Heidelberger Hegel-Tage 1962: Vorträge und Dokumente [2 ed.]
 9783787330966, 9783787314973

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H e ge l - Studie n In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler

Beiheft 1

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der 2. Auflage von 1984, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1497-3 ISBN eBook: 978-3-7873-3096-6 ISSN: 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

H e ide l b e rge r H e g e l -Tag e 19 6 2 Vor tr ä g e u n d D o k u me n t e Herausgegeben von Hans-Georg Gadamer

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

INHALT

Philadelphia Zur Eröffnung der Heidelberger Hegel-Tage

RICHARD KRONER,

Berlin Anfang und Methode der Logik

DIETER HENRICH,

KARL-HEINZ VOLKMANN-SCHLUCK,

Köln

9

19

Die Entäußerung der Idee zur Natur

37

Jerusalem Objektive und subjektive Logik bei Hegel

45

Würzburg Hegels dialektische Methode

55

JAKOB FLEISCHMANN,

WERNER FLACH,

Urbana/Illinois Das Problem einer Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik. Unter besonderer Berücksichtigung der Logik Hegels . .

GOTTHARD GüNTHER,

65

Erlangen Das Problem einer Formalisierung der Hegelschen Logik. Korreferat zu dem Vortrag von G. Günther 125

PAUL LORENZEN,

Heidelberg Begriff und Realität . . .

JAN VAN DER MEULEN,

J. N.

London Hegel der Realist

131

FINDLAY,

KARL OTTO APEL,

,

.

141

Kiel

Reflexion und materielle Praxis. Zur erkenntnis-anthropologischen Begründung der Dialektik zwischen Hegel und Marx . 151 Tübingen Hegel und die Anamnesis

ERNST BLOCH,

BERNHARD LAKEBRINK,

167

pTeiburg

Freiheit und Notwendigkeit in Hegels Philosophie

181

Heidelberg Hegels Aufhebung der christlichen Religion

193

Bonn Die Claubensgrundlagen des Hegelschen Denkens

237

KARL LöWITH,

CARL GüNTHER SCHWEITZER,

Münster Die theologischen Voraussetzungen der Hegelschen Lehre vom Staat 239

GüNTHER ROHRMOSER,

Münster Zur Dialektik des Gewissens nach Hegel

HERMANN LüBBE,

247

Livio SICHIROLLO, Urbino Hegel und die griechische Welt. Nachleben der Antike und Entstehung der „Philosophie der Weltgeschichte" 263

Bonn Hegel und die griechische Tragödie

285

Paris Tradition et revolution

307

OTTO PöGGELER,

JEAN-FRAN90IS SUTER,

Bonn Philologische Aufgaben der Hegelforsdiung. Bemerkungen zur kommenden Hegel-Gesamtausgabe 327

FRIEDHELM NICOLIN,

HANS-GEORG GADAMER,

Nachbericht

Heidelberg

339

RICHARD KRONER (PHILADELPHIA)

ZUR ERÖFFNUNG DER HEIDELBERGER HEGEL-TAGE I. Revolution und Krieg haben die Wiedereroberung des Verständnisses Hegels, sowie die auf sorgfältiger Textkritik beruhende neue Ausgabe seiner Werke, einschließlich der von ihm nicht veröffentliditen Manuskripte und der durch fremde Zusätze nicht entstellten Vorlesungen, verzögert. Daher ist es für alle, die den großen Denker bewundern und sich ihm verpflichtet fühlen, eine beglückende Tatsache, daß heute, nach so vielen traurigen Ereignissen und bitteren Enttäuschungen, Gelehrte aus aller Welt den Mut gefunden haben, die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen und sich aufs neue zu diesem Zwecke zusammenzuschließen. Zwar ist der politische Himmel nach wie vor bewölkt und der Geist ist, um einen Ausdruck meines Heidelberger Lehrers Wilhelm WINDELBAND zu benützen, weiter so sehr „nach außen gezogen, daß er keine Freiheit und Muße findet, sich in seinem eigenen Innern zu sammeln und ein Heim zu bauen". Die uns umhüllende Weltnacht, deren Kommen Hegel prophetisch vorausfühlte, wie die Schlußworte seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie bekunden, verfinstert unseren Ausblick. Unsere Bedürfnisse verengen das Feld des spekulativen Denkens; sie hemmen den Flug des nach der reinen Wahrheit aufstrebenden Geistes. Um so wichtiger aber ist es, das Werk des gewaltigen Begriffsarchitekten, in dessen Namen wir hier versammelt sind, fleißig zu studieren, zu interpretieren, zu prüfen, zu überdenken, um uns womöglich seine Schätze zu eigen zu machen. Die Tiefe und die Macht der Hegelschen Weltschau muß jeder ernsthaft und gewissenhaft Lesende in sich erleben, selbst wenn er diese Schau und die Mittel ihrer Darstellung am Ende ablehnen sollte. Zeitentsprungen wie jedes System ist, zeigt das Hegelsche die Spuren begrenzter Verhältnisse und vorübergehender Interessen. Wir leben heute nicht mehr in der großen Epoche, in der Hegels Werke entstanden. Dennoch dürfen wir die Zuversicht hegen, daß der Wert dieser Werke unvergänglich bleibt, auch wenn ihre einmalige Gestalt von uns nicht übernommen werden kann. Es ist

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RICHARD KRONER

unvermeidlich, daß die Deutung der Lehre und selbst der Worte und Sätze im Getriebe politischer oder religiöser Leidenschaften und in den Kämpfen sozialer oder wirtschaftlicher Parteien hin und her schwankt. Was ich soeben die Weltschau Hegels genannt habe, und was man auch die Gottesschau nennen mag, wird dennoch allen Stürmen der Weltgeschichte, allen Einseitigkeiten der jeweils gegenwärtigen Schulen und Richtungen standhalten und immer wieder die Aufmerksamkeit der Nachkommen auf sich lenken und ihre Bewunderung erregen. Der feste Glaube, der als solcher schwer oder gar nicht faßbar, dem System zu Grunde liegt, wird immer von neuem Suchenden und Strebenden Mut einflößen und sie anstacheln, allem Zweifel und aller Verzweiflung zu widerstehen. Selbst wenn die nächsten Jahrhunderte, wie manche fürchten, einen allgemeinen Niedergang mit sich bringen sollten, selbst wenn, wie manche Anzeichen vorauszusagen scheinen, die abendländische Kultur völlig zusammenbrechen sollte, wie einst die antike Kultur zusammengebrochen ist, so werden doch die Gedanken Hegels, die SCHELLING einmal „gleichsam zeitlos" genannt hat, solche Katastrophe überleben; wie die Dialoge PLATONS und die Aristotelischen Schriften aus der Asche des Altertums durch Araber und Byzantiner hinübergerettet wurden in eine neue Zeit, so werden auch Hegels Werke wiedererweckt werden und weiterwirken. Wir dürfen nicht vergessen, daß es die Schüler und Erklärer, die Herausgeber und Übersetzer waren, denen wir die Erhaltung der antiken Klassiker und den Zugang zum Verständnis ihrer Werke verdanken. Diese Erwägung kann uns, die wir um die Erhaltung und Deutung der Hegelschen Lehre bemüht sind, anfeuern, unsere Arbeit fortzusetzen; sie kann die heutigen und künftigen Mitglieder der zu gründenden Vereinigung mit dem Vertrauen erfüllen, ohne welches sie ihre oft entsagungsvolle Arbeit nicht leisten könnten. II. Ich bin gebeten worden, in meiner Ansprache der Zeit zu gedenken, in welcher die Erneuerung des Hegelianismus von WINDELBAND hier in Heidelberg verkündigt wurde. Während in Italien und in England die Wirkung Hegels im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts ständig im Zunehmen war, ließ sie in Deutschland im Gegenteil ständig nach, so daß Männer wie der sogenannte alte LASSON, der Hegelianer geblieben war, kaum noch ernst genommen wurden. Es war indessen kein Zufall, daß gerade hier in Heidel-

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berg eine Erneuerung des Hegelianismus stattfand, da Hegel hier gelehrt hatte und die Erinnerung an seine Tätigkeit niemals erloschen war. Einer der glänzendsten Lehrer an der Universität Heidelberg, Kuno FISCHER, hielt sie 30 Jahre lang lebendig. Er war noch ganz in der Tradition Hegels aufgewachsen. In seiner Jugend hatte er seine metaphysische Logik geschrieben in enger Anlehnung an diejenige Hegels. Und diese ursprüngliche Richtung war auch in seinen großen Geschichtswerken deutlich zu spüren. Ich hatte das Glück, ihn noch auf dem Katheder zu sehen und seine eindrucksvolle, etwas kategorisch, ja sogar diktatorisch klingende Stimme zu hören, als ich im Sommer 1903 hier studierte. Seine starke Persönlichkeit war noch von dem Geisterhauche der großen deutschen Philosophie umwittert. „Ich bin kein Genie", pflegte er zu sagen, „aber ich bin kongenial." Und dies war keine leere Phrase, er war wirklich fähig, sich in die innere Seele der Philosophen zu versetzen, deren Gedankengebäude er mit großer Kunst in seinem Vortrage vor den Hörer hinstellte. Kuno FISCHER hatte ein ausgesprochen schauspielerisches Talent. Wenn er hier in dieser Aula über GOETHES Faust sprach, so deklamierte er fast den ganzen ersten Teil, und ich erinnere mich lebhaft, wie die Studenten sich vor lachen kaum halten konnten, wenn er Frau Marthe Schwertlein sprechen ließ, sie sozusagen personifizierte. Aber auch die Denker selbst wurden von ihm nicht als historisch ferne Gestalten reproduziert, vielmehr übernahm er ihre Rolle und verteidigte ihre Standpunkte mit solchem Feuer und solcher Überzeugtheit, als ob ein jeder von ihnen die absolute und endgültige Wahrheit gefunden hätte. Diese ungemein fesselnde Art, die Geschichte der Philosophie sozusagen in Szene zu setzen, war wohl ein Erbe der klassischen deutschen Epoche und entsprach ganz der Auffassung Hegels, wonach jedes philosophische System wahr ist als der Ausdruck seiner Zeit, die sich in ihm reflektiert. In der Phänomenologie hat Hegel diese Idee am großartigsten verwirklicht, indem er die in der Geschichte aufgetretenen Gestalten des Bewußtseins gewissermaßen dramatisierte, um sie in ihrer inneren Folge als notwendig zu verstehen. Die Hegelsche Dialektik ist nicht nur dem Ursprünge des Wortes gemäß dialogisch, sondern sie stellt das Zwiegespräch des mit sich selbst streitenden Geistes dar. Dieser monologische Dialog ist nicht nur das Wesen des Denkens überhaupt, sondern er ist nadi Hegel auch das Wesen des geschichtlichen Lebens, weil dieses das Leben des in sich entzweiten und nach seiner Selbstversöhnung trachtenden universalen Geistes ist. Diese individuell-universelle Bedeutung und metaphysischdramatische Lebendigkeit der Hegelschen Dialektik kann man am besten aus der Phänomenologie des Geistes ersehen. Wie Otto PöGGELER mit Recht

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RICHARD KRONER

bemerkt hat, denkt Hegel in diesem Werk nur in „Gestalten". Vielleicht stand Hegel damals mehr als später unter dem unmittelbaren Einfluß dichterischer Auffassung, wie die bemerkenswerte Berufung auf Dramen von SOPHOKLES und SHAKESPEARE, von DIDEROT, SCHILLER und GOETHE darzutun scheint. Kuno FISCHER war, als ich ihn vor etwa 60 Jahren anhörte, bereits ein alter Mann, und seine Art zu philosophieren erschien mir als recht veraltet. Sein Hegelianismus hätte mich kaum zu Hegel geführt, wenn nicht auch andere Kräfte mich in diese Bahn gezogen hätten. Die bloß logisch-erkenntnistheoretische Arbeit, so wichtig sie uns erschien, war doch schon damals nicht mehr völlig befriedigend für uns Studenten. Was wir eigentlich von der Philosophie erwarteten, und wonach wir uns am stärksten sehnten, war die Beantwortung der metaphysischen Fragen. Wir hatten die spöttischen Worte NIETZSCHES gelesen, in welchen er eine Philosophie, die auf Erkenntnistheorie reduziert ist und sich selbst damit den Eintritt in das Innere der Wahrheit verbietet, eine Agonie des Denkens nennt. Auch hatte WINDELBANDS ironische Bemerkung über die Philosophen, die immer bloß die Messer schärfen, aber niemals mit ihnen schneiden, eine tiefe Wirkung auf uns ausgeübt und unser eigenes Verlangen nach metaphysischer Einsicht unterstützt. Zwar trat diese Tendenz zuerst nur schüchtern hervor, da die Ehrfurcht vor KANT und der herrschende Kantianismus uns im Zaume hielt, dennoch brach hier und da die geheime Neigung durch, weshalb die im Jahre 1907 erschienene, von Friedrich BRUNSTäD verfaßte geistvolle Einleitung zur Reclamausgabe der Hegelschen Philosophie der Weltgeschichte von uns mit Freuden gelesen wurde. Auch die im selben Jahre von Herman NOHL veröffentlichten Hegelschen Jugendschriften wurden von uns Jüngeren mit Jubel begrüßt und aufs eifrigste studiert.

III. In diesem Zusammenhänge darf ich vielleicht von einem persönlichen Erlebnis berichten, das mit Heidelberg und mit dem erwachenden Hegelverständnis verknüpft ist und die damalige philosophische Situation beleuchtet. Im Jahre 1908 fand hier der III. Internationale Kongreß für Philosophie statt. Ich hatte für ihn einen Vortrag angemeldet, der den Titel trug Kritizismus und erkenntnistheoretische Resignation. In ihm suchte ich zu zeigen, daß die Ideenlehre in der Kritik der reinen Vernunft, richtig verstanden.

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den Rahmen der bloßen Verneinung einer spekulativen Metaphysik sowie den einer bloßen regulativen Methodenlehre der empirischen Wissenschaft sprenge. Über die aus dieser Einsicht zu ziehenden Folgerungen äußerte ich mich jedoch sehr zurückhaltend, da sie mir nur sehr unklar vorschwebten, ln der auf den Vortrag folgenden Diskussion ergriff Julius EBBINGHAUS das Wort und behauptete mit der größten Entschiedenheit, ja mit wahrer Leidenschaftlichkeit und stürmischer Erregtheit, daß der kritische Idealismus KANTS unfähig sei, die erkenntnistheoretische Resignation zu überwinden, und daß allein der absolute Idealismus, wie er in und durch Hegel erreicht worden sei, eine solche Überwindung wahrhaft vollbringen könne. Seine mit beinahe atemloser Schnelligkeit hervorgesprudelten Argumente rissen mit sich fort; da ich ihnen jedoch nicht genügend folgen konnte, um ihnen entgegenzutreten oder mich mit ihnen einverstanden zu erklären, so zog ich es vor, auf eine Antwort zu verzichten, was der Leiter der Diskussion mit einigem Befremden zur Kenntnis nahm. Der Eindruck dieses beschämenden Versagens brennt noch heute in mir, wenn er auch durch die Tatsache einigermaßen gemildert ist, daß EBBINGHAUS selbst sich später zur Kantischen Philosophie zurückgewendet hat. Die unmittelbare Wirkung dieses Erlebnisses auf mich war eine verstärkte Beschäftigung mit der Entwicklung des deutschen Idealismus. Ich wollte nunmehr durch ein genaues Studium der Nachfolger KANTS ausfindigmachen, ob, in welcher Weise und mit welchem Erfolge sie die antimetaphysische Gesinnung KANTS überwunden hätten. WINDELBAND, bei dem EBBINGHAUS damals seine Doktorarbeit über Relativen und Absoluten Idealismus schrieb, ist wohl nicht zum geringsten Teile durch die Hegelbegeisterung seines hochbegabten Schülers dazu geführt worden, an eine Erneuerung des Hegelianismus zu glauben. Jedenfalls hielt er dann im Jahre 1910 jenen Vortrag in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, in welchem er die Gründe darlegte, die dazu geführt hatten, Hegel mit neuem Eifer zu lesen und von ihm zu lernen. Seit dem Erscheinen der Sitzungsberichte, in welchen der Vortrag veröffentlicht wurde, war die Hegelrenaissance eine in der akademischen Welt unbezweifelte Tatsache. WINDELBAND warnte freilich auch in seiner Rede vor einer Nachahmung der unkritischen und unannehmbaren Züge des ehemaligen Hegelianismus. Er selbst war von der um die Mitte des 19ten Jahrhunderts einsetzenden Welle des Neukantianismus getragen. Aber er vertrat, wie sein Vortrag beweist und wie auch seine eigene Deutung KANTS zeigt, die kritische Philosophie nicht nur in dem engen Sinne einer erkenntnistheoretischen Gnmdlegung der mathematischen Physik, wie dies der Marburger Kantianismus

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tat, sondern strebte nach einem die gesamte Fülle der geschichtlichen Kultur umfassenden System, welches er als ein System übergeschichtlich geltender absoluter Werte verstand. Er folgte nicht so sehr dem, was KANT den Schulbegriff der Philosophie genannt hat, sondern wollte das von KANT als Weltbegriff bezeichnete Ideal des Begreifens verwirklichen. Diese Zielsetzung führte ihn über KANT hinaus in die von FICHTE eingeschlagene und von Hegel bis zur letzten Konsequenz verfolgte Richtung. Dies meint das von ihm geprägte Wort: „KANT verstehen heißt über ihn hinausgehen"; wenn er gelegentlich sagte, er sei ein „gebildeter" Kantianer, so weist auch diese Äußerung darauf hin, daß er die großen Nachfolger KANTS wohl zu schätzen wußte.

IV. Von diesen rückwärts gewandten Betrachtungen und Erinnerungen lassen Sie mich zur Gegenwart übergehen und einen Blick auf ihre Aufgaben, Sorgen und Ziele werfen. Die heutige Hegeldeutung steht, soweit ich sehe, vor zwei Problemkreisen. Einmal sucht sie ein Verständnis für das Verhältnis von System und Geschichte und weiterhin für dasjenige von Gott und Mensch. Diese beiden Kreise waren, wie wir aus den Jugendschriften wissen, in Hegels Geiste von Anfang an innigst verschlungen. Hegels Entwicklung war nicht so sprunghaft und verwegen wie diejenige SCHELLINGS. Vielmehr ging er vorsichtig abwägend und langsam vorwärtsschreitend, bis er sich sicher genug fühlte, einen eigenen Standpunkt zu behaupten. Der um fünf Jahre ältere blieb daher lange Zeit scheinbar hinter seinem Tübinger Kommilitonen zurück, ja in dessen Schlepptau. Er hielt an den religiösen Überzeugungen seiner Jugend treuer fest als der zu Abenteuern aufgelegte Freund. Das Verhältnis von System und Geschichte war für ihn abhängig von demjenigen von Gott und Mensch. Zwar versuchte er in das Verständnis der religiösen Dokumente durch geschichtliche Einfühlung in ihr Entstehen einzudringen, zugleich aber ihren Gehalt und Sinn philosophisch zu ergründen. Auf solche Weise näherte er sich schrittweise einer systematisch-spekulativen Anschauung. Die religiöse, die historische und metaphysiche Betrachtungsweise waren in seinem Denken unzertrennlich verbunden. Für uns Nachgeborene ist es schwer, diese Fülle und Weite des Hegelschen Geistes zu umspannen. Wir buchstabieren das System, voll Verwunderung, daß Hegel ohne Skrupel und Bedenken das Auseinanderstrebende

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mit leichtem Griff zusammenzuhalten vermochte. Freilich bekennt er oft genug, daß die Arbeit des Begriffs schwer und hart ist; und wenn wir die Züge seines Gesichtes prüfen, können wir diese Schwere und Härte deutlich in ihnen erkennen. Dennoch war es die Gesamtvision, die ihm erlaubte, durch alle die Irrgänge der Geschichte, durch alle die Mysterien des Glaubens, durch alle die Widersprüche des Denkens sich seinen Weg vorwärts und aufwärts zu bahnen und bis zum steilen Gipfel der Versöhnung emporzuklimmen. Und es ist der Mangel einer solchen Vision, welcher uns Heutige am vollen Verständnis der Hegelschen Philosophie hindert und uns in entgegengesetzte Interpretationen auseinandertreibt. Wenn wir das jetzige Trümmerfeld der Philosophie überschauen, so können wir als äußerste Extreme der Hegelauffassung diejenige der Marxisten und diejenige der Lutheraner unterscheiden, in denen sich die sogenannte Linke und Rechte der bald nach Hegels Tode sich bildenden historischen Fronten wiederholen. Die Marxisten suchen das religiöse Element, welches unbezweifelbar in Hegels System eine fundamentale Rolle spielt, als überlebt und phantastisch auszurotten, während die Lutheraner gerade alles Gewicht auf diese religiöse Wurzel des Hegelschen Denkens legen. Zwischen diesen Extremen gibt es keine Vermittlung, es sei denn diejenige welche wir in dem ursprünglichen dialektischen Systeme finden. Die einseitig gegenübergestellten Extreme verfehlen durch ihre Einseitigkeit die dem Systeme eigentümliche synthetische Kraft der Zusammenschau und die dialektische Begriffskunst, welche die Gegensätze überhöht und ihre Einseitigkeit überwindet. Eine dritte Deutungsmöglichkeit ist diejenige des Existentialismus. Zwar wird von vielen Seiten bestritten, daß Hegels Denken einen existentiellen Charakter trage, und diese radikale Negation ist durch KIERKEGAARDS heftigen Angriff auf das System gleichsam sanktioniert. Und freilich wäre es unrichtig oder zum wenigsten übertrieben in Hegel die von KIERKEGAARD und vielen seiner Nachfolger so übermäßig betonte individualistische und subjektivistische Perspektive wiederfinden zu wollen. Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß Hegel in der Phänomenologie seine höchst eigenen geistigen Erfahrungen zur Richtschnur der dialektischen Entwicklung gemacht, daß er in ihr, wie er selbst gesagt hat, seine „Entdeckungsreise" beschrieben hat. In diesem Sinne ist sie allerdings das erste existentielle Dokument des 19ten Jahrhunderts, das wir besitzen, und der Hegelianisch geschulte KIERKEGAARD konnte nur deshalb seine existentielle Philosophie schaffen, weil er durch dieses Buch den entscheidenden Impuls seines Denkens erfahren hatte.

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Alle diese Deutungsmöglichkeiten und unzählige andere, die sich zwischen sie einschieben ließen, sind unzweifelhaft in ihrem Keime bereits in der ungeheuer weitmaschigen und dialektisch versponnenen Urschrift des Systems mehr oder weniger deutlich nachzuweisen, aber sie alle sind einseitig und führen deshalb zu falschen Resultaten, wenn sie mit dem Ansprüche auftreten, den wahren und einzigen Hegel zu porträtieren. Wenn man dem Genius, der in ihm lebte und wirkte, gerecht werden will, so muß man immer des Satzes eingedenk bleiben: „Das Wahre ist das Ganze." NIETZSCHE sagt einmal, daß ein Philosoph immer mehr bedeute als seine Philosophie, da in seiner Persönlichkeit immer latent viele Systeme liegen, von denen er nur eines verwirklicht. Die Vielzahl der Interpretationen großer Systeme wie desjenigen PLATONS oder auch des Aristotelischen im Laufe der Zeiten gibt dieser aphoristischen Bemerkung NIETZSCHES recht. Danach wäre auch Hegel als Persönlichkeit mehr als sein System. Allein es darf nicht als eine bloße Zufälligkeit oder Willkür angesehen werden, daß der Philosoph gerade dieses eine System aus der Fülle der möglichen verwirklicht. Hegel war darin von besonderer Größe, daß er alle in seiner Persönlichkeit existierenden Sichten zusammenzuschauen und sie in geordnetem Zusammenhänge auseinanderzufalten vermochte. Darin liegt wenigstens zum Teil das, was Hutchison STIRLING das Geheimnis Hegels genannt hat. Es war die dialektische Methode, welche ihm erlaubte, diese Aufgabe zu lösen. Wir können es mit ruhiger Gewißheit aussprechen, daß Hegel sowohl die Marxistische wie die Lutheranische und die Kierkegaardische Kritik und Interpretation seiner Philosophie abgelehnt hätte. Aber wir dürfen es uns auch nicht verhehlen, daß diese drei sich gegenseitig aus schließenden Versionen aus seinem Systeme nicht hätten entspringen können, wenn sie nicht gewissen Seiten desselben entsprächen. Gerade deshalb irren sich alle diejenigen, welche eine von diesen Seiten als die allein herrschende heraussteilen wollen. Hegel war kein atheistischer Historist wie MARX ; das Lutherische Element war stark in seinem Denken, ja es war in einem bestimmten Sinne das Fundament. Dennoch ist es unerlaubt, sein spekulativ-dialektisches System für identisch mit der Lutherischen Theologie zu erklären, gewissermaßen als die in dieser Theologie verborgene und mit ihr völlig in Einklang befindlich Metaphysik. Ich wage zu behaupten, daß LUTHER selbst sich eine solche Interpretation ernstlich verbeten hätte, da er jeder metaphysischen Auslegung der Glaubensinhalte äußerst abhold war und der Überzeugung huldigte, daß der lebendige Gott der Bibel aller logischen Erklärung oder Systematisierung spotte. Hegel im Gegenteil war von dem

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unerschütterlichen Vertrauen beseelt, daß Philosophie und Theologie zuletzt identisch wären, daß sich der Glaubensinhalt begrifflich erfassen ließe; freilich verstand Hegel den Begriff in einer dialektischen Tiefe wie kein Denker vor ihm. Ja, er glaubte sogar und sprach es aus, daß nur der spekulative Begriff fähig sei, die Mysterien der Offenbarung adäquat auszudrücken, eine These, die LUTHERS Zorn und Entsetzen hervorgerufen hätte. V. Zum Schluß möchte ich noch darauf hinweisen, daß meiner Ansicht nach die künftige Forschung und Deutung mehr als bisher auf die Tatsache wird achten müssen, daß Hegel sich, jedenfalls bis zur Niederschrift der Enzyklopädie, ebenso stark gewandelt hat wie etwa PLATON oder KANT sich im Laufe ihres Lebens gewandelt haben. Die Jugendschriften haben uns bereits das Bild eines Hegel gezeigt, das sehr wesentlich von demjenigen abweicht, welches der „Verein der Freunde" in seiner Gesamtausgabe gezeichnet hatte. Unterdessen hat mein ehemaliger Schüler HOFFMEISTER in peinlicher und gewissenhafter Arbeit uns den Jenaer Hegel vor der Abfassung der Phänomenologie herausgestellt. Zwischen diesen beiden Hegelgestalten steht der uns aus den berühmten Aufsätzen bekannte frühe Jenaer Hegel. Ferner haben wir den Rektor des Nürnberger Gymnasiums, der die wichtigen Schulreden daselbst gehalten und in seinen Klassen die Philosophische Propädeutik unterrichtet hat, die zwar teilweise an die Phänomenologie anknüpft, aber doch auch zur Enzyklopädie hinüberführt, und der in seinen Mußestunden noch Kraft und Zeit fand, die große Logik zu komponieren. Und danach haben wir den Heidelberger Hegel, der jene leidenschaftlich entworfene Einleitungsrede an die Hörer hielt und ihnen als Textbuch zu seinen Vorlesungen die Enzyklopädie vorlegte. Endlich haben wir den Berliner Hegel, der die großen noch unzureichend redigierten Vorlesungen über die einzelnen Teile der Geistesphilosophie vortrug, der die so oft falsch verstandene Rechts- und Staatsphilosophie veröffentlichte, und der neben all dieser Tätigkeit noch jene großartigen Rezensionen niederschrieb, die an die Jugendkraft seiner ersten Jahre und an die Genialität der Phänomenologie gemahnen. Es wird die Aufgabe der künftigen Hegelgelehrten sein, noch viel eindringlicher als bisher den Charakter all dieser Werke gegeneinander abzugrenzen. Dadurch daß Hegel weder die Jugendschriften noch die Jenaer Systementwürfe noch die Berliner Vorlesungen je veröffentlicht hat, ist der

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RICHARD KRONER

Eindruck eines mit sich immer in Harmonie lebenden und von Anfang bis zu Ende ein und dieselbe Lehre Vortragenden, eines gleichsam statuarisch wie aus Marmor gemeißelten Mannes entstanden. Das Gegenteil ist wahr. Hegel ist durch furchtbare innere Kämpfe, durch schwerste Erschütterungen und Krisen, durch wechselvolle Perioden des Denkens hindurchgegangen, die wir auf seinem Gesicht eingeschrieben lesen können, die wir aber auch an plötzlich hervorbrechenden, leidenschaftlichen Äußerungen besonders aus der Jenaer Zeit beobachten können. Später bemühte er sich erfolgreich, nach außen hin vollständige Ruhe und Sicherheit an den Tag zu legen. Dies ist nicht nur biographisch interessant und wichtig, es ist auch ein Fingerzeig für die Gesamtdeutung seiner Leistung. Die Vorstellung von einer unfehlbaren Methode, die bloß angewandt zu werden braucht, um unumstößliche Resultate zu ergeben, ist völlig verfehlt. Sie widerspricht der vulkanisch eruptiven Natur des Mannes, die wir am deutlichsten in der Vorrede zur Phänomenologie erkennen können. Ich kann hier nicht versuchen, die verschiedenen Phasen der Hegelschen Philosophie zu kennzeichnen. Ich will auch nicht an die schwerwiegende Frage rühren, welcher Hegel uns im jetzigen Augenblicke am meisten anspricht oder welcher uns am besten zu belehren vermag. Aber ich darf der Hoffnung Ausdruck verleihen, daß die Neugründung einer Vereinigung der Hegelforscher dazu beitragen werde, die in Hegels Persönlichkeit und in seinem Werke verborgenen Rätsel weiter aufzuhellen. Mögen die Männer der neuen Generation, die sich vor diese Aufgabe gestellt sehen, der warnenden Stimme eingedenk bleiben, die uns aus der Vorrede zur Phänomenologie zuruft: „Das Leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das Schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen."

DIETER HENRICH (BERLIN)

ANFANG UND METHODE DER LOGIK Ein Kommentar zu Hegels Logik, der mit den Werken von COENFORD, Ross, VAIHINGER und PATON ZU vergleichen wäre, ist bisher nicht geschrieben worden. Selbst Hegels eigene Schule hat keinen Versuch unternommen, die Ableitungen von spekulativen Gedankenbestimmungen in diesem Werk im Einzelnen zu analysieren. In einer Weise, die auch heute durchaus noch vorherrscht, hat sie sich darauf beschränkt, den Gang des Ganzen ins Auge zu fassen, Hegels Thesen zu variieren und sie durch Rückverweisungen und Vorblicke einleuchtender zu machen. Alternativen für die Interpretation schwieriger Textstücke, unter denen mit Gründen entschieden werden könnte, wurden nirgends entwickelt. Daraus ergibt sich zum einen, daß der Spielraum, der mit einem solchen Verfahren der Impression des Verstehenden eingeräumt wird, sehr groß ist, zum anderen, daß die Argumente der Kritiker keinen hinreichend bestimmten Ansatzpunkt finden und deshalb gezwungen sind, sich ebenso wie die Interpretation allein dem Ganzen des Systems zuzuwenden. Hegelinterpretation und Hegelkritik können auf diese Weise kaum in ein fruchtbares Verhältnis zueinander kommen. Die einzige Ausnahme in dieser Bilanz ist die Diskussion über den Anfang der Wissenschaft der Logik und über die Entwicklung ihrer drei ersten Kategorien. Schon zu Hegels Lebzeiten gerieten seine Schüler mit seinen Gegnern in einen Streit über die Frage, welches der Sinn der befremdlichen Rede sei, daß das Sein, als unbestimmte Unmittelbarkeit, ebenso als Nichts gedacht werden müsse und daß beide, insofern sie jeweils in ihrem Gegenteil verschwinden, ihre Wahrheit im Gedanken des Werdens haben. Nun scheint es zunächst, daß die Schwierigkeiten, diesen Anfang zu verstehen, gering sind im Vergleich mit jenen, die sich aus späteren Deduktionen ergeben, vor allem aus denen der Logik der Reflexionsbestimmungen. Sie scheint des Kommentars ungleich bedürftiger zu sein, weil sie,?ehr viel höhere Anforderungen an das Abstraktionsvermögen stellt. Wer sie

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DIETER HENRICH

verstanden hat, könnte wohl zu der Meinung geneigt sein, die Logik des Anfangs sei elementar und im Formalen wenig problematisch. Das besondere Interesse gerade für diesen Anfang wird ihm dann als ein Anzeichen mangelnder Vertrautheit mit Hegels Logik und einer archaischen Entwicklungsstufe ihrer Interpretation erscheinen. Dieser Anschein besteht nicht zu Unrecht. Er entspricht aber doch nicht der Problematik der Logik in ihrem ganzen Umfang. Es trifft zu, daß die Logik der Reflexion wegen der eigentümlichen Verschränkung aller ihrer Bestimmungen nur sehr schwer lösbare Interpretationsaufgaben stellt. Hegel selbst hat sie den schwersten Teil der Logik genannt.' Der Anfang der Logik enthält aber Schwierigkeiten von ganz anderer und in gewissem Sinne von entgegengesetzter Art. Sie ergeben sich gerade aus dem unvermittelten Übergang von Sein zu Nichts und aus der lapidaren Kürze, in der er vollzogen wird. Es ist nicht leicht, die Natur dieses Übergangs richtig zu fassen und die Mittel zu verstehen, mit denen Hegel ihn begründet hat. Nur deshalb war es auch möglich, gerade gegen ihn eine bemerkenswerte Anzahl scheinba| plausibler Einwände vorzubringen, durch die Hegels konservative Scaler in keine geringere Verlegenheit gesetzt worden sind. Aber nicht nur die besondere Struktur, sondern auch die ausgezeichnete methodische Bedeutung des ersten Kapitels der Logik rechtfertigen das Interesse, das die Schule Hegels — aus welchen Gründen immer — gerade für es gezeigt hat. Die Reflexionslogik ist nämlich einer immanenten Deutung fähig. Die Logik des reinen Seins kann aber nur verstanden werden, wenn man auf mehrere Lehrstücke eingeht, die in ganz anderem Zusammenhang ihre Stelle haben. Die Interpretation des Anfangs kann deshalb auch nur gelingen, wenn man den Gesamtzusammenhang und die Methode der Entwicklung reiner Gedankenbestimmungen überschaut und sich nicht auf die bekannte These von der rückläufigen Begründung des Anfangs aus dem Schluß der Logik beschränkt. Im Folgenden soll gezeigt werden, in welchem Sinne dies der Fall ist. Das soll in zwei Gängen geschehen. Der erste von ihnen behandelt die verschiedenen Formen von Kritik, die an Hegels Lehre von der Einheit von Sein und Nichts geübt worden ist. Er bereitet den zweiten vor, der versucht, den Sinn jener Lehre und der Argumente, die Hegel zu ihrer Begründung gegeben hat, genauer zu bestimmen.^ Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. § 114. * In dem folgenden ersten Beitrag zu einem Logikkommentar, der noch geschrieben werden muß, ist nur die Literatur des 19. Jahrhunderts berücksichtigt. Nicht nur der

Anfang und Methode der Logik

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I. Man muß zwei Grundgestalten der Kritik am Anfang der Logik unterscheiden. Die eine will sich auf den Standpunkt Hegels stellen und zeigen, daß von ihm aus kein Fortschritt des Gedankens möglich ist, im besonderen nicht zur Einheit von Sein und Nichts. Sie hat zuletzt den Nachweis zum Ziel, daß die spekulative Dialektik keine haltbare Methode ist. Die andere meint, um der Konsequenz des Systems willen müsse man die Dialektik des Anfangs in der Gestalt, die sie von Hegel erhielt, preisgeben. Sie wird von nahezu allen Schülern und Nachfolgern Hegels geteilt,' wenn auch mit verschiedenen, oftmals einander entgegengesetzten Gründen. Wir unterscheiden sie als die Kritik in positiver Absicht (B) von der der Gegner der spekulativen Methode, die in negativer Absicht erfolgt (A). A. Die Kritik in negativer Absicht ist vor allem von TRENDELENBURG und Eduard VON HARTMANN ausgearbeitet worden.® Die Logischen Untersuchungen von TRENDELENBURG, die bereits 1840 erschienen, sind trotz ihrer wenig präzisen Argumente von bedeutender Wirksamkeit gewesen. Offen oder verschwiegen werden sie von den meisten Schülern Hegels berücksichtigt und, was die Kritik der Seinslogik betrifft, mit der einzigen Ausnahme MICHELETS auch anerkannt. TRENDELENBURG hat aber nur einen der drei Einwände entwickelt, die gegen Hegels Lehre von Sein und Nichts von ihrem Standpunkt aus vorgebracht werden können. In sachlicher Folge ergeben sie sich auf diese Weise: Setzt man mit Hegel voraus, daß der Begriff der unbestimmten Unmittelbarkeit in der Logik den Anfang machen muß, so ist doch nicht einzusehen, daß er als der Übergang von Sein und Nichts ineinander gedacht werden muß. Denn nehmen wir an, daß Sein und Nichts wirklich voneinander unterscheidbar sind, dann sind sie (1) entweder zwei Aspekte in ein und derselben Gedankenbestimmung ,unbestimmte Unmittelbarkeit', in der sie unterschieden werden können und von der sie deshalb zugleich verschieden sein müssen. Oder (2) sie sind zwei voneinander verschiedene Gedanken, denen gemeinsam der Charakter zukommt, unbestimmt und T'mstand, daß sie in Vergessenheit geraten ist, und die Kürze der Vortragszcit rechtfertigen diese Beschränkung. Sie hat auch die elementaren Formen der Gründe gegen Hegel so vollständig entwickelt, daß seither nichts wirklich Neues zu ihnen hinzugeIreten ist. ® A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. Berlin 1840. Bd 1. 37 ff. — E. v. Hartmann: Die dialektische Methode. Berlin 1868; 2. Aufl. Sachsa 1910. Vor allem 78.

DIETER HENRICH

unmittelbar zu sein, die aber im übrigen voneinander zu unterscheiden sind. Nehmen wir aber umgekehrt an, daß Sein und Nichts nicht voneinander unterschieden werden können, so sind beide (3) nur verschiedene Namen für eine Sache, die näher als unbestimmte Unmittelbarkeit zu fassen ist. — In keinem der drei Fälle kann ein Übergang von Sein in Nichts oder von Nichts in Sein behauptet werden. Diesen Argumenten kann im Sinne Hegels nur mit dem Zugeständnis begegnet werden, das sie selbst machen; daß nämlich im Zusammenhang einer spekulativen Logik ein Gedanke der erste und einfachste und daß dieser der der unbestimmten Unmittelbarkeit sein muß. (1) Der erste Einwand besagt, daß Sein und Nichts einander entgegengesetzte Aspekte der unbestimmten Unmittelbarkeit sind. Sie ist, insofern sie überhaupt gesetzt ist; sie ist Nichts, insofern sie gesetzt ist ohne jede weitere Bestimmung. Wäre das aber der Fall, so könnte die unbestimmte Unmittelbarkeit nicht sein, was sie doch sein soll: Anfang. Sie wäre nicht unmittelbar, sondern gesetzt, nämlich als Form, aber ohne Gehalt, oder als Ding, aber ohne Eigenschaft. Unbestimmte Unmittelbarkeit wäre dann eine reflektierte Bestimmung und somit nicht als anfängliche zu definieren. Sein und Nichts sind aber gerade nicht als Momente einer bestimmenden Reflexion zu denken. Meinen wir Nichts, so meinen wir nicht Leersein von Gehalt, so daß Form noch wäre und somit gerade nicht Nichts. Meinen wir Sein, so meinen wir nicht ein Unwegdenkbares vor jedem Inhalt, der aufgehoben werden kann, so daß Sein nur dort wäre, wo auch das Nichts seiner Leere von Gehalt gedacht wird. Deshalb ist Hegel der Meinung, daß Sein und Nichts nicht wie Momente der Reflexion ihr Gegenteil an ihnen selbst haben. Sie müssen vielmehr substanzlos ineinander übergehen. Sein soll die ganze unbestimmte Unmittelbarkeit denken. Und sofern sie als Nichts gedacht wird, ist sie ebenso als ganze gedacht. Deshalb kann man nicht sagen, daß Sein sich näher als Nichts bestimme oder daß Sein in seinen Gegensatz übergehe, welcher das Nichts ist. Sein und Nichts sind nicht einander entgegengesetzt. Sie sind dasselbe, und sie sind ebensosehr verschieden, aber absolut verschieden, das meint: ohne eine Beziehung aufeinander. Wäre an ihnen eine solche Beziehung aufzuweisen, so wären sie nicht nur keine Bestimmungen der unbestimmten Unmittelbarkeit, sondern selbst gar keine unmittelbaren Bestimmungen. Jedes von ihnen wäre vielmehr durch sein Anderes vermittelt. Entweder sind also Sein und Nichts anderes als Aspekte der unbestimmten Unmittelbarkeit, oder diese Unmittelbarkeit kann nicht den

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Anfang der Logik machen und ist als imbestimmte ebensowenig zu denken, wie es Sein und Nichts als unmittelbare sind. (2) Der zweite Einwand behauptet, daß ,unbestimmte Unmittelbarkeit' der Oberbegriff von Sein und von Nichts ist, die im übrigen voneinander unterschieden werden können. Aber auch er ist gezwungen, sowohl jenem Obergriff als auch Sein und Nichts je für sich den Charakter der Unmittelbarkeit zu nehmen, sie im Gegensatz zu Anderem zu bestimmen und damit zu Vermittelten zu machen. Dieser Einwand läßt sich also mit denselben Mitteln entkräften, die Hegel gegen den ersten aufzubieten vermag. Es kann deshalb darauf verzichtet werden, näher auf ihn einzugehen. (3) Der dritte Einwand wendet sich gegen den Gedanken, mit dessen Hilfe die beiden ersten kritisiert werden müssen. Diesem Gedanken zufolge sind am Anfang der Logik eine beziehungslose Bejahung und eine beziehungslose Verneinung ohne Gegensatz voneinander verschieden. Der Einwand gegen ihn besagt, ihre Differenz sei nur eine solche zwischen bloßen Worten, deren Bedeutung ein und dieselbe ist, nämlich unbestimmte Unmittelbarkeit. Sein und Nichts unterschieden sich wohl als flatus vocis, seien aber in dem, was sie meinen, miteinander zu identifizieren. Der Anfang der Logik leiste nicht mehr als diese Identifikation und ergebe deshalb keinen Fortschritt im Gedanken. Diese Kritik hätte Hegel gegen die Kritiker selbst zurückwenden können. Denn sie kommt auf die petitio principii heraus, daß sich jene ,unbestimmte Unmittelbarkeit' ihrerseits überhaupt denken läßt, ohne daß dabei solche Gedankenbestimmungen gebraucht werden, die wie Sein und Nichts beziehungslose Gegenteile sind. Schon die Wortbedeutung von ,unbestimmte Unmittelbarkeit' verweist darauf, daß dieser Begriff durch ein affirmatives und zugleich durch ein negatives Moment definiert werden muß. Die Logik hat zeigen wollen, daß dies nur vermittels der Gedanken ,Sein' und ,Nichts' geschehen kann. Wer gar nicht versucht aufzuweisen, auf welch andere Weise die Rede von der unbestimmten Unmittelbarkeit einen wohlbestimmten Sinn erhält, der gebraucht seinerseits ein bloßes Wort, das nur die Ahnung eines Gedankens hervorruft, ohne ihn selbst gedacht zu haben. Er benennt nur ein Wort mit den Worten ,Sein' und ,Nichts'. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn auch sie für ihn nichts als bloße Worte sind. Es ließe sich zeigen, daß diese Einwände und ihre Widerlegung die einzig möglichen sind, die auf eine grundsätzliche Weise gegeben werden können. Hier kommt es aber nur darauf an, sich das Prinzip zu vergegenwärtigen, das ihnen zugrunde liegt. Die Einwände wollen allesamt einen

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Unterschied finden zwischen dem Gedanken der unbestimmten Unmittelbarkeit und der Opposition Sein-Nichts und deshalb beide zunächst voneinander trennen, um sie dann aufeinander zu beziehen, — als Aspekt der Sache und als Sache selbst; als Begriff und als Fall seiner Anwendung; als Wort und als Bedeutung. Sie sind alle zugleich widerlegt, wenn gezeigt ist, daß damit jener Gedanke den Charakter der Unmittelbarkeit und somit jeden wohlbestimmten Charakter verliert. Die Rechtfertigung der Logik des Seins kann also nur im Hinblick auf ihren Ort in der Wissenschaft der Logik erfolgen: Wer die Struktur ihrer Dialektik verändert, der nimmt ihr mit Notwendigkeit auch ihre Stellung am Anfang. Die Widerlegung der Einwände kann somit als der erste Schritt im Beweis eines Satzes genommen werden, der den folgenden Überlegungen als These vorausgehen soll: Die Logik des reinen Seins läßt sich überhaupt nur via negationis explizieren, in der Unterscheidung von der Logik der Reflexion. B. Von diesem Begründungsverfahren hatten die Schüler Hegels keine angemessene Vorstellung. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sie jene Einwände entweder selbst fanden oder daß sie sie für unwiderlegbar hielten, nachdem sie von den Gegnern vorgebracht worden waren. Alle spekulativen Logiken, deren erste 1826 und deren letzte 1876 erschien, haben in ihrer Stellung zu Hegels Logik des Seins zweierlei miteinander gemein: Sie sind ohne Ausnahme davon überzeugt, daß mit dem Gedanken ,Sein' der Anfang gemacht werden müsse. Ebenso ausnahmslos weichen sie aber von Hegel ab in der Weise, in der sie die Dialektik des Anfangs entfalten. In den meisten Fällen geschieht das bewußt und mit Rücksicht auf zuvor geübte Kritik. Die Veränderung in der Logik des Seins wird dann oftmals zugleich begründet aus der Notwendigkeit, der logischen Wissenschaft insgesamt eine von Hegel abweichende Bedeutung zu geben und ihr den Charakter abzuerkennen, Wissenschaft des Absoluten selbst zu sein. Das ist der Fall im spekulativen Theismus und in den auf ihn folgenden Theorien von ULRICI und ROSENKRANZ, die bereits den Neukantianismus vorbereiteten. Aber auch Apologeten Hegels wie MICHELET sahen sich genötigt, die Seinslogik umzudeuten. Da sie es stillschweigend taten und oftmals in der Meinung befangen blieben, nur den Text Hegels auszulegen, sind ihre Argumente von besonders geringer Überzeugungskraft gewesen. Alle diese Versuche — die der Reformer und die der Orthodoxen — sind dem gleichen Einwand ausgesetzt, der gegen die Kritik der Gegner vorzubringen war: Sie bewirken, daß die erste Kategorie der Logik den Charak-

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ter der Unmittelbarkeit verliert. Sie unterscheiden sich voneinander allein durch die Art und Weise, in der sie sie zu einem Vermittelten machen. Sieht man von ihren Besonderheiten ab und achtet man nur auf ihr Verfahren, so ergeben sich in der Schule Hegels vier Weisen von Umdeutungen der Seinslogik. (1) Die erste von ihnen findet sich bei WERDER, ULRICI imd Karl Philipp FISCHER.^ Übereinstimmend erklären sie, der Anfang der Logik könne nicht eine arme Bestimmung, sondern nur das Prinzip des Ganzen sein. Dieses Prinzip habe Hegel im Auge, wenn er von der Einheit von Sein und Nichts spricht. So meint ULRICI, Sein als Anfang sei das „Unwegdenkbare"; — dies aber nicht als abstraktes Sein, sondern nur vermittels seiner Einheit mit Nichts. Denn der Gedanke des Nichts zeige allererst auf, daß im Sein „Bestimmung durch sich" und somit Notwendigkeit gelegen ist. Denn der Gedanke des Nichts ist die Negation auch seiner selbst. Wenn Nichts ist, so ist auch nicht jene Bestimmtheit, die wir denken, wenn wir Nidits meinen. Also ist schlechthin nicht Nichts, sondern Sein, von dem sich somit erweist, daß es causa sui ist. WERDER will auf ähnliche Weise das Sein als Ponieren seiner selbst, d. h. als Negieren von allem, was nicht Sein ist, fassen. Und Karl Philipp FISCHER ist der Ansicht, nur vom Sein als absolutem Seinkönnen ergebe sich der Übergang zum Werden, während der Übergang des abstrakten Seins in Nichts unwiederbringliches Vergehen sei. Es ist klar, daß in dieser Konzeption Hegels eigene Idee von der Logik als einer Theorie, die ihr Prinzip erst an ihrem Ende erreicht, in ihr Gegenteil verkehrt ist. Mit dem Text der Logik läßt sie sich nicht belegen. Sie kann auch den Anfang und den ersten Übergang nicht als unmittelbare nehmen. Sie muß behaupten, daß am Sein das Gegenteil seiner selbst gesetzt sei. Eben dies ist aber die vollständige Definition des Vermitteltseins einer Bestimmung. (2) Die zweite Interpretationsform wurde von HINRICHS und von Kuno FISCHER entwickelt.® Ihr zufolge ergibt sich die Dialektik des Seins aus der Differenz, daß eine Gedankenbestimmung gedacht werden soll, in der zu* K. Werder: Logik. Als Kommentar und Ergänzung Zu Hegels Wissenschaft der Logik. Berlin 1841. 41. — H. Ulrici: Über Prinzip und Methode der Hegelschen Philosophie. Halle 1841. 83 ff. — K. Ph. Fischer: Spekulative Charakteristik und Kritik des Hegelschen Systems. Erlangen 1845. 201 ff. — K. Ph. Fischer: Grundzüge des Systems der Philosophie. Bd 1. Erlangen 1848. 59. •’ H. F. W. Hinrichs: Grundlinien der Philosophie der Logik. Halle 1826. 15 f. — K. Fischer: Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre. Stuttgart 1852; 2. Aufl. 1865. 215 ff.

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gleich nichts gedacht wird. Nach Kuno FISCHER setzt Sein, das doch ein Gedanke sein soll, die Differenz von Gedachtsein und Denken voraus. Aber zugleich soll es schlechthin unbestimmter, differenzloser Gedanke sein. Somit schließt es auch die Aufhebung eben der Differenz ein, welche die Voraussetzung seiner Denkbarkeit ist. Sein muß demnach sowohl bejaht als auch verneint werden. Auch diese Interpretation läßt sich so wenig wie die erste durchführen, ohne daß Bedeutung und systematische Stellung der Logik von Gnmd auf verändert werden. Wenn die Logik die Gedankenbestimmungen für sich und auseinander entwickeln will, so kann die Reflexion auf ihr Gedachtsein nicht als Movens ihres Fortschrittes gelten. Dies ist vielmehr der Gesichtspunkt der phänomenologischen Dialektik. Wird sie auch in die Theorie der Gedankenbestimmungen eingeführt, so ist der wichtigste Schritt auf dem Wege zum Neukantianismus bereits getan. Es könnte wohl sein, daß er unvermeidlich ist. Er kann aber gewiß nicht die Interpretation des Anfangs einer Logik geben, die sich selbst noch immer spekulativ nennt.® • Hier ist der Ort, die Interpretation von Bertrando Spaventa zu erwähnen, die aus einer Verbindung der Gedanken von K. Fischer mit denen von Werder hervorgegangen ist und auf die sich der italienische Aktualismus vor allem von Gentile unmittelbar zurückleitet. Spaventa erkennt mit K. Fischer an, daß Trendelenburgs Argumente nur entkräftet werden können, wenn man den Anfang der Logik aus dem Begriff des Denkens versteht. (Le prime categorie della logica di Hegel. In; Atti della R. Academia delle sciencze morale ... di Napoli. Bd 1 [1864]; dies und anderes in: Scritti filosofici. Ed. Gentile. Napoli 1900.— Für den Hinweis auf Spaventa bin ich J. V. d. Meulen sehr dankbar.) Spaventa wendet gegen K. Fischer ein, das Denken dürfe in der Logik des Seins nicht nur als der Akt verstanden werden, in dem Sein gedacht wird. Es sei vielmehr sein eigener Gegenstand. Deshalb ergebe sich das Nichts als die Macht des Negativen, zu verdoppeln und zu verkehren (prevaricare e geminare), die allem Denken innewohnt. — Spaventa rechtfertigt diese Deutung mit Hinweisen auf die Phänomenologie des Geistes. Nur mit den Begriffen, die an ihrem Schluß erreicht sind, könne die Logik interpretiert werden. Spaventas Versuch einer „Reform der Hegelschen Dialektik" (s. o. 215, u. a.) ver-

meidet den Weg in den Neukantianismus, auf den K. Fischer mit Notwendigkeit gedrängt wird. Er hält am absoluten Charakter der logischen Bestimmungen fest und versteht mit Werder den Anfang der Logik als Auslegung der ,originalitä' der reinen Idee, die er im Unterschied zu ihm zugleich als Prozeß des Denkens faßt. Soweit damit implizit auch behauptet ist, die Einheit von Sein und Nichts bilde die Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung im Gedanken der absoluten Negativität ab, muß man Spaventa zustimmen (vgl. unten). Dennoch hat er zu einer Interpretation des Anfangs der Logik eigentlich gar keinen Beitrag gegeben. Denn er verlangt, daß die Dialektik des Seins unmittelbar aus dem Begriff des absoluten Wissens ausgelegt werden soll. Damit wird die Logik ganz auf eine Explikation des Resultats der Phänomenologie reduziert unter Aufgabe ihrer Selbständigkeit als der ersten Wissenschaft vom Absoluten und im direkten Widerspruch zu Hegels Erklärungen, denen zufolge die Phänomenologie zwar die Bedingung

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(3, 4) Die beiden noch verbleibenden Interpretationsweisen unterliegen den Einwänden, die gegen die erste, wie auch denen, die gegen die zweite vorgebracht worden sind. Der dritten von ihnen folgen die logischen Systeme von Immanuel Mermann FICHTE, ROSENKRANZ und M'.CHELET.^ Sie fassen den Begriff des Seins als eine Abstraktion von allem Seienden, denken ihn also mit Hilfe der ontologischen Differenz. Von einer vierten Möglichkeit der Auslegung machen Johann Eduard ERDMANN und Christian Hermann WEISSE Gebrauch.- Sie nehmen das Sein des Anfangs als die Copula im Urteil. Es ist nicht schwer zu zeigen, daß auch in diesen Fällen der Begriff, der vorgeblich unbestimmte Unmittelbarkeit denken soll, als reflektierte Bestimmung genommen wird, nämlich als bestimmt im Gegensatz zu bestimmtem Sein oder als konkrete Einheit von Subjekt und Prädikat. Darüber hinaus kann er beidemal nur aus einer weiteren Beziehung auf den subjektiven Akt des Denkens vollständig definiert werden. FICHTE, WEISSE und ROSENKRANZ erweisen sich dadurch als die bedeutenderen der Nachfolger, daß sie diesen Sachverhalt offen bekennen und seine Konsequenz nicht scheuen: eine Veränderung auch der Idee der Logik selbst. Die Übersicht über die Kritik und die Interpretation des Anfangs der Logik hat somit ein Ergebnis, das sich in der Form einer Alternative aussprechen läßt: Entweder es gelingt, die Struktur des Anfangs der Logik im Unterschied zu der Logik reflektierter Gedankenbestimmungen zu interpretieren und ihr gemäß den Begriff der unbestimmten Unmittelbarkeit zu entwickeln. Oder es müssen auch schon ihrem Anfang reflektierte Momente unterstellt werden. In diesem Fall ist es unmöglich, an der Idee der Logik als einer Wissenschaft reiner Gedanken festzuhalten. Denn in ihr müßte es notwendig eine erste und schlechthin einfache Grundbestimmung geben. Nachdem erwiesen ist, daß Nachfolger und Kritiker Hegels — faktisch oder erklärtermaßen — den Standpunkt des zweiten Glieds dieser Alternative einnehmen, muß es unsere nächste Aufgabe sein, den Anfang der der Möglichkeit der Logik als Wissensdtaft ist, nicht aber in den sachlichen Gang der Entwicklung des Gegenstandes dieser Wissenschaft eingeht. Spaventas Thesen stellen den ersten einer langen Reihe von Versuchen dar, die Phänomenologie des Geistes als den Kern des Systems aufzufassen. Eine Interpretation der Logik konnte aus ihnen nicht hervorgehen. I I. H. Fichte: Grundzüge zum System der Philosophie. Bd2. Heidelberg 1836. 58 ff. — K. Rosenkranz: Die Wissenschaft der logischen Idee. Königsberg 1858. Bd 1. 121. — C. L. Michelet: Das System der Philosophie. Berlin 1876. Bd 1. 45 ff. ® 7. E. Erdmann: Grundriß der Logik und Metaphysik. Halle 1841. 17 ff. — C. H. Weiße: Grundzüge der Metaphysik. Hamburg 1835. 111.

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Logik mit Hilfe des Leitfadens zu interpretieren, der in unserer These und im ersten Glied der Alternative angegeben ist.

II. Zu Beginn des Abschnittes Sein im ersten Kapitel der Seinslogik wird das ,reine Sein' in einer Reihe von Wendungen näher charakterisiert, ehe seine Einheit mit Nichts behauptet wird. Einige von ihnen haben unverkennbar negativen Charakter und offenbar nur die Aufgabe, jede weitere Bestimmung von der Reinheit des Seins fernzuhalten. Sieht man von ihnen ab, so bleiben zwei Ausdrücke, durch die der Begriff ,Sein' als solcher gedacht zu sein scheint: ,unbestimmte Unmittelbarkeit' und ,Gleichheit nur mit sich'. Sie sind es auch, die in der gesamten Logik das bezeichnen, was mit ,Sein' gemeint sein soll. Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, ,reines Sein' in andere Begriffsbestimmungen zu übersetzen, so müßte sie in diesen Wendungen zu suchen sein. Analysiert man sie aber, so erweist es sich, daß beiden die Struktur der via negationis gemeinsam ist: In ihnen wird eine Kategorie der Reflexion durch eine Bestimmung qualifiziert, die den Reflexionscharakter jener Kategorie gerade aufheben soll. So ist „Unmittelbarkeit" die Negation von Vermittlung und als solche selbst vermittelt und bestimmt durch diesen Begriff.® Unbestimmte Unmittelbarkeit ist also ein Ausdruck, der den Ursprung des Gedankens der Unmittelbarkeit in der Logik der Reflexion verstellt und in sein Gegenteil verkehrt. Hegel kann mit ihm nur zeigen wollen, daß ,Sein' anders zu denken ist als die Unmittelbarkeit des Wesens. Und er erklärt auch ausdrücklich: „Die einfache Unmittelbarkeit ist selbst ein Reflexionsausdruck und bezieht sich auf den Unterschied von dem Vermittelten. In ihrem wahren Ausdruck ist daher diese Unmittelbarkeit das reine Sein."^® Dasselbe gilt für den Ausdruck ,Gleichheit mit sich'. Auch Gleichheit ist eine Reflexionsbestimmung, die als einer der Modi von Verschiedenheit in der Wesenslogik entwickelt wird.“ Hier erscheinen Gleichheit und Ungleichheit als Gesichtspunkte der Beziehung von Verschiedenem aufeinander. Gleichheit kann also nur ausgesagt werden mit Beziehung auf Anderes, das zudem Verschiedenes ist. In dem zweiten Ausdruck am Eingang • Hegel: Wissensdiaft der Logik. Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1951. Teil 2. 3 ff. ““ Wissenschaft der Logik. Teil 1. 54 (Hervorhebung im Zitat von uns). Wissenschaft der Logik. Teil 2. 34 ff.

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der Seinslogik wird diese wesentliche Bestimmung der Gleichheit aber gerade negiert, eine Negation, die Hegel selbst dadurch andeutet, daß er von einer Gleichheit „nur" mit sich selbst spricht. Die beiden einzigen Bestimmungen, durch die der Gedanke ,Sein' in anderer Weise ausgedrückt werden soll, sind also negierte Reflexionsbestimmungen. Sie taugen nur dazu, auf den Gedanken, der mit ,Sein' gemeint ist, dadurch zu verweisen, daß sie ihn als gänzlich frei von Strukturen der Reflexion erklären. Das geschieht dadurch, daß sich in diesem Verweis der Sinn der Kategorien des Wesens verkehrt und aufhebt. Eine andere Methode, den Gedanken des Seins zu explizieren, steht Hegel nicht zur Verfügung. Wenn aber die Natur des ,reinen Seins' nur via negationis in den Blick gebracht werden kann, so läßt sich der Anfang der Logik nicht zureichend aus ihm selbst verstehen. Beschränkt man sich auf ihn allein, so fordert er mit Notwendigkeit zu einer näheren Bestimmung heraus. Sie kann auf viele Weise versucht werden, wenn auch immer innerhalb der Grenzen, die sich aus der Systematik der Einwände in unserem ersten Gang ergeben. Hegel ist sich über diesen Zusammenhang selbst völlig im Klaren gewesen. Kaum verhüllt erklärt er selbst, der Anfang sei gegen falsche Deutungen und Einwände erst nach dem Studium zumindest der Logik der Reflexion gesichert: „Die Gedankenbildung, die dazu gehört, die Nichtigkeit jener Widerlegungen einzusehen,.. . wird nur durch die kritische Erkenntnis der Verstandesformen bewirkt; aber die, welche am ergiebigsten an dergleichen Einwürfen sind, fallen sogleich über die ersten Sätze mit ihren Reflexionen her, ohne durch das weitere Studium der Logik sich zum Bewußtsein über die Natur dieser kruden Reflexionen zu verhelfen oder verhelfen zu haben.„Diese Beschränkung auf das Einfache läßt der Willkür des Denkes, das für sich nicht einfach bleiben will, sondern seine Reflexionen darüber anbringt, freien Spielraum. Mit dem guten Rechte, sich zuerst nur mit dem Prinzip zu beschäftigen und damit sich auf das Weitere nicht einzulassen, tut diese Gründlichkeit in ihrem Geschäfte selbst das Gegenteil hiervon, vielmehr das Weitere, d. i. andere Kategorien, als nur das Prinzip ist,. . . herbeizubringen. Es ist besonders wichtig, gerade den Anfang vor solchen Reflexionen zu schützen. Denn einerseits muß er zwar durch Reflexionsausdrücke charakterisiert werden, andererseits ist er aber doch — nach Hegels eigenen WorWissenschaft der Logik. Teil 1. 80. 13 Ebd. 21.

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ten — in seiner „einfachen, unerfüllten Unmittelbarkeit ein Nichtanalysierhares."^* Damit ist zugleich zugegeben, daß auch der Übergang von Sein in Nichts und von Nichts in Sein keiner weiteren Analyse zugänglich ist und in reiner Unmittelbarkeit hingenommen werden muß. „Die Art der Beziehung kann nicht weiter bestimmt sein, ohne daß zugleich die bezogenen Seiten weiter bestimmt würden."^® Hegel beschreibt diesen Sachverhalt mit Bildern: Das Nichts bricht am Sein hervor, es geht nicht in es über, sondern ist schon in es übergegangen. Dieser Übergang wäre also durchaus nicht im Sinne von Hegel verstanden, wenn man versuchen wollte, ihn auf folgende Weise zu deuten: Wir denken zunächst die unbestimmte Unmittelbarkeit des reinen Seins. Sodann bemerken wir, daß wir eine ganz leere Unmittelbarkeit gedacht haben, und nun bezeichnen wir sie im Hinblick auf ihre Leere als Nichts. Das Modell dieser Interpretation ist das Verhältnis von Form und Inhalt, somit wiederum eine Reflexionsstruktur. Will man vom Anfang der Logik überhaupt ein solches Modell entwerfen, so ist gerade dies das am wenigsten geeignete. Denn in der Gestalt reiner Unmittelbarkeit will Hegel vielmehr die Einheit von Position und Negation denken, von Beziehung auf sich und Beziehung auf Anderes, — also die Idee der absoluten Negativität. Nichts ist nicht die leere Form in Unmittelbarkeit und Sein nicht die Form der Leere. Nichts darf auch keinesfalls als die Negation von Sein aufgefaßt werden. Es ist unmittelbare Negation, so wie Sein unmittelbares Gesetztsein. In der Sprache der Reflexion formuliert bedeutet der Anfang der Logik, daß zunächst überhaupt etwas gesetzt ist, aber die einfache Unbestimmtheit des Unmittelbaren, und daß sich dies Gesetzte sodann als die Negation erweist, aber die reine, unbestimmte Negation in der Gestalt des Nichts. Nur mit der Hilfe dieses Gedankens darf man die Ordnung begründen, in der Sein eine erste und Nichts die zweite Weise ist, unbestimmte Unmittelbarkeit zu denken. Ihr Übergang ineinander muß in der gleichen Unmittelbarkeit erfolgen, die ihnen selbst eigentümlich ist, also ohne jede Reflexion auf Form und Inhalt oder einen Gegensatz von Sein und Nichts gegeneinander. Die Erkenntnis, daß nur dies Modell den Zugang zur Beweisabsicht in Hegels Seinslogik vermittelt, ersetzt noch nicht einen Beweis, durch den es etwa einsichtig werden könnte, daß jener unmittelbare Übergang zweier zunächst Unterscheidbarer ineinander wirklich erfolgt. Aber auch diesen Ebd. 60. (Hervorhebung von uns.) »» Ebd. 90.

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Beweis kann Hegel nur via negationis geben. Er hat dabei zwei Verfahren gebraucht. Das erste von ihnen gibt zu neuen Mißverständnissen Anlaß. Während im Kapitel über das Sein kein Grund für seinen Übergang in Nichts angegeben wird, ist dieser Übergang in der vorbereitenden Übersicht** mit Reflexionskategorien begründet worden: Sein sei zunächst qualitätslos und unbestimmt. Dieser Charakter der ünbestimmtheit komme ihm aber nur im Gegensatz gegen das Bestimmte zu, so daß es selbst als bestimmt aufzufassen sei. Dies Verfahren hat aber den gleichen Sinn, der auch den Ausdrücken zukommt, die dem Begriff des reinen Seins zugeordnet sind: Es verweist auf eine Notwendigkeit, die in unmittelbarer Gestalt einen Übergang vorwegnimmt, der selbst reflektiert ist und dem deshalb Unmittelbarkeit gerade nicht zukommt. Im einleitenden Abschnitt über den Anfang der Logik läßt Hegel erkennen, daß die Rücksicht auf das Ergebnis der Phänomenologie einen weiteren Grund dafür abgibt, so zu verfahren.*’^ Die logische Dialektik selbst kann aber nur verstanden werden, wenn ihr Anfang ganz unmittelbar genommen wird. Das zweite Verfahren besteht in einer Aufforderung, den Versuch zu machen. Sein und Nichts auf andere Weise voneinander zu unterscheiden, Hegel beruft sich wie auf ein Faktum darauf, daß wir den Gedanken von Nichts ebenso wie den von Sein fassen können. Er will zeigen, daß jeder Versuch, sie anders zu denken, als es der Anfang der Logik verlangt, reflektierte Bestimmungen in sie einmischt und damit gerade ihre Natur verfehlt. Am besten entwickelt findet sich dieses Verfahren in Hegels Rezension in den Berliner Jahrbüchern von 1829.*® Die Methode Hegels am Anfang der Logik ist also das Gegenteil einer Konstruktion. In ihm ist ganz und gar nur die eine Absicht leitend: Einen Zusammenhang von Gedanken evident zu machen, der sich jeder Konstruktion entzieht, obgleich er spekulativer Natur ist. Würde die Logik ihn angeben, ohne auf die Schwierigkeiten des Verstehens Rücksicht zu nehmen, so könnte dies nur im einfachen Aussprechen der Wörter Sein und Nichts geschehen. Hegel hat selbst einmal erwogen, ob man ein Verfahren in der Logik gebrauchen könne, bei dem jeder Vorgriff auf noch nicht abgeleitete Bestimmungen unterbleibt. Mit Rücksicht auf die Leere und Einfachheit des Anfanges hat er es aber doch für zu abstrakt und somit un*• Ebd. 67; vgl. auch 85. Ebd. 54, Abs. 1. Hegel: Berliner Schriften. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 330 ff.

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brauchbar erkannt.*® Was aber die Logik als eine Disziplin der Wissenschaft über das einfache Sagen des Anfangs hinaus zu tun vermag, ist nicht mehr, als die Einwürfe zu entkräften, die dem einfachen Vollzug dieses ,unanalysierbaren' Gedankens entgegenstehen. Nirgends ist die Aufforderung zum reinen Denken, das die Natur des Zusehens hat, so unentbehrlich wie hier. Hegel hat stets das deutlichste Bewußtsein davon gehabt, daß eine Schwierigkeit darin gelegen ist, am Anfang der Logik nur die Evidenz eines reinen Gedankens beanspruchen zu können — eine Evidenz, die zudem nur der festzuhalten vermag, der den Zusammenhang des Systems im Ganzen übersieht. Diese Schwierigkeit macht es unmöglich, Einwände durch direkte Gegengründe zu entkräften und ist deshalb eine Quelle unaufhebbarer Zweideutigkeit. Dennoch kann sie auf keine Weise vermieden werden. Sie hat Hegel deshalb auch niemals an der Richtigkeit seiner Darstellung der Logik des Seins via negationis zweifeln lassen. Es ist bekannt, daß die Neuauflage des ersten Bandes der Logik Hegels letztes Werk war und daß die letzte Notiz von seiner Hand ihrer Herausgabe galt. Hegel sah sich veranlaßt, fast zwanzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen die Seinslogik in nahezu allen ihren wesentlichen Partien umzuarbeiten. Es ist interessant festzustellen, daß in ihrem ersten Abschnitt gerade die Logik des reinen Seins als einzige ohne jede Veränderung übernommen worden ist. Wir wissen mit Sicherheit, daß Hegel einige der Einwürfe gerade gegen dieses Lehrstück bekannt geworden sind.^® Er hat sie nicht nur anerkannt, sondern auch keine Möglichkeit gesehen, den Text der ersten Auflage mit Rücksicht auf sie zu verbessern. Die Anmerkungen zum Text hat er jedoch gründlich umgearbeitet. Vergleicht man ihre beiden Fassungen miteinander, so wird deutlich, daß Hegel durch jene Einwürfe nur von der Unmöglichkeit überzeugt worden ist, den Text selbst hinreichend gegen sie abzusichern. Im Unterschied zur ersten Auflage hat er darauf verzichtet. Gegengründe im einzelnen zu entkräften. Statt dessen hat er mehr und entschiedener als zuvor den Unterschied von Seinslogik und Reflexionsbestimmung betont. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Änderung, die den Übergang von Sein zu Nichts betrifft. In der ersten Auflage®* hatte Hegel bemerkt, der Gang des Gedankens von PARMENIDES ZU HERAKLIT sei durch die Reflexion zustande gekommen, daß dessen reines Sein gleich Nichts ist. Damit hatte er den Fortschritt in der Geschichte der Philosophie Wissensdraft der Logik. Teil 1. I9. “ Vgl. die oben Anm. 18 erwähnten Rezensionen aus dem Jahre 1829. Wissenschaft der Logik. Nürnberg 1812. 33.

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unter ein anderes Gesetz gestellt als das der anfänglichen Gedankenbestimmungen und war auch in einen Widerspruch mit seiner eigenen Interpretation der vorsokratischen Philosophie gekommen.^^ Deshalb hat er in die zweite Auflage zwar die Bemerkungen über die Reflexion auf den bestimmten Charakter der Unmittelbarkeit übernommen; ihre Beziehung auf PARMENIDES hat er jedoch getilgt.^® An seine Stelle ist mm der Reflexionsphilosoph JACOBI getreten, der gegen die KANxische Synthesis reine Unmittelbarkeit zur Geltung bringen wollte, aber nicht jene anfängliche Unmittelbarkeit, sondern eine solche, die nur als Produkt der abstrahierenden Reflexion aufgefaßt werden kann. Ihm will Hegel nachweisen, daß das Ergebnis seiner Abstraktionen keine unbestimmte Unmittelbarkeit, sondern durch die Negation dessen bestimmt ist, von dem abstrahiert wird. Sein abstraktes Unmittelbares ist somit ebenso ein Negatives. Dieser Nachweis, der mit den Mitteln der Reflexionsdialektik geführt werden kann, ist von der Dialektik des reinen Seins selbst zu unterscheiden, von der der Weg der vorsokratischen Philosophie bestimmt war. In Hegels Geschichte der Philosophie folgt HERAKUT nicht deshalb auf PARMENIDES, weil er auf die Bestimmtheit und Leere des reinen Seins der Eleaten reflektiert hat. HERAKLIT hat vielmehr gesehen, daß ihr reines Sein und der Ungedanke des Nichts, den sie schlechthin aus allem Denken verbannen wollten, gar nicht voreinander unterschieden werden können.^^ Damit hat er den ersten konkreten Gedanken gedacht, und das in jener Unmittelbarkeit, die Hegel auch am Anfang der eigenen Logik für den Übergang des reinen Seins zu Nichts in Anspruch nimmt: Der Gedanke der unbestimmten Umittelbarkeit, zunächst als reines Sein genommen, kann als reflexionslose Gleichheit mit sich nur gedacht werden, wenn er statt dessen ebenso sehr als Nichts gefaßt wird. Die Natur dieser Beziehung weiter bestimmen wollen, führt mit Notwendigkeit dahin, daß ihr anfänglicher Charakter zerstört wird. Das Ergebnis der Analyse des Anfangs in unseren beiden Gängen hat eine Reihe von Konsequenzen für die Interpretation der Logik in ihrem ganzen Zusammenhang. Sie können nur noch in der Form von Thesen genannt werden. 1. Die Wissenschaft der Logik muß von dem Prozeß der logischen Gedankenbestimmungen unterschieden werden. Dieser Prozeß vollzieht sich Hegel: Werke. Hrsg. v. H. Glöckner. Bd 17. 306 ff u. 343 ff. “ Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. G. Lasson. Teil 1. 81 ff. Otiöev näX.Xov xö öv xoü ovxoe elvai. Vgl. Hegel: Werke. Hrsg. v. H. Glöckner. Bd 17. 348 — Berliner Schriften. 359.

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als einsinnige Entwicklung. Die Wissenschaft von ihm ist aber eine Weise der Wirklichkeit des Geistes. Sie läßt sich vielfach nur in rückläufiger Begründung und mit dem Blick auf das Ganze entfalten. Wir bedürfen einer Methodenlehre dieser Begründungen, die den Charakter einer ,Metalogik' haben würde. Zu ihren wichtigsten Leistungen würde auch ein Vergleich der zweiten mit der ersten Auflage der Logik gehören, die längst wieder hätte aufgelegt werden müssen. 2. Die Unmittelbarkeit der anfänglichen Bestimmungen wird zwar in reichere Strukturen übergeführt, die für die Reflexion einsichtiger sind. Sie wird aber als der Anfang des Ganzen niemals aufgehoben und kann durch jene Strukturen niemals zureichend interpretiert werden. Der Schluß des Systems soll vielmehr die Einsicht in die Notwendigkeit eines Anfangs von unaufhebbarer Unmittelbarkeit begründen. 3. Es ist deshalb auch nicht zulässig, in irgendeinem späteren Kapitel der Logik ihr ,eigentliches' Zentrum und den Motor ihres Prozesses zu suchen, weder in der Lehre von der Reflexion noch in der vom Urteil oder der vom Schluß. 4. Der Versuch einer Formalisierung der Logik dürfte in diesen Zusammenhängen besonders große, wenn nicht unüberwindbare Schwierigkeiten finden. 5. Es besteht keine Möglichkeit, den Hinweis auf die Evidenz, daß Sein und Nichts denkbar und doch ununterscheidbar sind, in der Logik durch ein anderes Argument zu ersetzen, das zu seiner Begründung nicht der via negationis bedürfte. In dieser Evidenz wird die grundlose, ursprüngliche Einheit des Negativen mit sich gefaßt. Sie ist deshalb eine der Grundlagen jeder etwa möglichen Gewißheit von der Absolutheit des Geistes. “ Aus dieser These ergeben sich zwei Konsequenzen für jede mögliche Hegelinterpretation, die angemerkt sein sollen: 1. Hegels Denken läßt sich weder aus der Unüberholbarkeit des Anfangs noch aus der Bewegung, die von ihm ausgeht, für sich allein hinreichend interpretieren, sondern nur mit dem Blick auf beides zugleich. Es ist weder Ursprungs- noch Emanzipationsphilosophie. 2. Auf jeder Stufe der Entfaltung des Systems bleibt die Unmittelbarkeit des Anfangs gegenwärtig, und zwar insofern, als nicht nur das in ihnen Vermittelte, sondern auch die Weisen der Vermittlung selbst jeweils bestimmte und voneinander verschiedene sind. Die Unmittelbarkeit des Übergangs im Anfang und der Begriff des Systems unterscheiden sich nicht nur nach dem Grad der Vermittlung, sondern auch der Art nach voneinander. Eine Interpretation der Logik und vollends der Realphilosophie muß vor allem eine Interpretation ihrer Vermittlungsweisen sein. Die letzte und schwierigste Aufgabe ist es, den Zusammenhang dieser Vermittlungsweisen untereinander verständlich zu machen.

Anfang und Methode der Logik

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Wer aber Sein und Nichts in ihrer Unmittelbarkeit und doch anders als in jener ununterscheidbaren Einheit zu denken vermag, der ist damit nur einer Aufforderung gefolgt, die Hegel selbst immer wieder aufs Neue ausgesprochen hat. Ihm wäre es gelungen, in einen Grund der Logik zurückzudenken, ohne sich über sie selbst hinwegsetzen zu müssen. Die Schüler Hegels machten diesen Versuch. Es muß anerkannt werden, daß er berechtigt ist, wenn er auch in jeder Weise scheiterte. Von den Gründen dieses Scheiterns haben auch wir noch zu lernen.

KARL-HEINZ VOLKMANN-SCHLUCK (KÖLN)

DIE ENTÄUSSERUNG DER IDEE ZUR NATUR Die absolute Idee ist die hödiste Gestalt des Begriffs. Unter „Begriff" versteht Hegel nicht die Vorstellung von etwas im Allgemeinen als die bloße Form des Gedachten, sondern die sich selbst denkende Einheit von Denken und Gegenstand. Die absolute Idee ist die höchste Wesensweise des Begriffs, weil sie der Begriff ist, der in seiner Realität nur noch mit sich selbst zusammengeht. Die Realität des Begriffs ist der Wesensbestand des Gegenstandes. Als absolute Idee ist der Begriff daher 1. unmittelbar mit dem Gegenstand identisch, da er ja dessen Wesenbestand ausmacht, 2. ist er der sich wissende Begriff, Subjektivität, Ich, jedoch Ich nicht als das im Rückgang des Denkens auf sich selbst sich allem Entgegensetzende, sondern das Denken, das im Anderen gerade seine eigene Objektivität zum Gegenstand hat. Dieses Mit-sich-Zusammengehen des Ich im Gegenstand wird dadurch möglich, daß der Begriff schon das Wesen des Gegenstandes, die „Seele der Objektivität", selbst ist. Wird die Frage gestellt: Was ist die absolute Idee? so stellt sich diese Frage, da sie die Angabe eines Inhalts prätendiert, als unangemessen heraus. Der Gegenstand der gesamten Logik ist allein die Idee, aber vordem die Idee in einer Bestimmtheit, die Idee als Sein, als Wesen, als Notwendigkeit usf. Jetzt erst, auf ihrer Vollendungsstufe, wird die Idee als Idee sich selbst gegenwärtig, als der Gedanke, der im Gegenstand nur sich selbst denkt. Sofern nun doch Denken immer Denken von etwas ist, also Bestimmen, sind die Bestimmtheiten hier keine Inhalte gegenüber der Form, sondern die Weisen des sich denkenden Denkens, die modi cogitandi der absoluten cogitatio in ihrer vollständigen Selbstvorstellung. Denkweisen bilden zwar Unterschiede, jedoch kein Anderssein. Deshalb gibt es für die absolute Idee keine Inhalte, sondern nur noch das Allgemeine der Form, die Methode. Zwar schließt sich auch beim suchenden Erkennen durch die Methode das Subjekt mit dem Objekt zur Einheit des Wissens zusammen, dergestalt, daß das Subjekt als das erkennende und das Objekt als das erkannte (Wahre) durch die Methode

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sind, was sie sind, aber innerhalb der Methode des suchenden Erkennens schließt sich das erkennende Subjekt mit dem Objekt als einem Anderen zusammen, es geht darin noch nicht mit sich selbst zusammen. Erst die absolute Methode realisiert uneingeschränkt das Wesen der Wahrheit, Wahrheit im überlieferten Sinne als convenientia von intellectus und res, da nämlich die absolute Methode der Begriff (intellectus) ist, der im Gegenstand (res) mit sich selbst zusammengeht und so die convenientia nach jeder Hinsicht vollbringt. Die Methode, die selbstbewegende Tätigkeit des Begriffs, durchgeht drei Grundphasen: Ihr Anfang ist das Unbestimmte, das Unmittelbare als solches, also das Sein, jedoch nicht mehr wie im Beginn der Logik als die abstrakte Sich-selbst-Gleichheit, die ist, was sie ist, als das Übergegangensein ins Nichts, sondern das Sein bereits als die konkrete Totalität der Denkbestimmungen, jedoch noch nicht als gesetzte Totalität. Das Zweite ist das Bestimmte, der Unterschied, die Entgegensetzung, und zwar die Entgegensetzung seiner gegen sich selbst, das dialektische Moment als solches, das darin besteht, daß die in der Entgegensetzung enthaltene Einheit gesetzt wird. Da die Entgegensetzung den Charakter der Entgegensetzung seiner gegen sich selbst hat, ist sie negative Beziehung auf sich, Negation des Anderen seiner selbst, d. h. Aufhebung des Widerspruchs. Diese negative Beziehung auf sich bildet den Dreh- und Wendepunkt in der Bewegung der absoluten Methode. Denn die sich aufhebende Entgegensetzung ist die Herstellung der Unmittelbarkeit, also bereits der Beginn der dritten Phase. Das Zweite jedoch, die Entgegensetzung seiner gegen sich selbst als Aufhebung dieser Entgegensetzung, bildet das Wesen der Subjektivität, das Ich = Ich. Von der Subjektivität sagt Hegel: „Sie ist. . . die dialektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat, durch die es allein Wahres ist."* Inwiefern ist alles Wahre durch die Subjektivität allein ein Wahres? Weil ohne die Subjektivität die convenientia von intellectus und res nicht zu sein vermöchte; denn allein der Subjektivität wird der Unterschied, das Verhältnis als solches, verdankt. Und auf der Subjektivität (Ich = Ich) beruht auch die Aufhebung der Entgegensetzung von Begriff und Realität, der Ausgleich von intellectus und res, welcher das Wesen der Wahrheit ist. Und so kommt der Wesensgrund der überlieferten Wahrheit im Licht der absoluten Idee erst zum Vorschein: es ist die Subjektivität. Die dritte Phase hat einmal den Charakter der einfachen Bestimmtheit und ist daher ein neuer Anfang für ein neues Fortschreiten. Umgekehrt ist ‘ Hegel: Wissensdiaft der Logik. Hrsg. v. G. Lasson. Teil 2. Leipzig 1951. 496.

Die Entäußerung der Idee zur Natur

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sie aber auch die Wiederherstellung der ersten Unmittelbarkeit, der Rückgang in den Anfang. Und so ist die absolute Methode ein Gang von Bestimmtheit zu Bestimmtheit, welcher zugleich eine imaufhörliche Rückannäherung an den Anfang ist. Die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit ist eine fortwährende Bereicherung des Anfangs um eine weitere Bestimmtheit, eine zunehmende Verdichtung. Die Methode ist so das sich ausbreitende Außer-sich-Gehen der absoluten Idee. Da aber jede Bestimmtheit zufolge des dialektischen Moments Beziehung auf sich selbst ist, so geht die absolute Idee auf jeder Stufe des Außer-sich-Gehens ebensosehr in sich hinein, so daß sie auf der höchsten Stufe ihrer Ausdehnung sich zugleich in die einfachste Einheit ihrer mit sich selbst zurücknimmt. Ihre äußerste Objektivation ist in sich ihre subjektivste Subjektivität. Die Wiederherstellung der ersten Unmittelbarkeit, das Zusammengehen im Anderen mit sich selbst in der vollständigen Ausbreitung des in ihr beschlossenen Reichtums — das ist die Entwicklung des Anfangs zum System der Totalität. Wenn aber so der Begriff sich selbst vollständig entwickelt, dargestellt und begriffen hat, dann erfaßt er sich als den sich begreifenden Begriff. Die Selbsterfassung des Begriffs als des sich begreifenden ist die Wissenschaft der Logik selbst, so daß am Ende der Logik diese sich selbst erst in ihrem eigenen Wesen ebenso wie in ihrer Methode begreift. Weshalb diese Methode dialektisch ist, das kommt erst heraus, wenn sich die Wesensweise der Idee als absolute Methode, wenn deren Gang sich als Dialektik enthüllt hat und wenn die Logik selbst sich als die Weise erkennt, gemäß welcher der Begriff sich als den sich begreifenden selbst begreift, d. h. als die Wesensvollendung des Begriffes selbst. An diese Hauptpunkte der Entwicklung der absoluten Idee mußte wenigstens erinnert werden, wenn wir jetzt das bekannte Problem des Übergangs der Logik in die Naturphilosophie ins Auge fassen wollen. Hegel erklärt: Die absolute Idee ist „noch logisch, sie ist in den reinen Gedanken eingeschlossen, die Wissenschaft nur des göttlichen Begriffs . . . Weil die reine Idee des Erkennens insofern in die Subjektivität eingeschlossen ist, ist sie Trieb, diese aufzuheben, und die reine Wahrheit wird als letztes Resultat auch der Anfang einer andern Sphäre und Wissenschaft."^ Von diesem Übergang sagt Hegel, er sei so zu fassen, „daß die Idee sich selbst frei entläßt"^, nämlich aus ihrem Eingeschlossensein in den reinen Gedanken. Hegel spricht ferner von einem „Entschluß der reinen Idee, sich als * Ebd. 505. » Ebd. 505.

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äußerliche Idee zu bestimmen"^. In der Enzyklopädie heißt es, daß die absolute Idee „in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt. sich als Natur frei aus sich zu entlassen"^. Der Übergang von der Logik zur Naturphilosophie ist innerhalb der Hegel-Interpretation überaus kontrovers. SCHELLING hat das Seinige dazu beigetragen, die Sachlage nahezu hoffnungslos zu verwirren und zu verdunkeln. Man sagt, dieser Übergang von der absoluten Idee, der Einheit und Fülle alles Seins, zur Natur bleibe ein dunkler Punkt. So wie Hegel sich mit Recht gegen den Versuch wende, aus dem Unendlichen das Endliche zu entwickeln, so könne es auch ihm nicht gelingen, aus dem reinen Gedanken das sinnliche Außereinander der Natur abzuleiten. Hegel könne den Übergang nicht begreiflich machen und greife deshalb zu bildhaften, ja pseudomythischen Beschreibungsweisen, wie Sich-entlassen, Sich-entäußern, ja er spreche von einem „Entschluß" der Idee, indem er sie mythisch personifiziere. Der Übergang bleibe eben der dunkle Punkt, den Hegel nicht denkend durchdrungen habe und auch nicht durchdringen konnte. Denn aus dem reinen Denken lasse sich die Wirklichkeit nicht herleiten. Hegel, so sagt man abschließend, löse eben alle Wirklichkeit ins Logische auf und könne nun nicht mehr aus dem Logischen ins Wirkliche zurück — es sei denn durch einen denkend nicht mehr begründbaren Sprung mittels bildhafter Redeweisen. Was die Meinung angeht, daß sich aus dem reinen Denken die Wirklichkeit nicht ableiten lasse, so ist sie allerdings richtig. Nur hätten wir mit dieser Meinung die Dimensionen des Absoluten auch schon verlassen, ja wohl niemals betreten, und zwar auch dann nicht, wenn wir die ganze Logik durchgelesen haben sollten. Was aber die Worte betrifft, in denen Hegel den Übergang zur Sprache bringt, so ist es nicht so schwer, zu zeigen, daß sie strenge Begriffsworte sind — streng, insofern Hegel mit ihnen der veränderten Lage gegenüber den Übergängen innerhalb der Logik sachgerecht entspricht. In ihrem End- und Vollendungsstadium ist die absolute Idee der Begriff, der mit seiner Realität vollständig zu einer unmittelbaren Einheit zusammengegangen ist. Die unmittelbare Identität von Begriff und Gegenstand, und zwar als Totalität, ist Natur. Insofern könnte man sogar meinen, die Idee gehe von sich her notwendig in die Natur über, sie falle gleichsam unausweichlich in das absolute Anderssein zu dem, was sie als Idee ist. * Ebd. 506. ® Hegel; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hrsg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler. Hamburg 1959. § 244.

Die Entäußerung der Idee zur Natur

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Denn in der Hinsicht, daß die Idee mit sich selbst in eine unmittelbare Einheit zusammengegangen ist, ist sie nicht mehr Denken, sondern Anschauung. Denken ist immer auch Sichunterscheiden des Denkens vom Gegenstand, Anschauung dagegen die unmittelbare Einheit beider und als bloße Anschauung bewußtlos. Die bewußtlose Einheit von Begriff und Realität, die ganz in sich selbst versunkene Anschauung, ist Natur. Aber so verhält es sich nicht; denn in der absoluten Idee wird jede Bestimmtheit, jede Realität des Begriffs, zum Begriff erhoben. Die absolute Idee ist die Wesensweise des Begriffs, gemäß welcher er sich von jeder Bestimmtheit befreit hat, so daß es für ihn keine Bestimmtheit gibt, die er nicht selbst gesetzt hätte. Insofern ist die absolute Idee die absolute Befreiung des Begriffs zum Freiesten, zur reinen Persönlichkeit. Deshalb ist sie die einfache Einheit von Begriff und Realität in der Weise des Begreifens als der bei sich selbst bleibende Begriff, also in der Form der Subjektivität. Die Idee wird nicht dadurch, daß sie sich in die Unmittelbarkeit des Seins zusammennimmt, schon zur Natur; denn sie bleibt in dieser Bestimmtheit bei sich. Wohl aber stellt sich ihr das Natursein als eine Möglichkeit ihrer selbst in ihr dar und vor. Ob sie jedoch diese vorgestellte Möglichkeit ihrer selbst auch verwirklicht, steht allein bei ihr und ihrer Freiheit. Eine Handlung der Freiheit ist Sache eines Entschlusses. Die absolute Idee hat sich zum Freiesten befreit, und deshalb steht es auch allein bei ihr, ob sie das einfache Sein, in das sie sich zurückgenommen hat, nur in der Weise des Begriffs, d. h. in der Form der Subjektivität, oder auch in der Weise des Naturseins ist. Wenn sie sich zum Natursein entschließt, dann entläßt sie sich, nämlich aus dem Eingeschlossensein in den reinen Gedanken; sie entläßt sich frei, nämlich auf Grund eines Entschlusses. Und dieser freie Entschluß, sich aus sich zu entlassen, ist eine Entäußerung, da sie aus der intensivsten Intensität des Insich-Seins ins Außereinander an sich selbst übergeht, in das Außereinander von Raum und Zeit. So weit hat Hegel den Übergang durchsichtig dargestellt und begriffen. Nun aber erhebt sich eine Frage; Es ist klar, daß die Philosophie diesen Übergang nicht in seiner Notwendigkeit begreifen kann; denn er ist eine Handlung der Freiheit und deshalb als Handlung der Freiheit angemessen zu begreifen. Ist aber das Sein der Natur Tat der Freiheit, dann ist die Natur nicht aus Wesensnotwendigkeit seiend, sondern sie gründet in einem Grunde, durch den sie ist und nicht vielmehr nicht ist. Die Frage nach dem Grund des Seins der Natur stellen, heißt dann aber, die Frage stellen, weshalb der göttliche Begriff sich entschließt, sich als Natur frei aus sich zu entlassen. Und sofern die Natur immer schon ist, muß sie in dem

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ewigen Entschluß der absoluten Idee gegründet sein. In dem Augenblick, da wir erkennen, daß das Sein der Natur in einem immer währenden Entschluß der Idee beruht, ist die Frage nach dem Grund dieses Entschlusses unausweichlich. Hat Hegel diese Frage beantwortet? Wie das bei Hegel zu erwarten war, hat er sie beantwortet, und zwar in der Form der absoluten Klarheit und Bündigkeit: Die Idee entschließt sich, sich als Natur frei zu entlassen, „in der absoluten Wahrheit ihrer selbst". Die absolute Wahrheit ihrer selbst, die Gewißheit des unbedingten Sich-wissens, die sie ist, ist der einzige Grund für ihren Entschluß. Worin könnte auch der Entschluß des Freiesten sich anders gründen als in der Wahrheit des eigensten Wesens? Denn das ist Freiheit: die Möglichkeit seiner selbst verwirklichen aus der Übernahme des eigenen Wesens als des bestimmenden Grundes. Inwiefern liegt der Grund für den Entschluß der Idee in ihrer eigenen Wahrheit? Hegel erklärt: „Dieser nächste Entschluß der reinen Idee, sich als äußerliche Idee zu bestimmen, setzt sich aber damit nur die Vermittlung, aus welcher sich der Begriff als freie, aus der Äußerlichkeit in sich gegangene Existenz emporhebt . . Die Idee ist die sich mit sich vermittelnde Tätigkeit. Aber die Vermittlung, die sie sich setzt, indem sie sich zur Natur entschließt, ist von wesenhaft anderer Art als alle Vermittlung der absoluten Methode, ja der Logik überhaupt. Denn Negation, Unterschied, Bestimmtheit der Idee bleiben innerhalb der Sphäre des absoluten Gedankens, sie sind von vornherein Weisen des sich selbst denkenden Denkens. Sie sind Unterschiede, aber sie bilden kein Anderssein. Die systematische Ausführung des Begriffs als Methode stellt zwar eine Realisation dar, aber doch so, daß sie innerhalb der Sphäre des Begriffs gehalten bleibt. Die Idee bleibt als logische Idee in sich selbst. Indem sie sich aber als Natur aus sich entläßt, begibt sie sich in die Sphäre des Andersseins dessen, was sie als Idee ist, in die äußerste Selbstentäußerung des räumlich-zeitlichen Außereinander. Sie macht mit der Negation, dem Unterschied, der Entgegensetzung als einem Anderssein Ernst, und deshalb bewährt sie sich erst als das Bei-sich-selbst-Sezn in der sich zu sich erhebenden Rückkehr aus der Selbstentäußerung. Als der aus der Selbstentäußerung in sich zurückgegangene Begriff ist die Idee nicht nur Idee, sondern Geist. Die Idee erblickt in sich die Möglichkeit, die einfache Identität von Begriff und Realität, die sie ist, nicht nur als Begriff, sondern auch als Natur zu sein. Indem sie diese vorgestellte Möglichkeit verwirklicht, wird sie wirkender Wille. Der Geist ist aber nicht nur Sich-wissen tmd Realisation des Sich-wissens, sondern ebensosehr auch Sich-wollen. Wollen • Wissenschaft der Logik. Teil 2. 506.

Die Entäußerung der Idee zur Natur

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ist Wirken und Wirksamkeit, und Sich-wollen ist ein Sich-selbst-Erwirken. Das sich wissende Bei-sich-selbst-Sein ist nur dann wirksame Wirklichkeit, d. h. Geist, wenn das Gegenteil zu ihm nicht immer nur der Unterschied ist, der innerhalb der Sphäre des reinen Gedankens bleibt, sondern wenn er sich als ein Anderssein, eben als das seiende Außereinander in Raum und Zeit darstellt. Erst über die Selbstentäußerung, nämlich durch deren aufhebende Überwindung, ist die Wahrheit, welche die absolute Idee schon ist, sich wollende, d. h. sich selbst erwirkende und darum erst wirksame, d. h. wirkliche Wahrheit. Hegel hat den Übergang der Idee nach drei Hinsichten imd so vollständig durchsichtig gemacht: 1. Das naturhafte Sein scheint als eine Möglichkeit der Idee in dieser selbst auf; denn sie nimmt sich durch ihre Realisation in die Unmittelbarkeit des Seins zurück. 2. Der Übergang beruht in einem Entschluß; denn die Idee ist das einfache Sein in der Weise des Sich-begreifens. 3. Der Entschluß gründet in der absoluten Wahrheit ihrer selbst. Aus der absoluten Gewißheit des Sichwissens entläßt sie sich in das Gegenteil ihrer selbst, um sich wollende, sich selbst erwirkende tmd in diesem Sinne wirkliche Wahrheit zu sein, nämlich sich selbst wissender Geist. Im Sein des Geistes schließen sich Wahrheit (unbedingtes Sichwissen) und Wirklichkeit (unbedingtes Sichwollen) zu einer ununterscheidbaren Einheit zusammen. Absolute cogitatio und absolute actualitas sind eines und dasselbe geworden. Wenn diese Überlegungen richtig sein sollten, dann stellt sich eine Frage ein, auf die ein Hinweis gegeben sei: Der Anfang der Logik ist das reine Wissen. Dieser Anfang ist bereits vermittelt; denn das reine Wissen ist das Resultat der Phänomenologie des Geistes. Dieses Resultat ist bereits das Sich-selbst-Finden des Geistes in der Zerrissenheit, in der absoluten Trennung seiner von sich selbst. Sofern also die Logik mit dem Resultat der Phänomenologie des Geistes beginnt, hat der Geist die Selbstentäußenmg bereits hinter sich und ist sich wissender Geist; sofern die Logik jedoch mit dem sich selbst denkenden Denken den Anfang macht, hat der Geist die Selbstentäußerung noch vor sich, durch deren Überwindung er sich erst als Geist darstellt. Problematisch ist bei Hegel also nicht nur die Stellung der Phänomenologie des Geistes, sondern auch die Stellung und der Wesenscharakter der Logik, ja sogar das System selbst. Wir müssen immer im Auge behalten, daß es das System der Hegelschen Philosophie nicht gibt, daß vielmehr nur eine an das System der Wissenschaft angenäherte Enzyklopädie der Wissenschaften an dessen Stelle getreten ist, also ein Stell-

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Vertreter des Systems. Vielleicht würde es uns gelingen, nicht immer nur über Hegels Philosophie zu sprechen, wie das auch in diesem Referat geschehen ist, sondern mit ihr zu philosophieren, wenn wir das Problem der Stellung der Phänomenologie des Geistes, die schwankende Bestimmung des Charakters der Logik und das seltsame Ausbleiben des Systems selbst aus dem Ereignis einleuchtend machen würden, welches die Philosophie Hegels ist.

JACOB FLEISCHMANN (JERUSALEM)

OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE LOGIK BEI HEGEL

Das Problem von Subjekt und Objekt ist heutzutage in eine heillose Verwirrung geraten — genauso wie zu Hegels Zeiten — und es ist vielleicht lehrreich, diese Frage im Lichte der Hegelschen Lösung noch einmal prinzipiell zu beleuchten. Wir werden sehen, daß Hegels Stellung zum Problem eine Wiederaufnahme des alten griechischen Standpunkts bedeutet, aber — in scharfem Gegensatz zu HEIDEGGERS Denken — die zweitausendjährige Entwicklung des menschlichen Geistes nicht als „unrichtig" imd „unwesentlich" in „Klammern" gesetzt wird. So haben wir bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wenigstens vier gnmdverschiedene Konzeptionen des Subjekt-Objektproblems namentlich die von ARISTOTELES, die mittelalterliche formallogische Lösung, die erkenntnistheoretische Auffassung der klassischen englischen Philosophie und endlich die KANTische Entwicklung des Problems von Erkenntnistheorie bis zur Metaphysik der Subjektivität. Wir haben hier — leider — nicht die Möglichkeit, die vorherigen Lösungen zu erörtern, wir müssen sie aber in Erinnervmg behalten insofern Hegel sie in seiner Logik selbst andeutet. Wir können hier, in aller Kürze, nur vier Punkte berühren; die Herausarbeitung der Hegelschen Problemstellung; den „Übergang" von der „objektiven" zur „subjektiven" Logik; das Problem der „Objektivität" innerhalb der „subjektiven" Logik und letztlich noch einen „Übergang": von der Logik zur Naturphilosophie. Mit diesen vier Stützpunkten in der Hand können wir — hoffentlich — eine eindeutige Konsequenz ziehen. Nun aber in medias res. 1. Das logische Subjekt-Objektproblem Von der vulgären und unwissenschaftlichen Auffassung von Subjekt imd Objekt hat sich Hegel schon in der Phänomenologie losgemacht. Der Mensch ist niemals Subjekt in dem Sinne, daß er der objektiven, selbstän-

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dig existierenden Welt ge genüb er steht. Das ganze Problem der Erkenntnis besteht eben darin, daß der erkennende Mensch nicht nur die subjektive Tätigkeit der Auffassung, sondern ebensowohl ein Objekt unter anderen Objekten ist, d. h. ein Einzelding: als ein fühlendes, anschauendes, vorstellendes Wesen kann er niemals das Objekt oder die Welt bewältigen. Es wird notwendigerweise immer etwas „draußen" bleiben als Unerreichbares, Jenseitiges. Das ist ja natürlich: die Fähigkeiten des endlichen Einzelmenschen reichen nicht aus, die ganze Welt tatsächlich in sich aufzunehmen. Die Auffassung, die aus dem Wissen einen „unendlichen Progreß" macht, drückt nur die Unmöglichkeit einer endlichen, an die Sinnlichkeit gebundenen Erkenntnis aus. Es ist aber etwas anderes, wenn der Mensch die Welt denkt. Der Gedanke ist imstande — seiner allgemeinen Natur gemäß — das Objekt zu fassen oder, noch besser gesagt, das Objekt zu umfassen. Auf diese Weise entsteht eine Sachlage, die die dialektische Fassung des Erkenntnisproblems benötigt: das Objekt ist das Allgemeine, die Totalität oder die Gesamtheit des Seienden; diese Totalität aber existiert nur in dem Gedanken und durch denselben, denn — wie gesagt — die Sinne sind unfähig, das Sein oder das Objekt in seiner Ganzheit zu fassen. Die Zweideutigkeit, die an der Hegelschen Definition des Gedankens haftet, er sei die Tätigkeit des Allgemeinen, drückt nur diese wesentliche und unvermeidliche Dialektik aus. Dieselbe Totalität, die gedacht wird, ist gleichzeitig auch die Totalität als Denktätigkeit. Das Letztergebnis der Phänomenologie ist also das „absolute Wissen", d. h. ein Wissen, wo Objekt und Subjekt in einer prozeßhaften Totalität eins werden, ein Prozeß, der durch das Negieren des Seins (dessen „Gegebenheit") durch den Gedanken entsteht. So haben wir schon am Anfang der Logik die Konzeption eines dem Objekt gegenüberstehenden Subjekts nicht mehr. Am Anfang der Logik, also bei der dialektischen Erörterung der Parmenideischen Metaphysik, finden wir —als „erste Stellung des Gedankens zur Objektivität" —die einfache, formale Identität des Gedankens mit dem Sein. Das ist der Standpunkt der vorkantischen, dogmatischen Metaphysik, entsprechend welcher es genügt, das Sein „anzudenken" oder dem Sein „nachzudenken", um dessen Wahrheit zu haben. Das erste logisch-metaphysische Problem der „Objektivität" ist also ihre einfache Gleichmachung mit dem Sein, die abstrakte Allgemeinheit. Die „zweite Stellung des Gedankens zur Objektivität" ist der Standpunkt der „Reflexion" oder des „Wesens", wo sich der Gedanke in Sein und Wesen teilt und sich im Rahmen eines Dualismus bewegt. Dieser Dualismus — etwa KANTS und PLATOS — ist kein einfaches

objektive und subjektive Logik bei Hegel

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Gegenüberstehen von Sein und Gedanke, sondern seine Dialektik ergibt sich eben deswegen, weil einerseits es vorausgesetzt wird, daß diese zwei zusammengehören sollen, andererseits aber deren Einheit auf Grund der „Reflexion" unbegreiflich ist. Die Philosophien der Reflexion oder des Sollens bringen — mit ihrer Unfähigkeit ihr eigenes Problem zu lösen — die Frage der Objektivität zum schärfsten logischen Bewußtsein. Das Sein der Logik ist ein Gedankengegenständ, d. h. in der Logik steht dem Gedanken ein anderer Gedanke entgegen und nicht etwa ein äußeres und äußerliches Objekt. Insofern also die Logik die Wissenschaft der Gedankenbestimmungen ist, wird innerhalb derselben der Gedanke durch sich selbst bestimmt: das eigentliche „Objekt" der Logik ist der sich durch sich selbst bestimmende Gedanke. Die dualistische Reflexionserkenntnis wird zum Begreifen, wenn der Gedanke diesen Bestimmungen selbst nachgeht, dann wird er ,„mit sich selbst zusammenschließen" anstatt ein äußerliches Objekt zu postulieren, ein Objekt, das die spezifischen Probleme des Denkens nie lösen kann. Die richtige Fassung des Objektsproblems führt uns von selbst zur logischen „Subjektivität". 2. Der „Begriff" als in die Subjektivität aufgehobenes Objekt Der „Übergang" vom „Wesen" zum „Begriff" läßt — um in den Kathegorien der Philosophiegeschichte zu sprechen — das System SPINOZAS in KANTS Philosophie übergehen. SPINOZA hat nämlich alles geleistet, was auf dem Standpunkt der Reflexion möglich war: sein Denken hat das ganze Objekt (Substanz-Attribut-Modus) umfaßt, nur aber hat er für den umfassenden Gedanken in seinem System keinen gebührenden Platz gefunden. Die Reflexion, die das Seinsganze umfaßt, scheint bei ihm außerhalb der Substanz zu existieren, sie von Außen zu betrachten. Der spinozistischen Philosophie zufolge ist es aber unmöglich, daß außerhalb der Substanz etwa existiere; also muß die Reflexion, der Gedanke über das Sein, mit dem Sein identisch sein. Wenn wir also dieses Selbstdenken des Seins mit dem Worte „Subjektivität" bezeichnen, so wird die logische Metaphysik, anstatt des objektiven Seins, den Prozeß der Denktätigkeit selbst betrachten als eigentliche Quelle der „Objektivität". Das ist aber — wenigstens der programmatischen Deklaration nach („kopernikanische Revolution") — das Bestreben der KANxischen Philosophie. KANT hat ja in diesem Sinne die „Objektivität" umgedeutet und Hegel gibt ihm dabei vollständig

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Recht. Gegenüber HUME hat KANT gezeigt, daß „Objektivität" — also Allgemeinheit und Notwendigkeit — nur ein Produkt des Denkens sein kann und daß sie ihren Sitz in der „transzendentalen Einheit der Apperzeption" hat. Die Entdeckung des „transzendentalen Ichs" ist nach Hegel die einzig mögliche Fortsetzung der spinozistischen Philosophie. Dieser Begriff — der Begriff Hegels — ist auch die Identität des Gedankens mit dem Sein, nun aber als tätig und nicht als einfach daseiend („Substanz") aufgefaßt. Anders ausgedrückt kann man sagen, daß die große Entdeckung KANTS im folgenden bestand; der oberste Begriff der Philosophie sei kein einfaches sondern ein sich selbst produzierendes Sein — das Ich — in dem und durch denselben sich alles Daseiende als gedanklich-objektives und nicht sinnlich-relatives konstituiert. In dem „Begriff" bilden Sein und Gedanke eine dynamische Einheit, einen Prozeß des Selbstkonstituierens oder, um mit Hegel zu sprechen, eine Substanz, die ebensosehr ein Subjekt ist. Hegel gibt vielleicht eine radikale terminologische Umdeutung der KANTischen Philosophie, er tadelt aber nicht mit Unrecht seinen großen Vorgänger, weil er seine eigene Entdeckung inkonsequent d. i. dualistischempirisch interpretiert. Es ist wirklich fraglich, wie man in der Begründung der Logik — transzendental oder nicht — die Sinnlichkeit als eine mit den logischen Begriffen gleichrangige Instanz aufnehmen kann. Für Hegel — und vielleicht viel konsequenter als für FICHTE und SCHELLING — ist das transzendentale Ich die Eröffnung der Welt der Freiheit, das Umschlagen von der äußerlichen, reflektierenden Betrachtung der Welt in das Begreifen, wobei das Sein nicht als einfach bestehend, sondern als sich selbst frei produzierend (sich entzweiend und sich mit sich wieder vereinend) verstanden wird. Was ergibt sich aber aus dieser Erörterung für das Subjekt-Objektproblem? Mit dem „Übergang" von SPINOZA zu KANT haben wir der objektivistischen, reflektierenden Betrachtung keinen „Subjektivismus" entgegengestellt. Es handelt sich hier um die Aufhebung der objektiven, an sich bestehenden Welt in Tätigkeit oder Selbstproduzieren. Das „Objekt" hat keinen Bestand, keine Unabhängigkeit; es konstituiert sich nur im Gedanken. Der Gedanke aber ist nicht nur die leere Tätigkeit des Konstituierens (etwa: eine Tafel von abstrakten Gedankenregeln), sondern das objektive Sein, der Inhalt, der sich selbst bestimmt oder sich schafft (nur in der Logik bedeutet Selbstbestimmen Selbstschaffen). Man kann auch sagen, wenn man will, daß der Gedanke die sich selber inhaltgebende Form ist — das ist dasselbe. Hegel sagt einmaP treffend gegen KANT — der dem * Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. G. Lassen. Teil 2. Leipzig 1951. 355.

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Subjekte Tätigkeit, aber nicht Sein zuschreiben wollte — daß Tätigkeit nicht nur das Sein in sich schließt (etwas muß doch existieren, um tätig zu sein), sondern sie auch die Negation, die Aufhebung des einfachen Seins bedeutet: sie ist Prozeß. Der „Begriff" Hegels ist also das konsequent aufgefaßte Ich KANTS, der nicht gegenüber dem objektiven Sein („Ding-an-sich") existiert, sondern zum inneren Prinzip (Anfang) des sich selbst entwickelnden Objekts wird, das Objekt zusammen mit seiner Dialektik. Eben weil hier kein Unterschied zwischen Objekt (res) xmd Gedanken (intellectus) mehr bestehen kann, spricht Hegel in diesem Zusammenhang auch von der Eröffnung des Reiches der Wahrheit: der Begriff ist ja das wahre Ganze. Für Hegel ist — demzufolge — die höchste Aufgabe der Logik, die Kategorien aus dem Begriffe der Wahrheit selbst abzuleiten; in der Logik muß der Begriff des „produktiven Verstandes" im Zentrum stehen, denn der Gedanke ist nicht endlich, er ist nicht durch Anderes, sondern nur durch sich selbst begrenzt. Die höchsten Produkte oder Objekte dieses Denkens — wir werden es gleich sehen — d. i. Ich, Welt, Gott, müssen auch die obersten Kategorien der Realität sein. Eben weil das Objekt in das Subjekt (oder in die Subjektivität) aufgehoben ist, existieren die Vemunftobjekte objektiv, sind nicht „bloß subjektive" Ideen. Subjektiv sind ja auch nach KANTS Behauptung die Sinne. Es ist durchaus verständlich, aus welchem Grunde hier die Polemik gegen KANT SO bitter wird: nach der Entdeckung des Ichs oder des Begriffs als der gemeinsamen Urquelle von Subjekt und Objekt ist es eine große Enttäuschung, das „Ding-an-sich" immer noch der Subjektivität gegenüberstehend zu sehen. Nach dem richtigen Verständnis des „Begriffs" ist das Ziel der metaphysischen Logik nicht mehr die Erfassung des Objekts, sondern seine „Herleitung" aus der Subjektivität (Hegel fügt hinzu: „wenn man es Herleitung nennen will"^), deren Bestimmungen nun objektive Gültigkeit haben müssen. Das ist eine Aufgabe, die das Wesen der sogenannten „spekulativen" Philosophie ausmacht. Die dialektische Fassung des Problems, d. h. daß der Begriff nicht verschieden vom Objekt, sondern seine Selbstbewegung, seine Wahrheit ist, scheidet scharf zwischen Hegel und FICHTE, der das Objekt nicht logisch, sondern praktisch faßte, als ein Hindernis, das sich ewig im Prozeß der Aufhebung befindet. Andererseits aber hat Hegel gute Gründe dazu, seinen „Begriff" nicht als „Indifferenzpunkt", als formale, spinozistische Gleichsetzung von Subjekt und Objekt aufzufassen. Wenn er das Subjektsein der Substanz so viel betont, meint er * Ebd. 230.

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nur, daß wir anstatt des spinozistischen, reflektierten Verständnisses, das Ganze als sich in zwei — das Sein und den Gedanken, das Subjekt und das Objekt — spaltende Tätigkeit (Prozeß) verstehen müssen. Der Weltprozeß entsteht dadurch, daß die Welt gedacht (negiert, in Bewegung gesetzt) wird, und die Tätigkeit des Denkens besteht im Denken des Seins: deshalb ist der Begriff nach Hegel objektiver Begriff, das Sein, das sich denkt. Er hat ziemlich überzeugend gezeigt, daß die aristotelische Lösung dieses Hauptproblems aller Philosophie die einzig mögliche ist. 3. Die „Objektivität” als „Moment" des Begriffs Im Lichte des Gesagten können wir schon näher Zusehen, was eigentlich der Abschnitt „Begriff" enthält. Im Begriffe hat sich die Subjektivität als die Wahrheit der Objektivität herausgestellt. Zuerst ist es also nötig, die Subjektivität als solche zu schildern, d. i. die spezifischen Tätigkeiten des schöpferischen Gedankens. Hegel möchte hier nur ausführen, was seiner Meinung nach bei KANT fehlt, nämlich die Herausarbeitung der Gedankentätigkeit aus dem Wesen des Gedankens selbst. Es ist schade, daß wir diese Tätigkeiten — nämlich das Begreifen, das Urteilen und das Schließen — in diesem engen Rahmen nicht analysieren können. Sie drücken nur die von uns schon bekannte Sachlage aus, daß das logische Denken nicht nur bilden von Allgemeinbegriffen ist, sondern es erzeugt auch die Differenz zwischen Begriffen* — also die KANTische „Mannigfaltigkeit" — und es ist möglich, beide in einer konkreten, als „Einzelheit" bestimmten, Einheit zusammenzuschließen. Hegel will also zeigen, daß in der Struktur des Gedankens selbst alles vorhanden ist, um „Synthesen" a priori zu erzeugen: es sind nicht die Sinne, die uns veranlassen, dem sozusagen „formalen" Gedanken Inhalt zu geben, sondern der Gedanke zeigt sich als den Inhalt a priori hervorbringende Form. Diese „Synthesen a priori" sind ebensowohl möglich als wirklich und, anstatt den Gedanken als leere Form beiseite zu schieben, bedeuten sie dessen Bereicherung an Bestimmungen in sich und aus sich selbst. Der Parallelismus zur KANxischen Philosophie geht aber noch weiter. Die drei Etappen der subjektiven Logik — Begriff, Objektivität (oder Welt) und Idee — sind nichts anderes als die drei „regulativen" Vernunftideen der transzendentalen Dialektik. Im Gegensatz zu KANT sind diese Ideen 3 Ebd. 227.

Objektive und subjektive Logik bei Hegel

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für Hegel, eben weil sie in der empirischen Erfahrung keinen Platz haben, die höchsten, reinsten und wirklichsten Erzeugungen des Gedankens. Das Subjekt, die Welt und die Idee oder Gott — als reine Begriffe — können nicht aus der Sinnlichkeit entstammen und doch bilden sie den eigentlichen Inhalt (oder Objekt, Gegen-stand) aller Erkenntnis. Die Tätigkeiten des Subjekts hätten keinen Sinn, wenn sie nicht zur allgemeinen Subjektivität — zum „Begriff" — schon gehörten; die verschiedenen Naturphänomene xoären nicht (also auch nicht „Phänomene"), wenn sie nicht als Erscheinungen einer gesetzmäßig wirkenden Welt (etwa die „Natur" KANTS) wären und Gott wäre überhaupt kein Gott, wenn sich seine Tätigkeit („Subjektivität") nicht in der Natur offenbarte"*. Bemerken wir nur, daß die Idee als die voll entwickelte Subjektivität nur im logischen und nicht im religiösen Sinne „Gott" heißen kann; er ist Gott mehr in der abstrakten KANxischen Fassung, nach derselben er auch eine Art Einheit der Subjektivität (Moral) und der Natur ist. Die Methode Hegels erlaubt aber keine „bloße Aufzählung" der Ideen — sogar wenn die Ergebnisse dieser Aufzählung richtig sind — sondern wir müssen sie im Prozesse des Auseinanderfolgens betrachten. Wenn innerhalb der „subjektiven" Logik die Idee der Welt oder die Objektivität aus dem Begriff selbst folgt, so hat das für Hegel einen wichtigen sachlichen Sinn. Es ist sehr lehrreich, wenn Hegel in diesem Zusammenhang den ontologischen Beweis zur Hilfe ruft — natürlicherweise in scharfer Polemik mit KANT. Seiner Meinung nach folgt das Sein nicht nur aus dem Begriff, sondern nur nachdem der Begriff oder die Subjektivität in sich vollständig ist, ist es möglich das in ihm enthaltene Sein (Welt) richtig zu erkennen. Der Begriff der Welt ist keine Summe empirischer Einzeldinge. Er ist das Sein als aus dem Begriff, aus seiner allgemeinen Gesetzmäßigkeit folgend, die natura naturans SPINOZAS, die natura formaliter spectata KANTS oder, wie ein glücklicher Ausdruck SCHWEGLERS lautet: „Objektivität ist nicht Sein überhaupt, sondern ein in sich vollständiges, begrifflich bestimmtes Sein." Der Irrtum KANTS war also zu glauben, daß uns nur die Sinne eine reell existierende Welt vermitteln können, der Gedanke, die Vernunft aber in einer „bloß begrifflichen", seinsollenden Welt stecken bleibt. Nach dem Gesagten scheint das Gegenteil wahr zu sein: die „Phänomene" könnten keine Weltfragmente sein, wenn wir nicht von einer vollständigen, nichtfragmentarischen Welt, deren Bruchstücke sie sind, wüßten. Die „Welt" wird aber notwendigerweise vom Gedanken gesetzt. *

Ebd. 354.

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aber nicht als etwas, das sein sollte, aber nicht ist — ein unerreichbares Ideal — sondern als vollständiges Sein, das also — im Sinne des ontologischen Beweises — nicht als nichtexistierendes gedacht werden kann. Die größte Aporie, zu der die KANiische Reflexphilosophie führt, ist eben dies: wäre die Welt nicht wirklich existierend, dann könnte auch der Gedanke über sie nicht existieren, dann hätte der ganze transzendentale Apparat keinen Sinn. Und umgekehrt: existierte der Gedanke nicht — also die Subjektivität, die nicht nur „möglich macht", sondern auch wirklich da ist — dann könnte auch die Welt nicht da sein, dann könnten die Einzeldinge — etwa als „Erscheinungen" — keinen einheitlichen Sirm ausmachen. Dementgegen lautet unser Ergebnis: es ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig das Sein — die Welt — aus dem Begriff herzuleiten, denn es ist in ihm schon enthalten und es ist unmöglich, den Weltbegriff aus einer anderen Quelle, etwa aus der Sinnlichkeit, „herauszuklauben". 4. Logik und nichtlogisches Sein Nun ist aber in imserer Erörterung der letzte — zusammenfassende und vorausblickende — Punkt der berühmte Übergang von der Idee zur Naturphilosophie, der u. a. auch die logischen Ergebnisse konkret auswertet. Die Idee ist — wie gesagt — der vollständig in sich entwickelte Begriff, der diesmal nicht nur die Gedankentätigkeiten, sondern auch die daseienden Dinge als Totalität, als begrifflich geordnete, schon enthält. Das Subjekt-Objektverhältnis läßt natürlich auch innerhalb der Idee Variationen übrig, die aber die schon erwähnte Lösung zusammenschließend wiederholen. Die Idee — diese Aktualisierung des Begriffs — ist aber nur in sich („an sich" bei Hegel) und die Logik, sogar in ihrer vollsten Entwicklung, ist nur eine „Welt der Schatten", nur das Bestimmtsein des Gedankens durch sich selbst. Es ist aber doch nicht überflüssig, die große Gedankenarbeit der Logik durchzumachen: wir müssen ja zuerst die Natur des Denkens kennen, um mit dessen Hilfe wahre Kenntnisse zu erwerben. Die größte Leistung der Logik ist aber die dialektische Fassung des SubjektObjektverhältnisses. Dementsprechend sind Subjekt und Objekt identisch in dem Sinne, daß sie nicht mehr zwei voneinander unabhängige Seiende bedeuten, sondern sie bilden einen einheitlichen Prozeß der Gedankentätigkeit, wobei der Gedanke nicht nur verbindet: er scheidet auch. Schon PLATO hat behauptet, daß die Wahrheit im Gespräch des Logos mit sich selbst besteht; ARISTOTELES hat gezeigt, daß die Wahrheit letzten Endes

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die noesis noeseos, der sich selbst denkende Gedanke ist, und KANT hat zur „obersten Bedingung" der Wahrheit die objektiven Bestimmungen des transzendentalen Subjekts gemacht: diese Reihe wird nun durch Hegels Logik gereift und beschlossen. Die Wahrheit der Logik besteht darin, daß die Bestimmungen des Gedankens, trotz ihrer Gegensätzlichkeit, sich miteinander zu einem konsistenten System zusammenschließen. Die Kategorien der Logik enthalten so in abstrakter Form alles, was für sich in der Wirklichkeit Wahrheit oder objektive Gültigkeit beanspruchen kann. Die Logik ist aber noch nicht die ganze Wirklichkeit; sie ist „nur" die Wahrheit derselben. Also die Logik ist wahr, aber abstrakt; die Wirklichkeit konkret, aber auch Unwahrheit enthaltend. Die „Natur", das nichtlogische Sein, kann also nicht „wahrer" sein, kann nicht mehr Gedankenbestimmungen enthalten, als die Logik selbst. Ihr „Mehr" an Konkretheit bedeutet ein „Weniger" an Wahrheit. Die „Natur" konstituiert sich nur, weil ihr Sinn, ihre Wahrheit schon logisch festgelegt ist; wir wissen ja schon a priori, was in der Natur zu suchen ist: der Logos, die Gesetzmäßigkeit, die Ordnung. Das alles scheint sehr rationalistisch und „panlogistisch" zu klingen, ist aber ein einfaches Ergebnis Hegels logischer Auffassung. Zweifaches müssen wir dazu überlegen. Erstens ist es nur logisch zu sagen, daß der Gedanke nur das versteht, was mit ihm übereinstimmt: das ganz Irrationale und Übervernünftige sind ihm — Gott sei Dank — wesensfremd. Oder noch „spekulativer" gesagt: der Gedanke kann nur begreifen, wenn er sich selbst in der äußeren Realität wiederfindet. Es ist vielleicht nicht überflüssig zu betonen, daß diese — alte griechische — Idee nicht besagt: in der Realität sei alles logisch, sondern ganz im Gegenteil: das Verstehen der Kontingenz und Irrationalität ist nur möglich, wenn wir den Logos, die Rationalität, wovon es abweicht, schon kennen. Hegel selbst sagt mehr als einmal: die Irrationalität und das Böse existieren und können einem sehr weh tun; sie sind reell, aber nicht wirklich; sie existieren, sind aber nicht die Gesetzmäßigkeit und Ordnung der Existenz: sie sind das, was die Ordnung stört. Denn die Wahrheit ist auch für Hegel der Index sui et falsi; ihre Erkenntnis bedingt auch das Wissen um die Abweichungen, und wir brauchen keine besondere Wissenschaft um das Falsche, das Böse, die Unvernunft zu erkennen. Das konkrete Verständnis der Realität besteht eben im Begreifen ihrer Gesetzmäßigkeit zusammen mit den Störungen und Hindernissen: in diesem Sinne ist die Natur wirklich die Idee in ihrem „Außersichsein". Zweitens aber findet hier die Problematik des KANxischen Relativismus und Phänomenalismus ihre Lösung. Inwiefern die begreifende Erkenntnis

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das Objekt — das Ding an sich — nicht außer der Erkenntnis läßt, sondern es unter der Form der daseienden Vernunft wiederfindet, ist die Welt vernünftig, soll sie es nicht bloß sein. Nur wer die Welt vernünftig anzusehen fähig ist, nur den sieht die Welt vernünftig an. Hegel zeigt mit großem Erfolg, daß alle Theorien des „Sollens", des „Als-Ob" usw. auf einer unrichtigen Auffassung des Subjekt-Objektverhältnisses beruhen, wobei das gedachte Objekt als undenkbar, als „das Jenseits der Erkenntnis" ins Unbestimmte herausprojiziert wird. Er hat auf Grund moderner Weltanschauung die Identität des subjektiven und objektiven Nous wiederbegründet und besser als er selbst, kann man seine Zentralidee® nicht ausdrücken: „[Es ist wichtig], daß die Philosophie darüber verständigt sei, daß ihr Inhalt kein anderer ist als der im Gebiete des lebendigen Geistes ursprünglich hervorgebrachte und sich hervorbringende, zur Welt, äußern und innern Welt des Bewußtseins gemachte Gehalt, — daß ihr Inhalt die Wirklichkeit ist . . . [Es ist] für den höchsten Endzweck der Wissenschaft anzusehen . . . die Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit hervorzubringen."

®

Hegel: Enzyklopädie der philosophisdten Wissensdiaften im Grundrisse.

§ 6.

WERNER FLACH (WÜRZBURG)

HEGELS DIALEKTISCHE METHODE

Wenn man einen Blick in jenes Kapitel der Philosophie wirft, das Hegels Dialektik und die Diskussion über diese ausmacht, so muß man zugeben: Der Hegelsche Gedanke der Dialektik oder, wie wir genauer sagen müssen, der dialektischen Methode bildet weder einen gesicherten Bestand der Philosophie noch ist er dem Vergangenen zuzurechnen. Obwohl man sich nach wie vor auf eben diesen Hegelschen Gedanken zu berufen pflegt, hat es die Hegel-Forschung noch nicht dahin bringen können, verläßlich anzugeben, was die dialektische Methode bei Hegel ist oder sein soll oder sein muß. Diesem Faktum, das umso bedauerlicher ist, als gewisse Interpretationen der Hegelschen Dialektik eine nach Anmaßung, Ausbreitung und Folgen hervorragende, ja weltgeschichtliche Bedeutung erlangt haben, ist zu entnehmen: (1) Dem Hegelschen Grundgedanken der dialektischen Methode kommt ein Wahrheitsgehalt zu, der ihm seine fortdauernde Aktualität sichert; er betrifft ein systematisches Grundproblem der Philosophie. (2) Offensichtlich kennt die Philosophie dieses Problem nur in der besonderen Gestalt des in Frage stehenden Hegelschen Gedankens und nicht auch in seiner rein sachlich-systematischen Bestimmtheit. Nach dem Wahrheitsgehalt des Hegelschen Grundgedankens der Dialektik forschen, ist deshalb eine ebenso systematische wie philosophiegeschichtliche Aufgabe. D. h.: Nicht allein das historische Interesse, sondern ebenso und mehr noch die systematische Arbeit an einem oder an gewissen Grundproblemen der Philosophie verlangt die Zuwendung zu Hegels dialektischer Methode, das Ringen um deren präzises Verständnis. Es hätte nun eine Reflexion darüber zu folgen, wie der vorliegenden Aufgabe nachzukommen ist. Ich muß mich hier darauf beschränken, einfach das Resultat anzugeben, auf das diese Reflexion — wie ich meine — zwangsweise führt. Der Versuch, den Wahrheitsgehalt des Hegelschen Gedankens der Dialektik zu erschließen, hat aus der vereinfachenden Geistmetaphysik, die

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das Erscheinungsbild der Hegelschen Philosophie beherrscht, die komplexe sinnanalytische Logik, die den Kern der Hegelschen Philosophie ausmacht, herauszulösen. Die Frage ist: Wie soll das gelingen können, wie soll — wenn ich einmal so sagen darf — die rückschreitende Metamorphose der Hegelschen Logik in Gang gebracht werden können? Dadurch, daß man zwei schlechterdings nicht zu übersehende Fakten zusammenhält: Hegels Kritik der traditionellen (formalen) Logik einerseits; das Fehlen eines eigenen, schlechthin neuartigen Prinzipiensystems der Hegelschen Logik andererseits. Bringt man diese beiden nicht wegzuleugnenden Fakten zusammen, so ergibt sich, daß auch die Hegelsche (absolute) Logik nicht umhin kann, die durch die Grundprinzipien der klassischen Logik bestimmte Formalität des Denkens festzuhalten. Diese Formalität ist in ebenso prägnanter wie präziser Weise im Begriff des Urteils fixiert. Also ist auch die absolute Logik Logik des Urteils, mag sie auch über die Logik des Urteils hinausstreben. Sie kann über die Logik des Urteils nur hinausstreben bzw. hinausgelangen, indem sie diese einschließt. Die Logik, die die Logik des Urteils überbietet und dennoch einschließt, ist die Logik des Denkens qua Prinzip oder, mehr in Hegels Worten, die Logik des begreifenden Denkens*. Wir dürfen sagen: Hegels Logik will Prinzipientheorie des Denkens (spekulative Logik) sein. (Das bestätigt sich übrigens an Hegels Verhältnis zu KANT und FICHTE. Er rühmt an beiden, daß sie im Gedanken des Transzendentalen das wahre Prinzip der Philosophie begriffen hätten; er bemängelt an beiden, daß sie dessen fxmdierende Funktion für alles Wissen nicht in hinreichender Genauigkeit und Umfassendheit aufgezeigt hätten. Konsequenterweise beansprucht er für sich, die in der inneren Notwendigkeit der Sache liegende Vertiefung und Vollendung der Transzendentalphilosophie zu leisten.) Über unseren Interpretationsversuch läßt sich somit sagen: Gemäß dem Interpretationsgesichtspunkt, den die Hegelsche Logik für sich selbst offen läßt und fordert, will er Hegels dialektische Methode daraufhin betrachten, was sie für die (sinnanalytische) Logik des Denkens qua Prinzip bedeutet. Ein Wort noch zu der Art und Weise des Vorgehens. Der Interpretationsversuch, der sich die angegebene Aufgabestellung zu eigen macht, wird die interpretationsgeschichtlichen Rücksichten zunächst völlig ausscheiden (wir können sie der Kürze halber überhaupt nicht berühren). Die philologische und die sachliche Komplexion des Problems aber wird er einheitlich über* Hegel: Wissensdtaft der Logik. Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1951. Teil 1. 23.

Hegels dialektische Methode

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schaubar zu machen suchen. Und zwar dadurch, daß er dem begrifflichen Sinn der einzelnen Aussagen des Hegelschen Textes die übergeordneten sachlichen Tendenzen, den sachlichen Tendenzen deren systematische Ordnung als Maß ihrer Bestimmtheit zuordnet. In dieser sich abstufenden Reduktion dürfte er sein Ziel erreichen, nämlich dies, die prinzipientheoretische Artikulation der dialektischen Methode Hegels, ihres funktionalen Sinnes und ihrer logischen Struktur, damit aber ihrer umfassenden fundamentalphilosophischen Relevanz, zu begreifen. Wenn ich nun sage, daß der in seiner Anlage beschriebene Interpretationsversuch der dialektischen Methode Hegels im folgenden durchgeführt werden soll, so stelle ich allerdings mehr in Aussicht, als tatsächlich geleistet wird. Denn von dieser Durchführung selbst muß gesagt werden, daß sie sehr skizzenhaft ist. Zur Durchfühnmg; Der Sache nach wie in Hegels Reflexion über die Sache bildet die dialektische Methode den Kern seiner Logik. Sie ist diese selbst in ihrer reinen Wesenheit, wie es schon in der Phänomenologie* heißt. (Hegel spricht deshalb von der Methode im Singular — mit gutem Recht, da Methode in diesem Hegelschen Verstände „die Natur des Denkens selbst"® ist.) Um also den Sinn dessen erfassen zu können, was die Hegelsche Dialektik darstellt, ist zugleich zu begreifen, was unter dem Hegelschen Begriff der Logik zu verstehen ist. Darin liegt: Wir haben mit unseren Überlegxmgen bei Hegels Angabe des Standpunktes anzusetzen, „nach welchem die Logik zu betrachten ist"; denn diese Angabe^ stellt ja den expliziten Hinweis auf den Hegelschen Begriff der Logik dar. Der Begriff der Logik (der „neue Begriff wissenschaftlicher Behandlung"®) bestimmt sich nach Hegel durch den Gedanken der totalen Reflexion. Dieser Gedanke ist nach allem, was Hegel von ihm sagt, als Erweiterung und Vertiefung der transzendentallogischen Sphäre zu nehmen. Hegel geht aus von einer Analyse des Begriffs der Intentionalität. Intentionalität besagt: Alles Denken ist Denken von etwas. Hegel sieht darin eine thematische Differenz begründet. Das Denken besitzt zwei unterschiedene Themata: Sein und Sinn. Sein ist das Thema des objektivierenden, d. h. gegenstandsbestimmenden Denkens (von Hegel abgehandelt im ersten Buch der Logik: in der Lehre vom Sein). Sinn ist das Thema des Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 40. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1923. § 11. Vgl. Wissenschaft der Logik. Teil 1. 29 ff. 5 Ebd. 6. ^



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reflektierenden, d. h. des sich selbst vergewissernden Denkens (von Hegel abgehandelt im zweiten Buch der Logik: in der Lehre vom Wesen). In der Thematik des Seins ist das Denken an sich: es versteht das Wissen als Bestimmungen des Gegenstandes. In der Thematik des Sinnes ist das Denken für sich: es versteht das Wissen als Bestimmungen des Gedankens. In der Einheit der beiden Themata ist das Denken an und für sich. Das Denken an und für sich ist nach Hegel die totale Reflexion oder der Begriff (von Hegel abgehandelt im dritten Buch der Logik: in der Lehre vom Begriff). Der Begriff selbst ist nicht mögliches Thema des Denkens; in ihm ist das Denken vielmehr Einheit von Wahrheit und Gewißheit des Wissens, „Vergleichung seiner mit sich selbst"“. In dieser Vergleichung seiner mit sich selbst erweist sich das Denken zugleich als Gegenstandswissen und als Reflexionswissen. Es ist Gegenstandswissen, indem es Reflexionswissen ist, und es ist Reflexionswissen, indem es Gegenstandswissen ist. Indem es zugleich das eine wie das andere ist, ist es nach Hegel das, was es selbst oder was es in seinem Grunde ist. Hegel sagt: „In dieser Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein, ist es, daß überhaupt die logische Notwendigkeit besteht."’ Das ist eine sehr prägnante Formulierung der Idee der Letztbegründung eines jeden je bestimmten Wissens in der Selbstbezogenheit des Denkens. Gemäß dieser Idee der Letztbegründung fordert der Grundsatz der absoluten Logik: „Die Wissenschaft darf sich nur durch das eigene Leben des Begriffs organisieren . .."“ Sie ist die Genesis des Begriffs, und zwar in der Weise einer immanenten Deduktion.* Wir kennen nun Hegels Umschreibung der Problematik der totalen Reflexion. Aber wir kennen damit nicht auch schon deren Struktur. Die Struktur der totalen Reflexion bezeichnet Hegel durch den Begriff der Vermittlung. Der Begriff im Hegelschen Verstände ist Vermittlung. Als die Einheit der beiden Themata des Denkens stellt er ebenso die Bestimmtheit des Wissens wie die Reduktion auf die „notwendigen Formen und eigenen Bestimmungen des Denkens"*“ dar. Er ist „das den Reichtum des Besonderen in sich fassende Allgemeine".** Die Frage ist also: Wie kann der Begriff ebenso die Bestimmtheit des konkreten Wissens wie die Reduktion auf die „notwendigen Formen und eigenen Bestimmungen des Denkens" sein? Oder: Wie kann sich das DenPhänomenologie. 71. Ebd. 47. Ebd. 44. Vgl. Wissenschaft der Logik. Teil 2. 219. Ebd. Teil 1. 31. “ Ebd. 40. • ^ ® ®

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ken in seiner doppelthematischen Bindung als Prinzip erweisen, nochmals in Hegels Worten; wie kann es absolute Vermittlung sein? Hegels Ausführungen, die in diesem Punkte besonders dunkel sind, laufen darauf hinaus, die konstitutive Einheit der beiden möglichen Themata des Denkens, also die absolute Vermittlung, als Synthesis zt> denken, deren Struktur in der Inversion ihrer Momente besteht. Diese Synthesis, die zugleich ein Inversionsverhältnis darstellt, müssen wir nun erklären. (1) Als die Einheit schlechthin irreduzibler Momente ist sie dadurch ausgezeichnet, daß sie ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis bildet: die Momente bestimmen sich durch wechselseitigen Ausschluß, wechselseitige Limitation und wechselseitige Implikation. Es handelt sich also um eine vollständige Disjunktion streng koordinierter Momente. Ein Ganzes, das sich disjungierte, gibt es nicht, darf es nicht geben; denn als übergeordnetes Genus oder sonstwie bestimmtes Drittes höbe es die Einfachheit und Irreduzibilität der Momente auf. — Zufolge der Inversion in der Synthesis ist die Vermittlung (2) zugleich, d. h. als wechselseitiges Bedingungsverhältnis, Begründungsverhältnis: der Grund ist Grund des Begründeten; das Begründete ist durch seinen Grund Begründetes; aber es ist das eine Glied (der Grund), der das andere Glied (das Begründete) als Bedingung der Bestimmtheit seiner selbst allererst ermöglicht. Das Problem der Inversion in der Synthesis besteht also in der Frage: Worin ist die korrelative Einheit der Momente als Bedingung der Bestimmtheit der Momente zu suchen, wenn sie nicht ein Drittes neben den Momenten, wohl aber der Grund für die Bestimmtheit der korrelativen Momente sein soll (als Grund irreduzibler Momente natürlich absoluter Grund)? Ich glaube, Hegels Intention trifft am ehesten folgende Antwort: Die zur Bestimmtheit und Begründetheit der einfachen Korrelationsmomente unerläßliche synthetische Einheit derselben besteht in den Negationsattitüden der Momente selbst. In ihren Negationsattitüden haben die korrelativen Momente die Bedingung ihrer Bestimmtheit, die von ihnen selbst sehr wohl unterschieden, aber (trotzdem) nicht verschieden ist. D. h.: Der Momentcharakter der Momente selbst macht die Bedingung der Bestimmtheit und den Grund der Begründetheit der Momente aus. (Nur insofern sie Momente, und nichts als Momente, sind, haben die Momente in ihrer wechselseitigen Korrelation ihre volle, begründete Bestimmtheit.) Auf das Verhältnis der beiden Themata des Denkens übertragen, bedeutet das: In der inversen Thematik von Sein und Sinn besteht die Einheit des Denkens. Neben Sein und Sinn ist kein weiteres Thema des Denkens möglich. Der Begriff ist nicht etwas neben Sein und Sinn, son-

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dem er ist das, was Sein und Sinn begründeterweise sind. Und indem er das ist, was Sein und Sinn begründeterweise sind, ist er zugleich Grund (der Bestimmtheit) seiner selbst. Er ist die ursprünglich — synthetische Einheit oder das Denken als Prinzip. Hegel sagt: Im Begriff ist das Denken „das an und für sich Unendliche"*^, „die sich selbst enthüllte Wahrheit"*®, die freie Macht, die über alles übergreift und dennoch in allem bei sich selbst ist**. Diesen fundamentalen und entscheidenden Hegelschen Gedanken des Denkens als Prinzip müssen wir nun noch etwas näher auf seine reflexionslogischen Implikationen hin betrachten. Zunächst läßt er keinen Zweifel darüber, daß das von allen thematischen Bestimmungen freie Prinzip des Denkens nichtsdestoweniger in einer absoluten Weise bestimmt ist. Es ist der bestimmte Grund und die in sich bestimmte Bedingung für die inverse Gebundenheit des Denkens in seinen möglichen Themen. Es ist das Prinzip dafür, daß das Denken als Vollzug etwas zu intendieren und dabei zu bestimmen vermag; es ist das Prinzip dafür, daß das Denken als Gedanke Anspruch auf Geltung erhebt und demzufolge entweder gültiger oder ungültiger Gedanke ist. Es ist das Prinzip der Intentionalität und der Geltung. In einem zweiten Stücke besagt der fragliche Gedanke, daß das Prinzip des Denkens in allen diesen Bestimmungen Negation ist, und zwar doppelte oder positive Negation. Hegel spricht von der doppelten oder positiven Negation, weil er in der Negation diejenige Funktion sieht, die eine totale und zugleich schlechthin ungebundene relationale Mächtigkeit besitzt. Allein seine Negativität ermöglicht es dem Denken, Bedingung und Bedingtes, Grund und Begründetes, Prinzip und Konkretum, und dies alles zugleich zu sein. Die Negativität des Denkens ist also identisch mit seiner prinzipiellen Bestimmtheit, seiner totalen Reflexivität. Und die positive oder doppelte Negation ist der definierte Operator dieser Bestimmtheit. Der fundierende Reflexionsgedanke der Hegelschen Logik ist hiermit in seinen Hauptstücken vorgelegt. Und, wie ich glaube, in einer Weise, die hinreichen mag, um die Artikulation der dialektischen Methode in der Philosophie Hegels sichtbar zu machen. Nicht anders nämlich als die totale Reflexivität des Denkens hat auch die dialektische Methode ihren Operator in der doppelten oder positiven Negation. Sie ist also ebenfalls ein Stück der Hegelschen Prinzipientheorie. Und zwar handelt es sich in ihr um die »2 Ebd. Teil 2. 476. Ebd. 237. *'* Vgl. ebd. 242 f.

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Frage nach der Kontinuität zwischen der Bedingung und dem Bedingten, dem Grund und dem Begründeten, dem Prinzip und dem Prinzipiatum. Hegel bringt deshalb ihre Problematik auf die knappe Formel von der Bewegung des Begriffs selbst. An diese muß sich die Interpretation halten. Das Hegelsche Theorem von der Bewegung des Begriffs in eine Frage umgewandelt, lautet: Wie kann die unendliche Negativität des Denkens die eigene Bestimmung des Begriffs und die Entwicklung des Systems der Begriffe überhaupt oder, wie Hegel auch sagt, „der Gang der Sache selbst" sein^®? So umformuliert, läßt es sogleich erkennen, daß es Strukturfragen der Prädikation betrifft. Daran nämlich, daß der Terminus „Begriff" in einer bezeichnenden Doppelbedeutung auftritt. Im einen Verstände steht er nur im Singular, der Plural ist ausgeschlossen; in dieser Bedeutung meint er das Denken als Prinzip der Prädikation. In seinem anderen Verstände ist der Plural weder ausgeschlossen noch vermieden; in dieser Bedeutung meint er das Denken als Prinzipiatum, den Begriff im üblichen Verstände. (Wir werden den Terminus „Begriff" nur noch in diesem üblichen Verstände gebrauchen. In seiner anderen Bedeutung ersetzen wir ihn fortan stets durch den Terminus „Denken".) In der Prädikation geht es um die Bestimmung eines zu bestimmenden Begriffs durch einen bestimmenden Begriff. Es ist nun offensichtlich, daß die Möglichkeit und der Erfolg jeder Bestimmungsleistung von der Bestimmheit des bestimmenden Begriffs abhängig ist. Wie aber kann der bestimmende Begriff bestimmt sein und welche Folgen hat der Begriff seiner Bestimmtheit für die Definition des Begriffs der Bestimmung? Genau die in dieser Frage aufgezeigte Problematik des Begriffs der Bestimmung behandelt Hegel in seiner Dialektik. Hegel stellt fest: Erstens, der zu bestimmende Begriff wird bestimmt durch eine Anzahl von bestimmenden Begriffen. Er ist identisch mit einer Reihe von bestimmenden Begriffen; er ist die Funktion der Bildung einer solchen Bestimmungsreihe. S ist a, b, c, d usf. Darin liegt: Die bestimmenden Begriffe a, b, c, d usf. stehen zueinander in einer Beziehung, die ihre gemeinschaftliche Bezogenheit auf S abbildet. Die Bezogenheit auf S ist die Relation der Bestimmung, d. h. des Setzens von Bestimmungen, die S zukommen, oder auch des Aufhebens von Bestimmungen, die S nicht zukommen, a, b, c, d usf. bilden diese ihre Bezogenheit auf S dadurch auf ihr Verhältnis zueinander ab, daß sie sich zueinander konjunktiv verhalten (ein logisches Produkt bilden). In der logischen Konjunktion ist nur dann eine Bestimmung erVgl. ebd. Teil 1. 36 f.

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reicht, wenn die Glieder sich in ihrer Bestimmtheit nicht wechselseitig aufheben. Bestimmung kann also Setzung wie Aufhebung von Bestimmtheiten sein; sie darf nur nicht ein und dieselbe Bestimmtheit ebenso setzen wie aufheben. D. h.: Die gemeinschaftliche Bezogenheit der Glieder einer Bestimmungsreihe auf den zu bestimmenden Begriff, oder schlicht: die Bestimmungsfunktion, verbietet den Widerspruch zwischen den Gliedern der Bestimmungsreihe. In dieser Rücksicht lehrt Hegel die Notwendigkeit des Widerspruchsausschlusses. Nun ist aber, zweitens, die Beziehung der bestimmten Begriffe a, b, c, d usf. aufeinander, die ihre gemeinschaftliche Beziehung zu 5 abbildet, nicht die Bedingung für die Bestimmtheit von a, b, c, d usf. selbst; sie stellt lediglich deren konjunktive Einheit dar. Die bestimmenden Begriffe selbst, d. h. ein jeder bestimmende Begriff hat seine Bestimmtheit in der disjunktiven Einheit untergeordneter Begriffe und durch seine disjunktive Einheit mit koordinierten Begriffen unter einem je fundamentaleren und fundamentaleren Begriff. Das besagt in einem genauen Verstände: Ein jeder bestimmende Begriff hat zur Bedingung seiner letztlichen Bestimmtheit das Totum aller übrigen (zur Bestimmung tauglichen) Begriffe. In dieser Rücksidit bilden a, b, c, d usf. eine vollständige Disjunktion. Sie bestimmen sich wechselseitig (durch wechselseitigen Ausschluß, wechselseitige Limitation und wechselseitige Implikation), a bestimmt sich gegen b, c, d usf.; b bestimmt sich gegen a, c, d usf.; c bestimmt sich gegen a, b, d usf. Die Bestimmheit eines jeden bestimmenden Begriffs steht also unter der Bedingung der Bestimmtheit aller übrigen Begriffe (Korrelation von a/non-a; b/non-b; c/non-c usf). Oder: Jeder bestimmende Begriff ist bestimmt nur dank seiner Zugehörigkeit zum System der bestimmenden Begriffe überhaupt, dessen Ordnung der durchgängige Widerspruch bildet. In dieser Rücksicht lehrt Hegel die Notwendigkeit des Widerspruchs. Hegel lehrt also ebenso die Notwendigkeit des Widerspruchs wie die Notwendigkeit der Vermeidung des Widerspruchs. Er lehrt darin die untrennbare Einheit der Bestimmung und der Bestimmtheit des Begriffs. Und das ist das dritte Stück seiner Untersuchungen zur Logik der Prädikation: Die Einheit seiner fundamentalen Funktionen der Bestimmung und der Bestimmtheit macht das Denken zu einer Bewegung, zur triadischen Konstruktion von Thesis, Antithesis und Synthesis. Das zuerst Unmittelbare ist als Vermitteltes bezogen auf ein Anderes, oder es ist das Allgemeine als ein Besonderes; es ist das Negative des Positiven, eine zweite Bestimmtheit'“, die als „das Andere an sich selbst, das Andere eines ** Vgl. ebd. Teil 2. 494 f.

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Anderen; darum . . . ihr eigenes Anderes in sich und .. . somit als der Widerspruch die gesetzte Dialektik ihrer selbst" ist*’. Zur Erläuterung: Wir nehmen an, A werde durch b bestimmt, b stehe in Koordination zu c und d und enthalte «/ ß/ Y als untergeordnete Begriffe in sich. S sei der Genusbegriff von b, c, d. — b ist als Bestimmung von A gesetzt, besagt nun: (1) A ist b — das ist die Thesis. (2) A ist c, d; denn b ist bestimmt im Gegensatz zu c rmd d — das ist die Antithesis. (3) A ist 2; denn b, c, d verdanken ihre Bestimmtheit ihrem übergeordneten Begriffe 2 (dessen disjunktive Glieder sie bilden) und ebenso A ist a, ß, yi denn b enthält a, ß, y als seine untergeordneten Begriffe in sich — das ist die Synthesis. In ihr ist der Widerspruch aufgehoben in der bekannten Mehrdeutigkeit dieses Hegelschen Terminus. Der Widerspruch ist verboten: A ist b, und da es b ist, darf b nicht zugleich gesetzt xmd aufgehoben werden. Der Widerspruch ist aufbewahrt: A ist durch b, und nur weil es b ist, im Widerspruch zu c und d bestimmt. Der Widersprudi ist Hinaufheben in die höhere Bestimmtheit sowohl des Grundes wie der Konkretion dadurch, daß A in der Bestimmung durch b zugleich auch durch 2 wie durch a, ß, y bestimmt ist. Nach dieser Erläuterung dürfte klar sein: In der Triade von Thesis, Antithesis und Synthesis begreift Hegel jedweden Begriff als die Implikation der Totalität der Begriffe nach den zwei Seiten der absoluten Begründung und der uneingeschränkten Konkretion des Denkens. Nach der Seite seiner Reduktion in den Grund seiner Bestimmtheit impliziert der Begriff das Denken als absolute Form xmd einfaches Allgemeines (d. h. als Prinzip); nach der Seite der Konkretion in seine speziellere Bestimmtheit impliziert der Begriff das Denken als bestimmten Inhalt und schlechthin Besonderes (d. h. als das in sich mannigfaltige Konkretum). Indem er ebenso das eine wie das andere impliziert, erweist sich der Begriff im Hegelschen Verstände nunmehr als Vermittlung in einem ebenso synthetischen wie reflexiven Sinne. In diesem Sinne ist er Stelle im Kontinuum von Bedingung und Bedingtem, Grund und Begründetem, Prinzip und Prinzipiiertem, der „Wendepunkt der Methode", wie Hegel sagt**. Die Prädikation aber oder die triadische Konstruktion macht die Funktion der Kontinuität des Denkens aus. Dank dieser Kontinuität des Denkens verhält es sich so — ich zitiere den Satz, in dem Hegel seine Erörterungen zur dialektischen Methode resümiert —, „daß jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmten Anfang sich entfernt. Ebd. 496. Ebd. 497.

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auch eine Rückannäherung zu demselben ist, dafS somit das, was zunächst als verschieden erscheinen mag, das rückwärts gehende Begründen des Anfangs, und das vorwärts gehende Weiterbestimmen desselben ineinander fällt und dasselbe ist"*“. Dieser Gedanke, das Denken als absolutes Kontinuum („System der Totalität"^“) und die Prädikation als Funktion zugleich der Letztbegründung und der Konkretion des Wissens aufzufassen, ist der definierte Begriff der dialektischen Methode Hegels.^^ Es ist somit das Ergebnis unserer Überlegungen, daß in Hegels Gedanken der dialektischen Methode der operative Schlüsselbegriff der Logik des Denkens qua Prinzip zu sehen ist. Er betrifft den in jedem Urteil vorliegenden Sachverhalt der untrennbaren Einheit von Bestimmtheit und Begründetheit des Wissens^^ (in seiner universalen Kohärenz). Hegel hat diese seine Grundeinsicht in seinen Hauptwerken entwickelt, aber immer wieder auch verdeckt. Vor allem die Absicht, die dialektische Methode als die universale Bewegungsformel des Gedankens auch zu demonstrieren, läßt Hegel nicht selten deren Schematisierung bis ins Uneigentliche vollziehen. Und es ist diese Schematisierung der dialektischen Methode bis ins Uneigentliche, die dazu führt, das dialektische Thema in der triadischen Konstruktion von Thesis, Antithesis, Synthesis ausgeschöpft zu sehen. So abgelöst von dem reflexionslogischen und urteilstheoretischen Grundvorhaben Hegels, dringt seine diedektische Methode in das allgemeine wissenschaftliche und populäre Bewußtsein ein und löst dort Wirkungen von ungeahnten Folgen aus. MARX ist das große geschichtliche Beispiel.

Ebd. 503. 2« Ebd. 502. Er gehört Hegel allein an. Denn sowohl in der Dialektik Kants und Fichtes wie auch in der späteren Transzendentalphilosophie ist an der reziproken Dualität von Letztbegründung und Konkretion des Wissens festgehalten. Deshalb Hegels Polemik gegen den Urteilsbegriff der traditionellen Logik; nach diesem Begriff des Urteils ist das Urteil „ungeschickt, das Konkrete ... und Spekulative auszudrücken". Vgl. Enzyklopädie § 31; Wissenschaft der Logik. Teil 2. 495.

GOTTHARD GÜNTHER (URBANA, ILLINOIS)

DAS PROBLEM EINER FORMALISIERUNG DER TRANSZENDENTAL-DIALEKTISCHEN LOGIK Unter besonderer Berücksiditigung der Logik Hegels *

Wenn in der folgenden Untersuchung von einer Formalisierung der transzendental — dialektischen Logik, die den Bemühungen des Deutschen Idealismus zugrunde liegt, gesprochen wird, so kann damit zweierlei gemeint sein. Erstens: eine direkte Übersetzung des vorliegenden historischen Textmaterials der Autoren KANT, FICHTE, Hegel und SCHELLING^ (soweit es logischen Gehalt hat) in die Sprache eines formalen Kalküls. Zweitens: eine Neudarstellung der sachlichen Problematik, die sich in der Entwicklung von KANT bis zu SCHELLINGS positiver Philosophie enthüllt, auf dem Boden eines transklassischen Formalismus. Es würde sich hier also um ein Parallelunternehmen handeln, zu dem die logischen Schriften des Deutschen Idealismus zwar ausgiebig Hilfestellung leisteten, das aber nicht den Charakter eines Kommentars zum Wortlaut des idealistischen Textbestandes hätte. Solche Fragen wie: was ist transzendentaler Schein, Subjektivität, doppelte Reflexion in sich, Vermittlung des Denkens usw. können ganz unabhängig davon, daß sie Kernprobleme des Idealismus repräsentieren, auf ihre formallogische Struktur hin untersucht werden. So betrachtet ist ihr Auftreten in dem geschichtlichen Phänomen des Deutschen Idealismus akzidentiell. Es hat sich im Verlauf der Untersuchung gezeigt, daß es nicht praktisch ist, bei einer Analyse des formallogischen Gehalts der transzendental-dialektischen Logik sich auf den ersten oder den zweiten Zugang zum Thema ausschließlich festzulegen. In den folgenden Darlegungen sollen beide Wege benutzt werden. Im Allgemeinen aber dominiert der Gesichtspunkt einer Neudarstellung der sachlichen Problematik. Der Verf. vermutet, daß eine (höchst wünschenswerte) kalkültheoretische Analyse eines so dunklen *■ Prepared under the Sponsorship of the Air Force Office of Scientific Research, Directorate of Information Sciences, Grant AF-AFOSR-8-63. ‘ Audi Salomon Maimons Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens (1794) muß eventuell hier zugefügt werden.

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Werkes wie der Phänomenologie des Geistes viel weniger Schwierigkeiten bieten wird, wenn die Kenntnis der formalen Struktur einer Logik des subjektiven Reflexionsprozesses mit Methoden gewonnen wird, die unabhängig von denen sind, mit denen KANT und seine Nachfolger ihre Resultate erreicht haben. Zum Schluß soll darauf hingewiesen werden, daß dieser Beitrag zu den Hegeltagen in Heidelberg nicht beansprucht, das Problem einer Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik gelöst zu haben. Unser Ehrgeiz beschränkt sich darauf, einen Weg zu zeigen, der vielleicht zu einer solchen Lösung führt. I. Im zweiten Teil der transzendentalen Elementarlehre der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet KANT die allgemeine Schullogik von seinem neuen Begriff einer transzendentalen Logik. Die erstere .. . „abstrahiert .. . von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis, und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände, und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun"*. Die Idee der Transzendentallogik aber entspringt nach ihm aus „der Erwartung, daß es vielleicht Begriffe geben könne, die sich a priori auf Gegenstände beziehen mögen, nicht als reine oder sinnliche Anschauungen, sondern bloß als Handlungen des reinen Denkens . . Eine Wissenschaft, die sich mit solchen Handlungen beschäftigte, wäre die gesuchte transzendentale Logik. Die letztere teilt KANT dann wieder ein in transzendentale Analytik und transzendentale Dialektik. Beiden Aspekten dieser neuen Logik ist gemeinsam, daß in ihnen die „bloßen formalen Prinzipien des reinen Verstandes"“* isoliert werden. Aber „der Gebrauch dieser reinen Erkenntnis . . . beruht darauf, als ihrer Bedingung: daß uns Gegenstände in der Anschauung gegeben seien, worauf jene angewandt werden könne"®. Es ist wichtig festzustellen, daß KANT von den formalen Prinzipien dieser über den klassischen Formalismus hinausgehenden neuen Logik spricht. Trotzdem ist bis heute kein ernsthafter Versuch gemacht worden transzendentale Analytik und Dialektik in einer Operatorenlogik als Fortsetzung des aristotelischen Organons zu formalisieren. Die Gründe liegen in der Ent® ® * ®

Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Riga 1787. 78. Ebd. 81. Ebd. 88. Ebd. 87. — Wir zitieren die Erdmannsche Lesart.

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Wicklung, die die neue transzendentale Theorie des Denkens in den Systemen der Nachfolger KANTS, speziell bei FICHTE und Hegel, aber auch bei ScHELLiNG genommen hat. Es ist unverkennbar, daß den Bemühungen der letztgenannten Denker die Absicht zugrunde liegt, die tradierte formale Schullogik in ein System von höherer logischer Mächtigkeit zu integrieren*. Dabei ist folgendes zu bemerken: die KANTische Unterscheidung zwischen tradierter und Transzendentallogik wird schon bei FICHTE an entsprechender Stelle durch die Trichotomie von gemeiner oder gewöhnlicher Logik, von Transzendentallogik und von Wissenschaftslehre ersetzt. In diesem Zusammenhang ist vor allem beachtenswert, daß für den Verfasser der Vorlesungen Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie oder transzendentale Logik auf der dritten Stufe des neuen Standpunktes die beiden traditionellen Wahrheitswerte „wahr" und „falsch" verschwinden. „Wir sind indifferent gegen wahre und falsche Philosophie, nur außerhalb beider schwebend", ruft er aus.^ Noch emphatischer ist Hegel in dieser Hinsicht. Er behält zwar die Idee des Wahren als ontologische Konzeption, aber der logische Prozess des Geistes kann nichts Falsches erzeugen. Seine Logik besitzt keinen durch das finite Subjekt manipulierbaren Operator, vermittels dessen wahre Aussagen in falsche und falsche in wahre transformiert werden können. Überdies ist bei ihm die trichotomische Struktur der Logik wesentlich tiefer als bei FICHTE ausgebildet. Während FICHTE gelegentlich (und wie es uns scheint mißverständlich) von der „Zerstörung" der gemeinen Logik spricht und KANT de facto vorwirft, daß er diese Zerstörung nicht weit genug getrieben hätte, ist die klassische Logik auf ganz unverlierbare Weise unter dem Titel „Das Wesen" als die Theorie der Reflexionsbestimmungen in das System der Hegelschen Logik eingebaut. Hegels eigene Polemik gegen die Schullogik hat die Hegelforschung bis heute daran gehindert zu sehen, wie wesentlich der klassische Formalismus für den Aufbau des dialektischen Systems ist. Es ist kein Zufall, daß einerseits die Aristotelische Logik den Abschnitt über die RefZeTionsbestimmungen in der Großen Logik dominiert und daß andererseits der absolute Geist als Reflexionin-Anderes, Reflexion-in-sich und als totale Reflexion beschrieben wird. Die schwächer oder stärker ausgeprägte Trichotomie der transzendentaldialektischen Systeme von KANT bis Hegel und SCHELLING ist der Ausdruck eines tiefgehenden philosophischen Themawechsels in der Geistesgeschichte des Abendlandes. Er bereitet sich unterirdisch seit DESCARTES vor, wie “ Wir gebrauchen diesen Ausdrude in dem Sinne, in dem er in Georg Cantors Theorie des Transfiniten auftritt. ’’ Tickte: Nackgelassene Werke. Hrsg. v. I. H. Fichte. Bd 1. Bonn 1834. 108.

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besonders klar gesehen hat®, aber expressiv verbis und mit einer tiefgehenden Korrektur des kartesischen Ansatzes tritt er erst in der Kritik der reinen Vernunft in das Licht des philosophischen Tages. Will man ihn so einfach wie möglich formulieren, dann läßt er sich vielleicht mit den folgenden Sätzen zum Ausdruck bringen: Das ausschließliche Thema der klassischen Tradition des Denkens bis zu dem Auftreten der Kritik der reinen Vernunft war das Sein als objektive, transzendent-gegründete Realität. Das unrelativierte Ansichsein. Wo das Subjekt, resp. das Ich, in diesem Weltbild auf trat, wurde es unweigerlich als Objekt, wenn auch von besonderer Gattung, begriffen. Spezielle Kategorien, die das Subjekt als Subjekt, also im totalen Gegensatz zum objektiven Zusammenhang der Welt begreifen sollten, standen weder zur Verfügung, noch empfand man ihre epistemologische Notwendigkeit. Die Logik, die diese Situation dominierte, war die Aristotelische, dichotomisch entwickelte, Wertlogik, in der der als „positiv" erklärte Wert die ganze Realität designierte und der negative Wert das relative oder absolute Nichts. Ein Denker, der das Subjekt denken wollte, hatte nur die Wahl es als ein objektives System oder (mystisch) als das Nichts zu beschreiben. Auf diese logisch-metaphysische Bedeutung der Kategorie des „als" hat der transzendental-spekulative Idealismus ausdrücklich aufmerksam gemacht.® Sie spiegelt sich z. B. in dem Doppelsinn des Terminus „objektiv", der sowohl eine innere Bewußtseinshaltung als auch das Gegenständlichsein des Wirklichen anzeigt. Die coincidentia oppositorum des Cusaners ist der tiefste Ausdruck jener metaphysischen Doppeldeutigkeit der klassischen Logik, deren Wurzeln in der bekannten Symmetrierelation der traditionellen Werte „wahr" und „falsch", oder „positiv" versus „negativ" liegen. Reinhold BAER hat in seinem Vortrag auf dem zweiten Hegelkongreß (1931) ausdrücklich auf den isomorphischen Charakter der zweiwertigen Logik und seine Bedeutung für die Hegelsche Dialektik hingewiesen. Da ein genaues Verständnis dieser Struktureigentümlichkeit der tradierten Logik für die Entwicklung eines transklassischen Formalismus unerläßlich ist, wollen wir die BAERschen Ausführungen im Detail zitieren. Unter einem Isomorphismus wird „eine solche umkehrbare eindeutige Zuordnung der Dinge eines Systems zu den Dingen eines anderen Systems, der Relation zwischen den Dingen des ersten Systems zu denen des zweiten Systems verstanden, daß Dingen des ersten Systems, die eine der einschlägigen Relationen erfüllen bzw. nicht erfüllen, ScHELLiNG

* Schellings Werke. Hrsg. v. Schröter. Bd 5. 74—102. • In neuerer Zeit ist darauf wieder von A. Gehlen hingewiesen worden. Siehe seine Theorie der Willensfreiheit. Berlin 133.

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solche Dinge des zweiten Systems zugeordnet sind, die die zugeordnete Relation erfüllen, bzw. nicht erfüllen". „Diesen fundamentalen Begriff", so fährt BAER fort, „wollen wir durch ein auch an sich interessantes Beispiel illustrieren, durch die logistische Aufweisung der coincidentia oppositorum. Der sogenannte (engere) Aussagenkalkül betrachtet einen Bereich von Dingen, die, Aussagen'genannt werden, und zwischen denen, von abgeleiteten Beziehungen abgesehen, die Beziehungen: ,Negation' und ,Konjunktion' (= sowohl ... als auch . . .) bestehen. Man kann aber auch die Beziehungen ,Negation' und ,Disjunktion' (= oder, nicht exklusiv, sondern im Sinn des lateinischen ,vel') zu Grunde legen. Es besteht dann die folgende Isomorphie, die eine Art Präzisierung des Dualismus zwischen Konjunktion und Disjunktion darstellt: 1. Jeder Aussage wird ihre Negation zugeordnet. 2. Die Grundbeziehung ,Negation' wird sich selbst zugeordnet. 3. Der Grundbeziehung ,Konjunktion' wird die Grundbeziehung ,Disjunktion' zugeordnet. Daß dies wirklich eine Isomorphie ist, folgt wesentlich aus dem Satz vom Widerspruch: a non-a, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten: a = non-non-a, und der Tatsache, daß die Negation einer Konjunktion gleich der Disjunktion des Negierten ist: non-(a A B) = non-a V non-b. Diese Isomorphie besagt nun bei inhaltlicher Interpretation des Aussagenkalküls tatsächlich die behauptete Coincidentia oppositorum: Jede Aussage ist zwar von ihrer Negation verschieden, aber es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen positiven und negativen Aussagen, sogar schärfer zwischen einer Aussage und ihrer Negation."^’^ Diese Eigenschaft der klassischen (zweiwertigen) Logik macht ohne weiteres verständlich, warum unsere wissenschaftliche Tradition von den Griechen bis auf den heutigen Tag radikal objektivistisch geblieben ist. Denn wenn zwischen einer Aussage und ihrer Negation kein wesentlicher Unterschied besteht, dann ist es völlig unmöglich, über das Stibjekt als Subjekt, d. h. als Nicht-Objekt, irgend etwas inhaltlich auszU's^gen, was nicht auch als Aussage über bona fide Objekte darstellbar wäre. Der Physiker Erwin SCHRöDINGER hat kürzlich diesen Tatbestand auf mhe außerordentlich geistvolle Weise in einer Monographie, die Mind and Matter betitelt ist, formuliert. Seine diesbezüglichen Bemerkungen lauten (in Reinhold Baer: Hegel und die Mathematik. In: Verhandlungen des zweiten Hegelkongresses vom 18. bis 21. Okt. 1931 in Berlin. Tübingen 1932. 104 f. — Hervorhebung im letzten Satz von uns.

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Übersetzung)”: „Der Grund, warum imser fühlendes, wahrnehmendes und denkendes Ich nirgendwo in vmserem wissenschaftlichen Weltbild anzutreffen ist, kann ganz einfach in sieben Worten angegeben werden: weil es nämlich selbst dieses Weltbild ist. Es ist identisch mit dem Ganzen und kann deshalb in demselben nicht als ein Teil enthalten sein". Und einige Seiten weiter fährt er fort: „. . . unsere Wissenschaft — griechische Wissenschaft — gründet sich auf Objektivation, wodurch sie sich den Weg zu einem adaequaten Verständnis des Subjekts der Erkenntnis, des Geistes, abgeschnitten hat. Ich glaube, das ist genau der Punkt, wo unsere gegenwärtige Methode des Denkens ergänzt werden muß.'”Als Philosophen können wir dazu nur sagen, daß solche verspäteten Zugeständnisse eine Bestätigung des metaphysischen Themawechsels sind, der durch die Kritik der reinen Vernunft inauguriert worden ist. KANT fügte zum Problem des Seins, das bis dahin die wissenschaftliche Tradition des Abendlandes dominierte, das Problem des nicht-objektiven Bewußtseins, d. h. der seinsthematisch nicht begreifbaren Ichsubjektivität. Mit dem Instinkt des Genies begriff er, daß für dieses neue fundamentale Thema der Philosophie das klassische Organon keine adaequaten Verständniskategorien liefert, daher seine Schöpfung der transzendental-dialektischen Logik und ihre weitere Vertiefung und Verfeinerung in den FicHiEschen W’issenschaftslehren und den logischen Spekulationen von Hegel und ScHELUNG. Die Entwicklung aber nahm einen verhängnisvollen Verlauf. Der Begriff und die Methodik der Formalisierung, die KANT und seinen Nachfolgern zur Verfügung stand, war der älteren Schullogik entnommen und der neuen Problematik in keiner Weise angemessen. Von der modernen Formalisierungstechnik, wie sie sich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu entwickeln begann, konnten die transzendental-spekulativen Logiker nichts ahnen. Das neue Thema trat deshalb im Gewände einer „konkreten" oder „dialektischen" Logik auf, deren Formalisierung schon deshalb nicht in Frage kam, weil das operierende Subjekt dieser Logik nicht der individuelle empirische Denker sondern eine trans-individuelle höhere Instanz sein sollte. Jeder dieser Philosophen gab ihr einen anderen Namen. Hegel nennt sie den absoluten Geist. Bei MARX heißt sie aus bestimmten Gründen wieder anders. Aber beide, Hegel sowohl wie MARX, sind sich völlig darüber einig, daß der dialektische Prozeß, der diese neue Logik in Bewegung hält, sich aller Formalisierung entzieht. Diese antiformalistische Tradition hat sich im Westen in der Idee der sogenannten geisteswissen** E. Sdirödinger: Mind and Matter. (Tarner Lect). Cambridge 1959. 52. Ebd. 54 f.

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schaftlichen Logik mit Zähigkeit erhalten. Aber auch der dialektische Materialismus des Ostens bekennt sich mit gleicher Hartnäckigkeit zu ihr. In einer kenntnisreichen Studie über die philosophischen Probleme der mehrwertigen Logik hat der russische Logiker A. A. ZINOV'YEV kürzlich dargelegt, daß der Charakter der Dialektik es ausschließt, daß sie in einem Logikkalkül formalisiert werden kann. Das gelte nicht nur für die zweiwertige traditionelle Logik. Auch die strukturell reicheren mehrwertigen Systeme besäßen Limitationen, die die Möglichkeit einer solchen Formalisierung als Absurdität erscheinen ließen.'* Man kann nicht umhin, über diese rührende Einigkeit zwischen westlichen Geisteswissenschaftlern Und marxistischen Logikern zu staunen. Sie scheint allerdings nicht mehr von langer Dauer zu sein (siehe unser Nachwort). Gegen diese Einstimmigkeit ist vorerst einzuwenden, daß beide Seiten ihren Standpunkt keineswegs durch eine sorgfältige Problem-analvse des logischen Formbegriffs und seiner Anwendbarkeit gesichert haben. Es liegen weder genügende Untersuchungen darüber vor, ob sich durch moderne Formalisierungstechniken die philosophische Logik etwa in einem Sinn, der den Hiatus von „Form" und „Stoff" wenn auch nicht aufhebt so doch wenigstens mildert, generalisieren ließe; noch können wir heute mit Zuversicht behaupten, daß es unmöglich sei, wenigstens eine begrenzte Zahl der Stufen des dialektischen Prozesses zu formalisieren. (Eng zusammen damit hängt das Problem, was aus der Antithese von „Form" und „Stoff" wird, wenn wir eine Logik mit abzahlbar unendlich vielen Werten einführen. Die Zahl der Funktoren eines solchen Systems ist dann von der Mächtigkeit des CANTORSCHEN ^i, d. h. die Funktoren repräsentieren ein den reellen Zahlen äquivalentes Kontinuum. Es ist kaum wahrscheinlich, daß unser aus der zweiwertigen Logik abgeleiteter kategorialer Gegensatz von „Form" und „Stoff" in dieser transfiniten Dimension der Funktorenlogik noch den gleichen Sinn hat wie in endlichen Wertsystemen.) Eine weitere Möglichkeit, über die man sich heute überhaupt noch keine Gedanken gemacht hat, ist die, ob sich vielleicht der klassische Formbegriff derart ins Transklassische erweitern ließe, daß man darauf verzichtete, die Erweiterung der traditionellen Logik durch Hinzufügung neuer Werte zu bewerkstelligen. Eine solche Methode schlösse selbstverständlich nicht aus, daß man sich, we;m nötig, trans-klassischer Werte bediente. Dieselben würden dann aber nur in einer subsidiären Rolle auftreten. Das arithmetische Argument, daß, wenn man Werte überhaupt zählt, man auch A. A. Zinov'yev; Filosofskiye Problemy Mnogoznadtnoy Logiki. Institut für Philosophie in der Akademie der Wissenschaften in Moskau 1960. Vgl. Kap. V, 5.

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weiter als bis zwei zählen könne, würde dann überhaupt keine Rolle spielen. Der Übergang der Logik vom Klassischen zum Trans-klassischen würde dann aufgrund einer andern grundlegenden Eigenschaft unserer traditionellen Theorie des Denkens verwirklicht werden. Dies ist in der Tat der Weg, der hier eingeschlagen werden soll. Wir kommen auf diese Weise den äußerst ernst zu nehmenden Argumenten entgegen, die von philosophischer Seite gegen die bedenkenlose Vermehrung der Werte durch die Kalkülrechner erhoben worden sind. VON FREYTAG-LöRINGHOFF hat sehr richtig bemerkt, daß die Einführung von mehr als zwei Werten „für die Logik nichts prinzipiell Neues" ergibt^^. Und kürzlich hat H. Arnold SCHMIDT sich ebenfalls in einem skeptischen Sinn geäußert. Er stellt fest: „Bei Einführung von mehr als zwei Wahrheitswerten . . . gelangt man, sofern man sie wirklich als Wahrheitswerte auffassen will, zu offenbaren Aporien der Interpretation, die sich auf keine zwanglose Weise überbrücken lassen."*® Die Zahl dieser Stimmen läßt sich beliebig vermehren. Hier sei nur noch der amerikanische Logiker C. E. LEWIS erwähnt, der in einer seiner Arbeiten über die Mehrwertigkeit der Logik erklärte, daß der Einschluß von allen formal gültigen Implikationsrelationen in einen trans-klassischen Formalismus keinen neuen Kanon des Logischen ergeben würde, sondern „Chaos"*®. Wir wollen weiterhin nicht vergessen, daß, wenn mehrwertige Systeme nicht in toto akzeptiert werden können, die philosophische Einheit der Logik nicht nur gefährdet, sondern praktisch bereits ausgehoben ist. Es ist bezeichnend, daß sich bereits der bedenkliche Sprachgebrauch herausgebildet hat, von mehrwertigen Logiken zu sprechen. Eines der Standardwerke auf diesem Gebiet hat diesen Plural ausdrücklich in seinen Titel aufgenommen.** Demgegenüber wird hier mit Entschiedenheit an der philosophischen Einheit der Logik festgehalten, und zwar in dem starken Sinn, daß diese Einheit auch eine Einheit des logischen Kalküls nach sich zieht. Mathematisierende Kalküle, die keine spezifisch formallogische Bedeutung beanspruchen und lediglich aus pragmatischen Erwägimgen heraus entstandene Rechensysteme sind, werden selbstverständlich von einer solchen Einheitsforderung nicht berührt. Obwohl die letzteren öfters und bedauerlicherweise Logiken genannt werden, kann nicht genug betont werden, daß es B. von Freytag-Löringhoff: Logik. Stuttgart, Köln 1955. 180. I® H. Arnold Schmidt: Mathematische Gesetze der Logik. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960. 125. I“ C. I. Lewis: Alternative Systems of Logic. In: The Monist 42 (1932). 507. ’’ 7. B. Rösser and A. R. Turquette: Many-valued Logics. Amsterdam 1952.

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sich hier um einen ganz illegitimen Sprachgebrauch handelt. Der Gebrauch logischer Symbole und einiger logischer Regeln produziert noch lange kein logisches System. Wenn wir heute in der Lage wären, unser ganzes medizinisches Wissen in Kalkülform darzustellen, so würde damit sicher manches gewonnen sein; es wäre aber absurd anzunehmen, daß wir damit eine neue Logik entwickelt hätten. Wenn die Einheit der (formalen) Logik bewahrt werden soll, kann der Begriff der logischen Form gar nicht rigoros genug interpretiert werden. Ein vorbildliches Beispiel dafür ist von Oskar BECKER gegeben worden, der, wenn wir ihn recht verstehen, sogar die Modallogik in den Bereich der angewandten Systeme verweist. Er kommentiert die Modalitätstheorie mit den folgenden wichtigen Sätzen: „Wir verstehen darunter eine der theoretischen Physik methodisch entsprechende Wissenschaft. Der theoretische Physiker arbeitet wohl mit mathematischen Denkmitteln (Formeln usw.), aber sein Ziel ist nicht die Errichtung freischwebender Gedankengebäude, wie sie der ,reine' oder ,freie' Mathematiker baut, sondern die Erklärung oder vielleicht besser die vollständige, möglichst einfache und durchsichtige Beschreibung des sich aus seinen Beobachtungen ergebenden Tatbestandes der physischen Erfahrung. Analog dieser physischen Erfahrung gibt es nun auch so etwas wie einen logischen Tatbestand, eine logische Erfahrung. Freilich wird diese nicht dem sinnlichen Auge sichtbar, sondern nur dem von PLATO bei ANTISTHENES vermißten geistigen Auge, das die Ideen zu erschauen allein fähig ist."‘® Das konnte nicht besser gesagt werden. Die Modalitätslogik steht genau an der Grenze zwischen einer im rigorosen Sinn formalen, „intensiven" Logik, für die kompromißlose Einheit gefordert werden muß, und allen pragmatischen, semiformalen Systemen, die an der mittleren Modalität, dem Kontingenzproblem, orientiert sind. Es ist bezeichnend, daß das berühmte neunte Kapitel der Hermeneia und die darin enthaltene Überlegung über den logischen Wert von Kontingenzaussagen auf das logische System des ARISTOTELES keinen Einfluß gehabt hat, wie BOCHENSKI richtig bemerkt*®. Es war die Absicht des ARISTOTELES, ein absolut formales System des Logischen zu entwickeln und dadurch die philosophische Einheit der Logik zu sichern. Folglich mußte das Kontingenzproblem und die damit verbundene Schwächung, resp. De-formalisierung, des tertium non datur aus seinem Formalismus ausgeschlossen bleiben. In der klassischen Gestalt des Aristotelischen Formalismus ist die Unterscheidung Oskar Becker: Einführung in die Logistik. Meisenheim/Glan 1950. 13. J. M. Bochenski: Formale Logik. Freiburg/Mündien 1956. 74.

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zwischen (subjektiver) Denkbarkeit und (objektiver) Wirklichkeit radikal. Es gibt kein Drittes dazwischen. Es ist aber evident, daß diese radikale Trennung zwischen notwendiger Form und kontingentem Inhalt in einer transzendentalen Theorie des Subjekts, wie sie in der Entwicklung von KANT bis Hegel und SCHELLING aufgestellt worden ist, nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Die trtmszendentale Logik kann nicht mehr — im klassischen Sinn — formal sein. Darüber brauchen wir weiter keine Wort zu verlieren. Eine ganz andere Frage aber ist; ist der in der griechischen Philosophie inaugurierte Begriff der logischen Form, den wir bis heute so gläubig beibehalten haben, wirklich der einzig mögliche? Ober steckt in ihm eine verborgene Voraussetzung, die ihn einengt und deren Beseitigung uns erlauben würde, ihn zu generalisieren und in einem transklassischen Sinn, der der Problematik der Transzendentallogik entspräche, zu erweitern? Unsere Frage kann auch noch auf eine andere Weise gestellt werden. Die bisherigen Versuche einer Erweiterung des klassischen (zweiwertigen) Formalismus haben sich alle auf das Wertprinzip gestützt. Man hat drei-wertige, vier-wertige und schließlich unendlich-wertige Kalküle eingeführt in der nicht unbedingt begründeten Hoffnung, daß sich für dieselben auch eine ontologische Interpretation finden ließe, durch die die philosophische Einheit der Logik gewahrt bleiben würde. Bis jetzt sind diese Versuche, vom Standpunkt des Philosophen aus gesehen, fehlgeschlagen. Und es sind auch keine Anzeichen vorhanden, daß wir zukünftig mit besserem Erfolg rechnen dürfen. Wer sagt aber, daß die Weiterentwicklung des logischen Formalismus auf dem Weg über das Wertprinzip zu erfolgen hat? Das Beispiel des ARISTOTELES, der trotz der Erwägungen des neunten Kapitels der Hermeneia keinen dritten Wert für Kontingenzaussagen eingeführt hat, sollte zu denken geben. Überdies ist die Hegelsche Logik, in der die transklassische Entwicklung des philosophischen Denkens vorläufig gipfelt, das genaue Gegenteil einer Theorie der Kontingenz des Wirklichen. Allerdings: für ARISTOTELES sind Formalismus und Werfformalismus synonyme Termini. Das ist die stillschweigende Voraussetzung der klassischen Logik. Der Erfolg der klassischen Logik in der Wissenschaftsgeschichte des Abendlandes beweist, daß die Aristotelische Gleichsetzung von logischer Form und logischer Wertstruktur berechtigt war, solange das Zweiwertigkeitsprinzip (Tertium non datur) nicht in Frage gestellt wurde. Unter dieser Voraussetzung war diese Logik „absolut". Der Begriff der logischen Form ließ sich schlechthin nicht erweitern und als in der Transzendentalphilosophie Fragestellungen auftraten, die wie KANT, FICHTE und

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Hegel zeigen, definitiv jenseits des Kompetenzbereiches eines zweiwertigen Formalismus lagen, sah man sich gezwungen zu einer, nichtformalen, operatorenlosen Logik, die „konkreten", resp. dialektischen Charakter besaß, überzugehen. Die weitere Entwicklung des transzendentalen Idealismus aber hat gezeigt, daß diese „Lösung" des durch KANT aufgeworfenen logischen Problems nicht akzeptabel ist. Der Rückgriff auf die Dialektik, die eher noch älter als die Aristotelische Logik ist, zeigt deutlich, daß man eine Erweiterung der Logik der Philosophie ohne Revision ihrer metaphysischen Grundlagen versucht hat. Dem Logiker zeigt die Kritik der reinen Vernunft ein zwiespältiges Gesicht. Einerseits löst sie die klassische Ontologie kritisch auf, andererseits aber mündet die transzendentale Logik wieder in der Dialektik, jener Dialektik, die das ureigenste Kind des ontologischen Denkens ist. In anderen Worten: die neue Logik, die der Idealismus zu inaugurieren versuchte, wird unter metaphysischen Voraussetzungen dargestellt, die sich bereits als unzureichend erwiesen haben. Dialektik ist der im Denken bejahte und aufrecht erhaltene Widerspruch. Nun ist es ganz evident, daß solange man logischen Formalismus mit Wertformalismus identifiziert, die in der Dialektik zutage tretende Problematik niemals formalisierbar sein kann. Soweit in der Hegelschen Logik von Thesis und Antithesis eine formale Struktur verborgen ist, ist dieselbe einwandfrei zweiwertig. Und Widerspruch ist stets Wertwiderspruch! Das gilt auch für Hegel. Er selbst spricht es in der Großen Logik in seiner Analyse des „Wesens als Reflexion in ihm selbst" in Abschnitt C des zweiten Kapitels ganz unmißverständlich aus. „Das Negative . . . schließt als Entgegensetzung die Identität (des Positiven) von sich aus."^“ Das ist formale Logik der „äußerlichen Reflexion", die ein unmittelbares Sein voraussetzt, aber „nicht in dem Sinne, daß Unmittelbarkeit nur Gesetztsein oder Moment ist (d. h. Bewußtseinsinhalt), sondern vielmehr, daß diese Unmittelbarkeit die Beziehung auf sich, und die Bestimmtheit nur als Moment ist"^L Es ist ganz unmöglich, daß in einer Logik, die sich mit der „äußerlichen Reflexion" befaßt, und in der der Widerspruch als die „Entgegensetzung" des Positiven und des Negativen gilt, ein dialektischer „Formalismus" entwickelt werden kann, für den p = ~p (O) klassisch-ontologisch eine „wahre" Formel ist. Nachdem Hegel aber selbst den Widerspruch als Wertwiderspruch interpretiert hat, fährt er fort und -“ Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. G. Lasson. Leipzig 1923. Teil 2. 50 f. -* Ebd. 17. — Der eingeklammerte Zusatz ist der unsrige.

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beschreibt das spekulative Denken seiner Dialektik mit den folgenden Worten: „Das spekulative Denken besteht nun darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber daß es sich, wie es dem Vorstellen geht (klassische Begriffsbildung), von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in Nichts auflösen läßt."^^ Wenn für die Dialektik aber gilt, daß das Denken sich in einer Beziehung, wie etwa ausgedrückt durch Formel (O), „festhalten" soll, so bedeutet das nichts anderes, als daß es ausgeschlossen ist, jene Realitätsstrukturen, die traditionell als dialektische bezeichnet werden, in einer formalen Logik zu interpretieren, die mit Werten und Wert-antithesen arbeitet. Auf diesem Boden ist eine Formalisierung der Problematik, die durch die transzendental-spekulative-dialektische Denkweise aufgedeckt worden ist, in der Tat unmöglich. Das soll ausdrücklich zugegeben werden. Aber, wie wir sehen, identifiziert auch Hegel Logik mit Wertlogik des Positiven und Negativen, und auch für ihn besteht der Formalismus darin, daß die positiven und negativen Bestimmungen nicht als equivalent betrachtet werden dürfen. Deshalb müssen sie ihrerseits den Widerspruch in „isolierten" Momenten (Werten) in seiner „Festigkeit unverrückt" bestehen lassen und können ihn nicht an den trans-subjektiven Reflexionsprozeß, in dem sich „der Begriff selbst weiter leitet" zurückgeben. Die „Festigkeit" des Wertwiderspruches von Positivität und Negation provoziert also einerseits die Dialektik des Begriffs, weil die Bestimmungen desselben auf jeder Stufe in der „lebendig konkreten Einheit" des Geistes von neuem „versöhnt" werden müssen, andererseits aber erlaubt sie die Formalisierung der Beziehungen, die zwischen den isolierten Bestimmungen der Denkinhalte statthaben. Formalismus ist also für den transzendentalen und spekulativen Logiker ausdrücklich Wertformalismus, und abstrakte logische Struktur ist Wertstruktur. An dieser stillschweigenden Voraussetzung der originalen Aristotelischen Logik wird nicht nur Hegel sondern auch noch heute unbeirrbar festgehalten. Auf ihr beruht die Überzeugung, daß die KANT-FiCHTE-Hegel-ScHELLiNGsche Logik nicht formalisierbar ist, daß es keine Logik der Geisteswissenschaften mit formalen Operatoren geben könne und daß der dialektische Materialismus, wie die russischen Logiker behaupten, nicht Folge sondern vorangehende Bedingung aller formalen Logikkalküle sei.** Ebd. — 59 f. Der eingeklammerte Zusatz ist der unsrige. “ Vgl. Zinov'yev (wie oben Anm. 13): „Alle Versuche, die Dialektik in der Form eines Kalkülsystems (mit Werten) zu entwickeln, können nur paradoxe Situationen ergeben." Der deutsche Text des Zitats ist (mit Ausnahme der Klammer) eine Über-

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Dieses Theorem von der Identität von logischer Form und logischer Wertstruktur soll in der folgenden Untersuchung aufgegeben werden. Es wird auf diese Weise möglich sein nachzuweisen, daß der klassische Formalismus des Denkens in einem noch näher zu bestimmenden Sinn unvollständig ist und durch ein trans-klassisches Gebiet der logischen Form ergänzt werden muß. Dieser Übergang zum Trans-klassischen wird unter ausdrücklichem Ausschluß des Wertbegriffs vollzogen werden. D. h. die Erweiterung des Bereichs der Operatorenlogik wird nicht auf dem Weg über die Mehrwertigkeit erfolgen, obwohl nach Gewinmmg des logischen Neulands Werte beliebiger Zahl — aber nur in subsidiärer Rolle — wieder zugelassen werden sollen. In der so durchgeführten Generalisierung des Formbegriffs der Logik wird sich zeigen, daß die frisch gewonnenen Formalstrukturen genau das logische Problem des Bewußtseins, resp. der Subjektivität betreffen, welches den Anstoß zu den transzendental-logischen Analysen der Kritik der reinen Vernunft, der FiCHXEschen Wissenschaftslehre und der Logik des Absoluten in der Hegelschen Philosophie gegeben hat. Vorläufig aber sind wir noch nicht so weit. Es ist erst notwendig festzustellen, wie es sich mit dem Anfang der Hegelschen Dialektik in der Antithese von „Sein" und „Nichts" verhält, soweit formale Gesichtspunkte in Frage kommen und soweit sich in diesem urphänomenalen Gegensatz die gegenseitige Spiegelung von Objekt und Subjekt ausdrückt. Daran anschließend wird es wichtig sein, kurz zu skizzieren, was wir in einem logischen Formalismus unter Objektivität versus Subjektivität verstehen dürfen. Ein korrespondierendes Begriffspaar, das diesen Gegensatz in formallogischen Analysen vertreten kann, muß deshalb eingeführt werden. Das ist die Aufgabe des zweiten Teils dieser Betrachtung. II. Da die metaphysische Begründung eines trans-klassischen Formbegriffs der Logik allen jenen Einwänden ausgesetzt ist, die heute von den Kalkülrechnern gegen transzendentale Interpretationen abstrakter logischer Strukturen gemacht werden, wollen wir unsern Ausgang von dem im ersten Teil besprochenen formalen Kriterium der Isomorphie nehmen. Wir erinsetzung aus der englisdier\ Ausgabe der Zinov'yevschen Monographie, die von U. S. Joint Publications Research Service (1961) herausgegeben worden ist. Englische Version des Zitats: 175.

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nern an SCHRöDINGERS Ausspruch, daß das erlebende Subjekt, qua Bewußtsein, selbst das Weltbild ist, das unsere Wissenschaft bisher entworfen hat. Damit sagt SCHRöDINGER nichts anderes, als daß es auf dem Boden unserer klassischen Wissenschaftslogik unmöglich ist, Objekt als Objekt und Subjekt als Subjekt zu unterscheiden. Wir sprechen zwar in unsern wissenschaftlichen Disziplinen allerorten von Subjekten, sogar die theoretische Physik tut es, wenn sie die Beschreibung eines Objektzusammenhangs von einem gegebenen Beobachter abhängig macht, aber das derart eingeführte Subjekt wird dabei unvermeidlich als ein Objekt neben andern behandelt. Es wird ihm ein Platz in der Welt angewiesen und die Frage, wie ein im Universum bestehendes Subsystem das ganze Universum als potentiellen Bewußtseinsinhalt besitzen kann, wird dabei schamhaft unterschlagen. Für das, wie Hegel sagt, unmittelbare Bewußtsein, das naiv objektiviert, existiert die Frage schlechthin nicht. Alles was „ist", ist notwendig ein Dingan-sich in der Welt. Und sofern ein Selbst existiert, muß es selbst-verständlich denselben objektiven Charakter haben. Selbst KANT spricht noch ganz unbekümmert von einem Ich-an-sich. Alles was das Subjekt ist, ist es als Objekt; als Subjekt ist es nichts. Die klassische Logik des objektiven Seins besitzt keine formalen Struktureigentümlichkeiten, die auf Subjektivität qua Subjektivität hindeuten würden. Es ist genau dieser epistemologischc Sachverhalt, auf den sich die Hegelsche Logik — als erstes durchgeführtes System einer Logik von Objektivität plus Subjektivität — gründet. Am Anfang der Großen Logik begegnen wir den lapidaren Sätzen: „Sein, reines Sein — ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich ... Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dies leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare, ist in der Tat Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts."^^ Man sieht, hier ist SCHRöDINGERS Bemerkung, daß unser objektives Weltbild das Subjekt selbst ist, längst antizipiert und zum Ausgangspunkt eines logischen Systems gemacht. In einer Begriffsbildung, die nur „reflexionsloses Sein" konzipiert, tritt das Subjekt qua Subjekt überhaupt nicht auf. Als solches ist es nichts. Bringt man die obige etwas dunkle metaphysische Ausdrucksweise des Anfangs der Großen Logik auf einen formalisierenden Nenner dann ergibt sich als vorläufiges aussagenlogisches Resultat eben Reinhold BAERS Feststellung, daß „kein wesentHegel: Wissenschaft der Logik.

Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1923. Teil 1. 66f.

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licher Unterschied zwischen positiven und negativen Aussagen, sogar schärfer zwischen einer Aussage und ihrer Negation" besteht. Will man also über das, was wir mit Hegel ebenso vorläufig einmal das Nichts nennen wollen, Aussagen einführen, die von denen über das „reflexionslose" Sein verschieden sind, so muß die klassische Alternativlogik, die nur ein einfaches (symmetrisches) Umtauschverhältnis von Positivität und Negation kennt, erweitert werden. Nur dann lassen sich reflexionsfreie Aussagen durch solche ergänzen, die Reflexionsprozesse, d. h. Abbildungsvorgänge, logisch adäquat beschreiben. Da es öfter beanstandet worden ist, wenn Subjektivität mit Negation gleichgesetzt worden ist und man etwa die Tilde in dem Ausdruck ~p als Index des im Aussagenkalkül investierten Reflexionsprozesses interpretiert (wie der Verf. getan hat) so sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Hegel diese formale Gleichsetzung von Negativität und Subjektivität am Anfang seiner Logik anerkennt. Im ersten Abschnitt des ersten Buches der Großen Logik heißt es ganz unmißverständlich: „Das Nichts zeigt sich in seiner Unmittelbarkeit genommen als seiend; denn seiner Natur nach ist es dasselbe als das Sein. Das Nichts wird gedacht, vorgestellt, es wird von ihm gesprochen; es ist also; das Nichts hat an dem Denken, Vorstellen, Sprechen usf. sein Sein."** In anderen Worten: wenn wir einen logischen Formalismus ontologisch interpretieren, dann können die Negationsoperationen nur als Reflexionsprozesse gedeutet werden. Aber reflexionsfreies Sein und Reflexion fallen in einer zweiwertigen Logik zusammen. In der spekulativ-dialektischen Terminologie Hegels: „Das Nichts ist der Grund vom Sein oder das Sein ist der Grund von Nichts."^“ Um sie auseinanderzuhalten, also um die Differenz zwischen Objekt und Subjekt zu beschreiben, muß etwas Drittes eingeführt werden. Bis zu diesem Punkt läßt sich die Hegelsche Logik mit den formalen Kategorien der klassischen Logik in Parallele setzen, denn bisher ist, wenn wir gegenständlich reden wollen, von keiner anderen Positivität als dem reflexionslosen Sein die Rede gewesen. Und von demselben gilt ja ganz „unmittelbar" das traditionelle metaphysische Theorem von der transzendenten Identität von Denken und Sein. Aber, wie bereits betont, auf der Basis eines solchen Grundsatzes, der unbedingte Zweiwertigkeit voraussetzt, läßt sich die Struktur von Reflexionsvorgängen als unterschieden von dem Verhalten von Objekten nicht darstellen. D. h. in einer Reflexionslogik, und die He“ Ebd. 88. — Hervorhebung ist die unsrige. 2« Ebd. 90.

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gelsche ist eine solche, bleibt man, nachdem man Irreflexivität (Sein — Nichts) als unvermeidlichen Ausgangspunkt genommen hat, im w’eiteren Fortschreiten gehemmt, falls nicht sofort eine grundlegende Reflexionskategorie eingeführt wird, die den weder reflexiv noch irreflexiv bestimmbaren Gegensatz von Sein und Nichts aufhebt. Das Subjekt ist ja auf der elementaren Basis einer unmittelbaren Entgegensetzung von Thesis und Antithesis das unbeschreibbare Nichts; folglich ist qua Reflexion über dasselbe auf dieser Stufe überhaupt nichts auszusagen. Soweit kann auch der Logiker, der auf Formalisierbarkeit seiner Theorie Wert legt, nichts dagegen einwenden, daß Hegel jetzt zu einer synthetisierenden Reflexionskategorie übergeht, die den logischen Gegensatz von Sein und Nichts auflösen soll. Die Frage nach der Möglichkeit eines transzendentalen Formalismus, der auch die Hegelsche Logik unterkellern würde, hängt nun ausschließlich davon ab, ob es möglich ist, die „vermittelnde", Reflexionskategorie zwischen Sein und Nichts, resp. Positivität und Negation, in einer solchen Weise einzuführen, daß diese in einem erweiterten Logikkalkül in demselben oder in einem analogen Sinne operabel wäre, wie Positivität und Negation formalen Operationen zugänglich sind. Aber Hegel schneidet diese Möglichkeit sofort ab. Er tut das, indem er seine erste positive Reflexionskategorie, die er „das Werden" nennt, mit den folgenden Sätzen einführt: „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein, noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein — nicht übergeht, — sondern übergegangen ist." Dieser Wortlaut zeigt in subtiler Weise an, daß an dieser Stelle das Prinzip des logischen Formalismus aufgegeben und als drittes Motiv neben Sein und Nichts eine materiale Kategorie in die Reflexionslogik eingeführt wird. Bezeichnend ist die Wahl des Tempus und seine pointierte Hervorhebung. Nicht der aktuelle Prozeß des Werdens, d. h. das ewig gegenwärtige Übergehen von dem Einen zum Andern, sondern das vollzogene Übergegangensefn ist die Wahrheit. In anderen Worten: auch das dritte Motiv wird seinem logischen Charakter nach (Wahrheit) als Sein — platonisch: als Erinnerung — interpretiert. Die mehr als zweitausendjährige klassische Tradition, daß das Denken es mit Objektivität, und nichts als Objektivität (als dem Gewordenen) zu tun habe, bleibt auch hier erhalten. Objektivität aber läßt sich erschöpfend in einem zweiwertigen Formalismus darstellen. Das hat schon ARISTOTELES festgestellt und die Entwicklung der abendländischen Wissenschaft hat seine Meinung unaufhörlich bestätigt. Der dritte logische „Wert", den Hegel einführt, erweitert den Formalismus also nicht im Geringsten. Er produziert nur logische Re-

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dundanz, d. h. er führt ein materiales Moment ein. Die Logik, wenn man diese Disziplin noch so nennen will, wird „konkret". Das Resultat also ist, daß die Hegelsche Logik, soweit sie formale Strukturen enthält, zweiwertig ist. Soweit sie aber wie die ganze Transzendentaltheorie über die klassische Tradition des Denkens hinausgeht, ist sie nicht mehr formal. Dieser dominierende objektive Seinsakzent, der auf der Kategorie des Werdens liegt, wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß Hegel, um den dialektischen Charakter des Werdens hervorzuheben, nach den oben zitierten Sätzen über das Übergegangensein unmittelbar fortfährt: „Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegensatz verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des Einen in dem Andern: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich unmittelbar aufgelöst hat."^’ Diese Sätze scheinen den zuerst zitierten direkt zu widersprechen. Das Tempus wird hier ausdrücklich gewechselt. Das Verb „verschwinden" steht im Präsens. Das Werden ist eine Bewegung, in der das Sein im Nichts und das Nichts im Sein verschwindet. Und in dieser Bewegung und nur in ihr können die beiden primären logischen Motive auseinandergehalten und unterschieden werden. Aber dieser Unterschied, so werden wir dann endgültig belehrt, ist einer, „der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat". Also zum Schluß wieder das Tempus der Vergangenheit. Und nicht nur das: die Auflösung ist „unmittelbar". Dieser letzte Terminus erlaubt zwei Interpretationen. Erstens könnten wir sagen: wenn die Auflösung unmittelbar ist, muß sie eigentlich erfolgen, bevor die Vermittlung durch das Werden eintritt. Auflösung aber ist Werden; also besäßen wir hier das Paradox einer Vermittlung, die sich selbst antizipiert. Zweitens ließe sich der Passus so verstehen, daß das Werden überhaupt nicht als gegenwärtiger Vorgang sondern nur als Vergangenes — als gewesenes Ereignis — erscheint und begriffen wird. Das Paradox in der ersten Interpretation ließe sich schwerlich formalisieren. Im zweiten Fall aber verschwindet das Werden im eleatischen Sein; und für dieses Denkmotiv besitzen wir schon den klassischen Formalismus, der hier aber nicht mehr zuständig sein soll. Will man jedoch beide Deutungen „dialektisch" nebeneinander bestehen lassen, so hat man damit den Anspruch der Transzendentaltheorie, keiner Formalisierung unterworfen zu sein, schon implizit zugegeben. ” Ebd. 67.

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Ein sorgfältiges Lesen der Hegelschen Texte erweckt immer wieder den Eindruck, daß Hegel sich zwar die größte Mühe gibt, in seinen Analyseii den me-ontischen Schwebezustand der ewig zwischen Sein und Nichts suspendierten Reflexion festzuhalten; aber es wird dem Leser ebenso deutlich, daß dort, wo seine Dialektik logisch identifizierbare Elemente enthält, dieselben der klassischen Ontologie des (reflexionslosen) Seins entstammen. Wir wollen als Beispiel Hegels eigenen Kommentar zu seinem Begriff des Werdens in der seinem Text folgenden Anmerkung 3 wenigstens durch die ersten beiden Sätze, mit der er seine Erläuterung einführt, illustrieren: „Die Einheit, deren Momente, Sein und Nichts, als untrennbare sind, ist von ihnen selbst zugleich verschieden, so ein Drittes gegen sie, welches in seiner eigentümlichen Form das Werden ist. Übergehen ist dasselbe als Werden, nur daß in jenem die beiden, von deren Einem zum Andern übergegangen wird, mehr als außereinander ruhend imd das Übergehen als zwischen ihnen geschehend vorgestellt wird."^® Das Eine, das Andere und das Dritte (das Werden) sind in dieser Darstellung also selbständige Identitäten. Im nächsten Satz sagt Hegel vom Dritten sogar aus; drücklich, daß es „vorhanden sein" muß. Das ist genau die Sprache der objektivierenden klassischen Logik, aber nicht die einer transzendentalen Reflexionstheorie. Nun dürfte zwar eingewendet werden, daß Hegel das faute de mieux tut. Unsere Umgangssprache sei durch eine lange geistesgeschichtliche Tradition klassisch orientiert! Die Textstellen, in denen es Hegel gelingt, sich von der objektiven Realitätssuggestion der Sprache frei zu machen, seien zahlreich! Womöglich überwiegen sie sogar die anderen, in denen der Gedanke die Reflexion aus dem Auge verliert. Das mag alles zugegeben werden. Es ist nicht relevant. Entscheidend ist, daß die Dialektik nicht fortschreiten kann, ohne sich dabei auf einen logischen Deduktionsprozeß zu stützen. Die Träger der logischen Analyse aber sind wiederum jene beanstandeten Begriffe, die in der Ontologie des objektiven Seins ihre Heimat haben. Und es sind ausschließlich sie; denn nur an sie lassen sich zuverlässige Deduktionsprozeduren anknüpfen. Die Deduktion, wie die Transzendentallogiker sie allein üben können, ist selbst eine klassische Operation. KANT ist sich dessen noch völlig bewußt, und der Aufbau der Kritik der reinen Vernunft zeigt deutlich, wie er sich diesen Zusammenhang zwischen klassischer Logik und Transzendentaltheorie zunutze macht. Es dürfte kaum nötig sein, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die spekulative Logik FICHTES, Hegels und SCHELLINGS de facto auf den gleichen “ Ebd. 79.

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klassischen Voraussetzungen ruht. Aber schon FICHTE ist sich dessen so wenig bewußt und so unklar über die Rolle, die die Aristotelische Tradition in der Kritik der reinen Vernunft spielt, daß er, wie wir bereits weiter oben andeuteten, klagt, KANT habe „die gemeine Logik .. . nicht so von Grund und Boden aus zerstört .. . wie es seine Philosophie eigentlich erfordert, und wie wir es in seinem Namen nachholen wollen . . Man kann nur sagen: eine wunderliche Verkennung des Wesens der eigenen Philosophie. Aber Hegel und SCHELLING teilen seine Haltung und ihr Einfluß ist in der neueren geisteswissenschaftlichen Tradition auch heute noch so stark, daß die seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Gang befindliche Erneuerung der formalen Logik durch Mathematiker und an der Naturphilosophie orientierte Denker nicht den geringsten Einfluß auf die geisteswissenschaftliche Logik ausgeübt hat. Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundern, daß das metaphysische Problem der Subjektivität und der transzendentalen Synthese von Objekt und Subjekt in den modernen Handbüchern der symbolischen Logik überhaupt nicht auf tritt. Da sich aber die Tatsache, daß die Struktur des Bewußtseins die Formalisierung des Denkens relevant modifiziert, doch nicht ganz ignorieren läßt, hat man die Unterscheidung von Objektund Metasprachen eingeführt. Und da die Hierarchie der Metasprachen einen unendlichen Regreß darstellt, ist man sicher, daß man nie das subjektive Bewußtsein erreicht, das spricht. Daß diese Selbstiteration der logischen Sprache eine „schlechte Unendlichkeit" und „leere Unruhe des Weitergehens", wie Hegel bemerkt, dar stellen muß, ist unvermeidlich. „Dieses Unendliche hat die feste Determination eines [objektiven] Jenseits, das nicht erreicht werden kann, weil es nicht erreicht werden soll . .Demgegenüber setzt Hegel die „affirmative" Unendlichkeit, „die Einheit, die selbst das Unendliche ist, welches sich selbst und die Endlichkeit in sich begreift"®*. Für die Große Logik wäre die monotone Iteration der Metasprachen nur „der Ausdruck eines Widerspruchs, der sich für die Auflösung und für das Letzte gibt"®®. Es wäre selbstverständlich unbillig, wollte man der symbolischen Logik vorwerfen, daß sie die beiden Hegelschen Unendlichkeitsbegriffe nicht unterscheidet.®® Da sie der alten Tradition folgend logischen Formalismus -* Fichte: Nachgelassene Werke. Bd 1. 111 f. Hegel: Wissenschaft der Logik. Teil 1. 131. — Zusatz in Klammern von uns. 51 Ebd. 133. 5* Ebd. 140. *5 Es sei denn in der Cantorsdien Differenz von infiniten und transfiniten Mengen.

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und logische Wertstruktur gleichsetzt, kann sie es einfach nicht und hat auch keine Veranlassung dazu. Trotzdem aber ist zu bedenken, daß auch für sie das Problem besteht, wie Objektsprache imd Metasprache in der synthetischen Einheit des denkenden Bewußtseins integriert sind. Zu behaupten, daß es sich hier um etwas handelt, das grundsätzlich nicht formalisiert und als „transzendentaler" Kalkül dargestellt werden könne, scheint zumindestens voreilig, solange nicht nachgewiesen ist, daß sich die Formalprinzipien der Logik nicht generalisieren lassen und daß sie wirklich unablöslich an den Wahrheitswert als logische Einheit gebunden sind. Ein solcher Nachweis ist aber unmöglich, da wir im Folgenden demonstrieren werden, daß der elementare Aussagenkalkül, der nach LUKASIEWICZ „die tiefste Grundlage aller deduktiven Wissenschaften"®* ist, in einer von dem logischen Wertbegriff unabhängigen Bedeutung tatsächlich nur ein Formfragment darstellt. Da sich aber Termini wie Subjektivität, Ichsein, Bewußtsein, Selbstbewußtsein usw. schlecht zum Formalisieren eignen, wollen wir unsere Demonstration mit einer einfachen Unterscheidung in Gang setzen: nämlich der von Systemen, die keine und solchen, die eine Umwelt haben. Wir stipulieren dann, daß wir das Begriffspaar „objektiv—subjektiv" nur in dem Sinne gebrauchen wollen, daß wir sagen: das, was in einem System ohne Umwelt beschrieben wird, wird als „objektiv" gedeutet, und das, was sich nur in einem System, das eine Umwelt besitzt, beschreiben läßt, soll als „subjektiv" interpretiert werden. Der Einfachheit halber wollen wir das erste System ein O-System und das zweite ein S-System nennen. Bei rigoroser Auslegung unserer Unterscheidung zeigt es sich dann, daß wir nur von einem einzigen echten O-System Kenntnis haben. Es ist das psychophysisch objektiv gegebene Universum. Da wir dasselbe als den Inbegriff alles dessen, „was da ist", auffassen, ist es denkunmöglich, demselben eine Umgebung zuzuschreiben. Denn eine solche Umgebung wäre ja auch „da", gehörte also definitionsgemäß zum Universum und nicht zu seiner Umwelt. Dazu läßt sich überdies bemerken, daß „Umwelt" ja nicht bedeutet, daß etwas um die Welt ist, sondern daß die Welt um etwas herum sich ausbreitet. Der Versuch, dem Universum eine Umwelt anzusinnen, führt nur in einen unendlichen Regreß von einer solchen Pseudo-Umgebung zur nächsten, da alle von dem O-System unvermeidlich als system-zugehörig reklamiert werden. Die einzige „Umwelt", die das physische Universum haben J. Lukasiewicz: Die Logik und das Crundlagenproblem. Les Entretiens de Zürich sur les Fondements et la Methode des Sciences Mathematiques. 6—9 Dec. 1938. Ed. (F. Gonseth) Zürich 1941. 82.

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kann, ist das Meta-Physische. Aber hier hat der Terminus eben nur metaphorische Bedeutung. Im Gegensatz zu der Einzigkeit des O-Systems dürfen wir aber von einer beliebigen Vielheit von S-Systemen sprechen. Hier ist eine genauere Präzisierung des Terminus „S-System" notwendig. Ein beliebiger Teil des Universums, der in den durchgängigen logisch-mathematisch-physikalischen Darstellungen der objektiven Realität überhaupt ausreichend beschrieben werden kann, soll nicht als S-System gelten. Es ist ein integraler Teil jener Welt, die selbst keine Umwelt mehr hat. So ist z. B. ein Flußsystem, das sich von einem Gebirge bis zum Meer erstreckt, keine Ordnung im Sinne von „S". Wenn wir davon sprechen, daß ein System eine Umwelt besitzt, so meinen wir damit ein solches, das Kraft seiner internen Organisation die Fähigkeit besitzt, diese Umwelt qua Umwelt in sich abzubilden und zwischen: a) sich, b) dem Abbildungsverhältnis c) dem Abgebildeten zu unterscheiden. In diesem Sinne ist jede Pflanze, jedes Tier imd jeder Mensch, d. h. alles Lebendige, ein S-System. Es muß aber auch in Erwägung gezogen werden, daß es künstliche Systeme gibt, die der S-Kategorie zugeordnet werden müssen. Hingegen ist ein Stein, der inmitten einer Wiese liegt, niemals ein S-System. Er befindet sich zwar in einer Umgebung, aber er besitzt sie nicht in dem oben angegebenen Sinn. Hier ist eine der logischen Unterscheidungen Hegels am Platz: Der Stein hat „an sich" eine Umgebung, aber nicht „für sich". „An sich" aber ist äquivalent mit „für uns". D. h. wir können dem Stein, wenn wir so wollen, eine Umwelt zuschreiben, aber er kann sie sich nicht selbst zuschreiben. Der Stein ist ein echter Teil des O-Systems. Er besitzt keine Selbstreferenz, die ihm durch seine Umwelt vermittelt ist. Seine Existenz ist „objektiv" in dem von uns stipulierten Sinn. Wir haben im obigen Absatz bemerkt, daß zu den S-Systemen auch Artefakte gehören. Das mag zwar dem landläufigen Begriff der Subjektivität widersprechen, nicht aber dem, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelt, wenn er „subjektiven Geist" und „objektiven Geist" imterscheidet. Der „objektive Geist" bezeichnet die historischen Institutionen, die zwar vom Menschen gemacht sind, trotzdem aber in ihrem Prozeß der Selbst-organisation die Struktur des Bewußtseins und bestimmte Bewußtseinsvollzüge nachbilden. In anderen Worten: die historischen Institutionen sind S-Systeme und besitzen in dem stipulierten Sinn eigene

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„Subjektivität". Die Kategorie der S-Systeme umfaßt also in Hegelscher Terminologie sowohl das Phänomen der subjektiven (Ich) und objektiven (Du) Subjektivität (subjektiver Geist) als auch der Objektivität, die subjektive Verhaltenszüge aufweist (objektiver Geist). Wir erinnern dabei daran, daß unter „Subjektivität" formal nichts anderes verstanden werden soll als ein abbildendes Verhalten gegenüber einer Umwelt. Jenes Abbilden ist das, was Hegel die Reflexion nennt. FICHTE spricht einfach von dem „Bild", und wir lesen bei ihm: „das Ich ist das Bild der Erscheinung überhaupt"“®. Wir gehen kaum fehl, wenn wir seinen Begriff der Erscheinung mit dem der Umwelt gleichsetzen. Auf die zusätzliche Subtilität in FICHTES Begriff des Bildes, nämlich daß das Ich als Bild der Erscheinung nur Bewußtsein aber nicht Selbstbewußtsein ist, wollen wir hier nicht eingehen. Hier sei lediglich angemerkt, daß Selbstbewußtsein nach FICHTE wohl als eine Abbildung des Abbildungsprozesses der Umwelt verstanden werden muß.*« Nun bestehen formallogisch durchaus keine Bedenken, das O-System als einen Grenzfall des S-Systems aufzufassen. Dieser Gesichtspunkt ist, freilich in anderer Terminologie und mit anderen Absichten durch H. VON FOERSTER in einer Arbeit, betitelt: On Self-Organizing Systems and Their Environments, aufgenommen worden.*’ Rückt man nämlich die Grenze, die ein S-System von seiner Umgebung trennt, so weit hinaus, daß sie das ganze Universum umfaßt, dann ist es zulässig zu sagen, daß das Universum ein S-System ist, daß sich selbst zur Umgebung hat. Hier ist nun die Frage berechtigt, warum dann überhaupt die Unterscheidung zwischen einem O-System und einer beliebigen Vielheit von SSystemen? Die Antwort darauf ist, daß die Distinktion logisch relevant bleibt, weil von den beiden Sätzen: a) das O-System ist ein Grenzfall des S-Systems und b) das S-System ist ein Grenzfall des O-Systems nur der erste zulässig ist. Denn wir können zwar die Welt in einem Reflexionssystem als Irreflexivität (Hegel: reflexionsloses Sein) beschreiben, wir können aber niemals mit einer Logik der Irreflexivität das Phänomen der Reflexion darstellen. Es gibt keine eineindeutige Abbildung von S “ Vgl. Fichte: Nachgelassene Werke. Bd 1. 428. “ Ebd. 217. „Das Idi setzt sich selbst, ist nicht wahr. Wahr ist: es ist ein Bild eines Sichsetzens". (= „Vermögen" Bilder zu haben.) Vgl. Self-Organizing Systems. Hrsg. v. M. C. Yovits and S. Cameron. London 1960. 31—50.

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auf O. Die Bezeichnung ist unsymmetrisch, d. h. einmehrdeutig. Bei FICHTE ist das in ontologischer Terminologie auf die folgende Weise ausgedrückt: Er stellt fest, daß sich Objektives zu Objektivem nicht reflexiv verhalten kann. „Objektives zu Objektivem ist ... ein Undenkbares. Objektivität existiert und ist zu denken überhaupt nur im Gegensatz des Subjektiven: Objekt für ein Subjekt und umgekehrt. Vom Objekt eines Objekts aber kann man überhaupt in keinem Sinne reden."*® Um einen Ausdruck VON FOERSTERS ZU gebrauchen: wir können zwar in einer Seinslogik eines OSystems die Reflexion in den ewigen Jagdgründen des Infinitesimalen verschwinden lassen, aber wir können diesen Prozeß nicht umkehren und in einer Reflexionslogik das Sein und seine undurchdringliche Irreflexivität auflösen. Es ist Voraussetzung und Grenze aller Reflexion. Deshalb sagen wir: das O-System ist der Grenzfall des S-Systems und nicht umgekehrt. Dies ist übrigens der epistemologische Ausgangspunkt der Großen Logik. Das irreflexive objektive Sein, dessen Reflexionslosigkeit ausdrücklich festgestellt wird, wird zugleich als ein S-System behandelt, das reflektiert. Aber was es reflektiert, ist das Nichts. Das Letztere aber wird sofort wieder mit dem Sein identisch gesetzt. Diese Entgegensetzung ist bisher immer als „dialektisch", d. h. als formallogisch nicht auflösbar interpretiert worden. Wir werden jetzt zeigen, daß sie einen präzis definierbaren formallogischen Kern enthält, sofern man nur sich von dem Vorurteil frei macht, daß logischer Formalismus mit Wertformalismus gleichzusetzen ist. W'enn SCHRöDINGER bemerkt, daß das fühlende, wollende und denkende Ich nirgends in unserm wissenschaftlichen Weltbild anzutreffen ist, weil es selbst jenes Weltbild ist, so sagt er nichts anderes, als daß unsere wissenschaftliche Weltanschauung auf jenem Grenzfall des S-Systems aufgebaut ist, in dem das System mit seiner Umgebung identisch ist. Ein erkenntnistheoretisches Subjekt, das die Welt anschaut und sich in dieser Anschauung von ihr als Umgebung ausdrücklich unterscheidet, kann also in diesem System nicht auftreten. „S" und „O" fallen zusammen. Es ist völlig gleichgültig, ob wir in diesem Fall unseren Erkenntnisinhalt als S- oder als OOrdnung beschreiben. Der Inhalt der Beschreibung ist der gleiche. In anderen Worten: die Welt als An-sich-sein und die Welt als Bewußtseinsinhalt sind, reflektionstheoretisch betrachtet, identisch. Mit der Behauptung dieser Verdoppelung ist also schlechthin nichts gesagt. In der Redeweise der Dialektik: das irreflexive Sein reflektiert sich im Nichts. Es ist das Nichts! Und es ist das Sein! Fichte: Nachgelassene Werke. Bd 3. 372.

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Trotzdem aber behaupten wir hartnäckig, daß es einen Sinn hat, die Welt als objektive Existenz und als subjektiven Bewußtseinsinhalt zu unterscheiden. Wir sagen, daß diese Unterscheidung auch dort völlig legitim ist, wo wir wie in dem ScHRÖDiNGERschen Beispiel gar nicht sagen können, worin sich denn das zu Unterscheidende eigentlich differenzieren soll. Mehr noch, wir geben uns nicht damit zufrieden, daß die Trennung von Bewußtseinsimmanenz und Bewußtseinstranszendenz xms durch metaphysische Gründe und Motive aufgezwungen sein möchte, wir behaupten vielmehr, daß die logischen Bedingungen unseres Erlebens dafür verantwortlich seien ein und dasselbe Sein unter zwei Aspekten zu betrachten. Wir geben zu: das Objekt überhaupt ist nur mit sich selbst identisch und bildet sich nur auf sich selbst ab (Seinsidentität). Um es zu begreifen benötigen wir aber eine Logik mit zwei Werten, von denen immer nur einer designierender Wert sein kann. Aus den Ausführungen von Reinhold BAER geht jedoch hervor, daß es ganz gleichgültig ist, welchen der beiden Werte (positiv oder negativ) wir als designierenden wählen. Das Gesetz des Widerspruchs verbietet uns nur, beide zugleich als designierende anzusehen. Da aber die Werte ein symmetrisches Umtauschverhältnis — wie rechts und links — darstellen, werden wir immer ein und dieselbe Weltbeschreibung erhalten, gleichgültig welchen Wert wir wählen, um das Objekt zu designieren. Der andere fungiert dann immer als „Negation", d. h. als das unvermeidliche Reflexionselement, dem in der Beschreibung eines O-Systems kein ontologischer Platz angewiesen werden kann. Es ist wichtig zu bemerken, daß dieser exilierte Wert der positive sein kann . . . der eben durch jene Verweisung nun zum „negativen" wird. Das ist die Voraussetzung, mit der die Hegelsche Logik ihren Anfang nimmt. Die angebliche formale Unauflöslichkeit der Dialektik kommt nun daher, daß wir zwar die Welt als objektive, ich-transzendente Realität xmd reflexionslose Existenz mit einem Werte designieren können, während wir zwei brauchen, um sie zu denken, d. h. als vorgestelltes Bild zu entwickeln. Nun kann ein Wert nicht sich selbst widersprechen, die zwei aber müssen sich widersprechen. In anderen Worten: ein O-System kann widerspruchsfrei dargestellt werden, ein S-System hingegen nicht. Wollen wir nämlich ein S-System mit einer Wertlogik aufbauen, so müssen beide Werte als Elemente der Systembeschreibung, mit gleichem designierenden Akzent, aufgenommen werden. Formal betrachtet enthält ein solches System einen Widerspruch. Es ist ontologisch bedeutungslos. (Bedeutungsvoll ist es nur noologisch.) Inhaltlich betrachtet aber ist es „dialektisch". Die transzendentalen Idealisten haben von KANT an, frühen platonischen und neu-

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platonischen Vorbildern folgend, solche dialektische Systeme als S-Systeme faute de mieux akzeptiert, um auf diese Weise wenigstens in nicht-formalisierbaren Begriffen die Eigenschaften der Reflexionsprozesse zu beschreiben. Für die Beurteilung der Frage, ob und wie sich die dialektische Bewegung des Denkens formalisieren läßt, ist es von entscheidender Wichtigkeit zu wissen, daß der Gebrauch von Werten als logischen Einheiten und ihre Manipulation durch das Negationsverfahren dafür verantwortlich ist, daß die dialektischen Strukturen mit Widerspruchssituationen identifiziert werden. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß solange alle logischen Formalismen auf der Basis des Wertprinzips interpretiert werden, gar keine Aussicht ist, in der Dialektik eine kalkülmäßige beherrschbare Formalstruktur zu entdecken. Der Widerspruch von Positivität und Negation läßt sich aus keiner Beschreibung eines Wirklichkeitszusammenhanges, der Objekt und Subjekt gleicherweise umfaßt, eliminieren. Es wäre töricht, das auch nur versuchen zu wollen. Wir geben deshalb die These von der Identität des logischen Formalismus mit Wertformalismus von Positivität (wahr) und Negation (falsch) auf. Der dritte Teil dieser Betrachtung wird zeigen, daß diese Preisgabe eines alten Vorurteils uns zu neuen und überraschenden Einsichten über das Wesen und die ontologische Tragweite des logischen Formalismus führen wird.

III. Wir stellen als bisheriges Resultat fest: für die Beschreibung einer Welt ist logisch ein Minimum von zwei Werten erforderlich. (Ein einwertiges System ist eine (operatorenlose) Ontologie, aber keine Logik.) Die Einheit der Welt ist als Wertstruktur nicht formalisierbar, weil sie die coincidentia oppositorum ist. Formalisierung setzt den Mangel an Coincidenz opponierender Werte voraus. Dieser Tatbestand kann auch auf die folgende Weise beschrieben werden: was die beiden Werte gemeinsam repräsentieren, sind objektive Eigenschaften der Wirklichkeit. Folglich stellt ihre Antithese immer ,konkrete Bestimmtheit" dar. Diesem Gedanken Hegels kann man nun eine neue Wendung geben, indem man annimmt, daß logische Werte noch viel zu material-gebunden sind, um einen wirklich reinen und unbeschränkten Formalismus zu produzieren. Jede Materialgebundenheit muß einen Formalismus logisch schwächen. Ein Formalismus ohne Werte müßte logisch stärker sein und

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könnte deshalb auch Phänomene umfassen, die heute noch als unzugänglich für jeden Kalkül gelten. Unsere Frage ist also: läßt sich eine solche tiefere und wirklichkeitsfreiere Formalstruktur des Logischen entdecken, die zwar von Werten besetzt werden kann, die aber nicht mit ihnen identisch ist? Diese Frage darf affirmativ beantwortet werden, und zum Zweck der Demonstration unserer Antwort wollen wir damit beginnen, daß wir die übliche Tafel der traditionellen Negation und die der 16 binarischen Funktoren des klassischen Aussagenkalküls mit den Werten (W) wahr und (F) falsch anschreiben. Da es sich hier nur um den Auf weis einer reinen Struktur und nichts anderes handelt, darf ignoriert werden, daß im üblichen Kalkül die Werte mit Variablen (p, q, r .. .) assoziiert werden. Unsere ersten beiden Tafeln haben dann die folgende Gestalt: (la)

W W

und W W W F

W W F F

W F W F

W F F F

W W W W

W F W W

W

F W

W F F W

F F F W

F F W W

F W F W

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F F F F

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F F W F

F W W F

w

(Ila)

Wir erwähnten bereits LUKASIEWICZ' Hinweis, daß der Aussagenkalkül die tiefste Grundlage aller deduktiven Wissenschaften bildet. Die Tafeln (la) und (Ila) sind nun ihrerseits die Grundlagen des Aussagenkalküls. Will man nun noch die Werte eliminieren, wie wir das in der Tat Vorschlägen, so bleibt offenbar nichts übrig. So sollte man jedenfalls vorerst annehmen. Das ist jedoch ein Irrtum. Wir werden sehen, daß der Fortfall der Werte uns eine noch tiefere und allgemeinere Grundlage der Logik enthüllt. Zum Zweck unserer Demonstration führen wir jetzt zwei Symbole, einen Stern (^)und ein Viereck (D) ein. Denselben soll als solchen keinerlei logische Bedeutung zukommen. Vor allem darf diesen Symbolen keine Wertfunktionalität zugeschrieben werden. Sie sind lediglich Zeichen von leeren Stellen, die gegebenenfalls mit Werten besetzt werden können oder auch nicht. Falls sie aber mit Werten besetzt werden, so darf das in einer

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Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

zweiwertigen Logik sowohl der positive wie der negative und in einer mehrwertigen Logik jeder beliebige legitim eingeführte Wert sein. Eliminieren wir nun aus den Tafeln (la) und (Ila) die dort verwendeten Werte „W" und „F" und setzen wir stattdessen unsere neuen Symbole ein, die lediglich anzeigen sollen, daß in den korrespondierenden Leerstellen der eine oder der andere Wert stehen kann, dann erhalten wir zwei neue Tafeln abstrakter Platzordnungen oder Leerformen, die alle eine spezifische Gestalt besitzen. Um von vornherein zu betonen, daß diese zwei- und vierstelligen Muster keinesfalls mit Wertfolgen identifiziert werden dürfen und Relationen zueinander besitzen, die ganz unabhängig davon sind, ob diese Ordnungen „zufällig" von Werten okkupiert sind, wollen wir ihnen einen eigenen Namen geben. Sie sollen von jetzt ab als „Morphogramme" bezeichnet werden.*® Ist ein solches Morphogramm aber von Werten besetzt, so soll es ein „Reflexionsmuster" heißen. Eine Wertlogik wäre demgemäß ein System, in dem die Morphogramme nidit rein sondern schon mit ontologischen Wertdesignationen behaftet auf treten. Aus den Tafeln (la) und (Ila) ergeben sich nun die neuen morphogrammatischen Tafeln (Lb) und (Ilb): * (Ib) und



[1]

¥ * *



[2]

* *





[3] *

□ * □

[4] *

□ □ □

[5] * * * *

[6] *

□ * *

[7] * *

[8]

*

*



*

(Ilb)





Da, wie bereits betont, jedes der beiden Zeichen ^ und D beide Werte tragen kann, ist die vierplätzige Tafel (la) jetzt zu zwei Plätzen reduziert und aus den 16 vierstelligen Wertserien von (Ila) sind 8 Morphogramme hervorgegangen. Wie wir sehen, erscheint damit Hegels Ausgangsthese, daß das reine Sein unmittelbar das reine Nichts, daß also Positivität überhaupt und Negativität überhaupt reflexionstheoretisch identisch sind, in einem neuen Licht. Wir sagen jetzt: der klassische Gegensatz von zwei “ Der Terminus „Morphogramm" ist zum erstenmal vomVerf. in seinem Technical Report (Nr 4) des Electrical Engineering Research Laboratory der University of Illinois verwandt worden. Den Ausdruck „Reflexionsmuster" haben wir in: Ein Vorbericht über die generalisierte Stellenwerttheorie der mehrwertigen Logik (Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft 1 [I960]. 99—104) zum erstenmal verwandt.

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GOTTHARD GüNTHER

Werten wird von einem Morphogramm repräsentiert. Damit wird dem Ansatzpunkt der Hegelschen Dialektik, wie überhaupt der transzendentalen Logik, ihr antinomischer Charakter genommen. Die dialektische Logik interpretiert Widerspruch als Wertwiderspruch. Aus den Tafeln (Ib) und (Ilb) aber sind die Werte verschwunden. Diese Tafeln stellen in der Tat eine coincidentia oppositorum der korrespondierenden Gegensätze in (la) und (Ila) dar. Diese Coincidenz aber ist nicht mit der Aufgabe des Formalprinzips der Logik erkauft! Im Gegenteil, wir haben jetzt das Niveau eines tiefer liegenden und allgemeineren Formalismus erreicht, weil aus ihm auch das Letzte entfernt worden ist, was sich auf den kontingent-objektiven Charakter der Welt bezieht, nämlich der faktische Eigenschaften designierende logische Wert. Solange der Übergang von der klassischen zur trans-klassischen Logik unter dem Gesichtspunkt einer Vermehrung der Wertzahl diskutiert wurde, war es nicht allzu schwer, jedem Argument, das für eine Vermehrung der Werte sprach, ein ebenbürtiges entgegenzusetzen, das für die Beschränkung auf das einfache Umtauschverhältnis von Affirmation rmd Negation eintrat. Die Frage der philosophischen Legitimität der Mehrwertigkeit muß gegenwärtig immer noch als unentschieden betrachtet werden. Das schwerwiegendste Argument für den „konservativen" Standpunkt hat u. E. STEGMüLLER angeführt, wenn er bemerkt, daß sich ein Gegensatz zwischen dem semantischen Gesichtspunkt, der zutiefst im Klassischen verankert scheint und den Tendenzen, die auf eine mehrwertige Logik zusteuern, kaum vermeiden läßt. Es ist durchaus möglich, daß das semantische Prinzip der Zweiwertigkeit, das so tief in der Alltagssprache (und damit in der Universalsprache) gegründet ist, als Domaine des Transklassischen, soweit es als Mehrwertigkeit auftritt, nicht viel mehr als eine „Untergliederung der falschen Sätze" aber selbstverständlich keine „Aufsplitterung des einheitlichen Wahrheitsbegriffs" erlauben wird. STEGMüLLER qualifiziert seine vorsichtige Meinung allerdings in einer sehr bedeutsamen Weise. Er macht nämlich die einschränkende Voraussetzung, daß der Gegensatz zwischen Semantik und jenen erwähnten modernen Tendenzen, die auf eine mehrwertige Logik hinsteuern, voraussetzt, daß „die Mehrwertigkeit in der letzteren sich wirklich auf die Wahrheitswerte bezieht"^®. Soweit die hier entwickelte Theorie in Frage kommt, können wir dei STEGMÜLLERschen Auffassung nur kräftig beistimmen. Sie scheint unserer eigenen Meinung, daß eine Erweiterung der philosophischen Logik ins W. Stegmüller: Das Wahrheitsproblem und die Semantik. Wien 1937. 247 f.

Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

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Transklassische über das Prinzip von Wahrheitswerten wohl kaum in Frage kommt, nahezustehen. Wahrheit impliziert in ihren letzten Fundamenten Zweiwertigkeit! Wir wollen hier ohne Bedenken stipulieren, daß es den Gegnern einer trans-klassischen Logik bereits gelungen ist, nachzuweisen, daß auf den bisher eingeschlagenen Wegen es prinzipiell unmöglich ist, eine mit mehr als zwei Werten arbeitende Syntax als logisch notwendig zu begründen.^^ Diese Annahme läßt sich auch schärfer formulieren, indem wir sagen, daß die philosophische Logik als zweiwertige Logik, d. h. eben als Wertlogik, komplett und nicht erweiterungsfähig ist. Das bedeutet, daß das Phänomen der sogenannten Mehrwertigkeit nur „logoide" Formalismen, aber keine echte Erweiterung der Logik produziert.Sehr überzeugend hat sich darüber VON FREYTAG-LöRINGHOFF'*® geäußert. Die klassische Logik ist also, so haben wir konzediert, vom Wertstandpunkt aus betrachtet, vollständig. Jetzt aber stellen wir die neue Frage, ist diese Logik auch als morphogrammatische Logik, unter völliger Absehung von einer möglichen Wertbesetzung der Morphogramme, vollständig? Oder sind wir, wenn wir unsere Theorie eines logischen, in seinen letzten Grundlagen wertfreien Formalismus entwickeln wollen, gezwungen über die klassischen Grenzen hinauszugehen? In anderen Worten; besitzen wir in den Tafeln (Ib) und Ilb) bereits alle Morphogramme? Es ist kein Zweifel, daß die Tafel (Ib) nicht erweiterungsfähig ist. Die morphogrammatische Struktur der Negation ist definitiv. Wer aus rein schematischen Gründen (Ib) durch *

i

ergänzen möchte, dem sei dies belassen. Die Ergänzung besagt im Hinblick auf die Theorie der Negation ja nur, daß keine Negation vorgenommen werden soll. Daß also nichts geschieht! Unsere Tafeln sind aber dadurch zustande gekommen, daß wir die Leerstrukturen der Operationen angeschrieben haben, auf denen sich der Aussagenkalkül aufbaut. Betrachtet man nun Tafel (Ilb) unter dem Gesichtspunkt, ob sie alle überhaupt möglichen Leerstrukturen enthält, die als letzte formale Basis solcher logischer Operationen betrachtet werden können, die nicht zwei, sondern vier Stellen Die Existenz einer Wahrscheinlichkeitslogik darf nicht als Gegenbeispiel betrachtet werden. Sie besitzt nur zwei echte Werte, die aber über ein Intervall der Ungewißheit „distribuiert" sind. Vgl. H. Reichenbach: Experience and Prediction. Chicago 1938. 326—333. ** Vgl. hierzu P. Linke: Die mehrwertigen Logiken und das Wahrheitsproblem. In; Zeitschrift für philosophische Forschung. 3 (1948). 378 ff. ** B. von Preytag-Löringhoff: Logik. 177—201.

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für ihre Implementierung benötigen, so wird schon ein flüchtiger Blick uns darüber belehren, daß Tafel (Ilb) unvollständig ist. Es müssen noch weitere Leerstrukturen bzw. Morphogramme existieren, z. B. ein solches, in dem ein einmal gebrauchtes Symbol in keinem anderen Platz wiederkehrt. Zwecks Darstellung jener noch fehlenden Morphogramme führen wir die weiteren bedeutungsleeren Symbole ^ und 9 schreiben mit ihrer Hilfe eine weitere Tafel (III) an, durch die das System der morphogrammatischen Grundformen vervollständigt werden soll. [9] *

[10]

*

A

A



* *



[11]

[12]

A

□ A □

*

□ □

*

[13] *

[14] *

[15] *



*



A A

□ A

(III)

A •

Wir wollen für den Augenblick die Frage der möglichen logischen Interpretation von Tafel (III) außer acht lassen. Es kommt vorerst alles darauf an nachzuweisen, daß es eine Interpretation der Idee des logischen Formalismus gibt, vermittels deren demonstriert werden kann, daß der klassische Formalismus der Logik sein Fundament nicht tief genug gelegt hat und deshalb außerstande ist, uns mehr als ein Fragment von logischer Form überhaupt vorzuführen. Die klassische Theorie des Denkens mag als Wertlogik vollständig sein, als morphogrammatische aber ist sie unvollständig! Der Übergang in die Mehrwertigkeit, wie er seit etwa 40 Jahren von einer Anzahl von Kalkülrechnern gelegentlich vorgenommen worden ist, war immer ein Wagnis und höchstens im Falle der Modallogik einigermaßen philosophisch motiviert. Nie aber lag ein wirklicher rein logischer Zwang vor. Die modalen Erwägungen waren ja niemals strikt formal. Interpretiert man aber den reinen logischen Formalismus als morphogrammatische Theorie, so ist der Übergang zur trans-klassischen Logik unvermeidlich. Die Aristotelische Logik ist morphogrammatisch auf 8 vierstellige Leer Strukturen beschränkt, obwohl 15 existieren! Diese Beschränkung hat ihren Grund darin, daß ARISTOTELES Leerstruktur (Form) mit Wertstruktur identifiziert. Zugleich begreift er aber mit tiefem philosophischen Instinkt, daß seine Logik, um absolut und rein formal zu sein, nur zwei Werte zulassen kann. Wir nehmen Ergebnisse einer späteren Veröffentlichung voraus, wenn wir feststellen, daß die Einführung von zwei, und nur zwei, Werten den morphogrammatischen Formalismus, qua reinen Werfformalismus, nicht beeinträchtigt. Etwas anderes aber ist es, wenn

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man Tafel (III) in das System der Logik einschließt. Will man auch dann noch kompromißlos formal bleiben, so muß man auf Wertbesetzung der Morphogramme verzichten. Der resultierende Kalkül darf nur morphogrammatische Leerstrukturen operieren. Wir stehen in der Logik also vor der Wahl, daß wir entweder Werte benutzen — dann muß unser System sich auf 8 Morphogramme beschränken, wenn wir streng formal bleiben wollen. Die Zahl der Werte übersteigt dann niemals zwei, und unser System verliert alle die Zweiwertigkeit transzendierenden Formalstrukturen. Oder aber wir verzichten darauf, die Logik als Wertlogik (Wert = Wahrheitsweit) formal zu begründen. In diesem Fall können wir zu einem vollständigen morphogrammatisdien Formalismus übergehen. Es ist allerdings auch ein Kompromiß möglich. Wir werden später sehen, daß eine Interpretation des Wertbegriffes existiert, die uns gestattet, das Prinzip der Zweiwertigkeit mit aller Rigorosität, die man sich nur wünschen kann, auf die trans-klassischen Morphogramme zu übertragen. Logischer Wert darf dann allerdings nicht mehr mit Wahrheitswert gleichgesetzt werden. Ist man zu diesem Interpretationswechsel bereit, so zeigt es sidi, daß die sogenannten mehrwertigen Logiken ihr eigenes strenges Zweiwertigkeitsprinzip und ihr eigenes spezifisches Tertium non datur besitzen. Es muß aber angenommen werden, daß jede Wertbesetzung morphogrammatischer Strukturen in einem transklassischen System den Formalismus schwächt, selbst wenn diese Auffüllung durch Werte eine strikte Alternativsituation, die ein Drittes ausschließt, produziert. Wenn wir aber von nun an Morphogramme als die logischen Grundeinheiten eines rigorosen Formalismus ansehen, dann benötigen wir auch einen speziellen Operator, der diese Formen manipuliert und uns gestattet, unter bestimmten Bedingungen ein Morphogramm in ein anderes zu überführen. Es ist evident, daß der kLs^sische Negationsoperator dazu nidit geeignet ist. Bestehen wir darauf, ihn trotzdem zu benutzen, so ist eine relativ komplizierte Prozedur notwendig. Nehmen wir an, daß wir Morphogramm [1] und Nr. [4] ineinander transferieren wollen, so ist es notwendig, daß wir die Leerstrukturen erst mit Werten besetzen, also die korrespondierenden Kolonnen der Tafel (Ila) benutzen. Dieselben repräsentieren die üblichen Wertfolgen für Konjunktion (A) und Disjunktion (V). Wir benötigen weiter die Morphogramme [2] und [3] ebenfalls mit Werterfüllung. Dieselben repräsentieren dann zwei Variable „p" und „q". Der morphogrammatische Transfer hat dann die bekannte Gestalt der DeMorganschen Formeln:

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pV q = (Np A Nq) (1) p A q = N {Np V Nq) (2) wobei N als Symbol für den Umtausch der Wertbesetzung fungiert. Unser Beispiel demonstriert, daß, falls wir auf dem alleinigen Gebrauch der Negation bestehen, die Morphogramme weder direkt, d. h. ohne Gebrauch der Variablen, noch wertfrei ineinander übergeführt werden können. Da es aber, wie oben ausgeführt, uns darum zu tun ist, eine Tiefenschicht des logischen Formalismus aufzudecken, der Werte nur sekundär und als relative Objektivformen angehören, können wir uns mit solchen indirekten Methoden den Übergang von einem Morphogramm zq einem andern durchzuführen, nicht zufriedengeben. Wir suchen nach einem Kalkül, in dem auch der letzte Objektivitätscharakter des Bewußtseins, resp. der Reflexion aufgehoben ist. Auch der logische Wert ist noch „naiv". Er hat, um in Hegelscher Terminologie zu sprechen, ein Moment der Unmittelbarkeit an sich. Das ist in der gegenwärtigen Entwicklung der Logik besonders deutlich, wo logische Kalküle mehr und mehr dazu benutzt werden, nicht nur die Struktur der Denkvorgänge, sondern partikulare Sachzusammenhänge (z. B. elektrische Schaltsysteme) darzustellen. Erst durch den Wert, der dem Argument einer Funktion f (x) beigegeben wird, wird die reine Form des Kalküls an die objektive Wirklichkeit angeschlossen. Wonach wir suchen, ist ein Operator, der die wertfreie Reflexionsstruktur, also das reine Morphogramm, direkt in ein anderes überführt. Eine Andeutung eines solchen Operators findet sich bereits bei FICHTE. Mehr noch, er hat sogar einen bedeutsamen Symbolismus dafür eingeführt. In den Tatsachen des Bewußtseins (1813) heißt es: das „Ich nun erscheint sich niemals bloß als Ich, sondern immer mit einem Bilde, als habend und seiend ein Bild"^*. Und weiter wird dieses Bild mit den Worten bestimmt: „Das Ich erscheint sich in und mit einem Bilde überhaupt, und zwar mit einem Bilde des Seins."^® Schließlich ist das Ich als Selbstreflexion das „Bild eines Gesetzes, ein Sein zu bilden, (oder zu denken)". D. h. es ist auf der zweiten Stufe „das Bild eines Vermögens"^“ primäre Bilder des Seins zu haben. Von diesem Bildbegriff geht FICHTE aus, wenn er als Symbol für die Abbildungsrelation einen horizontalen Strich setzt, der Abgebildetes und Abbildung trennt. Dabei werden in den Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre (1813) die folgenden Anschreibun** Fidite: Nachgelassene Werke. Bd 1. 426.

Ebd. 427. « Ebd. 428.

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Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

B und schließlich B • Das dritte B ist in dieser SymB bolik als Abbilden des Abbildens gedacht. Obwohl das horizontale Strich- oder Spiegelsymbol sich in dem gebrauchten Sinn kaum für einen Reflexionskalkül eignet“*®, gibt es doch einen guten Fingerzeig. Der Operator, der reine Reflexionsstrukturen manipuliert, soll nichts weiter als eine Abspiegelung liefern. Das ist aus dem FiCHTEschen Text, wenn wir denselben auf seinen formalen Gehalt hin betrachten, auch leidlich deutlich herauszulesen. Wir wollen uns diesen Gedanken zunutze machen und schreiben deshalb in der folgenden Tafel (IV) alle 15 vierstelligen Morphogramme an und unter ihnen, durch den FicHTEschen Reflexionsstrich getrennt, ihre Reflexionen resp. Spiegelbilder: gen gebraucht: B B'S

[1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] [15] > ^ ' •Jy

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[4] [2] [3] [1] [5] [7] [6] [8] [12] [11] [10] [9] [13] [14] [15] Wir führen jetzt für den Operator, der uns das Spiegelbild eines gegebenen Morphogramms liefert, als Symbol R ein. Schreiben wir eine Formel an, so soll „R" stets vor das Zeichen des Morphogramms, das in seine Reflexion übergeführt werden soll, gesetzt werden. Der Reflektor „R" darf übrigens in einem gewissen Sinne als eine Verallgemeinerung der Negation aufgefaßt werden. Schreibt man nämlich die Tafel (la) W F "F

W

derart auf, daß man den vertikalen Strich durch den FiCHXEschen Refexionsstrich ersetzt und die Wertzeichen, die auf der rechten Seite stehen, unter " Ebd. 160, 162. Siehe auch: Bd 2. 45. ^8 Ebd. 419. Eine Fiditesche Formel mit diesem Operator ist z. B. I = S/O OO, die im Sinne moderner Kalkültechnik ziemlich nutzlos ist. Vgl. Fichte: Nachgelassene Werke. Bd 3. 381.

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die auf der linken Seite placiert, so ist anschaulich evident, wie Tafel (V) zeigt: W ~T~ (V)

g

daß die Negationsoperation ein „Bild" im FiCHXESchen Sinn oder eine „unmittelbare Reflexion" (in Hegelscher Terminologie) produziert. Die klassische Negation ist also zugleich ihr eigener R-Operator. Geht man aber zu vierstelligen Wertfolgen über, so muß zwischen der Funktion von R, soweit dieselben Werte affiziert und soweit sie ausschließlich Morphogramme manipulieren soll, unterschieden werden. Wir berücksichtigen vorläufig nur die morphogrammatische Rolle von R. Kraft derselben können wir aus der Tafel (IV) die folgenden „R-Äquivalenzen" ( = ) ablesen: R [1] = [4]”'9 R [4] = [l]«!! (3) R [9] = [12]“'5 R [12] = [9]"5 (4) R [10] = [11]“'9 R [11] = [10]“5 (5) R [6] = [7] R [7] = [6] (6) R [2] = [2]“3 R [3] = [3]"'!' (7) R [13] = [13]“« R [14] = [14]“« (8) R [15] = [15]“« (9) R [5] = [5] R [8] = [8] (10) In den Fällen, in denen die R-Operation bei gegebener Wertbesetzung die Wertfolge des Resultats in einer solchen Weise verändert, daß dieselbe unter speziell zu stipulierenden Voraussetzungen als Negation einer „Standardwertserie"^« aufzufassen ist, haben wir die Nummern der so affizierten Morphogramme mit dem Index . . .“'« versehen. Im übrigen sind die RÄquivalenzen unter dem Gesichtspunkt geordnet worden, daß Morphogramme, die sich dem R-Operator gegenüber in gleicher Weise verhalten, jedesmal in einer Gruppe zusammengefaßt worden sind. Wir haben dementsprechend vier Gruppen. Erstens die Fälle, in denen der Operator das Morphogramm transformiert und Negation eintritt. Zweitens haben wir morphogrammatische Transformation ohne Negation. Die dritte Gruppe umfaßt die Situationen, in denen der morphogrammatische Charakter durch die Operation unangetastet bleibt, aber Negation eintritt. Und schließlich “ Wir fassen z. B. die Wertbesetzungen der Morphogramme [1] bis [8] im oberen Teil der Tafel (Ila) als Standardwertfolgen auf.

Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

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begegnen wir zwei Fällen, in denen weder ein Wechsel des Morphogramms noch der einer etwaigen Wertbesetzung zu verzeichnen ist. Die 15 angeschriebenen R-Äquivalenzen liefern uns eine formelle Schematik dessen, was als „unmittelbare Reflexion" in der transzendentalen Logik auftritt. Ein Kenner der Großen Logik wird einige derselben mühelos in dem Hegelschen Text identifizieren können. Mit andern ist das schwieriger. Es kann aber mit Zuversicht behauptet werden, daß der Terminus keine anderen als die angeführten Bedeutungen haben kann. Die Aufstellung ist erschöpfend, weil die Tafeln (Ilb) und (III) alle morphogrammatischen Grundeinheiten liefern. Andererseits müssen alle 15 Bedeutungen in der transzendental-spekulativen Logik auftreten, wenn dieselbe den Anspruch erhebt als Reflexionssystem komplett zu sein. Es wäre wichtig, einen solchen Nachweis für die Hegelsche Logik zu liefern. Daß die in den R-Äquivalenzen schematisierte Reflexion nur „unmittelbar" ist, läßt sich aus unserer Aufstellung ebenfalls leicht ablesen. Wie man aus der ersten und zweiten Gruppe ersieht, bleiben die durch R bewirkten morphogrammatischen Transformationen klassisch, bzw. transklassisch: beide Tafeln (Ilb) und (III) transformieren nur in sich. Wir besitzen auf vierstelliger Basis keine R-Transformation, die ein klassisches Morphogramm in ein trans-klassisches verwandelt. Um das zu erreichen, müssen diese vierstelligen Einheiten erst in Systemen zusammengefaßt werden. Da diese Zusammenfassungen jederzeit einer Belegimg durch Werte im Sinne einer mehrwertigen Logik zugänglich sein müssen, sind die Regeln der Komposition solcher Gebilde ohne weiteres gegeben. Sie müssen ein Stellenwertsystem formen. Wir können uns hier kurz fassen, da wir den Aufbau eines solchen Systems bereits in einer früheren Veröffentlichung beschrieben haben.®^ Wir wollen hier nur noch folgendes zusätzlich bemerken; da wir von jetzt ab sowohl von den Stellen innerhalb eines Morphogramms, die von individuellen Werten besetzt werden können, als auch von den Stellen sprechen wollen, die ein Morphogramm in einem System einnimmt, wird es gut sein, um Mißverständnisse zu vermeiden, im ersten Fall von Individualstellen zu sprechen. Werden Morphogramme zu einem Systeme zusammengefügt, so wird die in den vorangehenden Tafeln kontinuierliche Folge der Individual stellen unterbrochen. Und da die einzelnen Einheiten etwa wie die Ringe einer Kette ineinandergreifen, wollen wir von morphogrammatischen „Ketten" sprechen, wenn wir dieselben von den Wertfolgen trans-klassischer Vgl. C. Günther: Die Aristotelische Logik des Seins und die Nicht-Aristotelische Logik der Reflexion. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 12 (1958). 360—407.

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Systeme unterscheiden wollen. Die kürzeste Kette, die sich zusammensetzen läßt, enthält drei Glieder und jedes mag etwa einzeln oder in beliebiger Kombination mit den anderen vermittels des K-Operators manipuliert werden. Diese unterschiedlichen Geltungsbereiche des Operators wollen wir dadurch anzeigen, daß wir die Kettenglieder zählen und die gefundenen Zahlen als Indexe benutzen. Wird die Kette als Ganzes gespiegelt, so wird der Operator weiterhin ohne Index angeschrieben, gleichgültig wie lang die Kette ist. Auf das allgemeine Prinzip der Zählmethode für die Indexe wollen wir hier aus Raummangel nicht eingehen. In der folgenden Tafel ist die Zählung für ein „dreiwertiges" System mit Mi, Ma, Ms angegeben. In einer solchen Kette kann also der Reflektor in den folgenden Varianten angewendet werden: R^, R^, R®, R®®, R^"® und R. In der Tafel (VI) stellen wir eine nur aus dem Morphogramm [1] bestehende Kette einmal als fortlaufende Zeichenreihe und dann aufgeteilt in ihre Kettenglieder dar: Ma Ml Ms (VI) \l, 11 * * * * * * * *

□ □ * □



□ □ □

A

A

A

In der folgenden Tafel (VII) zeigen wir die Anwendung des partiellen R-Operators R' auf die Zeichenreihe [1, 1, 1]: R^ [1. 1, 11 "

* * * *

□ □ □

A

[4]

□ *

* *

l-,l, 1]

*



*

A



[4, 13, 131



(VII)

* * * *

□ * □

A

Die in Tafel (VII) vorgenommene Prozedur benötigt nur eine kurze Erläuterung. Durch die Operation R' ist nur das erste Morphogramm (Mi) in der Zweiten vertikalen Kolonne als [4] reflektiert worden. Fünf Zeichen von

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[1,1,1] sind durch diese Operation nicht berührt worden. Wir schreiben sie also in der originalen Reihenfolge, gekennzeichnet als , 1,1], wieder an und kombinieren in der letzten Zeichenreihe die beiden mittleren Kolonnen. Wir erhalten so die neue Kette [4,13,13]. Das Resultat ist bemerkenswert. Wir hatten anläßlich der elementaren R-Äquivalenzen festgestellt, daß wir noch keine Prozedur besaßen, ein klassisches Morphogramm in ein transklassisches zu reflektieren. Für die vierstellige morphogrammatische Einheit [1] ergab die unmittelbare Reflexion [4]. Für die Kette [1, 1, 1] aber erhalten wir durch die gleiche Operation sowohl [4] als auch das trans-klassische [13]. Aber nicht jede partielle R-Operation liefert ein solches Resultat, wie die nächste Tafel (VIII) demonstrieren soll: R®-*> [1,1,1] [1, . ., ..] [4, 1, 4] R [1, 1, 1] (VIII) * A A A

*

*

*

□ □ * □

□ * □ □

□ □

□ * □ □ □ * □

□ * □ □

¥ * * * * * A ^2.3 reflektiert die beiden Morphogramme, die in der Operation der Tafel *

(VII) trans-klassische Strukturen ergaben. Diesmal bleibt das Resultat im klassischen Bereich, aber es ist in anderer Hinsicht überraschend. Nur eins der beiden direkt manipulierten Morphogramme erfährt eine Verwandlung. Die zweite Metamorphose betrifft das durch R^'® nicht operierte Glied der Kette. Nämlich Morphogramm Mi. In der letzten Spalte haben wir außerdem die totale Reflexion von [1, 1, 1] angeschrieben. Ihr Resultat ist, wie unschwer aus der Zeichenreihe abgelesen werden kann, [4, 4, 4]. Die nicht in den Tafeln (VII) und (VIII) dargestellten Anwendungsmodi von „R" auf die dreigliedrige Kette, die nur [1] als Glieder enthält, wollen wir kurz in Form von R-Äquivalenzen anschreiben: R® [1,1,1] = [ 1,4,1] (11) R® [1,1,1] = [13,1,4] (12) Ri-®[1,1,1] = [ 4,4, 4] (13) Ri-»[1,1,1] = [13, 4, 4] (14) Wie man sieht, ist das Resultat der R^‘®-Operation identisch mit dem Ergebnis der Totalreflexion in Tafel (VIII). Diese Eigenschaft der Ri-®-Manipu-

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lation ist keinesfalls allgemein, sie ist aber reversibel, wie die nächste Formel zeigt: Das folgende Beispiel und

RI-2[4, 4, 4] = [1,1,1]

(15)

R1-2[2, 2, 2] = [2, 2, 3]

(16)

R[2, 2, 2] = [2, 2, 2] (17) zeigt aber, daß die Totalreflexion keineswegs immer mit einem partiellen Reflexionsprozeß identisch ist. De facto gibt im Falle von [2, 2, 2] jede Anwendung des partiellen Reflektors ein anderes, und von der Totalreflektion stets verschiedenes, Resultat. Weiterhin ist wichtig zu wissen, daß der Gebrauch des Reflektors auch die Möglichkeit der Iterierung der einfachen (partiellen oder totalen) Reflexion zuläßt. Aus Formel (13) und Tafel (VIII) geht hervor, daß es nicht möglich ist, mit einer einfachen Reflexion von [1, 1, 1] oder [4, 4, 4] alle Kombinationen von dreistelligen Ketten, die sowohl [1] als auch [4] enthalten zu produzieren. Es sind 8 solche Kombinationen möglich, aber mit den uns bisher bekannten Anwendungen von „R" ist weder [4, 4,1] noch [1, 1, 4] darstellbar. Da die Produktion dieser Ketten auf der Basis von [1, 1, 1] oder [4, 4, 4] noch andere Probleme involviert, deren Diskussion den engen Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wollen wir einen einfacheren Fall der Nicht-darstellbarkeit einer der oben genannten Kombinationen durch eine einfache R-Operation wählen. So ist z. B. [4,1,1] eine einfache Reflexion von [4, 4, 4] aber nicht von [1,1,1]. Wohl aber ist die in Frage stehende Kette eine iterierte Reflexion jener dreistelligen Kette, die nur [1] enthält. Die R-Äquivalenz (18) stellt diesen Sachverhalt wie folgt dar: R*R2-s[l,l,l] = [4,1,1] (18) Dazu das Korollarium: R3

4^ 4] = [-4^

4j

(29)

In den Formeln (18) und (19) ist der Reflektor iteriert. Mit diesen flüchtigsten Andeutungen eines morphogrammatischen Formalismus der Reflexionslogik müssen wir uns hier begnügen. Was noch zu tun bleibt, ist der nähere Anschluß dieser Gedanken an das Problem der Subjektivität, bzw. des ontologischen Gegensatzes zwischen dem O-System und dem S-System. Der vierte und abschließende Teil dieser Betrachtung soll dieser Aufgabe gewidmet sein.

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103

VI. Der Gedanke einer Dimension des Formalen, die jenseits des klassischen Wertformalismus steht, ist sehr eingehend und profund von Emil LASK in seiner Logik der Philosophie . . . und in seiner Lehre vom Urteil behandelt worden. Er unterscheidet einen Formalismus des Seins (als des Sinnlichen) von der „Form fürs Unsinnliche, der kategorischen Form für Form, der Form der Form"®^. Hier scheint man sich allerdings in den metaphysischen Regionen der Aristotelischen voTigic; vofi;eo); zu verlieren. Aber LASK will das für seine Form der Form nicht wahr haben. Eine Lehre von der katefgorialen Form fürs Übersinnliche, so sagt er, „kann nicht Metaphysik, sondern muß Logik sein, genau wie die Lehre vom kategorialen Seinsgehalt nicht Sinnlichkeitserkennen, sondern Logik war. So wenig wie die Kategorien fürs Sinnliche sinnlich sind, sowenig die fürs Übersinnliche übersinnlich."'» Auch in der Lehre vom Urteil spricht LASK von „der Doppeldeutigkeit des Formbegriffs", die es erlaubt „alle logischen Phänomene nach Gehaltsund Strukturformen (zu) klassifizieren". Seine einige Zeilen weiter folgende Bemerkung, daß „bei allen Gegenüberstellungen des rationalen und des empirischen Erkenntnisfaktors . . . die kategorialen Gehaltsformen und die sekundären Strukturphänomene durcheinandergeworfen" werden**, hat leider auch für die gegenwärtige Diskussion auf dem Gebiet der formalen Logik Gültigkeit. Dem Gegensatz zwischen „Strukturform" und „Kategorialform" entspricht nun nach LASK im Bereich der Gegenständlichkeit eine „nachbildliche" und eine „urbildliche" Schicht. In der nachbildlichen herrscht der Gegensatz von Positivität und Negation; die letzte urbildliche Dimension der Gegenständlichkeit aber ist „übergegensätzlich"®*. In ihr ist die Hegelsche Antithese von Sein und Nichts aufgehoben. Diese Auflösung des Gegensatzes durch einen Prozeß, der subjektiver als das Aufzulösende ist, involviert nach LASK ein „Novum der Struktur", das „ganz und gar erst auf dem Boden der Subjektivität und durch sie entstehen" kann.** Der Unterschied zwischen Kategorialform und Strukturform besteht nun nach LASK darin, daß die erstere den Charakter der „Ganzheit und Unzerrissenheit" hat, während die zweite sich durch „isolierte Elemente" (Aus*• M “ s«

E. Laak: Gesammelte Schriften. Tübingen 1923. Bd 2. 89. Ebd. 126. Vgl. audt 177 ff. Ebd. 383. Ebd. 386 ff. Ebd. 417.

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drücke von LASK) konstituiert. Das würde etwa unserm Unterschied zwischen morphogrammatischer und Wertstruktur entsprechen. Es ist vielleicht nicht unrichtig, in Weiterführung der Gedanken von LASK ZU sagen, daß die Morphogrammatik eine Strukturschicht beschreibt, in der die Differenz zwischen Subjektivität und Objektivität erst etabliert wird und deshalb dort noch nicht vorausgesetzt werden kann. Führen wir aber Werte, d. h. den Gegensatz von Positivität und Negation ein, so betrachten wir denselben Sachverhalt als (inhaltliches) Resultat eines Bewußtseinsvorgangs. D. h. die Trennung von Subjekt und Objekt muß jetzt vorausgesetzt werden. Subjektivität ist nach LASK ein Phänomen der „Isolierung", sie ist der „Entstehungsgrund der Gegensätzlichkeit" und bringt etwas „Zerstückeltes" und „Gekünsteltes" in die urbildliche Struktur. Und ihrer „Eigenmächtigkeit" entspricht ein transzendentaler „Willkürbereich"®’. Mit solchen Werturteilen, in die die scharfsinnigen, transzendentallogischen Analysen LASKS gelegentlich abgleiten, ist selbstverständlich in einer Theorie der formalen Logik wenig anzufangen. Sie deuten aber doch auf einen Sachverhalt hin, den wir so neutral und farblos wie möglich durch die Unterscheidung von Systemen, die eine Umwelt oder die keine haben, zu beziehen versuchten. Wir werden den Gedankengang nach diesem Hinweis auf LASKS wichtigen Beitrag zur Transzendentallogik nun auf unsere Weise weiterführen, indem wir die morphogrammatische Struktur jetzt mit „isolierten" (LASK) bzw. „unmittelbaren" (Hegel) Elementen besetzen, die wir als logische Werte interpretieren. Soweit die Morphogramme [1] bis [8] in Frage kommen, erhalten wir immer nur eine (klassisch) zweiwertige Struktur, gleichgültig was für Werte wir zu wählen belieben. Die Einführung von Werten in die trans-klassische Morphogrammatik von [9] bis [15] produziert 6 dreiwertige und eine vierwertige Situation. Wir wollen nun den Unterschied zwischen den klassischen und trans-klassischen Wertfolgen durch eine Konfrontation beider Typen in der Tafel (IX) demonstrieren. Wir beschränken uns dabei auf ein Minimum von Wertfolgen: A V (IX) W W W W W W F F W 3 F W F W 3 F F F F F Der durch die vier ersten Kolonnen gefüllte Teil der Tafel ist ganz konven” Ebd. 415 f.

Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

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tionell und braucht nicht weiter gerechtfertigt zu werden. Für die letzte Kolonne aber ist eine Anschreibung gewählt worden, durch die von vornherein ausgedrückt werden soll, daß sie keinesfalls in demselben Sinne zu Tafel (IX) gehört, wie die übrigen Teile derselben. Die ersten beiden vertikalen Wertreihen erschöpfen alle möglichen Kombinationen für eine Wertwahl. In der dritten und vierten Kolonne erkennt man unschwer die Wertwahlen, die Konjunktion (A) und Disjunktion (V) auszeichnen. Was aber die letzte „Wertfolge" angeht, so sind nur die Zeichen auf dem ersten und vierten Platz der Folge sinnvoll als Wertwahlen im konventionellen Sinn. Die Ziffer, durch die die zweite und dritte Stelle besetzt ist, ist im obigen Zusammenhang bedeutungslos oder so scheint es wenigstens. Wenn wir jetzt Konjunktion und Disjunktion miteinander vergleichen, so fällt sofort eine gemeinsame Eigenschaft der beiden Funktionen auf: es werden nur Werte gewählt, die durch die Variablen angeboten werden. Für die erste und vierte Stelle besteht keine echte Wahl. Es ist nur ein Wert angeboten, also ist die Wertwahl der beiden Funktionen identisch. Im zweiten und dritten Fall zieht die eine Funktion den einen, die andere den alternativen Wert vor. Gemeinsam ist den derart entstehenden Wertserien also, daß sie bei unterschiedlicher Wahl die angebotene Alternative akzeptieren. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die letzte Wertfolge, so ergibt sich sofort folgendes: was immer der fremde, durch eine Ziffer bezeichnete Wert sonst sein mag, er drückt die Rejektion der angebotenen Alternative aus. Dabei ist äußerst wichtig, sich klar zu machen, daß die Verwerfung nicht die Werte als solche betrifft, sondern eben die Alternativsituation. Das nicht der individuelle Wert als solcher betroffen ist, zeigt die neue Funktion dadurch an, daß dort, wo eine echte Wahlsituation überhaupt nicht existiert und nur ein Wert angeboten ist, das Angebotene auch hingenommen wird. Wir rufen uns nun in Erinnerung, daß, wie wir weiter oben ausgeführt haben, die zweiwertige Logik völlig genügt um das Universum als objektiven, nur mit sich selbst identischen, irreflexiven Seinszusammenhang darzustellen. Dieser Zusammenhang legt sich für das reflektierende theoretische Bewußtsein in formalen Altemativsituationen auseinander und eine Begriffsbildung, die sich in diesem Rahmen bewegt, begreift radikale Objektivität und nichts weiter. Konjunktion und Disjunktion sind in diesem Sinn also Vehikel des Seinsverständnisses. Wird aber in der letzten Funktion ein Rejektionswert eingeführt, so liegt darin eine noologische Verwerfung des ganzen irreflexiven Seinsbereichs. Derselbe wird in logischen Ab-

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stand gesetzt und erhält den Charakter einer Umwelt für etwas, das sich von ihr absetzt. Es scheint uns nun, daß, wenn Subjektivität irgend einen formallogischen Sinn haben soll, der betreffende nur durch eine solche Absetzungsfunktion repräsentiert sein kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß ein nordamerikanischer Indianerstamm, die Algonquins, für das Subjekt die folgende Bezeichnung hat: that which has cast itself adrift. Das, was sich abgelöst hat. Von Hegel wollen wir hier nur den einen Satz aus seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion setzen: . . der Geist ist das ewige in sich Zurückgehen". Da eine Funktion, die Rejektionswerte enthält, den durch Konjunktion und Disjunktion umgriffenen irreflexiven Seinsbereich transzendiert, wollen wir das neue logische Motiv „Transjunktion" (T) nennen. Wem die Identifizierung von Konjunktivität und Disjunktivität mit reflexionslosen Seinsstrukturen (Objektivität) und von Transjunktion mit dem Reflexionscharakter der Subjektivität in diesem elementaren Stadium der Untersuchung vorschnell erscheint, oder wer überhaupt Bedenken gegen die Gleichsetzung formaler logischer Termini mit solchen von metaphysischer Natur hat, der sei daran erinnert, daß Subjekt und Objekt in dieser Untersuchung nur die Bedeutung haben sollen: System — mit und System — ohne — Umwelt. Wenn wir von Transjunktions- bzw. von Rejektionswerten reden, so heißt das nur, daß wir eine Funktion besitzen, die eine logische Grenzlinie zieht zwischen einem O-System, das ohne Umwelt beschrieben werden muß und einer überschießenden Reflexionsstruktur (S-System), die nicht ohne den Gegensatz von System und Umwelt begriffen werden kann. Die Theorie der Reflexion-in-sich ist auf allen Stufen die Lehre von jenen formalen Strukturen, in denen sich Rejektionen von beliebigen Wertalternativen manifestieren. Es scheint cms, daß man sich unter Subjektivität formal-logisch überhaupt nichts anderes denken kann. Es ist selbstverständlich, daß das Verwerfen einer Wert-Alternative nicht total zu sein braucht, wie das in unserm Beispiel in Tafel (IX) der Fall ist. Besetzen wir die Morphogramme [9] bis [12] und [14] mit Werten so erhalten wir alle überhaupt möglichen Fälle von partieller Transjunktion. Raummangel verbietet uns, auf die philosophische Deutung dieser transjunktiven Differenzen einzugehen. Das soll in größerem Zusammenhang nachgeholt werden.®® Dagegen ist ein Wort vonnöten über die Wertbesetzung des Morphogramms [15], das eine Sonderstellung einnimt. Die in Tafel (IX) dargestellte Transjunktion ist total, aber undifferenziert. Der formale Be“ Vorläufige interpretative Bemerkungen über diese Differenzen finden sidi in der Anm. 39 erwähnten Publikation des Verf.

Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

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reich logischer Möglichkeiten wäre aber nicht erschöpft, wenn die Rejektion sich angesichts zweier Altemativsituationen (WF und FW) nicht differenzieren könnte. Diesem Fall entspricht die Wertbesetzung des Morphogramms [15]. Dies dürfte der Hegelschen Unterscheidung von einfacher und doppelter Reflexion-in-sich entsprechen. Die Transjunktion entspricht generell jenem metaphysischen Tatbestand, den wir in früheren Veröffentlichungen als „Reflexionsüberschuß" bezeichnet haben.®* In ihr trennt sich jene Reflexion, die auf das objektiv-isolierte Sein projiziert werden kann, von jener, die sich einer solchen Projektion entzieht und die deshalb als „Subjektivität" erscheint. Damit begegnen wir aber einer tieferen Zweiwertigkeit, die die klassische Entgegensetzung von Positivität und Negation übergreift und sie als Spezialfall enthält. Jene weitere transklassische Zweiwertigkeit ist die Alternative zwischen Akzeptions- und Rejektionswert. Wieviel Werte wir in mehrwertigen Systemen auch einführen mögen, sie fungieren entweder in einem Morphogramm, das die Struktur der logischen Akzeption oder die einer Rejektion repräsentiert. Tertium non datur! In anderen Worten: das philosophische Zweiwertigkeitsprinzip der „mehrwertigen" Systeme bestimmt, welche Reflexionsstrukturen und Gesetze in einem O-System und welche in einem S-System auftreten. An dieser Stelle muß einem möglichen Mißverständnis vorgebeugt werden. Die Tafel (IX) könnte den Eindruck erwecken, daß die beiden durch große Buchstaben repräsentiert klassischen Werte ein für allemal Akzeption designieren und daß der durch die Ziffer vertretene Wert definitiv auf Rejektion festgelegt ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Ein jeder Wert in einem mehrwertigen System kann akzeptiv oder rejektiv frmgieren. Zwecks Illustration des Gesagten wollen wir in Tafel (X) eine interessante T-Funktion anschreiben: [13] [13] [13] (X) 1

1 1

2 2 2

3 3 3

1

1

3

2

2

1 2

3

1 2

3

3

3

3

2 1 2 1

3

1

1

3

2

2 2 1 1

3

2

3

*• Vgl. etwa G. Günther: Schöpfung, Reflexion und Geschichte. In: Merkur 41 (1960). 634.

108

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In dieser Tafel sind alle Werte durch Ziffern repräsentiert. Die Funktion (T) ist erst als Kette angeschrieben und dann in ihre morphogrammatischen Einheiten [13,13,13] aufgelöst. Das einzige verwendete Morphogramm ist wieder [13], aber in jeder der drei in Tafel (X) möglichen Wertbesetzungen spielt ein anderer Wert die rejektive Rolle. Akzeption ist so verteilt, daß jedes Morphogramm immer einen Akzeptionswert mit einer andern morphogrammatischen Struktur gemeinsam besitzt. Dies Beispiel zeigt deutlich, daß die Eigenschaft des Akzeptierens oder Rejizierens keineswegs an bestimmte Werte gebunden ist. Im klassischen — auf acht Morphogramme beschränkten — System läßt sich dieser Rejektionscharakter nicht genügend von dem negativen Wert ablösen, wie Hegel mit tiefem Blick erkannt hat. Die Subjektivität als Rejektion ist auf „einer Seite fixiert". Hegel wirft besonders FICHTE vor, daß bei ihm „Ich fixiert ist als entgegengesetzt gegen Nicht-Ich"*®. In der klassischen Logik des verbotenen Widerspruchs sind die Reflexionsbestimmungen „gleichgültig gegeneinander", sagt Hegel in dem Abschnitt über das Wesen. „Die eine ist das Positive, die andere das Negative, aber jene als das an ihm selbst Positive, diese als das an ihm selbst Negative. Gemäß der Theorie der Dialektik läßt sich diese „fixe Bestimmtheit" der Werte in einer zweiwertig formalen Logik klassischer Observanz nicht aufheben. In dem Augenblick, wo wir sagen, daß das Negative das Positive ist, haben wir den Boden eines zuverlässigen Formalismus verlassen. Übertragen wir aber das Prinzip der Zweiwertigkeit von dem traditionellen Gegensatz auf den der Akzeption oder Rejektion eines zweiwertigen Systems, so ist nicht nur der von den Dialektikern geforderte Funktionswechsel eines logischen Wertes gewährleistet, wir sind überdies im Formalen geblieben. Die vermittels der T-Funktion gebildete Kette ist eine genau so formale Struktur wie klassische Konjunktion und Disjunktion. Das Tertium non datur ist auf der neuen Ebene dadurch wieder gewährleistet, daß ein logischer Wert, der aus einer Alternative resultiert, nicht Akzeptions- oder Rejektionswert sein kann, er muß das Eine oder das Andere sein. Eine dritte gleichgeordnete Funktionsweise existiert nicht. Hier kann der Dialektiker selbstverständlich aus der Hegelschen Logik den Einwand schöpfen, daß die beiden Seiten dieses neuen Gegensatzes auch wieder sich unvermittelt gegenüber ständen und daß Akzeption und Rejektion „an sich selbst" allein das seien, was sie seien. Dieser Vorwurf Hegel: Werke. Hrsg. v. H. Glöckner. Bd 19. 634 ff. Hegel: Wissenschaft der Logik. Teil 2. 49.

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109

trifft allerdings unser Sprechen über diesen Sachverhalt. Das sich in der Umgangssprache manifestierende theoretische Bewußtsein ist zweiwertig. Und zwar ist es im klassischen Sinne der Zweiwertigkeit unterworfen. Soweit aber ein transklassischer Formalismus in Frage kommt, ist darauf zweierlei zu antworten: Erstens ist es das Charakteristikum des mehrwertigen Kalküls, daß die Werte ihre Rolle als akzeptierende oder nicht-akzeptierende je nach ihrer Position in einer Wertfolge dauernd wechseln; zweitens aber ist der Wertformalismus ja überhaupt nicht die tiefste Grundlage einer Transzendentallogik. Die ist eben das System jener Leerstrukturen, die wir Morphogramme nennen. Und drittens wird niemand, der sich der letzten metaphysischen Wurzeln der transzendental-dialektischen Problematik bewußt ist, die Behauptung wagen, daß sich alle Reflexionsvorgänge und alles Denken in einen „absoluten" Formalismus auflösen läßt. Was hier allein behauptet wird, ist, daß die Formalisierung in ihr bisher nicht zugängliche Dimensionen des logischen Begriffs vorgetrieben werden kann, und zwar in solche, in denen die Gesichtspunkte der Transzendentalität, der Selbstreflexion und der Dialektik auftreten. An welchen metaphysischen Grenzen der Formalisierungsprozeß schließlich haltmachen muß, das ist bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung überhaupt noch nicht auszumachen. Der einzelne logische Forscher kann darüber nur ganz private und wissenschaftlich unverbindliche Meinungen haben. Man kann nicht einmal sagen, daß die Meinungen eines KANT-, FICHTE- oder Hegelspezialisten hier schwerer wiegen als die eines Kalkülrechners. Wenn dem einen, wie die heutigen Handbücher der symbolischen Logik zeigen, ein gewisser Sinn für das transzendentale Formproblem abgeht, so fehlt dem anderen gewöhnlich das Fingerspitzengefühl für die subtile Technik der Formalisierung, oder überhaupt der Sinn dafür, wie wichtig es für die Interpretation des transzendental-dialektischen Idealismus ist, daß alles was in demselben formalisierbar ist, auch wirklich solchen exakten Methoden unterworfen wird. In der gegenwärtigen Hegelliteratur sind jedenfalls von solchem Ehrgeiz leider nur geringe Spuren zu finden. Was vonnöten ist, ist eine gutwillige Zusammenarbeit zwischen den metaphysischen und den mathematischen Logikern. Es ist völlig ausgeschlossen, daß die Arbeit von der einen oder der anderen Seite allein geleistet werden kann. Wir glauben, daß solche Zusammenarbeit von der Einsicht ausgehen sollte, daß die zweiwertige klassische Logik morphogrammatisch unvollständig ist und daß dementsprechend unsere Vorstellungen von dem, was formal ist, einer Modifizierung bedürfen. In einer Logik der Reflexion sollte dann der Wertbegriff eine veränderte Rolle spielen. Hegel wollte

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die Alternative von „wahr" und „falsch" überhaupt aus der Reflexionslogik verbannen. Damit ging er sicher zu weit. Er hat aber wohl doch richtig gesehen, daß die Logik in tiefere Schichten der Reflexion dringen kann, in denen die besagte Alternative in der Tat gegenstandslos ist. Diese tiefere Schicht ist, so nehmen wir an, im Morphogrammatischen zu finden. Es liegt dort ein ungeahnter Reichtum an strukturellen Beziehungen, der mit konventionellen Methoden nur schwer, wenn überhaupt, aufgedeckt werden kann. Da wir in den unmittelbar vorhergehenden Betrachtungen die Morphogramme als wertbesetzt und unter dem Gesichtspunkt einer transklassischen Zweiwertigkeit untersucht haben, dürfte der Gegensatz zwischen morphogrammatischer und wertwählender Logik etwas verwischt worden sein. Wir wollen deshalb auf den folgenden Seiten noch kurz auf die Differenz, bzw. Nicht-Identität von morphogrammatischer Kette und Wertfolge aufmerksam machen. Sie ergibt sich ohne weiteres aus dem bisher Gesagten. Wir gingen davon aus, daß die zweiwertige Logik acht Morphogramme besitzt für die zwei Wertbesetzungen zur Verfügung stehen. Dadurch ergibt sich ein ganz einzigartiges Verhältnis zwischen Morphogramm und Wert, das in den trans-klassischen Systemen, die Transjunktion involvieren, nicht mehr wiederkehrt. In einer dreiwertigen Logik existiert die folgende Beziehung zwischen der Zahl der morphogrammatischen Ketten einerseits und den möglichen Wertbesetzungen andererseits: Kette 1

255 3025

Wertbesetzung

3

(XI)

6 6

Die Zahl der Ketten ist dabei nach dem Gesichtspunkt unterteilt worden, ob die Besetzung durch einen, durch zwei oder durch drei Werte erfolgt. Eine Kette, die z. B. nur das Morphogramm [5] enthält, erlaubt selbstverständlich nur drei Wertbesetzungen. Je umfangreicher die logischen Systeme werden, desto höher ist die Zahl der möglichen Wertbesetzungen bzw. desto geringer die Zahl der Ketten verglichen mit der Anzahl der in ihnen auftretenden Wertfolgen. H. VON FOERSTER (University of Illinois) verdankt der Verf. den äußerst wichtigen Hinweis darauf, daß die Zahl der Möglichkeiten, p (m) und fi (m), einzelne Werte m in n verschiedene Positionen zu setzen mit Hilfe von S (n, k), den STIRLING Zahlen zweiten Grades bestimmt werden kann. Die folgende Tafel (XII) enthält die ersten dieser Zahlen:

Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

n/k 1 2

3 4 5 6

7 8

9

1 1 1 1 1 1 1 1 1

8 1

3 7 15 31 63 127 255

1 6

25 90 301 966 3 025

1 10

65 350 1701 7770

111

9

(XII)

1

15 1 140 21 1050 266 6951 2646

1

28 462

1

36

Wir erhalten die Zahl der individuellen Morphogramme und der morphogrammatischen Ketten vermittels der Formel m (i (m) = 2 S (m*, i) (20) i=1 durch Einsetzung von 2 für m ergibt sidt dann 2

p (2) = S S (4, i) == 1 + 7 = 8 1

Im Falle eines dreiwertigen Systems: 3 p (3) = 2 S (9, i) = 1 + 255 + 3025 = 3281 1

(21)

(22)

Darüber hinaus zeigen uns die SxiRLiNG-Zahlen einen weiteren Aspekt der morphogrammatischen Ketten. Wir wollen denselben ihre p-Struktur nennen. Er ergibt sich aus der Formel m®

p (m) = 2 S (m^, i) (23) i = 1 Wir benötigen die Formel (23) zur Begründung unserer Feststellung, daß eine Logik der Reflexion genau 15 morphogrammatische Grundeinheiten hat. Geben wir m den Zahlen wert 2, so ergibt sich: p (2) = 15 (24) also die Zahl der Morphogramme, aus denen die Tafeln (Ilb) plus (III) bestehen. Das ist nach dem bisher Gesagten trivial. Die Formel (23) hat aber noch eine tiefere Bedeutung. Wir geben jetzt m den Wert 3. p (3) = 21147 (25) Da wir wissen, daß eine dreiwertige Logik nur 3^^ = 19 683 binarisch geformte Wertfolgen haben kann, scheint es zunächst ziemlich imsirmig, einer solchen Logik 21147 morphogrammatische Ketten zuzuschreiben.

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112

Und in der Tat ist das ganz unmöglich, solange wir annehmen, daß 3 der höchste Wert ist, der im System auftreten kann. In anderen Worten ausgedrückt besagt diese letzte Annahme aber, daß wir stipulieren, daß unser dreiwertiges System nur sich selbst und die zweiwertige Logik als Teilordnung enthält und nicht ihrerseits Bestandteil einer höherwertigen Struktur ist. In diesem Fall ist Formel (20) zuständig. Wir wollen jetzt aber annehmen, daß unsere dreiwertige Struktur nur ein Fragment eines höheren Systems ist, das sagen wir, vorläufig 4 Werte enthält. Soweit unsere 15 morphogrammatischen Grundeinheiten aus Tafel (Ilb) und (III) in Frage kommen, ändert sich durch den Wertzuwachs nichts. Andererseits können wir jetzt für eine „dreiwertige"®^ Logik, die ihren Platz als Subsystem in dem reicheren Strukturzusammenhang hat, die folgende Serie von Werten anschreiben: 132..4 21...443 (26) Dieselbe ist der Tafel (XIII) entnommen.

£ 1 1 1

1

2 2 2 2

3 3 3 3 4 4 4 4

U

a

b

1

1

111

3 4

2 2

2

3 4

2 1 1

1 2

1 2

1 2

3 4 1 2

3 4

3

3

4

4

4 4 3

4 4 3

1

2 1

3

2

4

c

4 3 1

3 3

3 3

3

4

4

4

2

(XIII)

2 2

2 1

d

2

2 1 1

4 3

1

3 2

4

In Tafel (XIII) haben wir eine Funktion „U" angeschrieben, die einer vierwertigen Logik angehört. Dieselbe besitzt 4 „Plätze": a, b, c und d, für dreiwertige Subsysteme. Im Falle von U aber sind alle Plätze von vier Werten besetzt, und zwar derart, daß jede der angeschriebenen fragmentarischen Sequenzen aus drei Morphogrammen vom Typ [15] besteht. SoD. h. für eine aus drei Morphogrammen bestehende Kette, in der aber vier Werte auftreten können: also eine dreiwertige Logik mit einem Minimum an p^-Struktur.

Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

113

weit unsere vierstelligen Morphogramme in Frage kommen, ist die Struktur immer die gleiche, d. h. ^ ^ ® □ Dieselbe tritt, wie wir wissen, erst in einer vierwertigen Logik auf. Andererseits ist die Folge der neun Individualstellen von (26) der Platzhalter einer „dreiwertigen" Logik in jedem reicheren System. Die morphogrammatische Struktur von (26) ist Das aber ist eine Leerform, die in einem isolierten dreiwertigen System nicht Vorkommen kann. Sie gehört also zur fi-Struktur desselben. Untersuchen wir jetzt weiter die Leerformen, die durch die Wertserien, die b, c und d erfüllen, repräsentiert werden, so stellen wir fest, daß wir 3 weitere neunstellige Leerformen gewinnen, die durch ^••AD*D#A

^••AD#D*A

dargestellt werden können.*® Das vierstellige Morphogramm [15] produziert also in der Funktion „U" 4 unterschiedliche neunstellige Leerstrukturen. Und damit ist seine Produktionsmöglichkeit noch nicht erschöpft. Die Plätze a, b, c, d können noch 4 weitere ausschließlich aus [15] hervorgehende Strukturen tragen. Es sind das:

^A#0D*D#A *AD9D#0*A

* Am•O m A * A

^•□AD##*A

Sehen wir von dem Spezialfall des Morphogramms [15] ab, so läßt sich allgemein sagen, daß der Zuwachs an [X-Struktur, den eine „dreiwertige" Logik in einem vierwertigen System (das seinerseits nicht ein Fragment einer höheren Ordnung ist) erfährt, durch 7770 morphogrammatische Ketten mit neun Individualstellen repräsentiert wird.®^ Ein weiterer, wenn auch geringerer Zuwachs tritt ein, wenn eine entsprechende Einordnung in ein fünfwertiges System erfolgt. Die Grenze der möglichen Bereicherung der p-Struktur ist erreicht, wenn der Übergang von einer acht- zu einer neunwertigen Ordnung vollzogen wird. Es kommt für das ursprüngliche „dreiwertige" System dann gerade noch eine morphogrammatische Leer•* Beim Gebrauch der Symbole *, □, usw. folgen wir dabei der Konvention, daß die Reihe immer mit * beginnen, an der fünften Stelle □ haben und mit A schließen soll. •* Vgl. Tafel (XII).

114

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form dazu, die wir — mit willkürlich gewählter Wertbesetzung — folgendermaßen anschreiben: 148526973

(27)

111123333

(28)

Die Eigenschaft dieser Kette besteht darin, daß keine zwei Individualstellen von dem gleichen Wert besetzt werden dürfen. Da es unmöglich ist, in neun Stellen mehr als neun Werte zu placieren, ist damit die Grenze des Wachsens der fl-Struktur für dreiwertige Systeme erreicht. Betrachtet man die letzteren als Teile von zehn- oder noch höherwertigen Ordnungen, so besteht ihre fortschreitende Bereicherung — wenn man von einer solchen überhaupt noch sprechen kann — nur in der Möglichkeit, daß höherwertige Negationen eingeführt werden. Z. B. kann die Wertfolge: durch Negation in

1 1 1 1 2 10 10 10 10 (29) übergeführt werden. Obwohl die Wertfolge (29) erst in einer zehnwertigen Logik auftreten kann, gehört die morphogrammatische Kette, die durch sie besetzt ist — ganz wie im Fall von (28) — zur p-Struktur einer dreiwertigen Logik.

Der Unterschied von p- und p-Struktur ist vor allem bedeutsam für die Theorie der Rejektionswerte. Die Zahl der Rejektionswerte, die ein zweiwertiges System in seiner Eigenschaft als Subsystem einer beliebigen mwertigen Logik haben kann, ist immer m-2. In einer dreiwertigen Logik besitzt also jedes ihr integrierte zweiwertige System nur je einen Rejektionswert. Sind aber dreiwertige Systeme ihrerseits (als Ketten dreier Morphogramme) Teile eines, sagen wir, neunwertigen Systems, dann repräsentiert, wie wir gesehen haben, jede neun Individualstellen umfassende Kette einen größeren strukturellen Reichtum als neun Stellen in einem isolierten dreiwertigen System tragen können. Die obere Grenze für eine solche Bereicherung ist generell durch die Formel S (n, k) — p = p gegeben. In unserem Spezialfall einer dreiwertigen Logik gibt das S (n, k) = 21147 — p = 3281

(30)

ji = 17866

Kein Zweifel — der Zuwachs an morphogrammatischer Kettenstruktur ist eindrucksvoll. Aber er hat für jedes beliebige m-wertige System mit finitem m eine obere Grenze. Formel (30) ist ein Ausdruck dafür, daß die klassische Logik morphogrammatisch unvollständig ist. Die StiRUNGnummer zweiten Grades S (n.

Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik

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k) für vier Individualstellen ist 15. Tafel (Ilb) aber enthält nur den Teil der Morphogramme, die ihre p-Struktur darstellen. Die fi dieser Logik wird uns erst durch Tafel (III) gegeben. Die Rejektionswerte haben also ihre Herkunft aus der fl-Struktur. Da aber jedes logische System, das Element eines höheren Reflexionszusammenhanges ist, schließlich einen Zustand morphogrammatischer Sättigung durch seine Rejektionswerte erreicht, wie Formel (30) impliziert, so ist ersichtlich, daß die Rejektionskapazität eines gegebenen S-Systems genau bestimmbar ist. Da für die klassische Logik die p-Struktur in einer vierwertigen Logik, bzw. in einem System morphogrammatischer Ketten, die 6 Glieder haben, vollständig entwickelt ist, lassen sidi auch nicht mehr als zwei Stufen der Reflexion, die sich auf reflexionsloses Sein beziehen, unterscheiden. Das ist der Anfang der Hegelschen Logik, wo das Rejizierte als Sein, die erste Rejektion als Nichts und die zweite als Werden auftritt. Die Dialektik des Deutschen Idealismus (wenn nicht die Dialektik überhaupt) ist unter formalen Gesichtspunkten zweiwertig „fixiert", aber sie besitzt in der p-Struktur der Zweiwertigkeit Raum für die „Selbstbewegung" ihrer Begriffe. Geht man nun zu höher reflektierten, d. h. mehrwertigen Systemen fort, so stellt man fest, daß zwar in jedem m-wertigen System m selbst seinen Rejektionscharakter verliert und zum Akzeptionswert wird, daß aber diesem Verlust ein ständiges Wachsen der Rejektionswerte derart gegenübersteht, daß dieselben für jedes folgende System einen „Überhang" bilden. Die folgende Aufstellung (XIV) soll dieses Verhältnis zwischen den Rejektionswerten eines und des nächsthöheren Systems anschaulich machen: Logik

Rejektion

(XIV)

1-

wertig

23-

wertig 3 + 3wertig \ 456789

4-

4 wertig

\ 5 6 7 8 9

5-

5 wertig

\ 6 7

F

F

F

4

F

Akzeption In Tafel (XIV) ist für jede m-wertige Logik das Verhältnis von Akzeptionsund Rejektionswerten angeschrieben. Werte, die unter dem diagonalen Strich stehen, nehmen für das ihnen korrespondierende System den Cha-

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rakter von Akzeptionswerten an. Steht der Wert über der Diagonale, so gilt er als Rejektionswert. In der Sektion der akzeptierenden Werte haben wir nicht alle Werte, sondern nur den jeweiligen Zuschuß an Akzeption notiert. Die erste Zeile unter dem Horizontalstrich zeigt, daß die klassische Negation auch als Rejektionswert betrachtet werden kann. Nur muß man sich, falls man dies tut, darüber klar sein, daß damit das für die klassische Logik geltende Umtauschverhältnis der Werte hinfällig wird. Wenn nämlich in der zweiten Reihe die Negation als Akzeption erscheint, wird der positive Wert „1" dadurch keineswegs zur Rejektion. Wir haben weiter oben der klassischen Zweiwertigkeit von Positivität und Negation die transklassische von Akzeption und Rejektion gegenübergestellt. Diese höhere Zweiwertigkeit ist so echt wie die erste. Sie unterscheidet sich aber dadurch von dem älteren Gegensatz, daß wir es hier nicht mehr mit einer Wertsymmetrie, d. h. mit einem einfachen Umtauschverhältnis zu tun haben. Hegels Antithese von „Sein" und „Nichts" setzt genau eine solche (dialektische) Asymmetrie voraus. Und nur durch eine solche ist der Übergang zum „Werden" möglich. Mit diesen Andeutungen über Zweiwertigkeit in dialektischen (und mehrwertigen!) Systemen müssen wir uns hier begnügen. Wichtiger ist eine andere Eigenschaft, die den Rejektionswerten anhaftet. Wir haben sie ihren „Überhang" genannt. Eine zweiwertige Logik hat, wie wir wissen, zwei Rejektionswerte: „3" und „4". Für ein dreiwertiges System wächst diese Zahl auf sechs an. Und zwar sind es jetzt die mit „4" bis „9" bezeichneten Werte. Beide Ordnungen haben also einen Wert gemeinsam. Der Rejektionsbereich des klassischen Systems hängt mithin minimal über. Der Überhang aber vergrößert sich schnell, wie man, aus Tafel (XIV) ersehen kann. Die dreiwertige Struktur hängt bereits mit fünf Werten über das vierwertige Rejektionsfeld über. Wir haben die Grenzen dieser Überhänge durch kleine nach unten weisende Pfeile markiert. Während nun der Zuwachs an Akzeptionswerten von Stufe zu Stufe immer nur eine Einheit beträgt, wächst der Überhang ziemlich beträchtlich. Er beträgt für eine sechswertige Logik 29 und für ein siebenwertiges System 41 Werte. Allgemein erfolgt der Zuwachs an Rejektionswerten, die für ein gegebenes m-wertiges System einen Überhang über das nächsthöhere formen, gemäß der Formel m^ — (m + 1) (31) Wir glauben, daß Formel (31) wichtig ist. Wir betrachten sie nämlich als einen möglichen werttheoretischen Ausdruck für eine der formalen Strukturen, die der Hegelschen Vermittlung zugrunde liegt.

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In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel die Vermittlung als eine doppelläufige Bewegung: . . Anders werden, das zurückgenommen werden muß ..Und im nächsten Abschnitt heißt es: .. die Vermittlung ist nichts anders als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität, oder, auf ihre reine Abstraktion herabgesetzt, das einfache Werden. Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben diese werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst.*® Diese Erklärung wird ergänzt durch einen außerordentlich wichtigen Passus im zweiten Buch der Großen Logik, den wir trotz seiner Länge im vollen Umfang wiedergeben wollen: „Die Reflexion ist die reine Vermittlung überhaupt, der Grund ist die reale Vermittlung des Wesens mit sich. Jene, die Bewegung des Nichts durch nichts zu sich selbst zurück, ist das Scheinen seiner in einem Andern; aber weil der Gegensatz in dieser Reflexion noch keine Selbständigkeit hat, so ist weder jenes Erste, das Scheinende ein Positives, noch das Andere in dem es scheint, ein Negatives. Beide sind Substrate, eigentlich nur der Einbildungskraft; sie sind noch nicht sich auf sich selbst Beziehende. Die reine Vermittlung ist nur reine Beziehung, ohne Bezogene. Die bestimmende Reflexion setzt zwar solche, die identisch mit sich, aber zugleich nur bestimmte Beziehungen sind. Der Grund dagegen ist die reale Vermittlxmg, weil er die Reflexion als aufgehobene Reflexion enthält; er ist das durch sein Nichtsein in sich zurückkehrende und sich setzende Wesen. Nach diesem Momente der aufgehobenen Reflexion erhält das Gesetzte die Bestimmung der Unmittelbarkeit, eines solchen, das außer der Beziehung oder seinem Scheine identisch mit sich ist. Dies Unmittelbare ist das durch das Wesen wiederhergestellte Sein, das Nichtsein der Reflexion, durch das das Wesen sich vermittelt. In sich kehrt das Wesen zurück als negierendes; es gibt sich also in seiner Rückkehr in sich die Bestimmtheit, die eben darum das mit sich identische Negative, das aufgehobene Gesetztsein, und somit ebensosehr seiendes als die Identität des Wesens mit sich als Grund ist."** Wir haben diese ausführlichen Hegelschen Erklärungen aus einer doppelten Absicht zitiert. Einmal wollen wir uns in einem bescheidenem Maße auf sie berufen und außerdem möchten wir zeigen — und damit widersprechen wir der ersten Absicht bis zu einem gewissen Grade — daß man sich nicht völlig auf den Wortlaut der Sätze Hegels verlassen darf, wenn “ ••

Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1928. 21. Hegel: Wissenschaft der Logik. Teil 2. 64.

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man untersuchen will, ob sich hinter dieser Philosophie noch unentdeckte formale Strukturen verbergen. Man wird, bei aller Vorsicht, doch den Text sehr frei interpretieren müssen, um das systematische Problem, um das es geht, aus seiner zeit- und umstandsbeschränkten Gestalt zu befreien. Es dürfte ja wohl nicht ernsthaft bestritten werden, daß Hegel Reflexionssysteme verschiedener Stufenhöhe als solche und in ihrem Verhältnis zu irreflexiven Bewußtseinsdaten beschreibt. In unserer Terminologie: der Philosoph analysiert die Beziehungen, die zwischen beliebigen SSy Sternen einerseits und ihren teils verschiedenen, teils identischen Relationen zum O-System strukturtheoretisch gelten müssen. Beschränkte sich der Text der FICHTE, Hegel und SCHELLING auf eine solche (restlos formalisierbare) Aufgabe, so würde er nicht so dunkel sein. Aber der Ehrgeiz der Autoren geht viel weiter. Sie wollen das System der reinen Vernunft entwickeln. Dieselbe soll ihre eigene Wirklichkeit begreifen. In unserer trivialeren Ausdrucksweise; das Denken soll feststellen, wie es ontologisch dazu kommt, daß das O-System im Verlauf seiner Geschichte Teilsysteme entwickelt, die es als Umwelt besitzen. Dabei soll „besitzen" in dem von uns weiter oben definierten Sinn verstanden werden, nämlich daß ein solcher Besitz auf den letzten Reflexionsstufen ein Haben der Welt als Bewußtseinsinhalt, samt der Fähigkeit, von solchem Haben in einer „doppelten" Reflexion sich distanzieren zu können, einschließt. Das Denken soll also nicht nur seine Inhalte, sondern sein eigenes Sein im vollen Umfang (des O-Systems) begreifen. Man braucht wohl nicht erst zu versichern, daß ein solcher radikaler Ehrgeiz samt seinen Resultaten jenseits aller vernünftigen Formalisierungsbestrebungen liegen muß. Etwas ganz anderes aber ist es, die Strukturbedingungen von endlichen Reflexionssystemen, gleichgültig ob sie die Bewußtseinsstufe oder gar die des Selbstbewußtseins erreicht haben oder nicht, einem formalen Kalkül zugänglich zu machen. Von solchen Bedingungen ist in den transzendental-spekulativ-dialektischen Texten reichlich die Rede. Die von uns zitierten Texte zum Thema Vermittlung liefern uns nämlich beides: erstens Andeutungen formaler Strukturen und zweitens verbale Passagen, die sich auf den weiteren metaphysisdi-eschatologischen Ehrgeiz ihres Autors beziehen. Von dem ersten unserer beiden Zitate wollen wir nur zwei Sitchworte aufnehmen, die sich, wie wir glauben, auf formale Strukturmomente reflexiver Systeme beziehen. Es sind das: „sich bewegende Sichselbstgleichheit" (als Reflexion in sich selbst) und weiter; „werdende Unmittelbarkeit" (als das Unmittelbare selbst). Wir haben weiter oben das Re-

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flexionsmoment des Sichabsetzens vom reflexionslosen Sein als logisdien Rejektionswert charakterisiert, während Sein als Unmittelbarkeit durch Akzeptionswerte vertreten sein sollte. Nun scheint uns, daß die von Hegel bemerkte Sichselbstgleichheit der Reflexionsmomente — die immer ein niederes und ein höheres System voraussetzt! — in Tafel (XIV) in dem jeweiligen „Überhang" gegeben ist. Soweit ein solcher Überhang reicht, ist die in sich zurückgewendete Reflexion sich selbst gleich. Und daß eine solche Sichselbstgleichheit mit der Reflexionshöhe des Denkens wächst, ist ja eine ausdrückliche Forderung der Hegelschen Logik. Wie anders sollte man sonst zum absoluten Geist und der „Offenbarung der Tiefe" in seinem „absoluten Begriff" kommen! Zugleich ist diese Reflexion aber progressive „Versenkung in die Substanz", also „werdende Unmittelbarkeit". D. h. die logischen Kategorien, die letztere beschreiben und die durch die Akzeptionswerte repräsentiert werden, werden vertieft und bereichert. In unsere Tafel (XIV) ist das angezeigt durch den Zuwachs an Akzeptionswerten, der in höher reflektierten Systemen zur Verfügung steht, um die ursprünglich unter dem Prinzip der Zweiwertigkeit begriffene „Substanz" logisch zu verstehen. Die derart gegebene Bereicherung an Struktur erlaubt eine mit der Entfaltung der Subjektivität parallel gehende progressive Vertiefung des Seinsverständnisses. In dem speziell der Logik gewidmeten abschließenden Teil seines Hegelbuches bemerkt Th. LITT, daß es „nur eine Logik (gibt), aber diese Logik ist, entgegen der durch die ,formale Logik' kanonisierten Annahme, eine in sich gestufte, und zwar nach Maßgabe des Denkgehalts gestufte Logik; Innerhalb des Stufenbaus dieser Logik bildet das, was bisher ,formale Logik' hieß, nur eine, und zwar die unterste Stufe."“^ Mit dieser Auffassung kann man einverstanden sein, abgesehen von der Inkonsequenz, daß die unterste Stufe allein formalisiert werden kann, die höheren aber nicht Wo bleibt da die von LITT mit Recht geforderte Einheit der Logik? Trotzdem liegt auch in der idealistischen Unterscheidung von formaler und transzendentaler, spekulativer dialektischer oder konkreter Logik eine gewisse Wahrheit. Aber könnte es sich nicht vielleicht so verhalten, daß die Schwäche der klassischen zweiwertigen Logik eher darin liegt, daß sie nicht genug formalisieren kann? Sie kommt überhaupt nicht bis zum Begriffe der morphogrammatischen Form. Nimmt man an, daß in einem höher reflektierten Denken die Formalisierungskraft des Denkens stetig Th. Litt: Hegel. Heidelberg 1961. 287.

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wächst, dann ist man nicht von dem Hiatus von Form und Stoff bedroht, der es zu keiner Einheit zwischen der formalen Logik der Mathematik tmd der „konkreten" Logik des philosophischen Denkens kommen lassen will. Unser zweites, ausführliches Hegelzitat zum Thema der Vermittlung mag eine Ahnung von der in der Reflexion nicht abnehmenden sondern wachsenden Formalisierungskraft des Denkens geben. Hegel unterscheidet in ihm ganz unzweideutig zwischen „reiner" und „realer" Vermittlung. Der Text der ersten Hälfte des Zitats ist der reinen, der der zweiten Hälfte der realen Vermittlung gewidmet. Es ist selbstverständlich, daß der auf Formalisierung ausgehende Logiker nichts mit jener zweiten Vermittlung zu tun haben will und kann. In der letzteren handelt es sich darum, wie der Reflexionsprozeß existiert, d. h. um seine „Substtuitialität". Eine ganz andere Sache aber ist die reine Vermittlung. Über sie sagt das Zitat Interessantes. Es bezieht sich auf die Vermittlung der Momente „Sein" und „Nichts" im Werden und weist darauf hin, dciß die so bestehende Reflexion als „Gegensatz . .. noch keine Selbständigkeit hat". D. h. die Reflexion kann in den Bestimmungen von Sein und Nichts noch nicht qua Reflexion, d. h. derartig begriffen werden, daß man Reflektiertes (Sein), Reflexionsbild (Nichts) und Reflexionsvorgang unterscheiden kann. In andern Worten: Bewußtsein kann sich auf dieser elementaren Ebene nicht konstituieren. Ein Reflexionsbild, das nichts abbildet, hat eben keinen von dem Reflexionsprozeß unterscheidbaren Inhalt. Hegelisch gesprochen; es ist nicht „bestimmt". Im Text wird dazu gesagt: „Die reine Vermittlung ist nur reine Beziehung ohne Bezogene." Man muß also — und niemand soll vergessen, daß wir uns immer noch im Problemgebiet der reinen Vermittlung befinden — zu bestimmten Beziehungen übergehen. Daß wir hier noch ganz im Formalen bleiben (LITT: im Bereich der Identitätslogik) bestätigt Hegel auf seine Weise, indem er versichert, daß diese bestimmten Beziehungen „identisch mit sich" selbst sind. Sieht man sich das zweite Buch der Großen Logik nun daraufhin an, wie Hegel die Reflexion auf die Höhe der Bestimmung erhebt, so stellt man fest, daß jetzt an Stelle der zwei Momente am Werden im ersten Buch, drei Bestimmungen, nämlich Identität, Unterschied und Widerspruch, treten. Und so wie die alternativen Momente sich im Werden aufhoben, so geht jetzt die Trinität der Reflexionsbestimmungen in dem sich als Wesen bestimmenden Grund auf und an ihm zugrunde. Dahinter steht der Gedanke, daß die Reflexionsstruktur an der leeren Symmetrie von Sein und Nichts nicht dargestellt werden kann. Reflexion (Denken) bedeutet Mangel an Symmetrie! Dieser Mangel an Symmetrie

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(die „zweite" Negation) wird in den Erörterungen über das „Wesen" nun dadurch produziert, daß das, was ursprünglich Sein war, jetzt als „Identität" auftritt, das Nichts aber von zwei negativen Bestimmungen, „Unterschied" und „Widerspruch", vertreten wird. In unserer Terminologie: an die Stelle von einem Rejektionswert sind jetzt zwei getreten. Nach Tafel (XIV) sind wir damit von einwertigen zu zweiwertigen Begriffen der Objektivität übergegangen. Das ursprünglich als Nichts bezeichnete Moment gehört jetzt zur Objektwelt und an die Stelle der Idee des Seins tritt jetzt die kategorial reichere der Wirklichkeit, der der dritte Abschnitt der Lehre vom Wesen gewidmet ist. Diese Bereicherung erscheint in Tafel (XIV) so, daß der erste Rejektionswert in den Zustand eines Akzeptionswertes übergegangen ist. Raummangel verbietet uns, den entsprechenden Übergang vom zweiten zum dritten Buch der Großen Logik unter formallogischen Gesichtspunkten zu skizzieren. Das Unternehmen ist deshalb besonders schwierig, weil Hegel auf der dritten Stufe, in der Lehre vom Begriff, den unendlichen Reflexionsüberschuß sammelt, der in unserer Tafel (XIV) sich unterhalb der Zweiwertigkeit ausbreitet. Die dadurch erzielte reflexive Dichte dürfte nur noch ein Minimum an Identifikationen der formalen dem Text zugrunde liegenden Reflexionsstrukturen erlauben. — Wir kommen zum Schluß. Es ist die Aufgabe dieser Betrachtung gewesen nachzuweisen, daß die Selbstiteration der Begriffe in der Subjektivität, auf die FICHTE SO nachdrücklich hingewiesen hat, keineswegs zur Preisgabe des Prinzips des Formalen in einer Logik der Geisteswissenschaften und der Philosophie zu führen braucht. Die Deutschen Idealisten glaubten, daß sich nach einer doppelten Iteration der introszendenten Reflexion (Reflexionin-sich der Reflexion-in-sich) kein Zuwachs an logischer Formalstruktur ergeben könne. Demgegenüber ist es wichtig festzustellen, daß der Reflexionszuwachs ohne über die Grenzen eines Formalismus hinauszugehen, auf zweierlei Weise begriffen werden kann: 1. durch monotone Iteration eines morphogrammatisch gesättigten Systems 2. durch Zuwachs an morphogrammatischer Struktur vermittels des Übergangs zu höheren Einheiten von Leerstrukturen (Übergang von [I- zu fi-Morphogrammatik). Hier scheint uns der formale Kern der Hegelschen Unterscheidung von schlechter und wahrer Unendlichkeit zu liegen. Wir haben die Frage einer Formalisierung der transzendental-spekulativen Logik unter dem Gesichts-

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punkt betrachtet, daß die klassische zweiwertige Logik als morphogrammatisch unvollständig angesehen werden muß und daß die Struktur der Dialektik in Hegels Logik vielleicht auf einem tiefer fundierten wertfreien Formalismus ruht. Daß die Dialektik in sich selbst kein formales System darstellt, daran dürfte wohl kaum ein Zweifel bestehen. Und weiter dürfte es wohl auch ausgeschlossen sein, die dialektische Situation, in der sich jedes endliche Bewußtsein befindet, mit den Mitteln eben dieses selben Bewußtseins ohne Restbestand in einen Formalismus aufzulösen. Ein ganz anderes Problem aber ist, ob sich vielleicht in der Logik des Deutschen Idealismus in transzendentalem bzw. dialektischem Gewände Strukturen verbergen, die uns gestatten würden, wenigstens bestimmte Reflexionsschichten der Dialektik zu formalisieren. In der klassischen Logik besitzen wir einen Formalismus für die einfache, d. h. unmittelbare Reflexion. Die Hegelsche Reflexion-in-sich und -Anderes aber hat ein doppeltes Gesicht in der Dialektik: sie ist einmal metaphysisches System und als solches Beschreibung einer Dimension der Wirklichkeit, in der Form und Gehalt unauflöslich miteinander verbunden sind; zugleich aber ist sie in unserm endlichen Bewußtsein ein Bild der Welt, entworfen gemäß den Gesetzen, die das Bildwerden beherrschen. Die klassische Logik beschreibt nur den geringsten Teil dieser Gesetze. Es ist nicht einzusehen, warum die nicht beschriebenen alle jenseits des Horizontes eines nach Form strebenden Denkens stehen sollten. Eine formalisierte Theorie der doppelten, d. h. vermittelten und vermittelnden Reflexion beschreibt nicht die Wirklichkeit, wohl aber ihr Bild und ihr Vermögen Bilder von sich selbst zu haben. Der logische Formalismus, der uns bisher zur Verfügung steht, umgreift zwar das Bild als unmittelbare Reflexion; er gibt uns jedoch nicht die formalen Gesetze jenes Vermögens der Subjektivität, Bilder von sich selbst und dem Anderen zu haben. In der Phänomenologie des Geistes sagt Hegel ausdrücklich, daß das begreifende Subjekt zwei Gegenstände besitzt. „Das Bewußtsein hat als Selbstbewußtsein . . . einen doppelten Gegenstand, den einen, den unmittelbaren, den Gegenstand der sinnlichen Gewißheit und des Wahmehmens .. . und den zweiten, nämlich sich selbst."^^ Es ist die Aufgabe unserer philosophischen Zukunft, die formalen Bedingungen für das Denken jenes zweiten Gegenstandes, des sich selbst reflektierenden Reflexionsprozesses, aufzudecken. Die Theorie des objektiven Geistes wartet seit langem auf ein gesichertes wissenschaftliches Fundament. Die •*

Hegel: Phänomenologie des Geistes.

135.

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Idee des Morphogramms und die daraus sich ergebende Theorie der transklassischen Logik möge als Beitrag zu einer solchen Grundlegung betrachtet werden. NACHWORT

Nach Abschluß dieser Untersuchung kamen zwei Veröffentlichungen zur Kenntnis des Verf., die als wichtige Beiträge zum Problem einer Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik betrachtet werden müssen. Der Essay von Oskar LANGE: Calosc, Roswoji Dialektika w Swietle Cybernetyki, (hrsg. unter dem Titel: Totality, Development and Dialectics in the Light of Cybernetics, Warsaw 1960, vom U.S. Department of Commerce, Joint Publications Research Service, JPRS 14, 858) schließt sich an die MARXsche Version der Hegelschen Logik an und versucht einige ihrer Grundbegriffe zu mathematisieren. Die andere Arbeit ist von M. C. GOODALL. Sie ist unter dem Titel: Cognitive Systems and Logical Induction als interne Veröffentlichung (August 1962) des Research Laboratory of Electronics, Mass. Inst, of Tech., Cambridge Mass. erschienen. Der Beitrag von LANGE zeigt u. E. deutlich, daß die Dialektik formalisierbare Strukturelemente enthält. Die Abhandlung von GOODALL ist deshalb bemerkenswert, weil ihr Verfasser ohne Kenntnis der Hegelschen Logik (er bezieht sich nur auf C. S. PEIRCE) ZU dem Ergebnis kommt, daß „Cognition" ein reflexives Entwicklungssystem sei und daß ein solches mit Hilfe einer „triadischen" Logik formalisiert werden kann. Charakteristisch ist GOODALL'S Ablehnung der traditionellen Logik. Die Letztere habe Axiome und Regeln „which produce isolated true sentences" (Hegels „isolierte Menge von Bestimmungen"); auf diese Weise komme eine begriffliche „Fixierung" (fixation) zustande, die überwunden werden müsse. Eine triadische Logik der Entwicklung sei universal. D. h. in ihr habe jeder Begriff nur Bedeutung in Beziehung auf das Ganze.

PAUL LORENZEN (ERLANGEN)

DAS PROBLEM EINER FORMALISIERUNG DER HEGELSCHEN LOGIK Korreferat zu einem Vortrag von C. Günther Erlauben Sie mir bitte, zunächst kurz den Zusammenhang zu wiederholen, aus dem sich die Fragestellung des Referenten nach einer Formalisierung der Hegelschen Logik ergibt. Die klassische Logik wird als eine Lehre aufgefaßt, die lehrt, wie über Objekte zu denken (und zu sprechen) ist. Seit KANT aber gibt es die transzendentale Fragestellung, die nach dem Subjekt dieses Denkens fragt. Die Kantische Transzendentalphilosophie führt bei Hegel zur dialektischen Logik. KANT und seine Nachfolger kannten nur die Formalisierung der klassischen Logik — so entstand die Ansicht, die dialektische Logik sei unformalisierbar. Nach Ansicht des Referenten kann jedoch die Formalisierungstechnik der modernen, mathematischen Logik auch zu einer — wenigstens teilweisen — Formalisierung der dialektischen Logik benutzt werden. Ein Beweis für diese Möglichkeit wird vom Referenten durch seine Theorie der Morphogramme angetreten. Ich möchte die Theorie hier ganz ohne Bezugnahme auf die DicJektik darstellen. Man geht in der klassischen Logik davon aus, daß man es nur mit Aussagen zu tun hat, die entweder wahr oder falsch sind. Ohne darüber reflektieren zu müssen, was hier Wahrheit (W) und Falschheit (F) bedeutet, benutzt man diese vorausgesetzte Alternative, diese sogenannte Zweiwertigkeit, zur Definition der logischen Partikeln. Die Konjunktion (und) z. B. wird dadurch definiert, daß festgesetzt wird, wann eine Aussagenverbindung „p und q" wahr bzw. falsch ist. Diese Festsetzung geschieht durch eine Tafel q

W F

W F W F FF

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PAUL LORENZEN

Alles, was klassisch-logisch über die Konjunktion gesagt werden kann, muß sich aus dieser sogenannten Wahrheitstafel ergeben. Liest man die 4 Werte dieser Tafel in der Reihenfolge 1

2

3 4 so entsteht eine Wertfolge W F F F. Jede Wertfolge definiert so in der klassischen Logik eine logische Partikel. Achtet man bei diesen Wertfolgen nicht darauf, welche Werte (W oder F) in ihr Vorkommen, sondern nur darauf, ob die Werte in der Folge gleich oder ungleich sind, so entstehen die Morphogramme. Von der Bedeutung der Wahrheitswerte wird abstrahiert. Erst die Morphogramme sind in diesem Sinne rein formal. Für W F F F z. B. entsteht ein Morphogramm so: •=!=• = • = • Als eine zweckmäßige Bezeichnung möchte ich — etwas vom Referenten abweichend — für die Morphogramme eine vierstellige Ziffer vorschlagen. Der erste Wert wird 0 genannt, der nächstfolgende verschiedene Wert 1 usw. Wertfolgen aus zwei Werten bekommen so ein Morphogramm aus 0 und 1 allein, z. B. 0111 für WFFF. Je zwei Wertfolgen erhalten dabei dasselbe Morphogramm, z. B. erhält ja auch F W W W das Morphogramm 0 111. Aus den 16 klassischen Wertfolgen entstehen 8 Morphogramme. Den Schritt zu einer „transklassischen" Logik vollzieht der Referent nun durch die Berücksichtigung der Möglichkeit von mehr als zwei Werten. Da es für die Morphogramme nur auf Gleichheit oder Lfngleichheit der Werte ankommt, braucht die Frage, welche Werte über W und F hinaus denn möglich sind, zunächst nicht erörtert zu werden. Zu den 8 Morphogrammen für die Folgen mit zwei Werten kommen 6 Morphogramme für Folgen mit 3 verschiedenen Werten hinzu, z. B. 0102 für Es kommt ferner 1 Morphogramm für 4 verschiedene Werte hinzu: 0 12 3. Für diese Morphogramme kann man Operationen definieren, z. B. die Spiegelung. Durch Spiegelung entsteht zunächst eine neue Folge, deren Morphogramm als Operationsergebnis zu nehmen ist. Ein Beispiel liefert: 0102 2010 Ergebnis 0 12 1

Formalisierung der Hegelschen Logik

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Arbeitet man mit 3 oder 4 Werten, so lassen sich die Wahrheitstafeln der klassischen Logik verallgemeinern zu 4-reihigen Wahrheitstafeln. Referent betrachtete als Beispiel einige Ausschnitte aus einer solchen Tafel für eine „Transjunktion". _ W F

W R

R F

Von dem 3. Wert weiß man nur, daß er verschieden von W und F ist, er verwirft, „rejiziert" W und F — und er sei deshalb hier mit R bezeichnet. Man kann auch „differenziert", d. h. mit zwei verschiedenen Werten, rejizieren: W F W W Ri F R2 F Soweit mein Bericht. Referent sieht nun Zusammenhänge zwischen dieser Morphogrammatik und den logischen Spekulationen FICHTES und Hegels. Die Spiegelung der Morphogramme z. B. soll schon bei FICHTE angedeutet sein, der Unterschied zwischen undifferenzierter und differenzierter Rejektion bei Hegel. Die angeführten Textstellen belegen diesen Zusammenhang m. E. aber nicht. Mehr kann ich dazu leider nicht sagen. Wie ich diese Textstellen interpretieren würde, darauf kommt es ja hier nicht an. Die Beweislast dafür, daß die Texte mit der Morphogrammatik überhaupt etwas zu tun haben, bleibt m. E. weiterhin beim Referenten. Und ebenso steht es leider mit der Behauptung, daß die Morphogrammatik ermöglicht, Reflexionsprozesse logisch adäquat zu beschreiben. Für die Diskussion darf ich natürlich unterstellen, daß die fehlenden Beweise vom Referenten nur aus Zeitmangel nicht gegeben werden konnten. Ferner möchte ich mich dem Appell des Referenten zu einer gutwilligen Zusammenarbeit zwischen dem metaphysischen und dem mathematischen Logiker nicht entziehen. Ich möchte daher versuchen, meinerseits etwas zur Klärung der Frage nach mehr als zwei Wahrheitswerten beizutragen. Daß jede Aussage mindestens eines ist, wahr oder falsch, drückt man gern durch die scholastische Formel „tertium non datur" aus. Die bekannte Eörterung des „tertium non datur" bei ARISTOTELES bezieht sich auf Aussagen über die Zukunft — sie hat weder bei ARISTOTELES noch

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PAUL LORENZEN

bei seinen Kommentatoren zu einer mehrwertigen Logik geführt. Diese ist vielmehr erst eine Neuerwerbung unseres Jahrhunderts. LUKASIEWICZ und POST haben sie erfunden, etwa um das Jahr 1920 herum. Daß die Verallgemeinerung der Wahrheitstafeln auf mehr als 2 Werte als eine neue Logik in legitimer Konkurrenz zur klassischen Logik angesehen wurde, liegt m. E. hauptsächlich daran, daß schon vorher, nämlich seit 1907, von dem holländischen Mathematiker BROUWER das „tertium non datur" mit schwerwiegenden Gründen kritisiert worden war. Diese Kritik möchte ich hier darlegen. Es handelt sich dabei gar nicht darum, ob es ein Drittes neben Wahr und Falsch gibt. Bei der sogenannten intuitionistischen Kritik BROUWERS am „tertium non datur" geht es vielmehr darum, ob jede Aussage der Form „p oder nicht p" wahr ist. Nach der klassischen Logik ist jede Aussage dieser Form wahr. Man beweist das mit Hilfe der Wahrheitstafeln für „oder" und „nicht". Ob man für „p" nun W oder F einsetzt, jedesmal ergibt sich für „p oder nicht p" der Wert W, und d. h., daß „p oder nicht p" logisch wahr ist. BROUWER war der erste, der die Verbindlichkeit, die „Betrouwbaarheid" dieser Argumentation bezweifelte. Auch unter Mathematikern ist es weitgehend unverstanden geblieben, warum man nach BROUWER nicht jede Aussage der Form: „p oder nicht p" behaupten darf, wohl aber z. B. jede Aussage der Form: „nicht (p und nicht p)". Ohne im Besitz einer autorisierten Interpretation der BROUWERschen Kritik zu sein, möchte ich Ihnen diese Kritik auf meine eigene Weise begründen. Dazu bemerke ich zunächst: Von Wahrheitswerten braucht bei dieser Kritik am „tertium non datur" gar nicht gesprochen zu werden. Es handelt sich nur darum, ob gewisse Aussagen allein auf Grund ihrer Form behauptet werden können — oder nicht. Das Behaupten einer Aussage ist eine Handlung. Diese Handlung ist nur sinnvoll in einem Dialog. Bücher oder Vorträge z. B. möchte ich dabei als leicht entartete Dialoge gelten lassen. Ich nehme nun an, daß der Sinn des Behauptens gewisser Aussagen p, q, .. . schon von den Partnern eines Dialogs gemeinsam verstanden wird. Was ist dann der Sinn der Behauptung einer logisch zusammengesetzten Aussage, etwa von „p und q"? Nun, was immer das Wort „und" in den verschiedenen Dialekten der deutschen Sprache meinen mag, die folgende Festsetzung ist in guter Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch: Wenn einer „p und q" behauptet, so darf der Partner — nach seiner Wahl nach beiden Teilaussagen, der linken (L) oder der rechten (R), fragen.

Formalisierung der Hegelsdien Logik

Ich notiere dieses so: L?

p und q

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R?

p und q

Mit den Teilaussagen geht der Dialog dann weiter. Für die Negation „nicht" setze ich ebenso in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch die folgende dialogische Verwendung fest: Wenn „nicht p" behauptet wird, hat der Partner das Recht „p" zu behaupten. Kann er dies verteidigen, so ist die Behauptung von „nicht p" verloren, sonst gewonnen. Schon aus diesen Festsetzungen folgt, daß die Behauptung einer Aussage der Form „nicht (p und nicht p)" stets gewonnen werden kann: nicht (p und nicht p)

p und nicht p L? R? P nicht p P Es wird hier nur noch benutzt, daß zum Schluß p verteidigt werden kann — nämlich durch den Hinweis darauf, daß der Gegner selbst schon vorher p behauptet hat. Wegen der Existenz einer solchen Geioinnstrategie möchte ich die Aussagen der Form „nicht (p und nicht p)" logisch-wahr nennen. Ich zeige jetzt noch, daß die Aussagen der Form „p oder nicht p" nicht in diesem Sinne logisch-wahr sind. Dazu muß die dialogische Verwendung von Zusammensetzungen „p oder q" festgesetzt werden. Nochmals in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch geschehe das folgendermaßen: Wenn „p oder q" behauptet wird, darf der Gegner dies zwar bezweifeln, der Behauptende selbst darf aber dann wählen, welche der beiden Teilaussagen er verteidigen will. Ich notiere diese Festsetzung so: p oder q p oder q Für „p oder nicht p" gibt es keine Gewinnstrategie auf Grund der Form allein. Es bestehen nämlich nur folgende Möglichkeiten des Dialogverlaufs: p oder nicht p p oder nicht p ? ? nicht p P 7 7 P Keiner der beiden Dialoge kann auf Grund der Form allein gewonnen werden. Es hängt vielmehr von der speziellen Aussage p — vom Inhalt, wie man sagt — ab, ob man mit der einen oder mit der anderen Strategie durdrkommt, wenn überhaupt.

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PAUL LORENZEN

Definiert man die logische Wahrheit durch die Existenz einer Gewinnstrategie auf Grund der Form allein, so sind die Aussagen „p oder nicht p" nicht logisch wahr. Diese BROUWERsche Kritik erfordert, wie man sieht, eine Reflexion auf das, was wir tun, wenn wir von der Wahrheit von Aussagen sprechen. Sie führt so zu einer Kritik an der klasischen Logik — sie führt aber nicht zu einer mehrwertigen Logik. Die erforderliche Reflexion auf das logische Denken als ein menschliches Handeln geschieht bei uns — das wird zumindest jedem Teilnehmer einer Hegeltagung ersichtlich sein — in Abhängigkeit von der idealistischen Philosophie KANTS, FICHTES und Hegels. Ich differiere vom Referenten also — zusammenfassend gesagt — nur (1) in der Frage, ob die mehrwertige Logik schon in Hegel hineingelesen werden kann, und (2) in der Frage, ob mehrwertige Logiken überhaupt der Reflexion auf unser Denken nützen. Ich stimme aber mit dem Referenten darin überein, daß auch die moderne Logik gut daran tun würde, wenn sie sich die transzendentalphilosophische Reflexion der idealistischen Tradition neu aneignete.

JAN VAN DER MEULEN (HEIDELBERG)

BEGRIFF UND REALITÄT Die Kategorie der Realität ist das Ruhekissen eines jeglichen Dogmatismus. Nicht etwa nur des sogenannten Realismus, gar in dessen Abart, welche den mystischen Begriff der „Materie" als Zauberhut aller Realität benutzen möchte, sondern ebensosehr des idealistischen Dogmatismus, etwa in Gestalt des mittelalterlichen Realismus der Universalien. Hat Hegel nicht sogar gegen KANT den Vorwurf eines formalen — und das heißt dogmatischen — Idealismus erhoben, welcher den Inhalt des Vorstellens oder Denkens nicht beachte, der ganz in seiner Endlichkeit bleibe? Mit einem solchen Idealismus aber sei ebensowenig etwas gewonnen, wie verloren; denn was soll gewonnen worden sein durch die bloße Übersetzung der Inhalte einer an sich vorausgesetzten Realität in die Form des Bewußtseins, und was verlieren dabei die Dinge von ihrer scheinbaren Starre tmd endlichen Fixiertheit?^ Mit der Bewußtseinsform allein ist überhaupt nichts zu gewinnen, sondern nur dadurch, daß die Inhalte an ihnen selbst ihre Unhaltbarkeit zeigen, übergehen: „Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts Anderem als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen."^ Ein Deckname solcher fixierten Endlichkeiten aber ist die Kategorie der Realität. Sie muß daher das gleiche Schicksal ereilen wie jene, was sich allerdings nur dann vollziehen kann, wenn sie als Inhalt des Denkens scharf und klar bestimmt worden ist. Sonst treibt diese Kategorie sich als trübe Vorstellung herum, Trübheit und Verwirrung des Denkens erzeugend. Gerade in dem Schicksal, daß er sämtlichen Verstandeskategorien bereitet, indem er sie in ihrer scharf bestimmten Geltung verenden läßt, bewährt sich Hegels logische Meisterschaft. „Realität" nun ist „die Qualität als seiende Bestimmtheit gegenüber der in ihr enthaltenen, aber von ihr ‘ Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. G. Lassen. Teil 1. Leipzig 1951. 145 f. * Ebd.

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JAN VAN DER MEULEN

unterschiedenen Negation"®, wobei „Qualität" schon vorher als die unmittelbare Bestimmtheit des Daseins, „Dasein" als gewordenes, in seiner Unmittelbarkeit zusammengesunkenes Werden entwickelt worden war. Realität gilt also als das abstrakte, positive Sein, das seine Negativität, gleichsam vergessen, in eigenem Busen trägt, aber eben deswegen auch an nichts anderem ein Bedürfnis hat, als an dieser seiner Kehrseite, seinem Anderen, der im Dasein noch nicht offenbarten, noch versteckten Negation. In dieser scharfen Klärung des landläufigen Realitätsbegriffes trägt diese Realität also ihr eigenes Urteil als die abgehaltene Negation bereits in eigenem Busen. Der Dogmatismus mit seinen festgehaltenen Realitäten, erreicht, auch im Praktischen, immer das Gegenteil von dem, was er will. Dies bezieht sich allerdings nicht etwa nur auf die Realität eines „Dinges" oder der „Materie", sondern ebensosehr auf die behauptete Realität des Geistes, ja auf eine Realität der Idee oder Gottes als des Inbegriffs aller Realitäten. „Realität" also ist die festgehaltene Unhaltbarkeit überhaupt, was nicht besagen soll, daß dieses Festhalten nicht seinen relativen Sinn, ja seine Notwendigkeit hätte. Hegel weiß allerdings auch, daß „Realität" zu den jtoW.axw; ^.eYopEva, dem in vielfacher Weise Ausgesagten in aristotelischem Sinne gehört. So spricht er von einem anderen Sinne von Realität, indem „darunter verstanden wird, daß etwas sich seiner wesentlichen Bestimmung oder seinem Begriffe gemäß verhält; so z. B. wenn gesagt wird: „dies ist eine reelle Beschäftigung", oder „dies ist ein reeller Mensch". Hier ist es nicht das unmittelbare Dasein, um das es sich handelt, sondern vielmehr die Übereinstimmung eines Daseienden mit seinem Begriff; „so aufgefaßt ist dann aber die Realität auch nicht weiter von der Idealität . . . verschieden"^, wie er denn auch ausdrücklich bemerkt, daß der Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie ohne Bedeutung sei®. Wahrer Idealismus ist integraler Realismus; wahrer Realismus ist sich zur Selbstaufhebung läuternde Vernichtung einer jeglichen Verfestigung endlicher Inhalte. Ein solches wird allerdings nicht sichtbar, wenn wir, wie im Titel dieses Vortrages, von Begriff und Realität sprechen. In diesem Und zeigt sich unmittelbar der Verstand am Werke, so, als ob sich eine Realität „Begriff" und ein Begriff von so etwas wie „Realität" zunächst als Gegebenheiten gegenüberstünden und sekundär zusammengefügt werden sollten. Auf einer solchen Gegenüberstellung aber beruhen sowohl der dog’ *



Hegel; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Ebd. 91 Zusatz. Wissenschaft der Logik. Teil 1. 145.

§

91.

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matische Idealismus, insbesondere der Spiritualismus, als auch der unglückselige mystische „Materialismus" mit seinen Lehren von „Unter-" und „Überbau". Die ganze absolute — d. h. auch sich selbst kritisierende! — Bewußtseinskritik, deren Vollzug Hegel in beispielhafter Weise erstmals wissenschaftlich entwickelte, ist nichts anderes als der reinigende Prozeß der Selbstzerstörung dieses bloßen Und von Begriff und Realität, die in der Sphäre des Bewußtseins Gewißheit und Wahrheit heißen. Ein solcher Prozeß absoluter Selbstkritik aber zeigt, daß es weder einen Begriff, noch eine Realität „gibt". Was es gibt, sind nur Stufen der Realisierung des Begriffes und der Selbstdurchdringung der Realität, wobei die scheinbar so gewisse anfängliche Realität in ihrer Wahrheit verlorengeht. Es gibt keine Realität, sondern sie besteht jeweils in einer Gestalt des Bewußtseins als einer Korrelation von Wissen (Gewißheit) und Sein (Wahrheit), in einer Hinblicknahme, einer Optik. Aber jeweils gibt es eine Optik hinter der Optik, deren Realität die erste Optik in eins mit ihrem Gegenstände ist, eine Optik für die Optik also, oder, wie Hegel es ausdrückt, „das Für-es-sein" des Gegenstandes®. Dies vollzieht sich allerdings nicht in einem grenzenlosen Prozeß, sondern so, daß die Optik am Ende selber dahinterkommt, was mit ihr und ihrer Realität ständig hinter ihrem Rücken vor sich geht, und dann eben diesen Vorgang als ihre wahre Realität anerkennt, begreift. Dieser Vorgang, der also auf beiden Seiten sich vollzieht, führt damit Bewußtsein imd Gegenstand, Gewißheit und Wahrheit, Begriff und Realität in ihren Quellpunkt, das Selbst, den Logos, den Geist zurück, wo der Begriff sich selbst und sein Anderes als begriffene Realität und realisierter Begriff begreift. Anfänglich stand der abstrakte Begriff als „nur Begriff des Wissens oder nicht reales Wissen" der ebenso abstrakten Realität gegenüber. Gerade aber die „Realisierung des Begriffs" muß diesem „natürlichen Bewußtsein" „vielmehr für Verlust seiner selbst" gelten, „denn es verliert auf diesem Wege seine Wahrheit"’. Meine Damen und Herren, wir vernahmen gestern das Bild vom „Verzehren" (BLOCH), aber doch wohl mehr in kritischer Absicht. Wohlan, die Realisierung des Begriffes ist in der Tat ein Verzehren der abstrakten, nur dem Bewußtsein zunächst entgegenstehenden Realität, aber dann ein Verzehren, das ebensosehr Selbstverzehrung, Selbstaufhebung ist. Die Aufhebung der abstrakten Realität ist damit zugleich ihre Wiedererzeugung als integrale, wahre, begründete und konkretisierte Realität, welche nach • Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 73 f. ’ Ebd. 67.

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Hegels eigenen Worten Idealität genannt werden darf. Es ist denn auch völlig verfehlt, immer wieder darüber zu klagen, daß bei Hegel die Gegenständlichkeit verloren gehe, da diese nur in ihrer abstrakten Einseitigkeit und Unhaltbarkeit an ihr selbst zugrunde geht. „Das Erkennen . .. hat aus diesem Grunde zuerst nur einen armen Gegenstand, gegen welchen die Substanz und deren Bewußtsein reicher ist. Die Offenbarkeit, die sie in diesem hat, ist in der Tat Verborgenheit, denn sie ist das noch selbstlose Sein, und offenbar ist sich nur die Gewißheit seiner selbst. Zuerst gehören dem SeZbstbewußtsein daher von der Substanz nur die abstrakten Momente an; aber indem diese als die reinen Bewegungen sidi selbst weiter treiben, bereichert es sich, bis es die ganze Substanz dem Bewußtsein entrissen, den ganzen Bau ihrer Wesenheiten in sich gesogen, und — indem dieses negative Verhalten zur Gegenständlichkeit ebensosehr positiv, Setzen ist, — sie aus sich erzeugt und damit für das Bewußtsein zugleich wiederhergestellt hat." ® Was also am Ende zustande kommt, ist die Heilung der Ur-teilung von Bewußtsein und Gegenstand, Begriff und Realität in der Wahrheit des Selbst als reales Selbst und verselbstete Realität. Es ist die Sphäre der Idealität, die sich aber zunächst wiederum nur in Unmittelbarkeit als unmittelbare Einheit gibt und sich als solche „Sein" nennt, aber, wie der Fortgang zeigt, als abstrakter, unbezüglicher und von sich ununterschiedener Anfang eigentlich noch keinen Namen haben dürfte. Eben dieses jeweilige Verfallen der Vermittlung von Begriff und Realität zu sekundärer Unmittelbarkeit, die sich wiederum als primäre gibt, ist das wahrhaftigste und erregende Element des Hegelschen Denkens, wie ich es in meinem Hegelbuch ausführlich darzustellen versuchte. In der logischen, d. h. selbstlosen, weil absolut verselbsteten Entwicklung jenes namenlosen Seins ergibt sich zunächst die Kategorie des Daseins, der Inbegriff eines jeglichen „Etwas", als eine solche Unmittelbarkeit im Sinne des gewordenen Werdens, des in sich zusammengesunkenen Resultats des Prozesses von Sein und Nichtsein; und insofern das Werden die erste wirkliche, wenn auch noch ganz abstrakte Gestalt des Begriffes ist, ist das Dasein die unmittelbare Einheit von Begriff und Realität. Eine solche unmittelbare Einheit ergibt sich aber überall dort, wo eine Stufe der vollkommenen Vermittlung von Begriff und Realiät erreicht worden ist. So gibt sich die phänomenologische Vermittlung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein im Sinne der Vernunft am Ende als „daseiender" (später „ob* Ebd. 557 f.

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jektiver" genannter) Geist, oder „Geist in seiner Welt", welcher zunächst der unmittelbare Geist der sittlichen Substanz ist. So schlägt aber auch im Felde der logischen Entwicklung die vollkommene Realisierung des Begriffes im Schlüsse der Notwendigkeit als „objektiver" (nicht von Hegel selbst, aber wohl in seinem Sinne „daseiender" zu nennender) Begriff, als „eine Welt von Objekten" nieder. Aber, meine Damen und Herren, schon gestern haben wir vernommen (VOLKMANN-SCHLUCK), daß die höchste Stufe des Begriffs die sich begreifende Einheit seiner selbst und seiner Realität, am Ende seiner Objektivität, ist. Wie, so müssen wir jetzt fragen, verhält sich denn auf dieser höchsten Stufe diese sich vermittelnde Einheit zu ihrer sich ebenfalls ergebenden Unmittelbarkeit? Oder kann wenigstens auf dieser Stufe von einer solchen sekundären Unmittelbarkeit nicht mehr die Rede sein? Diese Frage ist um so dringlicher, als auf dieser Stufe auch die Hegelsche Entscheidung bezüglich des Wesens der Wahrheit sich expliziert. Die endlichen Realitäten können, so sagt er, „überhaupt nur insofern etwas Wahres sein, als sie die Vereinigung ihres Begriffes und der Realität, ihrer Seele und ihres Leibes, sind"*, eine Einheit, die Hegel mit dem Urworte der Metaphysik als Idee bezeichnet. Zugleich aber ist zu sagen, daß die endlichen Dinge darum endlich sind, „insofern sie die Realität ihres Begriffes nicht vollständig in ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen, — oder umgekehrt, insofern sie als Objekte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äußerliche Bestimmung an ihnen haben". Entscheidend ist, daß die Idee, „so wesentlich sie Einheit des Begriffs und der Realität, ebenso wesentlich auch deren Unterschied ist". Eben darauf beruht die Möglichkeit, daß sie „ihre Realität nicht vollständig durchgearbeitet, sie unvollständig dem Begriffe unterworfen hat". Jene Einheit nun ist das Moment der Wahrheit, dieser Unterschied das Moment der Un-Wahrheit, die Idee selbst damit die Einheit der Wahrheit und der Un-Wahrheit. Wenn wir nun hörten, Hegels Lehre sei die Vollendung des traditionellen Wahrheitsbegriffes (VOLKMANN-SCHLUCK), SO glauben wir hinzufügen zu müssen, daß sie doch ebensosehr das Prinzip einer radikalen Überwindung dieser Tradition entwickle, wie denn immer eine Vollendung den Keim der Überwindung enthält. Das Moment der Unwahrheit in der Idee ist hier aber etwas gcmz Spezifisches: es ist die unmittelbare Einheit von Begriff und Realität, der wir schon als der Objektivität im Sinne einer „Welt von Objekten" begegnet * Wissenschaft der Logik. Teil 2. 409. — Die folgenden Zitate 409 f.

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sind, in welcher der Begriff nur innerlich, oder, was für Hegel immer dasselbe ist, nur äußerlidi ist. Wie idi glaube, ist die Bedeutung dieser Lehre von der Objektivität bisher viel zu sehr vernachlässigt, ja unterschätzt worden. Bedenken wir: es handelt sich hier nicht um ein Objekt für ein Subjekt, sondern um die völlige Entselbstung des ganz mit sich vermittelten Subjektes. Hier ist das Weltganze als Totalität im Sinne einer Kategorie begriffen, die nicht nur für die Natur, sondern ebensosehr für den endlichen Geist gelten soll. Im Rahmen des Prozesses mechanischer Mitteilung (die verfallene Welt im Sinne des „Man" HEIDEGGERS!) begegnen wir solchen entscheidenden Phänomenen wie: Schicksal, Macht und Gewalt, Entfremdung imd Entäußerung, während im Rahmen des Chemismus als das „neutrale Medium" der Vermittlung nicht etwa nur das Wasser, sondern auch so bedeutende geistige Phänomene wie Zeichen und Sprache begegnen. Die Unwahrheit dieser Sphäre ist von großer Bedeutimg für die Erfassung des Wahrheitsbegriffes überhaupt (vgl. das Moment der „Irre" in HEIDEGGERS Wahrheitsbegriff) und es entgeht Hegel nicht, daß wir uns als endliche Geister vorwiegend in ihr bewegen. Ihr entscheidendes Merkmal ist das unvermittelte Nebeneinander von absoluter Vermittlxmg und totaler Unmittelbarkeit; die Aufrollimg dieser Problematik scheint uns für das zukünftige Denken von kaum abschätzbarer Bedeutung zu sein. Genügt es zur Überwindung dieser Sphäre des Schicksals und der Äußerlichkeit, wenn Hegel sagt: „Die Idee hat um der Freiheit willen, die der Begriff in ihr erreicht, auch den härtesten Gegensatz in sich; ihre Ruhe besteht in der Sicherheit und Gewißheit, womit sie ihn ewig erzeugt und ewig überwindet und in ihm mit sich selbst zusammengeht"'®? Das Folgende möchte nur die erste Andeutung einer Antwort auf diese Frage sein. Zunächst müssen wir uns hier eine Darstellung der Stufen der Erlösung des Schicksals äußerlicher Vermittlung durch die Teleologie zum Leben als unmittelbare Stufe der erfüllten Idee, schenken. Notwendig müssen wir aber noch einmal auf die letzte Zuspitzung der Problematik von Vermittlung und Unmittelbarkeit im sogenannten Übergang von absoluter Idee in Natur zu sprechen kommen, die schon gestern diskutiert worden ist, und die ich auch selber andernorts ausführlich behandelt habe. Hegel weiß sehr wohl, daß auch die höchste Stufe der sich vermittelnden Vermittlung sich wiederum als Unmittelbarkeit wird offenbaren müssen: „Indem die Idee sich nämlich als absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität setzt, [sich als diese Einheit fixiert und erfaßt], somit in die UnmittelbarEbd. 412.

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keit des Seins zusammennimmt, so ist sie als die Totalität in dieser Form — Natur"“, die als ihr Boden zunächst die reine Äußerlichkeit des Raumes hat. In diesem Sinne wäre der Raum das Schicksal der Idee, ein bedenkenswerter Gedanke in einer Epoche, da der Raum immer mehr zum Schicksal des Menschen in seiner Menschlichkeit zu werden scheint. Dem entgegen aber steht die im Fortgang des Textes ausgesprochene Lehre von der Souveränität der Idee in ihrem freien Entschluß zur Natur. Durch einen auf den Schöpfungsgedanken zurückgehenden Schwertstreich des Geistes werden die höchste Vermittlung und deren Unmittelbarkeit voneinander getrennt und in verschiedene Sphären gesetzt. Hier, wie kaum sonstwo, scheint christliches Denken in Hegels System eine Heimstätte gefunden zu haben. Eine wichtige Stelle der Enzyklopädie entwidcelt allerdings beide Weisen des Überganges als verschiedene Stufen der Offenbarung des Geistes'^, aber die gestrige Diskussion hat gezeigt, daß dennoch das antike Moment des Schicksals und das christliche der freien Gottesentscheidung im Geiste Hegels nicht voll- und endgültig versöhnt werden konnten. Die Unlösbarkeit dieser Problematik ergibt sich aber schon im Busen der absoluten Idee, nicht erst in ihrem Übergang. In meinem Hegelbuch versuchte ich zu zeigen, daß sie mit der ebenso entscheidenden Problematik von Form und Inhalt eng verschlungen ist. In bezug auf Form und Inhalt der absoluten Idee sagt Hegel: „Als Form bleibt hier der Idee nichts als die Methode ihres Inhalts, — das bestimmte Wissen von der Währung ihrer Momente.'“® Diese Form ist, so zeigten wir demgemäß, nicht selbst ein logischer Inhalt, sondern sie ist nur Form in ihrem Inhalte und dessen Entwicklung. An und für sich ist sie nur die reine, sich enthebende imd jeglichem Bestimmtwerden entziehende Negativität, das reine Nichts der Freiheit, von dem Hegel im § 87 der Enzyklopädie spricht. Wäre die absolute Idee dann in ihrem Erscheinen nur die ewige Wiederholung ihrer Inhaltsentwicklung ? Im Zusatz zu § 237 spricht Hegel sich eigentlich in anderem Sinne aus, welches die Problematik entscheidend vertieft: „Die absolute Idee ist in dieser Hinsicht [d. h. Form als Totalität der Inhaltsentwicklung] dem Greise zu vergleichen, der dieselben Religionssätze ausspricht als das Kind, für welchen dieselben aber die Bedeutung seines ganzen Lebens haben: wenn auch das Kind den religiösen Inhalt versteht, so gilt ihm derselbe doch nur “ Ebd. 505. Enzyklopädie. § 384. “ Ebd. § 237.

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als ein solches, außerhalb dessen noch das ganze Leben und die ganze Welt liegt." Ebenso, wie das Interesse des menschlichen Lebens „in der ganzen Bewegung" liege, so sei auch „der Inhalt der absoluten Idee die ganze Ausbreitung, die wir bisher vor uns hatten", ein „einfacher Rückblick", der „in der Form enthalten" sei. In diesem Bilde zeigt sich aber die erregende und nicht ausgeschöpfte Problematik der absoluten Idee. Denn worin unterscheidet sich der Greis vom Kinde, wenn sie doch das Gleiche auszusprechen scheinen? Anscheinend doch nur in dem, was in der Offenbarkeit von Ausdruck und Sprache des Gesagten sich verbirgt und dennoch sich mitschwingend bekundet. Hier also verbirgt die Vermittlung sich in der Unmittelbarkeit und offenbart sich in eben diesem Verbergen, eine Form also, die sich keineswegs in der ständigen Wiederholung des Vermittlungsprozesses zu explizieren braucht. Hier nun zeigt es sich eindringlich, daß alle echten Fäden gegenwärtiger philosophischer Besinnung in der Problematik der Hegelschen Ideenlehre zusammenlaufen, daß sie die Fäden eben dort wieder aufgreift, wo Hegel sie scheinbar fallen gelassen hat. Wer dächte hier nicht an die vom Denken HEIDEGGERS auf die Spitze getriebene Problematik des Wahrheitsbegriffes und ihre Fortsetzung durch das „Denken aus der Mitte der Sprache" GADAMERS, welches die hermeneutische Dialektik vom Mitschwingen des Ungesagten im Gesagten, des Unausdrücklichen im Ausdruck zum Angelpunkt seines Forschens nimmt? Hegel aber hat gerade auf der Stufe der absoluten Idee die eigentlich unumgängliche Analyse der sprachlichen Form ihrer Entfaltung nicht gegeben. Seine Philosophie der Sprache bleibt, bei allen tiefen Ansätzen — etwa in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes—,fragmentarisch und von untergeordneter Bedeutung; ihre letzte Stufe im Rahmen der Logik haben wir bereits angedeutet, wo sie als das neutrale Element des geistigen Chemismus in Erscheinung trat, eine Reminiscenz an die Lehre von den „Mitten" aus der Jenenser Zeit. Eine Erklärung für diese Unterlassung könnte zunächst nur darin liegen, daß Hegel als Sprachschöpfer so sehr mit dem Geiste der Sprache, seiner Sprache, identisch war, daß er nicht mehr auf sie reflektieren konnte. So notwendig aber dem heutigen Denker diese radikale, auch bei Hegel vielfach angedeutete Reflexion ist, so sehr hätte ihre Durchführung auf der höchsten Stufe seiner Logik und damit des Systems eben dieses System sprengen müssen. Zu dieser Einsicht vermag uns noch eine weitere Überlegung zu führen. Unseres Wissens ist nie erschöpfend dargestellt worden, weshalb die Idee des Schönen nur in den Vorlesungen über Ästhetik, nicht dagegen auf der höchsten Stufe der Logik zusammen mit der Idee des Wahren und der Idee

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des Guten ihren systematischen Ort fand.*^ Das hermeneutisch-dialektische Denken aus der Mitte der Sprache sieht sich zur Klärung ihrer Problematik dazu genötigt, die Einheit von Vermittlung und Unmittelbarkeit im Begriffe des Schönen zu erörten.*® Hätte die Darstellung der Idee des Schönen an höchstem systematischem Ort vielleicht die Geschlossenheit des Systems ebensosehr gesprengt wie eine logische Entfaltung des Verhältnisses von Idealität und Räumlichkeit — ohne welche in Zukunft keine „Logik" mehr auskommen wird —, oder die radikale Besinnung auf das Verhältnis von absoluter Vermittlung und Unmittelbarkeit in Sprache und Ausdruck? Eine eindringliche Erörterung der Idee des Schönen im Sinne Hegels vermöchte dies vielleicht ebensosehr zu zeigen, wie sie die wesentliche Zusammengehörigkeit dieser drei Problemgruppen verdeutlichen könnte. Anzudeuten ist in diesem kurzen Vortrag nur das innere Verhältnis der Sphäre des Schönen als des sinnlichen Schemens der Idee mit der sich in ihrer Unmittelbarkeit ebensosehr offenbarenden als verbergenden Vermittlung. Ist doch das Schöne das Wahre, insofern es existiert. „Das Wahre, das als solches ist, existiert auch. Indem es nun in diesem seinem äußerlichen Dasein unmittelbar in Einheit bleibt mit seiner äußeren Erscheinung, ist die Idee nicht nur wahr, sondern schön. Das Schöne bestimmt sich dadurch als das sinnliche Scheinen der Idee."** Die Idee des Schönen geht so über die abstrakte Idee des Wahren, die nur „für die in ihrer Endlichkeit beharrende unfreie Intelligenz" ist und über die abstrakte Idee des Guten für die Endlichkeit des Wollens gleicherweise hinaus.** Das Schöne ist „in sich selber unendlich und frei" als „der Begriff, der sich ganz mit seiner Realität zusammenschließt". Aber was kann es, so fragen wir, dann anders sein als die inhaltlich unfaßbare reine Negativität der Freiheit, vermählt mit der Unmittelbarkeit des Lebens, die, und das sollten wir nie vergessen, auch für den älteren, „systematischen" Hegel als bleibende und tiefe Spur der Sphäre seines frühen Denkens die erste Stufe der Idee war und blieb? Eben auf diese Vermählung von Freiheit und Lebendigkeit, von höchstem Begriff und höchster Realität, eben auf dieses sinnliche Scheinen der Idee aber, das durchaus keine in absoluter Reflexion überwundene Stufe ist, werden wir immer mehr angewiesen sein, wenn die Menschlichkeit des Menschen bestehen soll. Es dürfte dabei auch keineswegs vergessen werden, daß Hegel selber im § 105 des zweiten Cursus der von Karl Rosenkranz herausgegebenen Philosophischen Propädeutik sagt: „Die Idee, insofern der Begriff mit seiner Realität unmittelbar vereinigt ist, und sidi nicht zugleich darin unterscheidet und heraushebt, ist das Leben. Dasselbe, sowohl als physisches wie als geistiges Leben dargestellt, von den Bedingungen und Beschränkungen des zufälligen Daseins befreit, ist das Schöne". (WW XVIII, 120) *5 Hans-Georg Gadamer; Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. 452 ff. Hegel: Werke. Bd. 10, Abt. 1. Berlin 1835. 144. ” Ebd. 145.

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HEGEL DER REALIST Weil ich nicht allzu lange reden will und weil es immer schwierig ist, etwas Vernünftiges über Hegel in kurzen Worten zu sagen, werde ich die Hauptpunkte meines Vortrages am Anfang summarisch darstellen. Ich will zuerst in Kürze sagen, wie ich die Hegelsche Dialektik auf fasse: daß sie eine Gedankenweise ist, worin wir immer von einem höheren Standpunkt aus über unsere Begriffe und Auffassungen etwas aussprechen, das in ihnen nicht ausgesprochen wird oder ausgesprochen werden kann, daß sie immer ein Kommentar höherer Ordnung ist, oder, um einen modernen Terminus zu benutzen, ein immer wiederholtes metalinguistisches Verfahren ist. Die Natur dieser Dialektik erfordert aber, daß das Erklärende, das endlich Befriedigende sich immer am Ende des dialektischen Prozesses befindet, niemals am Anfang da ist, oder sein kann. Mit anderen Worten, der Idealismus Hegels ist ein durchaus teleologischer: das Ideelle oder Geistige muß man sich nicht als etwas reell Wirkendes, kausal Operierendes, für die Form oder den Stoff der Erfahrung wirklich Verantwortliches vorstellen, selbst wenn Hegel sich gelegentlich selbst so ausdrückt. Wir müssen Hegel demythologisieren: das Geistige und das Ideelle mögen wohl den Sinn der Welt ausmachen, aber weil sie dies ausmachen, sind sie eigentlich auch nicht die Urheber der Welt in einem gewöhnlichen, ursächlichen Sinn. Hieraus folgt, daß der Weltbegriff Hegels, trotz seines historischen Ursprungs aus den Gedanken KANTS, von diesem Gedanken weit abweicht: ein dialektischer Umschwung hat ihn in eine ganz cmdere Richtung geworfen. Bei KANT ist die Natur des denkenden Geistes für die Form der Erfahrung im Grcmde verantwortlich: bei Hegel dagegen kann man sagen, daß der denkende Geist das letzte verflüchtigte, erklärende Ergebnis der Welt ist. Das alles hat zur Folge, daß das Hegelsche System stark realistische und selbst materialistische Züge aufweist und daß es vielleicht nicht unpassend wäre, es als den echten dialektischen Materialismus zu beschrei-

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ben gegen den unechten und verworrenen dialektischen Materialismus MARxens. Was ich zu sagen habe, ist keineswegs neu, aber es läuft gegen den Strich mancher traditionellen und neueren Auslegungen von Hegel, und darum ist es der Mühe wert, es auf dieser Tagung vorzutragen. Ich hoffe dabei viel aus Ihrer Kritik zu lernen, hoffe auch, daß mein mangelhaftes Deutsch in diesem Meinungsaustausch nicht zu hinderlich sein wird. Ich will jetzt einige allgemeine Gedanken über die Dialektik Hegels aussprechen, die für meine Zwecke genügend sein werden. In der Dialektik verwandeln wir immer das An sich in das Für sich. Was soll das bedeuten? Das soll bedeuten, daß alle unsere Gedanken, unsere Auffassungsweisen einen begrenzten, bewußten Kern haben, einen Inhalt, den wir absondern können, etwas, das bei ihrem Gebrauch zu Bewußtsein kommt, was sie von den Sachen aussagen, was in ihnen aktuell verstanden oder gemeint wird. Aber es gibt auch ungeheuere wichtige Wahrheiten, die über den Inhalt unserer Begriffe und Anschauungsweisen ausgesprochen werden können, die von ihnen gelten, wie wir von ihrem Gebrauch zurücktreten, wie wir über sie nachdenken. Was wir von einem Gedankeninhalte aussagen können, ist oft viel reicher in Verhältnissen als was in diesem Inhalt selbst steckt, manchmal auch steht es ironischerweise in direktem Gegensatz zu dem ausgesprochenen Inhalt dieses Begriffes. Der Begriff des Seins, der inhaltsreich, positiv, gediegen zu sein prätendiert, zeigt sich, wie wir ihn nachdenkend erfassen, als inhaltsarm, negativ und mit dem Nichts identisch: so zeigen sich auch die vielen Eins der Quantität, die einander absolut ausschließen sollen, von einem höheren Standpunkt aus als schlechthin ununterscheidbar und ineinander fließend usw. Ich brauche weitere Beispiele nicht anzuführen: die Art, in der sich Hegel immer von einer Gedankenstelle auf eine andere zurückzieht, wird Ihnen, als geschulten Hegelianern, vollkommen vertraut sein. Worauf ich Nachdruck legen will ist, daß es keineswegs merkwürdig und nicht einmal kontradiktorisch ist, daß was wir von dem Inhalte eines Begriffes aussagen dürfen, mit dem darin Enthaltenen nicht übereinstimmt oder übereinstimmen muß und daß der Gebrauch, und auch die abstrakte Isolierung des Inhalts unserer Begriffe zu weit anderen Ergebnissen führen muß, als ihre vernünftige vervollständigende Behandlung von einem nachdenkenden Standpunkte aus. Hier scheint es mir, daß die moderne philosophische Semantik uns dazu verholfen hat, die Hegelsche Dialektik besser zu verstehen und von einigen herkömmlichen Einwänden zu befreien. Die moderne Semantik weiß ganz gut, daß wir über die Wörter und Sätze, die Begriffe und Aussagen, die in einer Sprache benutzt werden, oft manches in einer Metasprache aus-

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sprechen und beweisen können, das in der ursprünglichen Sprache unbeweisbar, vielleicht nicht einmal formulierbar ist: was ein symbolisches System zeigt oder verrät, ist nicht notwendig, was es selbst sagt oder sagen kann. So hat z. B. GöDEL bewiesen, daß gewisse Sätze in einer Sprache, die sehr indirekterweise ihre eigene Unbeweisbarkeit aussprechen, in dieser Sprache unbeweisbar sind: dabei aber hat er auch in der Metasprache einen Beweis höherer Ordnung jener fraglichen Sätze gegeben. Wenn die Sachen so hegelianisch in der mathematischen Logik aussehen, müssen wir erwarten, daß sie auch in der Philosophie so aussehen werden. Die Hegelsche Dialektik wird nur mißdeutet und im schlechten Sinne widersprechend gemacht, wenn wir uns vorstellen, daß sie auf einer Ebene stetig fortgehen soll und daß sie sich nicht immer zurückziehen soll und vom früher Gedachten Rechnung geben soll. Was ich insofern behauptet habe, hat nichts von Realismus in sich. Wir wissen aber, daß für Hegel die letzte Perspektive, in der alle vorigen Perspektiven zusammengenommen sind, eine Perspektive ist, worin der denkende Geist ein vollkommenes Selbstbewußtsein erreicht hat, wo er deutlich weiß, was er ist, weil er auch weiß, daß alles andere nur einen falschen Schein der Selbständigkeit hat und von ihm, dem Geist, völlig abhängig ist. Die absolute Idee nach Hegel soll das ewige Anschauen ihrer selbst im Anderen, das Übergreifen ihres Selbsts über das Andere sein, und in diesem Anschauen und Übergreifen gilt das Andere, das Nicht-Geistige, als solches nicht mehr. Es scheint insofern, als ob wir Hegel richtig verstehen können als einen Idealisten im Sinne BERKELEYS oder im Sinne KANTS, oder auch im phänomenologischen Sinn HUSSERLS, einem Denker, für den die gegenständliche Welt nur für das Bewußtsein da ist, sich im Bewußtsein intentional konstituiert usw. Hegel soll sich von jenen Denkern nur darin unterscheiden, daß er glaubt, daß der denkende Geist nur allmählich, nur sich dialektisch besinnend, das Bewußtsein erwerben kann, daß das scheinbar Andere, das Gegenüberstehende in seinen vielen Gestalten, seine eigene Schöpfung ist, und so in gewissem Sinne mit sich selbst identisch ist. Nun gibt es viel in Hegels eigenen Worten, das mit einer derartigen Auffassung übereinstimmt: nur glaube ich, daß die Stellen, wo er so spricht, als mythologisch, figürlich anzuschauen sind und daß Hegels tiefste Meinungen ganz außerhalb des Bereiches des traditionellen Idealismus liegen. Um das zu bezeugen, will ich Nachdruck darauf legen, wie die Teleologie die Kategorie ist, wovon wir endlich zur Idee hinaufsteigen, und daß sie nicht irgendeine Teleologie ist, sondern, wie Hegel sagt, eine unendliche Teleologie. Was ist nun die Art der Teleologie, die Hegel so als unendlich

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Stempeln will, und wie unterscheidet sie sich von einer gewöhnlichen Teleologie? Die endliche Teleologie soll nach Hegel eine Teleologie sein, wo ein Zweck, eine Situation, worin sich der Zweck verwirklichen soll, die Mittel, wodurch er sich verwirklichen kann, und der Prozeß des Verwirklichens, alle einen ganz bestimmten, aber auch verschiedenen und abgesonderten Inhalt haben, und wo sie außereinander liegen als Existenzen in Raum und Zeit. Diese Teleologie ist immer wechselnd: wo ein bestimmter Zweck durch bestimmte Prozesse oder Handlungen verwirklicht wird, wird er sofort durch ein anderes Ziel ersetzt. Die Erklärung durch solche Zwecke geht ins Unendliche fort, ohne irgendwo einen befriedigenden Halt zu finden. Diese schlechte, nichts erklärende Unendlichkeit kann man aber nur überwinden, wenn man annimmt, daß es eine tiefere Selbstzweckmäßigkeit gibt, die den ganzen Prozeß durchläuft, und in allen seinen Momenten als Ganzes gegenwärtig ist. Diese unendliche Teleologie hat keinen bestimmten Inhalt, oder lieber, ihr Inhalt ist frei variabel: man kann sagen, daß ihr Inhalt das zweckmäßige Sichbetätigen als solches ist. In der unendlichen Teleologie gibt es verschiedene bestimmte Zwecke, aber diese Zwecke sind nur Richtungspunkte des Sichbetätigens, notwendig, weil man sich nicht betätigen kann, ohne in eine bestimmte Richtung zu streben. So gibt es auch in der unendlichen Teleologie immer eine gegenständliche Situation, die in irgendeiner Hinsicht nicht befriedigend ist, und so eine Tätigkeit hervorruft: diese gegenständliche Situation kann man auch als einen Teil der unendlichen Teleologie ansehen, weil wir uns nicht betätigen könnten, wenn alles in unserer Lage vollkommen befriedigend wäre. In der unendlichen Teleologie gibt es auch notwendigerweise bestimmte Mittel, imd bestimmte praktische Verfahren, die auch als Momente der unendlichen Teleologie angesehen werden müssen, weil das Sichbetätigen unmöglich wäre, ohne bestimmte Zwecke und Verfahren. Der Begriff der unendlichen Teleologie entsteht also, wie wir vom zweckmäßigen Handeln seinen eigenen Zweck machen, und wie wir zweitens alle inneren und äußeren Bedingungen des zweckmäßigen Handelns als Momente dieses Handelns betrachten. Genau dieselbe Lehre wird in deutlicherer Form verkündet, wo Hegel das Wahre und das Gute als die zwei Seiten der Idee behandelt. Die Vernunft kommt an die Welt mit der Gewißheit, daß sie diese Welt in allen Hinsichten vollkommen erklären, vernünftig machen kann, erfährt aber traurigerweise, daß das Individuelle niemals vollkommen erklärt oder deduktiv abgeleitet werden kann. Das Ideal der Vernunft schiebt sich also

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in eine praktische Richtung hin, weil die Praxis die Hoffnung hegt, das Individuelle schöpferischerweise hervorbringen zu können. Hier aber ist es auch unmöglich, die Vernunft zu befriedigen, weil das praktische Verhalten selbst eine unüberbrückbare Kluft zwischen Sein und Sollen fordert: wo alles ist, wie es sein soll, gibt es keinen Raum für die Praxis mehr. Hier aber, wo wir unendlich weit von unserem Ziel entfernt scheinen, sind wir durch einen wunderbaren Umschwung der Dialektik unmittelbar zum Ziel gebracht. Wo die Praxis in Ohnmacht sinkt, ist die philosophische Einsicht schon da. Wir sehen einfach ein, daß, weil der Gegensatz zwischen Sein und Sollen unaufhebbar ist, er von einem höheren Standpunkt aus schon aufgehoben ist. Es soll sein, daß es eine Kluft zwischen Sein und Sollen gebe, und so, vom Standpunkte dieses höheren Sollens gesehen, gibt es gar keine Kluft mehr. Was das alles, meiner Meimmg nach, besagt, ist, daß der Hegelsche Idealismus in letzter Instanz eine Sache der Ansicht ist, von der teleologischen Perspektive, in der wir alles Weltliche sehen sollen. Die gegenständliche Welt mit allen ihren tiefen Unvernünftigkeiten kann für uns dadurch vernünftig werden, daß wir alle ihre Unvernünftigkeiten als die notwendigen Bedingungen, den unentbehrlichen Rohstoff unseres eigenen vernünftigen Lebens auffassen. Die Hegelsche Lehre ist in diesem Sinne realistisch, daß sie in letzter Instanz die bunte Welt der gewöhnlichen Erfahrung nicht eigentlich beseitigen will, nicht erklären, nicht vervollständigen, nicht verschönen, nicht eigentlich metaphysisch begründen will. Sie will nur, daß wir die Welt anders ansehen, in einer anderen Perspektive, als Bedingung unserer eigenen geistigen Tätigkeiten.Wie Hegel es selbst ausdrückt: „In der Tat hat sich diese Endlichkeit in der Verwirklichung des Guten aufgehoben; was den objektiven Begriff noch begrenzt, ist seine eigene Ansicht von sich, die durch die Reflexion auf das, was seine Verwirklichung an sich ist, verschwindet; er steht nur sich selbst durch diese Ansicht im Wege, und hat sich darüber nicht gegen eine äußere Wirklichkeit, sondern gegen sich selbst zu richten."^ Hieraus sehen wir, wie ähnlich die Hegelschen Grundansichten mit den genialen Gedanken FICHTES sind: für beide ist die Welt ein ewiges theoretisches und praktisches Schlachtfeld. Nur unterscheidet sich die Hegelsche von der FiCHTEschen Lehre darin, daß sie die mythischen Mechanismen FICHTES vermeidet und daß sie das Schlachtfeld von einem höheren Standpunkt aus übersieht, wo es nichts mehr offenbart, als Mondeslicht und klassische Stille. * Hegel: Werke. Bd 5. Berlin 1834. 325 f.

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Was ich soweit gesagt habe, ist dennoch nicht alles. W'ie Sie alle wissen, verläuft die Dialektik Hegels nicht ausschließlich durch das logische Reich der Schatten, sondern auch durch die natürliche und geistige Welt, sie hat nicht nur eine begriffliche, sondern auch eine wirkliche, konkrete Bedeutung. Der Idealismus Hegels ist nicht nur eine allgemeine Perspektive, worin die Tatsachen der Erfahrung angeschaut werden können: sie macht auch Ansprüche, die von der Empirie gewissermaßen erfüllt werden sollen. Hegel lehrt, daß die abtrennende Tätigkeit, wodurch der Verstand Gedankenbestimmungen von ihrem konkreten Zusammenhang losreißt und ihnen einen falschen Schein der Selbständigkeit verleiht, auch in der Welt wirksam ist: auch in der Welt gibt es Dinge, die diese oder jene bestimmte Seinsart oder Kategorie kund tun, ohne scheinbar Charaktere anderer Seinsarten aufzuzeigen oder mit ihnen etwas zu tim zu haben. Ein derartiger Schein ist nach Hegel eine Täuschung, selbst eine objektive Unwahrheit, weil der innewohnende Begriff aller Dinge immer total ist, immer alle möglichen Formen in sich enthält. Aber mag er eine Täuschung, mag er eine Unwahrheit heißen, so existiert er nichtsdestoweniger, und er existiert nicht nur, sondern diese getrennte, abgesonderte Existenz ist eine notwendige Stufe in der Verwirklichung der Idee. Hegel lehrt ausdrücklich, daß, obwohl die rein logische Idee als vollkommen und konkret im logischen Sinne angesehen werden darf, sie sich, von einem anderen Standpunkte aus, als abstrakt und unvollständig erweist und deswegen die Welt der Natur und des Geistes fordert und nur darin völlig wirklich sein kann. „Wie ist Gott dazu gekommen, die Welt zu schaffen . .. Gott als ein Abstraktum ist nicht der wahrhafte Gott, sondern nur als der lebendige Prozeß, sein Anderes, die Welt zu setzen, und erst in der Einheit mit seinem Anderen, im Geist, ist Gott Subjekt."’ Und wieder: „Das schon in der einfachen logischen Idee enthaltene Erkennen ist nur der von uns gedachte Begriff des Erkennens, nicht das für sich selbst vorhandene Erkennen, nicht der wirkliche Geist, sondern bloß dessen Möglichkeit."® So muß die Idee sich in scheinbar selbständigen Phänomenen offenbaren, um allmählich diesen falschen Schein zu beseitigen und sich in seiner vollen Geistigkeit zu verwirklichen. Und die Beseitigung liegt teilweise in der Stufenleiter der Naturformen, die nebeneinander in der Außenwelt liegen, und nur für den philosophischen Beobachter eine Stufenleiter ausmachen, teilweise in der Entwicklung der ver® Enzyklopädie. § 246 Zusatz. — Ich zitiere hier und im folgenden nach Hegel: Werke. Bd 7, Abt. 1 u. 2. Berlin 1842/45. ’ Ebd. § 381 Zusatz.

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schiedenen Geistesformen in der Geschichte, und hier ist sie nicht nur eine Stufenleiter für uns, sondern auch in uns, eine wirkliche zeitliche Entwicklung, worin der Sinn des Ganzen nur am Ende liegt und wo das Vortrefflichste auch das Späteste ist. Was ich hier betonen will, ist, wie tief realistisch, man kann fast sagen naturalistisch, diese ganze Hegelsche Vorstellung eigentlich ist. Nach KANT ist die raumzeitliche Welt eine phänomenale Schöpfung des anschauenden Geistes. Dagegen sagt Hegel ausdrücklich: „Wenn wir aber gesagt haben, daß das Empfundene vom anschauenden Geiste die Form des Räumlichen und Zeitlichen erhalte, so darf dieser Satz nicht so verstanden werden, als ob Raum und Zeit nur subjektive Formen seien .. . Die Dinge sind jedoch in Wahrheit selber räumlich und zeitlich: jene doppelte Form des Außereinander wird ihnen nicht einseitigerweise von unserer Anschauung angetan, sondern ist ihnen von ... der schöpferischen ewigen Idee schon ursprünglich angeschaffen."^ KANT wieder glaubt, daß wir das Begriffliche, das Gattungsmäßige, das Kategoriale in die Phänomene hineinlegen. Hegel dagegen sagt ausdrücklich, daß das Allgemeine keine subjektive Zutat ist, aber daß es den Dingen innewohnt, ihre wahrhafte Natur ausmacht, das eigene innere Wesen der Gegenstände selbst ist. Mag das Allgemeine in der Außenwelt wohl als entfremdet, versteinert, gefroren usw. gelten, so ist es dennoch da. Und mag es die Bestimmung der Naturdinge auch sein, in die Gedanken des Naturwissenschaftlers als reine Gattungen und Gesetze verflüchtigt zu werden und in seinen Geist zu übersiedeln, so waren sie doch in der Außenwelt ursprünglich zu Hause. Die Erkenntnislehre Hegels ist der Erkenntnislehre von ARISTOTELES viel ähnlicher als sie der Erkenntnislehre KANTS ist. Zuletzt will ich Sie auch daran erinnern, daß Hegel als Faktum annimmt, daß die Erde eine lange geologische Vergangenheit gehabt hat, bevor einige vegetabilische und animalische Organismen und geistige Wesen auf ihr entstanden sind, und daß er auch an eine blitzartige Entstehungsweise des Lebens aus der leblosen Materie glaubt. „So ist doch", sagt er, „sobald der Blitz des Lebendigen in die Materie einschlägt, sobald ein bestimmtes, vollständiges Gebilde da, wie Minerva aus Jupiters Haupt bewaffnet springt."® Diese Vorgeschichte der Erde hat nach Hegel kein philosophisches Interesse, sie ist nur eine nichts erklärende Umformung des Nebeneinander der geologischen Schichtungen in ein Nebeneinander der hypothetisch gefolgerten Geschichte. Aber mir ist es deutlich, daß Hegel, der immer die Er* Ebd. § 448 Zusatz. » Ebd. § 339.

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gebnisse der zeitgenössischen Wissenschaft sehr ernst nahm, völlig an die Korrektheit dieser geologischen Vorstellungen glaubte. Die Stellen, wo er über diese Sachen ausführlich spricht, finden sich in den Zusätzen zur Naturphilosophie, imd natürlich müssen wir auf die neue Ausgabe dieser Zusätze warten, bevor wir Hegels Meinungen endgültig zu interpretieren vermögen, aber meiner Meinung nach sind ihre Andeutungen in dieser Instanz vollkommen zuverlässig. Wie es auch immer mit der Natur sein mag, so ist es völlig klar, daß die Idee nur vollkommene Wirklichkeit, nicht bloß abstrakte Möglichkeit in den höchsten Formen des absoluten Geistes erreicht oder erreichen kann, d. i. in den entwickelten Formen der Kunst, des Gottesdienstes und der Philosophie. „Gott, die ewige Idee", wie Hegel selber sagt, „ist nur Gott insofern er sich selber weiß, aber dieses Sichwissen ist sein Selbstbewußtsein im Menschen, und das Wissen des Menschen von Gott."® Die höchsten geistigen Formen entstehen aber nur am Ende einer langen gesdiichtlichen Entwicklung xmd haben als Voraussetzungen viele Phasen, die sehr unreif sind, und die nur die Vorbereitung für unsere geistigen Tätigkeiten darstellen. Ich möchte damit bewiesen haben, daß der Idealismus Hegels durchaus teleologisch ist: der denkende Geist, in dem allein die Idee volle Wirklichkeit erreicht, erklärt die Welt nicht als Urheber, sondern als Zweck. Er hebt das ihm gegenüberstehende Andere teilweise auf, weil er sich daraus entwickelt und weil er dieses Andere wissenschaftlich versteht und praktisch umformt, teilweise hebt er das Andere auf, weil er es ansieht, als nur seinetwegen da, als nur dazu dienend, Gelegenheiten und Material für seine eigenen Leistungen zu verschaffen. Die Welt ist teilweise geistig, weil wir sie geistig machen können, und, für das Übrige, weil wir sie als dem Geiste dienlich ansehen können. Ich will diesen Hegelschen idealistischen Realismus hier nicht zu bewerten versuchen: nur will ich andeuten, wie außerordentlich originell und auch wie geheimnisvoll und fragwürdig ihre zentrale Auffassung ist, die Auffassung nämlich, wonach die Bedingungen des geistigen Lebens als diesem Leben teleologisch dienend, und also als Momente dieses Lebens gelten, so daß wir, statt den Geist von jenen Bedingungen abhängig zu machen, diese vom Geiste abhängig machen. Beweist ein derartig gewagter Wechsel der Perspektive nicht zuviel? Könnte sich nicht danach Dinkelsbühl als Weltzweck hervortun, weil seine Vorbedingungen überall in der ‘ Ebd. § 564.

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Welt befindlich sind? Aber weil die eigentümliche logische Basis des Hegelschen Idealismus mißverstanden wird, geht, meiner Meinung nach, die meiste Kritik an ihm als ganz irrelevant vorbei. Die figürliche Maschinerie des Hegelianismus wird von Manchen angegriffen, während sein wirklicher Inhalt ganz ignoriert wird.

KARL OTTO APEL (KIEL)

REFLEXION UND MATERIELLE PRAXIS Zur erkenntnisanthropologischen Begründung der Dialektik zwischen Hegel und Marx Die folgenden Überlegungen erheben nicht den Anspruch, einen unmittelbaren Beitrag zur Hegelinterpretation zu leisten. Ich möchte vielmehr — mit einer gewissen Unbefangenheit und experimentellen Freiheit — einen eigenen Ansatz (im Problem der Dialektik) zur Diskussion stellen. Aus diesem Grund habe ich sogar eine gewisse Scheu, mich in allzu große Nähe zu Hegel zu begeben. Ich möchte daher mein Thema an der Wirkungsgeschichte Hegels verdeutlichen, und zwar zunächst an den polar entgegengesetzten Extremen dieser Wirkungsgeschichte. Diese scheinen mir gegeben zu sein einerseits im sog. dialektischen Kritizismus, wie ihn etwa S. MARCK in seinem Buch Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart (1929/31) beschrieben hat, und andererseits im „Dialektischen Materialismus". Im dialektischen Kritizismus, der zwischen KANT und Hegel zu vermitteln sucht, also etwa von R. HöNIGSWALD bis Th. LITT, ist die erkenntnistheoretische Problematik der Dialektik wohl am subtilsten behandelt worden, und innerhalb der Reichweite dieser Problematik dürfte hier das höchste kritische Reflexionsniveau vielleicht in der gesamten gegenwärtigen Philosophie erreicht worden sein. — In merkwürdigem Widerspruch zu diesem hohen gedanklichen Niveau steht die relativ geringe lebendige Wirkung dieser extremen Hochstilisierung idealistischer Dialektik. Sehr im Gegensatz zu ihrem Gegenpol, der materialistischen Dialektik des sog. „orthodoxen" Marxismus, die doch zweifellos die weltgeschichtliche Stoßkraft der Hegelschen Methode repräsentiert. Man könnte versucht sein, hier mit einem gewissen geschichtsphilosophischen Zynismus die Unwirksamkeit alles Kritisch-Subtilen und historisch Hoch- und Ausstilisierten festzustellen. War nicht oft schon in der Geschichte des Denkens ein Neuanfang gleichbedeutend mit Reprimitivierung — einfach ein Abwerfen kritischen Ballastes zugunsten wiederermöglichter plastischer Anschaulichkeit und emotionaler Wucht?

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Ganz so einfach scheint mir indessen der Fall hier nicht zu liegen: Erstens kann man zweifeln, ob der radikal vereinfachte d. h. praktisch zum Dogma erstarrte „Diamat" des Ostens heute noch eine große philosophische Zukunft vor sich hat. Andererseits aber verdankt der Marxismus überhaupt seine bisherige gedankliche Stoßkraft nicht nur außerwissenschaftlichen Motiven, sondern dem Umstand, daß er — im Gegensatz zum kritischen Idealismus — die substantielle Seite der Hegelschen Dialektik: die inhaltliche Aufarbeitung der geschichtlichen Situation, die geschichtsphilosophische Weltorientierung also, zu verkörpern scheint. Dieser Umstand wiederum dürfte dadurch bedingt sein, daß MARX in der Tat das eine der beiden konstitutiven Elemente der Dialektik überhaupt (insgeheim auch der Hegelschen Dialektik) zur Geltung gebracht hat: die „materielle Praxis" oder, besser gesagt: das materielle Moment an der menschlichen Praxis; auch und gerade das materiell-praktische Vermittlungsmoment innerhalb der Erkenntnis, z. B. das ideologische Moment der Philosophie. — Demgegenüber beschränkt sich die kritische Dialektik des transzendentalen Idealismus im wesentlichen darauf, die Reflexionsbedingungen der Dialektik und die Dialektik dieser Reflexionsbedingxmgen in formal-allgemeingültiger Weise zu begründen. Dergestalt bringt sie zwar die unreduzierbar geistigen, die transzendentalen Bewußtseinsvoraussetzungen der Dialektik dem Marxismus gegenüber unwiderleglich zur Geltung, verzichtet aber von vornherein darauf, eine inhaltlich deutende und auswertende Beziehung der Philosophie zum empirischen Gehalt der Welt herzustellen. Den empirischen Gehalt der Welt muß die kritische Dialektik — etwa LITTS „Selbstaufstufung des Geistes" — den Einzelwissenwissenschaften überlassen. Diese erarbeiten ihn zwar — nach Maßgabe ihrer jeweiligen Fragestellung — in allgemeingültiger Form, und die dialektische Reflexions-Philosophie vermag wiederum die trcmszendentalen Bewußtseinsvoraussetzungen dieser Wissenschaften in allgemeingültiger Form anzugeben. Dennoch läßt diese Arbeitsteilung, welche der Philosophie nur eine letzte formale Reflexion auf die Gültigkeits- und Konstitutionsbedingungen der Einzelwissenschaften erlaubt, ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Anliegen menschlicher Daseinsbesinmmg unberücksichtigt. Die Einzelwissenschaften nämlich erkaufen die Allgemeingültigkeit ihrer Sätze, soweit diese erreicht wird, durch die Festlegung auf die implizite Perspektive ihrer Fragestellung, anders gesagt: durch die grundlegenden Abstraktionen von der konkreten Situationswirklichkeit, welche die Idealität ihrer Maßstäbe ermöglicht. Insofern ergibt Allgemeingültigkeit der

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wissenschaftlichen Empirie und Allgemeingültigkeit der philosophischen Begründung dieser Empirie zusammen noch lange kein allgemeingültiges „Weltbild". Nun ist freilich ein schlechthin allgemeingültiges „Weltbild" überhaupt unmöglich, da zu jedem „Weltbild" eine Perspektive gehört*; gleichwohl scheint mir zu den Aufgaben der Philosophie die Erarbeitung eines „jetztgültigen" Weltbildes zu gehören, das sich einerseits durch die inhaltlichen Ergebnisse der Einzelwissenschaften vermittelt hat und das andererseits die Grundfragestellungen und Idealisierungen der Einzelwissenschaften in ihrer abstrakten Einseitigkeit durchsichtig macht. Die Ergebnisse der Geistes„wissenschaften" etwa — als Resultate quasi-allgemeingültiger Reflexion der Menschheit auf ihre verschiedensten geschichtlichen Bezugssystemen entstammende bisherige Weltdeutung — warten doch offenbar nur darauf, durch die Philosophie aus ihrer abstrakten Quasi-Objektivität befreit und in ein jetztgültiges Weltbild hineinintegriert zu werden. Geschieht dies nicht, so resultiert unvermeidlich die existenzielle Aporie des wissenschaftlichen Historismus, wie sie etwa in MUSILS Mann ohne Eigenschaften repräsentiert isP. Eben dies nun: die Erarbeitung eines wissenschaftlich vermittelten inhaltlichen Weltbildes, das gleichzeitig die Fragestellungen und Abstraktionen der Einzelwissenschaften geschichtlich begründet und damit in ihrer Bedeutung kritisch begrenzt — eben dies scheint die materialistische Dialektik des Marxismus zu leisten. Freilich leistet sie diese substantielle Deutung der Welt als Situation mit Hilfe einer geschichtsphilosophischen Konzeption, die offenbar von einem dogmatischen Entwurf der Zukunft abhängig ist; und infolgedessen büßt sie ihre situationserhellende Kraft in eben dem Maße ein, in dem wir die Entstehungszeit des maßgebenden Zukunftsentwurfs hinter rms lassen. Dies wiederum hängt offenbar zusammen mit der fehlenden Vermittlung der materialistischen Dialektik durch die kritische Reflexion eines allgemeingültigen „Bewußtseins überhaupt", das angesichts jeder noch so suggestiven inhaltlichen Situationsdeutung die möglische Distanzierung und die Möglichkeit andersartiger Deutungen zur Geltung bringen könnte. Damit aber — so scheint es — werden wir wieder auf die Position des Kritizismus zurückgeworfen, die aus dem Zusammenbruch des Hegelschen Weltsystems nur die formale Funktion einer Dialektik der ‘ Vgl. K. O. Apel; Kann es ein wissensdiaftlidies „Welt-Bild" überhaupt geben? In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 16 (1962). 28—57. * Vgl. hierzu E. Heintel: Der Mann ohne Eigenschaften und die Tradition, In: Wissenschaft und Weltbild. Wien 1960.

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reflexiven Selbstaufstufung des Bewußtseins glaubte retten zu können.* Angesichts dieses Dilemmas möchte ich die Frage nach dem Wesen und dementsprechend nach der Leistungsfähigkeit der Dialektik erneut stellen. Ich gehe dabei heuristisch von der Voraussetzung aus, daß es darauf ankommen wird, die beiden konstitutiven Momente der Dialektik, wie sie in der Wirkungsgeschichte Hegels isoliert hervorgetreten sind: „Reflexion" und „materielle Praxis", kritisch zueinander ins Verhältnis zu setzen. Systematisch betrachtet, läuft dies m. E. auf eine „erkenntnis-anthropologische" Untersuchung hinaus. Historisch aber führt es gewissermaßen in den Bezirk des ungedacht Gebliebenen zwischen Hegel und MARX zurück. In die Richtung dieses ungedacht gebliebenen Wesens der Dialektik weist, wie mir scheint, nicht zufällig die negativ distanzierende Definition eines Neothomisten, der damit die einheitliche Grundstellung des modernistischen Denkens bei Hegel, MARX und HEIDEGGER treffen und zugleich in ihrer Bedenklichkeit entlarven will: Jakob HOMMES, der Kritiker des „technischen Eros" der Moderne, sagt in seinem Buch Die Krise der Freiheit* von der Dialektik: „Nach dieser haben alle Einzelwesen, die Dinge und der sie gebrauchende Mensch, ihr eigentliches Sein nicht mehr in dem, was sie von Natur sind, sondern nur noch im Gespräch (6idA.EXTo;) und der durch dasselbe zwischen ihnen gestifteten Einheit — im Gespräch, d. h. letztlich in einer Zwiesprache des Menschen mit den Dingen, bei der der Mensch und die Dinge einander unmittelbar nahe und eins werden." In HOMMES' Büchern, die eine mit Ärgernis durchsetzte Faszination erregen, scheint mir — zuweilen — eine aus Haß oder, besser gesagt: aus Haßliebe gespeiste Hellsicht am Werk. Nicht das ich seine Darstellung der Dialektik für durchaus sachlich zutreffend hielte, noch weniger würde ich die äußerst gewaltsame Art seiner Harmonisierung von Hegel, MARX und HEIDEGGER als historische Interpretation anerkennen. Wohl aber vermag HOMMES gerade durch seine vehemente Kritik einer bloßen Fiktion, die den Schlüssel für das moderne Denken enthalten soll, ein Verlangen zu wecken, das zwischen Hegel und MARX ungedacht gebliebene Wesen der Dialektik nun wirklich positiv zu entfalten. Bestärkt wird man in diesem Verlangen durch den Umstand, daß von demselben HEIDEGGER aus, von dem her HOMMES seine negative Kritik inspiriert, in jüngster Zeit H. G. GADAMER eine hermeneutische Philosophie entworfen hat, die im Gegen* Vgl. hierzu etwa Th. Lift: Mensch und Welt. München 1948. 336, Anm. 63. ■' 7- Hommes: Die Krise der Preiheit. Regensburg 1958. 24.

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Satz zum dialektischen Kritizismus das substantielle Anliegen der Hegelsdien Dialektik als ein Sich-Vermitteln der Gegenwart mit ihrer geschichtlichen Tradition realisieren will.® Dabei hat GADAMER genau entsprechend der HoMMESschen Definition das Wesen der Dialektik aus dem Dialog zu deuten versucht und entsprechend in seiner eigenen Philosophie die Verständlichkeit des Seins schlechthin auf den sprachlichen Horizont des „hermeneutischen Universums" begrenzt. Ich muß gestehen, daß mir GADAMERS „Hermeneutik" eine echte Möglichkeit dialektischer Philosophie zu entfalten scheint. An ihr möchte ich daher das Problem einer substantiellen Dialektik der Geschichte etwas ausführlicher zu exponieren versuchen. GADAMERS „Hermeneutik" vermag zimächst zu zeigen, daß gerade HOMMES' kritisches Anliegen, die Eigenständigkeit, das Von-sich-aus-Sein der Dinge dem technischen Eros der Moderne gegenüber zu retten, heute selbst noch im Rahmen dialektischen Philosophierens, und keineswegs als „schlechte Metaphysik" im vorkantischen bzw. vorhegelschen Sinn, vertreten werden muß: Dies „Von-sich-aus-Sein" der Dinge kann selbst nur als die „Sprache der Dinge" im „hermeneutischen Universum" der menschlichen Sprache zum Vorschein und gegen das „Von-sich-aus-Vorgehen" des die Dinge methodisch „stellenden" Menschen zur Geltung gebracht werden. (Ich selbst habe einmal versucht, dieses Verhältnis als Dialektik von „Physiognomie" und „Technognomie" innerhalb der sprachlichen Welterschließung zu fassen.®) Gleichwohl meine ich, daß eine „hermeneutische Philosophie" im Sinne GADAMERS noch nicht „die" Auflösung des Problems der Dialektik darstellt, und zwar deshalb, weil sie die eingangs charakterisierten extremen Realisierungen der Dialektik, die transzendentalidealistische der Selbstaufstufung des reflexiven Bewußtseins und andererseits die Dialektik der materiellen Praxis, nicht radikal genug durcheinander vermittelt, sondern sie vielmehr außer sich behält. Daß eine „philosophische Hermeneutik" die Dialektik der materiellen Praxis außer sich behält, ist freilich eine These, die GADAMERS Grundkonzeption gegenüber schon nicht mehr mit derselben Evidenz behauptet werden kann wie etwa noch derjenigen DILTHEYS gegenüber. DILTHEYS ® Vgl. H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960. — Vgl. auch meine Besprechung in: Hegel-Studien. 2 (1963). 314—322. • Vgl. K. O. Apel: Technognomie, eine erkenntnisanthropologische Kategorie. In: Konkrete Vernunft. Festschrift für E. Rothacker. Bonn 1957. 61—78.

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Hermeneutik verstand sidr als eine solche der „Geistes-Geschichte"; sie blieb als solche — bei aller methodischen Anpassung an das Wissenschaftsideal des Positivismus — der Hegelschen Konzeption der Geschichte als immanenter Selbstentfaltung des Geistes verhaftet, ja sie macht durch ihre positivistisch-psychologische Tendenz, welche an die Stelle des spekulativen Begreifens das nacherlebende Verstehen setzt, den geschichtlichen Gehalt des Geistes allererst zu einem vermeintlich in jedem Zeugnis unmittelbar aus sich heraus Verstehbaren. DILTHEYS Konzeption der Hermeneutik gegenüber erscheint daher die marxistische Ideologiekritik, welche die materiell-praktische Bedingtheit der Gehalte der sogenannten Geistesgeschichte betont, als systematisch und historisch notwendige Korrektur.’ Wesentlich anders liegen die Verhältnisse schon bei einer Philosophischen Hermeneutik, die — wie im Falle GADAMERS — zum Hintergrund und eigentlichen Thema nicht die Auslegung der „Geistes-Geschichte", sondern der „Seins-Geschichte" hat. Hier soll — wiewohl DIETHEYS bloß psychologisch verstehender Geistesgeschichte bzw. Weltanschauungslehre gegenüber mit Hegel die spekulative Frage nach der Wahrheit wiederhergestellt wird — das geschichtlich gültige Verstehen nicht im Sinne Hegels aus der Selbstdurchdringung des Geistes, sondern aus der „Produktivität der Zeit" heraus ermöglicht sein. An die Stelle der spekulativen ,Besserverstehens' der Tradition aus der alleinigen Vollmacht des sich begreifenden Geistes tritt das „Andersverstehen" des Früheren durch die Späteren.® Hierin wie auch in dem Motiv der Sprachlichkeit des „hermeneutischen Universums", das ja die faktische und praktische Verleiblichung des Geistes einschließt, ist bei GADAMER gewissermaßen der Raum für die Thematik einer dialektischen Vermittlung der Geistgehalte über kontingente und materielle Praxis offengehalten. In der Tat ist diese Vermittlung des allgemeinen geistigen Sinns durch das schlechterdings Nichtallgemeine, Kontingente einer faktischen Praxis ja bereits in der Modellsituation des Dialogs enthalten, die GADAMER für die Problematik alles geschichtlichen Verstehens zugrun^ Analog zu dieser und der pragmatisch-behavioristischen Korrektur hat auch A. Gehlen in der 4. Auflage seines Budies Der Mensch und in Urmensch und Spätkultur — wiederum an Hegel anknüpfend — Diltheys hermeneutischer Kulturphilosophie gegenüber die Vermitteltheit der geistigen Gehalte der Kultur durch die faktischen „Institutionen", d. h. aber: durch die selbst nicht unmittelbar als geistig verstehbaren, kontingenten Verdichtungen der menschlichen Verhaltenspraxis, hervorgehoben. — Vgl. hierzu K. O. Apel; A. Gehlens „Philosophie der Institutionen". In: Philosophische Rundschau. 10 (1962). 6 f. * Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode. 280.

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de legen will: Wird im Ernst anerkannt, daß in der philosophischen Hermeneutik nicht lediglich das richtige Auffassen von objektivierten geistigen Sinngehalten, sondern das Einrücken des ganzen Menschen in ein seit Urzeiten im Gang befindliches Gespräch als Vorgang der Traditionsvermittlung im Thema steht (bis zu dem Ziel der praktischen „Anwendung" dieses hermeneutischen Gesprächs, sei es in der „Applikation" des Rechts in der richterlichen Entscheidung, sei es in der „Reproduktion" der Kunst in der Aufführung eines Dramas oder eines Konzerts), — so wird klar, daß hier der ontologische Grundentwurf einer reinen „Geisteswissenschaft" oder auch „Geistes-Philosophie" überschritten ist. Nicht erst in der — oft schwierigen — (Wieder-)Herstellung der Gesprächssituation mit vergangenen Kulturen durch die hermeneutischen Wissenschaften: selbst schon in der philosophisch fundamentaleren Modellsituation des aktuellen Gesprächs mit Zeitgenossen innerhalb derselben Kulturumwelt und bei Teilnahme an den „Wortinhalten" derselben Muttersprache vollzieht das Verstehen nicht nur ein unmittelbares Auffassen mentaler Sinngehalte (Wortbedeutungen) und ihrer logischen Beziehungen, sondern auch ein Vermitteln der intuitiven Auffassung der Worte des Anderen durch dessen faktischen „Sprach-Gebrauch" im weitesten Sinn, d. h. durch sein praktisches Weltverhalten. In extremer Form tritt dieses Vermittlungsmoment in Erscheinung, wenn beide Partner zwar grammatisch scheinbar dieselben Worte verwenden, hinsichtlich des zugehörigen praktischen Umgangs mit der Welt aber nicht dasselbe „Sprachspiel" (WITTGENSTEIN) spielen. Dies wird etwa der Fall sein bei Vertretern verschiedener praktischer Lebensinteressen, z. B. bei Angehörigen verschiedener sozialer Klassen. Hier genügt es dann nicht mehr, mit DILTHEY die praktische Vermittlung des Sinnverständnisses durch den intuitiven Nachvollzug der Erlebnisakte des Anderen zu ermöglichen, sondern es wird — wohlgemerkt: bereits im unmittelbaren Gespräch! — eine kritische Objektivation der praktischen Lebensform des Anderen erforderlich, um, über solche Verfremdung vermittelt, die eigentliche Bedeutung seiner Worte zu verstehen. Solchermaßen entspringt noch innerhalb der unmittelbaren „Mit-teilung" des In-der-welt-seins im Gespräch zugleich mit dem hermeneutischen Geschäft das ideologiekritische (bzw. das aus praktischen Behavior oder aus Institutionen herleitende) ,Erklären' des Sinns. Erst recht wird eine hermeneutisch-dialektische Philosophie, welche der uns durch die „Produktivität der Zeit" entrückten geschichtlichen Welt im ganzen und damit dem Geschehnischarakter des Seins in der Abfolge verschiedener Kulturen gerecht werden will, als sozial-anthropologische Verhaltensforschung,

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Institutionsanalyse und — im Hinblick auf die verbindliche geschichtliche Wahrheit — als Ideologiekritik das faktisch-kontingente Moment der materiell-praktischen Vermittlung allen Sinns eigens berücksichtigen müssen. Sie wird die objektive Analyse der nichtgeistigen Bedingungen der Sinnkonstitution leisten müssen, gerade um die hermeneutische Einheit des Sinns in dem Gespräch, das wir Menschen „sind" (HöLDERLIN-HEIDEGGER) gewährleisten zu können. Das „hermeneutische Universum" der geschichtlichen Welt konstitutiert sich für uns erst in dem Maße, als wir den dunklen, sinnfremden Einschlag der materiellen Faktizität in der geschichtlichen Welt durch andere Methoden als diejenigen des unmittelbaren Verstehens thematisieren und dergestalt mittelbar auf den unmittelbar verständlichen Sinn beziehen.® Das besagt freilich nicht, daß eine dialektische Philosophie nur die Vermittlung des geistigen Sinns über die materielle Praxis zum Thema hätte. Die alleinige Eruierung dieser Vermittlung macht vielmehr die Einseitigkeit der marxistischen Ideologiekritik (wie andererseits der behavioristischen Schulen) aus. Als ob nicht auch umgekehrt menschliche Verhaltenspraxis — im Unterschied zum instinktgeleiteten tierischen „Behavior" — immer erneut aus unmittelbarer Sinnintuition sich gründen müßte: Hier scheint mir die dialektische Notwendigkeit einer hermeneutischen Philosophie zu entspringen. Der junge MARX hat ausdrücklich betont, daß zwar die Philosophie (als Ideologie) durch revolutionäre (d. h. die materiell-praktischen Bedingungen der Ideologie verändernde) Praxis „aufzuheben" sei, daß aber auch umgekehrt diese praktische „Aufhebung" der Philosophie nicht anders als durch ihre „Verwirklichung", d. h. aber doch wohl: durch philosophische Sinninspiration der Praxis, zu leisten sei.*® Hierin steckt. • Hierin liegt zugleidi Anerkennung und Abweisung der oben (Anm. 7) erwähnten Polemik Gehlens gegen eine hermeneutische Philosophie. Sozusagen erkenntnispsychologisch hat Gehlen recht, wenn er für die Erforschung der archaischen Zustände Diltheys Methode des unmittelbaren Nachverstehens ablehnt. Wenn er aber das hermeneutische Moment überhaupt unterschlägt und an die Stelle des Verstehens die objektive Analyse (Deskription und Deduktion) der archaischen Institutionen und ihrer Konsequenzen für die Lebensform setzen will, so verkennt er — genau wie der Behaviorismus — den dialektischen Vermittlungszusammenhang, kraft dessen die objektiven Deskriptionsmethoden das unmittelbare Verstehen sowohl voraussetzen als letzten Endes zum Ziel haben. Eine derartige Voraussetzung von „Verstehen" trifft selbst noch für die Tierverhaltensforschung zu, wie Buytendijk scharfsinnig erkannt hat (vgl. Mensch und Tier, rde Bd 74.). Und auch diese dient letztlich genauso wie die Analyse archaischer Institutionen einer Vermittlung des menschlichen Selbstverständnisses durch objektivierende Verfremdung. Vgl. K. Marx; Frühschriften. Hrsg. v. S. Landshut. Stuttgart 1953. 214 f.: Die „theoretische, von der Philosophie her datierende politische Partei" „bedachte nicht.

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wie mir scheint, die dialektische Rechtfertigung des Programms einer hermeneutischen Eruierung der positiven Sinnvoraussetzungen der Anthropologie und Geschichtsphilosophie des Marxismus, d. h. der Lehre von der gesellschaftlichen Selbstentfremdung des Menschen und ihrer praktischen Aufhebung. Solchermaßen erweist sich „hermeneutische Philosophie" in der Tat als ein Teil, ja sogar als die positive Bedingimg, einer substantiell-dialektischen Sinnerschließung der Geschichte als eines kontinuierlichen Gesprächs, vorausgesetzt nur, daß sie sich durch ihr Komplementärimternehmen, die ideologiekritisch abgezweckte Analyse der zu diesem Gespräch gehörigen materiellen Praxis, vermitteln läßt. Daß in GADAMERS Hermeneutik, welche das substantielle Anliegen der Hegelschen Dialektik aufnimmt, die soeben charakterisierten Implikationen der Modellsituation des geschichtlichen Gesprächs nicht explizit herausgearbeitet sind, scheint mir eng damit zusammenzuhängen, daß andererseits auch die Dialektik der Reflexion und damit die Reflexionsbedingungen der Dialektik nicht radikal genug berücksichtigt wurden. In dem von HEIDEGGER her konzipierten Rückgang auf die Seinsgesdiichte qua Produktivität der Zeit scheint mir insofern ein „asylum ignorantiae" zu liegen, als die wirkliche Vermittlung von Bewußtsein und materieller Praxis, welche die produktive Fortsetzung der Geschichte im menschlichen Verstehen ausmacht, unanalysiert bleibt. Im Rahmen der Wirkungsgeschichte Hegels, von der wir ausgingen, trifft GADAMER zwar die spekulative Mitte des Anliegens einer substantiellen Dialektik der Geschichte, doch die inzwischen historisch hervorgetretenen extremen Konstitutionsmomente der Dialektik überhaupt sind darin noch nicht wirklich „aufgehoben". Daß GADAMERS Hermeneutik die kritische Dialektik des transzendentalen Idealismus außer sich behält, zeigt sich u. a. darin, daß sie die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Allgemeingültigkeitsanspruchs daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist ... Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben." Die praktische politische Partei dagegen glaubt nach Marx, die Negation der Philosophie als bloßer Philosophie „dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes — einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt." Ihr ruft er entgegen: „Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen." — Marx scheint hier noch — und m. E. zurecht — anderer Meinung zu sein, als seine modernen Interpreten M. Merleau-Ponty und J. Habermas, die den Sinn der Geschichte allein durch Beseitigung des bestehenden Unsinns glauben finden zu können (vgl. J. Habermas: Zur philosophisdien Diskussion um Marx und den Marxismus. In: Philosophische Rundschau. 5 [1957]. 209); er läßt Hermeneutik und Kritik der traditionellen Philosophie durcheinander vermittelt sein.

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der eigenen Sätze unbeantwortet läßt. Schärfer gesagt: daß sie, wie schon HEIDEGGER, ein seinszugehöriges und in diesem Sinne geschichtliches und substantielles Denken nicht mehr über den von DESCARTES erreichten Punkt noologischer Reflexion glaubt vermitteln zu müssen. Damit wird die neuzeitliche, wenn nicht schon griechische, Idee allgemeingültiger Wissenschaft aufgegeben zugunsten der konkreten Einführung in die „jetzt für uns gültige" Weltsituation des Gesprächs, das wir Menschen in geschichtlicher Zugehörigkeit zueinander und zum Sein sind.“ Nun habe ich eingangs schon angedeutet, daß ein substantielles Weltbild schlechterdings nicht allgemeingültig sein kann, anders gesagt: daß Die vorstehenden Ausführungen wollen keineswegs der Descarteskritik Gadamers insgesamt ihr gutes Recht bestreiten. Es ist m. E. kaum von der Hand zu weisen, daß Descartes wissenschaftliches Methodenideal, das Subjekt und Objekt prinzipiell trennen und unter dem Begriff des Objekts schlechterdings alle Probleme des menschlichen Erkennens in gleicher Weise dem Bewußtsein „vorstellen" und als Forschungsthema verfügbar machen will, den letzten Sinn der sogenannten „Geisteswissenschaften" zu verstellen geeignet ist und ihn tatsächlich bis über Dilthey hinaus verstellt hat. In der Tat kommt für ein angemessenes philosophisches Begreifen dieses Sinns alles darauf an, einzusehen, daß wir Menschen in den Geisteswissenschaften letzten Endes nicht ein von uns trennbares Eigengesetzliches in dieser unabhängigen Eigengesetzlichkeit progressiv erforschen und es damit unserer praktisch-technischen Herrschaft unterwerfen wollen, sondern vielmehr uns selbst in der Weise einer einmalig-sinnvollen Fortsetzung mit der geschichtlichen Welt als dem anderen unserer selbst (d. h. unserer Gewesenheit) „vermitteln" (d. h. auseinandersetzen und zusammenschließen) wollen. Dennoch scheint mir die kartesische Grundlegung des wissenschaftlichen Denkens auch für das Verfahren der Geisteswissenschaften und wiederum für die philosophische Begründung dieses Verfahrens eine begrenzte Gültigkeit zu behalten. Denn eines ist die Erkenntnis, daß der letzte Sinn der Geisteswissenschaften und einer dieselben substantiell integrierenden hermeneutisch-dialektischen Philosophie nicht ein objektives Herrschaftswissen sein kann (und alles objektive Wissen stellt unleugbar eine Sublimation des Herrschaftswissens dar!); ein anderes die Erkenntnis, daß sowohl die Geisteswissenschaften wie eine substantiell-integrierende Philosophie der Geschichte ihre durchaus existenziell bedingte und der einmaligen Praxis der Existenz dienende Sinndeutung der Situation durch einen Punkt allgemeingültiger Weltverfügbarmachung kantisch gesprochen: durch das „Gegenstands-Bewußtsein-überhaupt", vermitteln müssen, um nicht hinter die Idee der Wissenschaft, auf einen Geschichtsmythos nämlich, zurückzufallen. Die Bedeutung dieser Vermittlung durch das allgemeingültige Gegenstandbewußtsein wird keineswegs beseitigt durch den Umstand, daß dieses Bewußtsein für sich allein der Welt keine substantielle Bedeutsamkeit abzugewinnen vermag, sondern diese allein der Identifizierung mit dem Standort der geschichtlichen Existenz, anders gesagt: der „Seinszugehörigkeit" (Gadamer), verdankt. Der von Heidegger inspirierte Kernsatz der Gadamerschen Hermeneutik: „Die Geschichte gehört nicht dem Menschen, sondern der Mensch gehört der Geschichte" vergißt, daß man ihn selbst nicht allgemeingültig formulieren kann, ohne daß die Geschichte nicht — in einem Punkt formaler Reflexionsvermittlung —dem menschlichen Bewußtsein als verfügbarer Gegenstand gehört hat. Darin eben scheint mir die Unterschätzung der kartesischen Grundlegung der Wissenschaft durch Gadamer (wie schon durch Heidegger) zu be-

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die formale Dialektik der „Selbstaufstufung des Wissens" der Aufgabe einer substantiellen Deutung dessen, was jetzt ist, ohnmächtig gegenüber steht. Sie repräsentiert in ihrer jederzeit für jedermann möglichen Reflexion auf die Voraussetzungen unseres Denkens in der Tat eine Möglichkeit des Geistes, von der GEHLENS scharfes Wort gilt, daß sie „in der Unverbindlichkeit stehen"*^ kann. Gesteht man dies zu und erblickt man die wesentliche Aufgabe einer Dialektik in der inhaltlichen Erschließung des Weltsinns als geschichtlicher Situation, so folgt jedoch noch keineswegs, daß solche Deutung nicht ihrerseits dennoch, sofern sie als Philosophie, und nicht etwa als Prophetie, auftritt, durch die noologische Reflexion und damit durch den Ursprung der Idee allgemeingültiger Wissenschaft sich vermitteln muß. Eine solche Vermittlung geschieht m. E. immer schon und genau solange, als man die unvermeidliche Dogmatik der jetzt gültig sein sollenden Welt-deutung nicht verabsolutiert, sondern sie auf ihren geschichtlichen Ort, genauer auf den Standort des Deuters, zurückbezieht. Darin, daß der „Dialektische Materialismus" dies für MARxens Geschichtsdeutung heute offensichtlich nicht mehr zu leisten vermag, bekundet sich eben, daß er zu einer objektiv-metaphysischen Dogmatik im vorkantischen Sinne geworden ist. Anders ausgedrückt: es rächt sich darin, daß der Marxismus das materialistische Moment der Praxis verabsolutiert und seinen erkenntnisanthropologischen Bezug auf das idealistische Moment der Bewußtseinsreflexion nicht festgehalten hat. Hierin, und d. h. stehen, daß man in ihr lediglich — und das mit Recht — die Grundlegung des inhaltlich vorstellenden Herrschaftswissens der klassischen Naturwissenschaft glaubt distanzieren zu müssen. Die eigentliche Wahrheit Descartes, die von Hegel ausdrücklich anerkannt wurde, ist aber jene — wenn man will — äußerste Sublimation des Herrschaftswissens, in der das Denken selbst (keineswegs das „Vorstellen", wie wir erst heute wissen) sich seines allgemeingültigen Standpunkts reflexiv versichert. Diese Wahrheit der Neuzeit nun, die Wahrheit eines allgemeingültigen Selbstbewußtseins, ist durch das seinsgeschichtliche (bzw. seinszugehörige) Denken Heideggers und Gadamers nicht schlechterdings überwunden, es wird vielmehr — wie Litt in der Dialektik der reflexiven Selbstaufstufung des Bewußtseins (Mensch und Welt. Anm. 60) deutlich gemacht hat — von jeder allgemeingültigen Darstellung hermeneutischen Denkens immer noch vorausgesetzt. Was Marx, Nietzsche, Dilthey, Heidegger gezeigt haben, ist allerdings dies: daß das seinszugehörige hermeneutische Denken seine gehaltliche Substanz allerdings nicht, wie Hegel suggeriert, der „Allmacht der Reflexion" verdankt (vgl. hierzu Cadamer: Wahrheit und Methode. 324 ff), sondern dem geschichtlich-existentiellen Engagement des verstehenden Menschen, d. h. aber im Sinne unseres vorliegenden Versuchs: der Vermittlung des Bewußtseins durch materielle Praxis. Damit ist aber die „dialektische Überlegenheit der Reflexionsphilosophie" nicht durchaus als „formaler Schein" (Cadamer: Wahrheit und Methode. 327) entlarvt, sie bleibt vielmehr der Garant immer erneut möglicher und notwendiger Entdogmatisierung der im praktischen Engagement erarbeiteten substantiellen Weltdeutung. Vgl. A. Gehlen; Urmensch und Spätkultur. 104.

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zugleich in der Unterschlagung des subjektiven Moments der Praxis und nicht in der angeblichen Verwechslung von Realismus und Materialismus besteht m. E. der philosophisch interessante, der in seinen praktischen Folgen sich selbst entlarvende Irrtum des „Materialismus" im orthodoxen Marxismus.^® Es scheint mir eben nicht ungefährlich zu sein, die Hegelsche Forderung, die dialektische Reflexion solle der Sache nicht äußerlich bleiben, wie eine abstrakt-wissenschaftliche Methode, soweit zu treiben, daß man vergißt, daß der endliche Mensch auch bei der innigsten Versenkimg in die Sache seine Deutung zugleich am Punkt formalster Abstraktion festmachen muß; einfach deshalb, weil für ihn niemals in der Situation Form imd Inhalt der Welt, allgemeine und konkrete Orientierung, wirklich zusammenfallen können. Hegel selbst konnte durch seinen großartig-gewaltsamen Real-Idealismus, durch seine spekulative Identifizierung der Dialektik des Begriffs mit der Bewegung der Sache selbst, unser Problem verdecken. Für ihn ist — auf dem Standpunkt des absoluten Wissens — „das an und für sich Seiende gewußter Begriff, der Begriff als solcher aber das An-und-für-sich-Seiende"‘^. Nur von hier aus versteht man vollständig, daß nach Hegel die absolute Reflexion sich der Bewegung des Gegenstandes selbst ausliefert, daß in seiner Logik „weder von der Reflexion des Bewußtseins, noch von der bestimmteren Reflexion des Verstandes, die das Besondere und Allgemeine zu ihren Bestimmxmgen hat, sondern von der Reflexion überhaupt die Rede" ist‘®. In dem Augenblick, wo man den spekulativen Standpunkt des absoluten Wissens aufgibt, und statt dessen die Dialektik aus der endlichen Situation versteht, liest sich Hegels Rede von der Reflexion als dem „In-sichgehen des Seins" als Vorwegnahme der materialistischen Spiegelungstheorie LENINS. In der Tat stellt LENINS Theorie der Spiegelung des materiellen Seinsprozesses im Bewußtsein, die nach seinen Worten „ein Moment des Relativismus, der Negation, des Skeptizismus" einschließt die zugleich materialistische und situationsbezogene Reduktion der Hegelschen Lehre von der absoluten Reflexion dar. Als materialistische Reduktion des metaphysischen Objektivismus des Hegelschen „An-imd-für-sich-seins" berücksichtigt LENINS Theorie aber gerade nicht, daß in dem Augenblick, ” In diesem Sinne scheint mir Habermas (s. Anm. 10) mit Recht die Aktualität des jungen Marx herausgestellt zu haben. Hegel: Sämtlidie Werke. Hrsg. v. H. Glöckner. Bd 4. 45. Ebd. 499. *• Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Berlin 1960. 121.

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WO man den spekulativen Standpunkt des absoluten Wissens aufgibt, das Moment der abstrakten Bewußtseinsreflexion aus seiner totalen Vermittlung mit der Sache wieder freiwerden und als selbständiges Regulativ der Erkenntnis hervortreten muß. Dergestalt vermag LENINS materialistische Dialektik das Moment des historischen Relativismus, das sie einzuschließen vorgibt, gerade nicht kritisch zu begründen. Da die Erkenntnistheorie des „Diamat" den jederzeit möglichen, formalen Überstieg des „allgemeingültigen Bewußtseins überhaupt" über die perspektivische Selbstauslegung der Sache (in der geschichtlichen) Situation nicht als selbständige Gegeninstanz zur Materie anerkennt, vermag sie der Dogmatisierung ihrer Geschichtsphilosophie keinen philosophischen Widerstand entgegenzusetzen. Am deutlichsten zeigt sich das darin, daß das berühmte Axiom der Parteilichkeit bzw. der Vermittlung der Theorie durch Praxis als Prinzip der marxistischen Geschichtsdeutung seine erkenntnistheoretische Funktion verliert: Diese scheint mir doch darin zu bestehen, daß der Zirkel zwischen der Ermöglichung der Geschichtsdeutung durch. Parteiergreifung und der Herleitung der Parteiergreifung aus der Geschichtsdeutung als legitimer Ausdruck der dialektischen Grundsituation des Menschen anerkannt wird, d. h. aber: daß der Zirkel offen bleibt und jederzeit erneuert werden muß. Indem nun im Marxismus der Standpunkt des Proletariats als des Trägers der notwendigen Weltrevolution zum obligatorischen Inhalt der Parteiergreifung wird, verliert das Prinzip der Parteilichkeit seinen philosophisch revolutionären Sinn. Es wird für jeden Unbefangenen zur verblüffenden und unzumutbaren petitio principii. Darin eben bekundet sich, daß die objektive Dogmatik der Zukunft im Marxismus den subjektiven Faktor der Praxis, durch den einmal die Theorie selbst nach dem genialen Ansatz des jungen MARX sich vermitteln sollte, verschlungen hat. Mit dieser Kritik des orthodoxen Marxismus habe ich bereits systematisch vorwegnehmend die erkenntnisanthropologische Beziehung zwischen Reflexion und Praxis in der Grundlegung einer Dialektik der Situation angedeutet. Wird nämlich anerkannt, daß auch eine substantielle Deutung der Welt als geschichtlicher Situation sich stets über die Bewußtseinsreflexion, und darin auch über die jederzeit für jedermann mögliche letzte und höchste Stufe noologischer Reflexion, vermitteln muß, so kann auch umgekehrt anerkannt werden, daß das reflexive Bewußtsein des Menschen nur in dem Maße Inhalt gewinnt, als es sich über leibhafte Praxis, über materiellen Kontakt des Menschen mit der Welt vermittelt. Was unter Vermittlung des Bewußtseins durch Praxis zu verstehen sei, haben wir im folgenden genauer zu klären. Wir können auch hier wieder

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vom Ursprung der Dialektik im Dialog, anders gesagt; von der Sprache als dem wirklichen Medium der Weltauslegung ausgehen. Bereits in der Sprache nämlich — der „unmittelbaren Wirklichkeit des Gedankens", wie MARX übereinstimmend mit Hegel definiert^’ — vollzieht sich nicht nur das Bewußtwerden der praktischen Weltbegegnung des Menschen; in der Sprache vollzieht sich auch — auf höchster und sublimster Stufe — eine Vermittlung des Bewußtseins durch den leibhaftpraktischen Eingriff des Menschen in die Welt. Zwar ist es richtig, wie GEHLEN gezeigt hat, daß Sprache „Entlastung" vom unmittelbar praktischen Weltkontakt bedeutet. Nur deshalb kann sich die Systematik des Geistes in der Sprache konstruktiv auswirken und in der Grammatik eine Vorstufe der Logik und Ontologie ausbilden. Das hindert aber nicht, daß auch in der so geistnahen Sprache noch eine eigene, spezifische Vermittlung des Bewußtseins durch leibhafte Praxis stattfindet. Nur dadurch ist die geschichtliche Konkretheit der verschiedenen Sprachen, d. h. aber die gewohnheitsmäßige Bestimmtheit unserer Weltsinnerschließung und ihrer Tradition verständlich; nur dadurch ist die Sprache „das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein"^®, wie es, wiederum in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Hegel bei MARX heißt. Wenn es daher richtig ist, daß unser Denken hinsichtlich der Bestimmtheit des Sinns auf die Sprache angewiesen ist, ja daß es der Sprache und nicht der „sinnlichen Gewißheit"*“ seinen unmittelbaren Sinngehalt entnimmt, so ist damit bereits zugestanden, daß die Dialektik als substantielle Artikulation des Denkens immer schon durch leibhafte Praxis vermittelt ist. Das bedeutet aber unter anderem, daß die Dialektik nicht der Zauberkraft einer jederzeit möglichen Reflexion qua Negation, sondern erst dem Vorblick auf die positive Alternative des Sprachsinns den Gehalt und die „Kraft des Negativen" qua „Antithesis" verdankt. Hinzu kommt aber ein weiteres, das in der Auseinandersetzung mit der Idee einer philosophischen Hermeneutik bereits angedeutet wurde: Die Marx und Engels; Die deutsche Ideologie. Berlin 1953. 473. — Vgl. dazu Hegel; Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg lg52. 420 f: Die Sprache „ist das für Andere seiende Selbstbewußtsein, welches unmittelbar als solches vorhanden und als dieses allgemeines ist. Sie ist das sich von sich selbst abtrennende Selbst, das als reines Ich = Ich sich gegenständlich wird, in dieser Gegenständlichkeit sich ebenso als dieses Selbst erhält, wie es unmittelbar mit den Andern zusammenfließt und ihr Selbstbewußtsein ist." Marx und Engels; Die deutsche Ideologie. Vgl. hierzu J. Derbolav; Hegel und die Sprache. In: Sprache — Schlüssel zur Welt. Festschrift für L. Weisgerber. Düsseldorf 1959. 74, Anm. 20.

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Sprache des Dialogs und damit der Dialektik ist nicht nur als solche schon praktische Leibvermittlung des Gedankens; sie muß auch — trotz ihrer Entlastungsfunktion — stets durch die Verhaltenspraxis einer menschlichen Gesellschaftsgruppe vermittelt sein. Es ist zwar nicht möglich, wie der materialistische Behaviorismus es will, den Sprachsinn auf Verhaltenspraxis zu reduzieren. Gleichwohl ist die Verständigung an die Vermittlung des Sprachsinnes durch ein im Kontext der Lebenspraxis funktionierendes „Sprachspiel" gebunden, wie WITTGENSTEIN unwiderleglich gezeigt hat. Der Streit zwischen operativer und eidetischer Bedeutungstheorie läßt sich wohl selbst nur dialektisch schlichten; Menschliche Praxis, sofern sie nicht instinktgeleitet ist, muß durch eidetisches Aufleuchten von Sinn im Bewußtsein vermittelt sein. Umgekehrt aber läßt sich kein sprachlicher Sinn rein phänomenologisch-eidetisch zur Bewußtseinsevidenz bringen. Soviel hier auch der Phänomenologe an eidetischer Evidenz dem bloßen Sprachusus, ja dem Gerede, zu entreißen vermag, letztlich bleibt die „Bedeutung", die er rein intuitiv zu denken bestrebt ist, ihrer kontingenten und eidetisch dunklen Konstitution in einer gesellschaftlich bewährten Verhaltenspraxis, der Sprachverwendung, verhaftet. Ganz ohne Verlaß auf das „so sagt man es" könnte kein Philosoph auch nur einen Satz zustande bringen. Und andererseits muß man Ch. S. PEIRCE zugeben, daß die Verständigung unter Philosophen in dem Maße problematisch wird, in dem die praktische Tragweite der mitgeteilten Gedanken nicht erprobt werden kann. Hierin liegt aber nun als letzte Konsequenz, daß mit der Sprache auch die Dialektik durch das materiell-praktische Weltengagement der Menschen, in Arbeit, Liebe, Spiel und Kampf, vermittelt ist. Im Begriff des praktischen Engagement liegt ferner, daß jede dialektische Sinndeutung auch stets eine Stellungnahme zur Welt im Hinblick auf zukünftige Praxis enthält. Dieser praktische Zukunftsbezug gibt der alle positive Bedeutung transzendierenden Reflexion, welche die sprachliche Weltartikulation weitertreibt, Richtung und Grenzen. Nicht schon die bloße Allmacht der Reflexion als solcher, sondern erst der Umstand, daß in der dialektischen Weltauslegung die Stellungnahme des Menschen, der praktisch eine Situation zu entscheiden hat, impliziert ist, scheint mir eine Rechtfertigung dafür herzugeben, daß sich für Hegel die Heterothesis, das bloße „Anderssein" theoretisch aufweisbarer Dinge, zur Antithesis, zur Alternative einer Konfliktsituation zuspitzt. Es ist dabei m. E. prinzipiell gleichgültig, ob die antithetische Struktur als sogenannte „Realrepugnanz", wie N. HARTMANN wilF®, in den Dingen Vgl. hierzu auch H. Wein: Realdialektik. München 1957.

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selbst zur Entfaltxmg kommt oder ob der Mensch bewußt eine Daseinssituation im Hinblick auf mögliche Praxis altemativisch entfaltet. Denn in beiden Fällen kommt die dialektische Struktur als Struktur einer sprachlichen Auslegimg der Welt als Situation zustande. Im Falle der subjektivpraktisch bezogenen Dialektik meiner oder unserer Situation setzt diese doch mein leibhaftes Darinstehen in der Natur, unsere materielle Zugehörigkeit zur Wirklichkeit, voraus. Im Falle der scheinbar subjektunabhängigen Realrepugnanz der Dinge aber kommt die Auslegung des Realgeschehens als dialektischer Prozeß prinzipiell nicht ohne die gleichsam teilnehmende Reflexion des Menschen zustande, der auf die Welt praktisch, antithetisch oder synthetisch, zu reagieren hat. Tatsächlich läßt sich auch zwischen beiden Fällen ein Übergang denken; und eben dieser tlbergung zwischen sogenannter objektiver Dialektik der Verhältnisse, die doch vom Menschen in die Zukunft hinein fortzusetzen sind, und subjektiver Dialektik der menschlichen Möglichkeiten, die doch in den objektiven Verhältnissen ihre Bedingungen haben, — eben dieser Übergang vollzieht sich in unserem Geschichtsverständnis, ja sogar im Verständnis der Welt als Geschichte gemäß der Formel des jungen MARX von der „Humanisierung der Natur", die zugleich „Naturalisierung des Mensdien" ist. In der Tat ist die objektive Dialektik der Welt, in die der Mensch sich selbst als Fortsetzung der Welt mithineindenkt, nur ein Grenzfall der Vermittlung xmseres Weltbewußtseins durch leibhaftpraktisches Weltengagement. Der polar entgegengesetzte Grenzfall wäre eine subjektive Dialektik der Existenz, etwa die chronische Reflexion des Möglichkeitsmenschen bei MUSIL, sofern sie gerade noch die „Befindlichkeit inmitten des Seienden" bzw. die Geworfenheit in die geschichtliche Situation berücksichtigt. — Wesentlich für ein erkenntnisanthropologisches Verständnis der Dialektik als philosophischer Logik der Situation scheint mir nur, daß man die Spannung ihrer beiden Grundelemente; die Wechselbezogenheit von Reflexion und praktisch-materiellem Weltengagement überhaupt im Griff behält. Darin scheint mir das Ungedachte in den frühesten Formeln des jungen MARX ZU bestehen: der von HOMMES nur in verzerrter Form geahnte Ansatz der Dialektik zwischen Hegels objektiver Dogmatik der Welt als vergangener Geschichte und MxRxens objektiver Dogmatik der Zukunft.

ERNST BLOCH (TÜBINGEN)

HEGEL UND DIE ANAMNESIS 1. Jedes Jetzt läuft ins Nachher, bevor es versinkt. Auch der sogenannte seelische Strom fließt als solcher nach vorwärts, nicht zurück. Das Erinnern kommt erst später, dann, wenn im doppelten Sinn etwas zurückgelegt wurde. Im Sinn, etwas hinter sich gebracht, und dem, ein nicht mehr so Flüchtiges angesammelt zu haben. Jugend hat ohnehin weniger Vergangenheit hinter sich gebracht, angesammelt, ist normalerweise besonders primär mit Kommendem und seinem Antritt beschäftigt. Ebenso halten es gesellschaftlich frische Zeiten, im Fortschritt ihrer aufsteigenden Klasse. Wobei die Kraft des Erinnems, gar die Lust, lernend hinter den Vorhang des Gewesenen zu blicken, durchaus zimehmen kann, dem Blick nach vorwärts dienend. Anders aber, wenn zwar nicht Alterndes schlechthin, wohl aber Sinkendes und sogar Beharrendes ungern die Bucht imd das Hinterland verlassen. Gewordenes soll dann nochmals vergangen gemacht, stillgelegt werden; hiimehmend wird es betrachtet, nicht verjüngt. Der Gedanke, sagt Hegel, kommt dazu ohnehin allemal zu spät; sobald er erscheine, sei eine Gestalt des Lebens alt geworden. Vorher und während sie lebe, könne er gar nicht erscheinen, es sei denn in dem weichen Element des bloßen Meinens, wohin sich jedes Beliebige einbilden läßt. Dieser Art legt Hegel, seinen Worten nach, wieder still, was er doch ebenso, immer wieder, in Flüssigkeit versetzen will. Im Leben steht zwar die Jugend am Anfang, in der Geschichte aber soll das Alte dort stehen, nämlich als das Lange-Her; und das desto sicherer, je länger es her ist mit seinem Lange-Her. So wird hier erinnert wie nach einem fertigen Lauf, und das wäre der Läufer ganz aus ihm heraus. 2. Aber wieviel im gleichen Denken widerspricht dem wieder, macht Brüche kenntlich. Der Maibaum, um den Hegel als Student getcmzt haben soll, stand sehr neu neben dem ehrwürdigen Stift. Worte wie „Ruck", „Stoß", „Kruste", „Rinde", Wechselbegriffe wie „Schranke" (aus Anprallen und Überschreiten zugleich) sind bei Hegel stets vorhanden; fast jeder

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Widerspruch meldet sich als „Vorbote". Der immanent erwachsende Widerspruch vernichtet das, „worüber der Geist hinaus ist", einschließlich Hegels Frieden, den er mit dem Vorhandenen macht; wie hätte es sonst eine Hegelsche Linke und ihre Folge gegeben? Die Dialektik versteigt, vielmehr plebejiziert sich aus dem mehr allgemeinen „Puls der Lebendigkeit" sogar zum „Maulwurf sous terre", Krusten aufwühlend, genau diese. Nicht weit davon zu Herzens „Algebra der Revolution", wie bekannt, gemäß einer Kritik der Erscheinungen in ihnen selber, die sich von keinem Hergekommenen, anamnetisch, imponieren läßt. Gewiß: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, ist eine Gestalt des Lebens alt geworden" — aber malt Hegel wirklich Grau in Grau, und sind alle Gestalten, die er der Betrachtung post festum weihen will, wirklich abgestanden? Genau in seiner liebsten Vergangenheit, der griechischen, sieht Hegel am Eingang und Ausgang zwei wenig grau gewordene Jünglingsgestalten: Achilles und Alexander; und das Es-war-einmal ist dann weniger erinnernd als beschwörend. Und die Französische Revolution erschien ihm noch 1828 „Ein herrlicher Sonnenaufgang", ein gewesener durchaus, doch in der Sprache des Post festum ricochettierte immer noch das Fest. Gleich einem geworfenen Stein, der nicht untertaucht, sondern quer durch die Oberfläche des Wassers springt, unruhig, weil nicht nur Hegel, sondern die Sache selber mit sich nicht fertig wurde, nicht abdankt, untertaucht in der Gewordenheit. Der Hegel jener Vernunft, die laut restaurierendem Auftrag ihren Frieden mit der vorhandenen Wirklichkeit zu machen hatte, sagt zwar nicht in seiner Rechtsphilosophie, wohl aber in seiner Philosophiegeschichte diesen so wenig beruhigenden, so wenig statisch apologetischen Satz: „Eine gute Antwort ist die, welche Diogenes einem Tyrannen gab, der ihn fragt, aus welchem Erz man Statuen gießen müsse; er antwortete: ,Aus dem Erz, woraus die Statuen des Harmodius und Aristogiton gegossen wurden'."' Diese beiden Tyrannenmörder wurden zuverlässig nicht nur aus der klatsch- und anekdotenfreudigen Kompilation des LAERTIUS zitiert (worin sie Vorkommen), sondern aus einer Erinnerung, der ein Vorgriff, gewissermaßen ein Element parteiischer Ketzergeschichte nicht zu fehlen scheint. Einige Baccalaurei der Hegelschen Linken hatten aber dem Meister zum Vorwurf gemacht, vielmehr ein Zeichen seiner durchgängigen Re-gression daran notiert, daß er in der Philosophiegeschichte so ungebührlich lange brauche, bis er zur Neuzeit komme. Dergestalt, daß die antike Philosophie bis in den dritten Band '

Hegel: Werke. Bd 14. Berlin 1833. 168.

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hineinreicht, die neuere dagegen sich mit der Hälfte dieses dritten zu begnügen hatte; was zweifellos kein Zufall, sondern ebenfalls ein Symptom sei. Es ist freilich eines, doch keines der Regression auch hier, sondern des Zeitmangels gegen Ende des Kollegs und darüber hinaus der Liebe zu den Alten, hier größtenteils als den Jungen. Und trennt sich Hegel ungern von PLATON, SO auch von SPINOZA, SO auch von dem ganzen Flußsystem, dessen Ende gerade ihm reicher ist, überall, als was ihm an den Quellen seiner Wiege gesimgen wurde. Sagt also diese Art von Hegel nicht unüberhörbar, genau contra BAADERS, SCHELLINGS Regressionen aufs „Unvordenkliche" und den überlasteten Anfang daraus, den bei ihnen vor Ur-Metaphysik tobenden; „Den Anfang macht das, was an sich ist, das Unmittelbare, Abstrakte, Allgemeine, was noch nicht fortgeschritten ist"? Sagt Hegel nicht still und kalt: „Das Konkretere, Reichere ist das Spätere; das Erste ist das Ärmste an Bestimmungen"? Und weiter mit dem Akzent des Fortgangs, der Mündung nach allem Quellgrund, kurz des Resultats: „Zugleich ergibt sich, daß das, was den Anfang macht, indem es das darin noch Unentwickelte, Inhaltslose ist, im Anfcmge noch nicht wahrhaft erkannt wird, und dciß erst die Wissenschaft, und zwar in ihrer ganzen Entwicklung, seine vollendete, inhaltsvoll und erst wahrhaft begründete Erkenntnis ist."® Der „Grund" wird also erst durch Fortgang aus ihm zur „Begründung"; an sich selber scheint er gerade der Erinnerung verschlossen und ist hier am wenigsten ihr „Urlicht". Von da aus gesehen wäre also selbst ein „Vorwärtsgehen als Rückgang in den Grund", als dessen „Reflexion", mehr radikal, das heißt Wurzel hebend, als regressiv. 3. So weit, so gut, aber der Zug zum weit Dahinten ist trotzdem stärker. Hegel liebte halbwegs den schwäbischen Bauemsatz: etwas sei schon so lange her, daß es gar nicht mehr wahr sei, doch ebenso, weit mehr warf sich dem hernach die Ehre des Alten entgegen. Nicht nur als die des bloßen Herkommens, sondern als eine des hinzukommenden Erinnems, Gedenkens seiner, woran schon selber so etwas ist, wie es „im Buche steht", nämlich Faßliches, Gefaßtes, scheinbar Ausgetragenes. Sein Denker sucht dann den Rang, kein gegenwärtiger Mensch mehr zu sein, sein Gedachtes sucht das Entronnene: vergraben zu sein, aus der prekären Zeit heraus zu sein wie ein Schatz. Als der junge Dozent Hegel seinen Jenenser Studenten bei einem Ausflug und einer Einkehr in ein nahrhaftes Wirtshaus allegorisch zurief: es müsse alles verzehrt werden, war • Werke. Bd 3. Berlin 1833. 65 f.

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damit nicht nur der breite enzyklopädische Appetit gemeint, sondern eben auch das Hinter-sich-bringen von allem kraft eines einlagernden Gedankens. Dieser übergibt nun alle Geschehnisse ihrem Gedenken und findet sich selber retrospizierend wieder, mit nicht mehr als geschehend fortlaufender, sondern als gewesen ausgeschütteter Geschichte. Derart steht am Ende der Phänomenologie sogar das Ziel des Ganzen als dieser Rückblick, ja als die Mnemosyne selber da, die gespeist worden ist. Wonach also das Ziel nichts mehr ist als Wissen des Gewußten; „Das Ziel, das absolute Wissen oder der sich als Geist wissende Geist, hat zu seinem Weg der Er-innerung der Geiter, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen."® Hegel will zwar bei dieser Erinnerung mit einer Gedächtnis weise, die bloß eine Vorstellung reproduziert, nichts gemein haben. Er bringt vielmehr einen kleinen Trennungsstrich in die Er-innerung, und so wird sie eben, mit aufgehobener Entäußerung, das „absolute Wissen" und sonst nichts. Oder wie Hegel philosophiehistorisch sagt, bei Behandlung der Platonischen Anamnesis; „In dem einen Sinne ist Erinnerung ein ungeschickter Ausdruck; und zwar in dem, daß man eine Vorstellung reproduziere, die man zu einer anderen Zeit schon gehabt hat. Aber Erinnerung hat auch einen anderen Sinn, den die Etymologie gibt, — den: Sich-innerlichmachen, Insichgehen; dies ist der tiefe Gedankensinn des Worts . . . Bei PLATON hat jedoch, wie nicht zu leugnen ist, der Ausdruck der Erinnerung häufig den empirischen, ersten Sinn."^ Indes das Gemeinsame mit dem abgelehnten Erinnern reproduzierter Art ist doch das Reduktive; bei Hegel des Betrachtens, bei PLATON des Schauens der Erkenntnisinhalte. Das Hegelsche Erkenntnissubjekt, das sich „jeder Dreinrede in den gediegen fortwaltenden Gang der Sache zu enthalten hat" (des „fortwaltenden" gewiß, doch eines solchen, das seinen Lohn ebenso längst dahin hat, hält derart überwiegend nur Pantheon-Wache über Gewesenem. So berechtigt sich also auch Hegel gegen die bloß reproduktionspsychologische Entspannung seiner Erinnerung wehrt, so wenig ist sie doch als ein Insichgehen aus dem Tieferen einer Platonischen Anamnesis von Gewesenem heraus. Und daß Hegel an dieser Stelle so aufgebracht gegen das Reproduzieren von Gewesenem, als einem in Vorstellungen, vorgeht: dies Aufgebrachte bedeutet gerade, daß der Dialektiker des „Wahren, an dem kein Glied nicht trunken ist", der Platonischen Anamnesis, als der totalen Reproduktion, trotzdem näher steht, als dem seit ARISTOTELES und LEIBNIZ herrlichsten System der Ent» *

Werke. Bd 2. Berlin 1832. 611 f. Werke. Bd 14. 204.

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Wicklung lieb ist. Im Anschluß ein Menon 81 B — 82 A gibt Hegels Philosophiegeschichte den Platonismus der Wiedererinnerung folgendermaßen wieder: „Er behauptet daselbst in Ansehung des Lernens überhaupt, daß eigentlich nichts gelernt werden könne, sondern das Lernen vielmehr die Erinnerung dessen sei, was wir schon besitzen, wissen; — eine Erinnerung, zu welcher nur die Verlegenheit, in welche das Bewußtsein gebracht werde, die Erregung (Ursache) sei."® Im Phaidros hatte PLATON den mythischen Grund (oder auch nur die mythische Einkleidung) dieser total retrospektiven Erkenntnislehre weiter und glänzender ausgeführt. Danach hat die Seele vor ihrer Geburt, als Reigengenossin der Götter, die vorzeitlichen Ideen geschaut, und die Wahrnehmung ähnlicher körperlicher Erscheinungen (selber an diesen Ideen wie Schatten teilnehmend) ruft die Erinnerung an jene im Erdenleben vergessenen Urbilder zurück. Dies Mythische lehnt Hegel als philosophisches Vehikel ab, wohl aber schließt er folgende, recht zustimmende, ja selbstbetroffene Exegese an die Rückkehrbewegung im Menon an: „Es ist dies der Begriff des wahrhaft Allgemeinen in seiner Bewegung; das Allgemeine, die Gattung ist an ihr selbst ihr eigenes Werden. Sie ist dies, zu dem für sich zu werden, was sie an sich selbst ist; das, was sie wird, ist sie schon vorher. Sie ist der Anfcmg ihrer Bewegung, worin sie nicht aus ihr heraustritt. Der Geist ist die absolute Gattung; es ist nichts für ihn, was er nicht an sich selbst ist. Seine Bewegung ist die beständige Rückkehr in sich selbst ... Er (PLATON) stellt aber jenes Ansichsein des Geistes in der Zeit vor: das Wahrhafte muß also schon zu einer anderen Zeit für uns gewesen sein."* Hegels Selbstbetroffenheit ist an dieser Stelle klar, mit verwandter Passivität in der Beschauung der „Rückkehr des Geistes in sich selbst". Mit verwandter Erinnerung oder auch, zuguterletzt, Er-innerung jenes abgeschlossenen Ideenreichs vor der Zeit, das bei Hegel nun komplettes Logikreich vor der Welt heißt. Also bekxmdet Hegel auch folgende eigene Anamnesis expressis verbis, nach gehabter Logik: „Das Interesse der übrigen Wissenschaften ist dann nur, die logischen Formen in den Gestalten der Natur und des Geistes zu erkennen. Gestalten, die nur eine besondere Ausdrucksweise der Formen des reinen Denkens sind."^ Ein Hauptunterschied zu PLATON ist allerdings dieser, daß bei allem Rückgang ins Ansich „vor Erschaffimg der Welt", samt dem logisch Urhaften des „Grundes", des „Wesens", bei Hegel keine Suprematie des » Ebd. 203. • Ebd. 203, 205. ’ Enzyklopädie der philosophisdien Wissensdiaften im Grundrisse. § 24 Zus. 2.

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Ansichseins stattfindet. PLATON ließ das Werden wie die Erscheinung Schein sein, und das Besondere gibt bestenfalls „Beispiele" für jenes selbstgegenwärtig Allgemeine, an dem das Besondere der Erscheinung lediglich teilnimmt. Hegel dagegen pointiert gerade Werden und Erscheinung, weil ohne diese das Absolute — mit nichts als Anamnesis seiner bloßen Vorwelt — „das leblose Einsame" wäre; er sieht das Allgemeine nur als eines des Besonderen, er perhorreszierte bereits das Wort „Beispiel" und setzte statt dessen den Begriff der Konkretion, Manifestation. Das selbst im Außersichsein der Natur, wie sehr erst im Fürsichwerden des menschlichen Geistes: „Die Wahrheit ist konkret." Demgemäß ist die Wahrheit bei Hegel nicht nur, wie bei PLATON, unwerdend, unvergänglich vor der Zeit, sondern die Wahrheit, obzwar nur das Ansichsein zum Anundfürsichsein manifestierend, konkretisierend, ist Resultat. Das Wesen kommt hier, statt die Erscheinung mit ihrem leeren Raum nur als Schatten zu haben, eben einzig in der Erscheinung zur Erscheinung, auch für sich selbst. Das also gibt der Hegelschen Art Anamnesis des Ansich ante rem einen Weltgang (reificatio) in ungeheurer Bereicherung hinzu. Indes: Auch wenn der Anfang, wie bemerkt, bei Hegel nicht das Reichste, sondern das Ärmste sein soll, ja der „Himmel", der topos uranios der Platonischen Ideen bei Hegel zum vorweltlichen „Hades" der logischen Begriffe ergraut, so fehlt doch auch hier ein Platonismus der Anamnesis nirgends; er setzte sich nur, lange vor Hegel, doch ebenso bei ihm selber, als kosmische Anamnesis fort, durch den Neuplatonismus der Emanation. Damit also wird das sich Entwickelnde des Unterwegs ganz an sein Vorher zurückverwiesen. Dergestalt, daß nicht nur die Erkenntnis, sondern die fleischwerdenden Gestalten selber sich des Anfangs erinnern. Neuplatonisch kamen die „Ausflüsse" von der Gottheit in die Welt; dies Ausströmen, Herabsteigen vom Urlicht und die Rückbewegung der Menschen, auch Dinge zu ihm, es hängt sowohl mit der von oben her mitgegebenen Anamnesis zusammen wie mit dem, was Hegel am Ende seiner Logik, gleichfalls recht von oben herab, das „Sichentlassen der Idee in die Natur" nennt. Das Prinzip der Emanation kulminiert bei PLOTIN, bei ihm findet sich auch die von Hegels Logik wörtlich übernommene Funktionalisierung der Platonischen Ideen zu den „Gedanken Gottes", als „Wahrheit, wie sie ohne Hülle ist". Aber vor allem findet sich auch die Rückwendung vom Gefallenen zum Urlicht, und PROKLOS, der letzte große Neuplatoniker, gab sogar als erster die Zyklus-Triade der Hegelschen Dialektik, eben die Anamnesis als kosmisdi. Mone, Proodos, Epistrophe, Beharrung, Herausweg, Rückkehr heißt die emanatistisch-resultierende Trias bei PROKLOS;

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ein Modell zu Thesis-Antithesis-Synthesis, auf das Hegel selber philosophiehistorisch hinweist. Also ist zuguterletzt auch die angegebene Differenz bei Hegel: mit dem Kriterium eines erscheinend-prozeßhaften Resultats statt vorweltlicher Vollendung bei PLATON — nur relativ haltbar. Ja, der Unterschied zwischen Emanation abwärts und Evolution hinauf konnte wenige Jahre nach PLATON sogar eine Streitsache innerhalb der Platonischen Schule selber sein; so wenig sprengt dieses Resultat das Ritornell. Hat doch, wie nicht ohne Avancierfreude ARISTOTELES berichtet®, bereits der Neffe PLATONS, SPEUSIPPOS, die Auffassung vertreten, daß das Gute nur das Endprodukt, nicht die Anfangshöhe der Entwicklung sei. Das zum Unterschied von dem späteren Akademiehaupt XENOKRATES, der genuiner platonisch die Perfektion des Anfangs festhielt und das daraus erinnernd oder emanierend Abgeleitete stets matter oder schlechter nach unten laufen ließ, um nur aus der bedürftigen Schwäche dieses Unten und nicht, wie bei SPEUSIPPOS und Hegel, aus dem Omega eines reichen Resultats zum Anfang zurückzufließen. Ein Platonischer Familienstreit, läßt sich hier wohl sagen, in Ansehung von Urlicht oder Resultat; beide jedoch sind sich bis zu Hegel durch den Kreisbogen der Anamnesis verbunden. Gesteigert sogar in Hegels „Kreis von Kreisen", als den er den dialektischen Fortgang mit einem letzthinnigen Schlangenbogen beschreibt. Mit einem der Rekapitulation, ob auch auf höherer Stufe, mit einem der Ewigkeit des Immerwieder und nicht der Neuschöpfung, nicht des Chronos, der seine eigenen Kinder frißt, weil sie der noch nie gewesenen Grundgestalt, an der er zur Ruhe kommen könnte, nicht genügen. Also steckt weiterhin auch der Hegelsche Prozeß des Resultats im Ring der Anamnesis wie in einem Bann. Alles ist hier voll des Neuen, doch an jedem Ende, vor allem am Zyklusende überhaupt soll das Neueste in Hegels riesiger Durchbruchsphilosophie, trotz ihrer, immer wieder wie das Älteste gewesen sein, von vorgewaltet, vorgeordnet fertigem Anfang. Das hindert auch das Entwicklungssystem, ein offenes der Entwicklung zu bleiben, es ist gebeugt unter das Erste, wenn auch Unentwickelte, Unausgegossene, nach dem es angetreten. Die Restitutio in integrum holt die Expedition in novum mit dem Seil der Episthrophe zurück. 4. Und doch ist das alles aus Neuem, aus Immer-wieder stets gemischt. Bei Hegel steht nichts bloß nebeneinander, mit starrem Sinn, hier ein Sprung, dort ein Palast der Wiederholungen. Daß sehr oft weniger FortMetaphysik. XII, 7; XIV, 4.

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schritt als Absage an die Zukunft geschieht, liegt auf der Hand. Daß die Zeit bei Hegel nicht nur das „angeschaute Werden" ist, sondern ebenso ein Leitfaden in der Anschauung eines anundfürsich Erledigten, liegt gleichfalls auf der Hand, sozusagen im Frieden von Hegels Hand. Das Werden ist danach nichts als die pädagogische Entwicklung eines fertigen Lehrsatzes an der Tafel vor dem lernenden Subjekt. Ja, alle Zeitmodi: Jetzt, sogar Vergangenheit und wie sehr erst Zukunft sind demgemäß „nur in der subjektiven Vorstellung, in der Erinnerung und in der Furcht oder Hoffnung"®. Doch mit voller aufeinander reflektierter Kraft des Gegenteils (Hegel übt ja gerade Kritik an KANT, weil er Zeit und Raum zu nur „subjektiven Formen" der Anschautmg machen wollte) ist die Zeit ebenso objektiv „die Form der Unruhe, des in sich selbst Negativen, des Nacheinanderseins, des Entstehens und Verschwindens, so daß das Zeitliche ist, indem es nicht ist, und nicht ist, indem es ist"*®; so indes, daß letzthin doch nichts Neues unter der Sonne geschieht, unter der selber stillstehenden Sonne des in Urwort und Arche ewig wiederholten Weltgeists. Die Dialektik rebelliert, ja randaliert wie nichts sonst auf der Welt, doch ihr Kreis aus Kreisläufen schafft alles Vermehrende der Weltgestaltung wieder in die vorgezeigten Arsenale jenes alten, uralten Ansich, das zwar das Ärmste an Bestimmungen, aber das Entschiedenste, Vor-Entschiedenste an Gehcdt sein mag. So durchdringen sich eben die Gegensinne des Vermehrenden und der einbannenden Anamnesis ewiger Ruhe. Durchdringen sich in stets rebellisch apologetischer Mischung und freilich unaufgelöst, unauflösbar, mit gespaltener Zunge des Weltgeists, verführend hier, beschwichtigend dort. „Nichts Großes ist ohne Leidenschaft vollbracht worden", doch gleich dahinter — und darin soll die absolute Windstille der erinnerten Substanz sein, die so vor- wie außerhistorische: „Erkennt mcm die Substanz, so muß man durch die Oberfläche hindurchsehen . . . An der Oberfläche balgen sich die Leidenschaften herum; das ist nicht die Wirklichkeit der Substanz."** Daß diese Durchdringung nicht zum üblichen Einheits-Schema, der Gegensätze in Hegelscher Dialektik gehört, ist ersichtlich. Die Durchdringung mischt nur den Grund-Widerspruch selber, sofern sie einen offenbaren Hiatus zwischen Drängen, Ringen und ewig in sich kreisender Ruhe ebenso als Ineinander sich darbieten läßt. Die Durchdringung entfernt sich von Dialektik, indem aus der ewigen Ruhe des Unberuhigten, der eines Novum “ Enzyklopädie. § 259. »» Werke. Bd 7, Abt. 2. Berlin 1845. 322. “ Werke. Bd 14. 275.

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ihrer weder fähigen noch bedürftigen Ruhe ein Prozeß überhaupt nicht mehr gesehen werden kann. Es hat dann seinen Lohn (das „Resultat") nicht nur in ewiger Gewesenheit, Ge-Wesenheit dahin, sondern setzt auch seine Bewegimg imd Bewegungsgestalten lediglich als solche im ohnehin Urvorhandenen. Wonach der Prozeß letzthin aus der Erscheinimg (dem „vervollständigten Schein", dem „Wesen in seiner Existenz") wieder in lauter Schein (ins „Unwesentliche des Wesens") zurücksinkt. Die Mischung aus Prozeß und Anamnesis ewiger Ruhe reproduzierte so allerletzt — aus lauter Ge-wesenheit, Ge-Wesenheit — gar noch einen Platonismus der Anti-Erscheinung, des Anti-Prozesses selber; das wider Hegels eigentliche Abrede. Dabei ist gewiß, daß ein Vorwärts und immer nur Vorwärts hier nicht minder bedenklich wäre. Der auch rückschlagen könnende Lauf macht nicht nur das Bisher des Herkommens kenntlich, sondern die erinnerten Schultern, die gerade tragen, was höher seigt. Weiter: ein immer nur in Zukünftiges stürzender Fluß wäre treulos, fruchtlos an jedem Punkt; ein Anhalten jeweils ist nötig, damit aus dem immer nur schäumenden Fluß genau auch die relativ entschlossene Gestalt steige. Und allerletzt gar, umfunktioniert: selbst die rückschlagende Anamnesis hatte zu Zeiten, wenn sie nicht nur eine statische, vorzeitlich-zeitlose Urstatue sein wollte oder mußte, jenes Gedenken und Anhalten im mölichen Sinn, das hinter das nur fortstürzende Fließen des Flusses gerade in dessen lebendig Erfließendes, Gestaltendes selber einkehrte. Dies Gedenken ist bei Hegel doch auch dasjenige des „Grundes", der alles begonnen, xmd läßt ihn nicht aus dem in seine Tiefe zurückkehrenden Blick. Als einem jenes „Entsinnens", das man in eigener Art ein transzendentales nennen könnte, wenn es bei Hegel nicht so sehr am Kantischen Apriori als an jenem uranfänglichen Grund-Entsinnen-Wollen orientiert wäre, das ihn auch noch für Jakob BöHME, und genau für ihn, empfindlich machte. „Vorwärts gehen als Rückgang in den Grund", dies Retournierende, wenn es ein ebenso gegenwärtiges ist, wenn es also in seinem schlagenden Erinnern von der unablässig währenden Aktualität dieses „Grundes" nicht dispensiert, sieht demgemäß auch anders als nur regredierend aus. Nämlich, es sieht unaufhörlich und unausläßlich drein; weshalb dann Hegels Logik mit einer Rückführung ohne Wiedererinnerung, auch beileibe keinem kontemplativen und entronnenen Ton, geradezu sagen konnte: „Der Fortgang von dem, was den Anfang macht, ist nur als eine weitere Bestimmung zu betrachten, so daß das Anfangende allem Folgenden zu Grunde liegen bleibt und nicht daraus verschwindet. So

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ist der Anfang der Philosophie die in allen folgenden Entwicklungen gegenwärtige und sich erhaltende Grundlage, das seinen weiteren Bestimmungen durchaus immanent Bleibende."^- Ein Satz ist das, so wenig aus dem bebenden Aktual-Boden des Prozesses sich zurück- und herausprozessierend, als wolle er bereits sagen: Die Arche selber ist am wenigsten archaisch, sie ist allemal noch jetzt und hier, rmerledigt, X und Weltknoten gerade in immanentester Immanenz. Indes nun wieder, genau an diesem Punkt, meldet sich doch ebenso wieder das ganz Andere, die bedeckende und bannende Fülle der nicht umfunktionierten, der alten statuarischen Anamnesis. Sehr zum Unterschied von der kostbaren Armut des Nah-Bedenkens, Kern-Bedenkens: als jenes Ursprung-Gedenkens, das gerade betroffen ist, weil es noch nichts Substantielles in diesem Subsistierenden trifft, antrifft. Kurz, der echte Anfang steht eher dem Nicht nahe, das es nicht bei sich aushält, als dem Inhalt seiner, den es noch gar nicht gibt, imd um dessen Fehlen willen ja gerade der Prozeß des Suchens angeht, des Rollens der Begebenheiten, des Experiments der Gestalten. Hegels Anfang jedoch heißt eben nicht nur „das Ärmste an Bestimmungen", sondern erfüllt bereits sein Ansich selber, wenn auch Hades oder Schattenreich genannt, mit einer ganzen Prozession keineswegs unentwickelter Kategorien; und da diese gar noch die „Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt" heißen, so ist nun doch wieder das Bild des kreisenden Götterwagen-Korsos nicht ferne, den PLATONS Phaidros als das Leben des göttlichen Wesens ante rem, extra mundum für seine Anamnesis entwickelt hat. Dergestalt können ja auch die Kategorien der Hegelschen Logik in der Religionsphilosophie, dann in der Philosophiegeschichte wiederkehren, wenigstens dem Programm nach. So voll bereits weist ihr Formalismus Inhalt auf, so wenig involviert hier doch das Gedenken des Anfangs jenes Ungelöste des Ursprungs, das Hegel an der letzangegebenen Stelle actualiter, in jedem Moment, quer unter dem Erscheinenden weiter „zu Grunde" liegen ließ. Sobald Spuren eines Omega in das noch wahrhaft Unentwickelte und Unmanifestierte dieses Alpha einschlagen, dann wird zwar auch solcher Blitz rückkehrend sein, doch nur im Sinn einer wachsenden Bewegungsumkehr zum Nächsten, das alles begonnen. Eines Rückgangs ins Problem des Agens, des noch durchaus unherausgebrachten, und nicht ins fertige Ge-Wesen eines Weltgeists, das von Ewigkeit zu Ewigkeit, auch noch im Amphitheater seiner Erscheinungen, sich zyklisiert. Werke. Bd 3. 65.

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5. Noch wo ein Meister irrt, ist er lehrreich. Hat dann Wichtigeres zu melden als die meisten Mittelmäßigen, wenn sie recht haben. Ist aber das Irrende durchgehört, durchverstanden, dann muß es als Warnung dienen. Auch diese kann von angemessener Höhe ausgehen, so gut wie das musterhafte Licht. Jedes Übergewicht des Rückblicks mahnt: es läßt sich auf nichts Vergangenes lehrreich zurückgreifen, das nicht selber, als an Ort und Stelle unerledigt, auf ein noch zur Rede Stehendens vorgreif t. Vor allem auch ist ein „konkretes Verhalten zum Jetzt", wie es der zeitgenössisch höchst interessierte Hegel doch ansetzt, mit der Eule der Minvera, als einer angeblich bloß betrachtenden, schwer möglich. Die Betrachtungsruhe kam zwar dem restaurativen Stillegungswillen ihrer Zeit sehr gut entgegen; insofern erfüllt das einen damals gerade sehr gegenwärtigen Auftrag, als den des Metternich-Regimes. Sonst aber fand die Front des Weltprozesses, die eben doch Gegenwart heißt, ganz vom am Prozeß, mit history in action, keinen Platz mehr im System. Betrachtung allzu großer Anamnesis setzt das Jetzt, genau dieses, lehrreicherweise als eine Erhebung, die im Vergleich zur Rundung des ganzen Betrachtungsglobus nicht größer sein kann als ein Sandkorn. Und wie zum Jetzt, so verhält sich das Nichts-als-Anamnesis erst recht unkonkret zur Zukunft; nicht zuletzt auch zu den verdeckten Antizipationen in Hegels Wertbegriffen selber. Vollkommenheit, dann Totum und Wesen überhaupt, ja selbst Wirklichkeit, als „Einheit des Wesens und der Existenz oder des Inneren und des Äußeren": auch alle diese hochübersteigenden Füllebegriffe kommen per se ipsum in der so apriorischen wie pantheistischen Theodizee einer fertig vorliegenden Weltkugel nicht unter. So entziehen sie sich mehr als alles andere der Anamnesis eines Gegebenseins oder tiefer: des kategorialen Vor-Gegebenseins; Welt wie Vorwelt liefern von Vollkommenheit nichts, noch nichts Erinnerbares. Hier bleibt vielmehr ein Rest letzthinniger „Unangemessenheit an die Idee", an die „Wahrheit" selber, ein Rest, den Hegel nur durch dauernde Hinkonstruktionen der „Phänomene" auf ihren „Begriff", ihre „Idee" zu keinem macht. So kommt der Satz: „Der in seiner Realität gegenwärtig und mit derselben in Einheit gesetzte Begriff ist Idee", ja sie selber in der Welt ist „die Kongmenz des Begriffs und der Realität"^®. Jedoch gerade die wertgemäß höchstgeladenen „Ideen" haben am wenigsten bereits solche eingedeckte Mnemosyne ihrer, solch „in Einheit gesetzte" Inkarnation. Sie stehen empirisch bestenfalls im Schwange, sind bestenfalls im Noch-Nicht-Sein objektiv-realer MögWerke. Bd 5. Berlin 1834. 238.

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lichkeit fundiert, kurz, stehen noch in einem Gedenken, Eingedenken nach vorwärts. Derart ist Vollkommenheit, ist selbst das Totum, in seinem nicht nur jeweils ensemblehaft versammelten Sinn, ein Utopikum, und ganz eines ist das „Wesen überhaupt". Dies aber ist der Bann der Anamnesis allerletzt, im Überhaupt selber: daß bei Hegel, ja von THALES bis Hegel, Wesenheit eben nur als Ge-Wesenheit gedacht worden ist. Mit der kontemplativen Maßgabe zumeist, daß nicht nur die Wißbarkeit, sondern auch die Würde eines Gegenstandes mit der historischen Patina steige. Durch zeitliches Zurückliegen, durch Entfernung vom Jetzt und Hier wird der Gegenstand leichter kontemplierbar: von daher also die echt anamnetische Kurzsichtigkeit des überwiegenden Ge-Wesenheits-Wissens für die Gegenwart, von daher die Schwierigkeit, sich zu ihr konkret zu verhalten. Wonach weiterhin nur Vergangenheit, als stillgelegte, nicht Zukunft als Zeitmodus des Noch-Nicht-Seins, an Ewigkeit angrenzen soll. Das dialektisch prozessuale Licht, dessen Duktus und Vernunft bei Hegel gerade „das Hinausgehen über die Schranke ist", findet dergestalt den Scheffel der Anamnesis so dicht über sich, daß die Zukunft nun wirklich bloß „subjektive Vorstellung" zu bleiben hat und nichts Nennenswertes enthalten soll, das in der Phänomenologie nicht schon ihre „Galerie von Bildern", in der Logik nicht den Logos ante mundum fertig hinter sich hat. Ebenso hat das „absolute Wissen", der „sich als Geist wissende Geist", am Ende ja nichts weiter mehr zu sagen als das ewig repetierbare Wissen dessen, was ewig im Weltgeist zum Austrag kommt, indem es zum Austrag gekommen ist. Immer wieder mit jener Anamnesis, die gemäß ihrer fertig erinnerten Wahrheits-Archäologie vor Eintritt in die Welt auch noch den Weltprozeß selber auf Statik des Ganzen umadressiert. Was eben den Grundwiderspruch in Hegels System als nicht offenem, als seit je geschlossenem ausmacht und nur keiner wäre, wenn der Weltprozeß wirklich bereits — gewonnen wäre; quod autem non est demonstrandum. Und doch gehört noch ein sehr Wichtiges hierher, damit die Ruhe des Laufs mit einer anderen nicht verwechselt werde. Oben wurde gesagt, daß ohne ein relativ rückschlagendes Anhalten aus dem Fluß keine Gestalten kämen. Und wie mit diesem Unterwegs ist es mit einem Mündenkönnen überhaupt: Hegels Abschließen in Ge-Wesenheit ist verschieden von seiner guten Abneigung gegen dauerndes Prozessieren um seiner selbst willen. Gegen die „schlechte Unendlichkeit" (in der Zeit, statt im Raum), der auch eine Ankunft im wirklich Erfüllenden als Hochverrat am Plus ultra erschiene. So ist eine Formel der Vollkommenheit wie die Hegelsche: daß die Substanz ebenso das Subjekt sei, nur dann abkappend

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tmd statisch, wenn ihr Gehalt als vorhanden-seiend, als geworden-gelungen und parat dargestellt wird, statt als Utopikum. Dergleichen ZielBestinunungen lassen aber keinesfalls „Geschichte aufhören", „Prozeß zum Stillstand bringen", wenn sie gerade den Prozeß brauchen, ja ihn als gerichteten, schließlich richtbaren erst recht aktivieren, damit Zielsachen nicht mehr nur Utopikum bleiben. Solche Art Ziel-Tonika ist also nicht wie die ab initio statisch machende Anamnesis ein Deckel über dem Prozeßlicht, sondern gehört zum Prozeßlicht selber, als das so vorleuchtende wie zusammenhaltende Ultimum in ihm. Gewiß wird der subjektiven Intuition, der objektiven Tendenz durch den Ankunftsbegriff ein Ende dieser Intention und Tendenz impliziert, doch eben als ihre Erfüllung, nicht als ihre Abdankung. Der Prozeß ist das Leben von allem Unterwegs, die Dialektik, sagt Hegel, ist „die immanente Seele des Inhalts selbst"*^, doch diese Unruhe lebt hier mit Recht nicht um ihrer selbst willen, gleichsam als Part pour l'art eines ewig nur approximativen Strebens, Sollens, Postulierens. Genau der herauszuprozessierende Inhalt fundiert vielmehr, daß auch dem Prozeß keine schlechte Unendlichkeit seiner Unruhe eingeschrieben ist — nach Wegfall des Banns der Anamnesis. Ja indem genau das Noch-Nicht-Sein des Vollkommenen das Ungenügen, die Unruhe im Sein erst konstituiert, dergestalt daß jedes bisherige Arkadien, als bestenfalls nur partiales, weiter nach Utopien tendieren läßt, hat genau ein — so völlig ausstehendes — Ontos on der Vollkommenheit dem Prozeß seine wahre Zurückführung zu implizieren, eben die in den Kern des Prozesses einschlagende und derart Ruhe gebende. Nicht als seine Abdankung, wie in allen Reduktionen auf Gewesenheit, sondern als seine Mündung, nicht als Ende der Utopie, sondern — mit immerhin vor-scheinendem Grenzideal — als Sein wie Utopie. Die Sorge ist die geringste, daß dieses Schlußwesen, dies ohnehin nur in Utopien der Eschatologie ausgelegte, den Prozeß erledigte; so andringend und nahe herbeigekommen ist das unter Sein wie Utopie Gedachte mitnichten. Die Sorge ist umgekehrt größer, ob, wenn alles Sein wie Utopie stets nur auf historische Ebene aufzutragen ist und diese in endloser Perspektive des Prozesses verläuft, nicht jede Gegenwart leer ausgeht, auch nicht einmal den Trost eines ausschüttenden Endes der Zeiten hat, eines immerhin antizipierend erlebbaren. Das ist die Sorge der schlechten Unendlichkeit des Prozesses, und sie ist — nach Wegfall der Anamnesis-Religion, der Rückverbindung mit Ausgemachtem ante rem — bedeutend ernster als jede Überaktivitäts-Angst Werke. Bd 3. 7.

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um den gestoppten Prozeß. Selbst ein erreichbares, doch so weit entferntes Endziel, daß es für das jeweils lebende Individuum praktisch unendlich weit entfernt ist, zwänge ausschließlich, nur mit Erwartung und ohne alle Erinnerung zu leben. Weil es indes unmöglich ist, in bloßer, absolut perennierender, also schließlich sinnloser Erwartung zu leben, deshalb ist auch Heil, nicht nur Gestaltungslogik des Prozeßhaften darin, daß dessen Lauf eben imterwegs bereits Gestalten eines relativen Anhaltens sehen läßt, mithin von einem Omega des gewinnbaren Sinns gleichsam Proben aufs Exempel „inkarniert". Auch das freilich hat mit Abbruch des Prozesses nichts gemein und dankt den Prozeß, der doch dazu erst führte, nicht ab; konträr, gerade Gestalten sind ja als solche des Unterwegs einzig Tendenzfiguren, bestenfalls Lösungsfragmente. Genau das aber ohne Anamnesis archaischer oder historisch-stationierender Art; denn auch die Werk-Gestalten des Prozesses grenzen ihrem Wesen nach nicht an Rückkehr, sondern an Noch-Nicht, an noch nie so Gewesenes der Utopie. Auch Konkordanzen dieser Gestalten untereinander, in ihren variabelidentischen Proben aufs ausstehende Exempel, gehören dann nicht zu einem bloßen fahrbaren Palast der Wiederholungen, sondern zu dem noch experimentellen Wechselgruß der bloßen Vor-Scheine, obzwar immerhin Vor-Scheine einer möglichen Ankunft. Stets aber: Ruhe der Gelingbarkeit ist so wenig Gewesenheit der Anamnesis, daß auch Hegels geheimes Utopikum: Substanz sei ebenso Subjekt — weder in der Chonik noch in der Urchronik seiner passierten Welt bereits hängt. Eingedenken dieser Art war vielmehr nur notierbar, weil es gar kein Wiedererinnem braucht, um seine noch ungekommene Wahrheit und Wirklichkeit nicht zu vergessen.

BERNHARD LAKEBRINK (FREIBURG)

FREIHEIT UND NOTWENDIGKEIT IN HEGELS PHILOSOPHIE

In drei großen ineinandergreifenden „Kreisen oder Schlüssen"* vollbringt sich nach Hegel das Leben des Begriffs, und zwar in der Gestalt des Logischen, der Natur und des „Geistes als solchen". Jeder dieser Kreise, als in sich beschlossen, ist Anfang und Ende seiner selbst. Damit erweist er sich einmal in ausgezeichneter Weise als wesenhaft, d. h. „als die Bewegung, die sich als Fortgehen unmittelbar in ihr Selbst umwendet und nur so Selbstbewegung ist, — Bewegung, die aus sich kommt"^. Zum anderen aber geht diese Bewegung auch immerzu in sich selbst zurück. Sie ist nicht nur Ursache (aus sich), sondern auch Ziel. Freiheit ist also das Wesen des Logischen, sie ist Selbstbewegung und, weil das Ende immerzu der Anfang ist, teleologisch strukturiert. Daß der Kreis des Logischen auf diese Weise die Freiheit ist, sofern in ihm Anfang und Ende ineinander zirkeln, drückt Hegel also aus: „So ist denn auch die Logik in der absoluten Idee zu dieser einfachen Einheit zurückgegangen, welche ihr Anfang ist, die reine Unmittelbarkeit des Seins."® Oder anders: „Die höchste zugeschärfteste Spitze ist die reine Persönlichkeit (Idee), die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebenso alles in sich befaßt und hält, weil sie sich zum Freisten macht, — zur Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit (Sein) und Allgemeinheit ist."* Als diese absolute Freiheit des Sich-in-sich-selbst-Bewegens macht sich also die Idee gleichsam im Sinne des scholastischen „omne agen agit sibi simile" zu jenem „Freisten", d. h. Unbezogenen, Unvermittelten, das als Sein des Anfangs ist und aus dem dann die Idee wiederum in „kreisendem Geschehn" zu sich selbst zurückkehrt. So ist die Idee Ursache und Zweck ihrer selbst, oder der Begriff ist „das Wirkende seiner selbst"®, * Hegel; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hrsg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler. Hamburg 1959. § 571, 575 ff. * Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1951. Teil 2. 16. > Ebd. 504. * Ebd. 502. ® Enzyklopädie. § 163.

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ist „Causa sui"*. Das Leben des reinen Begriffs ist mithin die Freiheit selbst. „In dieser Freiheit findet daher kein Übergang statt; das einfache Sein, zu dem sich die Idee bestimmt, bleibt ihr vollkommen durchsichtig und ist der in seiner Bestimmung bei sich selbst bleibende Begriff."’’ Dieser Begriff als Selbstbewegung, der Anfang und Ende seiner selbst ist, hat seine Wirklichkeit in der Form von Wissenschaft. Der freie Logos ist als Logik. „Das Wesentliche für diese Wissenschaft ist nicht so sehr, daß ein rein Unmittelbares der Anfang sei, sondern daß das Ganze derselben ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste wird."® In dieser Weise ist die Logik „die eigene freie Existenz des Begriffs"“, das „Vernünftige in seiner Existenz", oder „als eine Ursache, welche Ursache ihrer selbst oder deren Wirkung unmittelbar die Ursache ist"’“. Als dieses „Wirkende seiner selbst"” ist der zur Idee befreite Begriff die „reine Persönlichkeit"’- und „atome Subjektivität"’®, die in kraft ihrer absoluten Negativität oder dialektischen Natur im „entschließenden Aufschluß"’^ über sich hinaus dringt in eine andere Sphäre, in den zweiten Kreis, in die Äußerlichkeit der Natur. Dieser Übergang aus Freiheit und Entschluß in das ganz Andere, in Raum und Zeit, ist also sehr wohl zu unterscheiden von der logischen Entwicklung innerhalb der Idee selbst, kraft deren sie sich vom Sein über das Wesen zur absoluten Freiheit ihrer selbst bestimmt. „Das Übergehen ist also hier vielmehr so zu fassen, daß die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend."’® Um die Freiheit dieses transzenderenden Aktes der Weltschöpfung noch mehr ins Licht zu rücken, fährt Hegel fort: „Um dieser Freiheit willen ist die Form ihrer Selbstbestimmtheit ebenso schlechthin frei: die absolut für sich selbst ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raumes und der Zeit."’® Die Unmittelbarkeit, die Subjektlosigkeit, die seiende Äußerlichkeit von Raum und Zeit werden somit als die Analoga der Freiheit begriffen. Wie in der Scholastik das Prinzip gilt: „Omne agens agit sibi simile", so auch hier. Die Freiheit als das Wesen * Ebd. § 153. ’ Wissenschaft Her Lo^ik. Teil 2. 505. » Ebd. Teil 1. 56. » Ebd. Teil 2. 383. "> Ebd. 391. ” Enzyklopädie. § 163. Wissenschaft der Logik. Teil 2. 502. " Ebd. 484. " Ebd. 275. Ebd. 505. Ebd. 505.

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der absoluten Idee zwingt diese gleidisam bei ihrer aufschließenden schöpferischen Ur-Teilung das Geschaffene und Bestimmte ebenfalls als „schlechthin frei" zu setzen. Auch die nur seienden Dinge, ja selbst noch die Äußerlichkeit von Raum und Zeit, verkünden in und durch ihre geistlose Äußerlichkeit, Selbständigkeit und Unmittelbarkeit die absolute Freiheit ihres Ausgangs. Mehr noch als der Raum ist die Zeit Symbol der Freiheit, da sie die geistfreie Äußerlichkeit des Räumlichen gleichsam verschärft und noch weiter entäußert. So ist die Zeit die sich ihrer selbst entäußemde Äußerlichkeit, die Negation des Negativen und als diese absolute Negativität so etwas wie das „reine Selbst"; allerdings ist dieses nur erst seiende reine Selbst bloß an sich, noch nicht für sich, nur äußerlich angeschaut oder — um Hegels Worte zu gebrauchen: „Die Zeit ist das äußere, angeschaute, vom Selbst nicht erfaßte reine Selbst."^’’ Die Natur oder der zweite Schluß ist nunmehr ebenfalls ein in-sich-kreisendes, Anfang und Ende ineinanderschließendes, d. h. freies Geschehen. Die Dreifaltigkeit des logischen Schlusses (Sein, Wesen, Begriff) wiederholt sich in der „Triplizität" von Mechanik, Physik und Organik, sofern die Idee ja nicht nur über der Natur, sondern auch in ihr wirksam ist. Die Natur hat ja „das Logische oder den Begriff zum inneren Bildner . . . wie sie es zum Vorbildner hatte"*®. Die Platonisch-Aristotelische Wesenslehre bleibt somit auch in der Hegelschen Freiheitskonzeption wirksam. Die Natur als der zweite Schluß ist wie der des Logischen in sich beschlossen, weil mit dem Tode des Organismus die Anfänglichkeit des Nur-Materiellen erneut frei wird. Zugleich aber überschreitet auch dieser zweite Schluß wie jener erste sich selbst. Denn der Tod des organischen Lebens ist nicht nur Rückkehr in den materiellen Anfang, sondern begrifflich „die für sich werdende Allgemeinheit der Idee"*“. Denn immerzu wurde in der abendländischen Metaphysik der Geist als das Im-Materielle, d. h. als die Negation und Überwindung des Stofflich-Natürlichen begriffen. So ist „der Tod dieses Lebens das Hervorgehen des Geistes"““. Der Tod wird mithin begriffen als die Auferstehung und dadurch das Freiwerden des Geistes zu sich selbst. Damit sind wir zu dem dritten Kreis aufgestiegen, der das Leben des „Geistes als solchen" darstellt. Auch dieses Geschehen verkündet den „inneren Bildner", bzw. die immanente Wirklichkeit der schöpferischen Idee, sofern auch es wiederum dreifältig strukturiert ist, d. h. vom subjektiven ’■ Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 558. Wissenschaft der Logik. Teil 2. 231. Ebd. 429. Ebd. 429.

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Geist in der Gestalt des sinnlichen Bewußtseins über den objektiven Geist zum absoluten Geist aufsteigt. Auch dieser Kreis vollbringt wie die zwei anderen in der Beschlossenheit seiner selbst sein freies Leben^ sofern auch hier das Ende in den Anfang zurückschwingt. „Denn der sich-selbst-wissende Geist [wie er sich am Schluß der Phänomenologie selbst erwirkt hat], eben darum, daß er seinen Begriff erfaßt, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschied die Gewißheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewußtsein, — der Anfang, von dem wir ausgegangen."^* Änlich wie innerhalb des Logischen die Reduktion der absoluten Idee zu dem Sein ihres Anfangs als freie Tat zu fassen ist, so auch hier. „Dieses Entlassen seiner [des Geistes] aus der Form seines Selbst [in die Anfänglichkeit des sinnlichen Bewußtsein] ist die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich."^^ Aber auch diese Freiheit ist nicht nur innerhalb ihrer souverän, indem sie sich zu immer neuem Anfang reduziert und selber setzt, sie ist wie jede der beiden vorangehenden „schlüssigen Freiheitsformen" sich selber transzendent. Denn auch dieser Kreis strebt über sich hinaus, sofern er in den ersten, d. h. in das Leben des Logos weiterschwingt. Der als Geist die Natur mit der Idee vermittelnde Befreiungsgang hat zum Ende seiner selbst seine Realität im absoluten Wissen, d. h. „in der Wissenschaft des Geisfes"®*. Diese Wissenschaft des Geistes erinnert — im Rückblick — in sich selbst hinein alle voraufgehenden Phasen ihrer freien Selbstentfaltung. In dieser Erinnerung oder Befreiung durch und zu sich selbst entfällt alle Äußerlichkeit und Zufälligkeit des Konkret-Geschichtlichen und IndividuellNatürlichen, so daß der höchste Begriff, das ist der Logos selbst, nunmehr in seiner Reinheit leuchtet und allein und ausschließlich sich selber weiß. „Der Entschluß der reinen Idee, sich als äußerliche Idee zu bestimmen [d. h. die Natur und den Geist als solchen zu erschaffen], setzt sich aber damit nur die Vermittlung, aus welcher sich der Begriff als frei, aus der Äußerlichkeit in sich gegangene Existenz emporhebt,in der Wissenschaft des Geistes (Phänomenologie!) seine Befreiung durch sich vollendet und den höchsten Begriff seiner selbst in der logischen Wissenschaft als dem sich begreifenden, reinen Begriffe findet."^^ Zusammenfassend können wir sagen, daß das Ganze des Geistes aus drei Schlüssen oder Kreisen besteht, in denen „die ewige, an-und-für-sichPhänomenologie. 562.

=2 Ebd. 562.

Wissenschaft der Logik. Teil 2. 52^

Ebd. 506.

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seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt"®*. In der Freiheit schwingt somit die Einfachheit eines freien Lebens,das aus sich selbst, zu sich und durch sich selbst wahrhaft das ist, was auch die Scholastik mit ARISTOTELES unter Leben verstand, nämlich „motio sui", das sich in der Freiheit zur „causa sui", d. i. zur sich selbst bewirkenden Geistiggeit verschärft. Die Herzmitte dieses freien Lebens, in der sich Natur und Geist immer wieder zusammenschließen, um immer wieder aus ihr hervorzubrechen, ist der Logos oder die Idee selbst, die als stetes Ende und immer wieder erneuerter Anfang wahrhaft Geist, absoluter Geist ist, denn „der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seiende, als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität"®®. Der Logos ist in dieser seiner schöpferischen Geistesfreiheit die causa efficiens, aber auch, wie wir sahen, die causa exemplaris (Vorbild) und die causa formalis (Inbild) wie auch die causa finalis alles natürlichen und geschichtlichen Weltgeschehens. Damit ist nun offenbar, daß die Idee oder das Logische der schöpferische Anfang und die freie Ursache der Welt („die ewige in sich seiende Identität") zugleich und ganz und gar aber auch das Ende und die Wirkung dessen ist, worin die Welt mitsamt ihrer Geschichte beständig vermittelt wird und untergeht. Die absolute Idee ist mithin Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, Unmittelbarkeit, aber nur als aufgehobene Vermittlung, in sich seiend, aber nur als „zurückkehrend und zurüdegekehrt"; sie ist Vater und Sohn oder ontologisch ausgedrückt, sie ist das An-und-Für-sich-Sein (das An-sich der Natur und des Seins, ebenso wie das Für-sich des Geistes und der Reflexion), aber als Gesetztsein. Es gibt hier nichts Ursprüngliches und Wirkliches, das sie nicht auf dem Umwege und durch die Vermittlung natürlichen und geschichtlichen Geschehens „handelnd durchgearbeitet" hätte. Es gibt in diesem absoluten Geiste nichts, das er nicht gemacht hätte. Das Produzierende ist hier ganz und gar Produkt, ist so als das gesetzte An-und-Für-sich, als die selbsterwirkte Wirklichkeit seiner selbst, als die absolute Freiheit, die das Wesen des Geistes selber ist. Mit diesem Prinzip, wonach das An-und-Für-sich-Sein das Gesetztsein und nur das Gesetztsein das An-und-Für-sich-Sein ist, halten wir die eigentliche Seinsweise des Begriffs, d. h. die der Freiheit in Händen. Dieses ontologische Gesetz durchherrscht den ganzen Umkreis des begrifflichen Lebens innerhalb und außerhalb seiner. Die immanente logische Entwicklung besteht darin, dieses Prinzip im Leben und in der freien Selbstbestimmung “ Enzyklopädie. § 577; ferner § 571 „Diese drei Schlüsse, die den Einen Schluß . .. ausmachen ..." 2« Ebd. § 554.

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des Logos immer mehr zur Klarheit und Manifestation seiner selbst zu bringen; aber auch das natürliche und geschichtliche Geschehen dieser Welt, ihr wissenschaftlicher und moralischer Progreß haben keinen anderen Sinn als dieses Prinzip in seiner Reinheit und Mächtigkeit zu manifestieren. Denn was besagt die Wissenschaft anderes „als ein subjektives Erkennen, dessen Zweck die Freiheit und es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen"^’. Es ist somit einsichtig, daß innerhalb der Logik die Freiheit erst dann zu sich selber kommt und frei wird, wenn der Begriff sein Leben nach diesem Prinzip gestaltet hat, „wonach das An-und-Fürsichsein das Gesetztsein und das Gesetztsein das An-und-Fürsichsein ist". Erst wenn sich dieses Prinzip innerhalb der Logik realisiert hat, ist in ihr selbst der Morgen der Freiheit angebrochen. Wie in der KANrischen Transzendentaldeduktion das Prinzip der „möglichen Erfahrung" fundamental und beherrschend ist, so verhält sich's in der Hegelschen Logik mit dem Widerspruch des An-und-Für-sichSeins, das als solches das Gesetztsein ist. Denn „der Begriff ist die absolute Einheit des Seins und der Reflexion, daß das An-und-Fürsichsein erst dadurch ist, daß es ebensosehr Reflexion oder Gesetztsein ist, und daß das Gesetztsein das An-und-Fürsichsein ist"^®. Mit der Freilegung dieses Prinzips ist innerhalb der Logik der Umkreis des Wesenhaften und Notwendigen verlassen. Am Ende der Wesenssphäre begegnet uns nämlich in der Gestalt von Ursache und Wirkung ihre obzwar noch verborgene, noch nicht gesetzte, noch verdunkelte Identität, sofern sie noch durch den Unterschied beider niedergehalten wird. Gewiß ist es die Ursache selbst, die sich als Wirkung setzt, aber der Unterschied von Ursache und Wirkung gibt ihre Identität noch nicht zu sich selber frei; sie ist noch nicht gesetzt oder manifestiert. In der Wechselwirkung dagegen ist die Wirkung oder das Gesetztsein aber zugleich Ursache oder An-und-Für-sich-Sein. Ebenso ist die anfängliche Ursache nunmehr zugleich Gesetztsein oder Wirkung. Jede Seite ist die andere. Ja noch mehr: Diese Identität beider Seiten ist zugleich die Identität von Ursache und Wirkung überhaupt, wonach das An-und-Für-sich-Sein das Gesetztsein ist. So manifestiert sich die Identität, und Hegel kann sagen, daß in dieser Identität der Wechselwirkung die noch verborgene Identität, d. h. die Notwendigkeit im Verhältnis von Ursache und Wirkung ans Licht gebracht ist. Als diese manifestierte Identität aber ist die Freiheit. Ebd. § 576. “ Wissensdiaft der Logik. Teil 2. 214, 218 f., 222, 237, 260, 262, 269, 275, 352, 483, 487, 490, 505.

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„Die Substantialität [die Eigenständigkeit] der im Verhältnis stehenden Seiten verliert sich und die Notwendigkeit enthüllt sich. Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur ihre noch innere Identität manifestiert wird."^* Diese manifestierte, ans Licht gebrachte, erwirkte, gesetzte Identität, wonach die Ursache ganz und gar die Wirkxmg, der Anfang durch und durch das Ende (als das vollbrachte Ende aber auch der Zweck), die Substanz das Subjekt, das Notwendige das Freie, onotologisch: das An-und-Für-SichSein das Gesetztsein ist, diese höchst komplizierte, an innerer Vermittlimg überreiche Identität ist das eigentliche Grundgesetz begrifflichen Lebens. Das ganze folgende begriffliche Entwicklungsgeschehen wird zu einer einzigen Variation dieses Gnmdthemas, das da lautet: „Die Freiheit ist die Wahrheit der Notwendigkeit.Oder anders: „Die Sphäre der Notwendigkeit ist die höchste Spitze des Seins und der Reflexion [des An-und-Fürsich-Seins]; sie geht an-und-für-sich selbst in die Freiheit des Begriffes, die innere Identität geht in ihre Manifestation, die der Begriff als Begriff ist, über."®* Dieser „Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit oder vom Wirklichen in den Begriff ist der härteste, weil die selbständige Wirklichkeit gedacht werden soll, als in dem Übergehen und der Identität mit der ihr anderen selbständigen Wirklichkeit [der Wirkung] allein ihre Substantialität zu haben; so ist auch der Begriff das Härteste, weil er selbst eben diese Identität ist."®® Die Freiheit oder das Denken selbst ist das Sinnziel aller dinglichen Wirklichkeit, das sich als das „Vollkommenere aus diesem Unvollkommeneren"®® entwickelt. Die dingliche Wirklichkeit hat in der Reflexion von Causalität und Wechselwirkung ihre höchstmögliche Vollendung erreicht. In der Wechselwirkung ist die Identität von Ursache und Wirkung, von Anund-Für-sich-Sein einerseits und Gesetztsein andererseits erwirkt und manifestiert worden. Diese aus der Unvollkommenheit der Causalität und der Wechselwirkung hervorgegangene, gesetzte Identität, wonach das An-und-Für-sichSein sein eigenes Gesetztsein ist, eben das ist das „Denken" oder das „Freie" oder das „Vollkommene", das „Ich", die „Liebe" oder die Seligkeit"®®. Ebd. 204. "" Ebd. 216/229. Ebd. 477; Enzyklopädie. Enzyklopädie. § 159. Ebd. § 159. Ebd. § 159.

§

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In der Wechselwirkung sinkt nämlich alle Vermittlung mit ihrem Hin und Her von Ursache zur Wirkung und umgekehrt in der Identität beider zusammen. Diese „Reflexion-in-sich" oder diese Vermittlung ist aber zugleich „Aufheben der Vermittlung", d. h. das Entstehen eines neuen Unmittelbaren, des Seins, des Wirklichen. An dieser Dialektik hängt das ganze Verständnis, des für die Hegelsche Logik so überaus wichtigen Übergangs vom Wesen zum Begriff. Um es nochmals zu sagen: Die sich in der Wechselwirkung ereignende Identifizierung oder Reflexion-in-sich ist als „Aufheben der Vermittlung" das erneute „Voraussetzen des Unmittelbaren" oder des Seins. Diese „Identität", der zufolge das „Voraussetzen [von Sein und Gegenstand!] . .. mit der Rückkehr in sich identisch ist", sie ist es, welche „die Freiheit und den Begriff ausmacht"**. Auf unvollkommene Weise ist dieses freie Leben des Begriffs schon im causalen Naturgeschehen und seiner Gesetzlichkeit vorgebildet. Aber leider ist hier noch „die Ursache, die in ihrem Für-sich-Sein nichts in sich eindringen lassen will . . . der Notwendigkeit oder dem Schicksal in das Gesetztsein überzugehen, unterworfen, und diese Unterwerfung ist .. . das Härteste"®*. Es bedeutet ein unverzeihliches Mißverständnis, eine totale Unkenntnis der Hegelschen Ontologie, wenn ihre materialistischen Interpreten, wie Friedrich ENGELS etwa, immer wieder sagen, daß nach Hegel das wahrhafte Denken, bzw. „die Einsicht in die Notwendigkeit"®^ so etwas sei, wie eine willenlose Unterwerfung unter jene Härte der Notwendigkeit, unter der die Dinge seufzen. Die denkende Einsicht in die Notwendigkeit besagt nach Hegel genau das Gegenteil dessen, was ENGELS meint: nicht Unterwerfung, als vielmehr die Überwindung aller Naturgesetzlichkeit; keinesfalls besagt diese Einsicht in die Naturgesetze so etwas wie ein passives Sich-Erschließen unseres Bewußtseins, so daß es ganz und gar von der Notwendigkeit der Dinge durchwaltet würde. Das „Denken der Notwendigkeit" ist vielmehr die „Auflösung jener Härte [von Notwendigkeit und Gesetz!]; denn es ist das Zusammengehen seiner [des Denkens!] im Andern mit sich selbst, die Befreiung, welche ... in dem anderen Wirklichen, mit dem das Wirkliche durch die Macht der Notwendigkeit zusammengebunden ist sich — nicht als anderes, sondern — sein eigenes Sein und Setzen Ebd. § 159. ®* Ebd. § lSg. „Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit." In: F. Engels: Anti-Dühring. Berlin 1955. 138.

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zu haben. Als für sich existierend heißt diese Befreiung Ich, . . . freier Geist, . . . Liebe, . . . Seligkeit"®®. Das will besagen: ontologisch, d. h. im Entwicklxmgsgange des Begriffs aus dem Sein über das Wesen zu sich selbst als Idee — hat er in der Wechselwirkung sich in die Identität mit sich hineinreflektiert. In dieser Identität steckt ein Doppeltes: einmal das Aufheben aller Vermittlrmg, also das Setzen und Erbringen von Unmittelbarem, von Sein, von Gegenstand und Welt, kurzum „Voraussetzen des Unmittelbaren". Zum anderen steckt in jener Identität aber auch Rückgang, Reflexionin-sich, Denken überhaupt. Somit sind Denken und das vorausgesetzte Sein zu innigster Identität verbunden. Das Denken hat somit in jenem vorausgesetzten Sein „sein eigenes Sein und Setzen", nicht wie die Ursache, die mit ihrer Wirkung immer noch als einer anderen Wirklichkeit gekoppelt ist, also nur durch Notwendigkeit als einer abgeschwächten Identität „zusammengebunden ist". Das Denken ist in seinem Anderen ganz im Gegensatz zur Ursache dank jener Identität, die in der Wechselwirkung herangereift und gesetzt ist, nicht nur versteckt, sondern offen und in aller Ausdrücklichkeit bei sich selbst, und als dieses qualifizierte Bei-sich-selbst-Sein ist das Denken die Freiheit. Die Ursache ist in ihrer Wirkung zwar auch irgendwie bei sich, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß und so intensiv vermittelt wie das Denken, das sich in seinem Gegenstände selbst besitzt. Im Ursache-Wirkung-Verhältnis wird die Identität noch vom Unterschied überdeckt. Als diese noch verborgene oder als diese Identität-an-sich ist die Notwendigkeit, die als enthüllte und gesetzte Identität die Freiheit ist. Im Anderen sich und seine Innerlichkeit wiederzufinden, das ist Denken. Zwar ist auch diese Freiheit als Denken noch nicht die letzte Etappe auf dem Wege des Begriffs zu sich selbst. Im sittlichen Verhalten oder im Wollen des Guten wird sie sich noch machtvoller realisieren. Aber wie dem auch sei, im Unterschied zu allem causalen Dinggeschehen und seiner Notwendigkeit, in Fremdes überzugehen, mit anderer Wirklichkeit gekoppelt zu sein, dieser Härte ist das Denken im vollen Wortsinn entsprungen, d. h. es ist als das Vollkommenere so aus jener Unvollkommenheit hervorgegangen, daß es sich zugleich von ihr befreit hat. Das Denken oder der Begriff ist das zugrunde gegangene Wesen mitsamt seiner Causalität vmd Wechselwirkung. In beiden vollbrachte sich das Für-sich-Sein oder Ineinanderscheinen der Dinge, die als Substanz und ” Enzyklopädie. § 159.

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Akzidenz, als Ursache und Wirkung mit- und füreinander in Notwendigkeit „zusamengebunden" waren. Zugleich aber kommt audi das An-sich-Sein, ihr Unterschied imd somit ihre jeweilige, selbständige Unmittelbarkeit, kurz das im Wesen aufgehobene (gewesene) Sein, aus dem das Wesen ja herkommt, immer noch zu seinem Recht. Die Wesenssphäre in ihrer Vollendung durch die Wechselwirkung ist somit das Ineins von An-sich und Für-sich oder das An-und-Fürsich-Sein, aber über die Notwendigkeit, die ihre große Stunde in Form von Causalität hatte, mittels der Wechselwirkung nun so weit hinausentwickelt, daß jenes An-und-Für-sich ausdrücklich als Gesetztsein ist. Diese Identität von An-und-Für-sich und Gesetztsein ist zunächst in der Gestalt des „Denkens", des „Ich" oder des „Freien", sie wird sich weiter entwickeln bis zur absoluten Idee, wo das Gesetztsein nicht einmal mehr als gedachter Gegenstand, sondern unüberbietbar sie selbst, d. h. als Wissenschaft ist. Dieses Maximum an Freiheit vermag sich darum nicht mehr zu steigern. Hier ist sie absolut. Damit ist jene anfängliche, daher noch unmittelbare Identität von Ansich und Gesetztsein, die aus der Wechselwirkung resultiert, weiterhin entfaltet, mit sich selbst vermittelt und gesetzt, bis hin zu jenem „Ende", wo sie in dieser Freiheit ihres Selbstseins sich zur Natur entschließt. Dieser absolute Höhepunkt freiheitlicher Entwicklung nimmt seinen Anfang in dem Augenblick, wo sich das Wesen in der Wechselwirkung zumBegriff,d. h.zur Freiheit hinüberwandelt. „Im Begriff hat sich somit das Reich der Freiheit eröffnet. Er is das ,¥reie', weil die an-und-fürsichseiende Identität, welche die Notwendigkeit der Substanz ausmacht, zugleich als aufgehoben oder Gesetztsein ist."^* Dieses Gesetz der Freiheit bestimmt alle weitere Entfaltung oder Selbstbestimmung des Begriffs. Mit diesem Gesetz ist aller Spinozismus, alles bloße An-und-Für-sich-Sein von Substanz und Ursache überwunden. Indem sich die Substanz selber setzt, ihr eigenes Gesetztsein ist. wandelt sie sich zum Subjekt. Die Notwendigkeit causalen Geschehens wird überführt in die Freiheit des Tuns. Man kann das auch so sagen: Die Ursache ist jetzt ihre eigene Wirkung, der Anfang (das Sein) ist das Ende, sofern die durch Aufhebung aller Vermittlung wieder zustandegekommene Unmittelbarkeit das Sein des Anfangs ist. Religiös gesprochen: Der Vater ist nicht abstrakt für sich, wie in der jüdischen Religion, er ist zugleich auch der Sohn. Alles was sich so innerhalb des Logischen ereignet, wiederholt sich auch außerhalb seiner, d. h. im Verhältnis des Logischen zu Natur und mensch“ Wissensdiaft der Logik. Teil 2. 219.

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lichem Geist, die beide als die Inkarnationen des Logos zu begreifen sind.'"’ Wir sahen, wie sich das philosophische System Hegels als ein „Kreis von Kreisen"^* darstellt, deren jeder in sich selbst beschlossen, sich selber in den anderen aufschließt, wie er auch aus einem anderen herkommt. Es handelt sich mithin um ein einziges sich in sich vollbringendes Geschehen, das aus sich herkommt und stets zu sich zurück ist. Jeder der Kreise hat „sein Vor und sein Nach"*'^. Um uns hierbei auf das Logische zu beschränken, so schließt es sich auf, indem es sich in Freiheit zur Natur entschließt. Die Natur geht in den „Geist als solchen"^® (Phänomenologie) über, der dann wieder das absolute Wissen als das Logische zu seinem Resultate hat. Das Logische ist somit als An-und-Für-sich-Sein vor aller Natur und Geistigkeit, es ist das Reich des Vaters, wie er „vor oder außer Erschaffung der Welt"^* ist. Der Logos inkarniert sich nun in die Natur und den menschlichen Geist, so daß „die ewige Idee Gottes (nunmehr) im Elemente des Bewußtseins und Vorstellens, oder (als) die Differenz, das Reich des Sohnes" erscheint^®. Als diese Differenz und Ur-Teilung kehrt die Idee aber zu sich selbst zurück, um so als Rückkehr oder als existentieller Geist zu sein, der wiederum das ursprünglich Logische des Anfangs ist, aber nunmehr zugleich als sein eigenes Resultat gesetzt. So hat er sich in dieser Rückkehr aus Natur und Geschichte handelnd durchgearbeitet und sich selbst zu dem gemacht, was er immer schon war. Es kommt somit in diesem absoluten Prozeß der Selbstbestimmung und des Sich-selber-Setzens „nichts Neues hervor. Das Hervorgebrachte ist schon von Anfang."““ „Das Letzte ist das Erste.Diese Einheit freien Lebens ist in der Dreifaltigkeit ihrer Kreise jene „teleologische Tätigkeit", von der man sagen kann, „daß in ihr das Ende der Anfang, die Folge der Grund, die Wirkung die Ursache sei, daß sie ein Werden des Gewordenen sei, daß in ihr nur das schon Existierende in die Existenz komme"^^. In dieser göttlichen Prozessualität schrumpft sicherlich jene ephemere Episode von „Herrschaft und Knechtschaft" zum winzigen Moment zusammen, so daß es einfach sinnlos ist. Enzyklopädie. § 569; ferner Hegel: Werke. Hrsg. v. H. Glöckner. Bd 16. 247 ff. 3

Op. cit. 510. Op. cit. 486. Op. cit. 505, 523—524. — Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 154. Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts. 510. — Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 146, § 257 (remarque). •3 Op. cit. § 147. — Enzyklopädie. § 514. 3® Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts. 510—511. 3’ Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 156. " Op. cit. § 155. ■** Op. cit. § 147. — Enzyklopädie. § 514.

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reflechie que d'une habitude inconsciente. L'intervention de la reflexion impliquer ait dejä une mefiance latente, le commencement d'une rupture entre l'individu et la societe. L'Etat est reconnu comme la forme legitime de la vie en commun des hommes parce que chacun est heureux et satisfait de se soumettre aux obligations prescrites par la collectivite. Bien entendu, c'est la morale substantielle dans son etat irreflechi et inconscient (la tradition acceptee en tant que tradition). II y manque encore l'approbation consciente de la morale sociale dont Hegel fera le caractere essentiel de l'Etat mo-

deme^^.

A la fin de l'article sur le droit naturel, Hegel loue MONTESQUIEU de n'avoir pas deduit abstraitement l'Etat de notions comme le contrat ou l'etat de nature et d'avoir montre que chaque Etat possedait une individualite propre^®. MONTESQUIEU a eu le merite, selon Hegel, d'etablir que les lois ne sont pas entierement determinees par la raison, mais dependent de circonstances contingentes comme le climat, l'education, la religion et le commerce. L'esprit des lois de MONTESQUIEU est identique ä l'esprit du peuple de Hegel. Tous deux considerent la Constitution d'un pays comme le resultat du caractere national d'un peuple et de son interaction avec la Situation geographique. Pour Hegel, la grande decouverte de MONTESQUIEU consiste ä avoir montre que l'Etat n'est pas fonde sur un contrat de droit prive mais depend du caractere particulier de la nation'*^. Pour Hegel comme pour MONTESQUIEU, la morale est reelle seulement si eile domine la vie des individus, si son droit est reconnu par la collectivite et non si les individus servent de mesure absolue comme dans le moralisme de KANT et de FICHTE. A cöte de MONTESQUIEU, Hegel aurait pu citer le nom de BURKE et ranger celui-ci parmi les grands empiristes qui ont su s'elever ä une Vision organique de la totalite. Dans les Reflections et dans VAppeal from the new to the old whigs, BURKE s'appuie d'ailleurs sur l'autorite de MONTESQUIEU pour refuter les dogmes revolutionnaires des droits de l'homme et de la souverainete populaire. Alors que les cbefs de la Revolution prechent l'egalite abstraite entre les hommes, MONTESQUIEU, remarque BURKE, fait preuve de sagesse politique en montrant la necessite pour l'Etat de se diversifier en classes distinctes^®. II ne s'est pas laisse abuser par la simplicite defectueuse des Solutions speculatives et il a su demeler admirablement la complexite et les avantages de la Constitution britannique^*. "

*•

Grundlinien der Philosophie des Redits. § 257. Über die wissensdiaftlidien Behandlungsarten des Naturrechts. 531. Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 3, § 261 (remarques). Burke: Reflections. V, 332. Burke: Appeal. VI, 263.

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A la notion abstraite de la volonte generale BURKE substitue l'idee que le peuple est un produit de l'histoire. Selon lui, la doctrine de ROUSSEAU selon laquelle la volonte generale ou volonte du peuple est Tautorite supreme dans l'Etat est contradictoire et dangereuse. Elle conduit en effet ä opposer constamment la volonte du peuple ä celle du gouvemement. Or le peuple, en tant que Collection d'individus, en tant que „unconnected multitude", est incapable de controler l'action du gouvemement^’. C'est seulement lorsque ses pouvoirs sont fixes par la Constitution et qu'il est une Partie organique de l'Etat que le peuple peut prendre part aux affaires publiques*®. A la racine de la critique burkienne des droits de l'homme se trouve l'idee que le peuple ne possede aucune capacite politique en dehors d'une Constitution donnee. Autrement dit, le peuple ne peut exercer d'activites politiques que s'il est deja organise, s'il possede dejä un gouvernement. L'opposition d'une partie de la Constitution ä une autre, la Separation du peuple et du gouvemement, tend ä creer conflit et anardiie lä oü on devrait trouver collaboration et Harmonie. II est absurde de croire que le peuple puisse exister independamment de l'Etat dont il est plutot la Creation.

J'en viens maintenant ä la critique que Hegel fait de la doctrine morale et politique de ROUSSEAU. Cette critique est contenue dans le paragraphe 258 de la Philosophie du droit. Hegel commence par reconnaitre que ROUSSEAU a eu le merite d'avoir debarrasse la philosophie politique de l'empirisme, c'est-ä-dire de l'hypothese d'un instinct social et d'une autorite divine. Mais il lui reproche ensuite de s'etre contente d'une definition abstraite de l'Etat. ROUSSEAU a voulu reconcilier les volontes individuelles et la volonte generale au moyen de la notion de contrat social. Or, le contrat, selon Hegel, est une notion artificielle dans laquelle la volonte subjective l'emporte sur l'interet general pour la simple raison que le contrat ne vaut que pour ceux qui reconnaissent expressement sa validite. Que deviennent ceux qui refusent de respecter les termes du contrat? Hegel pense qu'il est absurde de transposer la notion du contrat, qui appartient au domaine du droit prive, sur le plan de l'universalite humaine qui est celui de l'Etat. Car l'Etat n'est pas une association privee dont les membres seraient libres de sortir quand bon leur semble. Les rapports qui lient l'individu ä la collectivite ne peuvent pas dependre du caprice et de la fantaisie, mais doivent etre regles par une loi objective de valeur universelle. Burke: Works. VII, 271—272. V, 336; VI, 210—216; VII,

Op. cit.

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La Philosophie de ROUSSEAU, si on la realise, ne donne pas un Etat stähle et durable, mais le regne de l'arbitraire. La notion de contrat ne peut donner naissance ä un Etat structure, dont les parties sont unies organiquement ä l'ensemble, mais ne peut produire qu'un agregat informe d'activites privees. Ici Hegel fait allusion ä l'influence nefaste que la pensee politique de ROUSSEAU a exercee sur le deroulement de la Revolution franqaise. Je eite: „Arrivees au pouvoir, ces abstractions [de ROUSSEAU] ont eu les consequences suivantes. D'une part, elles ont ete la cause du plus prodigieux spectacle qu'on ait vu depuis qu'il existe une race humaine: recommencer apriori et par la pensee la Constitution d'un grand Etat en renversant toutes les institutions existantes et en pretendant fonder cette construction sur un Systeme soi-disant rationel. D'autre part, ces abstractions Sans substance ont engendre par leur tentative les evenements les plus horribles et les plus cruels."^’ Hegel pense qu'une philosophie raisonable de l'Etat ne peut conduire ä une Situation oü Ton detruit l'existant au nom d'un ideal abstrait qui n'existe que dans Timagination d'un seul individu. On peut critiquer un Etat, pense Hegel, mais on ne peut jamais arriver ä sa negation totale. En resume, l'attitude politique de Hegel est nettement antirevolutionnaire. Hegel a constate l'echec de la Revolution fran^aise et la succession fatale de terreur, de dictature et de defaite que le regard prophetique de BURKE avait su apercevoir des les debuts de la Revolution. La Revolution fran^aise appartient pour Hegel ä une epoque depassee. Dans l'Etat moderne, il n'y a aucune necessite ä repartir ä zero, car cela ne donnerait lieu qu'ä une „furie de la destruction"®“. Desormais, ce sont les reformes qui doivent prendre la place des revolutions. Hegel pense qu'il est possible d'eviter l'eventualite d'une revolution en limitant le pouvoir du monarque au strict minimum, au point de l'identifier au pouvoir presidentiel de certains regimes democratiques d'aujourd'hui®‘. Nous avons insiste jusqu'a present sur l'identite des vues politiques de BURKE et de Hegel. Nous aimerions indiquer pour terminer ce qui les separe. Alors que BURKE ne voit dans la Revolution fram;aise qu'une volonte de destruction, Hegel y discerne en outre un effort, encore imparfait, pour reconstruire la societe sur des bases nouvelles. Tandis que BURKE considere toute action revolutionnaire comme radicalement mauvaise. Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 258. Hegel; Phänomenologie des Geistes. Ed. Hoffmeister. 418. Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 279, § 280 et addition de Gans au § 280 (ed. Lassen). ■*’

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Hegel reconnait que, dans certains cas, celle-ci puisse presenter un caractere ineluctable. II convient maintenant de confronter leurs positions respectives non seulement ä l'egard de la Revolution fran9aise, mais aussi visa-vis de la revolution en general. BURKE attribue l'extremisme de la Revolution fran^aise ä une nouvelle forme de speculation, ä un doctrinarisme politique qui veut realiser un Programme dans l'abstrait sans se soucier des consequences. En Protestant contre l'intrusion de la theorie dans la politique, BURKE restaure l'idee 2incienne, surtout aristotelicienne, selon laquelle la theorie n'est pas un guide süffisant dans la pratique. La theorie qui s'interesse au premier chef ä l'universel et au permanent ne peut pas diriger valablement la pratique qui se rapporte au particulier et au changeant. Non seulement la theorie est incapable de guider la pratique; eile comporte meme une tendance ä Tinduire en erreur. Le souci du general tend ä creer une sorte de cecite visa-vis du particulier et de l'unique®^. A la demarche theorique des revolutionnaires fran9ais BURKE oppose la sagesse pratique ou la prudence*®. La prudence est la qualite essentielle de l'homme d'Etat. Alors que la speculation est libre d'innover sans tenir compte de l'experience et de l'histoire, la prudence doit suivre autant que possible les exemples, les precedents et la tradition. La philosophie politique est ä la recherche de principes qui transcendent l'ordre etabli; la prudence vise ä decouvrir la sagesse cachee qui git dans Tactualite. Elle cherche ä discerner un ordre rationnel dans les institutions qui nous ont ete leguees par nos ancetres. La prudence doit en outre articuler la connaissance qui nous vient de Texperience avec les exigences d'une Situation nouvelle. Elle doit adapter les principes generaux aux circonstances particulieres. Synthese de l'universel et du particulier, mais preoccupee surtout de l'insertion de la morale dans le reel, la prudence est la seule vertu qui permette ä l'homme d'Etat de prendre la bonne decision dans une Situation donnee. BURKE a eu le merite de rappeier l'importance de la prudence au moment oü le moralisme avait tendance ä passer sous silence les devoirs qui en decoulent. II a eu raison aussi de montrer le rapport etroit qui existe entre prudence et tradition. Le chef politique a besoin de perspicacite et de prevoyance pour discerner ce qui un jour peut devenir essentiel a la morale de la communaute et aux interets de l'Etat. L'homme d'Etat ne peut pas adopter l'attitude detachee du philosophe ou du savant car il ne dispose " Burke: Works. II, 269; V, 124—130; VII, 197—198. “ Op. cit. V, 310—311; VI, 97—98; VII, 155.

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jamais d'une connaissance de toutes les donnees ni ne peut etre sür des effets de sa decision dans un monde qui ne lui est qu'imparfaitement connu. Sadhant qu'il ne possede que des lumieres insuffisantes sur le bien public, il evitera d'engager la communaute dont il a charge dans des entreprises hasardeuses. Demandons-nous maintenant quelle est la signification de ces remarques de BURKE pour la philosophie politique? BURKE a-t-il raison de reduire la Science politique ä l'exercice de la prudence? Il est evident que l'observation du devoir de prudence est indispensable non seulement ä la bonne marche de l'Etat mais aussi ä la comprehension philosophique de la politique. La reflexion politique presuppose toujours l'existence de l'Etat, on ne peut deduire un Etat de l'existence de l'homme sans Etat comme le voudraient les theoriciens du droit naturel. Une theorie politique est toujours une projection des idees d'un Etat existant, d'une tradition vivante. Cependant il ne s'ensuit pas que les citoyens puissent ä l'epoque moderne continuer a s'identifier ä leur Etat sans qu'intervienne aucune activite reflechie. Il n'est pas toujours sür de se contenter de suivre la tradition inconsciente de la communaute. Une fois que la tradition est ebranlee par la discussion, que la morale sociale ne va plus de soi, il est peu probable qu'une commxmaute puisse en rester a des formes traditionnelles d'organisation. Le respect de la morale vivante et l'obeissance aux lois existantes ne sont pas des principes suffisants pour assurer la stabilite interne de l'Etat moderne. L'individu ne peut plus se contenter de suivre la morale immediate et naturelle de la communaute; il exige maintenant que la loi soit comprehensible et accessible a tous les citoyens. A partir du moment oü les individus n'adherent plus a leur Etat sans reflexion, a partir du moment oü ils s'en detachent pour le juger et le critiquer, celui-ci doit se transformer pour repondre aux exigences legitimes de ses membres. De l'Etattradition, oü l'individu est encore immerge dans la collectivite, on passe alors ä une Organisation consciente, dans laquelle tous les hommes participent au pouvoir politique. La conscience de soi de l'individu est la mediation qui pennet de passer de l'Etat traditionnel a l'Etat raisonnable, oü la volonte publique et les volontes privees sont reconciliees. La morale vivante d'une communaute peut se transformer en Etat gräce au savoir et ä l'activite des individus. La conscience moderne a compris que le principe de l'autorite n'a plus de sens. C'est seulement en tant que je suis d'accord et conscient que je puis accepter l'exigence d'obeir aux lois. L'autorite des lois ne peut plus etre suivie aveuglement; eile doit etre ac-

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ceptee et reconnue par tous les individus. Si l'Etat apparait a l'individu comme une force exterieure dans laquelle il ne peut pas se reconnaitre, il se revoltera contre lui et fera la revolution. Alors que BURKE attribue l'origine de la Revolution fran