Behandlung von Erwachsenen mit ADHS Wenn es zu erheblichen Beeinträchtigungen in der sozialen Lebensführung (Familie, Partnerschaft, Beruf) gekommen ist und eine unzureichende Wirksamkeit von Psychotherapie vorliegt, kann eine medikamentöse Behandlung erfolgen. Es stehen Methylphenidat-Präparate zur Verfügung, die zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zugelassen sind. Im Erwachsenenalter erfolgt die Behandlung »off label«, das heißt als »individueller Heilversuch«. Eine individuelle Anpassung und ein langsames Einschleichen der Medikation sind nötig. Methylphenidat wirkt über eine Blockade des Dopamintransporters, so dass Dopamin vermehrt zur Verfügung steht. Methylphenidat zeigt eine gute Wirksamkeit bezüglich der Aufmerksamkeitsstörung, der Impulsivität und der motorischen Unruhe. Mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen können Kopfoder Bauchschmerzen sein, vorübergehend kommt es zu Appetitminderung, selten kann sich der Blutdruck erhöhen. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen sind notwendig. Neben Stimulanzien können Antidepressiva in der Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter als individueller Heilversuch oder bei zusätzlichem Vorliegen depressiver Symptome zum Einsatz kommen (z. B. Moclobemid [Aurorix®], Venlafaxin [Trevilor® ret], Reboxetin [Edronax®], Desipramin und Imipramin). Als neuere Substanz kann – ebenfalls off label – Atomoxetin (Strattera®) eingenommen werden. Sie führt zur Erhöhung des Noradrenalins. Vorteil dieser Substanz ist, dass nur eine Einmalgabe pro 24 Stunden nötig ist und die Wirkung über 24 Stunden anhält. Atomoxetin hat eine gleich gute Wirksamkeit bezüglich Impulsivitäts- und Unruheabnahme und Verbesserung der Aufmerksamkeit wie Methylphenidat.

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Die Behandlung begleitender psychischer Störungen Wenn zusätzlich eine Depression vorliegt, sollte zu einer Stimulanzienbehandlung eine Kombination mit Antidepressiva erfolgen (z. B. Venlafaxin, Reboxetin, Moclobemid). Zusätzlich kann ein positiver Effekt durch Licht- oder Wachtherapie sowie Sport (Konditionssport wie Jogging) erzielt werden. Bei zusätzlichem Vorliegen einer Tic-Erkrankung kann der Einsatz von Tiaprid nötig sein.

Behandlungen, die nicht helfen Unwirksam sind Diäten, Ernährungszusätze, Bachblütentherapie, pflanzliche Präparate, Cranio-Sakraltherapie, Akupunktur, Akupressur, Kinesiologie, Reflextherapie, Kristalltherapie, Homöopathie und vieles mehr. Tabelle 13: Therapie des AD(H)S bei Erwachsenen • • • •

Aufklärung und Information (Psychoedukation) Psychotherapie Selbstmanagement Pharmakotherapie: Stimulanzien: Methylphenidat (Ritalin®, Equasym®, Medikinet®) Retardpräparate: Concerta®, Ritalin SR® Medikinet ret.® D-Amphetamin Antidepressiva: Desipramin, Imipramin, Moclobemid (Aurorix®) Venlafaxin (Trevilor®) Reboxetin (Edronax®) Andere Medikamente: Atomoxetin (Strattera®) Eventuell zusätzlich Risperidon (Risperdal®), eventuell alternativ Modafinil (Virgil®)

(modifiziert nach: Schäfer u. Rüther, 2005b, S. 73)

Suchterkrankungen

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Suchterkrankungen Als Suchterkrankungen gibt es Alkoholabhängigkeit, drogenbedingte Störungen und Medikamentenabhängigkeit. Unterschieden werden Abhängigkeit, schädlicher Gebrauch, akute Vergiftungen und Entzugssyndrome. Substanzen wie Alkohol, Opioide, Cannabis, Sedativa oder Hypnotika, Kokain oder Stimulanzien wie Koffein, Halluzinogene, Tabak, Lösungsmittel können zu einer Suchterkrankung führen. Unter einer Abhängigkeit wird verstanden, dass ein starker Wunsch oder Zwang besteht, Substanzen oder Alkohol zu konsumieren. Es kommt zu einer verminderten Kontrollfähigkeit. Es entsteht ein körperliches Entzugssyndrom. Um die erwünschte Wirkung zu erzielen, sind immer weitere höhere Dosen erforderlich. Es kommt zu einer Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen. Der Substanz- oder Alkoholkonsum hält trotz eindeutig nachgewiesener schädlicher Folgen an. Folgen der Abhängigkeit können körperliche, soziale oder psychische sein. Eine Gewöhnung wird dann angenommen, wenn die Drogenwirkungen (oder Alkoholwirkung) bei wiederholter Gabe abnimmt. Unter einer körperlichen Abhängigkeit wird verstanden, wenn nach Absetzen der Substanz (Alkohol oder Drogen) sich ein Entzugssyndrom entwickelt. Unter psychischer Abhängigkeit wird ein Verlangen nach der Droge (Craving) verstanden.

Häufigkeit In Deutschland leben etwa 2,5 bis 4,5 Millionen Alkoholabhängige, etwa 1 Million Medikamentenabhängige.

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Ursachen Häufig findet man das Vorurteil, dass eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur zur Abhängigkeit oder Suchtentwicklung neigt. Dies ist nicht der Fall. Wie bei vielen anderen psychiatrischen Erkrankungen auch, geht man von einem multifaktoriellen Geschehen aus. Genetische Faktoren, biologische Faktoren sowie psychische Faktoren bedingen sich einander. Kulturelle Traditionen sind ebenfalls zu berücksichtigen (insbesondere beim Alkohol). Individuelle Biographie und Lerngeschichte spielen ebenfalls eine bedeutsame Rolle.

Alkoholabhängigkeit Bei der Alkoholabhängigkeit besteht ein starkes Verlangen oder ein Zwang zum Konsum. Die Kontrolle ist vermindert, ein Absetzen kann zum Alkoholentzugssyndrom führen. Es kommt zu einer Toleranzentwicklung sowie zu einer Interessenseinengung auf den Alkoholkonsum. Dieser hält an trotz bereits vorhandener schädlicher Folgen.

Untersuchungen Das Gespräch mit dem Betroffenen und auch mit den Angehörigen soll Fragen zu Konsummenge, bestehenden Entzugsymptomen oder vorangegangenen Entzugsbehandlungen beantworten. Körperliche Untersuchungen sind im Wesentlichen neurologischer Art mit Fragen zu bereits vorhandenen Schädigungen (Gangunsicherheit, Zittern, Sehstörungen) sowie Laboruntersuchungen. Ein einfacher Kurztest zum Alkoholismus besteht aus vier Fragen: – Haben Sie erfolglos versucht, den Alkoholkonsum zu reduzieren? – Ärgert Sie die Kritik Ihrer Umgebung wegen Ihres Alkoholkonsums? – Haben Sie Schuldgefühle wegen Ihres Trinkens?

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– Brauchen Sie morgens Alkohol, um richtig leistungsfähig zu sein? (Bewertung: 0–1 × Ja: Normalbefund; 2 × Ja: Nachdenken über das Trinken ist erforderlich; 3 × Ja: Alkoholismus ist wahrscheinlich; 4 × Ja: Alkoholismus ist sicher) Alkohol kann zu Folgekrankheiten führen, wie beispielsweise Lebererkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, Kreislauferkrankungen, Speiseröhrenkrebs, Leberzellkrebs, Stoffwechselerkrankungen, neurologische Folgeerkrankungen wie Polyneuropathie, Hirnatrophie (Abnahme der Hirnzellen), Hirninfarkt, Hirnblutungen, Muskelerkrankungen, ferner Infektionen (Tuberkulose, Aids), psychiatrische Folgeerkrankungen wie Alkoholrausch, Depressionen, Alkoholentzugsdelir, Alkoholhalluzinosen, alkoholischer Eifersuchtswahn, Korsakow-Syndrom, Alkohldemenz, ferner Störungen der Sexualfunktion (Impotenz, Zyklusstörungen), Blutkrankheiten, häufige Unfälle (Autounfälle, Arbeitsunfälle, häusliche Unfälle), Hauterkrankungen, Zahnerkrankungen.

Alkoholvergiftung Der akute Alkoholrausch ist durch gehobene Stimmung, Abbau von Ängsten und Hemmungen, Steigerung des Antriebs und der Motorik gekennzeichnet. Bei zunehmenden Mengen treten Gereiztheit, Ermüdung bis hin zu Bewusstseinsstörungen auf. Der pathologische (krankhafte) Rausch ist dadurch gekennzeichnet, dass bei vergleichsweise geringen Blutalkoholkonzentrationen bereits Symptome der Desorientiertheit, Angst, Wut und Aggressivität bis hin zu Gewalttaten auftreten können. Der Betroffene kann sich nicht an diesen Vorgang, an die Erlebnisse und seine Handlungen während des Rausches erinnern (Amnesie).

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Alkoholmissbrauch Unter Alkoholmissbrauch wird ein schädlicher Gebrauch von Alkohol verstanden, ohne dass eine Abhängigkeit vorliegt. Der schädliche Konsum führt zur Gesundheitsschädigung. Diese kann körperlicher (z. B. Leberentzündung = Hepatitis) oder psychischer Art sein (z. B. depressive Episode infolge Alkoholkonsums). Es kann zu sozialen Folgen kommen (z. B. Fernbleiben vom der Schule oder der Arbeit). Ebenfalls können rechtliche Probleme entstehen (z. B. Alkohol am Steuer). Die Dauer des Missbrauchs liegt bei mindestens einem Monat oder mehrmaligen Wiederholungen während eines Jahres.

Alkoholentzugsdelir Die Beschwerden beim Alkoholentzugsdelir sind Unruhe, Tremor (Zittern), Schwitzen, Beschleunigung des Herzschlags, Erbrechen, Schlafstörungen, erhöhter Blutdruck, Desorientiertheit, Auftreten optischer Halluzinationen, Auftreten von Krampfanfällen und vieles mehr. Ohne eine adäquate Behandlung besteht eine Sterblichkeit von 20 bis 25 Prozent. Die Alkoholentzugssymptome fangen 1 bis 4 Tage nach dem letzten Alkoholkonsum an. Die Behandlung ist meist unter stationären Bedingungen notwendig mit intensiver Überwachung und Medikamentengabe von Clomethiazol.

Korsakow-Syndrom Beim Korsakow-Syndrom kommt es aufgrund von Alkoholismus zu Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, Orientierungsstörungen, gestörtem Zeitgefühl und Konfabulation (phantasiertes Erzählen).

Wernicke-Enzephalopathie Dies ist eine Hirnstörung mit neurologischen Beschwerden wie Sehstörungen, Kleinhirnstörungen mit Gang- und Standunsicher-

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heiten sowie Gedächtnisstörungen und Antriebsminderungen. Beeinträchtigungen der Bewusstseinslage bis hin zum Koma können vorkommen. Die Wernicke-Enzephalopathie ist eine akute lebensbedrohliche Situation, die eine intensive stationäre Behandlung notwendig macht.

Alkohol-Demenz Nach jahrzehntelangem Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit kann es zu einem dementiellen Syndrom (geistiger Abbau) kommen.

Alkoholhalluzinose Darunter versteht man eine Psychose, die nach jahrelangen Alkoholmissbrauch entsteht und überwiegend mit akustischen Halluzinationen (Trugwahrnehmungen) einhergeht.

Behandlung Ziel der Behandlung der Alkoholerkrankung ist die Abstinenz (Verzicht auf Alkohol). Kontrolliertes Trinken ist einem Alkoholkranken nicht möglich! Das Hauptproblem besteht in der Motivation des Patienten zur Abstinenz. Ein körperlicher Entzug ist erforderlich, langfristig sind Entwöhnungsbehandlungen und Nachsorgebehandlungen nötig. Die Entzugsbehandlung erfolgt meist unter stationären Bedingungen. Die sich anschließende Entwöhnungsbehandlung ist ebenfalls meist stationär oder teilstationär, sie dauert über mehrere Wochen bis Monate. Der Einbezug der Familie ist wünschenswert. Psychologische Betreuung, Einzel- und Gruppentherapie und soziale Betreuung mit dem Ziel der beruflichen Wiedereingliederung sowie Kontaktvermittlung zu Selbsthilfegruppen sind notwendig. Medikamentös kann eine Rückfallvorbeugung mit Acamprosat

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(Campral®) erfolgen. Suchtberatungsstellen und Selbsthilfegruppen sollen den Patienten in der Nachsorgephase stützen. Gelegentlich sind auch Aversiva (Alkoholentwöhnungsmittel) wie Antabus® unter strengen ärztlichen Kontrollen sinnvoll.

Tabakabhängigkeit Eine Tabakabhängigkeit liegt vor, wenn ein zwanghafter Tabakkonsum, Toleranzentwicklung, körperliche Entzugssymptome bei Abstinenz, anhaltender Tabakkonsum trotz Folgeschäden, Veränderung der Lebensgewohnheiten, um den Tabakkonsum aufrechtzuerhalten, und eine eingeschränkte Kontrolle über das Rauchverhalten vorliegen. Tabakkonsum ist für die gesamte Volksgesundheit eine Bedrohung. Zur Behandlung kommen nichtmedikamentöse Therapien wie Verhaltenstherapie oder Selbsthilfemanuale und Behandlungsverfahren wie Nikotinersatz oder medikamentöse Behandlung mit Bupropion (Zyban®) in Frage.

Drogenbedingte Störungen Illegale Drogen wie Kokain, Heroin, Amphetamin, LSD sind weit verbreitet, Cannabis steht weltweit am ersten Platz. Designerdrogen wie Ecstasy und Kokain haben zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Wirkungen der Drogen auf das Gehirn, die Beschwerden und die Verhaltensauffälligkeiten sind je nach Droge, individueller Situation und situativen Bedingungen sehr unterschiedlich. Cannabis führt meist zu euphorisierender Wirkung, aber auch Angstzustände, sozialer Rückzug und Wahrnehmungsstörungen können auftreten. Vor allem bei Jugendlichen ist die höchstgefährliche Wirkung von Cannabis zu beobachten: Völlige Antriebs- und Motivationslosigkeit, sozialer Rückzug sind die Folgen von chronischem Cannabisgebrauch. Die soziale Geborgenheit in Cannabisgruppen ist für Jugendliche die wichtigste Motivation für den Gebrauch. Hier müssen langfristige Therapien ansetzen.

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Bei den Halluzinogenen wie LSD, Mescalin und Ecstasy, können euphorisierende Wirkungen auftreten. Es kommt zu einer schnellen Toleranzentwicklung (immer höhere Dosen werden nötig). Ängste, Depressionen, Beziehungsideen, Wahnideen, Beeinträchtigungen im sozialen oder beruflicher Bereich sind häufige Symptome. Bei Vergiftungen durch Halluzinogene kommt es zu Erweiterung der Pupillen (Mydriasis), Herzrasen (Tachykardie), Verschwommensehen, Tremor (Zittern), Koordinationsstörungen und Schwitzen. Nachhallerinnerungen im Sinne von Flashbacks kommen vor. Lebensgefährliche Zustände durch Herzschlagunregelmäßigkeiten, Krampfanfälle und Leberversagen können vorkommen.

Inhalanzien Schnüffeln, zum Beispiel organischer Lösungsmittel (Klebstoffe) können zu Vergiftungen führen, mit denen Beeinträchtigungen der Urteilsfähigkeit, Gleichgültigkeit und Apathie einhergehen. Körperliche Beschwerden wie Schwindel, Sehstörungen, Koordinationsstörungen, Sprachstörungen, Verlangsamung, Zittern bis hin zu Bewusstseinsstörungen mit Koma können auftreten. Häufig sind neurologische Folgeschäden oder aber Leberschädigungen neben den psychischen Beeinträchtigungen festzustellen.

Opioide Besonders Heroin hat ein hohes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential, eine schnelle Toleranzentwicklung und führt zu Entzugssymptomen bei abruptem Absetzen. Bei Vergiftungen sind zahlreiche psychische Störungen wie Wahrnehmungsstörungen und psychotische Störungen festzustellen. Bei Heroinabhängigkeit besteht eine hohe Beschaffungskriminalität. Die Behandlung hat eine Verhinderung der Folgeerkrankungen wie beispielsweise Hepatitis B und C, Lues und Aids zum Ziel sowie die Verbesserung der sozialen Situation mit Verminderung der

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Kriminalität. Verschiedene Entzugsbehandlungen können durchgeführt werden. Eine Substitutionsbehandlung (= Suchtstoffersatzbehandlung) zum Beispiel mit Methadon kann erfolgen.

Kokain und andere Stimulanzien Kokain, Amphetamin und andere Stimulanzien führen zur vermehrten Wachheit, Euphorie und vermindertem Schlafbedürfnis. Körperliche Beschwerden wie Herzrasen, erweiterte Pupillen, erhöhter oder erniedrigter Blutdruck, Schwitzen oder Frieren, Übelkeit oder Erbrechen können auftreten. Bei Entzug von Stimulanzien kann es zu Müdigkeit, lebhaften Träumen, Schlaflosigkeit, Appetitssteigerung und Unruhe oder Verlangsamung kommen.

Medikamentenabhängigkeit und -missbrauch Medikamente mit hohem Abhängigkeitspotential sind beispielsweise Amphetamine, Barbitursäure, Benzodiazepine, Mischanalgetika (Kodein, Koffein, Barbiturate, Benzodiazepine) oder Opiate. Beruhigungsmittel, Schlafmittel und angstlösende Mittel (siehe Kapitel Psychopharmaka, Seite 98f.) sind die am häufigsten missbräuchlich verwendeten Psychopharmaka. Die Benzodiazepin-Derivate spielen die Hauptrolle bei der Entwicklung einer Medikamentenabhängigkeit. Der Einsatz von Benzodiazepinen sollte deshalb immer zeitlich eng begrenzt und streng kontrolliert sein. Bei Vergiftungen kommt es zu neurologischen Störungen. Bei dauerhaftem Konsum treten Stimmungsveränderungen, Verlangsamung, Depressionen, Gedächtnisstörungen, Sprachstörungen, Gleichgewichtsstörungen und Sehstörungen auf. (Eine Verwechslung mit einer dementiellen Entwicklung ist möglich!) Im Entzug kann es zu innerer Unruhe, Schlaflosigkeit, Alpträumen, Angst, Schwitzen, Herzrasen, Muskelschmerzen, Zittern, Erbrechen, Verschwommensehen und Kopfschmerzen kommen, ferner auch zu Depressionen oder psychotischen Symptomen. Dann

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müssen Antidepressiva beziehungsweise Antipsychotika eingesetzt werden. Es können auch Krampfanfälle auftreten. Dagegen wirken Antikonvulsiva (Medikamente gegen Krampfanfälle) wie beispielsweise Carbamazepin. Der Entzug erfolgt meist stationär. Benzodiazepine dürfen niemals abrupt abgesetzt werden, es muss ein langsames Ausschleichen, teilweise über mehrere Monate bis Jahre, erfolgen. Eine Behandlung mit Carbamazepin macht ein schnelleres Absetzen möglich. Wichtig ist, dass nach jahrelangem Konsum selbst niedrigdosierter Benzodiazepine beim Absetzen schwere Entzugserscheinungen auftreten können (low-dose-dependency = Niedrigdosis-Abhängigkeit).

Barbiturate Bei Konsum von Barbituraten kommt es zu psychischen und körperlichen Abhängigkeiten. Dauerhafter Konsum kann zu Sprachstörungen, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen, Gewichtsverlust, Gleichgültigkeit, Aggressivität, Depressionen, Gedächtnisstörungen und zu Antriebsarmut führen. Im Entzug bestehen Unruhe, Angst, Halluzinationen, Krampfanfälle, Übelkeit Erbrechen, Herzbeschleunigung, Schwitzen und Schlaflosigkeit. Die Entzugsbehandlung erfolgt schrittweise mit langsamen Ausschleichen oder unter Clomethiazol mit schnellerem Ausschleichen.

Prävention der Medikamentenabhängigkeit Grundsätzlich gilt, dass abhängigmachende Substanzen nur kurzfristig und unter strengsten Kontrollen eingesetzt werden sollten. Oft kann eine alternative Medikation erfolgen, ohne dass es zu einer Abhängigkeitsentwicklung kommen muss. Information und Aufklärung über Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential bei

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Einsatz von abhängigkeitsmachenden Medikamenten sind dringend erforderlich.

Persönlichkeitsstörungen Persönlichkeitsstörungen sind ausgeprägte Störungen des charakterlichen Verhaltens. Die Persönlichkeitsentwicklung ist von Temperament und Charakter abhängig. Unter Temperament ist eine konstitutionell vorhandene und genetisch bestimmte angeborene Veranlagung zu Reaktionsweisen auf Umweltreize zu verstehen. Von der Disposition ist es abhängig, wie jemand gefühlsmäßig reagiert. Diese so genannten affektiven Reaktionen sind entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung. Angeborene Schwellen für die Aktivierung entweder positiver oder negativer Gefühle sind die biologischen Bedingungen der Persönlichkeit. Sie stehen in unmittelbarer Wechselwirkung mit der Umwelt und werden je nach Reaktionsweisen der Umwelt entsprechend geprägt. Unter dem Begriff des Temperaments werden ebenfalls angeborene Veranlagungen für gedankliche Verarbeitungen (Kognitionen), motorisches Verhalten und geschlechtsspezifische Rollenidentität verstanden. Temperamentsdispositionen wie »Suche nach Neuem«, »Schadensvermeidung«, »Belohnungsabhängigkeit« und »Ausdauer« sind bedeutsam. Die Ich-Identität entwickelt sich aus der Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Wahrnehmung der bedeutenden Bezugspersonen, zum Beispiel Mutter und Vater. Die Persönlichkeit entwickelt sich aus Anlage- und Umwelteinflüssen, zusätzlich kommt es zu einer Integration von Moral, Werten und ethischen Vorstellungen. Bei Persönlichkeitsstörungen sind Abweichungen in den Bereichen des Denkens, des Fühlens, der Bedürfnisbefriedigung, der Impulskontrolle und zwischenmenschlicher Beziehungen so stark, dass es zu persönlichen Schwierigkeiten oder sozial-unflexiblen, unangepassten Situationen kommt. Es besteht ein nachteiliger Einfluss auf die soziale Umwelt und der Betreffende hat einen individuellen Leidensdruck.

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Bei den Persönlichkeitsstörungen wird von einer Abweichung gesprochen, die dauerhaft und stabil ist. Andere psychische Störungen oder organische Erkrankungen müssen ausgeschlossen werden. Verschiedene Persönlichkeitsstörungen werden unterschieden: die paranoide, schizoide, dissoziale, emotional instabile, ängstliche, abhängige und die so genannte anankastische (zwanghafte).

Untersuchungen Organische Erkrankungen müssen durch Untersuchungen sorgfältig ausgeschlossen werden. Das Gespräch, ergänzt durch ein Gespräch mit Angehörigen, die biographische Entwicklung, eventuell Persönlichkeitstests mit Selbstbeurteilungsverfahren, strukturierten Interviews und Persönlichkeitstests kommen zum Einsatz. Charakteristisch ist, dass das Verhalten tiefgreifend in persönlichen und sozialen Situationen verändert ist; es ist unpassend und inadäquat. Unausgeglichenheit, Verhaltensauffälligkeiten im Bereich der Gefühle, des Antriebs und der Impulskontrolle sowie im Bereich des Denkens, der Wahrnehmung und in zwischenmenschlichen Beziehungen sind führende Beschwerden. Oft kommt es zur Einschränkung in beruflichen und sozialen Bereichen. Durch negative Reaktionen der Umwelt wird das individuelle Leiden verstärkt. Es ist zu berücksichtigen, dass Persönlichkeitsstörungen nicht unbedingt Krankheitswert haben müssen und die Grenze zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung fließend ist. Folgende Wesensmerkmale einer Persönlichkeit werden angenommen: – Extraversion (kontaktfreudig oder zurückhaltend) – Verträglichkeit (friedfertig oder streitsüchtig) – Gewissenhaftigkeit (gründlich oder unsorgfältig) – Neurotizismus (überempfindlich oder entspannt) – Offenheit (kreativ oder phantasielos) Zwischen unauffälliger Persönlichkeit und einer Persönlichkeitsstörung wird zusätzlich eine akzentuierte Persönlichkeit angenommen, bei der es noch zu keiner Persönlichkeitsstörung gekommen

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ist, jedoch hat die betreffende Person Probleme und Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung.

Entstehungsbedingungen Wie bei anderen psychischen Störungen haben Persönlichkeitsstörungen einen erheblichen erblichen (genetischen) Einfluss. Je nach psychologischer Schule werden psychoanalytische, interpersonelle, verhaltenstherapeutische, neurobiologische, erbliche und biosoziale Faktoren angenommen. Auszuschließen sind organisch bedingte Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, posttraumatische Anpassungsstörungen und depressive Belastungsreaktionen. Insbesondere sollten bei Persönlichkeitsstörungen andere psychiatrisch gut behandelbare Erkrankungen nicht übersehen werden.

Behandlung der Persönlichkeitsstörung Einerseits kommen verhaltenstherapeutische Maßnahmen (siehe Psychotherapie) zum Einsatz mit Aufbau angemessener Verhaltens- und Bewertungsmuster. Andererseits werden psychodynamische Psychotherapieformen (siehe Seite 60f.) angewandt, bei denen es um die Bearbeitung der unbewussten Konflikte geht. Oft sind verschiedene Therapiebausteine erforderlich: Verbesserung der sozialen Kompetenzen, Strukturierung des sozialen Umfelds und die Bearbeitung von verzerrten Verhaltensmustern sowie die Umsetzung des in der Therapie Erlernten im realen sozialen Umfeld sind von großer Wichtigkeit. Medikamentöse Behandlungen können bei krisenhafter Verschlechterung helfen. Ebenso können bei begleitender oder zusätzlich vorliegender Depression und Angststörungen Medikamente eingesetzt werden. Nun folgen die Persönlichkeitsstörungen im Einzelnen.

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Abhängige/dependente Persönlichkeitsstörung Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, wichtige Entscheidungen für ihr Leben zu treffen. Sie überlassen dies oft anderen und ordnen sich lieber unter. Insbesondere neigen sie dazu, sich von anderen Menschen abhängig zu machen. Eigene Ansprüche oder Bedürfnisse anderen gegenüber zu äußern, fällt ihnen schwer oder ist ihnen unmöglich. Häufig haben sie ängstliche Gefühle, insbesondere dann, wenn sie allein sind. Meist haben sie Angst, nicht ausreichend für sich allein sorgen zu können. Sie beschäftigen sich oft mit dem Gedanken, verlassen zu werden und auf sich selbst angewiesen zu sein. Die dependente Persönlichkeit geht davon aus, dass sie den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen ist. Sie ist davon überzeugt, ohne Unterstützung durch andere den Alltag nicht bewerkstelligen zu können. Daraus folgt die Angst, von Partnern oder nahen Angehörigen verlassen zu werden. Aus dieser Sorge heraus besteht bei dem Patienten eine hohe Bereitschaft, sich den Bedürfnissen anderer unterzuordnen. Krisen entstehen dann, wenn Trennungen drohen oder sich vollziehen. In der Psychotherapie müssen die verzerrenden Gedanken wie »Ich kann dass alles nicht allein, ich bin allein nicht fähig, mein Leben zu gestalten« aufgedeckt werden und durch neue Gedanken und neues Verhalten ersetzt werden. Insbesondere müssen soziale Kompetenzen erworben werden und im Alltagsleben erprobt werden.

Ängstliche Persönlichkeitsstörung Bei der ängstlichen Persönlichkeitsstörung herrschen Gefühle vor von Angespanntheit und Besorgtheit, Angst vor Ablehnung oder Kritik, Unsicherheit, das Gefühl, minderwertig zu sein, die Überzeugung, unattraktiv zu sein. Der ängstlich persönlichkeitsgestörte Mensch unterhält nur persönliche Beziehungen, wenn er sicher ist, gemocht zu werden. Dadurch ist er in seinem Lebensstil sehr eingeschränkt. Er vermeidet beruflich oder soziale Aktivitäten, bei denen eine enge zwi-

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schenmenschliche Beziehung nötig ist, da er Angst vor Kritik oder Ablehnung hat. Menschen mit ängstlicher Persönlichkeitsstörung leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen. Sie haben ein hohes oder auch übertriebenes Bedürfnis nach Gewissheit und Sicherheit. Oft führt die ängstliche Persönlichkeitsstörung zu widersprüchlichen Verhaltensmustern: Auf der einen Seite steht eine ausgeprägte Sehnsucht nach Gemochtwerden, auf der anderen Seite gibt es die starke Angst vor Nähe und Verbindlichkeit, so dass es oft zu einem Rückzug kommt. Aufgrund der sozialen Ängste werden soziale Kontakte vermieden. Bei der Behandlung der ängstlichen Persönlichkeitsstörung ist vorrangig, dass soziale Kompetenz erlernt wird und Angstbewältigungsstrategien vermittelt werden. Ein Aufbau des positiven Selbstwertgefühls mit Wertschätzung ist Voraussetzung, damit der Patient sich von anderen unabhängig fühlen kann und somit eine vertrauensvolle Zuwendung zu anderen ermöglicht wird.

Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ Das Wort »Borderline« kommt aus dem Englischen und heißt »Grenzland« oder »Grenzlinie« und meint den Grenzfall zwischen Psychose und Neurose. Der Borderline-Patient erlebt starke Stimmungsschwankungen, Wut, Aggressionen, Ängste, Gefühle der Leere, typisch ist ein Schwarz-Weiß-Denken, es kann zu Selbstverletzung kommen, Suizidideen oder Suizidversuchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Essattacken, Depressionen und Erschöpfungen. Merkmale der Borderline-Störung sind ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Gefühlen sowie deutliche Impulsivität. Borderline-Patienten versuchen verzweifelt, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. In ihren zwischenmenschlichen Beziehungen wechselt es zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung. Sie haben eine Identitätsstörung. Ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung kennzeichnen die Borderline-Störung. In ihrem Verhalten sind sie im-

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pulsiv, es kann zu selbstschädigenden Aktivitäten kommen wie rücksichtsloses Fahren, Substanzmissbrauch, Essanfälle, vermehrte Geldausgaben. Zentrales Problem der Borderline-Störung ist der Umgang mit Gefühlen und eine Störung der Affektregulation (Gefühlsregulation). Bei Borderline-Patienten besteht eine niedrigere Reizschwelle durch ein erhöhtes Erregungsniveau. Zusätzlich bilden sich die Gefühle nur verzögert zurück. Oft gelingt es Borderline-Patienten nicht, ihre Gefühle differenziert wahrzunehmen, sie erleben quälende, lange Spannungszustände. Dabei treten Körperwahrnehmungsstörungen, Schmerzunempfindlichkeit und dissoziative Phänomene (Veränderungen der Wahrnehmung, des Sehens, des Riechens, des Hörens) auf. Dissoziative Phänomene sind Depersonalisation (Verlassen des eigenen Körpers) und Derealisation (Verlassen der Realität). Häufig findet man diese Symptome bei Borderline-Patienten, die ein schweres Kindheitstrauma hatten (z. B. Vernachlässigung, schwere körperliche Misshandlung oder sexualisierte Gewalt). Häufig kommt es zu selbstschädigendem Verhalten wie Schneiden, Brennen, Ritzen. Aggressive Durchbrüche tragen zur Verminderung dieser Spannungszustände auf. Selbstschädigungen werden oft eingesetzt, damit der Betroffene »sich selbst wieder spüren« kann. Derartige Selbstverletzungen können die Spannungszustände reduzieren. Im zwischenmenschlichen Bereich kommt es bei BorderlinePatienten zu Schwierigkeiten durch eine Nähe- und Distanzproblematik. Borderline-Patienten haben einerseits Angst vor dem Alleinsein, denn sie erleben ohne Anwesenheit wichtiger Bezugspersonen keine Kontinuität der Beziehung. Sie verwechseln die Abwesenheit der Bezugsperson oder des Partners mit realer Verlassenheit. Sie versuchen, wichtige Bezugspersonen oder Partner dauerhaft an sich zu binden. Andererseits führen Nähe und Geborgenheit zu sehr hoher Angst, Schuld oder Scham. Schwierige Beziehungen mit häufigen Trennungs- und Wiederannäherungsprozessen sind die Folge. Die widersprechenden Grundgefühle und Verhaltensweisen bei Borderline-Patienten sind besonders auffällig. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Nähe kann im nächsten Moment ein Verhalten

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von Gewalttätigkeit und Zerstörung herbeiführen. Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit führt zu einem ausgeprägten Wunsch nach rückhaltloser Liebe, gleichzeitig folgen zerstörerische Bedürfnisse. Borderline-Patienten nehmen häufig ihre eigenen Gefühle unzureichend wahr, das Gefühl von Fremdheit und ein möglicher Kontrollverlust können zu dissoziativen Phänomenen führen. Bei Borderline-Patienten können unter Ein- und Durchschlafstörungen sowie Alpträumen leiden. Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Essstörungen sind häufig begleitende Beschwerden. Ein typisches Merkmal bei Borderline-Patienten ist, dass sie positive und negative Vorstellungen sowohl von sich selbst als auch von anderen nicht zu vereinbaren (zu integrieren) vermögen. Es gibt nur ein Schwarz oder Weiß, ein Entweder-Oder. Polarisierungen wie »Freund oder Feind« sind typische Borderline-Merkmale. Abstufungen werden nicht wahrgenommen. Entsprechend sind die Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich programmiert. Heftige Affekte wie aufbrausende Wut und impulsive Reaktionen haben negative Auswirkungen bei der Arbeit und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Aggressive Handlungen stoßen das jeweilige Gegenüber ab. Krisenhafte Zuspitzungen kann es in realen Trennungssituationen geben.

Entstehungsbedingungen Für die Entstehung einer Borderline-Störung wird ein multifaktorielles Modell angenommen, bei dem ein angeborenes Temperament, belastende Situationen in der Kindheit und neurobiologische Funktionsänderungen in gegenseitiger Wechselbeziehung stehen. An belastenden Erfahrungen in der Kindheit sind Trennungen, Verlust eines Elternteils, Missbrauch oder Misshandlung zu nennen. Angeborene Temperamentseigenschaften sind eine erhöhte Empfindsamkeit gegenüber Reizen, eine unzureichende Regulation der Gefühle und eine verminderte Steuerungsfähigkeit der Impulse. Neurobiologische, neurochemische und genetische Untersuchungen zeigen, dass Störungen im Neurotransmittersystem (Bo-

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tenstoffwechselstörung) vorliegen, insbesondere im serotonergen System.

Diagnostik (Untersuchung) Neben dem Gespräch mit dem Betroffenen und seinen Angehörigen werden verschiedene Testverfahren und Selbstbeurteilungsinstrumente sowie Checklisten eingesetzt. Borderline-spezifische Tests sowie Instrumente zur Diagnostik des Temperaments oder zum Erfassen einer posttraumatischen Belastungsstörung stehen zur Verfügung.

Behandlung Es kommt darauf an, den Borderline-Patienten im Umgang mit seiner Störung zu unterstützen. Voraussetzung ist Akzeptanz der Störung, Übernahme der Verantwortung für sein Verhalten, Motivation zu Veränderung, eine genaue Analyse des Problems und der aufrechterhaltenden Bedingungen, insbesondere Vermittlung von Strategien bei selbstverletzendem oder suizidalem Verhalten sowie Erlernen von Wahrnehmung von Gefühlen, Verbesserung der Impulskontrolle und Verbesserung der sozialen Beziehungen. Psychodynamische Psychotherapie und Verhaltenstherapie sind angezeigt. Eine besondere Form der Verhaltenstherapie, die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), ist für Patienten entwickelt worden, die sich selbst verletzen (siehe Kapitel Psychotherapie, Seite 70f.). Die dialektisch-behaviorale Therapie ist eine Form der Verhaltenstherapie, die besonders bei Borderline-Patienten eingesetzt wird. Wahrnehmung eigener Gefühle, alternative Verhaltensweisen bei Wut und Impulskontrollverlusten, Training der sozialen Kompetenz, Stressbewältigungstraining und Entspannungstraining fließen ebenso ein wie ein Emotionstraining, bei dem grundlegende Gefühle wie Ärger, Schuld, Trauer, Freude und Liebe erkannt und erlebt werden. Die psychodynamischen Verfahren bearbeiten die unbewussten Konflikte. Im Mittelpunkt einer für Borderline spezifizierten übertragungsfokussierten Psychotherapie steht die Arbeit an der Übertragung. Wie der Borderline-Patient die Beziehung zu seinem Therapeuten gestaltet, lässt Rückschlüsse auf seine Lebensgeschichte zu und aktualisiert die für ihn problematischen Beziehungsmuster. In

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der Therapie geht es um die Bearbeitung dieser Übertragung und die Erarbeitung anderer Lösungsmöglichkeiten. Bei vielen Borderline-Patienten ist es im Lauf ihrer Entwicklung zu traumatischen Ereignissen gekommen. Eine traumazentrierte Psychotherapie (siehe Kapitel Psychotherapie, Seite 62ff.) zur Bearbeitung der Traumata ist dann angezeigt. Medikamentöse Behandlungen bei Borderline-Patienten sind ergänzend möglich. So kommen bei depressiven Beschwerden und begleitenden Angststörungen Antidepressiva zum Einsatz. Bei starken Stimmungsschwankungen können stimmungsstabilisierende Medikamente (mood stabilizer) zur Anwendung kommen. Antipsychotika der 2. Generation haben einen günstigen Effekt auf selbstverletzendes Verhalten. In absoluten Krisensituationen können ausnahmsweise und zeitlich befristet Benzodiazepine zum Einsatz kommen (Vorsicht Abhängigkeitsgefahr!). Grundsätzlich sind Medikamente bei der Behandlung der Borderline-Störung individuell anzupassen und immer in einen Gesamtbehandlungsplan zu integrieren. Nie ist eine Borderline-Störung ausschließlich mit Medikamenten zu behandeln. In die Behandlung der Borderline-Patienten sollten der Partner oder nahe Bezugspersonen einbezogen werden.

Dissoziale Persönlichkeitsstörung Merkmale der dissozialen Persönlichkeitsstörung sind Herzlosigkeit gegenüber Gefühlen anderer, deutliche oder überdauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Regeln oder Normen, die Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen oder Partnerschaften aufrechtzuerhalten, geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives oder gewalttätiges Verhalten, unzureichende Entwicklung von Schulgefühlen, Neigung, andere für schuldig zu halten. Verstöße gegen das Gesetz sind häufige Folge. Sofern überhaupt ein Behandlungswunsch besteht (meist leidet die Umwelt mehr als der Betroffene), sind soziotherapeutische Maßnahmen notwendig.

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Schizoide Persönlichkeitsstörung Kennzeichen der schizoiden Persönlichkeitsstörung sind, dass der Betroffene eine emotionale Kühle zeigt, er kann sich nur wenig freuen, kann warmherzige oder zärtliche Gefühle nur geringgradig zum Ausdruck bringen, ist gegenüber Lob und Kritik gleichgültig, hat wenig Interesse an sexuellen Betätigungen. Er zieht es vor, allein zu sein und Aktivitäten allein durchzuführen. Er wünscht sich keine engen Freundschaften oder vertrauensvolle Beziehungen. Er hat ein geringes Gespür für Normen oder Konventionen, merkt dies aber selbst nicht. Oft sind dies Menschen, die sozial wenig Kontakte haben, aber in ihren intellektuellen Fähigkeiten oft hoch entwickelt sind, wir sprechen auch von »Flucht in den Intellekt«. Eine Behandlung ist meist nur bei zusätzlichem Vorliegen von Depressionen oder psychosomatischen Erkrankungen von den Patienten erwünscht. Ziel der Psychotherapie muss eine verbesserte Gefühlswahrnehmung und eine vermehrte soziale Integration sein.

Anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung Merkmale der anankastischen (zwanghaften) Persönlichkeitsstörung sind, dass die betroffenen Patienten viele Zweifel haben, übermäßig vorsichtig sind, sich ständig mit Regeln, Ordnungen, Plänen und Organisationen beschäftigen. Sie sind perfektionistisch, sie weisen eine übermäßige Gewissenhaftigkeit und eine unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit auf, vernachlässigen dabei Vergnügungsaspekte und zwischenmenschliche Beziehungen. Übertriebene Pedanterie ist häufig, ferner zeigen die Patienten Umstellungsschwierigkeiten und einen Eigensinn. Sie bestehen oft darauf, dass die Mitmenschen sich ihren eigenen Gewohnheiten unterzuordnen haben. Die anankastische Persönlichkeitsstörung ist von Zwangsstörungen mit wiederkehrenden Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen als eine Form der Angststörung (siehe Kapitel Zwangsstörungen) abzugrenzen.

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Krisen kommen dann, wenn neue Situationen auf diese Patienten zukommen und sie sich diesen anpassen müssen. Mit Hilfe von Psychotherapie werden die extremen Einstellungen der Patienten bearbeitet, Abbau von Perfektionismus und von absoluter Kontrolle ist Ziel der Therapie.

Histrionische Persönlichkeitsstörung Merkmale der histrionischen Persönlichkeitsstörung sind dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten, übertriebener Ausdruck von Gefühlen, übermäßiges Verlangen nach Anerkennung, leichte Beeinflussbarkeit durch andere, Bestrebungen, im Mittelpunkt zu sein, verführerisches, unangemessenes Verhalten und übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen. Menschen mit histrionischen Persönlichkeitsstörungen sind auf den ersten Eindruck oft faszinierend, charmant und sexuell aufreizend. Sie sind meist jedoch nicht in der Lage, tiefergehende und dauerhafte Beziehungen einzugehen. Selbst erleben sich diese Menschen jedoch häufig »innerlich leer«. Durch Sprunghaftigkeit und Ungenauigkeit in ihrem Arbeitsstil kommt es oft zu Konflikten. Die Therapie der histrionischen Persönlichkeitsstörung hat zum Ziel, den Patienten von der Außenorientierung zu einer besseren Eigenwahrnehmung zu verhelfen. Sowohl analytische Psychotherapie als auch Verhaltenstherapie kommen zum Einsatz.

Paranoide Persönlichkeitsstörung Merkmale der paranoiden Persönlichkeitsstörung sind Misstrauen, feindselige Missdeutung, übertriebene Empfindlichkeit auf Rückschläge, Streitbarkeit, Selbstbezogenheit, bestehen auf eigenen Rechten. Abzugrenzen ist eine paranoide Persönlichkeitsstörung von paranoid-halluzinatorischen Erleben bei der Schizophrenie. Die Therapie besteht in der Bearbeitung der interpersonellen

Organisch bedingte psychische Störungen

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Konflikte. Häufig haben die Patienten jedoch keine Änderungswünsche und es liegt keine Therapiemotivation vor.

Narzisstische Persönlichkeitsstörung Bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung hat der Patient ein Gefühl von Großartigkeit und ein Bedürfnis nach Bewunderung. Gleichzeitig kann er sich nur unzureichend in die Lage anderer versetzen (Mangel an Empathie). Er erlebt sich selbst grandios, übertreibt die eigenen Leistungen und Fähigkeiten, hat Größenphantasien in Bezug auf Erfolg, Macht, Schönheit oder idealer Liebe. Er erwartet übermäßige Bewunderung. In zwischenmenschlichen Beziehungen ist der Patient oft ausbeuterisch, zeigt einen Mangel an Empathie, er erkennt die Gefühle und Bedürfnisse anderer nicht. Neben den Größenphantasien sind Minderwertigkeitsgefühle, Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit sowie begleitende depressive Verstimmungen vorhanden. Häufig entstehen Schwierigkeiten in der Beziehung zu anderen, entsprechend muss der Schwerpunkt der Therapie auf eine Verbesserung der Empathiefähigkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgerichtet sein.

Sexualstörungen Sexualstörungen sind weit verbreitet. Es werden verschiedene Funktionsstörungen unterschieden: Störungen beim Mann: – Libidominderung, – sexuelle Aversion, – Ängste, – Erregungsstörungen im Sinne von Erektionsstörungen, – schmerzhafter Geschlechtsverkehr, – vorzeitiger Samenerguss, – ausbleibender Samenerguss,

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– Verstimmung mit Gereiztheit, Schlafstörungen und Depressionen nach dem Orgasmus. Störungen bei der Frau: – Libidominderung, – Erregungsstörungen im Hinblick auf Dauer und Stärke, – Scheidenkrampf, – schmerzhafter Geschlechtsverkehr, – Orgasmusschwierigkeiten, – Verstimmung mit Schlafstörungen und Depressionen nach einem Orgasmus. Die häufigsten sexuellen Funktionsstörungen beim Mann sind Erektionsprobleme und vorzeitiger Orgasmus, während bei den Frauen herabgesetzte sexuelle Lust, verminderte Erregungs- und Orgasmusfähigkeiten sowie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr im Vordergrund stehen. Ursächlich für sexuelle Störungen ist meist ein ineinandergreifendes körperliches und psychisches Bedingungsgefüge. An körperlichen Ursachen sind besonders beim Mann, der älter als 50 Jahre ist, Durchblutungsstörungen zu nennen, toxische Einflüsse (Alkohol, Drogen) und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (insbesondere als Folge von Psychopharmaka). Durchblutungsstörungen führen häufig zu Erektionsproblemen und hormonelle Veränderungen zu Libidominderung. Psychische Ursachen von sexuellen Störungen sind bei jüngeren männlichen Patienten und bei Frauen häufiger. Ängste, Partnerschaftsprobleme, sexuelle Erfahrungslücken liegen oft zugrunde. Auslöser für sexuelle Störungen können berufliche Belastungen, körperliche Erkrankungen, psychosexuelle Trauma, Partnerschaftskonflikte oder andere lebensbelastende Situationen sein. Negative sexuelle Vorerfahrungen, geringe Selbstsicherheit oder hoher Leistungsanspruch können weitere Faktoren sein. Zur Untersuchung gehört immer eine körperliche, insbesondere trifft dies für Männer mit Erektionsstörungen im höheren Lebensalter zu. Die Therapie besteht in Beratung, entlastenden Gesprächen, eventuell Sexualtherapie kombiniert mit pharmakologischer Be-

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handlung, zum Beispiel bei Erektionsstörungen mit Viagra® oder CIALIS®.

Organisch bedingte psychische Störungen Demenz Unter Demenz werden Störungen des Gedächtnisses verstanden. Merkmal einer Demenzerkrankung ist der erworbene Verlust der geistigen Fähigkeiten. Bei der Demenz kommt es zur Abnahme der Gedächtnisfunktionen und Abnahme kognitiver Fähigkeiten. Die Gefühlskontrolle, der Antrieb und das Sozialverhalten sind beeinträchtigt. Kognitive Störungen beim Demenz-Syndrom sind Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, Merkfähigkeits- und Orientierungsstörungen, Sprachstörungen und Beeinträchtigung von planvollem Handeln. Psychische Störungen beim Demenz-Syndrom sind Wahn, Sinnestäuschung, Depression, Antriebsstörungen und Angst. Beim Demenzsyndrom können Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Ruhelosigkeit, Weinen, Jammern, stereotypes Fragen, Treten, Beißen, Kratzen und Schreien auftreten. Die Alzheimer-Demenz ist die häufigste Demenzform. Das Alter gilt als größter Risikofaktor: Je älter ein Mensch wird, desto größer ist die Gefahr, von einer Alzheimer-Erkrankung betroffen zu sein. Eine rechtszeitige Diagnose einer Alzheimer-Erkrankung und eine möglichst frühe Behandlung sind sehr wichtig. Auf Warnsignale ist zu achten, wie beispielsweise: – Kurz zurückliegende Ereignisse sind nicht mehr erinnerlich. – Alltagsaktivitäten und gewohnte Tätigkeiten fallen schwerer. – Es kommt zu Sprachstörungen. – Das Interesse an der Freizeitgestaltung lässt nach. – Die Orientierungsmöglichkeit in einer fremden Umgebung ist eingeschränkt. – Finanzielle Angelegenheiten werden nicht mehr richtig überblickt.

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– Es kommt zu bisher beim Patienten nicht beobachtbaren Stimmungsschwankungen. – Gefahren werden nicht mehr richtig eingeschätzt. – Misstrauen, Ängstlichkeit oder vermehrte Reizbarkeit treten auf. – Fehler, Irrtümer und Vergesslichkeit werden hartnäckig abgestritten und geleugnet. Zwei Drittel aller dementen Patienten sind von einer AlzheimerErkrankung betroffen. Die Alzheimer-Demenz ist die häufigste Ursache einer Demenz. Als zweithäufigste Ursache (ca. 10 bis 15 Prozent) ist die vaskuläre Demenz zu nennen. Darunter sind Durchblutungsstörungen des Gehirns zu verstehen. Sie wurde früher Binswanger-Demenz oder Multi-Infarkt-Demenz genannt. Bei der vaskulären Demenz kommt es zu kognitiven Beeinträchtigungen, die der Alzheimer-Erkrankung sehr ähnlich sein können. Zusätzlich treten plötzliche neurologische Beschwerden auf wie kleine Schlaganfälle, die mit Sensibilitätsstörungen (Taubheitsgefühlen) oder mit Lähmungen (Paresen) einhergehen können. Charakteristisch für die vaskuläre Demenz sind ein plötzlicher Beginn und eine schubförmige Verschlechterung sowie ausgeprägte Schwankungen der Leistungsfähigkeit. Hauptrisikofaktoren für eine vaskuläre Demenz sind Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Blutzuckererkrankung (Diabetes mellitus), Fettstoffwechselstörungen und das Rauchen. Die Behandlung dieser Grunderkrankungen ist vorrangig Es gibt auch Demenzformen, die im Rahmen von anderen körperlichen Erkrankungen auftreten können, so genannte sekundäre Demenzen. Diese müssen ausgeschlossen werden, da durch die Behandlung der Grunderkrankung die Demenz rückläufig sein kann. Oberstes Gebot muss also das Erkennen der behandelbaren Demenzerkrankung sein. Das können beispielsweise Stoffwechselerkrankungen der Schilddrüse sein, Vergiftungen oder Missbrauch mit Medikamenten, Alkohol oder Drogen, Störungen des Salzhaushalts, Vitaminmangel-Erkrankungen, Hirntumore, Krampfanfälle, Normaldruckhydrocephalus, Blutergüsse im Gehirn, Gehirnentzündungen.

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Neben der Alzheimer-Demenz können auch andere so genannte degenerative Demenzen auftreten wie beispielsweise Demenz bei Morbus Parkinson. Ferner Demenz bei Morbus Pick (frontotemporale Demenz). Hier bestehen ausgeprägte Verhaltensänderungen mit Enthemmung, Impulsivität, vermehrtem Essen, Gefühlsverarmung sowie kognitive Störungen.

Verlauf der Alzheimer-Demenz Es werden das Vorstadium, das Anfangsstadium, das leichte Demenzstadium, das mittelschwere Demenzstadium und das schwere Demenzstadium unterschieden. Im Vorstadium kann es zum erschwerten Speichern neuer Informationen kommen. Es können Schwierigkeiten beim planvollen Handeln auftreten. Häufig benutzen die Patienten von sich aus Gedächtnisstützen oder Strategien zum Ausgleich dieser Schwierigkeiten. Die Auffälligkeiten zeigen sich meist nur bei komplexeren und komplizierteren Aufgaben. Orientierungsprobleme in neuen Situationen oder Wortfindungsstörungen können auftreten. Oftmals ziehen sich die Patienten zurück, vermeiden Anforderungssituationen, versuchen ihre Probleme zu verbergen. Stimmungsschwankungen können bereits einhergehen. Im Anfangsstadium sind die Beschwerden wenig auffallend. Leichte Gedächtnislücken, Wortfindungsstörungen oder Probleme bei der zeitlichen oder örtlichen Orientierung können auftreten. Kompliziertere Aufgaben bereiten bereits Probleme, insbesondere wenn mehrere Dinge gleichzeitig getan werden sollen. Entscheidungsschwierigkeiten, zeitliche Desorientierungen, Schlafstörungen, Müdigkeit, Stimmungsschwankungen sowie Schamgefühle und Ängste können auftreten. Für die Patienten ist es sehr schmerzhaft festzustellen, dass sie viele einfache Dinge nicht mehr richtig können. Sie versuchen dies zu verbergen oder vermeiden Situationen, in denen ihre Defizite zutage treten. Das frühe Demenzstadium ist durch Vergesslichkeit, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Orientierungsstörungen, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen und Stimmungsschwankungen gekennzeichnet. Meist ist aber die Alltagsbewältigung weitgehend unbeeinträchtigt.

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Im zweiten Stadium, der mittleren Phase, sind Beschwerden bereits so ausgeprägt, dass die selbstständige Alltagsbewältigung nur noch mit Einschränkungen möglich ist, und die Patienten auf Unterstützung von anderen Menschen angewiesen sind. Die Krankheit lässt sich nun nicht mehr verheimlichen. Es kommt zum Vergessen von Namen vertrauter Personen. Bei Alltagsverrichtungen wie Anziehen, Körperpflege, Einnahme von Mahlzeiten kommt es zu Problemen. Das Zeitgefühl ist verloren gegangen. Vergangenheit und Gegenwart werden nicht mehr scharf voneinander getrennt. Sinnestäuschungen können auftreten. Häufig haben die Patienten eine deutliche Unruhe, sie »wandern« umher. Die Kontrolle über Blase und Darm gelingt nicht mehr. Wenn auch die kognitiven Störungen sehr ausgeprägt sind, so bleibt die Gefühlswahrnehmung bei den Patienten noch erhalten. Das heißt, der Patient nimmt die Gefühle der anderen wahr, kann sich aber selbst nicht mehr sprachlich ausdrücken. Im dritten Stadium (schweres Demenzstadium) sind alle kognitiven Funktionen maximal beeinträchtigt. Die Sprache ist sehr reduziert auf wenige Wörter. Wünsche und Bedürfnisse können sprachlich nicht mehr mitgeteilt werden. Zur selbstständigen Lebensführung ist der Patient nicht mehr in der Lage. Er ist völlig auf die Hilfe und Betreuung durch seine Angehörigen oder andere Bezugspersonen angewiesen. Es können Krampfanfälle und Schluckstörungen auftreten, der Kontrollverlust über Blase und Mastdarm ist vollständig. Im Endstadium kommt es zum Verfall der körperlichen Kräfte. Bettlägerigkeit bringt die Gefahren von Infektionen, besonders Lungenentzündungen, und Druckgeschwüren mit sich. Die Lebenserwartung der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung ist verkürzt, als mittlere Lebenserwartungen nach Diagnosestellung sind noch weitere 5 bis 8 Jahre anzunehmen. Die häufigsten Todesursachen sind Herzinfarkt sowie Lungenentzündungen.

Risikofaktoren für die Alzheimer-Erkrankung Das Alter gilt als wichtigster Risikofaktor. Weitere statistisch erhobene Faktoren sind genetische Veranlagung, familiäre Belastungen, Schädelhirntraumen (Kopfverletzungen mit Bewusstlosigkeit),

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weibliches Geschlecht, Depressionen, erhöhte Blutfettwerte, geringe Schulbildung sowie Bluthochdruck.

Veränderungen im Gehirn bei der Alzheimer-Erkrankung Die wichtigste Veränderung im Gehirn bei der Alzheimer-Erkrankung ist die Abnahme der Gehirnmasse (Gehirnatrophie) durch Absterben von Hirnzellen. Es sind besonders die Nervenzellen betroffen, die Acetylcholin als Botenstoffe benutzen wie die des Stirnhirns, des Schläfenhirns, des Hippocampus und der Amygdala (Mandelkern). Es entsteht Acetylcholinmangel. Folgen sind unzureichendes Speicherungsvermögen des Gehirns und fehlende Abrufbarkeit von früher gespeicherten Informationen. Die Informationsübermittlung innerhalb des Nervenzellsystems wird immer schwächer oder gelingt nicht mehr. Im Gehirn finden sich krankhafteAblagerungen von Eiweißmolekülen, ferner Neurofibrillen (krankhafte Eiweißketten, die aus dem sog. Tauprotein bestehen).

Untersuchung Körperliche Untersuchungen (neurologische und internistische), neuropsychologische Testverfahren, ergänzende Blut- und Urinuntersuchungen sowie Seh- und Hörtest werden durchgeführt. Um Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Blutzuckererkrankung und Alkoholfolgeerkrankungen festzustellen, sind entsprechende weitere Untersuchungen nötig. Bildgebende Verfahren wie Computertomographie oder Kernspintomographie (MRT) werden durchgeführt sowie eine Liquoruntersuchung (Nervenwasseruntersuchung).

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Verdacht auf Demenz – Gespräch mit Betroffenen (Anamnese) – Fremdnamnese (Gespräch mit Angehörigen) – Kurztest zur Orientierung, z. B. MMST, Uhrentest Hirntumor? Normaldruckhydrocephalus? Hämatom? Entzündliche Prozesse? Schädel-Hirn-Traumen? Hirnblutung?

Demenzsyndrom Schilddrüsenerkrankung? Herzinsuffizienz? Nierenerkrankung? Lebererkrankung? B12-Mangel? B6-Mangel? Alkoholschäden? HIV? Diabetes mellitus? x Nein x Hinweise für vaskuläre Genese? x Nein x Depressionen? x Nein x Alzheimer-Demenz

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Demenz – Gemeinsam den Alltag bewältigen. Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Göttingen: Hogrefe, 2004, S. 38)

Therapie der Alzheimer-Erkrankung Eine ursächliche Behandlung gibt es noch nicht. Es gibt eine Reihe wirksamer Behandlungen, die das Ziel haben, die Lebensqualität der Erkrankten und deren pflegenden Angehörigen zu verbessern. Insbesondere sollen die verbliebenen Fähigkeiten der Patienten

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gefördert werden. Die Selbstbestimmung des Patienten soll möglichst lange erhalten werden. Die Vereinsamung sollte vermieden werden, der Patient soll aktiviert werden, ohne dass es zu Überforderung kommt. Seine kognitive Leistungsfähigkeit soll verbessert werden und die Angehörigen, die den Alzheimer-Patienten pflegen, sollen vor körperlicher oder psychischer Überforderung geschützt werden. Verschiedene Behandlungsansätze kommen zum Einsatz: – medikamentöse Behandlung der kognitiven Beeinträchtigungen mit Antidementiva, – medikamentöse Behandlung der Verhaltensauffälligkeiten mit Antipsychotika oder Antidepressiva, – medikamentöse Behandlung der begleitenden körperlichen Erkrankungen (z. B. Blutzuckerbehandlung, Bluthochdruckbehandlung), – zusätzliche psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen wie Verhaltenstherapie, Selbstständigkeits- und Selbsthilfetraining, Realitätsorientierungstraining, Gedächtnistraining, Bewegungstherapie. Diese können mit den Patienten direkt durchgeführt werden, während Beratung, Betreuung und gegebenenfalls auch Psychotherapie für die Angehörigen notwendig sind. Die medikamentöse Behandlung wird zum einen mit Cholinesterasehemmer durchgeführt wie beispielsweise Donepezil (Aricept®), Rivastigmin (Exelon®) oder Galantamin (Reminyl®). Andere Medikamente zur Behandlung der Demenz sind Ginkgo Biloba (Tebonin forte®), Memantine (Axura®, Ebixa®), Dihydroergotoxin (Dihydergot®), Nicergolin (Sermion®), Nimodipin (Nimotop®), Piracetam (Nootrop®, Normobrain®), Pyritinol (Encephabol®). Unter der medikamentösen Behandlung muss eine engmaschige Therapiekontrolle erfolgen, insbesondere um die Wirksamkeit regelmäßig zu überprüfen. Ob eine medikamentöse Behandlung der leichten kognitiven Störung empfehlenswert ist, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sicher sagen. Patienten mit leichter kognitiver Störung sollten in jedem Fall – mit oder ohne Medikamenteneinnahme – engmaschige Verlaufskontrollen erhalten. Die medikamentöse Therapie der vaskulären Demenz besteht

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in der Behandlung der Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Blutzuckererkrankungen und Fettstoffwechselstörungen. Medikamentöse Behandlung mit Einsatz von Antidementiva oder aber auch von Kalzium-Antagonisten wie Nimodipin zeigen günstige Wirkung. Eine wichtige Therapieoption ist die medikamentöse Behandlung der begleitenden Verhaltensauffälligkeiten, welche besonders für die betreuenden Angehörigen extrem belastend sein können. Wahnsymptome und depressive Verstimmungen treten bei Alzheimer-Patienten auf und sind für die Angehörigen sehr belastend. Medikamente kommen je nach Störungsbild zum Einsatz: Antipsychotika der 2. Generation bei unruhigem oder erregtem Verhalten, bei psychotischen Symptomen wie Wahn oder Sinnestäuschungen, bei Aggressionen und Wutausbrüchen sowie bei Schlafstörungen. Die Behandlung depressiver Verstimmungen kann mit Antidepressiva erfolgen. Bei Schlafstörungen können Zolpidem oder Zopiclon eingesetzt werden, Benzodiazepine können sich ungünstig auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken. Zusätzlich kann es zu paradoxen Reaktionen bei Einnahme von Benzodiazepinen kommen mit vermehrter Unruhe, verstärkter Ängstlichkeit und Verwirrtheit.

Lichttherapie Bei Auftreten von Schlafstörungen kann bei Alzheimer-Patienten die Lichttherapie eingesetzt werden. Sie hat besonders bei Alzheimer-Patienten mit einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus einen günstigen Effekt.

Psychotherapie Die Psychotherapie bei Alzheimer-Patienten versucht Ängste, Stimmungsschwankungen, Depressionen, Aggression, Hilflosigkeit sowie Antriebsstörungen und sozialen Rückzug entgegenzuwirken. Das Einbeziehen der pflegenden Angehörigen ist immer erforderlich. Insbesondere kann durch Verhaltenstherapie Einfluss genommen werden auf aggressive Verhaltensweisen, Unruhe und Weglauftendenzen sowie auf Ängste und Depressionen. Unterschiedliche spezifische Psychotherapien bei Demenzer-

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krankungen können hilfreich sein wie Selbsterhaltungstherapie und Milieutherapie, Validations-Konzept, Realitätsorientierung. Ergänzende Maßnahmen sind Ergotherapie, Kunst-, Musik-, Körper- und Bewegungstherapie. In der Verhaltenstherapie geht es insbesondere um den Aufbau von Alltagsaktivitäten, Förderung von noch vorhandenen sozialen Interessen und Fertigkeiten, Behandlung der Depressionen und der Harninkontinenz sowie Anwendung von kognitiven Techniken zur Verbesserung der Selbstkontrolle und gezielte Umweltstrukturierung. Unsinnig sind stures Anwenden von Gedächtnisübungen oder Übungsprogramme, die neue Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern. Gerade das Erlernen von neuen Inhalten kann der Demenzkranke nicht. Wichtige Unterstützungen sind ambulante, teilstationäre oder stationäre Maßnahmen sowie rehabilitative Maßnahmen. Ambulante Pflegedienste, psychosoziale Dienste, ambulante Trainingsangebote sowie teilstationäre Einrichtungen wie Tagesstätten, Tagespflegeeinrichtungen oder Tageskliniken können die pflegenden Angehörigen unterstützen und sie zeitweise entlasten, um sie vor eigener Erschöpfung zu bewahren. Stationäre Betreuungsmöglichkeiten wie Altenpflegeheime und gerontopsychiatrische Wohnheime sind Möglichkeiten der Betreuung für die Kranken, wenn die Kräfte der betreuenden Angehörigen erschöpft sind. Rehabilitationsprogramme bei Demenzkranken haben das Ziel, die Eigenständigkeit des Patienten möglichst lange zu erhalten, Unterstützungen und Erleichterungen bei der Pflege zu geben und verloren gegangene Fertigkeiten zu kompensieren. Wenn eine Entscheidung für eine Heimeinweisung erfolgen soll, so sollte auf Qualitätsmerkmale des Heims geachtet werden: Größe des Heims, Umgang des Pflegepersonals mit den Erkrankten, räumliche Ausstattung, behindertengerechte Zugänge, Bezugsbetreuersystem, Angebot an Tagesstrukturierung und Aktivitäten, regelmäßiges Angehörigentreffen, Gruppenangebote und möglichst konstante fachärztliche Versorgung.

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Beratung der Angehörigen Von Beginn an sollten die Angehörigen in die Beratung einbezogen werden. Sie müssen über die Demenzerkrankung informiert werden, um Verständnis für die Verhaltensweisen des Erkrankten zu entwickeln. Aber sie selbst brauchen Hilfe, um die aufreibende und nervenzehrende Pflege des Demenzkranken durchzuhalten. Unterstützung beim Stressmanagement, Entlastungsmöglichkeiten, Unterstützung bei der Suche nach Hilfsangeboten, sind wichtige Ziele der Psychoedukation von Angehörigen. Ist es bei den Angehörigen selbst zu einer psychischen Erschöpfung mit Ängsten oder Depressionen gekommen, so kann die Aufnahme einer Psychotherapie für sie selbst wichtig sein. Die Angehörigen müssen Raum und Zeit finden für die Trauerarbeit, für das langsame Abschiednehmen von einem ihnen lieb gewonnen Menschen. Unterstützung im Alltag, praktische Tipps im Umgang mit dem Alzheimer-Erkrankten, adäquate Gestaltung der Wohnsituation, Ausschaltung von Gefahrenquellen, all dies sind mögliche Inhalte von Angehörigenberatung und Psychoedukation. Wichtig ist, dass die pflegenden Angehörigen über die Verhaltensauffälligkeiten der Demenzkranken informiert sind. Zu vermeiden sind unnötige Diskussionen und Machtkämpfe. Über- und Unterforderung des Patienten führen zu zusätzlichen Frustrationen der pflegenden Angehörigen und zu möglichen Aggressionen der Patienten. Anregungen für Angehörige, wie sie die Selbstständigkeit des Patienten möglichst lange aufrechterhalten können, sind zu geben. Tipps für Angehörige sind beispielsweise: »– Achten Sie darauf, dass die Selbstständigkeit des Patienten möglichst lange erhalten bleibt. Nehmen Sie ihm nicht zuviel ab. Geben Sie ihm da Hilfestellungen, wo es nötig ist. – Achten Sie auf die regelmäßige Einnahme der verordneten Medikamente. – Achten Sie auf Körperpflege und Kleidung. Ein gut frisierter und hübsch angezogener Mensch fühlt sich wohler. – Versuchen Sie den Patienten bei praktischen Tätigkeiten einzu-

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beziehen (im Haushalt, bei der Gartenarbeit). Nehmen Sie gemeinsame Mahlzeiten ein. Halten Sie einen möglichst festen, sich wiederholenden Tagesablauf ein. Ein strukturierter Tagesablauf vermindert die Probleme, die durch Gedächtnisstörungen entstehen. Sorgen Sie dafür, dass der Patient ausreichend Bewegung hat (tägliche Spaziergänge). Sprechen Sie viel mit dem Patienten. Versuchen Sie einfach zu sprechen: klare, kurze Sätze. Nehmen Sie es dem Patienten nicht übel, wenn er Termine oder Ihren Namen vergisst. Versuchen Sie Diskussionen und Streitereien zu vermeiden. Führen Sie ihm nicht die Fehler vor Augen. Versuchen Sie nicht mit logischen Argumenten den Patienten zu überzeugen. Versuchen Sie, ihn eher abzulenken. Erwarten Sie keine Erklärungen von dem Patienten zu seinem Verhalten. Verzichten Sie auf frustrierende Gedächtnisübungen. Akzeptieren Sie, dass der Patient krank ist. Vorwürfe und Kritik nützen keinem. Versuchen Sie, die Gefühle des Patienten zu erkennen, die hinter scheinbaren unsinnigen Verhaltensweisen stehen. Beziehen Sie die Gefühlschwankungen der Patienten nicht auf sich. Versuchen Sie, den Patienten zu beruhigen. Suchen Sie nach Ursachen, wenn der Patient unruhig oder ängstlich ist. Vermeiden Sie Kritik und Überforderungssituationen. Denken Sie daran, dass die gefühlsmäßige (emotionale) Wahrnehmungsfähigkeit des Patienten erhalten bleibt. Achten Sie auf würdevollen Umgang mit Takt und Respekt. Körperkontakt, Streicheln, körperliche Nähe tut dem Erkrankten gut und kann Spannungen und Ängste abbauen. Wenn Ihnen der ›Geduldsfaden reißt‹ und Sie gereizt oder aggressiv reagieren, sorgen Sie für Entlastungen, entspannen Sie sich und verzeihen Sie sich. Seien Sie selbst gnädig mit sich.«

(aus: U. Schäfer, E. Rüther: Demenz – Gemeinsam den Alltag bewältigen. Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Göttingen: Hogrefe, 2004, S. 75f.)

Ganz praktische Tipps für den Alltag sollten ebenfalls den Angehörigen vermittelt werden, wie beispielsweise Hinweise für die an-

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gemessene Gestaltung der Wohnung und das Berücksichtigen von Sicherheitsaspekten. Über rechtliche Situationen und finanzielle Hilfen sollten die Angehörigen beraten werden. Je nach Eingruppierung der Pflegestufe sind häusliche Pflege, Kurzzeitpflege, teilstationäre Tagesund Nachtpflege, vollstationäre Pflege und Pflege in vollstationären Einrichtungen sowie Behindertenhilfen möglich. Über die rechtlichen Aspekte insbesondere über die Einrichtung einer Betreuung (z. B. für ärztliche Heilbehandlung, Bestimmung des Aufenthalts, zur Organisation ambulanter Hilfe, für Verwaltung des Vermögens und Organisation der Rentenangelegenheiten) sollte die Angehörigen ausführlich informiert werden.

Delir Unter einem Delir wird eine akut oder weniger akut auftretende Bewusstseinsstörung mit kognitiver Beeinträchtigung, gestörtem Schlaf-Wach-Rhythmus und vegetativen Symptomen verstanden. Missbrauch, Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten oder Drogen können ursächlich sein. Für das Delir typisch sind Unruhe, erhöhte Reizbarkeit, wechselnde Bewusstseinslage, kognitive Beeinträchtigung, Denkstörungen, Wahrnehmungsstörungen mit optischen Halluzinationen (Trugwahrnehmungen), Wahnideen, Störung des Schlaf-WachRhythmus, Alpträume, Gefühlsstörungen wie Depressionen, Angst, vegetative Störungen mit Herzrasen, Schwitzen, Blutdruckanstieg, Fieber und Zittern. Eine ausführliche Untersuchung ist immer erforderlich, meist ist eine Behandlung auf einer Intensivstation, insbesondere bei Vorliegen von Bewusstseinsstörungen, erforderlich. Delire kommen besonders bei Alkohol und Medikamenten vor, aber auch bei vielen internistischen Erkrankungen wie Elektrolytstörungen, Leberstoffwechselstörungen, Schilddrüsenstörungen, fieberhaften Infekten, Gehirnentzündungen, Herzerkrankungen, Schockzuständen. Eine intensiv-medizinische Behandlung ist erforderlich.

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Organisch-depressive Störung Depressive Beschwerden kommen bei organischen Erkrankungen wie beispielsweise bei der Demenzerkrankung, bei der ParkinsonErkrankung, nach Schlaganfällen, bei Krampfanfällen, nach Schädelhirnverletzungen, im Rahmen von Infekten, bei hormonellen Veränderungen sowie bei Erkrankungen der Niere, der Bauchspeicheldrüse und bei Autoimmunerkrankungen vor. Medikamentös ausgelöste depressive Symptome sind möglich nach Einnahme von Betablockern, Barbituraten, Benzodiazepinen sowie nach langjährigem Cannabismissbrauch. Entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems wie beispielsweise bei der Multiplen Sklerose können zu organisch bedingten manischen Symptomen führen. Die Behandlung besteht in der Behandlung der Grunderkrankung. Es können Antidepressiva eingesetzt werden bei depressiven Symptomen im Rahmen von organischen Erkrankungen.

Weitere organisch bedingte psychische Auffälligkeiten Wahnsyndrome, organisch bedingte Halluzinosen, organisch bedingte Angststörungen und organisch bedingte Persönlichkeitsstörungen können bei Drogen-, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch auftreten, ebenso bei Hirnerkrankungen wie Krampfanfällen (z. B. Temporallappen-Epilepsie), bei Tumoren, bei endokrinologischen Erkrankungen wie Schilddrüsenüber- oder -unterfunktion. Die jeweilige Behandlung der Grunderkrankung steht im Vordergrund. Bei Wahnsyndromen oder Halluzinosen können Antipsychotika zum Einsatz kommen. Infolge der hormonellen Umstellung kann es im Wochenbett zu einer so genannten postpartalen Psychose kommen. Psychotische Symptome oder depressive Störungen mit starken Stimmungsschwankungen, wahnhafte Erlebnisse sowie Auftreten von Trugwahrnehmungen machen meist eine stationäre psychiatrische Behandlung notwendig. Der Einsatz von Benzodiazepinen, Antidepressiva oder Antipsychotika ist dann meist erforderlich.

9. Tickt die alte Seele anders? Gerontopsychiatrische Probleme

Die häufigste psychische Erkrankung im höheren Lebensalter ist die Demenz. Das Alter gilt als der größte Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenz. Ferner kommen im höheren Lebensalter besonders depressive Symptome vor. Als Risikofaktoren gelten Durchblutungsstörungen des Gehirns. Weitere Risikofaktoren sind psychosoziale Faktoren wie Aufgabe der Berufstätigkeit, Vereinsamung (Tod des Partners und Freunde, räumliche Trennung von den anderen Familienangehörigen), finanzielle Einbußen durch Berentung, Beeinträchtigung der sozialen Kontakte durch Seh- oder Hörstörungen, Inkontinenz oder Auftreten mehrerer körperlicher Erkrankungen. Depressionen im Alter müssen gezielt mit Antidepressiva und mit begleitender Psychotherapie behandelt werden. In der Psychotherapie wird es um die Verarbeitung von Trauer gehen und Erlernen von Umgangsmöglichkeiten bei körperlichen Beeinträchtigungen. Wahnhafte Störungen sind im Alter häufig durch Seh- oder Hörstörungen bedingt. Entsprechender Einsatz von Hilfsmitteln ist dann erforderlich. Nach einschneidenden Lebensereignissen wie beispielsweise Betroffensein von schweren körperlichen Erkrankungen, nach Tod des Ehepartners oder auch nach Aufnahme in ein Altenheim, können Anpassungsstörungen mit depressiven Verstimmungen und Angst auftreten. Ältere Menschen sind nach einem Herzinfarkt besonders gefährdet, im weiteren Verlauf eine Depression zu entwickeln. Schlafsstörungen treten besonders im Alter auf. Die Schlafdauer und die Schlaftiefe nehmen im Alter ab. Ein- und Durchschlafstörungen kommen häufig bei Depressionen vor und sind von Schlafstörungen im Alter abzugrenzen. Chronische Schmerzen, wie sie beispielsweise bei der Polyarth-

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Tickt die Seele anders?

ritis, bei der Osteoporose oder bei anderen internistischen Erkrankungen auftreten, führen häufig zu depressiven Verstimmungen. Zusätzliche antidepressive Medikation kann gegeben werden. Medikamentenabhängigkeit, insbesondere Benzodiazepin-Abhängigkeit, kann im Alter auftreten. Zu unterscheiden ist hier, ob es sich um langjährige Abhängige handelt oder ob die Erkrankung nach dem 60. Lebensjahr aufgetreten ist. Vereinsamung, Isolation, chronische Erkrankungen, Schmerzen, Schlafstörungen und Ängste fördern eine Abhängigkeitsentwicklung. Die Selbsttötungsgefahr nimmt im Alter zu, Männer sind besonders betroffen. Als Ursache gelten Isolation, Vereinsamung, körperliche Gebrechlichkeit und das Vorhandensein von chronischen Erkrankungen. Sexualstörungen im Alter sind häufig durch Krankheiten bedingt wie beispielsweise Impotenz als Folge eines schlecht eingestellten Blutzuckers. Im Alter sind Beeinträchtigungen durch körperliche Erkrankungen wie Herzerkrankungen, erhöhter Blutdruck, Herzrhythmusstörungen und Durchblutungsstörungen häufig. Durchblutungsstörungen können zum Schlaganfall führen. Häufig entwickelt sich im Anschluss an einen Schlaganfall eine Depression, die zusätzlich behandelt werden muss. Antriebsmangel und Interessenlosigkeit können auch Folge von Schilddrüsenerkrankungen sein. Im Rahmen von Unterzuckerungen bei der Blutzuckererkrankung kann es zu Verwirrtheitszuständen oder zu ängstlich depressiven Verstimmungen kommen. Stürze nehmen in höherem Lebensalter zu. Sie können entweder Folge von Sehstörungen oder eingeschränkter Gehfähigkeit sein, sie können auch bei Durchblutungsstörungen auftreten oder nach einem Schlaganfall. Gangstörungen sind beim Morbus Parkinson und bei Morbus Alzheimer häufig. Stuhl- und Harninkontinenz erzeugen bei älteren Menschen vermehrte Ängste und Gefühl von Demütigung und führen zu sozialem Rückzug und Isolation. Untersuchungen sind durchzuführen, um behandelbare Inkontinenzformen zu erkennen und zu behandeln. Verhaltensmedizinische Behandlungen wie Zeitplan des Wasserlassens und Beckenbodengymnastik können eingesetzt werden.

Gerontopsychiatrische Probleme

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Bei der Behandlung von älteren Menschen mit Psychopharmaka ist darauf zu achten, dass die Verstoffwechselung der Psychopharmaka im Alter sich verändert. Da im Alter meist mehrere Krankheiten vorliegen und entsprechend verschiedene Medikamente zum Einsatz kommen, ist auf mögliche Wechselwirkungen der unterschiedlichen Medikamente zu achten. Bei der Gabe von Antidepressiva und Antipsychotika ist zu berücksichtigen, dass bei älteren Menschen meist geringere Dosen des jeweiligen Medikaments erforderlich sind.

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Multiple Sklerose Schäfer, U.; Kitze, B.; Poser, S. (2005). Multiple Sklerose – mehr wissen, besser verstehen. Alles über Diagnose, Verläufe und die besten Therapien für Sie. Stuttgart: TRIAS. Schäfer, U.; Kitze, B. (2006). MS-Tagebuch. Aktiv mit der Erkrankung umgehen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schizophrenie Kissling, W.; Pitschel-Walz, G. (2003). Mit Schizophrenie leben. Stuttgart: Schattauer. Schäfer, U.; Rüther, E. (2004). Schizophrenie. Eine Krankheit – kein Unwort. Ein Ratgeber. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag.

Schlafstörungen Dement, W. V.; Vauaghan, C. (2000). Der Schlaf und unsere Gesundheit. München: Limes. Friebel, V. (1997). Was tun bei Schlafstörungen? Stuttgart: TRIAS. Schäfer, U.; Rüther, E. (2004). Gut schlafen – fit am Tag: ein Traum? Ein Ratgeber bei Schlafstörungen. Göttingen: ABW Wissenschaftsverlag. Stiftung Warentest (2002). Wenn der Schlaf gestört ist.

Trauma Schäfer, U.; Sachsse, U.; Rüther, E. (2006). Hilfe und Selbsthilfe nach einem Trauma. Ein Ratgeber für seelisch schwer belastete Menschen und ihre Angehörigen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Schlafstörungen Hajak, G.; Rüther, E. (1995). Insomnie. Berlin: Springer.

Trauma Sachsse, U. (Hrsg.) (2004): Traumazentrierte Psychotherapie. Theorie, Klinik und Praxis Stuttgart: Schattauer.

Hilfreiche Ratgeber Ulrike Schäfer / Eckart Rüther / Ulrich Sachsse Borderline-Störungen Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige 2006. 118 Seiten mit 9 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46249-2 Dieser Ratgeber informiert auf leicht verständliche Weise grundlegend über die BorderlineErkrankung und bietet Hilfestellungen für Betroffene gleichermaßen wie für ihre Angehörigen.

Ulrike Schäfer / Eckart Rüther / Ulrich Sachsse Hilfe und Selbsthilfe nach einem Trauma Ein Ratgeber für seelisch schwer belastete Menschen und ihre Angehörigen 2006. 89 Seiten mit 6 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46250-8 Ein übersichtlicher Ratgeber für traumatisierte Menschen und ihre Angehörige, der die Auswirkungen eines Traumas erklärt und Wege zur Überwindung zeigt.

Ulrike Schäfer / Bernd Kitze MS-Tagebuch Aktiv mit der Erkrankung umgehen 2006. 60 Seiten mit 5 Abb. und 11 Tab., DIN A4, kartoniert ISBN 978-3-525-46255-3 MS-Kranke werden unterstützt im aktiven Umgang mit ihrer chronischen Erkrankung.

Ulrike Schäfer / Wolf-Dieter Gerber AD(H)S – Die AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Lehrer 2007. 125 Seiten mit 16 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46252-2 Effiziente Hilfe für Eltern und Lehrer von Zappelphilipp-Kindern.

Ulrike Schäfer / Eckart Rüther Psychopharmakotherapie Indikationen und Wirkweisen bei psychischen Störungen 2006. 150 Seiten mit 13 Abb. und 8 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46261-4 Das Buch bietet fundierte Informationen über den Einsatz von Psychopharmaka bei psychischen Erkrankungen. Es zeigt, dass sich Psychotherapie und Medikamente ergänzen können.

Ulrike Schäfer / Bernd Kitze Migräne und andere Kopfschmerzen Information und Anleitung zur Bewältigung 2007. Ca. 110 Seiten mit einigen Abb., kartoniert. ISBN 978-3-525-49111-9 Die Autoren dieses Ratgebers erklären das Phänomen, informieren über medikamentöse Behandlung und leiten zur Selbsthilfe an.