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German Pages 310 [311] Year 2013
Die Bibel und die Frauen
Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie Herausgegeben von Irmtraud Fischer, Christiana de Groot, Mercedes Navarro Puerto, Jorunn Økland, Adriana Valerio
Altes Testament Band 1.3
Christl M. Maier Nuria Calduch-Benages (Hrsg.)
Schriften und spätere Weisheitsbücher
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Sebastian D. Plötzgen, Marburg Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-023413-0 E -Book-F ormate: pdf: ISBN 978-3-17-023460-4
Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG Christl M. Maier – Nuria Calduch-Benages ............................................................ I.
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DEN LEBENSREALITÄTEN VON FRAUEN AUF DER SPUR
Tamara Cohn Eskenazi Das Leben von Frauen in der nachexilischen Zeit ...................................................
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Sara Japhet Frauennamen und Genderperspektiven in der Chronik ...........................................
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II.
„GUTE“ UND „SCHLECHTE“ FRAUEN? FRAUENBILDER IN ISRAELS WEISHEITSTRADITION
Gerlinde Baumann Die Weisheitsgestalt: Kontexte, Bedeutungen, Theologie .....................................
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Christl M. Maier Gute und schlechte Frauen in Proverbien und Ijob Die Entstehung kultureller Stereotype .....................................................................
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Vittoria D’Alario Zwischen Frauenfeindlichkeit und Aufwertung Blicke auf die Frauen im Buch Kohelet ..................................................................
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Nuria Calduch-Benages Gute und schlechte Ehefrauen im Buch Jesus Sirach – eine harmlose Unterscheidung? ............................................................................... 105 III. FRAUENSTIMMEN UND WEIBLICHE METAPHERN IN POETISCHEN TEXTEN Silvia Schroer Altorientalische Bilder als Schlüssel zu biblischen Metaphern ............................... 123 Donatella Scaiola Weibliche Symbole und Metaphern im Psalter ....................................................... 153
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Inhaltsverzeichnis
Ulrike Bail On Gendering Laments: Eine genderorientierte Lektüre der Klagepsalmen ........... 169 Nancy C. Lee Klagelieder und Gender im kulturellen Kontext der Bibel ...................................... 185 Gianni Barbiero Schulamit, die „befriedete“ Frau im Hohelied ......................................................... 203 IV. AMBIVALENTE VORBILDER: FRAUEN IN ERZÄHLENDEN TEXTEN Miren Junkal Guevara Llaguno Rut und Noomi fordern Leben und Erinnerung zurück ........................................... 221 Susan Niditch Die Interpretation von Ester Kategorien, Kontexte und kreative Vieldeutigkeit .................................................. 239 Isabel Gómez-Acebo Susanna: Tugendhaftes Vorbild und weibliche Gegenfigur zu Daniel .................... 259 Bibliographie ............................................................................................................ 273 Stellenregister .......................................................................................................... 297 AutorInnen ............................................................................................................... 305
Einleitung Christl M. Maier – Nuria Calduch-Benages Der vorliegende Band gehört zu einem ambitionierten internationalen Projekt mit dem Titel „Die Bibel und die Frauen“. Es geht um die Erstellung einer exegetischkulturgeschichtlichen Enzyklopädie. Ziel des Projekts ist es, eine ökumenische, geschlechtergerechte Auslegung und Rezeptionsgeschichte der Bibel mit einem Schwerpunkt auf der europäischen theologischen Forschung und der Religionsgeschichte des Westens vorzulegen. 1 Als wir die Aufgabe übernahmen, im Rahmen dieser Enzyklopädie einen Band zur Hebräischen Bibel herauszugeben, fanden wir die Idee sehr vielversprechend und zukunftsweisend. Erst im Laufe der Arbeit wurde uns bewusst, welche Herausforderung darin liegt, Texte von AutorInnen aus vier verschiedenen Sprachgebieten zusammenzutragen, die zugleich unterschiedliche Auslegungstraditionen und Forschungskontexte spiegeln. Wir freuen uns, dass wir BibelwissenschaftlerInnen aus fünf verschiedenen europäischen Ländern, Israel und den Vereinigten Staaten zur Mitarbeit an diesem Band gewinnen konnten. Jede und jeder Einzelne von ihnen ist als Fachfrau oder Fachmann in dem entsprechenden Forschungsgebiet ausgewiesen. Die Beiträge sind ursprünglich auf Englisch, Deutsch, Italienisch oder Spanisch verfasst worden. Sie repräsentieren verschiedene gesellschaftliche Kontexte, die sich im Blick auf Geschlechterbeziehungen und Gendertheorien unterscheiden, und unterschiedliche religiöse Traditionen.
1. Umfang und Aufbau des Bandes Die in diesem Band versammelten Aufsätze befassen sich mit dem dritten Teil des hebräischen Bibelkanons, den sog. Schriften (Hebräisch ʭʩʡʥʺʫ). Außerdem wurden die weisheitlichen Traditionen der Bücher Jesus Sirach und Weisheit (Weisheit Salomos) aufgenommen. Die biblische Weisheitstradition, die ein fester Bestandteil der altorientalischen Tradition ist, erzeugte während des ganzen 1. Jt.s v. Chr. und bis in die christliche Zeit hinein einen beständigen Strom von Texten. Dieser Zusammenhang wurde durch die historischen Entscheidung, nur die Bücher Sprichwörter (Proverbien), Ijob und Kohelet (Prediger Salomo) in den hebräischen Kanon aufzunehmen, unterbrochen. Jesus Sirach – seit langem als griechische Übersetzung eines hebräischen Originals 1
Zu Umfang, Hermeneutik und Zielen des Projekts vgl. Irmtraud FISCHER, Jorunn ØKLAND, Mercedes NAVARRO PUERTO und Adriana VALERIO, „Frauen, Bibel und Rezeptionsgeschichte: Ein internationales Projekt der Theologie und Genderforschung“, in Tora (hg. v. Irmtraud Fischer et al.; Die Bibel und die Frauen: Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie 1.1; Stuttgart: Kohlhammer, 2010), 9–35. Eine Kurzform findet sich auch auf der Internetseite des Projekts, online: http://www.bibleandwomen.org/DE/description.php (28.09.2012).
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bekannt, das freilich erst in neuerer Zeit in Fragmenten wiederentdeckt werden konnte – und das ursprünglich griechisch geschriebene Buch der Weisheit gehören dem Kanon der Septuaginta, der griechischen Bibel, an; sie könnten daher auch im Band 3.1 des Projekts (Pseudepigraphen und Apokryphen) behandelt werden. Wir haben Nuria Calduch-Benages’ Aufsatz über ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Ehefrauen bei Jesus Sirach in den vorliegenden Band aufgenommen, weil dieses Weisheitsbuch die kulturellen Stereotype, die sich im Buch der Sprichwörter herausbilden, wiederholt und einem jüdisch-hellenistischen Publikum vorstellt. Mit Blick auf geschlechtsspezifische Gottes- wie Menschenbilder wäre die Deutung der personifizierten Weisheit, die zuerst in Spr 1–9 begegnet, unvollständig, würde man nicht ihre Weiterentwicklung in der späteren Weisheitstradition mit bedenken. Das zeigen der Beitrag von Gerlinde Baumann zur Weisheitsgestalt und ein Abschnitt in Silvia Schroers Artikel zum ikonographischen Hintergrund von Frau Weisheit. Aufgrund seiner Entstehung im 2. Jh. v. Chr. wurde das prophetische Buch Daniel nicht mehr dem Kanonteil „Prophetie“ zugerechnet, sondern gelangte in die „Schriften“. Im Blick auf Daniel konnten wir Isabel Gómez-Acebo dazu gewinnen, auch die griechischen Zusätze über Susanna zu behandeln, um den ersten Schritt der Rezeptionsgeschichte des Buches aufzuzeigen, der eine weibliche Hauptfigur und Geschlechterfragen einbringt. Diese weisheitlichen Traditionsstränge sind der Grund dafür, dass wir die biblischen Schriften nicht strikt getrennt nach jüdischem und christlichem Kanon behandeln. 2 Die Aufsätze des vorliegenden Bandes sind in Gruppen unter vier Überschriften sortiert. Eine erste Gruppe von Beiträgen begibt sich auf die Spur der Lebensrealitäten von Frauen, sei es anhand sozialgeschichtlicher Rekonstruktion des Lebens im perserzeitlichen Juda oder durch die Untersuchung von Familien- und Stammesbeziehungen in nachexilischen Genealogien. Die nächste Gruppe von Aufsätzen behandelt die israelitische Weisheitstradition mit ihren zahlreichen weiblichen Charakteren: Frau Weisheit und die ‚fremde‘ Frau, die Königsmutter und die ‚starke‘ Frau, die ‚gute‘ und die ‚schlechte‘ Ehefrau. Alle vier Aufsätze unterstreichen nicht nur die überaus wertende Darstellung der Frauen und ihrer Rollen in der Weisheit, sondern erörtern auch die gesellschaftliche Funktion von Frauen und machen deutlich, dass einige Texte nicht so androzentrisch sind, wie gemeinhin angenommen wird. Der dritte Teil des Bandes versammelt Beiträge zu Frauenstimmen und weiblichen Metaphern in poetischen Büchern. Es geht einerseits um die Möglichkeit, aus den poetischen Texten weibliche Erfahrung und Lebenskontexte zu erschließen und andererseits darum, die Bedeutung spezifisch weiblicher Metaphern zu entfalten. Beispielsweise sprechen die Psalmen und die Klagelieder meist nur implizit oder sehr allgemein über Frauen. Deren geschlechtsspezifische Bilder tragen jedoch zur Gottesmetaphorik ebenso bei wie zur weiblichen Personifikation der Gemeinschaft bzw. der Stadt.
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Zum ursprünglichen Plan der Kanon-Aufteilung vgl. FISCHER, ØKLAND, NAVARRO PUERTO und VALERIO, „Frauen, Bibel“, 21–26.
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Die Beiträge des vierten Teils untersuchen Erzählungen mit starken weiblichen Hauptfiguren – Rut, Ester und Susanna –, die in Konfliktsituationen ihre Klugheit und Stärke unter Beweis stellen. Manche Beiträge interpretieren diese Protagonistinnen als Vorbilder an Tugend und Glauben; sie machen aber auch deutlich, dass deren Vorbildfunktion für heutige LeserInnen durchaus ambivalent ist.
2. Inhalte und Textgattungen der „Schriften“ In Bezug auf Inhalt, literarischen Stil und Textgattung versammeln die „Schriften“ sehr verschiedene Texte, die auf unterschiedliche Weise eingeteilt werden können. Einige enthalten Poesie wie die Bücher Psalmen, Hohelied, Klagelieder des Jeremia und Kohelet; zu ihnen kann auch Ijob trotz seiner kurzen Rahmenerzählung gerechnet werden. Während das Buch der Sprichwörter, Ijob und Kohelet (mit Jesus Sirach und dem Buch der Weisheit) deutlich zur Weisheitstradition gehören und eine lehrhafte Absicht haben, enthalten die Psalmen, das Hohelied und die Klagelieder Gebete, Lieder und liturgische Texte, allerdings mit sehr unterschiedlichem Ton und Inhalt. Rut, Ester und Dan 1–6 erzählen von mutigen Frauen und Männern in der Diaspora, die durch Glauben und Aufrichtigkeit trotz ungünstiger Bedingungen Erfolg haben. Daniel 7–12 umfasst prophetische Visionen, die in symbolischer Verschleierung das gewaltsame Ende aufeinanderfolgender griechischer und hellenistischer Herrscher ankündigen. EsraNehemia ist eine historiographische Erzählung über den Wiederaufbau Jerusalems und die Wiederherstellung der judäischen Gemeinschaft nach dem Exil. Die Chronikbücher erzählen die Geschichte des judäischen Königtums noch einmal aus einem nachexilischen Blickwinkel, beginnend mit Genealogien „ganz Israels“ über neun Kapitel. Betrachtet man diese Sammlung unterschiedlicher Texte, die überwiegend in der persischen und frühen hellenistischen Zeit geschrieben oder bearbeitet wurden, so ist offensichtlich, dass sich die in ihnen enthaltenen Geschlechterbeziehungen sehr unterscheiden. Allerdings wird auch deutlich, dass alle Texte in einer patriarchalen Gesellschaft der Antike entstanden sind, in der eine Person zunächst durch ihren sozialen Status bestimmt wird, d. h. frei oder versklavt ist, danach durch die soziale Schicht und innerhalb derselben Schicht durch Geschlecht, Alter und weitere Faktoren geprägt wird. 3 Während die biblischen Texte diese Pyramide gesellschaftlicher Hierarchie, die Patriarchat genannt wird, spiegeln, enthalten einige von ihnen zugleich Stimmen der an den Rand Gedrängten oder kritisieren vorherrschende Machtdiskurse. Aufgrund der faszinierenden Eigenschaft der biblischen Texte, verschiedenartige Stimmen und Perspektiven in sich aufzunehmen, können je nach hermeneutischem Standort des oder der Auslegenden viele verschiedene Deutungen aus ihnen hervorgehen. Die Schriften, die den dritten Kanonteil der Hebräischen Bibel ausmachen, entstanden vom 5. bis zum Beginn des 2. Jh.s v. Chr. in Jerusalem und Umgebung, in einer Zeit politischer und wirtschaftlicher Krisen, in denen Juda von verschiedenen Weltreichen beherrscht wurde. Aufgrund unterschiedlicher Entstehungsorte und -zeiten der 3
Vgl. FISCHER, ØKLAND, NAVARRO PUERTO und VALERIO, „Frauen, Bibel“, 16–18.
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Schriften kannten sich die meisten ihrer VerfasserInnen wohl nicht und standen auch nicht im direkten Austausch miteinander. Da ihre Texte jedoch nun in derselben Sammlung vereint sind, können ihre verschiedenen Ansichten über Frauen und Geschlechterfragen als ein schriftlicher Gedankenaustausch über Geschlechterhierarchien, gesellschaftliche Werte und Machtbeziehungen wahrgenommen werden. Wenn heutige BibelwissenschaftlerInnen jedes Buch mit einer bestimmten Zeit und einem Entstehungskontext verbinden, was manchmal mehr, manchmal weniger plausibel begründet werden kann, können sie eine Entwicklung von Standpunkten und Argumenten oder auch andauernde Vorstellungen entdecken. Mit ihren zahlreichen starken Frauengestalten bieten die Schriften heutigen LeserInnen ein beeindruckendes, bildhaftes Gewebe der Lebensentwürfe und Rollen von Frauen, wie es die antiken VerfasserInnen wahrgenommen haben.
3. Verschiedene methodische Zugänge zu den Texten Die Vielfalt der Texte in diesem Band wird mit einer Vielfalt von Methoden erschlossen, die von unterschiedlichen ForscherInnen ausgewählt wurden. Deshalb haben wir jede und jeden unserer AutorInnen gebeten, zu Beginn des Aufsatzes ihren bzw. seinen hermeneutischen und methodischen Zugang kurz zu erläutern. Tamara Cohn Eskenazi unternimmt es, das Leben von Frauen in der nachexilischen Zeit durch biblische und außerbiblische Quellen sozialgeschichtlich zu rekonstruieren, und stellt den LeserInnen die wirtschaftliche und soziale Situation in der Provinz Jehud in persischer Zeit vor, die für einige der Schriften einen prägenden Zeitraum darstellt. Sara Japhets Auslegung der Chronikbücher als einer Geschichte Israels, die sowohl auf früheren Erzählungen der Samuel- und Königebücher als auch auf lokalen judäischen Traditionen der frühen hellenistischen Zeit gründet, zeigt auf, wie eine historiographische Erzählung von den Interessen ihrer VerfasserInnen geformt wird. Mit ideologiekritischer Perspektive versteht Japhet die knochentrockenen Genealogien der Chronik, die von heutigen RezipientInnen gerne überlesen werden, als Gegenstimme zur starken Ablehnung von Ehen mit fremden Frauen, die in Esra-Nehemia und Spr 1–9 vertreten wird. Die Beiträge zur Weisheitstradition legen den Schwerpunkt auf die Darstellung weiblicher Figuren, wobei sie die Ideologien solcher Charakterisierungen kritisch analysieren. Aus einem geschlechtersensiblen Blickwinkel ist eine solche Darstellung von Frauen und ihren Rollen in der Gesellschaft weder neutral noch einfach beschreibend; vielmehr gibt sie häufig Rollenmodelle für die antiken LeserInnen, Männer und Frauen, vor. Wie Gerlinde Baumann ausführt, bereichert die Gestalt der personifizierten Weisheit die Gottesmetaphorik, wird aber auch dazu benutzt, in den führenden Kreisen der persischen und hellenistischen Zeit eine bestimmte ethische Haltung und bestimmte Handlungsweisen anzupreisen. Demgegenüber entwerfen die kulturellen Stereotype der ‚fremden‘ und der ‚starken‘ Frau im Buch der Sprichwörter (Proverbien) sowie der ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Ehefrau in Jesus Sirach Rollenmodelle für Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft
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und in einem Oberschichtsmilieu. Christl Maier und Nuria Calduch-Benages erörtern sowohl den Nutzen als auch die Gefahren solcher Typisierungen. Ähnlich deutet Vittoria D’Alario Bemerkungen über Frauen im Koheletbuch als wechselnde Urteile, die zwischen Frauenfeindschaft und einer Idealisierung von Frauen schwanken. Sie zeigt jedoch auf, inwiefern weisheitliche Texte, die lange Zeit als „frauenfeindlich“ galten, erstaunliche Einblicke in das Durchsetzungsvermögen und die Macht von Frauen bieten können. Wie auch in den anderen Bänden zum hebräischen Kanon zeigt Silvia Schroer Verbindungen zwischen Texten und ikonographischen Traditionen auf, die aus einem gemeinsamen kulturellen Motivschatz herrühren. Die altorientalischen Bilder von Schöpfung und Weltordnung, von Göttern und Göttinnen, die sich auf Artefakten der syrisch-palästinischen Kunst finden, tragen dazu bei, viele der Metaphern in poetischen Texten wie Psalmen, Hohelied, Ijob und Proverbien besser zu verstehen. Weil die Datierung von Psalmen aufgrund einer langen Überlieferungsgeschichte unmöglich ist, legt Donatella Scaiola den Schwerpunkt auf weibliche Symbole wie die Muttermetapher, die sowohl zur Gottesmetaphorik als auch zur Charakterisierung der heiligen Stadt Jerusalem beiträgt. Ulrike Bail und Nancy Lee verwenden die von Athalya Brenner und Fokkelien van Dijk-Hemmes vorgeschlagene Methode des „Gendering“ von Stimmen im Text, um verschiedene Klagelieder zu interpretieren. Indem sie intertextuelle Bezüge zwischen Ps 55 und der Geschichte von Tamar (2 Sam 13) aufzeigt, liest Bail diesen individuellen Klagepsalm als ein Gebet, das Opfern sexueller Gewalt hilft, ihr Leid zum Ausdruck zu bringen. Im Buch der Klagelieder entdeckt Lee eine starke weibliche Stimme, die die Führung übernimmt, indem sie eine Klage über Gottes gewalttätiges und strafendes Handeln formuliert. Diese Stimme repräsentiert Lee zufolge die Erfahrung von Frauen, und sie könnte sogar einer Verfasserin gehören. Gianni Barbiero arbeitet heraus, dass die Ermächtigung der weiblichen Hauptfigur im Hohelied nicht im Widerspruch zu einer erfüllenden Liebesbeziehung stehen muss, und liest Schulamit durch die Brille der Weisheitstradition in Gen 2–3. Die Beiträge über weibliche Hauptfiguren in erzählenden Texten untersuchen deren Charakterisierungen im Blick auf ausdrückliche oder stillschweigende Geschlechterhierarchien und auf die Möglichkeiten von Frauen, in einer patriarchalen Welt ihren Platz zu finden. Miren Junkal Guevara Llaguno interpretiert Rut und Noomi als Frauen, die ihr Leben und ihren Platz in der Erinnerung einfordern und so für Leserinnen, die um ihr Überleben kämpfen, eine Quelle der Ermächtigung werden. Susan Niditch erörtert eine Reihe feministischer Auslegungen des Esterbuches und zeigt, dass die Erwartungen und die Weltanschauung der Auslegenden ein Schlüssel zur Rezeption Esters sind. Indem die Auslegenden die Feinheiten der biblischen Figur herausarbeiten, wird deutlich, dass die verschiedenen Interpretationen Esters auf durchaus ambivalenten Frauenbildern gründen. Isabel Gómez-Acebo deutet die Figur der Susanna, deren Geschichte dem ursprünglichen Text zugefügt wurde, als weibliche Gegenfigur zu Daniel, deren Kampf gegen die Geschlechterhierarchie der Idee den Weg bereitet, dass die Befreiung eines Volkes nur dann vollständig ist, wenn Männer und Frauen dafür kämpfen.
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Die Aufsätze dieses Bandes erheben nicht den Anspruch, die Schriften vollständig auszulegen und verstehen sich auch nicht als die einzig möglichen Interpretationen. Ihr gemeinsames Merkmal ist es, den Fokus auf Geschlechterfragen, Machtbeziehungen und Ideologien innerhalb der Texte und in Auslegungen zu legen. Diese Auslegungen sind Teil der Rezeptionsgeschichte der Texte in akademischen Kreisen des Westens, in denen bis vor kurzem männliche Bibelwissenschaftler bestimmend waren und die deshalb oft die ererbte androzentrische Tradition weitergeführt haben. Obwohl die meisten Beiträge nicht ausdrücklich auf die Rezeptionsgeschichte der hebräischen Schriften eingehen, bieten viele eine Kritik einseitiger oder im Blick auf das Geschlecht vorurteilsbeladener Interpretationen, indem sie entweder gegen eine normierende Auslegung argumentieren oder Gegentraditionen herausschälen, die zu einer neuen, geschlechtersensiblen Leseweise der Texte führen. Die Übersetzung italienischer, spanischer und englischer Beiträge ins Deutsche ist keine einfache Aufgabe, da sich nicht nur die Forschung zu einzelnen biblischen Büchern, sondern auch zu feministischen Fragestellungen in den unterschiedlichen Sprachgebieten ausdifferenziert hat. Wir haben uns bemüht, die Beiträge in verständliches Deutsch zu übertragen und durch zusätzliche Anmerkungen Eigenheiten des Originals sowie die Vorgehensweise bei Übersetzungen biblischer Passagen zu erläutern. Die etwas ausführlicheren biographischen Angaben in der Liste der AutorInnen sollen auch dazu dienen, diese unterschiedlichen Forschungstraditionen sichtbar zu machen.
4. Dank Das Forschungskolloquium, das im Juli 2011 in Marburg stattfand und bei dem die meisten Beitragenden ihre ersten Thesen einer kritischen Diskussion ausgesetzt haben, wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft großzügig finanziell gefördert. Der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg hat das Kolloquium durch die Bereitstellung von Räumen, Sekretariatsdiensten und studentischen Hilfskräften unterstützt. Wir danken beiden Institutionen für die Förderung unserer Forschung. Für ihre tatkräftige Hilfe bei der Durchführung des Kolloquiums danken wir Mareike Schmied, Andrea Schönfeld de Weigel und Maurice Meschonat. Im Jahr 2011 erhielt unser Projekt den Leonore-Siegele-Wenschkewitz-Preis, benannt nach der deutschen Kirchenhistorikerin Leonore Siegele-Wenschkewitz (1944–1999). Mit dieser Auszeichnung ehren der Verein zur Förderung Feministischer Theologie in Forschung und Lehre e. V., die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau und die Evangelische Akademie Arnoldshain Studien oder Projekte, die die Feministische Theologie oder Geschlechterstudien in theologischen Kontexten voranbringen. Wir sind dankbar für diese Anerkennung unserer Arbeit und haben das Preisgeld für die Übersetzung einiger Aufsätze verwendet. Für einen namhaften Betrag für eine Übersetzung danken wir auch PD Dr. Valentine Rothe, Bonn. Besonderer Dank gilt unseren geschätzten AutorInnen für ihre Bereitschaft, zu diesem Band beizutragen, ihre Mitarbeit am Kolloquium, ihre Offenheit für all unsere
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Fragen zu ihren Aufsätzen und ihre Geduld, die Veröffentlichung in vier verschiedenen Sprachen abzuwarten und zu unterstützen. Wir sind sehr dankbar für die Arbeit unserer ÜbersetzerInnen, von denen uns einige ihre Fähigkeiten unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben. Außerdem danken wir Dr. Michaela Geiger für die sorgsame Durchsicht und Überarbeitung der Übersetzungen sowie Mirjam Tabea Kraaz und Sebastian Plötzgen für die tatkräftige Mithilfe bei der Erstellung des Manuskripts und des Registers. Den Hauptherausgeberinnen des Projekts „Die Bibel und die Frauen“, insbesondere Irmtraud Fischer, danken wir, dass sie unsere Arbeit in allen Phasen mit Rat und Tat begleitet haben. Schließlich danken wir dem Kohlhammer Verlag für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung dieses Bandes. Marburg – Rom, Januar 2013
Das Leben von Frauen in der nachexilischen Zeit Tamara Cohn Eskenazi Hebrew Union College – Jewish Institute of Religions, Los Angeles, CA (USA) Einer der bedeutendsten Schriftsteller, der über das Leben im 4. Jh. v. Chr. schreibt, schildert den Haushalt in erster Linie als produktive wirtschaftliche Einheit, in der der Frau die Verantwortung dafür zukommt, Rohmaterial zu Nahrungsmitteln, Textilien und anderen Gütern zu verarbeiten. Der Wohlstand des Haushaltes hängt von der gelingenden Haushaltsführung der Ehefrau ab. Ich glaube aber, daß eine Frau, die eine gute Partnerin bei der Leitung des Haushalts ist, dem Mann gleichwertig ist im Streben nach dem Guten. Die Besitztümer kommen zwar meist durch die Tätigkeiten des Mannes in das Haus, ausgegeben werden sie aber größtenteils nach der haushälterischen Einteilung der Frau, und wenn diese gut ist, vergrößern sich die Häuser, wenn sie aber schlecht vorgenommen wird, nehmen die Häuser ab. (Gespräch über die Haushaltsführung, III.14–15) 1
Diese Worte stammen nicht von einem oder einer feministischen Gelehrten des 21. Jh.s (wobei sie das durchaus könnten), sondern von Xenophon, der im 4. Jh. v. Chr. schrieb. Sein Werk ̒ԀΎΓΑΓΐΎϱΖȱ beschreibt in detaillierter Weise die Haushaltsführung als das Rückgrat der griechischen Gesellschaft. Die Hälfte des Buches widmet Xenophon der Ehefrau und ihren Aufgaben. Solche umfangreichen Informationen über den Haushalt und dessen Verwaltung einschließlich der Arbeitsteilung ist einzigartig. Einzigartig ist auch, dass der Autor einen Dialog zwischen Ehemann und Ehefrau entwirft, in dem die namenlose Ehefrau die Möglichkeit hat, über sich selbst und ihre Wünsche zu sprechen. Xenophons Bericht zufolge hatte die Ehefrau in einem wohlhabenden landwirtschaftlichen Haushalt die volle Verantwortung über die Verwaltung und Autorität über alles, was im Haus geschah. Ihre Arbeit und die ihres Ehemannes wurden als voneinander abhängig verstanden. Ihr ökonomischer, emotionaler und körperlicher Beitrag wurde als gleichwertig mit dem ihres Ehemannes anerkannt, und beiden Partnern wurden potentiell dieselben geistigen und moralischen Tugenden zuerkannt. Das Gelingen des Haushaltes hing vom gemeinsamen Einsatz beider Ehepartner ab. Wenn die Fähigkeiten und die Bildung der Ehefrau die des Ehemannes überstiegen, übertrug er ihr bereitwillig die größere Autorität und Verantwortung.2 Allerdings macht Xenophon auch deutlich, dass die Ehefrau, die er beschreibt, diese erforderlichen Eigenschaften nicht bereits besaß, als sie mit fünfzehn Jahren heiratete, sondern von ihrem Ehemann darin unterrichtet wurde. Ihre einzigen Qualifikationen, die sie bereits bei ihrer Hochzeit besaß, waren Weben und die Fähigkeit, ihren Appetit zu zügeln. 1
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Gert AUDRING, Xenophon, Ökonomische Schriften: Griechisch und deutsch (Berlin: Akademie-Verlag, 1992), 45–46. Vgl. Sarah B. POMEROY, Xenophon, Oeconomicus: A Social and Historical Commentary with a New English Translation (Oxford: Clarendon Press, 1994), 143.
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Obwohl Xenophon einen Athener Haushalt am Stadtrand Athens beschreibt, gibt es einige Faktoren, die das Buch für die Frage nach Frauen im nachexilischen, perserzeitlichen Juda relevant werden lassen. Zum Ersten beschreibt Xenophon aus erster Hand, wie jemand in der zu untersuchenden Perserzeit über Frauenleben reflektiert. Zum Zweiten ähnelt die landwirtschaftliche Welt, die er darstellt, Juda in Bezug auf Geografie und Klima, werden z. T. dieselben Nutzpflanzen angebaut (Weinstöcke, Olivenbäume, Dattelpalmen). Zum Dritten stimmt seine Beschreibung mit dem überein, was moderne ForscherInnen auf der Grundlage anderer Quellen für Frauen in der Antike annehmen. Zum Beispiel entsprechen die Aufgaben, die Xenophon Frauen zuschreibt, in vielem dem, was Carol Meyers in ihrem Artikel „Archäologie als Fenster zum Leben von Frauen in Alt-Israel“ aufzeigt. 3 Übereinstimmungen gibt es auch mit Hennie Marsmans Studie über Israel und die umliegenden Kulturen. 4 Zum Vierten korrespondiert die Beschreibung Xenophons größtenteils mit jener der „Frau von Stärke“ 5 in Spr 31,10–31, der ausführlichsten biblischen Beschreibung einer idealen Ehefrau, ihrer Pflichten, Fähigkeiten und ihres Wertes. Die vielen Parallelen zwischen Xenophon und dem Sprüchebuch (Proverbien) lassen erahnen, wie viele Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung von Frauen in der zeitgenössischen antiken Welt bestanden. Sie weisen darauf hin, dass die Untersuchung zeitgenössischer Quellen helfen kann, Licht auf das Leben von Frauen in der nachexilischen Zeit zu werfen und ihre Darstellung in der Bibel angemessen zu interpretieren. Solange sie kritisch und mit Sorgfalt rezipiert werden, ermöglichen es die zahlreichen und verschiedenartigen Quellen aus dem klassischen Griechenland und anderen Nachbarkulturen, wissenschaftliche Hypothesen über mögliche Ähnlichkeiten und Entwicklungen aufzustellen und so die Lücken in den biblischen Quellen zu schließen. Aus diesem Grund werde ich zunächst (1) kurz die nachexilische Zeit beschreiben, dann (2) repräsentative außerbiblische Quellen (aus Griechenland, Ägypten und Mesopotamien) durchgehen, um die größeren kulturellen Entwicklungslinien der nachexilischen, persischen Zeit zu entwerfen. Schließlich (3) werde ich den Beitrag der biblischen Quellen in diese Kontexte einordnen, um das Leben von Frauen in der nachexilischen Zeit verständlich zu machen.
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Siehe Carol MEYERS, „Archäologie als Fenster zum Leben von Frauen in Alt-Israel“, in Tora (hg. v. Irmtraud Fischer et al.; Die Bibel und die Frauen: Eine exegetischkulturgeschichtliche Enzyklopädie 1.1; Stuttgart: Kohlhammer, 2010), 63–109. Siehe auch DIES., „Grinding to a Halt: Gender and the Changing Technology of Flour Production in Roman Galilee“, in Engendering Social Dynamics: The Archaeology of Maintenance Activities (hg. v. Sandra Montón-Subías und Margarita Sánchez-Romero; BAR International Series 186; Oxford: Archeopress, 2008), 65–74. Hennie J. MARSMAN, Women in Ugarit and Israel: Their Social and Religious Position in the Context of the Ancient Near East (OtSt 49; Leiden et al.: Brill, 2003). Vgl. den Beitrag von Christl M. Maier in diesem Band.
Das Leben von Frauen in der nachexilischen Zeit
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1. Die nachexilische, persische Zeit (6. bis 4. Jh. v. Chr.) Üblicherweise wird der Beginn der nachexilischen Zeit auf 539/538 v. Chr. datiert. Damit fällt er mit der aufkommenden Perserherrschaft zusammen, die den Alten Orient bis 333 v. Chr. dominierte. Biblischen und archäologischen Befunden zufolge wurde Juda 587/6 v. Chr. von den Babyloniern verwüstet. Jerusalem und sein Tempel wurden zerstört und wichtige Teile der Bevölkerung deportiert (597 sowie 587 v. Chr. und danach). Neuere archäologische Studien legen nahe, dass die Bevölkerung in Juda auf zwanzig, höchstens dreißig Prozent ihrer vorherigen Größe reduziert wurde. Esra-Nehemia ist die einzige biblische Erzählung, die ausdrücklich das nachexilische Juda abbildet. Esra-Nehemia zufolge wurde Juda in der Perserzeit in die Heimat zurückgeführt. Die RückkehrerInnen kamen in drei größeren Wellen. Die erste setzte den Kult wieder ein und baute den Tempel wieder auf (Esr 1–6). Die zweite, angeführt von Esra, dem Priester und Schreiber, reformierte die Gemeinschaft durch das Verbot der Heirat mit „fremden“ Frauen (Esr 7–10). Die dritte, von Nehemia, dem Statthalter, angeführt, baute Jerusalems Stadtmauer wieder auf (Neh 1–7). Als in der Mitte des 5. Jh.s v. Chr. der Wiederaufbau abgeschlossen war, erneuerte die Gemeinschaft ihr Bekenntnis, indem sie gelobte, die Lehren der Tora zu befolgen und ihre Loyalität zum Ausdruck zu bringen (Neh 8–13). Die Liste der Volkszählung in Esra-Nehemia erfasst, dass über 42000 Menschen aus dem Exil nach Juda zurückkehrten (Esr 2; Neh 7). Werden die Zahlen der genannten Männergruppen addiert, ergibt sich eine Zahl von etwa 30000 „Männern“, was bedeutet, dass die Liste etwa 12000 Frauen (oder Frauen und Kinder) einschließt. Dieses Verhältnis von Frauen und Männern ist glaubwürdig, wenn man es im Zusammenhang mit anderen freiwilligen Auswanderungen betrachtet, bei denen Männer, besonders junge und unverheiratete, häufiger die mühevolle Umsiedelung auf sich nehmen. Die Zuverlässigkeit der Liste(n) ist allerdings umstritten. Die Gesamtsumme der aus dem Exil Zurückkehrenden steht im Widerspruch zu archäologischen Daten. Ausgrabungen bieten keinen Anhaltspunkt für einen plötzlichen Einwanderungsstrom dieser Größe. Außerdem deuten die Ausgrabungen darauf hin, dass Juda während der gesamten persischen Zeit arm und spärlich besiedelt blieb. Einige ForscherInnen sind deshalb der Meinung, dass die Liste eine Zusammenstellung verschiedener Rückkehrwellen über die gesamte Periode hinweg ist und/oder eine erweiterte Liste der gesammelten Verzeichnisse der ganzen jüdischen Gesellschaft in Juda über Jahrzehnte. Trotzdem ist das Gesamtbild der verschiedenen Rückkehrbewegungen sowie einiger bedeutender Wiederaufbauten im 5. Jh. v. Chr. glaubwürdig, wenn auch die Zahlen stark überhöht sind. Juda/Jehud erholte und entfaltete sich zu Beginn der hellenistischen Zeit. Auch vor dem Hintergrund anderer Entwicklungen in der Region, wie dem zunehmenden Handel an der Küste und dem Ende des persischen Krieges mit Griechenland (datiert auf den Frieden von Kallias, 449 v. Chr.), ist es wahrscheinlich, dass das 5. Jh. eine Zeit der Einwanderung war. Esra-Nehemia zufolge halfen sowohl babylonische Jüdinnen und Juden als auch das Großreich, den Wiederaufbau zu finanzieren. Dennoch blieb Juda zweifellos arm. ArchäologInnen kommen zu dem Schluss, dass von den 108 neu errichteten Sied-
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Tamara Cohn Eskenazi
lungen 49 klein waren, weniger als 5 Dunam (1,25 Morgen) groß. 6 Bezeichnenderweise wurden 372 Siedlungen in der persischen Zeit nicht wiederbesiedelt, 27 überhaupt nicht mehr. 7 Dennoch deuten manche Texte auf einigen Wohlstand Weniger hin. Die Ausstattung des Tempels und der Priester weist darauf hin, dass die Gruppe der Kultbediensteten gut abgesichert wurde. Esra und Nehemia erfassen unter den zurückkehrenden Exilierten 7337 SklavInnen und 200 SängerInnen (Esr 2,65; Neh 7,67). Auch wenn die Anzahl der SklavInnen verhältnismäßig gering ist, zeugt sie, wie auch die SängerInnen (in Koh 2,8 erwähnt der Sprecher, der angibt, extrem wohlhabend zu sein, auch die Anwesenheit von Sängerinnen, die er zum Vergnügen engagiert), von einer Gruppe mit einigem Einkommen. Nehemia, der jüdische Statthalter, behauptet, dass er für die 150 Leute, die er regelmäßig an seinem Tisch bewirtet, aus eigenen Mitteln (nicht denen der Gemeinschaft) bezahlt (Neh 5,17). Der vielleicht stärkste Beleg ist Neh 5, wo arme JudäerInnen sich darüber beschweren, dass ihnen Land, Häuser und Kinder von ihren wohlhabenderen Landsleuten weggenommen wurden, wobei die Töchter besonders gefährdet waren (Neh 5,1–13). Alle Quellen stimmen somit darin überein, dass das nachexilische Juda klein war, um sein wirtschaftliches Überleben zu kämpfen hatte und seine Identität als Minderheit in einem multiethnischen Milieu neu aufbauen musste. Avraham Faust spricht von einer „post collapse society“, ein Fachausdruck für eine Gesellschaft, die traumatische Zerstörung erlitten hat und erneut eine Infrastruktur aufzubauen versucht. Die biblischen Quellen spiegeln die Debatte über einen Weg in die Zukunft als kolonialisiertes Volk. Das beinhaltet auch die Diskussion um die Kriterien der Zugehörigkeit, die durch den Verlust früher gültiger Identitätsmerkmale ausgelöst wurde. 8 Gemäß Esra-Nehemia waren Frauen ein wichtiger Bestandteil der Gemeinschaft. Ihre Gegenwart wird in jeder Phase des Wiederaufbaus anerkannt. Jedoch werden sie üblicherweise nicht mit Namen genannt, so dass ihre prominenteste Rolle in Esra-Nehemia die der „fremden“ Frauen ist, die als Bedrohung betrachtet werden. 6 7
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Das sind etwa 5058 Quadratmeter oder 0,5058 Hektar (Anm. d. Übersetzerin). 13 Siedlungen waren 6–10 Dunam, 13 waren 11–20 Dunam groß; 18 waren größer als 20 Dunam. Für 15 ist keine Größe angegeben; vgl. Diana EDELMAN, The Origins of the Second Temple: Persian Imperial Policy and the Rebuilding of Jerusalem (London/Oakville: Equinox, 2005), 59. Diese neueren Studien widersprechen wirkungsvoll den Studien aus den 1990er Jahren, die davon ausgingen, dass der Großteil des Gebietes Juda und Benjamin außerhalb Jerusalems nur wenig von der babylonischen Eroberung und Zerstörung betroffen war. Siehe z. B. Hans M. BARSTAD, „After ,the Myth of the Empty Land‘: Major Challenges in the Study of Neo-Babylonian Judah“, und Bustenay ODED, „Where is ,The Myth of the Empty Land‘ to be found? Myth versus History“, beide in Judah and the Judeans in the Neo-Babylonian Period (hg. v. Oded Lipschits und Joseph Blenkinsopp; Winona Lake: Eisenbrauns, 2003), 3–20 und 55–74. Siehe Avraham FAUST, „Settlement Dynamics and Demographic Fluctuations in Judah from the Late Iron Age to the Hellenistic Period and the Archaeology of Persian Period Yehud“, in A Time of Change: Judah and Its Neighbours in the Persian and Early Hellenistic Periods (hg. v. Yigal Levin; London/New York: T&T Clark, 2007), 23–51; 43–46.
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2. Außerbiblische Quellen Auch wenn sich die meisten biblischen Texte über die nachexilische Zeit mit den Ereignissen in der Provinz Juda auseinandersetzen, gab es auch in der Diaspora weiterhin nachexilische Gemeinschaften, die an ihrer Verbindung mit Juda festhielten. Die Diasporagemeinschaften spiegeln ein gewisses, wenn auch geringes, Maß an Wohlstand und Stabilität der umgesiedelten JudäerInnen wider. Innerhalb der Bibel stellt das Buch Ester das Leben in Persien selbst dar. Außerbiblische Zeugnisse hingegen findet man hauptsächlich über zwei Zentren der jüdischen Diaspora in der Perserzeit: die Archive von Elephantine in Ägypten und Dokumente verschiedener Gemeinschaften in Babylonien. Andere wertvolle Informationen über das Leben von Frauen stammen aus dem antiken Griechenland, wo sich die Quellenlage weitaus breiter und reichlicher gestaltet. Griechische Quellen nehmen zwar nicht speziell Bezug auf jüdische Frauen, sie erweitern aber unser Verständnis davon, wie Frauen in der Perserzeit (in einer Nachbarkultur) sozial, rechtlich und wirtschaftlich wahrgenommen wurden. Diese mannigfaltigen Quellen können als Hintergrund für die spärlicheren biblischen und archäologischen Quellen über Juda dienen. 2.1 Frauen in Quellen der griechischen klassischen Antike Wie Sarah Pomeroy beobachtet, ist Xenophon „der erste griechische Autor, der den Nutzen der Arbeit von Frauen voll und ganz anerkennt und versteht, dass Haushaltsarbeit wirtschaftlichen Wert hat, auch wenn sie keinen Tauschwert besitzt“.9 Xenophons lobende Anerkennung des Wertes der Ehefrau ist allerdings nicht typisch für die Gesellschaft, in der er lebte, und ist wahrscheinlich ebenso wenig typisch für die biblische Gesellschaft. An anderer Stelle lesen wir bei Xenophon, dass die meisten Griechen handwerkliche Arbeit, die von Frauen und SklavInnen ausgeführt werden konnte, gering schätzten und Muße als ihr eigenes Ideal verstanden. Diese Einstellung könnte auch die biblische Sichtweise widerspiegeln, zumindest in einigen Kreisen. Deshalb müssen wir uns vor der falschen Annahme hüten, dass Produktivität und Prestige gleichzusetzen seien, und dass folglich die Bedeutsamkeit der Arbeit von Frauen eine weit verbreitete Anerkennung für Frauen hervorrief.
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Vgl. POMEROY, Xenophon, Oeconomicus, 59.
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2.1.1 Frauen in Athenischen Quellen der persischen Zeit Eine Quelle aus dem 4. Jh. v. Chr. beschreibt die Rolle von Frauen in Athen folgendermaßen: Wir haben die Hetären wegen des Vergnügens, die Konkubinen ʌĮȜȜĮțĮȓ für die täglichen Dienste an unserem Körper und die Ehefrauen, um eheliche Kinder zu machen und um einen vertrauenswürdigen Hüter der Dinge drinnen (im Haus) zu haben. 10
Wie aber passt Xenophons Darstellung des glücklichen Paares, die zu Beginn dieses Aufsatzes zitiert wurde, zu dem, was andere Quellen über Frauen im klassischen Athen zu sagen haben? Das Athener ΓϨΎΓΖ, das Heim, war der Beschreibung Xenophons nach eine Produktionseinheit. Es konnte aus einer erweiterten Familie mit mehreren erwachsenen Söhnen und deren Ehepartnerinnen und Nachkommen, wie auch Eltern und unverheirateten Töchtern bestehen. Üblicherweise gehörten SklavInnen, eventuell auch Nebenfrauen dazu. In alledem entsprach der Athener Haushalt dem biblischen Haushalt (hebräisch ʺʩʡ). Weniger sicher sind die Entsprechungen in Bezug auf den Rechtsstatus der Ehefrau, Ehepraktiken, Erbrecht und Ähnliches. Dem Athenischen Gesetz zufolge waren Frauen keine unabhängigen Personen. Der Vater oder Ehemann einer Frau war ihr țȪȡȚȠȢ, rechtlich gesehen ihr „Herr“ und Gebieter. Die Heirat einer Frau wurde von ihrer männlichen Verwandtschaft arrangiert und bestand aus zwei Teilen: dem Vertrag zwischen den männlichen Beteiligten und der eigentlichen Hochzeit, ·ΣΐΓΖ, bei der die Frau dem Haushalt des Ehemannes angeschlossen wurde. Ihre Mitgift, die ein freiwilliges Geschenk des Vaters an das Ehepaar war, wurde allerdings im Falle einer Scheidung oder des Todes des Ehemannes zurückgegeben. Sich von einer Frau zu trennen, war unkompliziert: Der Mann schickte sie einfach weg und gab ihre Mitgift zurück. 11 Die Scheidung von einem Ehemann war schwieriger. Frauen konnten sich scheiden lassen, allerdings mussten sie dazu vor einer Amtsperson erscheinen und ein Dokument vorlegen. Ihre Mitgift musste auch in diesem Fall zurückgegeben werden und ging dann an den Geber (den Vater oder Bruder der Frau). Es gibt keine Informationen darüber, ob der Ehemann die Scheidung verhindern konnte. 12 Eine kinderlose Witwe musste (mit ihrer Mitgift) ins Haus ihres Vaters zurückkehren. Wenn sie Kinder hatte, durfte sie im Haushalt des Ehemannes bleiben; diese Situation war die einzige, in der eine Frau eine Wahl hatte. Eine Witwe oder Geschiedene konnte wieder heiraten, der ursprüngliche ΎϾΕΓΖ regelte dann dazu das
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PSEUDO-DEMOSTHENES, „Gegen Neaira“, in: Antiphon, Gegen die Stiefmutter und Apollodoros, Gegen Neaira (Demosthenes 59): Frauen vor Gericht (hg. und übers. v. Kai Brodersen; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004), 141. Vgl. auch Mary R. LEFKOWITZ and Maureen B. FANT, Women’s Life in Greece and Rome: A Source Book in Translation (Baltimore: John Hopkins University Press, 1992), 82. Siehe Douglas M. MACDOWELL, The Law in Classical Athens (Ithaca: Cornell University Press, 1978), 87. MACDOWELL, The Law in Classical Athens, 88.
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Verfahren. „[Ihr Ehemann] konnte selbst auf seinem Totenbett oder in seinem Testament seine Witwe mitsamt Mitgift einem neuen Mann zur Frau geben“.13 Die Athenischen Gesetze sahen vor, dass Eigentum in männlicher Linie vererbt wurde. Eine Witwe erbte nicht das Eigentum ihres Ehemannes. Es ging stattdessen auf die gemeinsamen Kinder oder die Geschwister des Mannes über. Wenn ein Mann starb, ohne einen Sohn oder Enkelsohn zu hinterlassen, wurde seine Tochter mit einem männlichen Verwandten verheiratet, damit Kinder gezeugt wurden, die das Erbe antreten konnten. 2.1.2 Der Gortyn-Kodex (5. Jh. v. Chr.) Der umfangreiche Gortyn-Kodex aus Kreta ist eine der vollständigsten Gesetzessammlungen des 5. Jh. v. Chr. Er besteht zum größten Teil aus Gesetzen zum Familienrecht, die die Angelegenheiten der Ehe, Erbschaft, Adoption, Vergewaltigung und des Ehebruches regeln sollten. Die Gesetze legen nahe, dass Frauen in Gortyn im Vergleich zu denen in Athen eine recht hohe Position innehatten, 14 und in gewissen Bereichen herrschte sogar Parität zwischen Männern und Frauen. Frauen konnten ebenso wie Männer Eigentum besitzen, es im Falle einer Heirat behalten und frei darüber verfügen. Beiden Ehepartnern kam gleichermaßen Nutzungsrecht zu. Witwen erbten gleichberechtigt mit männlicher Verwandtschaft. Töchter erbten neben den Söhnen. Allerdings erbte ein Sohn zwei Anteile des elterlichen Eigentums, während eine Tochter nur einen bekam. Zeugen rechtlicher Maßnahmen konnten nur freie Männer, nicht Frauen werden. Ehen wurden von männlichen Verwandten (VIII.20–22) und männlichen Zeugen (VI.1–2) arrangiert. Frauen konnten eine Scheidung veranlassen und wieder mitnehmen, was sie mit ins Haus gebracht hatten – zusätzlich dazu erhielten sie einen gewissen Geldbetrag, wenn der Mann der Grund für die Scheidung war. 15 Während der Mann allerdings behielt, was er während der Ehe zum Haushalt beigetragen hatte, durfte die Frau nur die Hälfte ihres Beitrages behalten. Die Gesetze von Gortyn setzen ein rechtliches soziales Gefüge voraus, in dem die freien Bürger die Aristokratie bilden, die die drei Regierungsorgane kontrolliert. 16 Die anderen Gruppierungen sind die ΦΕΉΘ΅ϟΕΓ, das sind freie Personen ohne politische Rechte, die Leibeigenen und die SklavInnen. Stammeszusammenhänge waren weiterhin wichtig, vor allem in Fällen, in denen es eine Erbin gab (von ihr wurde erwartet, innerhalb des Stammes zu heiraten). Der Status einer Frau war entweder ihr eigener, wenn ihr Ehemann sich ihrem Haushalt anschloss, oder der ihres Mannes, wenn sie in seinen Haushalt eintrat (VII.1–10; 15). 13
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MACDOWELL, The Law in Classical Athens, 89, zitiert Demostenes 27.5, 45.28 (vgl. 266, Anm. 189). Ronald F. WILLETTS, The Law Code of Gortyn, Edited with Introduction, Translation and a Commentary (Berlin: Walter de Gruyter, 1967), 25. Deutsche Ausgabe: Franz BÜCHELER und Ernst ZITELMANN (Hg.), Das Recht von Gortyn (Aalen: Scienta, 1960). WILLETTS, Law Code of Gortyn, 29. Diese Organe sind: der Kosmos/die Kosmoi, der Ältestenrat und die Versammlung; letztere hatte nur begrenzte Macht und wird im Kodex nur einmal im Zusammenhang mit Adoption erwähnt.
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Ronald Willets, der die Gesetze von Gortyn übersetzt und ausführlich kommentiert hat, merkt an, dass einige der strikten Maßnahmen bei Übertretung dieser Gesetze darauf hindeuten, dass „Missachtungen der Besitzrechte von Frauen deutlich zugenommen haben müssen“. 17 2.2 Babylonische/Mesopotamische Quellen Die babylonischen Quellen dieser Zeit umfassen die Aufzeichnungen des Bankhauses der Muraschu-Familie aus Nippur,18 sowie die Heiratsverträge der Egibi-Familie. 19 Zusätzliche Informationen liefern kürzlich untersuchte Dokumente aus oder im Zusammenhang mit al-Yahudu, einer babylonischen Stadt, die wahrscheinlich nach dem Herkunftsland ihrer Haupteinwohnerschaft, den Exilierten aus Juda, benannt wurde. Einige der Namen in diesen Dokumenten sind jüdischen Ursprungs, was die Annahme begründet, dass in Babylonien exilierte JudäerInnen lebten. In ihrer detaillierten Untersuchung des Materials dokumentiert Christine Roy Yoder, welche verschiedenen Rollen Frauen in Mesopotamien in der Wirtschaft spielten. 20 Sie beobachtet, dass die Quellen Frauen als Haushaltsverwalterinnen darstellen, von denen einige Textilien herstellten, auf Märkten Handel betrieben und eigenen Besitz haben konnten. Frauen, die nicht zur königlichen Familie gehörten, gingen einer Vielzahl an hoch qualifizierten und ungelernten Berufen nach, in gleicher oder höherer Anzahl als Männer. 21 Die Aufzeichnungen aus dem Bankhaus der Muraschu-Familie und andere mesopotamische Dokumente zeigen, dass Frauen in der Lage waren, die Geschäfte ihres Mannes abzuwickeln, wie etwa Zahlungen zu tätigen und entgegenzunehmen. 22 Sie führten außerdem Geschäftsverhandlungen, nahmen und vergaben Kredite, verwalteten den Besitz und nahmen Zinsen. Sie waren auch am Erwerb und Verkauf von SklavInnen und Land beteiligt. 23
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Vgl. WILLETTS, Law Code of Gortyn, 21. Siehe die Muraschu-Tafeln, veröffentlicht von Matthew W. STOLPER, Entrepreneurs and the Empire: The Murašû Archive, the Murašû Firm, and Persian Rule in Babylonia (Leiden: Nederlands Historisch-Archaeologisch Instituut te Istanbul, 1985). Siehe besonders Martha T. ROTH, „The Dowries of the Women of the Itti-Marduk-Balatu Family“, JAOS 111,1 (1991): 19–37. Christine R. YODER, Wisdom as a Woman of Substance: A Socio-Economic Reading of Proverbs 1–9 and 31:10–31 (BZAW 304; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2001). Vgl. YODER, Wisdom as a Woman of Substance, 71. YODER, Wisdom as a Woman of Substance, 59–60, 66. YODER, Wisdom as a Woman of Substance, 59–60, 66–67. Transaktionen von Frauen aus königlicher Familie finden sich in Veysel DONBAZ und Matthew W. STOLPER, Istanbul Murašû Texts (Leiden: Nederlands Historisch-Archaeologisch Instituut te Istanbul, 1997), z. B. 114 [Nr. 44] und CBS 5199, zitiert von YODER, ibid., 66. Transaktionen nichtköniglicher Frauen sind z. B. dokumentiert in Nbn 741 und Camb 279, zitiert von YODER, ibid., 60. Eine ausführlichere Darstellung findet sich in YODER, ibid., 58–68.
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Von besonderem Interesse sind Heiratsverträge und Aufzeichnungen über die Mitgift. Die große Mehrheit dieser Dokumente bezeugt zwar Verhandlungen ausschließlich zwischen Männern, in denen über die Braut gesprochen wird, sie selbst aber nicht Rechtspartnerin ist. Manche der Verträge aber zeigen auch, dass Frauen auch Rechtspersonen waren, die Eigentum vergeben, erhalten und vererben konnten. Ein Dokument aus dem Archiv der Egibi-Familie besagt, dass eine Frau ihrer Enkeltochter im Rahmen von Mitgiftverhandlungen Besitz vererbt. In einem Dokument aus al-Yahudu ist die Mutter der Braut als Person genannt, bei der der Bräutigam den Antrag auf die Heirat ihrer Tochter stellt. Dieser Mutter kommt in der Verhandlung auch einiges an Silber zu. 24 Die Anwesenheit des Bruders, die in dem Dokument erwähnt wird, zeigt, dass die Mutter nicht das einzige überlebende Familienmitglied ist und unterstreicht somit die Autorität der Mutter. Wenn das auch keine typischen Beispiele sind – die meisten solcher Verträge wurden von Männern geschlossen – so bezeugen solche Fälle doch, dass Frauen als Rechtspartnerinnen in Rechtsgeschäften in Babylonien agieren konnten. Die Archive der Egibi-Familie zeigen darüber hinaus, dass eine Frau Besitz sowohl von ihrem Vater als auch von ihrem Ehemann erhalten konnte. Die Mitgift wohlhabender Bräute umfasst nach diesen Archiven zwei bis zehn SklavInnen sowie Silber. 2.3 Die jüdische Gemeinschaft in Elephantine, Ägypten Die über 100 Papyri aus Elephantine in Ägypten aus dem 5. Jh. v. Chr. liefern die ausführlichsten Informationen über das Leben jüdischer Frauen in persischer Zeit. Sie stammen aus einer Garnison von JudäerInnen, die mit ihren ägyptischen Nachbarn zusammenlebten und dem persischen König dienten. Die Archive verfolgen das Leben einiger Frauen anhand von rechtlichen Transaktionen und zeigen, dass Frauen nach ihren eigenen Wünschen heiraten und sich scheiden lassen konnten, auf Augenhöhe mit Männern. Sie konnten Eigentum besitzen und darüber verfügen, auch wenn sie verheiratet waren, und es gleichermaßen an ihre männlichen und weiblichen Nachkommen vererben. Die Dokumente zeugen von einer großen Mobilität über unterschiedliche Schichten, ethnische und religiöse Grenzen hinweg. Die ägyptische Sklavin Tapmut heiratete einen jüdischen Mann (K 2).25 Zweiundzwanzig Jahre später wurde sie freigelassen (K 5). Wiederum fünfzehn Jahre nach der Heirat übertrug ihr Ehemann Anani die Hälfte seines Hauses auf sie (K 4) und verfügte, dass das ganze Haus nach seinem Tod ihr gehören sollte. Sie hinterließen es gemeinsam ihren Kindern, zu gleichen Teilen ihrem Sohn und ihrer Tochter Jehoschima. Obwohl Tapmut als Sklavin 24
25
Moussaiff-Tafel, übersetzt und analysiert von Kathleen ABRAHAM, „West Semitic and Judean Brides in Cuneiform Sources from the Sixth Century B.C.E.: New Evidence from a Marriage Contract from al-Yahudu“, AfO 51 (2005–2006): 198–219. Emil G. KRAELING (Hg.), The Brooklyn Museum Aramaic Papyri: New Documents of the Fifth Century B.C. from the Jewish Colony at Elephantine (New Haven: Yale University Press, 1953). Da Kraeling die Dokumente nummeriert hat, heißen sie nach ihm K 1, K 2 etc.
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begann, hatte sie später eine Position im lokalen jüdischen Tempel des Gottes Jahu, wahrscheinlich einem jahwistischen Tempel, inne, die der ihres Ehemannes vergleichbar war (K 12,1). 26 Eine andere Frau, Mibtachia, war zunächst mit einem judäischen Mann verheiratet. Ihr Vater hatte ihr zu ihrer Hochzeit Besitz übertragen und deutlich gemacht, dass dieser in ihrer Hand bleiben sollte, nicht in der ihres Ehemannes (C 7).27 Anscheinend starb ihr Ehemann, bevor sie Kinder hatten. Mibtachia heiratete dann einen ägyptischen Architekten und wurde seine Geschäftspartnerin. Später ließen sie sich in Freundschaft scheiden und teilten ihre reichlichen Besitztümer auf, woraufhin sie seinen ägyptischen Geschäftspartner heiratete, der später einen hebräischen Namen annahm (ein Zeichen dafür, dass er offiziell Jude wurde?) und mit dem sie Kinder hatte, die jahwehaltige Namen bekamen. Die Heiratsverträge aller Frauen – die bis heute ältesten erhaltenen jüdischen Heiratsverträge – führen ausdrücklich auf, dass beide Ehepartner unabhängig vom Verursacherprinzip eine Scheidung herbeiführen konnten und zurückbekamen, was sie mit in die Ehe gebracht hatten. Wer von den Ehepartnern die Scheidung veranlasst hatte, musste ein „Scheidungsgeld“ in festgelegter Höhe zahlen (K 12; K 7). Der ʸʔʤ௴ʮ, ein Geschenk des Bräutigams an die Braut oder ihre Familie, wurde in keinem Fall wieder an den Bräutigam zurückgegeben (K 7). Die Ehefrau erbte den Besitz ihres Mannes nach seinem Tod, wenn keine Kinder vorhanden waren (K 7). Diese Heiratsverträge wurden als Vereinbarung zwischen Männern – dem Bräutigam und dem Vater oder Vormund der Braut – geschlossen. Andere Dokumente allerdings, wie Kredite oder Übertragungsurkunden, nennen Frauen als eigentliche Vertragspartnerinnen (C 8; C 10; K 10). Auch wenn Frauen manchmal als Vertragsparteien auftauchen, sind die Zeugen ausschließlich männlich. Frauen waren auch aktive Unterstützerinnen des jüdischen Ortstempels. Etwa die Hälfte der 103 Personen, die als SpenderInnen von Geld oder wertvollen Geschenken an den Tempel in einem Dokument verzeichnet sind, waren Frauen (C 22). Die Heiratsdokumente zählen die Besitztümer der Frauen auf und geben uns einen Einblick in deren Mitgift: die wohlhabende Tochter Tapmuts, Jehoschima, brachte 420 v. Chr. mehrere Bekleidungsstücke aus Leinen und Wolle, Silberobjekte, darunter Gebrauchsgegenstände, einen Spiegel, Olivenöl und Balsamöl, einige kleine Möbelstücke und Geld mit in die Ehe (K 7). Ihre Mutter hatte 449 v. Chr. nur ein Wollkleid, ein wenig Salbe, einen Spiegel und einige Schekel mit in ihre Ehe gebracht (K 2). Jehoschimas Reichtum kam von väterlicher Seite und lässt erkennen, dass ihre Mutter, die frühere Sklavin Tapmut, einen wohlhabenden Mann geheiratet hatte. Die Dokumente geben Auskunft über vieles mehr, doch für unsere Zwecke genügt es festzuhalten, dass in dieser Gemeinschaft rechtliche Gleichheit zwischen jüdischen 26
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Die Bezeichnung für diese Position, ʯʤʬ für ihn, ʤʰʤʬ für sie, ist nicht ganz verständlich. Der spätere Gebrauch dieses Wortes lässt darauf schließen, dass es etwas mit Musik oder Gesang zu tun hatte. Arthur E. COWLEY (Hg.), Aramaic Papyri of the Fifth Century B.C. (Oxford: Clarendon Press, 1923). Diese Dokumente werden mit C 1, C 2 etc. bezeichnet.
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Männern und Frauen in der nachexilischen, persischen Zeit herrschte. Frauen wurden in der Ehe und im Scheidungsfall wirtschaftlich geschützt. Auch wenn nicht viele solcher Dokumente erhalten sind, ist durchweg auffällig, dass Frauen ihre Ressourcen selbst verwalteten und zu Handel, Kauf und Verkauf von Besitz und Kreditanleihen befähigt waren. In dieser Gemeinschaft waren ethnische, religiöse und soziale Grenzen durchlässig. 2.4 Zusammenfassung: Status und rechtliche Stellung von Frauen Die überwiegende Mehrheit der Quellen bezeugt, dass die Entrechtung von Frauen in Athen eine Ausnahme zu der weiter verbreiteten Situation bildete, dass Frauen zwar eingeschränkte, aber eindeutige Rechte in Bezug auf Heirat, Scheidung, Besitz und Erbe hatten. Die Praktiken in zeitgenössischen jüdischen Gemeinschaften wie die in al-Yahudu und Elephantine sind besonders aussagekräftig. Die biblischen Zeugnisse, etwa Rut oder Proverbien, lassen auf eine ähnliche Situation schließen. In Rut 4 ist zu lesen, dass Noomi ihre Familienländereien veräußert und dass Rut gleichermaßen ein Anrecht darauf hat. Spr 31,14.17 sprechen deutlich davon, dass die Frau in der Lage ist, Handelsgeschäfte zugunsten ihres Haushaltes durchzuführen.
3. Nachexilische, perserzeitliche biblische Quellen Drei Quellen beziehen sich eindeutig auf die nachexilische Zeit: Esra-Nehemia, Ester und das Sprüchebuch. Bei dem Buch Rut ist der Bezug schwieriger herzustellen, da es zu einer früheren Zeit spielt, höchstwahrscheinlich ist es aber in der nachexilischen Zeit entstanden. 28 3.1 Frauen in Esra-Nehemia In Esra-Nehemia treten Frauen an Schlüsselstellen auf; allerdings werden – mit einer Ausnahme – ihre Namen nicht genannt. Die wichtigsten Texte sind die „Bundestexte“, die Beschreibung der öffentlichen Gesetzeslesung und des Versprechens, die Tora zu befolgen. Während die Anweisung des Mose in Ex 19,15 („Nähert euch keiner Frau!“) die Anwesenheit der Frauen während der Sinai-Offenbarung ein wenig ungewiss erscheinen lässt, 29 beschreibt Neh 8 zweimal ausdrücklich, dass Frauen bei der nachexilischen öffentlichen Lesung und Annahme der Tora anwesend waren (8,2.3). Dieses 28
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Anm. der Herausgeberinnen: Die inzwischen sehr reichhaltige deutschsprachige Literatur zu diesen Büchern ist in der Schlussbibliographie eingefügt. Siehe die Diskussion von Elaine GOODFRIEND, „Yitro“, in The Torah: A Women’s Commentary (hg. v. Tamara Cohn Eskenazi und Andrea L. Weiss; New York: UTJ Press, 2008), 407.
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Ereignis, das manchmal auch als „zweiter Sinai“ 30 mit dauerhaften Konsequenzen bezeichnet wird, markiert die nachhaltige Transformation der JudäerInnen in das „Volk des Buches“. Es verzeichnet die Anwesenheit von Frauen als anerkannte, aktive Partnerinnen in der in aller Form eingesetzten Gemeinschaft. Frauen sind auch Adressatinnen des gemeinschaftlichen Versprechens in Neh 10,1–29. Wir lesen von dem Gelöbnis des „übrigen Volkes“: „die Priester, die Leviten, die Torhüter, die Sänger, die Tempeldiener und alle, die sich aus den Völkern der Länder zur Weisung Gottes hin abgesondert haben, sowie ihre Frauen, ihre Söhne und ihre Töchter, alle, die Erkenntnis und Einsicht haben, schließen sich ihren Verwandten, den Mächtigen unter ihnen, an und treten in Eid und Schwur, gemäß der Weisung Gottes zu leben“ (Neh 10,29–30). 31
Andere Texte unterstützen diesen Eindruck der Macht und des Einflusses von Frauen. Besonders interessant ist die Prophetin Noadja, die als Gegnerin Nehemias auftritt. Nehemia greift sie heraus, um sie zu verfluchen, zusammen mit seinen Hauptgegnern, dem Statthalter Samarias und dem Amtsträger Tobija: „Gedenke es, mein Gott, dem Tobija und dem Sanballat nach diesen ihren Taten und auch der Prophetin Noadja und dem Rest der ProphetInnen, die mich in Furcht versetzen wollten!“ (Neh 6,14). Indem sie Noadja mit anderen Führungspersönlichkeiten auf eine Stufe stellen, weist Nehemias Anklage darauf hin, dass ihre Position Gewicht besaß. Nehemia spricht ihr nicht ihre Autorität als Prophetin ab. Bedauerlicherweise wissen wir nichts Genaueres über sie. Die Problematik der so genannten „fremden“ Frauen verdeutlicht in sehr lebendiger Weise die Wichtigkeit und den Einfluss von Frauen, auch wenn es in diesem Fall um die Gefahr geht, die von ihnen ausgeht. Esra 9,1–2 zufolge haben die Rückkehrer aus dem Exil, vor allem ihre Anführer, Frauen aus „den Völkern der Länder“ geheiratet. Esra 9 vergleicht die Handlungen dieser Frauen mit denen der kanaanäischen Bevölkerung, die Israel Jahrhunderte zuvor beim Betreten des Landes hätte meiden und sogar vernichten sollen (siehe z. B. Dtn 7,1–6; 23,4–7). Es wird nicht deutlich, ob die Frauen, gegen die sich Esra 910 wendet, überhaupt anderen Volksgruppen (den MoabiterInnen etc.) angehören, oder ob sie nur beschuldigt werden, wie diese zu sein (9,1–2). Es ist also die Frage, ob sie wirklich fremd sind oder nur als fremd angesehen werden, weil sie zu israelitischen oder judäischen Gruppierungen gehören, die nicht ins Exil gegangen waren oder das Ethos derer nicht teilten, die Esra-Nehemia verfassten. In beiden Fällen basiert die Krise, die Esra 910 abbildet, auf der Annahme, dass Frauen, deren religiöse Praktiken nicht mit den gültigen Maßstäben von Esra-Nehemia 30
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Siehe Tamara C. ESKENAZI, „Ezra-Nehemiah“, in The Women’s Bible Commentary (hg. v. Carol A. Newsom und Sharon H. Ringe; London: SPCK und Louisville: Westminster John Knox Press, 1992), 116–123; 122. Im englischen Original hat Tamara Eskenazi hebräische Passagen entweder selbst übersetzt oder die NRSV zitiert. Die Übersetzerin hat diese Verse in Anlehnung an die Elberfelder Übersetzung (Sonderausgabe der revidierten Fassung 41992; Paderborn: Voltmedia GmbH, 2005) übertragen oder diese Übersetzung zitiert.
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vereinbar waren, verstoßen werden sollten. Der Prozess richtet sich gegen die Männer, die die „Mischehen“ 32 eingehen – nicht gegen die Frauen –, wobei sich der größte Widerstand gegen die Priester richtet, denen es nach Lev 21 verboten ist, fremde Frauen zu heiraten. Esra 10 berichtet von dem Versprechen der Priester, ihre fremden Ehefrauen wegzuschicken (10,19). Das Schicksal der anderen Frauen wird in Esra-Nehemia nicht erwähnt. 33 Auch Nehemia wendet sich gegen fremde Frauen. Er sagt: Auch sah ich in jenen Tagen die Juden, die aschdodische, ammonitische und moabitische Frauen geheiratet hatten. Und die Hälfte ihrer Kinder redete aschdodisch, keines von ihnen konnte jüdisch reden, sondern nur in der Sprache des einen oder des anderen Volkes. (Neh 13,23–24)
Nehemia verkündet, dass die fremden Frauen sogar König Salomo (Jahrhunderte zuvor) zum Sündigen verführt hatten (13,26), und verstößt anschließend den Priester, der eine Frau aus Samaria geheiratet hatte. Obwohl sich die Situationen in Esr 910 und Neh 13 deutlich unterscheiden, tragen sie einige wichtige Einsichten zur Stellung der Frauen im Haushalt und in der Gemeinschaft bei. Es scheint um die soziale Schicht und den wirtschaftlichen Status zu gehen: Judäer aus der Oberschicht heiraten in die Oberschicht der umliegenden Nationen ein, vielleicht, wie Salomo es getan hatte, um politische und ökonomische Verbindungen zu stärken. Die klare Botschaft von Esra-Nehemia ist, dass von diesem Zeitpunkt an exogame Ehen, das heißt Ehen mit Außenstehenden, verboten sind. Sie bedrohen den Zusammenhang der Gemeinschaft und gefährden ihre Beziehung zu Gott. Daraus lassen sich einige Schlüsse in Bezug auf Frauen ziehen: x Erstens scheinen Frauen loyal gegenüber ihren eigenen Traditionen zu sein. Sie erhalten ihre eigenen kulturellen und religiösen Praktiken aufrecht und nehmen nicht die ihrer Ehemänner an. x Zweitens sind Frauen einflussreich. Ihre Verbindung zur eigenen Kultur und Religion ist so maßgeblich, dass sie mitsamt ihren Nachkommen regelrecht entfernt werden müssen, wenn Unterschiede zur Kultur und Religion des Mannes bestehen. Diese Problematik scheint in der nachexilischen Zeit von großem Belang zu sein – so wie auch im Athen dieser Zeit, wo 451 ein ähnliches Gesetz erlassen wurde – vielleicht, weil die Bürger nun eine größere Rolle im religiösen und politischen Leben der Gemeinschaft spielten. Solche Umstände, in denen mehrere Familien die politische Linie bestimmen, rufen ein größeres Bemühen um gemeinsame Normen hervor als Situationen, in denen bindende Entscheide von Herrschern von oben herab festgelegt werden. 32
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Da das deutsche Äquivalent für „mixed marriage“, „Mischehe“, durch den Gebrauch im Nationalsozialismus belastet ist, wird der Begriff hier in Anführungszeichen gesetzt. Esra 10,44 ist zweideutig: die meisten englischen (und deutschen) Übersetzungen nehmen einen Vers aus 3 Esra hinzu (9,36), der spezifiziert, dass diese Frauen tatsächlich verstoßen wurden. In der Hebräischen Bibel findet man dies allerdings nicht. Die Anzahl der Männer, die „Mischehen“ eingegangen sind, liegt bei etwa 110, wovon 17 kultische Amtsträger sind.
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x Drittens werden Frauen nicht automatisch in das religiöse und kulturelle Leben ihrer Ehemänner aufgenommen. Es wird von ihnen erwartet, ihre Traditionen beizubehalten. x Viertens gehen die Kinder mit ihren Müttern. Auch wenn es nicht angemessen ist, hier von Beispielen matrilinearer Abstammung zu sprechen, ist die vorausgesetzte unzertrennliche Bindung zwischen Mutter und Kind bemerkenswert. Väter behalten nicht das Sorgerecht für die Kinder. Auch wenn einige moderne AuslegerInnen verständlicherweise entsetzt sind über die Entscheidung, die Kinder fortzuschicken, wäre es schlimmer gewesen, die Kinder von ihren Müttern zu trennen. Schließlich, obwohl es auch unter den Entscheidungsträgern Frauen gibt (Esr 10,1), werden die fremden Frauen selbst nicht angesprochen und dürfen sich nicht zu ihrer Situation äußern. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft scheint ein hoch umstrittenes Thema in der nachexilischen Gemeinschaft gewesen zu sein. Frühere Identitätsmerkmale wie z. B. der Geburtsort galten nicht mehr in gleicher Weise, und die junge und kleine jüdische Gemeinschaft war eine Minderheit in Juda und erst recht in der Diaspora. Jesaja 56,3–8 ist einer von mehreren nachexilischen Texten, die auf diese Herausforderungen antworten. Er nimmt eine andere Position ein als Esra-Nehemia, indem er Fremde willkommen heißt. Das Buch Rut beschreibt, wie eine moabitische Frau in einen judäischen Haushalt kommt – entgegen dem Verbot in Dtn 23,4–7 und den Einsprüchen aus Esra-Nehemia – und eine der Vorfahrinnen Davids, des höchst gefeierten Königs Israels, wird. 3.2 Frauen im Buch Rut Wie als Antwort auf den Ausschluss der fremden Frauen in Esra-Nehemia veranschaulicht das Buch Rut, wie eine moabitische Frau in die Gemeinschaft Judas aufgenommen, und die Urgroßmutter von Israels größtem König wird. Mehr noch, während Frauen in Esra-Nehemia schweigen, sind sie im Rutbuch wortgewaltige Vorkämpferinnen. Obwohl das Buch Rut von der Zeit der Richter erzählt (11. Jh. v. Chr.), wurde es wahrscheinlich in der nachexilischen Zeit geschrieben und bietet eine im Vergleich zu Esra-Nehemia andere Antwort auf die Frage, ob fremde Frauen in die Gemeinschaft aufgenommen werden können. 34 Kein anderes biblisches Buch ist so auf Frauen und deren Leben ausgerichtet wie das Buch Rut. Während das Buch einerseits die Entschlossenheit der Moabiterin Rut preist und ihre und Noomis Findigkeit feiert, zeigt es andererseits die Grenzen der Befugnisse von Frauen auf, die sich nicht auf eine männliche Autorität berufen können. Dabei präsentiert es eine Welt, in der Frauen von sich aus aktiv werden können, in der aber alle offiziellen Entscheidungen auf Männer übertragen sind oder von Männern 34
Siehe Frederick BUSH, Ruth/Esther (WBC 9; Waco: Word Books, 1996), 18–30; Tamara C. ESKENAZI und Tikva FRYMER-KENSKY, The JPS Bible Commentary: Ruth (Philadelphia: Jewish Publication Society, 2011), XVI–XIX.
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bestätigt werden müssen. In dieser Hinsicht wird im Buch Rut das typische Muster der antiken Welt gewahrt, in dem Frauen Macht ausüben können, um ihre Ziele zu erreichen, aber Männer wegen der erforderlichen Autorität für ihre Sache gewinnen müssen. 35 Carol Meyers macht auf die Präsenz einer Gemeinschaft von Frauen im Buch Rut aufmerksam. 36 Die Frauen aus Bethlehem umringen Noomi, als sie dort ankommt (1,19). Am Ende tauchen sie wieder auf (4,13–14) und deuten die gesamte Erzählung um Rut auf die Aussage hin, dass „der Noomi ein Sohn geboren“ ist (4,17), der sie im Alter versorgen wird (4,13–14), und sie geben dem Kind einen Namen (4,17). Auffällig ist allerdings auch die vorhergehende Isolation der beiden Frauen, die Witwen und zudem wahrscheinlich arm sind. In den vielen Monaten zwischen der Ankunft in Kap. 1 und der Geburt des Kindes in Kap. 4 sind Rut und Noomi alleine zuhause, außer wenn Rut auf dem Feld arbeitet, in der Nähe der „Mädchen“ des Boas, mit denen aber auch keine Interaktion beschrieben wird. In dem Bild, das sich im Buch darbietet, fehlt es ihnen ganz und gar an Unterstützung. Das Bild passt zu den Nöten von Witwen, von denen auch andere biblische Texte zeugen (z. B. die Witwe in 2 Kön 4,1), und zu der scharfen Kritik an der Unterdrückung von Witwen in der prophetischen Literatur. Einige zusätzliche Einsichten können noch festgehalten werden. Erstens arbeiten „Mädchen“ auf dem Feld und sammeln Getreide – eine Beschäftigung, die auch von ägyptischen Malereien her bekannt ist. 37 Zweitens wurden Frauen in Ruts Situation wahrscheinlich belästigt, wenn sie sich nicht in der Gesellschaft anderer Frauen befanden, entweder weil sie fremd oder arm waren (vgl. Rut 2,16.22). In Bezug auf die Rechtslage macht Rut 4 deutlich, dass eine Frau das Familienerbe antreten konnte, entweder im Sinne eines Nießbrauchs oder als echtes Besitztum. Dies lässt sich aus der Tatsache schließen, dass das Land von Noomis Ehemann nicht an den nächsten männlichen Verwandten zurückgeht, sondern in Noomis Hand bleibt (4,3). Die Tatsache, dass Boas im Namen Ruts und Noomis verhandelt, lässt die Frage offen, ob die Frauen selbst die rechtliche oder offizielle Möglichkeit hatten, Geschäfte zu führen. Wir können nicht entscheiden, ob Boas im Namen der Frauen handelt, weil sie dazu nicht in der Lage sind oder weil er ihnen freundlicherweise die mühsame Arbeit erspart. Ein ungewöhnlicher Verweis auf das Haus der Mutter in Rut 1,8 bezieht sich wahrscheinlich auf den Zuständigkeitsbereich der Mutter als Kontext, in dem sich eine Witwe nach dem Tod ihres Ehemannes zeitweilig befand, bis sie einen neuen Ehemann 35
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Einen anderen Interpretationsansatz der Geschichte Ruts und Noomis liefert der Beitrag von Miren Junkal GUEVARA LLAGUNO in diesem Band. Siehe Carol MEYERS, „,Women in the Neighborhood‘ (Ruth 4.17): Informal Female Networks in Ancient Israel“, in Ruth and Esther (hg. v. Athalya Brenner; FCB 2.3; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1999), 110–127; DIES., „Returning Home: Ruth 1:8 and the Gendering of the Book of Ruth“, in A Feminist Companion to Ruth (hg. v. Athalya Brenner; FCB 3; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1993), 85–114. Siehe Abb. 1 in Silvia Schroers Beitrag in diesem Band, S. 123.
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gefunden hatte. Diese Erwähnung steht der Erwartung anderer biblischer Texte entgegen, in denen Witwen nach dem Tod ihres Ehemanns ins Haus ihres Vaters zurückkehren (z. B. Gen 38,11 und Lev 22,13). Wie Carol Meyers beobachtet, setzt der Begriff des mütterlichen Hauses den Akzent der Frauenrolle auf die Erfüllung der ehelichen Übereinkünfte, die „Scharfsinn und Diplomatie“ 38 beinhalten. Meyers folgert, dass „im Überleben des Begriffs ‚Haus der Mutter‘ – als Gegensatz zum gebräuchlichen Begriff des Familienhaushaltes als grundlegendem Bestandteil der Gesellschaft – die Weisheit und Macht von Frauen im alten Israel kurzzeitig sichtbar wird“. 39 Frauen sind im Buch Rut der Dreh- und Angelpunkt der historischen Entwicklungen. 40 Die davidische Genealogie am Ende des Buches (4,18–22) verbindet die Vergangenheit (die Erwähnung von Tamars Sohn Perez in 4,18, davor aber auch von Tamar selbst; siehe 4,12, wo Tamar namentlich genannt wird) mit der Zukunft des Volkes. Die Namen in der abschließenden Genealogie sind ausschließlich männlich. Dennoch macht die ausführliche Darstellung der Frauenrollen in der Geschichte, sowie die Erwähnung von Rahel und Lea, Tamar, Rut und Noomi als Vorfahrinnen (siehe 4,11.12.13.17) deutlich, dass diese männliche Linie, wie alle genealogischen Linien, das Werk von Frauen ist; in diesem Falle von einfallsreichen und mutigen Frauen. Eine solche Wertschätzung von Frauen ist besonders in den biblischen Texten der persischen Zeit wahrzunehmen und weist auf eine weiter verbreitete Anerkennung der Stellung von Frauen in der Kultur und deren literarischen Werken hin. Orit Avnery wirft ein besonderes Licht auf das Phänomen, wenn sie behauptet, dass die Bücher Rut und Ester ein literarischer Versuch sind, mit den existenziellen Gegebenheiten der perserzeitlichen jüdischen Gemeinschaft umzugehen. Im Besonderen richten sich diese Erzählungen auf die Marginalisierung von jeweils „Anderen“, die einen Zugang zur Macht benötigen – eine vergleichbare Position zu der der jüdischen Gemeinschaft unter der imperialen Perserherrschaft.41 Sie hebt hervor, dass Frauen die geeigneten Vorkämpferinnen für solche Unterfangen sind, da Frauen gleichzeitig „Außenstehende“ (von außerhalb zur Familie hinzugekommen) und, insofern sie für das „Zuhause“ stehen, „Insider“ sind. 3.3 Frauen im Buch Ester Das Buch Ester berichtet vom jüdischen Leben in der Diaspora während der Perserzeit. Wie das Buch Rut stellt es eine Frau in den Vordergrund und veranschaulicht ihre 38
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Carol MEYERS, „,To Her Mother’s House‘: Considering a Counterpart to the Israelite Bet ab“, in The Bible and the Politics of Exegesis: Essays in Honor of Norman K. Gottwald on His Sixty-Fifth Birthday (hg. v. David Jobling et al.; Cleveland: Pilgrim Press, 1991), 39–51; 50. Siehe MEYERS, „To Her Mother’s House“, 51. Siehe Orit AVNERY, „The Threefold Cord: Interrelations Between the Books of Samuel, Ruth and Esther“ (Ph.D. diss., Bar Ilan University, 2011 [Hebräisch]), 105. AVNERY, „The Threefold Cord“, 1–13.
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Fähigkeit zur Machtausübung, dieses Mal in den höchsten gesellschaftlichen Gefilden. Es erzählt die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau in einer außergewöhnlichen Situation (einer persische Königin), und hat somit wenige Hinweise auf das Leben gewöhnlicher Frauen zu bieten. Dennoch gibt das Vorhandensein des Buches in der Bibel Aufschluss über die Wahrnehmung von Frauen in der nachexilischen, persischen Zeit. 42 Das Buch Ester ist eher Fiktion als Geschichte, und es handelt von einer königlichen Frau, deren Leben am Hof nicht die gewöhnliche Erfahrung von Frauen widerspiegelt. Die wahrscheinlich wichtigste Information, die Ester über Frauen liefert, ist die Botschaft, dass Frauen Macht im politischen Bereich ausüben konnten. Waschtis Weigerung, dem König zu gehorchen, löst eine nationale Krise der Krone aus, und Esters Taktgefühl und Wagemut veranlassen politische Veränderungen, die ihr Volk retten. Ester besitzt zwar keine Autorität am Hof und ist genötigt, ihre Ziele durch gutes Zureden ihrem Mann gegenüber zu erreichen, doch sie hat eine Autoritätsposition in der jüdischen Gemeinschaft inne, in welcher das Buch entstanden ist. Dieses Phänomen an sich macht bereits eine kulturspezifische Aussage über Frauen in nachexilischer Zeit, auch wenn die Lebenswirklichkeit der Frauen anders aussah. Am Ende des Buches erfahren wir, dass der offizielle Brief einer Frau eine autoritative Rolle im jüdischen Leben spielt. Unabhängig von historischer Richtigkeit bestätigt die Erzählung die Anweisungen Esters und erklärt sie für verbindlich für alle Generationen. Und die Königin Ester, die Tochter Abihajils, und der Jude Mordechai, schrieben mit allem Nachdruck, um diesen zweiten Purimbrief als Pflicht festzulegen. Und er sandte Briefe an alle Juden, in die 127 Provinzen im Königreich des Ahasveros, Worte des Friedens und der Treue, um diese Purimtage in ihren festgesetzten Zeiten als Pflicht festzulegen, so wie der Jude Mordechai und die Königin Ester es ihnen als Pflicht festgelegt hatten und wie sie es sich selbst und ihren Nachkommen als Pflicht festgelegt hatten, nämlich die Regelung der Fasten und ihrer Wehklage. Und der Befehl Esters legte diese Purimvorschriften als Pflicht fest, und es wurde in einem Buch niedergeschrieben. (Est 9,29–32)
Das hebräische Verb, das in 9,29 als „schrieben mit allem Nachdruck“ übersetzt ist, wird im femininen Singular gebraucht, was eindeutig Ester als Autorin des Briefes ausweist. Dafür spricht auch der letzte Vers dieser Passage. Wie ForscherInnen anmerken, gibt es klare Anzeichen dafür, dass Mordechais Name zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt wurde.43 Ältere Textstufen bringen die Einmaligkeit der Rolle Esters deutlicher zur Geltung. Doch auch in der kanonisierten Version ist genug erhalten, um festzustellen, dass Esters Anweisungen aufgeschrieben wurden und eine jüdische Gemeinschaft sie als für immer verbindlich akzeptiert hat. Neben dieser erstaunlichen Bejahung weiblicher Autorität ist aber auch die Hilflosigkeit der meisten Frauen zu erkennen. Junge Frauen werden nach Laune des 42
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Einen anderen Interpretationsansatz des Buches Ester bietet der Beitrag von Susan Niditch in diesem Band. Siehe z. B. David J. A. CLINES, Ezra, Nehemiah, Esther (NCB Commentary; Grand Rapids: Eerdmans, 1984), 331.
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Königs zusammengetrieben und in sein Bett geschickt, ob sie wollen oder nicht (2,1–8). Ester selbst riskiert den Tod, als sie sich ihm unaufgefordert nähert (4,10–17). Zusätzlich ist Ester als Königin an den Palast gebunden und kann sogar mit ihren Verwandten nur durch eine Mittelsperson Kontakt halten. Das ist das Portrait des Lebens einer höchst privilegierten Frau im Buch Ester. Diese Details spiegeln, dass Frauen ein sehr eingeschränktes Leben führten, auch wenn das Buch die außerordentlichen Errungenschaften einer außerordentlichen jungen Frau beleuchtet. 3.4 Frauen in Proverbien Das Sprüchebuch (Proverbien) wird weithin als „Anleitung“ zur Erziehung junger Männer der Elite verstanden. Es stellt Frauen als eine Art höhere Gewalt dar, mit der „Mann“ rechnen muss. „Gute“ Frauen lenken das Schicksal eines Mannes zu Erfolg und Glück; „böse“ Frauen treiben ihn in den Ruin. Letztere stellen eine andauernde Versuchung für die jungen Männer dar, die die Zielgruppe der AutorInnen des Buches bilden. 44 Gerahmt wird das Buch von einer Botschaft, in der es um Frauen geht. Das letzte Kapitel beginnt mit den Instruktionen der Mutter König Lemuels (31,1–9), gefolgt von dem längeren alphabetischen Gedicht, das die „fähige Ehefrau“ lobt (31,10–31) und das gesamte Buch zum Abschluss bringt. Das Gedicht ist der biblische Text, der am ausführlichsten die Rollen und Verantwortungsbereiche von Frauen darstellt. Beginnend mit „eine fähige Frau – wer findet sie? Weit über Korallen geht ihr Wert“ (31,10), präsentiert es den Haushalt als wirtschaftlichen Mittelpunkt der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln und Kleidung, bei der die Frau die volle Verantwortung trägt. Der hebräische Ausdruck wird manchmal mit „eine Frau von Tapferkeit“ übersetzt, was den Anklang an Macht wiedergibt, der im hebräischen Wort ʬʑ ʩʧʔ mitschwingt; ein Begriff, der anderswo militärische oder andere Arten von Macht bezeichnet. Die unermüdlichen Aktivitäten der Ehefrau kommen ihrer Familie und der Gemeinschaft darüber hinaus zugute. Sie hält den Geldbeutel in der Hand, aus dem die Wohltätigkeit für die Armen bezahlt wird. Der Haushalt ist ʤ ʕʺʩʒˎ, „ihr Haus“ (31,15.21). Das Gedicht nennt eine Reihe von Tätigkeiten, die beinahe alle mit dem übereinstimmen, was Xenophon als Haushaltstätigkeiten von Frauen beschreibt, sowie mit dem, was ForscherInnen wie Carol Meyers auf Grundlage anderer Quellen, etwa der materiellen Kultur oder Archäologie des judäischen Hochlandes, beschreiben. In den Proverbien ist die Ehefrau dafür verantwortlich, Nahrungsmittel für den Haushalt zu beschaffen (31,15); sie kauft und bepflanzt Felder und Weinberge (31,16). Sie erwirbt Flachs und Wolle (31,13) und webt daraus sowohl Kleider und textile Einrichtungsgegenstände für den Haushalt (31,18.21–22) als auch Stoffe, die sie mit Gewinn verkauft (31,24). Vorbildlich beaufsichtigt sie das (weibliche) Personal und ist großzügig gegenüber den Armen. Sie ist eine gute Verwalterin (31,27), deren Tugenden und 44
Zur Interpretation des Stereotyps der „guten“ und der „bösen“ Frau in den Proverbien siehe den Beitrag von Christl M. Maier in diesem Band.
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Fähigkeiten das Wohlergehen ihrer gesamten Familie sichern und Gewinn erzielen (31,21). Das Vermögen der Familie beruht auf ihrem Fleiß, nicht auf dem ihres Mannes. Der Schwerpunkt liegt durchweg auf ihrer Fähigkeit als Verwalterin, ähnlich wie es bei Xenophon der Fall ist. Interessanterweise wird in diesem Abschlussgedicht nichts über Kindererziehung gesagt, obwohl die Frau auch Mutter ist – nach 31,28 wird sie von ihren Kindern gelobt. Folglich erwähnt Spr 31,10–31 die Aufgaben nicht, die das Leben einer Frau in erster Linie bestimmt haben, nämlich Kinder bekommen und großziehen. An anderer Stelle wiederum verleiht das Sprüchebuch der Bedeutung mütterlicher Unterweisung für die Sozialisation und Bildung der Kinder Ausdruck (1,8; 6,20). Darüber hinaus geben die Worte der Mutter des Königs Lemuel einen Hinweis auf die innige Bindung einer Mutter zu ihrem Kind, wenn sie ihn mit „Mein Sohn … Sohn meines Leibes … Sohn meiner Gelübde“ (31,2) anredet, bevor sie Worte der Unterweisung an ihn richtet, die Warnungen vor gefährlichen Frauen beinhalten. Das Sprüchebuch stellt die Ehefrau, die im Bild der Hirschkuh metaphorisiert wird (5,19) – als sanftes Wesen, das jederzeit fähig und bereit ist zu sättigen – der verführerischen „ausländischen“ und „fremden“ Frau (5,3; 6,20–35) entgegen. Wie Christl Maier (in diesem Band) schreibt, wird diese Frau als Ehebrecherin sexualisiert, die junge Männer durch ihr dreistes Verhalten in der Öffentlichkeit und Einladungen in ihr Schlafzimmer in 7,1–27 in ihr Verderben führt. Abgesehen vom tendenziösen Charakter dieses Abschnitts, der deutlich eine Warnung anzeigen soll, und der unvermeidbaren Übertreibung, sind in der Darstellung der ungezügelten oder „fremden“ Frau gewisse Züge des Lebens einer Frau erkennbar. Zum Ersten erfahren wir, dass die Frau Gelübde abgelegt und ein Heilsopfer, ihr ʭʩʮʬˇ, dargebracht hat (7,14–15). Diese Punkte sprechen dafür, dass Frauen Gelübde ablegten und sie erfüllten, dass sie in der Lage waren bzw. von ihnen erwartet wurde, selbst Opferleistungen zu erbringen, auch wenn sie verheiratet waren, und dass sie unter bestimmten Bedingungen entscheiden konnten, wer das Opferfleisch mit ihnen genießen durfte. Dieses Bild stimmt in großen Teilen mit den Heilsopferbestimmungen in Lev 7,11–21 und 22,21 und den Bestimmungen zu den Frauengelübden in Num 30,4-17 überein. Der Textabschnitt hilft also, die Unabhängigkeit von Frauen in diesem Bereich des Opferkultes nachzuweisen. Zum Zweiten entführen die Worte der „fremden“ Frau die LeserInnen in ein luxuriöses Schlafzimmer. Sie sagt: „Mit Decken habe ich mein Bett bedeckt, mit buntem ägyptischem Leinen. Ich habe mein Lager benetzt mit Myrrhe, Aloe und Zimt“ (Spr 7,16–17). Die ʭʩ ʑːʔʡʸʔʍ ʮ „Decken“ kommen auch im Hohelied und in Spr 31,22, als Teil der Waren vor, die die Frau webt.
4. Schlussfolgerungen Es ergeben sich mehrere Schlussfolgerungen. Die nachexilische Gemeinschaft in Juda war klein und kämpfte um ihr physisches und religiöses Überleben inmitten eines multiethnischen sozialen Umfelds unter fremder Herrschaft. Wie auch in der vorexilischen Zeit lagen die Hauptverantwortlichkeiten von Frauen im Haushalt. Ihre
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Bedeutsamkeit und Macht in diesem Bereich wurden bereitwillig anerkannt. Ein wichtiger Unterschied zur vorexilischen Situation ist die größere Armut im Juda der nachexilischen Zeit, die das Leben von Frauen beschwerlicher machte. Gewisse Gruppen lebten allerdings in relativem Wohlstand, der Frauen größere Freiheit und Unabhängigkeit ermöglichte. In der Beschreibung des Lebens von Frauen sind sich die Quellen darin einig, dass Brot backen und Weben zentrale Aufgaben waren. Beides waren in der Antike mühsame Tätigkeiten. Es dauerte drei Stunden, genug Mehl für eine Familie von sechs Personen herzustellen. Die technologische Entwicklung der Mühle in römischer Zeit erleichterte diesen Vorgang ein wenig, aber in der persischen Zeit war diese Tätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes eine „aufreibende“ Arbeit.45 Auf die erforderliche körperliche Kraftanstrengung nimmt Xenophon Bezug, wenn der Ehemann empfiehlt, dass seine Frau es zeitweise – aber nur zeitweise – als Form körperlicher Ertüchtigung durchführt. Archäologische Funde zeigen die körperlichen Schäden und Verformungen, die von solcher Arbeit herrührten.46 Aus diesem Grund, wie Xenophon und Spr 31 gleichermaßen deutlich machen, brauchte eine Ehefrau Haushaltshilfen; SklavInnen bei Xenophon und „Mägde“ bzw. „Mädchen“ in Spr 31,15. Der Großteil der landwirtschaftlichen Haushalte im verarmten nachexilischen Juda besaß den Luxus solcher HelferInnen nicht und war allein auf die Fähigkeit der Frau angewiesen, die Arbeit selbst zu stemmen – in Esr 2,65; Neh 7,67 ist die Rede von nur 7337 SklavInnen in der Aufzählung der über 42000 Menschen, die die Provinz Juda bevölkerten. Ohne SklavInnen war das Leben einer Frau eine andauernde Schinderei. In Anbetracht der Armut der Provinz Juda kann festgehalten werden, dass die wirtschaftlichen Nöte für die meisten Frauen im nachexilischen Juda – mit Ausnahme der in Spr 31 dargestellten kleinen Elite – zu einer anderen Lebensqualität führten als zu der der glücklichen Hausfrau bei Xenophon. In den Quellen ist die rechtliche Ermächtigung von Frauen erkennbar, wenn es um ihre Rechte als Ehefrauen, Erbinnen und gesetzliche Vertreterinnen geht. Die größere Anerkennung der Rechtsposition und der Rechte von Frauen, zusammen mit einer Tendenz zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung für die unterschiedlichen Schichten der judäischen Gemeinschaft, könnte der Grund dafür sein, dass die ethnische Herkunft von Frauen relevant wurde, wenn es um die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ging. In Athen und Juda waren Frauen nicht länger nur im Haushalt und der Gruppe ihres Ehemannes verankert, sondern wurden auch nach den Maßstäben ihrer eigenen Herkunft identifiziert. Sowohl in Athen im Jahre 451 v. Chr. als auch in Esra-Nehemia (in Berichten, die auf die Jahre 458 und 444 v. Chr. verweisen) wurden Ehen derart beschränkt, dass sie legitime, der Gemeinschaft zugehörige Nachkommen hervorbrachten, und in beiden Gemeinschaften wurden „Mischehen“ verboten. Die ethnische und religiöse Zugehörigkeit einer Frau galt auf neue Weise. Dennoch war eine „Mischehe“ möglich – wie am Beispiel der Rut erkennbar ist –, wenn eine Frau
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Siehe MEYERS, „Grinding to a Halt“, 65–74. Ibid.
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der Hingabe an den Gott Israels und ihrer Verpflichtung gegenüber dem Volk Israel den Vorrang gab und sich von ihrer „fremden“ Herkunft loslöste. Zu erwähnen ist auch, dass die Quellen den Einfluss von Frauen und die Bedeutung des Zuhauses deutlicher herausstellen als Quellen früherer Epochen. Diese Entwicklung könnte mit den veränderten politischen und sozialen Umständen zusammenhängen. Mit dem Niedergang des selbstständigen Staates und dem Wiederaufbau eines Lebens als unterworfenes Volk unter imperialer Herrschaft gewinnt das Haus eine neue Wertschätzung als Schauplatz, an dem entscheidende Ereignisse stattfinden. Aus dem Englischen übersetzt von Iris Cramer
Frauennamen und Genderperspektiven in der Chronik Sara Japhet Hebräische Universität Jerusalem (Israel) Die Chronikbücher wimmeln von Notizen über Frauen. Über sechzig Frauen werden namentlich aufgeführt – mehr als in irgendeinem anderen biblischen Buch. Auch einige anonyme Frauen finden Erwähnung, meist im Verhältnis zu anderen Personen, wie etwa „die Frau von x“, „die Tochter von y“ und „die Mutter von z“. An mehreren Stellen kommen Frauen als Gruppierung vor. 1 Einige der Namen und Namensträgerinnen werden auch in anderen biblischen Büchern erwähnt und wurden wahrscheinlich aus diesen Quellen übernommen. Andere wiederum begegnen ausschließlich in der Chronik. Die Position der Chronikbücher zur Frauen- und Genderthematik ist komplex, darum sind vor der eigentlichen Diskussion des textlichen Befundes einige Vorbemerkungen angezeigt.
1
In der biblischen Forschung wurde den Frauen in der Chronik wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Zu bisherigen Forschungsdiskussionen siehe Alice L. LAFFEY, „I and II Chronicles“, in The Women’s Bible Commentary (hg. v. Carol A. Newsom und Sharon H. Ringe; London: SPCK und Louisville: Westminster John Knox, 1992), 110–115; Marie-Theres WACKER, „Die Bücher der Chronik: Im Vorhof der Frauen“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 21999), 146–155; Antje LABAHN und Ehud BEN ZVI, „Observations on Women in the Genealogies of 1 Chronicles 1–9“, Bib 84 (2003): 457–478; Sara JAPHET, The Ideology of the Book of Chronicles and its Place in Biblical Thought (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 31989; repr. Winona Lake: Eisenbrauns, 2009), 271–274; DIES., „The Israelite Legal and Social Reality as Reflected in Chronicles: A Case Study“, in Sha’arei Talmon: Studies in the Bible, Qumran, and the Ancient Near East Presented to Shemaryahu Talmon (hg. v. Michael Fishbane et al.; Winona Lake: Eisenbrauns, 1992), 233–244; repr. in DIES., From the Rivers of Babylon to the Highlands of Judah: Collected Studies on the Restoration Period (Winona Lake: Eisenbrauns, 2006) 79–91; DIES., „The Prohibition of the Habitation of Women: The Temple Scroll’s Attitude toward Sexual Impurity and Its Biblical Precedents“, in Comparative Studies in Honor of Yohanan Muffs = JANES 22 (1993): 69–87; repr. in From the Rivers of Babylon, 268–288; Gary N. KNOPPERS, „Intermarriage, Social Complexity and Ethnic Diversity in the Genealogy of Judah“, JBL 120 (2001): 15–30; 19–23. Zu relevanten Passagen siehe auch die Kommentare zu den Chronikbüchern. Das jüngst erschienene Buch von Julie KELSO mit dem vielversprechenden Titel O Mother, Where Art Thou? An Irigarayan Reading of the Book of Chronicles (London: Equinox, 2007) ist eine psychoanalytische Diskussion der Chronik aus der Perspektive der psychoanalytischen Feministischen Theorie von Luce Irigaray. Die Autorin beschreibt diese Diskussion als „eine menschenfreundliche Lesart, die eine therapeutische Begegnung mit der Vergangenheit zum Zweck der Veränderung in der Zukunft ermöglicht“ (xii; Hervorhebung durch Kelso).
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1. Einführung: Komposition und Gattungen in der Chronik Die Bücher der Chronik wurden mit großer Wahrscheinlichkeit in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. verfasst, zu Beginn der hellenistischen Zeit, 2 und sind ein Produkt dieses sozialen und kulturellen Umfelds. Die Bücher sind Geschichtsschreibung: Sie erzählen die Geschichte Israels vom ersten Menschen, Adam (1 Chr 1,1), bis zum Ende des ersten Großreiches mit der Eroberung Judas durch die Babylonier. Sie enden mit einer kurzen Passage aus dem Anfang des Cyrus-Ediktes (2 Chr 36,22–23). Die Chronikbücher stellen eine „parallele Geschichtsschreibung“ dar. Sie wiederholen die Geschichte des Zeitraums, von dem schon im Pentateuch und in den Vorderen Propheten erzählt wurde. Der größte Teil der Chronik besteht aus Texten, die aus anderen Quellen übernommen wurden. Diese Quellen sind entweder frühere biblische Bücher – meistens Samuel-Könige, aber auch der Pentateuch, die Prophetie, die Psalmen und Esra-Nehemia – oder nichtbiblische Texte und Traditionen, deren Umfang und Herkunft weniger evident sind.3 Einige der Texte werden in der Chronik beinahe wörtlich oder mit geringen Veränderungen übernommen, während andere gründlich überarbeitet oder umformuliert werden. Der Rest des Buches besteht aus Textpassagen, die der Chronist 4 selbst verfasst hat. Viele davon sind am charakteristischen Stil und Vokabular des Chronisten zu erkennen, allerdings gibt es auch hier keine eindeutige Sicherheit. Zur Herkunft der Chronik kann also festgehalten werden, dass sie drei Bestandteile hat: Material aus uns bekannten Quellen, das wörtlich wiedergegeben oder in unterschiedlichem Maße verändert bzw. umgearbeitet wurde; Material aus uns unbekannten Quellen, das anhand seines Inhalts und Stils verifiziert werden kann; und Material, das der Chronist selbst verfasst hat. Diese Art der Komposition hat vielfältige Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Werkes und der Botschaft des Chronisten. Seine Ansichten können natürlich aus seinen selbstverfassten Passagen herausgelesen werden. Aber auch das Material, das er übernommen und zu seinen Zwecken umgearbeitet und umformuliert hat, ist nicht weniger wichtig zum Verständnis seiner Ansichten. Die Tatsache, dass so viel Material des Chronisten in anderen biblischen Büchern zu finden ist, ermutigt zum Vergleich 2
3
4
Siehe u.a. Sara JAPHET, I and II Chronicles: A Commentary (OTL; London: SCM Press, 1993), 3–7, 23–28. Die Thematik wird außerdem in allen Einleitungen der ChronikKommentare behandelt. Die Quellen, die der Chronist in seinen Büchern namentlich nennt und die teilweise fiktional sind, dürfen nicht mit den Quellen verwechselt werden, die er tatsächlich benutzt. Zur Unterscheidung siehe JAPHET, I and II Chronicles, 14–23. Anm. der Herausgeberinnen: Der Ausdruck „der Chronist“ (englisch „the Chronicler“) wird in der Forschung für den oder die Verfasser der Chronikbücher verwendet, die meist als männlich verstanden werden, weil das Schreiben und das Studium der religiösen Schriften überwiegend Männern der Oberschicht vorbehalten war. Zum Verfasserkreis der Chronikbücher könnten aber auch Frauen der nachexilischen Oberschicht gehört haben, die gemäß der Figur der lehrenden Mutter im Sprüchebuch und in Esra-Nehemia bei wichtigen Angelegenheiten der judäischen Gemeinschaft beteiligt waren.
Frauennamen und Genderperspektiven in der Chronik
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und befähigt die LeserInnen, deutlich zu erkennen, wie das Geschichtsverständnis des Chronisten in seiner eigenen Arbeit reflektiert wird: Es zeigt sich in seiner Auswahl, in den Auslassungen und Hinzufügungen von Material, das er aus Quellen übernommen hat, und nicht zuletzt in den von ihm vorgenommenen Veränderungen. Allerdings können die Untersuchung und die Verwendung des übernommenen Materials ziemlich komplex sein, und die Analyse sollte mit Vorsicht und durchgehend mit methodologischer Sensibilität vorgenommen werden. 5 Insgesamt ist die Chronik eine Geschichtsdarstellung, die die Geschichte Israels in einem Kontinuum, einer fortlaufenden Kette von Ursache und Wirkung, versteht. Ähnlich wie die anderen biblischen Kompositionen (und Historiographie im Allgemeinen) enthält sie auch andere literarische Gattungen: Listen unterschiedlicher Art, Reden, Psalmen, Gebete und vieles mehr. Im Blick auf die gegenwärtige Forschungsdiskussion ist es sinnvoll, zwei Teile des Buches zu unterscheiden, die auch zwei unterschiedliche Arten der historischen Darstellung repräsentieren: die historische Erzählung (1 Chr 10–2 Chr 36) und die Einleitung (1 Chr 1–9). Die literarischen Charakteristika der Chronik – die Art der Komposition und die Aufteilung in zwei unterschiedliche literarische Teile – bestimmen die Struktur und den Fortgang meiner Ausführungen. Ich werde die Diskussion um „Frauen und Gender“ in drei Abschnitten entfalten, in denen die Befunde der Chronik dargestellt und analysiert werden: (1) die Angaben aus der historiographischen Erzählung (1 Chr 10–2 Chr 36); (2) die Angaben aus der Einleitung (1 Chr 1–9); (3) die Bemerkungen des Chronisten zu rechtlichen Angelegenheiten, die Frauen betreffen. Die Analyse der Befunde wird schließlich in einer Zusammenschau mit Schlussfolgerungen ausgewertet.
2. Die historiographische Erzählung (1 Chr 10–2 Chr 36) Die Chronik besteht zum größten Teil aus einer „parallelen Geschichte Israels“ von der Zeit Davids bis zum Ende des Königreiches Juda. Sie wird in zwei Teilen erzählt: der Geschichte Davids und Salomos (1 Chr 11–2 Chr 9) und der Geschichte des judäischen Königtums (2 Chr 10–36). Bereits eine kursorische Betrachtung der Geschichtsdarstellung zeigt, dass Frauen im Erzählten nur eine geringfügige Rolle spielen. Allerdings ist dieser Textbefund in erster Linie eine Konsequenz der Gattung „biblische Geschichtsschreibung“, die ihrerseits durch ihren Sitz im Leben bestimmt wird, sowie durch das Wesen der damaligen israelitischen Gesellschaft. Die Geschichtsdarstellung als solche richtet sich auf die Begebenheiten und Taten der führenden Persönlichkeiten des Volkes, die in der patriarchalen Gesellschaft Israels fast ausschließlich Männer waren. 5
Der vorherrschende Forschungsansatz zur Chronik ist die vergleichende Methodologie. Zu einer anderen Position im Zusammenhang mit unserem Thema, die die Bücher als eigenständige Werke ansieht, ohne Berücksichtigung ihrer Quellen, siehe LABAHN und BEN ZVI, „Observations on Women“, 463 Anm. 18, sowie weitere Hinweise im Verlauf dieses Aufsatzes.
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Ein Vergleich der historiographischen Erzählung des Chronisten mit den ihm vorliegenden Erzählungen legt allerdings offen, dass Ort und Status der Frauen in der Chronik anders gewichtet sind als in den Quellen. Manche Abweichungen sind Nebenprodukte von Besonderheiten der chronistischen Erzählung, die für die Frauen- und Genderperspektive unerheblich sind. Andere dagegen sind auf die Ziele und Ansichten des Chronisten zurückzuführen. In erster Linie sind es die generellen historiographischen Interessen und Entscheidungen des Chronisten, die Auswirkungen auf die Darstellung von Frauen haben. Wie bereits erwähnt, lässt der Chronist seine historiographische Erzählung mit dem Tod Sauls (1 Chr 10) beginnen und leitet direkt zur Geschichte Davids und seiner feierlichen Einsetzung als König über ganz Israel über (1 Chr 11). So wird die frühe Geschichte Israels, wie sie im Pentateuch und in den Büchern Josua, Richter und 1 Samuel beschrieben wird, gar nicht in die Erzählung aufgenommen. Diese historiographische Entscheidung hat unter anderem die Auslassung nicht gerade weniger Frauen zur Folge, die eine – positive oder negative – Rolle in der Frühzeit der Geschichte Israels gespielt haben. Charaktere wie die Stammmütter (Sara, Rebekka, Rahel), Rahab, Debora, Jaël, Delila und andere Frauen Simsons, Jiftachs Mutter und Tochter, Hanna sowie Sauls Frauen und Töchter kommen in der chronistischen Erzählung nicht vor. Des Weiteren überspringt der Chronist in seiner Beschreibung der Herrschaft Davids die meisten negativen Aspekte seiner Herrschaft, wie z. B. die Umstände seiner Heirat mit Batseba, die Probleme in der königlichen Familie und die Schwierigkeiten in Bezug auf das Erbe des Königtums. Die Frauen, die in diese Ereignisse involviert sind, wie Batseba (2 Sam 12), Abschaloms Schwester Tamar (2 Sam 13), die weisen Frauen von Tekoa und Abel (2 Sam 14; 20), sowie einige andere, werden folglich aus der Geschichte ausgeschlossen. Der Chronist lässt die negativen Aspekte der Herrschaft Salomos ebenso aus, wie die schwierigen Umstände zu Beginn und zum Ende seiner Herrschaft. Auch nimmt er 1 Kön 11 nicht auf, so dass der gewaltige Harem Salomos (1 Kön 11,3) sowie seine ausländischen Frauen und sein Götzendienst keine Erwähnung finden (1 Kön 11,1–10). Eine weitere bekannte historiographische Besonderheit des chronistischen Werkes ist die Vermeidung einer systematischen Geschichte des Nordreiches.6 Die Frauen, die in der Geschichte des Königreichs Israel eine Rolle spielten, fehlen dementsprechend in der Erzählung des Chronisten. 7 Ein zusätzliches Merkmal der Arbeit des Chronisten ist die selektive Auswahl von Gattungen; am deutlichsten ist dabei seine Vermeidung novellenartiger Erzählungen. 8 Der Chronist wiederholt weder die prophetischen Erzählungen aus den Königebüchern, in denen Frauen eine ziemlich wichtige Rolle spielen (1 Kön 17,8–24 // 2 Kön 4,1–37), noch die Erzählung von Salomos Richterspruch über die beiden Prostituierten 6
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In seiner Darstellung des Nordreiches beschränkt sich der Chronist auf die Beziehungen des Nordreiches zu Juda. Die Details dazu finden sich bei JAPHET, Ideology, 241–253. Unter ihnen sind Jerobeams Frau (1 Kön 14) und Isebel, Ahabs phönizische Frau (1 Kön 16,31). JAPHET, From the Rivers of Babylon, 176–178 und 410–411, Anm. 57.
Frauennamen und Genderperspektiven in der Chronik
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(1 Kön 3,16–27). Aus der Perspektive von Thematik und Gattung fehlen im historiographischen Bericht des Chronisten viele weibliche Figuren, die in seinen Quellen präsent sind. 2.1 Weibliche Figuren in den Quellen des Chronisten In den deuteronomistischen Rahmenstücken der Erzählungen über die judäischen Könige in den Königebüchern findet die Mutter des Königs, die Gebirah (ʤʸʩʡʢ), Erwähnung. Sie genoss im Königreich Juda einen besonderen Status. 9 Diese Rahmenstücke der Königebücher werden regelmäßig vom Chronisten für seine Darstellung der Könige Judas – mit entsprechenden Änderungen – übernommen. Zu diesen Veränderungen zählt auch der Umgang mit dem Namen der Königsmutter. Der Chronist behielt die Namen der Mütter der frühen Könige von Juda, von Rehabeam bis Hiskija bei, wie sie sich in den Büchern der Könige finden.10 Bei den späteren Königen Judas, von Manasse an, ließ der Chronist die Namen der Königsmütter systematisch aus. 11 Es P54F
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Zu Titel und Status der Mutter siehe P. J. BERLYN, „The Great Ladies“, JBQ 24 (1996): 26–35. Andere Interpretationen des Begriffes ʤʸʩʡʢ und der Position der Königsmutter im Königreich Juda bieten Zafrira BEN-BARAKÄ7KH6WDWXVDQG5LJKWRIWKHJČEvUk³JBL 110 (1991): 23–34 und Nancy R. BOWEN, „The Quest for the Historical *ƟEvUk“, CBQ 63 (2001): 597–618. Die Namen selbst sind dieselben, außer dem der Mutter Abijas/Abijams. In 1 Kön 15,2 heißt sie Maacha, Tochter Abischaloms, doch in der Chronik begegnet sie sowohl unter dem Namen Maacha, Tochter Abschaloms (2 Chr 11,21–22) als auch unter Michaja, Tochter Uriels aus Gibea (2 Chr 13,2). Zu dieser berühmten crux siehe JAPHET, I and II Chronicles, 670– 671. Zwei der Namen kommen in unterschiedlichen Formen vor: Joaddan aus Jerusalem, Mutter des Amazja (2 Chr 25,1 // 2 Kön 14,2), heißt in den Königebüchern Joaddin/ Joaddan; Abija, die Tochter Secharjas, Hiskijas Mutter (2 Chr 29,1 // 2 Kön 18,2), heißt in den Königebüchern Abi. Die anderen Namen sind: Naama, die Ammoniterin, Rehabeams Mutter (2 Chr 12,13 // 1 Kön 14,21); Maacha, Asas Mutter, die im Zusammenhang mit ihrem „Schandbild“ genannt wird (2 Chr 15,16 // 1 Kön 15,13); Asuba, Tochter Schilhis, Joschafats Mutter (2 Chr 20,31; 1 Kön 22,42); Atalja, Tochter Omris, Ahasjas Mutter (2 Chr 22,2 // 2 Kön 8,26); Zibja von Beerscheba, Joaschs Mutter (2 Chr 24,1 // 2 Kön 12,2); Jecholja von Jerusalem, Usijas/Asarjas Mutter (2 Chr 26,3 // 2 Kön 15,2); Jeruscha, die Tochter Zadoks, Jotams Mutter (2 Chr 27,1 // 2 Kön 15,33); insgesamt sind es zehn Namen. Zwei der Mütter aus dieser Gruppe werden in den Königebüchern, und dementsprechend auch in der Chronik, nicht erwähnt: Der Name der Mutter Jorams wird durch den seiner Frau ersetzt. Diese, die Tochter Ahabs (2 Chr 21,6 // 2 Kön 8,18) wird mit Atalja gleichgesetzt, der Tochter Omris, und Mutter von Ahasja in 2 Kön 8,26 // 2 Chr 22,2; der Name der Mutter des Ahas fehlt einfach. Dementsprechend fehlen sechs Namen: Hefzi-Bah, Manasses Mutter (2 Kön 21,1); Meschullemet, die Tochter des Haruz aus Jotba, Amons Mutter (2 Kön 21,19); Jedida, die Tochter Adajas aus Bozkat, Joschijas Mutter (2 Kön 22,1); Hamutal, Tochter Jirmejas aus Libna, die Mutter von Joahas und Zedekia (2 Kön 23,31; 24,18); Sebuda, Tochter Pedajas
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scheint, als seien die Nennungen der Königsmütter der grundsätzlichen historiographischen Entscheidung des Chronisten, den Bericht der späten Jahre des Königtums Juda zu kürzen, zum Opfer gefallen. 12 Dennoch ist es bemerkenswert, dass der Chronist die Namen der Königsmütter für verzichtbar hielt. Erzählungen über Frauen, die eine relativ bedeutende Rolle in den Königebüchern spielen, wurden vom Chronisten mit nur kleinen sprachlichen Änderungen und Anpassungen übernommen: die Erzählungen über die Königin von Saba (2 Chr 9,1–9.12 // 1 Kön 10,1–10.13), über die Königin Atalja (2 Chr 22,10–23,15 // 2 Kön 11,1–16), und über die Prophetin Hulda (2 Chr 34,22–28 // 2 Kön 22,14–20). Der einzige nennenswerte Unterschied ist ein Satz, den der Chronist dem deuteronomistischen Rahmen um König Ahasja hinzugefügt hat: „Denn seine Mutter [Atalja] riet ihm, böse zu handeln“ (2 Chr 22,3). 13 Auch weniger bedeutsame weibliche Figuren übernimmt der Chronist aus seinen Quellen. Deren Aufnahme in seine historiographische Erzählung belegt sein Interesse: Zeruja, die Mutter Joabs und Abischais; die namenlose Mutter des Kunsthandwerkers Hiram, der die Kupfergefäße für den Tempel in Jerusalem herstellt; und Joscheba, die Schwester des Königs Ahasja. Auf Zeruja wird in der Chronik mehrere Male Bezug genommen, entweder in Paralleltexten zum Zweiten Samuelbuch (2 Sam 8,16 // 1 Chr 18,15) oder in den eigenen Texten des Chronisten (1 Chr 11,6 [als Mutter Joabs]; 18,12 [als Mutter Abischais]). In einem einzigen Paralleltext wird ihr Name ausgelassen (1 Chr 11,20 // 2 Sam 23,18). Des Weiteren stellt der Chronist Zerujas Stammbaum detailliert im Zusammenhang mit den Genealogien dar (1 Chr 2,16).14 Die Mutter Hirams wird in der Chronik in einem anderen Zusammenhang erwähnt als im Ersten Buch der Könige, und ihre Herkunft wird anders angegeben. Im Ersten Königebuch wird Hiram als Künstler dargestellt, der die Kupfergefäße für Salomos Tempel herstellt, und seine Abstammung wird so wiedergegeben: „Er war Sohn einer Witwe vom Stamm Naftali, und sein Vater war ein Tyrer” (1 Kön 7,14). In der Chronik wird er früher erwähnt, als Leiharbeiter Hirams, des Königs von Tyrus, an Salomo. Hier heißt es über seine Abstammung, er sei der „Sohn einer Frau des Stammes Dan, und sein Vater war ein Tyrer“ (2 Chr 2,13). Es ist nicht feststellbar, welcher Stammbaum historisch zutreffend ist, aber das chronistische Interesse am Detail wird deutlich. Schließlich behält der Chronist die Namen zweier weiterer Frauen bei, allerdings wird ihre Rolle geschmälert: Michal, Tochter Sauls und Frau Davids, und die namenlose Tochter des Pharao und Frau Salomos. Das Aufeinandertreffen Davids und
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aus Ruma, Jojakims Mutter (2 Kön 23,36); Nehuschta, Tochter Elnatans aus Jerusalem, Jojachins Mutter (2 Kön 24,8). JAPHET, Ideology, 284–290. Im englischen Original hat Sara Japhet die zitierten Verse aus der Chronik selbst übersetzt. Die Übersetzerin hat diese in Anlehnung an die Elberfelder Übersetzung (Sonderausgabe der revidierten Fassung 41992; Paderborn: Voltmedia GmbH, 2005) übertragen. Dabei wurden z. B. Ausdrücke wie „Söhne Israels“ durch die neutralere Form „IsraelitInnen“ sowie „Knechte und Mägde“ durch „Sklaven und Sklavinnen“ ersetzt und die Verwendung des Tetragramms im hebräischen Text durch JHWH angezeigt. Vgl. auch weiter unten, Anm. 22 und S. 51.
Frauennamen und Genderperspektiven in der Chronik
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Michals wird detailliert in 2 Sam 6,20–23 erzählt, aber in 1 Chr 15,29 nur in einem kurzen Satz beiläufig erwähnt. Die Vermeidung der Michal-Erzählung ist ohne Zweifel eine Folge der chronistischen Vorgehensweise, die frühere Geschichte Davids und seine Beziehungen zum Hause Sauls auszulassen. Tatsächlich wirkt das Überleben des einen Verses wie das Ergebnis einer unsystematischen Bearbeitung. Die Tochter des Pharao, Salomos Frau, findet im Ersten Königebuch fünfmal Erwähnung, jeweils in verschiedenen Zusammenhängen (1 Kön 3,1; 7,8; 9,16.24; 11,1). Allerdings finden sich vier dieser Erwähnungen in Passagen, die der Chronist in seiner Darstellung nicht wiederholt. Nur eine Bezugsstelle wird in die Chronik übernommen und dort etwas ausgearbeitet (2 Chr 8,11 // 1 Kön 9,24). 15 2.2 Frauen, die nur in der Erzählung des Chronisten vorkommen Eine Besonderheit des chronistischen Werkes, die sowohl in der Einleitung als auch in der historiographischen Erzählung zum Ausdruck kommt, ist der Zuwachs an Informationen über Davids Familie und seine Nachkommen, und damit auch über Frauen. In der historiographischen Erzählung kommt das Interesse an den Familien der Davididen in den Passagen zum Tragen, die der Chronist den Berichten seiner Quellen hinzugefügt hat. Die ausführlichste Information betrifft Rehabeam, den dritten König der davidischen Linie. In der Textpassage über seine Familie heißt es: Und Rehabeam nahm sich Mahalat, die Tochter Jerimots, des Sohnes Davids, und der Abihajil, der Tochter Eliabs, des Sohnes Isais, zur Frau. Und sie gebar ihm Söhne … Und nach ihr nahm er Maacha, die Tochter Abschaloms. Und sie gebar ihm Abija ... Und Rehabeam liebte Maacha ... mehr als alle seine Frauen und seine Nebenfrauen. (Denn er hatte achtzehn Frauen genommen und sechzig Nebenfrauen; und er zeugte achtundzwanzig Söhne und sechzig Töchter.) Und Rehabeam setzte Abija, den Sohn der Maacha, als Oberhaupt, als Fürsten unter seinen Brüdern ein; denn er beabsichtigte, ihn zum König zu machen. (2 Chr 11,18–22)
Dieser Textteil enthält einige interessante Aspekte für unser Thema: 1. Zwei von Rehabeams Frauen werden namentlich erwähnt: Mahalat, die allen anderen Quellen unbekannt ist, und Maacha. 2. Der eindrucksvolle Stammbaum Mahalats wird über drei Generationen wiedergegeben und enthält die ungewöhnliche Erwähnung ihrer Mutter, Abihajil.16 Da ihre beiden Elternteile dem Hause Davids angehörten, war sie Rehabeams Cousine zweiten Grades.
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Zur Bedeutung dieser Stelle für die Ansichten des Chronisten siehe unten, 4.3. Während es üblich ist, die Namen der Mütter männlicher Hauptfiguren aufzuführen, werden die Namen der Mütter von Frauen sehr selten erwähnt. Ein weiteres Beispiel für die Nennung der Mutter einer Frau, vielleicht auch ihrer Großmutter – in diesem Fall ohne die Erwähnung des Vaters – ist das der Frau des edomitischen Königs Mehetabel, Tochter Matreds, Tochter Me-Sahabs (Gen 36,39 // 1 Chr 1,50).
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3. Der Wohlstand eines Mannes, der sich unter anderem in einer großen Anzahl von Kindern zeigt, wird in der Bibel oft als Ausdruck des Segens Gottes verstanden. Noch häufiger wird die Anzahl der Söhne als Ausdruck dieses Segens aufgefasst. Dagegen wird Rehabeams Wohlstand einerseits durch die Größe seines Harems mit seiner riesigen Zahl von Frauen und Nebenfrauen beschrieben, und andererseits durch die zahlreichen Kinder – wobei nicht nur die Söhne, sondern auch die Töchter genannt werden. 4. Rehabeam ist der einzige König, dessen Liebe zu seiner Frau erwähnt wird. Der praktische Liebesbeweis ist die Wahl ihres Sohnes Abija zum Thronfolger – ein Umstand, der die Rolle der Frau des Königs in der Palastpolitik beleuchtet. Der Chronist bietet außerdem Details über die Familien zweier weiterer Könige. 17 Über Abija schreibt er: „Abija aber erstarkte. Und er nahm vierzehn Frauen und zeugte zweiundzwanzig Söhne und sechzehn Töchter“ (2 Chr 13,21). Im Zusammenhang mit König Joasch fügt er der deuteronomistischen Einleitung aus den Königebüchern (2 Kön 12,1–2 // 2 Chr 24,1–2) hinzu: „Und Jojada nahm zwei Frauen für ihn; und er zeugte Söhne und Töchter“ (2 Chr 24,3). Auch über Joscheba, Joaschs Schwester, die Joasch vor dem Massaker der Königsfamilie durch Atalja rettete, überliefert der Chronist ein weiteres Detail. Aus 2 Kön 11,2 wissen wir, dass Joscheba die Tochter König Jorams und die Schwester von Ahasja war. In der Chronik wird hinzugefügt, dass sie die Frau des Priesters Jojada war (2 Chr 22,11–12). Dieses Detail erklärt gut, wie sie Joasch mehrere Jahre im Haus Gottes verbergen konnte. Auch über die Familie der Leviten macht der Chronist zusätzliche Angaben. In der Beschreibung des Ablaufs der Verteilung der heiligen Opfergaben erwähnt der Chronist die Verzeichnisse der Priester und Leviten (2 Chr 31,16–18) und geht näher auf das Verzeichnis der Leviten ein. Im Gegensatz zu den Priestern wurden die Leviten in ihrem Eintrag „mit all ihren kleinen Kindern, ihren Frauen und ihren Söhnen und ihren Töchtern erfasst, die ganze Versammlung“ (31,18). Demnach wurden der Chronik zufolge die den Tempelbediensteten zustehenden Opferteile unter „allen männlichen Angehörigen der Priester und allen im Verzeichnis stehenden Leviten“ (31,19) verteilt – also auch unter den Frauen. Eine weiteres Detail über die levitischen Familien betrifft den Sänger Heman, der, wie auch einige der Könige, mit einer großen Familie gesegnet war: „Alle diese waren Söhne Hemans, des Sehers des Königs nach der Zusage Gottes, seine Macht zu erhöhen; und Gott hatte dem Heman vierzehn Söhne und drei Töchter gegeben“ (1 Chr 25,5). In der Erzählung über die Ermordung König Joaschs spielen in der Chronik zwei Frauennamen eine Rolle. Den Angaben von 2 Kön 12,22 zufolge waren es „seine Höflinge Josachar, der Sohn Schimats, und Josabad, der Sohn Schomers“, die ihn erschlugen. In der Chronik sind die Namen der Eltern der Mörder weiblich, und ihre ethnische Herkunft wird dazugesetzt: „Und diese sind es, die sich gegen ihn verschworen: Sabad, der Sohn der Schimat, der Ammoniterin, und Josabad, der Sohn der 17
Zu den Töchtern Serubbabels, des nachexilischen Nachkommens Jojachins, siehe unten S. 51.
Frauennamen und Genderperspektiven in der Chronik
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Schimrit, der Moabiterin“ (2 Chr 24,26). Es ist nicht zu entscheiden, welche Angabe genauer ist, aber ich vermute, dass der Chronist diese Information in seinen Quellen gefunden hat, und dass sie später zensiert und im Königebuch unterschlagen wurde. Im Gegensatz zur Bearbeiter der Königebücher sah der Chronist keine Notwendigkeit, diese Information zurückzuhalten. 18 Bei Begebenheiten oder Erzählungen des chronistischen Sonderguts stellt der Chronist häufiger Bezüge zu Frauen als Gruppe her. In einem Brief an König Joram tadelt der Prophet Elija den König für seine Vergehen und prophezeit ihm eine Folge göttlicher Bestrafungen: „Siehe, JHWH wird dein Volk und deine Söhne und deine Frauen und all deinen Besitz mit einer großen Plage treffen“ (2 Chr 21,14). Später wird die Prophezeiung erfüllt: „Und JHWH erweckte gegen Joram den Geist der Philister und der Araber … Und sie zogen gegen Juda herauf … und nahmen den ganzen Besitz weg, der sich im Haus des Königs befand, und auch seine Söhne und seine Frauen“ (2 Chr 21,16–17). In 2 Chr 28 schildert der Chronist den Krieg zwischen dem Nordreich und Juda, der mit einem zerstörerischen Siegeszug des Nordreiches endet. 120.000 judäische Krieger werden getötet und viele JudäerInnen werden gefangen genommen: „Die Israeliten führten von ihren judäischen Stammverwandten 200.000 Frauen, Söhne und Töchter als Gefangene weg“ (2 Chr 28,8). In seiner Ansprache tadelt der Prophet Oded die Israeliten: „Und nun gedenkt ihr, euch die Leute Judas und Jerusalems als Sklaven und Sklavinnen zu unterwerfen” (28,10). Unter seinem Einfluss ließen die Israeliten sie frei und brachten sie zurück nach Jericho (28,15). Auf dieses Ereignis nimmt Hiskija später in seiner Ermahnung Bezug: „…deswegen sind unsere Väter durch das Schwert gefallen, und unsere Söhne und unsere Töchter und unsere Frauen sind in Gefangenschaft“ (2 Chr 29,9). Frauen sind in den Schwur Asas eingeschlossen: „Jeder aber, der JHWH, den Gott Israels, nicht suchen würde, sollte getötet werden, vom Kleinsten bis zum Größten, vom Mann bis zur Frau“ (2 Chr 15,13). Frauen finden sich unter denen, die um Joschija trauern: „Und Jeremia stimmte ein Klagelied über Joschija an. Und alle Sänger und Sängerinnen haben in ihren Klageliedern von Joschija gesungen bis auf den heutigen Tag“ (2 Chr 35,25). Schließlich finden Frauen unter denen Erwähnung, die von den Babyloniern getötet wurden: „JHWH ließ nun den König der Kaldäer gegen sie heranziehen. Dieser tötete ihre jungen Krieger … mit dem Schwert und verschonte keinen jungen Mann und keine junge Frau, keinen Greis und Betagten“ (2 Chr 36,17). 19 Anders als in der ausführlicheren Beschreibung der babylonischen Eroberung in 2 Kön 25 stellt der Chronist die Auswirkungen des Elends auf alle Schichten der jüdischen Gesellschaft dar, einschließlich Junger und Alter, Männer und Frauen. 18
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Für ähnliche be- und umwertende Vorgehensweisen in den Texten der Samuelbücher vgl. die Veränderungen bezüglich: Jeter (Ismaeliter in 1 Chr 2,17, Israelit in 2 Sam 17,25); Eschbaal, Sauls Sohn (1 Chr 8,33; 9,39, heißt Isch-Boschet in 2 Sam 2,8, etc.); Merib-Baal, Jonatans Sohn (1 Chr 8,34; 9,40, heißt Mefiboschet in 2 Sam 4,4, etc.); Beeljada, Davids Sohn (1 Chr 14,7, heißt Eljada in 2 Sam 5,16 und 1 Chr 3,8). In diesem kurzen Vers klingen die Klagelieder an, z. B. Klgl 1,18; 2,11.21; 4,16; 5,11–14.
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3. Die Einleitung (1 Chr 1–9) Die Einleitung bildet einen eigenen Abschnitt innerhalb der Chronik. Ihr Zweck besteht darin, den ethnographischen und geographischen Hintergrund abzubilden, vor dem sich die folgende historiographische Erzählung entfaltet. Ihre literarischen Gattungen differieren von denen der historiographischen Erzählung. Die Einleitung besteht aus Listen unterschiedlicher Art, die an verschiedenen Stellen mit kurzen Anekdoten und knappen Zusatzangaben angereichert sind. In der Einleitung kommen viele Frauennamen vor. Davon stammen 21 Individuen und eine Frauengruppe aus biblischen Parallelquellen, die anderen 43 sind ausschließlich in der Chronik zu finden. Die Namen aus älteren Quellen werden vom Chronisten auf drei verschiedene Arten eingebunden: 12 Namen sind aus parallelen Listen übernommen und in die Chronik ohne Veränderung oder Kommentar eingefügt worden. 20 Zwei Namen stammen aus den narrativen Passagen der Quellen und wurden in Listen eingefügt, die zwar auch aus den Quellen stammen, aber aus anderen Zusammenhängen. 21 Die übrigen parallel vorkommenden Namen stammen aus narrativen Quellen und wurden vom Chronisten in seine eigenen Listen eingearbeitet, die keine älteren Parallelen haben. 22 Eine eingehende Betrachtung dieser Namen und der Technik, mit der sie in den chronistischen Bericht eingefügt wurden, könnte den Eindruck erwecken, dass der Chronist so viele der in seinen Quellen vorliegenden Namen wie möglich in sein Werk einfließen lassen wollte. Dieser Eindruck täuscht allerdings sowohl in Bezug auf Männer als auch auf Frauen. In seiner Rekonstruktion der genealogischen Grundstruktur 20
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Diese sind (1) Ketura, Abrahams Nebenfrau (1 Chr 1,32 // Gen 25,1); (2) Timna, Lotans Schwester (1 Chr 1,39 // Gen 36,22); (3–5) Mehetabel, die Tochter Matreds, die Tochter Me-Sahabs (1 Chr 1,50 // Gen 36,39); (6–11) sechs der Frauen Davids, die er in Hebron heiratete: Ahinoam, die Jesreeliterin; Abigajil, die Karmeliterin; Maacha, die Tochter Talmais, des Königs von Geschur; Haggit; Abital; Egla (1 Chr 3,1–3 // 2 Sam 3,2–5); (12) Serach, die Tochter Aschers (1 Chr 7,30 // Num 26,46 mit einigen Änderungen). Diese sind (13) Batschua, die Tochter Ammiëls, Davids Frau (1 Chr 3,5) – ihr Name ist bekannt aus der Erzählung in 2 Sam 12 und wird in die Liste aus 2 Sam 5,14 eingefügt; und (14) Tamar, Davids Tochter (1 Chr 3,9) – ihr Name stammt aus der Erzählung in 2 Sam 13 und wird in die Liste aus 2 Sam 3,2–5 eingefügt. Diese sind (15) die Tochter Schuas, der Kanaaniterin, Judas Frau (1 Chr 2,3; erwähnt in Gen 38,2); (16) Tamar, Judas Schwiegertochter (1 Chr 2,4; die Protagonistin in Gen 38,6.12–30); (17) Zeruja, Tochter Isais und Mutter Joabs und Abischais (1 Chr 2,16), mehrfach als Mutter Joabs erwähnt (z. B. 2 Sam 2,13.18; 3,39); (18) Abigajil, Mutter Amasas und Schwester Zerujas, deren Name aus 2 Sam 17,25 stammt und der Liste der Nachkommen Isais zugeordnet wurde (1 Chr 2,17); (19) Achsa, Kalebs Tochter (1 Chr 2,49), die Protagonistin aus Ri 1,12–15, deren Name der Genealogie Kalebs hinzugefügt wurde; (20) Mirjam, Moses Schwester (1 Chr 5,29), deren Name aus Ex 2 stammt und der Genealogie des Levi hinzugefügt wurde, gekürzt aus Ex 6,16–25; (21) Bilha, Jakobs Frau (1 Chr 7,13), deren Name aus Gen 30,3–8 und 35,25 aufgenommen und in die Genealogie Dans und Naftalis eingefügt wurde; (22) dazu vielleicht noch die Töchter Zelofhads (vgl. Num 26,33; 27,1–11), die namenlos als Gruppe in die Genealogie Manasses eingetragen wurden (1 Chr 7,15).
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des Volkes Israel übernimmt der Chronist ausgewählte Passagen aus dem Pentateuch, lässt die meisten Namen aus Erzählungen wie auch aus Listen aus und füllt die Lücken mit seinen eigenen Angaben. Ziemlich viele Frauennamen aus den Parallelquellen wurde nicht in sein Werk aufgenommen. 23 Wie bereits erwähnt, gibt es in der Chronik 43 Frauen, die in keinem anderen Buch der Bibel vorkommen. 28 davon werden mit Namen aufgezählt,24 15 weitere werden im Zusammenhang mit Männern erwähnt: „die Frau/Nebenfrau von x“, „die Tochter von y“, „die Schwester von z“. 25 Die Gesamtzahl der Frauen, die in der Einleitung vorkommen, beläuft sich demnach auf über 60 mit weiteren allgemeinen Verweisen auf Frauen. Da die Genealogien im Überlieferungsprozess anfälliger für Textverderbnis waren als andere Teile der Chronik, ist das Geschlecht mancher der aufgezählten Personen zweifelhaft, doch das Gesamtbild wird dadurch nicht beeinträchtigt. Das wichtigste Merkmal der Frauennamen im chronistischen Sondergut ist, dass sie primär als Eponyme und nicht als Bezeichnung wirklicher Personen fungieren. 26 Sie sind begriffliche Abstraktionen für ethnische, manchmal auch geographische
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Beispielsweise Eva, die Urmutter, drei der vier Matriarchinnen (Sara, Rebekka und Lea), Hagar und Silpa, Josephs Frau Aseneth und Jakobs Tochter Dina. Diese sind (1) Asuba (Tochter Jeriots?), Frau Kalebs, des Sohnes Hezrons (1 Chr 2,18–19); (2) Efrata, Frau Kalebs und Mutter Hurs (2,19.50; 4,4); (3) Abija, Frau Hezrons (2,24 – es sei denn der Text ist beschädigt); (4) Atara, die „andere Frau“ Jerachmeels und Mutter Onams (2,26); (5) Abihajil, Frau Abischurs (2,29); (6) Efa, Nebenfrau Kalebs (2,46); (7) Maacha, Nebenfrau Kalebs (2,48); (8) Schaaf (2,49) – Frau oder Nebenfrau Kalebs? Ein männlicher Name? (BH); (9) Schelomit, Tochter Serubbabels (3,19); (10–14) Haschuba, Ohel, Berechja, Hasadja, Juschab-Hesed (3,19), Töchter Serubbabels; sie werden durch die Zahl fünf, die in der weiblichen Form vorliegt, als weiblich identifiziert (siehe auch weiter unten, S. 51); (15) Hazlelponi, Schwester Jischmas und Jidbaschs (4,3); (16) Hela, Frau Aschhurs, des Vaters von Tekoa (4,5.7); (17) Naara, Frau Aschhurs (4,5.6); (18) Mirjam? An anderer Stelle ist der Name als Frauenname bekannt, aber hier könnte er auch ein Männername sein (oder ist der Text beschädigt? 4,17); (19) Bitja, Tochter des Pharaoh (4,18); (20) Maacha, Schwester Machirs (oder einer seiner Söhne; 7,15); (21) Maacha, Machirs Frau (7,16); (22) Molechet, Schwester Gileads (7,18); (23) Scheera, Tochter Ephraims (7,24); (24) Schua, Schwester Jaflets und anderer, Tochter Hebers (7,32); (25) Huschim, Frau Schaharajims (8,8); (26) Baara, Frau Schaharajims (8,8); (27) Hodesch, Frau Schaharajims (8,9); (28) Maacha, Frau des Vaters Gibeons (8,29; 9,35). (1) Die Tochter Machirs, des Vaters Gileads, Frau Hezrons (2,21); (2) die Tochter Scheschans (2,35; siehe unten, 4.1); (3) die Mutter Jabez (4,9); (4) die judäische Frau von? (4,18); (5) die Frau Hodijas, und Schwester Nahams (4,19); (6–11) sechs namenlose Töchter Schimis (4,27); (12) viele „Frauen und Söhne“ aus dem Stamm Issachars (7,4); (13) die aramäische Nebenfrau Manasses (7,14); (14) die Frau, die Machir für seinen Sohn nahm (7,15); (15) die Frau Ephraims (7,23). Der Begriff Eponym ist griechisch und bezeichnet eine reale oder mythische Person, von deren Name der Name eines Volkes, einer Institution o. ä. tatsächlich oder angeblich abgeleitet ist; vgl. Webster’s New World Dictionary (Cleveland: Collins, 1974), 472.
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Einheiten. 27 Bevor das vertieft werden kann, sind einige erklärende Bemerkungen notwendig. 28 Wie bereits erwähnt, besteht der größte Teil der Einleitung aus Listen, überwiegend aus genealogischen Listen. Sie können in zwei Gruppen eingeteilt werden: vertikale Genealogien, die genealogische Stammbäume einzelner Personen darstellen, und horizontale Genealogien, auch als segmentäre Genealogien bezeichnet, die die Verzweigungen der Familien über mehrere Generationen hinweg verzeichnen.29 Die segmentären Genealogien dienen zur Darstellung sozialer Gefüge wie Sippen, Stämme oder Völker. Sie sind abstrakte literarische Strukturen, die soziale und ethnische Gegebenheiten widerspiegeln, und in denen die Namen als Eponyme ethnischer Zugehörigkeiten dienen. Diese Funktion der Namen kann an den segmentären Genealogien der Genesis veranschaulicht werden, wie etwa an der umfassenden Völkertafel der Erde (Gen 10), an den weniger umfangreichen Tafeln der Keturiten und Hagariten (Gen 25,1–4.12–16), an Teilen der edomitischen Genealogien (Gen 36) und anderen. Die Einleitung des Chronisten kann als Abstammungstafel – als ziemlich unregelmäßige Tafel – der Stämme Israels und ihrer Anordnung verstanden werden. Einige der Stämme werden sehr detailliert beschrieben, während andere nur in groben Zügen dargestellt werden. Die ausführlichsten Darstellungen sind die der Stämme Juda und Manasse. Die Mehrzahl der Frauennamen und weiblichen Figuren erscheint in segmentären Genealogien 30 und sollte in diesem literarischen und soziologischen Kontext interpretiert werden. Bedauerlicherweise können nicht alle Namen in den Genealogien – ob männlich oder weiblich – identifiziert werden. Viele sind einmalig, manche erscheinen verderbt, und ihre Ursprünge können nicht immer nachvollzogen werden. Trotzdem erweist sich die sorgsame Analyse der Namen aus dieser Perspektive als sehr ertragreich. Der wichtigste Aspekt der Frauennamen besteht in ihrer Zuschreibung als „Ehefrau“, „Nebenfrau“, „Schwester“ oder „Tochter“. Die Zuschreibungen „Ehefrau“ und „Nebenfrau“ kennzeichnen eine sekundäre Zugehörigkeit innerhalb einer sozialen Gruppe. 31 Der Hinweis auf die Hochzeit des Judäers Hezron mit „der Tochter Machirs“ 27
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Es ist überraschend, dass LABAHN und BEN ZVI („Observations on Women“), die ihre Forschung als soziologische Untersuchung der Rollen von Frauen in den Genealogien darstellen, die Funktion der Frauennamen als Eponyme außer Acht lassen. Siehe auch Yigal LEVIN, „Understanding Biblical Genealogies“, CurBS 9 (2001): 11–46. Zu den Definitionen siehe Marshall D. JOHNSON, The Purpose of the Biblical Genealogies (Cambridge: Cambridge University Press, 21989), xi–xii. Zu den Ausnahmen gehören die Namen der Frauen im Hause Davids (1 Chr 2,16–17; 3,1–9.19–20) und des Stammes Juda (2,3–4) (siehe unten S. 50f.), sowie einige andere. Unter ihnen befinden sich die Protagonistinnen zweier kurzer Anekdoten: die Tochter des Scheschan (2,35; siehe unten, 4.1) und die Mutter des Jabez (4,9–10). Siehe im Besonderen Abraham MALAMAT, „Tribal Societies: Biblical Genealogies and African Lineage Systems“, Archives Européennes de Sociologie 14 (1973): 126–136; 132–134; DERS., „Origins and the Formation Period“, in A History of the Jewish People, Vol 1 (hg. v. Hayim H. Ben-Sasson; Cambridge: Harvard University Press, 1976), 63–66.
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(1 Chr 2,21) bedeutet, dass sich die judäische Sippe Hezron mit transjordanischen Elementen vermischt hat. Das wird dargestellt durch die Formulierung „… der Tochter Machirs, des Vaters Gileads“ (1 Chr 2,21). Ihre Nachkommen werden dann als die „Söhne Machirs“ (1 Chr 2,23) bezeichnet. Das bedeutet, dass sie aus der Perspektive Judas eine sekundäre Größe sind, die Kinder einer „Ehefrau“, wohingegen sie aus der Perspektive Manasses eine primäre Größe, die Kinder des Sohnes Machir, darstellen. Efrat/a wird als die Frau Kalebs bezeichnet (2,19). Im Sprachgebrauch der Genealogien bedeutet das, dass sich die nordjudäische Sippe der Kalebiten mit EphraimiterInnen vermischt hat, die durch das weibliche Eponym Efrat repräsentiert werden. 32 Die Nachkommen dieser Verbindung bewohnten einige der größten Städte in Juda, wie z. B. Kirjat-Jearim und Betlehem (2,50–54; 4,2–4). In derselben judäischen Sippe kam es auch zu Vermischungen mit anderen Ethnien, beispielsweise mit Aramäern, wahrscheinlich mit Midianitern und anderen. Diese werden durch die als Eponym verwendeten weiblichen Namen Efa (die Midianiterin), Maacha (die Aramäerin) und Bitja (die Ägypterin) dargestellt. Sie werden entweder als „Nebenfrauen“ (2,46.48) oder „Ehefrauen“ (4,18) bezeichnet. In ähnlicher Weise vermischte sich der Stamm Manasse, der sich in Transjordanien niederließ, mit aramäischen Einflüssen. Machir, die größte Sippe des Stammes Manasse, wird als Sohn Manasses und seiner „aramäischen Nebenfrau“ (7,14) dargestellt, während Machirs Ehefrau den aramäischen Namen Maacha trägt (7,16). Wie bereits erwähnt, vermischten sich diese transjordanischen Sippen wiederum mit den judäischen durch die Hochzeit des judäischen Hezron und der „Tochter Machirs“ (2,21). Die Vermischung verschiedener Ethnien konnte innerisraelitische Verbindungen darstellen, etwa die zwischen Juda und Manasse oder Juda und Ephraim, oder auch Vermischungen zwischen israelitischen und nicht-israelitischen Gruppen, also mit Aram, Midian und anderen. Einige dieser „Ehefrauen“ repräsentieren in den Genealogien wichtige ethnische Größen der Gesamtstruktur der sozialen Einheit, und ihre Nachkommen werden als Söhne ihrer Mütter aufgelistet, nicht als die ihrer Väter. Ein Beispiel ist der Fall der Efrat/a, die den Kalebiten angehört, und deren Nachkommen mit ihr und nicht mit ihrem „Vater“ verbunden werden: „die Söhne Hurs, des Erstgeborenen von der Efrata“ (4,4). 33 Die Bedeutung des Eponyms Efrata wird auch an anderer Stelle außerhalb der Chronik deutlich, z. B. in der Prophezeiung in Mi 5,1. 34 Auch im Fall der Ketura werden die Nachkommen nach ihr benannt. Sowohl in der Genesis (25,4) als auch in 32
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Zur Diskussion dieses Sachverhaltes und seiner historischen Auswirkungen siehe Sara JAPHET, „Was David a Judahite or an Ephraimite? Light from the Genealogies“, in Let Us Go Up to Zion: Essays in Honour of H. G. M. Williamson on the Occasion of His Sixty-fifth Birthday (hg. v. Mark Boda und Iain Provan; VTSup 153; Leiden et al.: Brill, 2012), 297–306. Die Benennung einer männlichen Linie durch den Namen der Mutter anstatt des Vaters kommt in der Bibel noch an anderen Stellen vor, etwa bei den Söhnen Zerujas, die oben bereits genannt wurden: die Töchter der Barsillai (Esr 2,61 // Neh 7,63); die Mörder des Joaschs (2 Chr 24,26) und einige andere. Siehe JAPHET, „Was David a Judahite or an Ephraimite?“.
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der Chronik (1 Chr 1,32) werden sie als „die Söhne der Ketura“, und nicht als die Söhne des Abraham bezeichnet. Die namengebende Rolle der „Töchter“ und „Schwestern“ unterscheidet sich von der der „Ehe- bzw. Nebenfrauen“. Im größeren Stammeszusammenhang repräsentieren erstere soziale Einheiten – Sippen, Familien oder die Bewohnerschaft eines Ortes –, die eher als die Nachkommen von Frauen angesehen werden als die von Männern. Die Beweggründe für diese Abänderung der sonst üblichen Regel sind unklar, ebenso wie die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Der Wandel wird manchmal damit erklärt, dass der „Vater“ keine Söhne hatte, wie es bei Zelofhad der Fall ist: „Zelofhad … hatte keine Söhne, sondern nur Töchter; und die Namen der Töchter Zelofhads waren: Machla und Noa, Hogla, Milka und Tirza“ (Num 26,33). Die Schilderungen im Buch Josua beschreiben genauer, dass die Töchter Manasses „einen Erbteil unter seinen Söhnen“ erhielten (Jos 17,6), und einige ihrer Namen tauchen als Ortsnamen im ephraimitischen Gebiet wieder auf: Tirza als die erste Hauptstadt des Nordreiches (z. B. 1 Kön 15,33; 16,6), Hogla und Noa auf den samarischen Ostraka. 35 Zwei ähnliche Fälle, in denen Städte nach den Namen von „Töchtern“ anstatt von „Söhnen“ benannt werden, können allerdings nicht damit erklärt werden, dass der Vater keine Söhne hatte. Der erste Fall betrifft Scheera, die Tochter Ephraims, die „das untere und das obere Bet-Horon und Usen-Scheera“ baute (1 Chr 7,24). Die Benennung deutet an, dass die Einwohnerschaft dieser Städte sich über Ephraims Tochter Scheera von Ephraim herleitete, und nicht über einen seiner Söhne, obwohl nur eine der drei Städte nach ihr benannt wurde.36 Der zweite Fall betrifft Serach, „Tochter Aschers“ (Num 26,46) und „Schwester“ ihrer Brüder (1 Chr 7,30). Ihr Name könnte in einer anderen Stadt Ephraims erinnert werden, in Timnat-Serach (Jos 19,50; 24,30), was bedeuten würde, dass die Einwohnerschaft dieser Stadt sich, vermittelt durch eine „Schwester/Tochter“, eher auf Ascher als auf Ephraim zurückführte. Die Eponyme „Schwester“ und „Tochter“ scheinen darauf hinzudeuten, dass die sozialen Einheiten, die als Nachkommen der „Töchter“ dargestellt werden, sich im Status nicht von denen unterschieden, die als Nachkommen der Söhne gelten. Vielleicht verweisen sie sogar auf das Überleben eines matrilinearen Systems. Solange jedoch weitere Informationen fehlen, können keine definitiven Schlüsse gezogen werden. Eine weitere Eigenart der Einleitung – die beiden Teilen der Chronik gemeinsam ist – liegt im besonderen Interesse am Haus Davids, das in den detaillierten Genealogien in 1 Chr 3 zum Ausdruck kommt. Diese Genealogien beinhalten die Namen von zehn Frauen: Zwei sind Teil der vor-davidischen Genealogie des Stammes Juda, zwei 35
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Siehe Shmuel AHITUV, Echoes from the Past: Hebrew and Cognate Inscriptions from the Biblical Period (Jerusalem: Carta Press, 2008), 298–300; 302. Zur Angliederung von Städten, d. h. deren Einwohnerschaft oder Familien, an die „Väter“, siehe z. B. 1 Chr 2,50–52: „Schobal, der Vater von Kirjat-Jearim; Salmon, der Vater von Betlehem; Haref, der Vater von Bet-Gader“, und weitere (1 Chr 2,24.42.44.45.49, etc.). In diesem Kontext konnte eine Person der „Vater“ einer „halben“ Stadt sein (1 Chr 2,52–54). Auch ist kennzeichnend für solche Zusammenhänge, dass „Söhne“ als Volksgruppe oder im Plural genannt werden, z. B. 1 Chr 1,11–12.14–16.
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sind mit David direkt verbunden und sechs gehören zu einer viel späteren Zeit des davidischen Hauses. Die älteren Gestalten, die Kanaaniterin Batschua, Frau des Juda, und Tamar, seine Schwiegertochter, sind Teil der segmentären Genealogien des Stammes Juda und dienen als „Mütter“ der judäischen Sippen (1 Chr 2,3–4 // Gen 38). Beide stammen aus den Quellen des Chronisten. Zeruja habe ich bereits erwähnt, die in älteren Quellen als Mutter Joabs, Abischais und Asaëls bekannt war. In der genealogischen Einleitung des Chronisten wird sie als Isais Tochter, und damit als Davids Schwester, bezeichnet (1 Chr 2,16). Auch Abigajil, Zerujas Schwester, wird genannt, die als weitere Tochter Isais und damit als weitere Schwester Davids bezeichnet wird. Sie wird als die Mutter Amasas und Ehefrau Jeters, des Ismaeliten, identifiziert (2,17). 37 Als einziger bietet der Chronist die Genealogie des davidischen Hauses nach der Zerstörung; sie steht unter der Überschrift „die Söhne Jechonjas“ (das ist Jojachin) in 1 Chr 3,17–24. Diese Genealogie enthält die Namen von sechs Töchtern Serubbabels: Schelomit,38 die ausdrücklich als Schwester ihrer männlichen Brüder genannt wird, sowie fünf andere Töchter, deren Namen aufgezählt werden: Haschuba, Ohel, Berechja, Hasadja, Juschab-Hesed (3,19–20). Diese können nicht über ihre Namen, sondern über das abschließende Zahlwort fünf, das in der femininen Form39 ˇʮʧ vorliegt, als weibliche Personen identifiziert werden.
4. Rechtliche Angelegenheiten, die Frauen betreffen Das Werk des Chronisten enthält Texte, die von rechtlichen Angelegenheiten handeln oder diese reflektieren, sowie sporadische Anekdoten und beiläufige Bemerkungen, die Licht auf die rechtliche Dimension des sozialen Lebens in Israel werfen. Diese Texte vermitteln wertvolle Erkenntnisse über die Ansichten und Standpunkte des Chronisten, darum möchte ich vier dieser Begebenheiten zumindest anreißen, die für unser Thema von Bedeutung sind. 37
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Abigajil wird bereits in 2 Sam 17,25 als Schwester Zerujas bezeichnet (in der Namensform Abigal), doch wird dort Nahasch als Name ihres Vaters angegeben. In 2 Sam 17,25 wird der Name von Zerujas Vater nicht genannt, müsste demnach jedoch Nahasch lauten. Thomas WILLI, Chronik. Vol 1: 1 Chr 1–10 (BKAT 24; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2009), 89–90 versucht, die widersprüchlichen Angaben mit der Annahme zu harmonisieren, dass Abigajils Mutter zweimal geheiratet hat und Abigajil nur die Halbschwester der Söhne Isais war. Es ist schwer zu entscheiden, welche Identifizierung die richtige ist. Siehe Eric M. MEYERS, „The Shelomit Seal and the Judean Restoration: Some Additional Considerations“, ErIsr 18 (1985): 33*–38*. Nicht wenige ForscherInnen versuchen, diesen ungewöhnlichen Bezug durch verschiedene Strategien zu „überwinden“, entweder indem sie die feminine Form des Zahlwortes als eine „unregelmäßige Form“ des maskulinen (z. B. WILLI, Chronik, 117) oder als eine spätere Glosse ansehen (Edward L. CURTIS, The Book of Chronicles [ICC; Edinburgh: T&T Clark, 1952], 104). Die BH (Kittel/Kahle) gibt die Anweisung: „lies ʤʹʮʧ“ (nicht so die BHS). Ich sehe keinen Grund, dieser Spur zu folgen.
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52 4.1 Die Tochter Scheschans
Der kurze Bericht über Scheschan dient als Einleitung einer ausführlichen vertikalen Genealogie: „Und Scheschan hatte keine Söhne, sondern nur Töchter. Und Scheschan hatte einen ägyptischen Sklaven, sein Name war Jarha; und Scheschan gab seinem Sklaven Jarha seine Tochter zur Frau, und sie gebar ihm Attai“ (1 Chr 2,34–35). 40 Das Problem Scheschans ist auch in anderen biblischen Zusammenhängen bekannt: Wie ist es möglich, ohne eigene Söhne das Fortleben des eigenen „Namens“, d. h. seine Erbrechte, Stellung innerhalb der Sippe und damit innerhalb der Gesamtgesellschaft abzusichern? 41 Scheschans Lösung beruht auf den Sklavengesetzen, besonders auf Ex 21,4: „Falls ihm sein [des Sklaven] Herr eine Frau gegeben und sie ihm Söhne oder Töchter geboren hat, sollen die Frau und ihre Kinder ihrem Herrn gehören.“ Das Gesetz in Ex 21,2–6 behandelt den Fall eines hebräischen Sklaven, der im siebten Jahr seines Sklavendienstes freigelassen wird (V. 2). Das Gesetz bestimmt für den Fall, dass der Sklave von seinem Besitzer eine Ehefrau bekommen hat, sie und die Kinder nach seiner Freilassung im Besitz des Herrn bleiben. Dies gilt erst recht für einen nicht-hebräischen Sklaven, der per definitionem sein Leben lang Sklave bleibt. Ehefrau und Kinder eines solchen Sklaven gehören ganz dem Besitzer. 42 Das Kind, das der Ehe des ägyptischen Sklaven und der Tochter Scheschans entstammt, gehört dementsprechend Scheschan. Die lange Genealogie, die folgt, bezeugt die Linie Scheschans über dreizehn Generationen und bezeugt so die herausgehobene Stellung der Familie für viele Generationen.43 Diese kurze Episode veranschaulicht bestimmte Aspekte des patriarchalen Systems, in dem es einer Tochter nicht möglich ist, Erbin des Namens oder Besitzes ihres Vaters zu werden. Sie kann allerdings als Instrument dienen, durch das der „Name“ der Familie abgesichert wird. Die Episode wirft außerdem Licht auf die chronistische Perspektive hinsichtlich der „Mischehen“ (siehe unten, 4.4).
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Eine detaillierte Diskussion dieser Passage findet sich bei JAPHET, „The Israelite Legal and Social Reality“. Vgl. z. B. das Leviratsgesetz in Dtn 25,5–10. Eine ganz andere Anwendung findet dieses Gesetz bei Esra, wo es als Rechtsgrundlage für die Verstoßung fremder Frauen und ihrer Kinder in der nachexilischen Zeit unter Esras Führung dient, siehe Sara JAPHET, „The Expulsion of the Foreign Women: The Legal Basis, Precedents and Consequences for the Definition of Jewish Identity“, in „Sieben Augen auf einem Stein“ (Sach 3,9): Studien zur Literatur des Zweiten Tempels: Festschrift für Ina Willi-Plein (hg. v. Friedhelm Hartenstein und Michael Pietsch; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2007), 141–161; 149–150. Es ist unmöglich herauszufinden, wer die Personen sind, die in der vertikalen Genealogie aufgezählt werden. Eine Person namens Sabud, Sohn Natans – ähnlich der zweiten und dritten Generation dieser Genealogie – findet sich auch unter den hohen Beamten Salomos, als Priester und „Freund“ des Königs (1 Kön 4,5); das könnte allerdings auch Zufall sein.
Frauennamen und Genderperspektiven in der Chronik
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4.2 Die Töchter Eleasars 1 Chronik 23 enthält ausführliche Informationen über die levitischen Familien und ihre Funktionen, und umfasst unter anderem auch eine kurze Notiz über die Linie von Merari, Levis drittem Sohn: „Die Söhne Meraris: Machli und Muschi. Die Söhne Machlis: Eleasar und Kisch. Und Eleasar starb, und er hatte keine Söhne, sondern nur Töchter; und die Söhne des Kisch, ihre Brüder, nahmen sie zu Frauen“ (1 Chr 23,21– 22). Die kurze Notiz zur Heirat der Töchter Eleasars illustriert die Anwendung der erbrechtlichen Bestimmungen, wie sie anhand des Falles der Tochter Zelofhads in Num 27 und 36 entworfen wurden. „Wenn ein Mann stirbt und keinen Sohn hat, dann sollt ihr sein Erbteil auf seine Tochter übergehen lassen“ (Num 27,8). Weiterhin: „Und jede Tochter, die einen Erbteil aus den Stämmen der Söhne Israels besitzt, soll einem aus der Sippe des Stammes ihres Vaters als Frau zuteilwerden“ (Num 36,8). Die Töchter Eleasars folgen diesem Verfahren: Da ihr Vater keine Söhne hat, heiraten sie ihre Cousins (1 Chr 23,22). Diese rechtliche Regelung gewährleistet die Fortführung von Eleasars Namen unter den Leviten und dementsprechend den fortwährenden Anspruch der Familie auf die levitischen Anteile, wie sie festgeschrieben sind. 4.3 Die Tochter des Pharao Die Königebücher preisen Salomos Heirat mit der Tochter des Pharao und betonen, dass Salomo für sie eine besondere Residenz errichtet hat. Während der Bauphase verweilte sie in der „Stadt Davids“ (1 Kön 3,1), nach Beendigung der Arbeiten zog sie in die für sie errichtete Wohnstätte (1 Kön 9,24). Der Chronist berichtet nur einmal von der Tochter des Pharao, im Kontext ihres Umzuges aus der Stadt Davids in ihre eigene Residenz. Allerdings fügt er der kurzen Notiz aus dem Ersten Königebuch eine Erklärung dieses Umzuges hinzu, die als Zitat der Überlegungen Salomos stilisiert wird: „Denn er sagte: Eine Frau soll mir nicht in dem Haus Davids, des Königs von Israel wohnen; denn die Räume sind ein Heiligtum, weil die Lade des Herrn gekommen ist“ (2 Chr 8,11). Aus den Bemerkungen im Ersten Königebuch könnte man schließen, dass der Umzug der Tochter des Pharao ihren besonderen Status unter den Frauen Salomos hervorhebt. Demgegenüber wird der Umzug in der Chronik als rechtlicher Akt angesehen, der auf religiösen Erwägungen basiert.44 Dem Bericht des Chronisten zufolge wird die Tochter des Pharao regelrecht aus dem „Haus Davids“ entfernt, und zwar nicht, weil sie eine Ausländerin – eine ägyptische Prinzessin – ist, sondern weil sie eine Frau ist! Ihr Aufenthalt im „Haus Davids“ ist unvereinbar mit der Heiligkeit dieses Ortes, die durch die Gegenwart der Lade entstanden ist. Auch wenn die Lade in ihre dauerhafte Wohnung in den Tempel überführt wurde und selbst nicht mehr in der Stadt Davids ist (2 Chr 5,2–14 // 1 Kön 8,1–10), ist die Heiligkeit, die sie entstehen ließ, von Dauer. 44
Zu ähnlichen Strukturen und Formulierungen vgl. 2 Chr 23,6.14 // 2 Kön 11,15.
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Ziel ist es, die heiligen Stätten vor jeglicher Art von Unreinheit zu schützen – eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit in biblischer und nachbiblischer Gesetzgebung. Der Blickwinkel des Chronisten veranschaulicht den Versuch, strenge Grenzen in Bezug auf sexuelle Unreinheit zu ziehen, die durch die bloße Anwesenheit von Frauen bewirkt wird. 45 4.4 „Mischehen“ Die Thematik der „Mischehen“46, insbesondere zwischen judäischen Männern und ausländischen Frauen, war eine zentrale Streitfrage während der nachexilischen Zeit, wie das Buch Esra-Nehemia zeigt. 47 Die Entscheidung der judäischen Gemeinschaft zur Zeit Esras war klar und deutlich: Frauen und Kinder sollten verstoßen werden: „So lasst uns jetzt mit unserem Gott einen Bund schließen, dass wir alle ausländischen Frauen und die von ihnen geborenen (Kinder) fortschicken“ (Esr 10,3). In der Forschung wird nach wie vor diskutiert, ob diese Entscheidung jemals vollzogen wurde, 48 aber die einheitliche Meinung Esras, Nehemias und ihrer Anhänger ist deutlich: In der Gemeinschaft Israels gibt es keinen Platz für ausländische Frauen, egal welcher Herkunft, und ebenso wenig für ihre Kinder. 49 Die Position des Chronisten in dieser Frage steht der in Esra-Nehemia diametral entgegen. Einerseits stellt er „Mischehen“ nicht als Problem dar, egal zu welcher Zeit der Geschichte Israels. Darum wiederholt er den Bericht aus 1 Kön 11,1–5 nicht, in dem Salomo dieser Praxis beschuldigt wird, und der Nehemia zur Veranschaulichung 45
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Eine detailliertere Darstellung und ein Vergleich zu den Regelungen in der Tempelrolle findet sich bei JAPHET, „Prohibition of Habitation“. Siehe auch Shaye J. D. COHEN, „Solomon and the Daughter of Pharaoh: Intermarriage, Conversion and the Impurity of Women“, JANES 16–17 (1984–1985): 23–37; Tarja S. PHILIP, Menstruation and Childbirth in the Bible: Fertility and Impurity (New York: Peter Lang, 2006). Da das deutsche Äquivalent für „mixed marriage“, „Mischehe“, durch den Gebrauch im Nationalsozialismus belastet ist, wird der Begriff hier in Anführungszeichen gesetzt. Vgl. besonders Esr 9–10; Neh 10,31; 13,23–27; Mal 2,10–16. Diese Problematik hat viel wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen. Siehe u. a. JAPHET, „The Israelite Legal and Social Reality“; Ina WILLI-PLEIN, „Problems of Intermarriage in Postexilic Times“, in Shai le-Sara Japhet: Studies in the Bible, its Exegesis and its Language (hg. v. Moshe Bar-Asher et al.; Jerusalem: Mosad Bialik, 2007), 177*–189*; dort auch weitere Literatur. Siehe bes. Yonina DOR, Have the „Foreign Women“ Really been Expelled? Separation and Exclusion in the Restoration Period (Jerusalem: The Hebrew University Magnes Press, 2006 [hebräisch]). Zu Esra 9–10 vgl. auch DIES., „The Composition of the Episode of the Foreign Women in Ezra IX–X“, VT 53 (2003): 26–47. Die Gegenmeinung, dass die Verstoßung wirklich stattgefunden hat, wie in 3 Esra (= 1 Esdras) 9,36 beschrieben, vertritt Zipora TALSHIR, 1 Esdras: A Text Critical Commentary (Atlanta: Society of Biblical Literature, 2001), 482. Vgl. Esr 9–10; Neh 9,1–2; 10,31; 13,1–3.23–28 und den Beitrag von Tamara Cohn Eskenazi in diesem Band.
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seiner Zurechtweisung dient (Neh 13,26). Andererseits zeigt die Darstellung der Herkunft und Geschichte Israels, dass der Chronist sich des Phänomens der „Mischehen“, das sich durch die israelitische Geschichte zieht, bewusst ist. Nach der chronistischen Darstellung – den aus Quellen übernommenen Bemerkungen und eigenen Ergänzungen – gibt es an „Mischehen“ nichts auszusetzen. Denn die Ehegattinnen und Nachkommen solcher Ehen gehören zu Israel, sie sind ein willkommener Bestandteil der israelitischen Gesellschaft.50 Was die Zusammensetzung der israelitischen Gesellschaft angeht, ist dies die inklusivste Einstellung, die in der biblischen Literatur zu finden ist.
5. Zusammenfassung und Ergebnisse Die chronistischen Belege zu Frauen und Geschlechterrollen zeigen sehr deutlich, dass der Chronist in jeder Hinsicht ein Vertreter seines sozialen Umfelds ist. Das patriarchale System seiner Zeit bildet für beide Teile seines Werkes den grundlegenden sozialen Rahmen, in dem er alle seine Positionen zu sozialen und rechtlichen Fragestellungen entwickelt. In der historiographischen Erzählung sind die Hauptfiguren überwiegend Männer, während Frauen nur eine geringe Rolle im Verlauf der Geschichte spielen. In die Erzählungen, die er aus seinen Quellen übernommen hat, hat der Chronist keine Frauen als aktive Teilnehmerinnen eingefügt. Das steht in starkem Kontrast zu seinem Umgang mit männlichen Hauptfiguren, denn er fügt der Handlung zusätzliche Prophetengestalten und -namen, militärische Führer, Tempelbedienstete und andere Figuren hinzu. In den chronistischen Strukturen der Ursprünge Israels, wie sie in der genealogischen Einführung dargestellt werden, kommt das patriarchale Gesellschaftssystem deutlich zum Ausdruck. Allerdings werden männliche und weibliche Namen bei der Konzeption der ethnischen Identität Israels eingesetzt, die durch das Konstrukt der Eponyme formuliert wird. Die Bedeutung der Eponyme ist, dem unterschiedlichen Status von männlich und weiblich in der zeitgenössischen Gesellschaft entsprechend, nicht gleichwertig, doch die erkenntnisleitende Funktion der Eponyme ist für beide Geschlechter dieselbe. In den eigentlichen Abstammungstafeln, die durch diese Genealogien entworfen werden, kann man sogar einige Überreste des matrilinearen Systems erkennen. Der patriarchale Kontext kommt u. a. in dem Bemühen zum Ausdruck, den „Namen“ der Familie durch männliche Nachkommenschaft weiterzugeben, sowie in der Anwendung der Erbschaftsbestimmungen. Eine Besonderheit dieser Position liegt im Interesse des Chronisten an den Reinheitsgesetzen und seiner damit einhergehenden Auffassung, dass Frauen und heilige Stätten nicht kompatibel sind. Innerhalb der Grenzen dieser sozialen Grundstruktur legt der Chronist allerdings ein großes Interesse an Angelegenheiten, die Frauen betreffen, an den Tag und präsentiert 50
Einige dieser Fälle wurden oben bereits erwähnt, S. 50f. Eine detailliertere Darstellung findet sich bei JAPHET, Ideology, 261–274.
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sie als wesentliche Bestandteile der Sozialstruktur. Alle parallelen Erzählungen der Königebücher, in denen Frauen eine bedeutende Rolle spielen, werden zur Gänze beibehalten – die der Königin von Saba, der Königin Atalja und der Prophetin Hulda – und Informationen über Frauen aus anderen Zusammenhängen ergänzt. In seinen eigenen Beschreibungen betont der Chronist die Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit und ihre Position im Sozialgefüge. 51 Eine weitere Besonderheit des chronistischen Umgangs mit dem Motiv „Frauen“ liegt darin, dass es zur Hervorhebung der allgemeineren historischen und theologischen Ziele genutzt wird. Ein Schwerpunkt des chronistischen Werkes liegt auf der Zentralstellung des Hauses Davids in der Geschichte Israels, sowie auf seiner theologischen Bedeutung. Dieser Zielsetzung dienen die detaillierten Informationen über die davidische Familie, die sich auf David selbst und einige der davidischen Könige beziehen. Diese zusätzlichen Angaben enthalten einige Details über die Frauen (und Kinder) der Familie. Die Chronik ist außerdem das einzige biblische Werk, das die Genealogie des Hauses Davids nach der babylonischen Eroberung weiterführt, einschließlich einiger Angaben über Frauen. In geringerem Maße dienen Frauen auch dem chronistischen Interesse an den Leviten, das sich durch das Werk hindurch zieht. Eines der Hauptziele der chronistischen Geschichte ist die Betonung des Konzeptes „ganz Israel“. Dieses Konzept wird durch das gesamte Werk hindurch entwickelt und auf verschiedene Weise herausgehoben. In diesem Zusammenhang haben Frauen eine bedeutende Rolle, da sie die inklusivste Definition israelitischer Identität befördern. Ein zentraler Aspekt dieser Definition von Identität ist die liberale Haltung des Chronisten gegenüber „Mischehen“. Seiner Ansicht nach wurden solche Ehen in Israel durch die gesamte Geschichte hindurch geschlossen, und fremde Ehefrauen und deren Nachkommen bilden einen integralen Teil des Volkes Israel. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Position des Chronisten in Bezug auf Frauen und Geschlechterrollen zwischen zwei Polen schwankt: Einen Pol bildet das traditionelle patriarchale System, das die grundlegenden gesellschaftlichen Voraussetzungen bestimmt und die sozialen Ansichten und Werte des Chronisten beherrscht. Am anderen Pol zeigt sich sein Interesse an Angelegenheiten, die Frauen betreffen, und seine Auffassung, dass Frauen integraler Bestandteil des Sozialgefüges sind. Es bleibt den LeserInnen überlassen zu beurteilen, wie erfolgreich der Chronist zwischen den beiden Polen navigiert und diese empfindliche Balance in seiner historischen Komposition vermittelt. Aus dem Englischen übersetzt von Iris Cramer
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Die Königebücher nehmen keinen Bezug auf Frauen als Teilnehmerinnen – oder überhaupt als bedeutungstragende Personen – bei öffentlichen Ereignissen wie der Einweihung des Tempels (1 Kön 8), dem Bundesschluss Joschijas (1 Kön 23) oder bei den Auswirkungen der babylonischen Eroberung (2 Kön 25).
Die Weisheitsgestalt Kontexte, Bedeutungen, Theologie Gerlinde Baumann Philipps-Universität Marburg (Deutschland)
1. Einführung Die Weisheit tritt in drei Büchern des Alten Testaments in personifizierter Weise auf: im Buch der Sprichwörter (Proverbien) 1–9, im Buch Sirach (Jesus Ben Sira) sowie im Buch der Weisheit (Sapientia).1 In diesen Texten wird die Weisheit wie ein Mensch redend und handelnd dargestellt. Das Wort „Weisheit“ trägt im Hebräischen (Spr; Sir) und im Griechischen (Sir; Weish) das feminine Geschlecht. Auch die Personifikation der Weisheit ist weiblich; sie wird deshalb häufig „Frau Weisheit“ genannt. Ein weiterer Grund für die weibliche Ausgestaltung der Weisheit liegt möglicherweise auch darin, dass das zuvor von männlichen Aspekten dominierte Gottesbild um die fehlenden weiblichen Seiten ergänzt wurde.2 Die Weisheitsgestalt erscheint in unterschiedlichen gesellschaftlichen und literarischen Kontexten und kann zu Recht als eine der faszinierendsten literarischen Schöpfungen der Bibel angesehen werden3 – nicht zuletzt mit Blick auf die Frage nach einem weiblichen Gottesbild. 1
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Neuere Gesamtüberblicke über die biblische Weisheitsgestalt finden sich bei Christl MAIER, „Weisheit (Personifikation) (AT)“, in Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2007 (04.01.2012); Ilse MÜLLNER, Das hörende Herz: Weisheit in der hebräischen Bibel (Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 96–121 (v. a. zu Spr); Irmtraud FISCHER, Gotteslehrerinnen: Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament (Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 173–209; Alice M. SINNOTT, The Personification of Wisdom (SOTSMS; Aldershot/Burlington: Ashgate, 2005); Martin NEHER, Wesen und Wirken der Weisheit in der Sapientia Salomonis (BZAW 333; Berlin/New York, 2004), 18–154; Peter SCHÄFER, Weibliche Gottesbilder im Judentum und Christentum (Frankfurt a.M./Leipzig: Verlag der Weltreligionen, 2008 [engl. Original 2002]), 35–60 (inkl. Ijob 28) sowie die Beiträge bei Silvia SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut: Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften (Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1996); Nuria CALDUCHBENAGES, „Jesus and Wisdom“, in The Perfume of the Gospel: Jesus’ Encounters with Women (hg. v. Nuria Calduch-Benages; Theologia 8; Rom: Gregorian and Biblical Press, 2012), 109–140. Älter, aber immer noch lesenswert sind insbesondere Bernhard LANG, Frau Weisheit: Deutung einer biblischen Gestalt (Düsseldorf: Patmos-Verlag, 1975) (fast nur zu Spr); sowie Gerhard VON RAD, Weisheit in Israel (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 3 1985 [1970]), 189–228 (auch zur weisheitlichen Theologie insgesamt). Nach FISCHER, Gotteslehrerinnen, 171, bewirkt die Darstellung der Weisheit neben Gott, dass sich der nachexilische Monotheismus gerade für nicht-männliche Bilder Gottes öffnen muss: „Wenn es nur mehr eine einzige Gottheit gibt, so muss diese alles in sich vereinigen, alle Funktionen aller Gottheiten, männlicher wie weiblicher, in das Gottesbild integrieren.“ Vgl. SINNOTT, Personification, 177: „Die Weisheit ist unbestreitbar die faszinierendste literarische Gestalt der Bibel.“
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Gerlinde Baumann Ausgeklammert bleibt in diesem Beitrag die Weisheit in Ijob 28 und in Baruch 3,9–4,4, denn sie erscheint dort nicht als Personifikation, sondern als eine Größe ohne personale Züge. 4 Ebensowenig ist hier der Ort für längere Ausführungen über die Weisheitsgestalt außerhalb der Schriften des Alten Testaments, also in den späteren jüdischen und christlichen Fortschreibungen. 5
In der Exegese besteht mittlerweile ein Konsens darüber, dass die Weisheitsgestalt eine poetische Personifikation ist. 6 Die Personifikation ist eine Untergattung der poetischen Stilform der Metapher und entsteht im Zusammenspiel eines „Bildspenders“ mit einem „Bildempfänger“. 7 Der Bildempfänger ist die Weisheitsgestalt selbst. Nicht so eindeutig lässt sich der Bildspender festlegen. Theoretisch kämen sowohl konkrete Frauen (aus Fleisch und Blut) als auch Gott, Götter oder Göttinnen in Frage. Da es sich bei der Weisheitsgestalt um eine Figur der göttlichen Sphäre handelt, sollte sie auch wie eine solche analysiert werden. 8 Bei der Weisheitsgestalt ist allerdings – wie in der Gottesmetaphorik – der Bezug auf die konkrete Welt ein gebrochener. Deshalb kommen konkrete Frauen als Bildspenderinnen 9 weniger in Frage, sondern in erster Linie bereits vorhandene Gottesbilder Israels sowie vor allem die in Israel bekannten Göttinnen. Damit die Bedeutung der Weisheitsgestalt genauer nachgezeichnet werden kann, sollen auch diese Vorstellungen in den Blick genommen werden.
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Dazu vgl. etwa Marie-Theres WACKER, „Das Buch Baruch: Post aus der Ferne“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 422–427; 424. Sie weist zudem darauf hin, dass die Weisheit in Ijob 28 und bei Baruch rätselhaft und unzugänglich ist und „syntaktisch und semantisch Objekt Gottes“ bleibt. Eine ähnliche Einschätzung trifft SINNOTT, Personification, 173f.; sie behandelt die Texte in ihrer Monographie allerdings trotzdem. Dazu siehe z. B. MAIER, „Weisheit“, Abschnitte 1.1.5 und 2.2.1 mit Hinweisen auf weitere Texte und Literatur. Diese These hat erstmals LANG, Frau Weisheit, 168–171 klar formuliert. Neuere deutschsprachige feministisch-theologische Literatur dazu ist z. B. MAIER, „Weisheit“, Abschnitt 1.1; Susanne GORGES-BRAUNWARTH, „Frauenbilder – Weisheitsbilder – Gottesbilder“ in Spr 1–9: Die personifizierte Weisheit im Gottesbild der nachexilischen Zeit (Exuz 9; Münster: LIT, 2002), 92–97; Gerlinde BAUMANN, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9: Traditionsgeschichtliche und theologische Studien (FAT 16; Tübingen: Mohr, 1996), 27–37 sowie Silvia SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 27–62; v. a. 28–30. SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 30; wichtige Impulse aus der englischsprachigen Diskussion vermittelte v. a. Claudia CAMP, Wisdom and the Feminine in the Book of Proverbs (Sheffield: Almond Press, 1985), 73. Dazu siehe auch Gerlinde BAUMANN, Liebe und Gewalt: Die Ehe als Metapher für das Verhältnis JHWH-Israel in den Prophetenbüchern (SBS 185; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2000), 42. Diese Position wird vor allem von Silvia SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 27–62 vertreten sowie von Christine R. YODER, Wisdom as a Woman of Substance: A Socioeconomic Reading of Proverbs 1–9 and 31:10–31 (BZAW 304; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2001).
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2. Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9 2.1 Text und Inhalt Im Buch der Sprichwörter finden sich wohl die ältesten biblischen Weisheitstexte; die Kapitel 10–29 stammen vermutlich zum Großteil aus der Königszeit. Sie enthalten überwiegend aus der Erfahrung gewonnene weisheitliche Sinnsprüche über das richtige Verhalten in unterschiedlichen Lebenssituationen. Die Kapitel 1–9 führen in das Buch ein. In fast allen dieser neun Kapitel wird die „Weisheit“ erwähnt. Doch nicht an allen Stellen ist dabei die Weisheitsgestalt gemeint. Am wichtigsten sind die Texte, in denen sie selbst spricht: Spr 1,20–33, Spr 8 und Spr 9,1–9; als Person erscheint sie außerdem 10 in Spr 3,16f.; 4,6.8f.; 7,4; 9,11. Bei ihren ersten beiden Ich-Reden ist die Weisheitsgestalt im Stadttor positioniert (Spr 1,20f.; 8,1–3) und damit an einem sehr öffentlichen Ort, an dem Handel getrieben wird und das Ortsgericht sich trifft. In der ersten Rede (Spr 1,22–33) ähnelt die Weisheitsgestalt einer Prophetin. Allerdings verkündigt sie ihre eigene Botschaft und nicht das Wort JHWHs. Sie ermahnt ihr Publikum, sich an ihre Worte zu halten und nicht in Unerfahrenheit zu verharren. In der zweiten und längsten Rede in Spr 8 preist sich die Weisheitsgestalt vor allem selbst. Hier erscheint sie zunächst (Spr 8,4–11) als Bringerin von Weisheit und Erkenntnis. In Spr 8,12–21 wird sie anhand einer Reihe von Aspekten näher bezeichnet: sie ist die Ratgeberin der Mächtigen; sie liebt die, die sie lieben, und sie lässt sich von denen finden, die sie suchen; sie verspricht ihren AnhängerInnen materiellen Reichtum, und sie wandelt auf dem Weg von Recht und Gerechtigkeit. Am bekanntesten ist wohl der dritte Teil dieses Kapitels: In Spr 8,22–31 stellt sich die Weisheitsgestalt als diejenige vor, die vor aller Schöpfung von Gott geboren wurde und als Gottes „Liebling“ (hebr. ʯ௴ʥʮˌ) bei Gott spielt.11 Deutlicher werden die Proverbien in ihrer Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Weisheitsgestalt und Gott nicht. Im Anschluss preist die Weisheitsgestalt in Spr 8,32–36 diejenigen, die ihr nachfolgen, und sie droht denen, die das nicht tun. In Spr 9,1–9 schließlich tritt sie als Dame auf, die alle Vorübergehenden zu ihrem Bankett in ihren Palast einlädt. Dieser P107F
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Zur Weisheitsgestalt in Prov 1–9 siehe: Christl MAIER, „Das Buch der Sprichwörter: Wie weibliche Weisheit entsteht …“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 208–220; BAUMANN, Weisheitsgestalt, sowie die englischsprachige Zusammenfassung: DIES., „A Figure with many Facets: The Literary and Theological Functions of Personified Wisdom in Proverbs 1–9“, in Wisdom and Psalms (hg. v. Athalya Brenner und Carole R. Fontaine; FCB 2.2; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1998), 44–78; Carole R. FONTAINE, „Proverbs“, in The Women’s Bible Commentary (hg. v. Carol A. Newsom und Sharon H. Ringe, London: SPCK und Louisville: Westminster John Knox, 1992), 145–152; Bernhard LANG, Wisdom in the Book of Proverbs: A Hebrew Goddess Redefined (New York: Pilgrim Press, 1986); CAMP, Wisdom. Dazu vgl. Othmar KEEL, Die Weisheit spielt vor Gott: Ein ikonographischer Beitrag zur Bedeutung des mesaۊäqät in Spr. 8,30f (Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1974) sowie BAUMANN, Weisheitsgestalt, 4–41.
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Textpassage entspricht in Spr 9,13–18 ein Abschnitt, in dem ihre Gegenspielerin, die „fremde Frau“ bzw. „Frau Torheit“, spricht. 2.2 Kontext und Bedeutung Der Schwerpunkt feministisch-exegetischer Beschäftigung mit der Weisheitsgestalt liegt noch immer auf dem Buch der Sprichwörter. Dabei sind die Forscherinnen überwiegend der Ansicht, dass die Weisheitsgestalt in Spr 1–9 als poetische Personifikation anzusehen ist und nicht als Hypostase Gottes oder als Anspielung bzw. „Zitat“ einer altorientalischen oder altägyptischen Göttin. 12 Wenig Dissens besteht in der Frage, dass die Einleitung in das Proverbienbuch (Spr 1–9) mitsamt der Weisheitsgestalt eine Schöpfung von Angehörigen der städtischen Oberschicht der Nachexilszeit (5./4. Jh. v. Chr.) ist. Die Situation ist nicht vorrangig durch ökonomische Probleme geprägt, sondern eher durch religiöse oder ideologische Fragen: Wer ist wirklich israelitisch und wer nicht? Welches Verhalten ist dieser Gemeinschaft angemessen? Antworten auf diese Fragen werden in Spr 1–9 anhand der Figur der „fremden Frau“ gegeben.13 Sie ist die negative Gegenspielerin der Weisheitsgestalt. Die „fremde Frau“ trägt viel stärker als die Weisheitsgestalt Züge von konkreten Frauen aus Fleisch und Blut. Insofern kommt es in Spr 1–9 zu einer Konstellation, bei der das negativ gewertete Verhalten konkreter Frauen in Gestalt der „fremden Frau“ der positiven Weisheitsgestalt gegenübersteht, die selbst nur wenige Züge konkreter Frauen trägt. Deshalb finden sich in feministischer Exegese Stimmen, die davor warnen, die Weisheitsgestalt in Spr 1–9 ausschließlich positiv zu bewerten, etwa als ein wichtiges „Symbol der Verbundenheit“ oder gar die „Zukunft feministischer Spiritualität“14 – ist dies doch nur die eine Seite der Medaille, deren andere in der Abwertung des Verhaltens konkreter Frauen besteht.15 Entsprechend findet sich dann auch die Aussage, dass die Weisheitsgestalt die „Werbefigur der dominanten männlichen Kultur“ 16 sei: Sie habe dazu gedient, 12
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Vgl. den Forschungsüberblick bei GORGES-BRAUNWARTH, Frauenbilder, 4–64 sowie BAUMANN, Weisheitsgestalt, 4–41. Dazu siehe v. a. Christl MAIER, Die „fremde Frau“ in Proverbien 1–9: Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie (OBO 144; Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995); vgl. auch ihren Beitrag im vorliegenden Band. So die Titelformulierungen von Susan CADY et al., Sophia: The Future of Feminist Spirituality (New York: Harper & Row, 1986), die im Englischen „symbol of connectedness“ sowie „future of feminist spirituality“ lauten. Vgl. dazu Gerlinde BAUMANN, „‚Zukunft feministischer Spiritualität‘ oder ‚Werbefigur des Patriarchats‘? Die Bedeutung der Weisheitsgestalt in Prov 1–9 für die feministischtheologische Diskussion“, in Von der Wurzel getragen: Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker, BIS 17; Leiden et al.: Brill, 1996), 135–152. Im englischen Original: „… advertiser for the dominant male culture“, so die Einschätzung von Fokkelien van Dijk-Hemmes, in Athalya BRENNER und Fokkelien VAN DIJK-HEMMES, On Gendering Texts: Female and Male Voices in the Hebrew Bible (BIS 1; Leiden et al.:
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Frauen und Männer in patriarchale Gesellschaftsstrukturen zu pressen, welche Frauen in starker Abhängigkeit von ihren Ehemännern hielten und sie zur Anpassung an eine rigide und patriarchale Gesellschaftsmoral zwangen. Die andere mit der Weisheitsgestalt verknüpfte Frage lautet, ob oder inwiefern sie von einer der zahlreichen zeitgenössischen Göttinnen, die es in Israel und seiner Umwelt gab, hergeleitet worden sein kann. 17 Aspekte von Göttinnen, die für die Ausgestaltung der Weisheitsgestalt in Frage kommen, sind Spr 1,22–33 mit der Ich-Rede der Weisheitsgestalt: die Ich-Rede der ägyptischen Isis; Spr 3,16–18 mit der Weisheit als Lebens- und Schutzspenderin: Ma‘at; Spr 3,18 mit der Weisheit als Lebensbaum: mesopotamische Vorstellungen; Spr 4,6 mit der Weisheit als Geliebte: die Ma‘at; Spr 8,4–36 mit der Ich-Rede der Weisheitsgestalt: Isis, die ägyptischen Gottheiten Hike und Schu sowie die Rede Ramses’ II.; Spr 8,15f. mit der Weisheit als Herrschaftsmacht: die Ma‘at oder eine syrisch-kanaanäische Göttin; Spr 8,17.20f.30 sowie 7,4 mit der Weisheit als Liebende und Geliebte: die Ma‘at; Spr 8,19 mit der Frucht der Weisheit: mesopotamische Vorstellungen; Spr 8,22 mit der Präexistenz der Weisheit: die Ma‘at sowie das Ba‘al-Epos; Spr 8,24f. mit der Weltschöpfung: ugaritische Texte; Spr 8,30 mit der spielenden Weisheit: der syrischkanaanäische Bereich, die Ma‘at sowie Hathor und die „Spiel“-Göttin; Spr 8,31 mit der den Menschen nahen Weisheit: die Ma‘at. 18
Diskutiert wird hier vor allem die ägyptische Göttin der Gerechtigkeit und Weltordnung, die Ma‘at. 19 Allerdings spricht auch einiges gegen die Ma‘at als einziges „Vorbild“: Zum einen ist die inhaltliche Verbindung zwischen der Weisheitsgestalt und der Ma‘at nicht so eng, dass sich eine Gestaltung der personifizierten Weisheit nach der Ma‘at nahelegen würde; zum anderen besitzt die Ma‘at keinen Mythos und
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Brill, 1993), 58–62; 54; ein ähnlicher Tenor findet sich bei Carol A. NEWSOM, „Woman and the Discourse of Patriarchal Wisdom: A Study of Proverbs 1–9“, in Gender and Difference in Ancient Israel (hg. v. Peggy L. Day, Minneapolis: Fortress Press, 1989), 142–160, sowie bei Mieke KORENHOF, „Spr. 8,22-31: Die ‚Weisheit‘ scherzt vor Gott”, in Feministisch gelesen, Bd. 1 (hg. v. Eva Renate Schmidt et al., Stuttgart: Kreuz Verlag, 1988), 118–126. SINNOTT listet weitere in der Forschung diskutierten Göttinnen auf (Personification, 171). LANG, Wisdom, 129 sieht Parallelen zwischen der Weisheitsgestalt und der sumerischen Nisaba sowie der ägyptischen Seschat, zwei Schreibergöttinnen. Zum Überblick über die Diskussion (auf dem Stand von 1994) und die methodischen Probleme der bisher vorhandenen Ergebnisse religionsgeschichtlicher Untersuchungen vgl. auch BAUMANN, Weisheitsgestalt, 13–27. Zu den Quellenangaben siehe BAUMANN, Weisheitsgestalt, 24f. Dazu siehe auf textlicher Grundlage Christa KAYATZ, Studien zu Prov. 1–9: Eine form- und motivgeschichtliche Untersuchung unter Einbeziehung ägyptischen Vergleichsmaterials (WMANT 22; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1966), sowie auf ikonographischer Basis KEEL, Weisheit. Zur ägyptischen Maat an sich (ohne Bezüge zur Weisheitsgestalt) vgl. Jan ASSMANN, Ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten (München: Beck, 1990).
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spricht auch nicht selbst. 20 Daneben sind eine ganze Reihe weiterer Göttinnen im Umfeld Israels in der Diskussion. 21 Deshalb ist es fraglich, ob die Weisheitsgestalt in Spr 1–9 allein von der Ma’at hergeleitet wurde oder diese im engen Sinne als „Vorbild“ der Weisheitsgestalt anzusehen ist. 2.3 Weisheitsgestalt und Gott in den Proverbien In den Proverbien speist sich die Darstellung der Weisheitsgestalt vor allem aus zwei Quellen: Dass die Weisheit überhaupt als weibliche Gestalt vorgestellt werden kann, hat unzweifelhaft damit zu tun, dass es in der altorientalischen Welt des alten Israel eine große Anzahl von Göttinnen gab, wobei einige von ihnen eine enorme Machtfülle zugeschrieben wurde. Als Gestalt der himmlischen Sphäre integriert die Weisheitsgestalt sicherlich Facetten altorientalischer Göttinnen, ohne dass sich diese allerdings eindeutig ausmachen ließen. 22 Präzise benennen lassen sich hingegen eine Reihe von Hinweisen auf religiöse Traditionen des Alten Israel, die sich in der inhaltlichen Ausgestaltung der Weisheitsgestalt finden. In erster Linie sind dies Bezüge auf prophetische Texte (v. a. Jeremia) sowie auf die priesterschriftliche Schöpfungserzählung (Gen 1,1–2,4a). 23 Daraus wird eine Gestalt geformt, die eng mit dem Gottesbild des nachexilischen Israel verknüpft ist.24 Die Weisheitsgestalt war bereits vor Erschaffung der Welt da; sie ist von Gott geschaffen und deshalb eine Gestalt der göttlichen Sphäre. 25 Es sind mehrere Aspekte, die sie zum Gottesbild des nachexilischen Israel beisteuert: Zunächst fügt sie dem Göttlichen den Aspekt der Weiblichkeit hinzu, und zwar nicht nur dadurch, dass sie eine weibliche Personifikation ist, sondern auch dadurch, dass Gott sie „gebiert“ (Spr 8,24–25). Dann ist sie Mittlerin zwischen Gott und den Menschen; sie überbringt den Menschen das Wissen um die göttliche
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Darauf hat Burton L. MACK, Logos und Sophia: Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum (SUNT 10; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973), 38 hingewiesen. Vgl. BAUMANN, Weisheitsgestalt, 24f. Anders dagegen Silvia Schroer; vgl. ihren Artikel im vorliegenden Band. Vgl. u.a. BAUMANN, Weisheitsgestalt, 145f.; Michaela BAUKS und Gerlinde BAUMANN, „Im Anfang war...? Gen 1,1ff und Prov 8,22-31 im Vergleich“, BN 71 (1994): 24–52 sowie Scott L. HARRIS, Proverbs 1–9: A Study of Inner-Biblical Interpretation (SBLDS 150; Atlanta: Scholars Press, 1995), 67–109. Dies gegen die These von YODER, Wisdom, 111. Für sie sind die „Frau von Wert“ in Spr 31,10–31 und die Weisheitsgestalt in Spr 1–9 ein und dieselbe Gestalt, die auf konkrete Beschreibungen von Frauenleben zurückgehen. Dabei berücksichtigt sie allerdings die Züge der Weisheitsgestalt zu wenig, mit deren Hilfe diese sehr eng an Gott gerückt wird. Konkreter lässt sich dies nicht fassen, was in den Texten wohl auch beabsichtigt ist. MarieTheres Wacker formuliert das zutreffend so, dass „die Weisheitsliteratur durchweg einen gewissen ‚Spielraum‘ (vgl. Prov 8,30!) zwischen Gott und Weisheit belässt“ (WACKER, „Baruch“, 424).
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Vorstellung von einer der Schöpfung innewohnenden Ordnung. 26 Insofern ist die Weisheitsgestalt in den Proverbien eine Ergänzung zum oder sogar die Durchbrechung einer spezifischen Form des altisraelitischen Monotheismus: Indem die Weisheitsgestalt die göttliche Sphäre betritt, ist Gott nicht mehr das einzige Wesen in dieser Sphäre. Auf subtilere Weise vermittelt die Weisheitsgestalt daneben Konzepte von weiblichem und männlichem Verhalten, und zwar vor allem in ihrer Gegenüberstellung zur „fremden Frau“ oder „Frau Torheit“ in Spr 1–9. Die Weisheitsgestalt des Proverbienbuchs ist also eine Figur, durch die das Wissen um göttliche wie menschliche Weisheit an die nächste Generation weitergegeben werden soll. Im Alten Testament ist sie die erste stärker ausgearbeitete weibliche Gestalt der göttliche Sphäre, die positiv konnotiert ist und ihren Ursprung in Israel selbst findet. Sie ist bereits vor der Schöpfung bei Gott und weiß so um die innersten Geheimnisse der Welt. Aufgrund ihrer Verknüpfung mit der „fremden Frau“ ist allerdings fraglich, ob sie sich als frauenbefreiende Gestalt für diese Zeit in Anspruch nehmen lässt.
3. Die Weisheitsgestalt im Buch Jesus Sirach 3.1 Text und Inhalt Das Sirachbuch (Jesus Ben Sira) umfasst wie das Proverbienbuch Einzelsprüche oder Spruchkomplexe mit Lehren zu konkreten Lebenssituationen. Anders als die Proverbien – und erstmals in der israelitischen Weisheit – knüpft es aber auch deutlich an die geschichtlichen Traditionen Israels an (v. a. in Sir 44,1–50,24). 27 Die Weisheitsgestalt ist bei Sirach in allen Buchteilen präsent, wodurch sie eine wichtigere Rolle für das 28 gesamte Buch spielt. Besonders auffällig ist, dass ihr am Anfang des Buches, in der 26
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Dies hat besonders VON RAD, Weisheit, 189 und 215 in seiner Formulierung von der Weisheitsgestalt als „Selbstoffenbarung der Schöpfung“ betont. Vgl. Nuria CALDUCH-BENAGES, „The Absence of Named Women from Ben Sira’s Praise of the Ancestors“, in Rewriting Biblical History: Essays on Chronicles and Ben Sira in Honor of Pancratius C. Beentjes (hg. v. Jeremy Corley und Harm van Grol; DCLS 7; Berlin: Walter de Gruyter, 2011), 301–317. Es gibt m. W. keine feministisch-theologische Untersuchung, die sich allein der Weisheitsgestalt bei Sirach widmet. Immer noch empfehlenswert ist die Monographie über die Texte der Weisheitsgestalt bei Sirach: Johannes MARBÖCK, Weisheit im Wandel: Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira (BZAW 272; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2 1999 [1971]); vgl. Nuria CALDUCH-BENAGES (Hg.), El Libro de Ben Sira (Sirácida o Eclesiástico) (Reseña Bíblica 41; Estella: Verbo Divino, 2004), bes. 27–36. In feministischer Exegese wird die Weisheitsgestalt bei Sirach in Überblicksartikeln berücksichtigt; siehe Angelika STROTMANN, „Das Buch Jesus Sirach: Über die schwierige Beziehung zwischen göttlicher Weisheit und konkreten Frauen in einer androzentrischen Schrift“, in: Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 428–440; Silvia SCHROER, Die Weisheit hat ihr
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Buchmitte und am Schluss größere Textpassagen gewidmet sind. Sie begegnet gleich in der Einleitung des Buches in Sir 1,1–27. In Sir 24,3–22 (mit V. 1–2 als Einleitung) hält sie eine lange Rede, in der sie sich selbst preist. Dieses Kapitel bildet die Mitte des Buches und verbindet dessen beide Hälften. Im Anhang des Buches wird die Weisheitsgestalt erneut vom Weisheitslehrer und Buchautor gepriesen (Sir 51,13–26). Daneben gibt es noch drei weitere Weisheitsgedichte (Sir 4,11–19; 6,18–37; 14,20–15,10). In Sir 1,1–27 stellt der Verfasser des Buches die Weisheitsgestalt vor: Wie in Spr 8,22–31 wurde sie vor der Weltschöpfung erschaffen, und wie in Ijob 28 lässt sie sich aus der Ordnung der Welt ersehen. Jenseits und vor aller Weisheit allerdings ist Gott, und nur Gott ist wahrhaft weise; er hat die Weisheit geschaffen und ermessen und verleiht sie den gottesfürchtigen Männern und Frauen. Vor allem in Sir 1,10–20 wird die Weisheitsgestalt eng an die Größe der „Gottesfurcht“ gebunden (ähnlich wie in Spr 1,7; 8,13; 9,10; Ps 111,10 sowie in Ijob 28,28). Darin wird angedeutet, was in Sir 1,26 ausgesprochen wird, nämlich die Verknüpfung der Weisheit(sgestalt) mit der Weisung Gottes (hebräisch ʤʸʥʺ, griechisch ȞȩȝȠȢ :HU VLFK DQ GLH ʤʸʥʺ und ihre Gebote hält, wird Weisheit erlangen.29 Diese Aussage wird in der Identifikation von Weisheit und Tora in Sir 24,23 intensiviert. In Sir 4,11–19 wird die Liebe zur Weisheitsgestalt hervorgehoben. In V. 14 ist der Dienst für sie gleichbedeutend mit dem Dienst für Gott, und wer sie liebt, wird von Gott geliebt werden. In diesem Abschnitt spricht die Weisheitsgestalt in der hebräischen Textüberlieferung auch in fünf Versen selbst. In 4,19 ermahnt sie ihre Anhänger sogar und droht ihnen (vgl. Spr 1,22–33!). Demgegenüber legt Sir 6,18–37 den Schwerpunkt auf die Beziehung zwischen der Weisheitsgestalt und der Erziehung, beziehungsweise dem Urteil oder Rat der Lehrperson. Diese Hilfestellungen werden sehr gepriesen und unter anderem als kostbare Krone (6,31) bezeichnet. Doch diese Krone muss wie die Weisheit erst errungen werden. In Sir 14,20–15,10 wirkt die Weisheitsgestalt wie eine reiche, in einem Haus wohnenden Frau, deren Nähe man suchen sollte. In Sir 15 wird sie mit einer Mutter, jungen Braut oder Ehefrau verglichen. Wer sich ihr nähert, findet Freude und einen Jubelkranz (Sir 15,6). Die Weisheitsgestalt wird ähnlich der Freundin eines jungen Mannes dargestellt, und in erotischen oder sexuellen Metaphern wird geschildert, wie er sich ihr nähert. 30 In anderer Weise spricht die Weisheitsgestalt in Sir 24,1–22 über sich und preist sich in einer Form, die der aus dem hellenistischen Bereich stammenden Aretalogie P125F
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Haus gebaut, 96–109; sowie in Teilen in Ibolya BALLA, Ben Sira on Family, Gender, and Sexuality (DCLS 8; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2011). Eine ähnliche Aussage findet sich in Sir 6,37, vgl. auch STROTMANN, „Jesus Sirach“, 436. Zur erotischen und sexuellen Sprache bei Sirach auch für das Verhältnis zur Weisheitsgestalt vgl. die Zusammenfassung bei BALLA, Ben Sira, 226–228; Balla bemerkt an zahlreichen Stellen der griechischen Übersetzung von Sirach eine Abschwächung des erotischen Inhalts (230).
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gleicht. 31 Ähnlich wie in Sir 1 betont sie, dass sie von Gott erschaffen wurde, doch jetzt wird sie mit Begriffen und Ereignissen der israelitischen Geschichte verknüpft. Wie eine Königin durchwandert sie die Welt und hält Ausschau nach einem Wohnort, den sie dann mit göttlicher Hilfe in Jakob bzw. Israel findet. Sie lebt in Jerusalem und verrichtet wie eine Priesterin ihren Dienst vor Gott im heiligen Zelt. Sie wird mit unterschiedlichen Bäumen verglichen, die ihre Früchte denen spenden, die zu ihnen kommen. Sir 24 ist ein Text, in dem sich eine ganze Reihe Anspielungen auf ältere alttestamentliche Traditionen finden, und er belegt die hohe, fast göttliche Stellung der Weisheitsgestalt. Dabei bleibt sie allerdings eindeutig Gott untergeordnet: Er hat sie erschaffen, er lässt sie in Jerusalem wohnen, und vor ihm dient sie im Kult. Am Ende des Sirachbuches preist der Weisheitslehrer in Sir 51,13–26 noch einmal die Weisheitsgestalt. In diesem Text blickt der Lehrer auf sein Leben mit der Weisheit zurück. Als junger Mann hat er sie wie eine Freundin oder Ehefrau gesucht und gefunden. Auch dieser Text enthält erotische Metaphern. Schließlich möchte dieses Preislied auf die Weisheit die Schüler für das „Lehrhaus“ des Weisheitslehrers begeistern (51,23). 3.2 Kontext und Bedeutung Das Sirachbuch ist vermutlich im 2. Jh. v. Chr. von einem gebildeten Jerusalemer Weisen namens Jesus ben Sira verfasst worden, der vielleicht auch Priester war. Dessen Enkel hat es ins Griechische übersetzt. Die griechische Fassung32 stellt die Grundlage der meisten exegetischen Arbeiten zum Sirachbuch dar, auch wenn der nur fragmentarisch überlieferte hebräische Text wohl älter ist. Die Situation zu dieser Zeit hat sich gegenüber der Abfassungszeit der Proverbien deutlich verändert: Zum einen scheint die „Fremdheit“ in Israel nicht mehr so wichtig zu sein, und zum anderen nimmt nun der Hellenismus erheblichen Einfluss auf die Kultur Israels. In seinem Weisheitsbuch versucht Sirach, israelitische und hellenistische Traditionen miteinander zu verbinden. Für die Deutung der Weisheitsgestalt relevant sind Sirachs Androzentrismus und seine Frauenfeindlichkeit, wie Silvia Schroer hervorgehoben hat.33 Der positiven Figur der Weisheitsgestalt stehen negative Darstellungen konkreter Frauen gegenüber; darin ähnelt Sirach teilweise der Gegenüberstellung von Weisheitsgestalt und „fremder Frau“ in Spr 1–9. Während sich die Weisheit in Sir 24 selbst preist, finden sich unmittelbar danach in Sir 25–26 zahlreiche Verse, die sich sehr negativ über Frauen äußern. 31
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Zu den Isis-Aretalogien vgl. Silke PETERSEN, Brot, Licht und Weinstock: Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte (NovTSup 127; Leiden/Boston: Brill, 2008), v.a. 184–199. Dabei existieren zwei griechische Fassungen, eine längere (GII) und eine kürzere (GI). Die kürzere ist meist die Grundlage von Bibelübersetzungen, weshalb der Bezugspunkt im Folgenden die kürzere Fassung ist. SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 106f.; vgl. auch den Beitrag von Nuria Calduch-Benages in diesem Band.
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Auch hier ist also die Schilderung der überaus positiven Weisheitsgestalt mit einer Abwertung konkreter Frauen gekoppelt. Anders als am Schluss der Proverbien (31,10–31) 34 gibt es bei Sirach allerdings keine beide Aspekte integrierende Figur. Dass der Weisheitsgestalt bei Sirach zu einem guten Teil auch die Weisheitsgestalt der Proverbien zugrunde liegt, betont Angelika Strotmann in ihrer Darstellung. 35 So laden beide zum Mahl ein (Spr 9,1–6; Sir 15,2–3; 24,19–21), sprechen wie eine Prophetin (Spr 1,20–33; Sir 4,19) und reden von ihren „Früchten“ (Spr 8,19; Sir 24,19–21). 36 Außerdem sind beide eng mit der Gottesfurcht verbunden (Spr 8,13; Sir 1,10–20), sie sind von Liebe zu den Menschen erfüllt und werden ihrerseits geliebt (Spr 8,17.21; Sir 24,18; 51,19f.). Strotmann bezieht auch Stellung in der häufig diskutierten Frage, ob die Weisheitsgestalt bei Sirach gegenüber den Proverbien ein weniger universalistisches (d. h. auf alle Menschen ausgerichtetes) Profil trägt. Denn Sirachs Weisheitsgestalt ist viel enger mit Israel, mit der Gottesfurcht, der Tora und den Geboten verbunden. 37 Strotmann weist – meines Erachtens zu Recht – darauf hin, dass die Weisheitsgestalt bei Sirach gegenüber den Proverbien mit zusätzlichen Aspekten israelitischer Theologie verknüpft ist, wobei diese von Sirach in einen größeren Rahmen eingebettet werden, weil er eine Synthese zwischen israelitischem und hellenistischem Denken anstrebt. Dabei nimmt er an manchen Stellen hellenistische Denkweisen auf, während er sie an anderen Stellen zurückweist. Und er schreibt vor einem universalistischen Horizont, in dem sich die Botschaft des Gottes Israels an alle Völker richtet. Deshalb stellt die Identifikation mit der Tora gerade keine Beschränkung der Weisheitsgestalt dar, sondern genau das Gegenteil, nämlich eine Ausweitung. So ist auch die Darstellung der Weisheitsgestalt in der Spannung zwischen hellenistischem Denken und der Nähe zu Aretalogien der ägyptisch-hellenistischen Isis 38 auf der einen Seite und der Anknüpfung an eine gegenüber den Proverbien größeren Breite israelitischer Traditionen auf der anderen Seite zu beurteilen: Die Weisheitsgestalt im Sirachbuch scheint beides zu sein – sie ist fraglos israelitisch, doch gleichzeitig versucht sie, sich an hellenistisches Denken anzuschließen. Das geschieht unter anderem dadurch, dass die Weisheitsgestalt nun, vor allem in Sir 24, in die Nähe der hellenistischen Isis gerückt wird, und zwar nicht nur durch die 34
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Zur „Frau von Wert“ vgl. neben der Arbeit von YODER, Wisdom, auch Katrin BROCKMÖLLER, „Eine Frau der Stärke – wer findet sie?“ Exegetische Analysen und intertextuelle Lektüren zu Spr 31,10–31 (BBB 147; Berlin: Philo, 2004) sowie den Beitrag von Tamara Cohn Eskenazi in diesem Band, Abschnitt 3.4. STROTMANN, „Jesus Sirach“, 435. STROTMANN, „Jesus Sirach“, 435. STROTMANN, „Jesus Sirach“, 435; 438. Auf die Parallelen zwischen der Isis und der Weisheitsgestalt bei Sirach (und in der Sapientia) hat bereits MACK, Logos, 38 hingewiesen: „Die Maat ist zwar eine mythische Figur, hat aber keinen Mythos an sich, sie tritt nie selbst-redend auf und entbehrt der sexuellen Züge der Weisheit. Dies alles lässt sich jedoch für die Göttin Isis nachweisen. … Denn die Isis hat einen Mythos, sie steht in enger Beziehung zum Wort und dürfte wohl auch der Weisheit die sexuellen Züge verliehen haben.“ Vgl. auch John S. KLOPPENBORG, „Isis and Sophia in the Book of Wisdom“, HTR 75 (1982): 57–84.
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gemeinsame literarische Gattung der Aretalogie, sondern auch durch die Vielgestaltigkeit 39 beider Figuren. Die Parallelen erstrecken sich auch auf einzelne Darstellungsaspekte. Positive Aufnahme in der Forschung hat die These von Hans Conzelmann gefunden, nach der die Verse Sir 24,3–6(7) „nichts anderes als ein praktisch wörtlich aufgenommenes, nur an ein bis zwei Stellen leicht retouchiertes Lied auf Isis“ sind. 40 Gemeinsam sind Weisheitsgestalt und Isis nach Conzelmann das Hervorgehen aus dem Mund Gottes, das Umwandern des Erdkreises als Akt der Erschaffung und Beherrschung des Kosmos sowie die Funktion der Gestalt als Aufseherin der Welt, Meeresgöttin und Schicksalsherrin. Für andere Passagen aus Sir 24 nennt Conzelmann noch die Nähe zum Gesetz (Sir 24,23) und zum Kult (Sir 24,10). 41 Burton L. Mack präzisiert die Parallelen zwischen Isis und Weisheitsgestalt noch in Hinblick auf „Kreislauf, Abstieg und Wohnungssuche“, die enge Beziehung zum Wort, die sexuellen Züge sowie insgesamt die mythologische Darstellung. 42 Der engen Verwandtschaft zwischen Isis und Weisheitsgestalt schien lange entgegenzustehen, dass die überlieferten und ausgestalteten Isis-Aretalogien und Texte zur hellenistischen Isis erst in nachchristliche Zeit datieren.43 Geht man allerdings davon aus, dass diese Texte nur den Endpunkt einer längeren Entwicklung markieren, wird die enge Beziehung zwischen Weisheitsgestalt und Isis doch denkbar. 44 Außerdem könnte die Weisheitsgestalt mit ihrer Einladung zum Laben an ihren Früchten (Sir 24,19–21) sowie das Spenden von Nahrung und Schatten durch die Weisheit (Sir 24,13–22) nach Schroer von einer vorderorientalischen Baumgöttin inspiriert sein.45 Hinter den Baummetaphern in Sir 24,13–22 lässt sich allerdings – wie bei einer Reihe der zuvor betrachteten Aspekte – auch eine israelitische Tradition ausmachen, auf die Peter Schäfer hinweist: „Die Weisheit ist wie alles Schöne und Herrliche, das die Bibel jemals verheißen hat, wie all die berühmten Bäume und Düfte, nicht zuletzt wie der Duft des Weihrauchs im Tempel.“46
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Auf sie weist MAIER, „Weisheit“, in Abschnitt 1.2.4. hin. Hans CONZELMANN, „Die Mutter der Weisheit“, in Zeit und Geschichte: Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag (hg. v. Erich Dinkler; Tübingen: Mohr, 1964), 225– 234; 228; an diese Einschätzung schließt sich auch MACK, Logos, 40 an. CONZELMANN, „Mutter“, 232f. So MACK, Logos, 38–42; der letztgenannte Aspekt findet sich bereits bei CONZELMANN, „Mutter“, 234. So LANG, Frau Weisheit, 152–154. Dazu siehe auch SCHÄFER, Gottesbilder, 59. SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 104 verweist auf die kanaanäische Zweiggöttin sowie auf ägyptische Baumgöttinnen. Vgl. ausführlicher DIES., „Die Zweiggöttin in Palästina/Israel: Von der Mittelbronze II B-Zeit bis zu Jesus Sirach“, in Jerusalem: Texte – Bilder – Steine (hg. v. Max Küchler und Christoph Uehlinger; NTOA 6; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987), 201–225; v. a. 218–221 und ihren Beitrag im vorliegenden Band (Abschnitt 3.1). SCHÄFER, Gottesbilder, 51.
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3.3 Weisheitsgestalt und Gott bei Sirach Wie wandelt sich das Verhältnis zwischen der Weisheitsgestalt und Gott im Unterschied zur Einleitung des Buches der Sprichwörter nun nach zwei bis drei Jahrhunderten bei Sirach? Hierzu stehen sich in der deutschsprachigen Exegese wiederum die beiden Positionen von Schroer und Strotmann gegenüber. In Schroers Sicht wird die Weisheitsgestalt bei Sirach gegenüber den Proverbien stärker begrenzt; sie ist nun dem Gott Israels klar untergeordnet und eine Art priesterlicher Mittlerin. Die Liebe zur Weisheit ist in zweierlei Weise beschränkt: Zum einen besteht sie vor allem im Halten der Gebote, und zum anderen wirkt die Weisheit nur noch in Israel und im Jerusalemer Tempel. 47 Bei Strotmann erscheint die Beziehung zwischen der Weisheitsgestalt und Gott in etwas anderem Licht. Sie legt Gewicht auf Texte wie Sir 4,14, in denen die Weisheitsgestalt und Gott beinahe miteinander verschmelzen. Auch entdeckt sie Parallelen zwischen der Gottsuche nach Dtn 6,5 und der Weisheitssuche nach Sir 6,26; letztlich gewähren beide den Suchenden Ruhe (Sir 6,28; Dtn 12,9f.). 48 Gottfried Schimanowski nennt noch weitere Hinweise dafür, dass Sirachs Weisheitsgestalt in großer Nähe zu Gott steht: Die „Höhen“ (Sir 24,4a) sind nicht nur der Wohnort der Weisheit, sondern der Wohnort Gottes; der „Thron auf der Wolkensäule“ (Sir 24,4b) ist nach Ex 13,21; 14,19 auch der Ort, an dem Gott erscheint. 49 Die in Sir 24,5f. genannten Weltbereiche sind den Menschen nicht zugänglich, sondern allein Gott – und der Weisheit. 50 Auch wenn die Weisheit in Sir 24,8 auf dem Zion wohnt und in Sir 24,9 in Ewigkeit dort bleibt, werden Aussagen aufgenommen, die sonst im Alten Testament über Gott getroffen werden. 51 Doch gibt es bei Sirach nicht nur diese Beinahe-Identifikation oder den ebenbürtigen Status Gottes und der Weisheitsgestalt, 52 sondern ebenso Texte, in denen die Weisheitsgestalt eindeutig Gott untergeordnet ist. Dies gelte, so Strotmann, für die Erschaffung der Weisheitsgestalt durch Gott (Sir 1,1–27 sowie Sir 24,3), für den Gehorsam der Weisheitsgestalt gegenüber Gottes Befehlen (Sir 24,8f.) sowie für den Dienst der Weisheitsgestalt vor Gott im Tempel (Sir 24,10).53 Die Weisheitsgestalt bei Sirach erscheint damit als eine Figur, die einerseits Züge großer Eigenständigkeit und hoher Autorität trägt und andererseits teilweise Gott untergeordnet ist. Schäfer hat dies in der Formulierung zusammengefasst, dass die Weisheitsgestalt zwar als Geschöpf Gottes nicht Gott, aber „dennoch Gottes Stellvertreterin auf Erden“ ist.54 Dass sie in Israel und im Tempel wirkt, schränkt die Reichweite ihres Tuns nicht ein – wird doch mittlerweile Jerusalem als Zentrum der Welt 47 48 49
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So SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 107. STROTMANN, „Jesus Sirach“, 436. So Gottfried SCHIMANOWSKI, Weisheit und Messias: Die jüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie (WUNT 17; Tübingen: Mohr, 1985), 50. SCHIMANOWSKI, Weisheit, 51f. SCHIMANOWSKI, Weisheit, 54. STROTMANN, „Jesus Sirach“, 437 zu Sir 14f.: „Die Weisheit scheint JHWH selbst zu sein.“ So STROTMANN, „Jesus Sirach“, 437f. SCHÄFER, Gottesbilder, 50.
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vorgestellt, auf das sich alle Völker in ihrem Glauben beziehen. Gemeinsam haben die Weisheitsgestalten im Sirachbuch und in den Proverbien, dass sie sich an alttestamentliche Traditionen und altorientalische Göttinnen anlehnen. Bei Sirach treten allerdings die Verknüpfungen mit der ägyptisch-hellenistischen Isis viel klarer hervor als diejenigen mit der Ma‘at in Spr 1–9. Von der Weisheitsgestalt in Spr 1–9 unterscheidet sich die Weisheitsgestalt bei Sirach auch durch ihre Identifikation mit der Tora. Daneben kommt es nun stärker als in den Proverbien zu einer Polarisierung der positiven Weisheitsgestalt einerseits, zu der die Angesprochenen eine enge Beziehung pflegen sollen, und den negativ dargestellten konkreten Frauen andererseits.
4. Die Weisheitsgestalt im Buch der Weisheit (Sapientia Salomonis) 4.1 Text und Inhalt Die Weisheit Salomos versucht – ähnlich wie das Sirachbuch – eine Synthese von israelitischem und hellenistischem Denken. Nun werden die LeserInnen von einer einzelnen Person belehrt oder umworben, sich der Weisheit Israels zuzuwenden. Diese kleidet sich allerdings nicht nur in israelitische, sondern auch in hellenistische Gewänder. Die sprechende Person gibt sich in Weish 9,7f. als König Salomo zu erkennen. In der Sapientia spielt die Weisheitsgestalt eine noch größere Rolle als in den 55 Proverbien oder bei Sirach. Die Weisheit ist die beherrschende Figur des ersten Buchteils (Weish 1,1–11,1) und kommt dort zumindest implizit in allen Teilen vor. Ausdrücklich ist von ihr im „Enkomion“ bzw. Lobgedicht auf die Weisheit in Weish 6,22–11,1 mit dem überleitenden Abschnitt 6,12–21 die Rede. 56 „Salomo“ preist die Vorzüge der Weisheit im Leben, weshalb er Gott um die Gabe der Weisheit bittet (7,7–22a sowie 8,21–9,18). Dieser Lobpreis gipfelt in einem Hymnus auf die Weisheit, ihr Wesen und Wirken (7,22b–8,1). Auch in der Geschichte Israels war die Weisheit am Werk (10,1–11,1). Aufgrund dieser Qualitäten möchte „Salomo“ sie als Braut gewinnen und sein Leben mit ihr verbringen (8,2–20). In diesen Textpassagen wird die Weisheit mit einer großen Bandbreite von Aspekten in Verbindung gebracht; viele davon kennen wir bereits aus den Proverbien und Sirach. Bedeutsam ist in der Sapientia das Thema der Gerechtigkeit (Weish 1,1–15); außerdem wird die Weisheitsgestalt mit der Herrschaftsmacht identifiziert 55
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Allein mit der Weisheitsgestalt in der Sapientia befasst sich m. W. noch keine feministischtheologische Untersuchung. Einigen Raum widmet ihr allerdings Silvia SCHROER, „Das Buch der Weisheit: Ein Beispiel jüdischer interkultureller Theologie“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 441–449. Die eingehende Untersuchung von NEHER, Wesen, beschränkt sich auf die Frage nach der Funktion und dem Wesen der Weisheitsgestalt in der Sapientia. Dazu siehe etwa Helmut ENGEL, „Weisheit Salomos“, in Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2005 (04.01.2012), Abschnitt 2.2.3 oder SCHROER, „Buch der Weisheit“, 442–444.
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(Weish 6,20f.); sie ist es, die herrscht und die die Herrschenden anleitet (vgl. Spr 8,15–16). Bereits vom Beginn der Schöpfung an gab es die Weisheitsgestalt (Weish 6,22); sie war bei der Weltschöpfung dabei (Weish 9,9) und kennt die ganze Schöpfung, denn sie ist die „Werkmeisterin“ oder „Schöpferin“ (griechisch: IJİȤȞvIJȚȢ Weish 7,21) aller Dinge. Damit erscheint die Weisheitsgestalt an dieser Stelle als Mitschöpferin Gottes. In Weish 9,4 kann sie sogar als paredros bezeichnet werden, als Beisitzerin auf dem göttlichen Thron. Hierin geht das Buch der Weisheit noch einen Schritt über die Proverbien und Sirach hinaus. Andererseits gibt es auch Verse, in denen die Weisheitsgestalt Gott, der sie leitet, untergeordnet ist (7,15). Anders als bei Sirach wird die Weisheitsgestalt nicht mehr nur mit der Partnerin der nach ihr suchenden Person verglichen (Sir 15,2), sondern sie ist nun die Lebenspartnerin „Salomos“ (Weish 6,12–21; 8,2.18). Von Gott geliebt werden nur die, die mit der Weisheit leben (Weish 7,28); hierdurch wird ihre Rolle als Mittlerin zwischen Gott und den Menschen noch stärker betont. Das Verhältnis der Weisheitsgestalt zu Gott und zu den Menschen wird, wie Martin Neher herausgearbeitet hat, häufig über den Geist Gottes vermittelt (v. a. Weish 1,6; 7,7.22f.; 9,17).57 Die Weisheitsgestalt in der Sapientia unterscheidet sich in einigen Punkten von jener in den Proverbien und bei Sirach: Erstens wird sie nun als geschichtsmächtige Größe dargestellt, die rettend zugunsten des Volkes eingreift (Weish 10,1–11,1). Dadurch kann die Weisheitsgestalt als Schlüssel zu den älteren Überlieferungen Israels dienen. 58 Zweitens wird die Weisheitsgestalt mit der Unsterblichkeit verbunden, die „Salomo“ durch seine Lebensgefährtin zu erlangen hofft, indem er richtige Entscheidungen fällt und gut handelt (Weish 8,13.17). Drittens ist das Profil der Weisheitsgestalt vor allem gegenüber Sirach verändert, weil nun – auch wenn die Weisheitsgestalt die Braut und Lebensgefährtin „Salomos“ ist – die erotische und sexuelle Metaphorik in der Beschreibung der Weisheitsgestalt fehlt.59 Viertens besitzt die Weisheitsgestalt in diesem Buch allerdings keine eigene Stimme: Es gibt keine Ich-Reden von ihr, sondern sie erscheint allein in den Reden „Salomos“. 4.2 Kontext und Bedeutung Das Buch der Weisheit wurde unter Zuhilfenahme hellenistischer Formen und Gattungen gestaltet, und zwar im ägyptischen Alexandria, vermutlich im Jahrhundert vor oder nach der Zeitenwende. Das Buch stellt eine fiktive Rede König Salomos dar, in der die Themen Gerechtigkeit und Weisheit im Mittelpunkt stehen. Der Verfasser ist vermutlich ein Schreiber oder Weiser, der sich sowohl in den Traditionen Israels wie auch in hellenistischer Rhetorik hervorragend auskannte.60 57 58 59
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Z. B. NEHER, Wesen, 233. So NEHER, Wesen, 236. Dies hat Jane S. WEBSTER, „Sophia: Engendering Wisdom in Proverbs, Ben Sira and the Wisdom of Solomon“, JSOT 78 (1998): 63–79; 74–77 herausgearbeitet. Genauer dazu siehe ENGEL, „Weisheit Salomos“, Abschnitt 4.
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Im Unterschied zur Darstellung in den Proverbien und bei Sirach hat die Weisheitsgestalt in der Sapientia keine negative Gegenspielerin, weder auf konkreter noch auf metaphorischer Ebene. Ebensowenig finden sich in der Sapientia Texte, in denen Frauen abgewertet oder negativ dargestellt werden; das Buch nennt ohnehin nur an einer Stelle konkrete Frauen und Männer (Weish 3,12–14). Wie alles, worüber die Sapientia spricht, scheint nun auch die Weisheitsgestalt eher schwebend und unkonkret zu sein. Stark beeinflusst wurde die Sapientia durch den hellenistischen Kontext, in dem sie entstanden ist. Das Buch der Weisheit stellt einen Versuch dar, die israelitische Weisheit unter Zuhilfenahme von Sprachformen hellenistischer Literatur zum Ausdruck zu bringen. 61 Es ist wohl in erster Linie an junge jüdische Menschen (eher Männer als Frauen) gerichtet und möchte ihnen eine Synthese von alttestamentlicher und hellenistischer Weisheit an die Hand geben, wobei der Schwerpunkt darauf liegt, alttestamentliche Traditionen mit hellenistischen literarischen Formen in Verbindung zu bringen. 62 Das Buch nimmt dem Hellenismus gegenüber eine unpolemische und furchtlose Haltung ein. Vielleicht liegt hierin auch der Grund dafür, dass es offen ist für ein erweitertes Bild von Gott: es scheint kein Problem zu sein, dass die Weisheitsgestalt als Mitschöpferin und Mitthronende an Gottes Seite steht. Zwischen der Darstellung der Weisheitsgestalt in der Sapientia und der Isis gibt es neben der Vielgestaltigkeit und der Gattung der Aretalogie – und im Unterschied zu Sirachs Weisheitsgestalt – weitere Überschneidungen, auf die Mack hingewiesen hat. 63 Diese sind: der Lichtaspekt (Weish 6,12; 7,10; 7,29) und Isis-Aspekt der Sonnengöttin; die Welt erfüllende Allgöttin (Weish 7,23); die Weisheit als „Hauch“ Gottes und dessen Reinheit (Weish 7,25) sowie das Prinzip des Kosmos, das diesen erneuert (Weish 7,27). Weitere Ergebnisse Macks fasst Schäfer zusammen: Isis ist die Gemahlin und Schwester des Sonnengottes Osiris; sogar der Begriff parhedros wird im Blick auf ihre Beziehung zu Serapis, dem hellenistischen Osiris, verwendet. Isis ist die Göttin der Erde und der Natur, das „weibliche Prinzip der Natur“ (WRWƝVSK\VHǀVWKƝO\), die Mutter des Kosmos (PƝWƝUWRXNRVPRX). 64
Schäfer schließt daraus: „Es ist diese eigentümliche Mischung aus platonischen, stoischen und ägyptischen Elementen, die der Weisheit/dem Geist in der Weisheit Salomos ihr eigenes Gepräge geben.“ 65 Zur Abfassungszeit des Buches der Weisheit stand der Kult Israels in den jüdischen Gemeinden Ägyptens in Konkurrenz zur Verehrung der Göttin Isis. Möglich ist, dass 61
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Zu den verwendeten griechischen Stilfiguren und ihren Abwandlungen in der Sapientia vgl. ENGEL „Weisheit Salomos“, Abschnitt 2.2. So ENGEL „Weisheit Salomos“, in Abschnitt 4; ähnlich auch NEHER, Wesen, 240. Siehe MACK, Logos, 66-72. SCHÄFER, Gottesbilder, 58 mit Bezug auf MACK, Logos, 66–72. SCHÄFER, Gottesbilder, 59; aus anderer Perspektive kommt auch NEHER, Wesen, 239f. zu einem ähnlichen Ergebnis: Der Verfasser der Sapientia legte „keine bestimmte philosophische Lehre zugrunde“, sondern „bediente sich vielmehr den [sic!] allen Gebildeten Alexandrias geläufigen philosophischen Termini und Vorstellungen, um sie planvoll in seine theologische Argumentation zu integrieren.“
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das Buch der Weisheit ein Versuch ist, diejenigen Juden und Jüdinnen wieder stärker an das Judentum zu binden, die zur Verehrung der Isis neigen oder sich möglicherweise vom Judentum abwenden. 66 In diesem Kontext wäre es sinnvoll, wenn die Weisheitsgestalt nach dem Vorbild der Isis gestaltet wäre. Auf diese Weise wäre das Judentum durch die Weisheitsgestalt, die sowohl der Isis ähnelt als auch eng mit dem Gott Israels verbunden ist, attraktiver geworden. 4.3 Weisheitsgestalt und Gott in der Weisheit Salomos Das Verhältnis zwischen der Weisheitsgestalt und Gott ist im Buch der Weisheit ähnlich gestaltet wie bei Sirach. Einerseits ist sie Gott fast gleichgestellt: „Sie regiert das All voll Güte“ (Weish 8,1 67) und sie „hat alle Dinge hervorgebracht“ (7,12); sie lebt bei Gott, der sie liebt (8,3); wer sie liebt, wird von Gott geliebt (7,28); sie kennt seine ganze Schöpfung und alle seine Werke (8,4); sie ist Gottes Mitschöpferin (7,21) und thront als paredros an der Seite Gottes (9,4). Andererseits wird sie auch „Ausströmung der Herrlichkeit Gottes“ (7,25) genannt, und alles, was sie ist, ist sie durch Gott; er ist der Führer zur Weisheit (7,15),68 und ihn bittet „Salomo“ um die Gabe der Weisheit (7,7; 8,21; 9,4.10). Manchmal erscheint sie als Personifikation, etwa wenn „Salomo“ sie als Braut heimführen und mit ihr zusammen leben möchte (8,2–20). In anderen Passagen dagegen (wie 7,22b–8,1) ist sie eher ein – allerdings sehr mächtiges – abstraktes „Wesen“ (vgl. Ijob 28 oder Baruch 3–4). Dabei besitzt sie dieselben zwei Seiten wie die Weisheitsgestalt bei Sirach: Einerseits ist sie Gott gleichrangig, andererseits ihm jedoch auch untergeordnet. Es scheint, dass der Aspekt der Unterordnung eher auf die Weisheit als „Wesen“ zutrifft, wohingegen die personifizierte Weisheit eher denselben Rang wie Gott besitzt. Neu ist dabei, dass nicht nur Menschen die Weisheitsgestalt lieben, sondern dass auch Gott sie liebt (8,3). 69 Gott und die Weisheitsgestalt haben eine Reihe von Aspekten gemeinsam: Sie lassen sich finden, sie retten, sie lieben, und zwar insbesondere die Menschen. 70 Im historisch 66
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ENGEL, „Weisheit Salomos“, Abschnitt 4 betont, dass die Sapientia eine innerjüdische Werbeschrift ist, die nicht überzeugen oder argumentieren, sondern gewinnen will. So nach der Übersetzung von Helmut ENGEL, „Sophia Salomonis“, in Septuaginta Deutsch: Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung (hg. v. Wolfgang Kraus et al., Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2009), 1057–1189; 1068. So ENGEL, „Weisheit Salomos“, in Abschnitt 2.2.3 mit Verweis auf Weish 8,2–9 (Hervorhebung dort): Es „bleibt doch nicht einmal der Schatten einer Frage, ob sie nicht auch (wie Isis) etwa eine ‚Göttin‘ sei. Es gibt nur einen Gott und Schöpfer von allem, der auch die Weisheit schenkt, die als sein Geschöpf (Prov 8,22; Sir 1,4.9) an seinen Eigenschaften und Titeln teilhat“. SCHROER, „Buch der Weisheit“, 443 spricht von der „Sophia als Geliebte[r] und Gefährtin Gottes“. ENGEL, „Weisheit Salomos“, in Abschnitt 2.2.3.: „Durch die literarische Personifikation der Weisheit wird ein einseitig oder vorwiegend ‚männliches‘ Gottesbild als abwegig erkennbar. … In der Gestalt der ‚Weisheit‘ reflektiert der Verfasser in origineller Weise das liebe-
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gehaltenen Abschnitt 10,15–21 handelt die Weisheitsgestalt – verglichen mit den hier verarbeiteten älteren Texten – an Gottes Stelle. So lässt sich sagen, dass die Isis ein Vorbild der Weisheitsgestalt in der Sapientia gewesen ist, zumindest in einigen Aspekten und was ihre Vollmacht angeht. Wiederum übernimmt die Weisheitsgestalt viele Elemente von ihren Vorläuferinnen in den Proverbien und von Sirach. Ihr Verhältnis zu Gott schillert zwischen Unterordnung und Gleichsetzung. 71
5. Zusammenfassung Die Weisheitsgestalt erblickt in Spr 1–9 das Licht der Welt als eine Figur, die in die ältere Weisheit des Buches der Sprichwörter (Spr 10–29) einführen soll. Sie ermahnt die angesprochenen jungen Menschen, sich ihr und nicht der „fremden Frau“ zuzuwenden, die sie auf Abwege gesellschaftlichen Verhaltens führen möchte. Doch nicht nur mit dem Drohgestus der Prophetin spricht die Weisheitsgestalt ihr Publikum an, sondern sie wirbt auch mit dem Hinweis um Gehör, dass sie bereits vor der Schöpfung bei Gott war und deshalb intimes Wissen um die Zusammenhänge der Schöpfung und das rechte Verhalten in der Welt besitzt. Bei Sirach wird die Weisheitsgestalt ausgeweitet und erhält neue Kompetenzen. Nun steht sie in großer Nähe zur Gottesfurcht und wird mit der Tora identifiziert. Gleichzeitig wird sie stark erotisch-sexuell aufgeladen. In ihrer Darstellung macht sich der Einfluss der ägyptisch-hellenistischen Isis bemerkbar, der die Machtfülle der Weisheitsgestalt unterstreicht. Streckenweise gleicht ihr Rang dem Gottes. Da Gottes Machtbereich nun auf die ganze Welt ausgedehnt wird, trifft dies auch auf die Weisheitsgestalt zu – auch sie ist jetzt eine in Israel und seiner Geschichte verortete, aber weltweit ausstrahlende Figur, die ihre HörerInnen selbstbewusst anspricht. Noch höher ist die Position der Weisheitsgestalt in der Sapientia: Nun wird sie Gott an die Seite und ihm teilweise gleichgestellt; sie liegt dem gerechten Handeln zugrunde und wirkte bereits in der Geschichte Israels. Dabei spricht sie allerdings nicht mehr selbst. Sie ist nun die Lebenspartnerin des exemplarisch weisen „Königs Salomo“, der sie in den höchsten Tönen preist. Beide pflegen eine enge Beziehung, die jedoch ihre erotischen Aspekte wieder verloren hat. Im engen Zusammenleben mit der Weisheit ist es den Menschen nun wie „Salomo“ möglich, gerecht und den Geboten entsprechend zu handeln und so Unsterblichkeit zu erlangen. Doch die Freude über diese Gestalt, die zumindest streckenweise als weibliches Gottesbild der Bibel angesprochen werden kann, ist nicht ungetrübt, denn einige
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volle, personhafte Mit-Sein Gottes mit den Menschen und drückt es in der philosophischen Bildungssprache seiner Gegenwart aus.“ Meines Erachtens vernachlässigt Schroer die Eigenständigkeit Gottes sowie die Passagen der Unterordnung der Weisheitsgestalt unter Gott, wenn sie sagt: „Die Sophia im Buch der Weisheit ist Israels Gott im Bild der Frau und der Göttin“ (SCHROER, „Buch der Weisheit“, 449). Andererseits übersieht ENGEL, „Weisheit Salomos“, die göttlichen Züge der Weisheit, wenn er ihr den Aspekt einer Göttin komplett abspricht (Abschnitt 2.2.3).
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Aspekte der Weisheitsgestalt haben Anlass zu feministischer Kritik gegeben: So wendet sie sich in allen drei Büchern primär an junge Männer, die (Spr) vor dem Umgang mit bestimmten Frauen gewarnt werden sollen. Die jungen Männer sollen (Sir) eher der Weisheit als problematischen, konkreten Frauen ihre – auch erotisch-sexuelle – Aufmerksamkeit schenken, oder sie sollen (Weish) in der Weisheit die ideale Lebenspartnerin erblicken, die ihnen zu gerechtem Handeln oder sogar zu Unsterblichkeit verhelfen kann. Heutige Leserinnen dieser Texte dürfen sich bei diesen androzentrischen Texten nicht in die wenig attraktive Alternative drängen lassen, sich entweder in die angesprochenen Männer hineinzuversetzen oder sich mit den abgewerteten oder gar verteufelten konkreten Frauen in den Texten zu identifizieren. Stattdessen könnten sie versuchen, die Weisheitsgestalt vor allem wegen ihrer zahlreichen Anknüpfungen an ältere israelitische Traditionen und ihrer primär der Isis entlehnten Machtfülle zu schätzen.
Gute und schlechte Frauen in Proverbien und Ijob Die Entstehung kultureller Stereotype Christl M. Maier Philipps-Universität Marburg (Deutschland) Die zahlreichen Frauengestalten in Proverbien (Buch der Sprichwörter), Ijob und weiteren Weisheitsschriften der Hebräischen und Griechischen Bibel wurden in den letzten Jahrzehnten vielfach interpretiert. Auch der vorliegende Band bietet viele Einsichten in diese Diskussion. Vor allem feministische WissenschaftlerInnen haben diese weiblichen Charaktere mit Blick auf den sozialen Status im antiken Israel, den sie repräsentieren, wie auch hinsichtlich ihrer symbolischen Rolle in einer patriarchalen Gesellschaft untersucht. In diesem Beitrag behandle ich die Tendenz der Weisheitsliteratur, Typen menschlicher Charaktere zu produzieren. Ich nenne sie „kulturelle Stereotype“ und werde zunächst deren gefährliches Potenzial zur Festigung eines Vorurteils gegenüber Frauen (und Männern) aufzeigen. Danach werde ich einige Charakterisierungen von Frauen in Proverbien und Ijob untersuchen, wobei ich diese Porträts nicht als zeitlose Wahrheit, sondern als kulturelle Stereotype, die einem bestimmten Zweck dienen, betrachte. Methodisch verbinde ich die Perspektiven der Ideologiekritik und der feministischen Interpretation, indem ich die weisheitlichen Sentenzen so lese, dass Androzentrismus und Formen geschlechtsspezifischer Vorurteile aufgedeckt werden. Gelegentlich werde ich meinen feministisch-kritischen Zugang um eine sozialgeschichtliche Rekonstruktion des Umfelds des Textes – der Zeit, in der der Text entstanden ist – erweitern. Die Zusammenführung synchroner und diachroner Zugänge hilft, die Interessen und Absichten der antike VerfasserInnen herauszuarbeiten, die ihre intendierten LeserInnen auf eine bestimmte Weise erziehen wollen. Meine These ist, dass kulturelle Stereotype über Frauen das Leben von Frauen nicht angemessen beschreiben und sich letztlich negativ auf die allgemeine Bewertung von Frauenrollen in der Gesellschaft auswirken. Schließlich werde ich die Bedeutung kultureller Stereotype für damalige und heutige HörerInnen und LeserInnen zusammenfassen und erläutern, warum eine Leseweise der Dekonstruktion notwendig ist.
1. Definition und Funktion eines Stereotyps Die weisheitlichen Bücher der Hebräischen Bibel sind Teil einer Tradition des Alten Orients, die darauf zielt, die Welt zu ordnen. Beginnend mit sumerischen Listen einzelner Dinge bis zu Sprichwortsammlungen und ausführlichen Ermahnungen dienten die sog. Weisheitstexte in Mesopotamien und Ägypten als Lehrmaterial für das Lesen und Schreiben. Im antiken Israel stammen die Sentenzen, Mahnungen und Gedichte, die nun das Buch der Sprichwörter bilden, aus unterschiedlichen Quellen: aus der mündlichen Tradition der Großfamilien, einer städtischen Schultradition und
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nachexilischen Schreiberkreisen. 1 Der Prozess der Sammlung und Verschriftlichung dieser Sentenzen kann gebildeten Männern (und vielleicht einigen Frauen) am Königshof zugeschrieben werden – Spr 25,1 erwähnt „die Männer Hiskias, des Königs von Juda“. Sie wollen ihre LeserInnen durch sprichwörtliche Sentenzen und Ermahnungen, die oft rhythmisch oder poetisch und daher leicht einzuprägen sind, erziehen. 2 Eine Besonderheit dieser Sprüche besteht darin, Gegensatzpaare wie ‚weise‘ und ‚töricht‘ (10,8; 11,29), ‚faul‘ und ‚fleißig‘ (13,4; 26,14–16) oder ‚gerecht‘ und ‚frevlerisch‘ (10,3.6.11; 11,23) zu bilden. 3 Indem sie manche Taten und Gedanken einer ‚weisen‘ oder ‚törichten‘ Person beschreiben, charakterisieren die weisheitlichen Sentenzen diese als Typen oder genauer als Stereotype. Der Begriff „Stereotyp“ wurde von dem Journalisten Walter Lippmann (1898– 1974) in die Diskussion um das Sozialverhalten eingeführt. Er definierte ihn als „ein geordnetes, mehr oder minder beständiges Weltbild, dem sich unsere Gewohnheiten, unser Geschmack, unsere Fähigkeiten, unser Trost und unsere Hoffnung angepasst haben“. 4 Lippmann führt weiter aus, dass Menschen Stereotype brauchen, um ihrer vielschichtigen Welt gewachsen zu sein. Aus einem psychologischen Blickwinkel heraus erscheint die Bildung von Stereotypen oder Klischees als Bewältigungsstrategie, mit der sich Menschen angesichts widersprüchlicher Wahrnehmungen und vielschichtiger Ängste in der eigenen Welt orientieren können. Johnny Miles verweist daher zu Recht darauf, dass das Bilden von Stereotypen über Einzelne oder Gruppen immer Gefahr läuft, jemanden zum ‚Anderen‘ zu erklären, d. h. Einzelne oder eine Gruppe durch negative Bewertungen von sich selbst zu unterscheiden. 5 Ein solcher Gebrauch von Stereotypen verringert die Besonderheit und Unterscheidungsfähigkeit, indem er das Verhalten oder die Gewohnheiten einzelner Menschen zu einer gleichförmigen Bewertung vermengt, mit anderen Worten: ein Stereotyp legt einige wenige, einfache, grundlegende Eigenschaften (Verhalten, Anlage, körperliche Beschaffenheit) fest und reduziert Menschen darauf. Diese Eigenschaften werden dann aus dem Kontext herausgenommen und jedem zugeschrieben, der mit einer solchen Eigenschaft in Verbindung gebracht wird. ... Ein solcher Prozess, bei dem die Projektion das Stereotyp befeuert, welches reduziert, auf das Wesentliche 1
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Einen Überblick über das Material bietet Christl MAIER, „Das Buch der Sprichwörter: Wie weibliche Weisheit entsteht …“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 208–220; 208–209. Spr 22,17–23,11 hat direkte Parallelen in der ägyptischen Lehre des Amenope. Zu dieser Einordnung vgl. Roger N. WHYBRAY, The Book of Proverbs: A Survey of Modern Studies (Leiden: Brill, 1995), 19–21. In der ägyptischen Weisheitsliteratur bilden ‚der Heiße‘ und ‚der Schweiger‘ ein weiteres Gegensatzpaar neben ‚weise‘ und ‚töricht‘, vgl. Hellmut BRUNNER, Altägyptische Weisheit: Lehren für das Leben (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988), 24–27. Walter LIPPMANN, Die öffentliche Meinung (Aus dem Amerikanischen von Hermann Reidt; München: Rütten & Loening Verlag, 1964), 71. Vgl. Johnny MILES, Constructing the Other in Ancient Israel and the USA (The Bible in the Modern World 32; Sheffield: Sheffield Phoenix Press, 2011), 30–33.
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vereinfacht, naturalisiert und festlegt, dient mehreren Zwecken, nicht zuletzt dem, Identität und Grenzen aufzubauen. 6
Ein kulturelles Stereotyp ist eines, das dauerhaft, d. h. zum Musterbild, in einer bestimmten Kultur geworden ist. Als Beispiel kann die negative Darstellung der ‚Frevler‘ (hebr. ʭʩʲˇʸ) dienen: Sie üben mit Worten Gewalt aus, und aus ihrem Mund sprudeln Bosheiten (Spr 10,6.11.32; 11,9.11; 12,6; 15,28; vgl. Ps 73,8–9), ihre Taten sind betrügerisch oder böse (Spr 11,18; 12,2.10; 13,5; 21,7; vgl. Ijob 10,3; Ps 37,14.32), sie bestechen andere Menschen (Spr 17,23), geben trügerische Ratschläge (Spr 12,5); ihre Wege führen in die Irre (Spr 12,26; 15,9). Das Ziel dieser geringschätzigen Charakterisierung der ‚Bösen‘ ist ein Doppeltes. Erstens versuchen die Weisen, gewalttätiges Handeln und betrügerische Rede als für menschliche Beziehungen schädlich zu entlarven. Indem sie solchem Verhalten die positive Charakterisierung der ‚Gerechten‘ gegenüberstellen, wollen sie ihre HörerInnen über sozial anerkanntes Verhalten belehren. Zweitens zielt die Brandmarkung der ‚Frevler‘ und besonders die wiederkehrende Ankündigung ihres wohlverdienten Untergangs darauf, die ‚Gerechten‘ damit zu trösten, dass das offensichtliche Gedeihen der ‚Bösen‘ bald zu Ende sein wird (vgl. Ps 37; 73). Auch wenn man die Absicht der Weisen, erwünschtes Verhalten zu definieren, anerkennt, muss man sich bewusst sein, dass sie für eine bestimmte Ideologie werben. Ein Stereotyp wird zum Problem, wenn es dazu benutzt wird, bestimmte Personen schlecht zu machen oder wenn es zu einer verkürzten Wahrnehmung der Wirklichkeit führt. Wenn kulturelle Stereotype als echt aufgefasst werden und den Rang einer unhinterfragten Wahrheit einnehmen, wirken sie ausgrenzend und verlieren ihr Potenzial, die Vielschichtigkeit des Lebens zu ordnen. Das Problem, einzelne Menschen oder Gruppen durch den Gebrauch stereotyper Charakterisierung als ‚Andere‘ auszugrenzen, tritt besonders dann auf, wenn heutige LeserInnen die Aussagen der biblischen Weisheitsliteratur als zeitlose und kulturübergreifende Wahrheit verstehen ohne die Unterschiede in den gesellschaftlichen Werten und Geschlechterbeziehungen zwischen damals und heute zu beachten. Um solche Auslegungen abzuwehren, muss die in kulturellen Stereotypen zutage tretende Ideologie kritisch hinterfragt werden. Aus feministischer Perspektive erfordert solche Ideologiekritik eine Leseweise, die die kulturellen Stereotype dekonstruiert und ihre Funktion für die Gesellschaft derer, die die Texte verfassten, untersucht.
2. Kulturelle Stereotype über Frauen In den Lebensregeln der Spruchweisheit, d. h. den thematisch ungeordneten Sentenzen in Spr 10–30, werden Frauen als Mütter, Partnerinnen, Witwen und Prostituierte dargestellt, also in ihrer Beziehung zu Männern. Die Sprüche reden stets über Frauen, nicht aus deren eigenem Blickwinkel, und wenn sie Frauen erwähnen, nennen sie vor allem Probleme, die zwischen Männern und Frauen auftreten. Das Buch Ijob konzentriert sich so sehr auf die männliche Hauptfigur und ihren Streit mit den Männerfreunden, 6
MILES, Constructing the Other, 31 (Übersetzung C.M.).
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dass es als Welt fast ohne Frauen erscheint. 7 Frauen werden nur beiläufig erwähnt als Mutter, Witwe, Frau des Nachbarn und Dienerin, also immer in Bezug auf Männer. Im Folgenden stelle ich vier Haupttypen von Frauen vor, wie sie in Proverbien und Ijob dargestellt werden: die fleißige Ehefrau, die Verführerin, die Ratgeberin und die arme Witwe. 2.1 Die fleißige Ehefrau In der Spruchweisheit wird die verheiratete Frau unter dem Aspekt der Nützlichkeit für ihren Ehemann betrachtet: „Eine starke Frau ist die Krone ihres Mannes, aber wie Fäulnis in seinen Knochen ist die, die schändlich handelt“ (Spr 12,4).8 Die Krone als sichtbares Zeichen königlicher Macht (vgl. 2 Sam 12,30) wird hier metaphorisch für den hohen Wert einer fleißigen Frau als Lebenspartnerin verwendet. Ein ähnlicher Wert wird der Ehefrau in dem Spruch zugeschrieben, „eine umsichtige Frau kommt von JHWH“ (Spr 19,14; vgl. 18,22). Zwar wird die Schönheit einer Frau gepriesen (Ijob 42,15); sie reicht jedoch für eine gute Partnerin nicht aus, wenn sie nicht mit Besonnenheit einhergeht wie Spr 11,22 formuliert: „Ein goldener Ring im Rüssel eines Schweins (ist) eine schöne Frau ohne Feingefühl.“ Die ‚gute‘ Ehefrau ist daher schön, klug, fleißig und unterwirft sich selbst dem pater familias, dem männlichen Familienvorstand. Spr 14,1 fasst die Bedeutung einer fleißigen Frau so zusammen: „Die Weisheit von Frauen baut sich ein Haus, aber Torheit reißt es eigenhändig ein.“ Diese Sprüche formulieren das Erfahrungswissen einer ackerbautreibenden Sippenkultur mit weitgehend auf Selbstversorgung mit Nahrung und einfachem Handwerk ausgerichteten Haushalten, die in Israel seit vorstaatlicher Zeit und sogar bis ins 7. Jh v. Chr. weitverbreitet waren. 9 In Israel waren Frauen für die täglichen Mahlzeiten und Handwerksarbeiten wie Spinnen und Weben, aber auch für die erste Erziehung ihrer Kinder zuständig. Die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau erscheint deshalb in Spr 10–30 auf wirtschaftlicher Basis gegründet; von Liebe zwischen Ehepartnern ist nicht die Rede. Ein beherrschendes Thema ist jedoch das mögliche Misslingen einer solchen häuslichen Partnerschaft. So erwähnen gleich fünf Sprüche eine streitende Frau, die ihrem Ehemann das Leben schwer macht: „Ein ständiges Tropfen am Tag des Dauerregens und eine stets streitende Frau gleichen sich“ (Spr 27,15). „Besser in der Ecke des Daches wohnen als mit einer stets streitenden Frau in Hausgemeinschaft“ (21,9; vgl. auch 19,13; 21,19; 25,24). Auch diese negative Gegenfigur zur fleißigen Ehefrau 7
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Vgl. Christl MAIER und Silvia SCHROER, „Das Buch Ijob: Anfragen an das Buch vom leidenden Gerechten“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 192–207. Alle Übersetzungen biblischer Texte stammen, soweit nicht anders vermerkt, von der Autorin. Vgl. dazu Carol MEYERS, Discovering Eve: Ancient Israelite Women in Context (New York: Oxford University Press, 1988).
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entsteht durch den Blick auf das Wohlergehen des männlichen Familienvorstands und dient als Mittel, der Ehefrau die Schuld an jedem möglichen Konflikt zu geben. Die nachexilische Rahmung des Buchs der Sprichwörter (Kap. 1–9; 31) verstärkt das Stereotyp der idealen Ehefrau durch die Personifikationen der Weisheit und der starken Frau. 10 Während Frau Weisheit verschiedene Rollen von Frauen und sogar Göttinnen auf sich vereinigt, 11 unterstreicht Spr 9,1–6 ihre besondere Rolle als Hausherrin: Sie baut ihr geräumiges Haus selbst, bereitet ein reichliches Mahl zu und lädt junge Männer ein, um sie mit Essen und weisheitlicher Lehre zu nähren. Das alphabetische Gedicht Spr 31,10–31 fasst schließlich alle positiven Eigenschaften der fleißigen Ehefrau zusammen, indem es sie als umtriebige Vorsteherin des Hauses darstellt: Sie arbeitet Tag und Nacht, spinnt, webt, stellt Kleidung her; sie produziert Nahrung auf den Feldern und Weinbergen. Sie kauft sogar ein Feld und einen Weinberg (V. 16) und hat Kontakt mit ausländischen Händlern (V. 24). Sie wird ʬʑ ʩʧʔ ʺʓˇʠʒ ‚Frau von Stärke‘ (V. 10) genannt, ein Titel der sonst nur noch für die Moabiterin Rut verwendet wird (Rut 3,11). Da der Begriff ʬʑ ʩʧʔ körperliche und geistige Stärke wie auch Mut ausdrückt, nenne ich sie die ‚starke‘ Frau. 12 Wie Frau Weisheit baut die starke Frau ihr Haus, ernährt und erzieht die Mitglieder ihres Haushalts (V. 15.26–27). 13 Beide Frauengestalten vermehren Reichtum und Ehre der Männer in ihrem Umfeld und werden deshalb als „wertvoller als Korallen“ gepriesen (8,11; 31,10). Eine Bewertung der Ideologie dieses Stereotyps erweist die Charakterisierung der fleißigen Ehefrau in Spr 31,10–31 als durchaus ambivalent. Wie Christine Yoder gezeigt hat, sind die Aktivitäten der starken Frau in Spr 31 in außerbiblischen Quellen als Tätigkeiten, manchmal sogar als Berufe von Frauen in persischer Zeit belegt. 14 Yoder, Katrin Brockmöller, Irmtraud Fischer und ich lesen das Gedicht deshalb als verdichtetes Porträt weiblicher Autorität und Selbständigkeit in der persischen Zeit. 15 P
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Zu Funktion und Datierung der Rahmung vgl. Claudia V. CAMP, Wisdom and the Feminine in the Book of Proverbs (BiLiSe 11; Sheffield: Almond Press, 1985), 282–290. Vgl. den Beitrag von Gerlinde Baumann in diesem Band. In ihrer Dissertation „Eine Frau der Stärke – wer findet sie?“ Exegetische Analysen und intertextuelle Lektüren zu Spr 31,10–31 (BBB 147; Berlin: Philo, 2004) bietet Katrin BROCKMÖLLER eine eingehende literarische Analyse des Gedichts. Für eine Auswertung der Parallelen vgl. Silvia SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut: Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften (Mainz: Matthias-GrünewaldVerlag, 1996), 30–37. Christine R. YODER, Wisdom as a Woman of Substance: A Socioeconomic Reading of Proverbs 1–9 and 31:10–31 (BZAW 304; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2001), 75–91. Vgl. auch Ina WILLI-PLEIN, „‚Eschet Chajil‘: Weisheit und Lebensart Israels in der Perserzeit“, in Exegese vor Ort: Festschrift für Peter Welten zum 65. Geburtstag (hg. v. Christl Maier et al.; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2001), 411–425. YODER, Wisdom, 91, nennt sie eine „zusammengesetzte Gestalt wirklicher – wenn auch außergewöhnlicher – Frauen in persischer Zeit“ (Übersetzung C.M.); vgl. auch BROCKMÖLLER, Frau der Stärke, 232–235; Irmtraud FISCHER, Gotteslehrerinnen: Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament (Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 169–172.
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Indem sie die Eingangsfrage „wer findet eine starke Frau?“ als rhetorisch im Sinne einer erwarteten Antwort „nein“ auffasst, warnt Jutta Hausmann davor, das Gedicht als positiven Ausdruck des Lebens von Frauen zu verstehen und sieht in der Figur die unerreichbare Frau Weisheit. 16 Das Gedicht könnte aber auch als Mittel gedeutet werden, den Einfluss von Frauen auf das Haus zu begrenzen, insofern es die öffentliche Rolle des Ehemannes behauptet (31,23).17 Meiner Meinung nach gilt jedoch die moderne Unterscheidung zwischen privat und öffentlich für die israelitische Gesellschaft in persischer Zeit nicht, da der in Spr 31 beschriebene Haushalt eine Großfamilie umfasst und als grundlegende Wirtschaftseinheit dient. Deshalb ist seine Führung nicht nur privat, sondern für die Gemeinschaft bedeutsam, wie der Text selbst sagt: Die Fähigkeiten der starken Frau werden in der Öffentlichkeit gepriesen (V. 28–31). 18 Insgesamt bietet die literarische Gestalt der starken Frau eine Zusammenfassung der Rollen und Fähigkeiten von Frauen, die vor allem wegen ihrer Übertreibung und ausführlichen Darstellung als ein Ideal, ein kulturelles Stereotyp erscheint. Die auffälligste Eigenschaft der starken Frau ist aber, dass sie nicht nur Aspekte der Frau Weisheit sondern auch der ‚fremden‘ Frau, die zum Stereotyp der verführerischen Frau gehört (siehe unten 2.2) verkörpert. Der Vergleich mit Handelsschiffen (V. 14) und ihr Besitz importierter Leinen- und Purpurstoffe (V. 22) verweisen auf den phönizischen Handel; sie hat Kontakte zu Händlern (V. 24), die meistens Ausländer waren wie diejenigen, mit denen die ‚fremde‘ Frau in Spr 5,9–10 Umgang hat. Die Decken, die die starke Frau für sich selbst herstellt, werden mit demselben Begriff bezeichnet wie diejenigen im Haus der ‚fremden‘ Frau (7,16).19 Mit Düften und feinen Stoffen besitzen beide Frauen importierte Luxusgüter, die auf die persische Zeit verweisen, in der der Handel mit solchen Waren blühte. Während aber dieser Umgang mit Ausländern, Handel und importierten Vorräten mit Blick auf die starke Frau positiv bewertet wird, wird er hinsichtlich der ‚fremden‘ Frau negativ dargestellt. Dieser Gegensatz zeigt, dass Stereotype nicht logisch sind, sondern oft mit Gefühls- und Geschmacksurteilen verbunden werden. Indem das Porträt der starken Frau aber dieses Ideal entfaltet, „verstärkt es die Werte und Sitten eines Kontexts, der in der Struktur patriarchal und im vorgefertigten Urteil androzentrisch ist“. 20 Die Person, die das Gedicht vorträgt, kann männlich oder weiblich sein wie in Spr 1–9. Auch bietet die vorausgehende Lehrrede der Mutter des
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Vgl. Jutta HAUSMANN, „Beobachtungen zu Spr 31,10–31“, in Alttestamentlicher Glaube und biblische Theologie: Festschrift für H. D. Preuß zum 65. Geburtstag (hg. v. Jutta Hausmann und Hans Jürgen Zobel; Stuttgart: Kohlhammer, 1992), 261–266. Diese Auslegung wird erwähnt und entkräftet von FISCHER, Gotteslehrerinnen, 169. Ähnlich BROCKMÖLLER, Frau der Stärke, 164–165, die auch einige traditionelle Deutungen dieser Aussage auflistet. Vgl. YODER, Wisdom, 92–93. YODER, Wisdom, 109 (Übersetzung C.M.).
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Königs Lemuel an ihren Sohn in 31,1–9 einen Kontext, in dem eine weibliche Ratgeberin einleuchtend ist. 21 Letztlich hat die Charakterisierung der fleißigen Ehefrau eine lange Tradition in der israelitischen Weisheit. Als kulturelles Stereotyp beeinflusst sie die Erwartungen junger Männer, die die ersten Adressaten der Mahnungen und Gedichte des Buchs der Sprichwörter sind, deutlich. Als schriftlicher Text aber, insbesondere aufgrund ihrer leicht lernbaren und alphabetischen Formen, beeinflussen die Sentenzen, Lehrreden und Gedichte auch die Beurteilung und das Selbstverständnis lebender Frauen von der Königszeit bis in die persische Zeit und darüber hinaus. Ob Frauen im antiken Israel von diesem Stereotyp ermutigt oder eingeengt wurden, ist nicht mehr nachvollziehbar. Heutige LeserInnen aber sollten sich der zwiespältigen Botschaft des Porträts bewusst sein. 2.2 Die Verführerin Die Unbescholtenheit der Familie und ihres Besitzes, die die hebräischen Weisen zum Ziel haben, kann durch sexuelle Beziehungen des männlichen Familienvorstands zu anderen Frauen gefährdet werden. Anstatt den Mann aber für solche Beziehungen zu schelten, gibt die Spruchweisheit den Frauen die Schuld. Denn eine tiefe Grube ist die Prostituierte (ʤʰʥʦ) und ein enger Brunnen die fremde Frau (ʤʩʸʫʰ). Ja, sie lauert wie ein Wegelagerer und mehrt die Treulosen unter den Männern. (Spr 23,27–28) Eine tiefe Grube ist der Mund ‚fremder‘ Frauen (ʺʥʸʦ); wem JHWH zürnt, der fällt dort hinein. (Spr 22,14)
Die Prostituierte wird einer ‚fremden‘ Frau gleichgestellt, die keine Ausländerin sein muss, sondern außerhalb der Familie stehen kann. Spr 23,27–28 erachtet beide Frauen als gefährlich für den Mann, der auf sie trifft, denn die Ortsangaben ‚tiefe Grube‘ und ‚enger Brunnen‘ signalisieren Dunkelheit, Gefahr, ja sogar den Tod. Beide Sentenzen unterstreichen, dass die Begegnung mit solchen Frauen ein Zeichen dafür ist, dass die Gottesbeziehung des Mannes beeinträchtigt ist. Dieses zugespitzte Bild der Prostituierten wird in Spr 1–9 zu einer Gegenfigur von Frau Weisheit erweitert, die wahlweise ‚Ausländerin‘ (ʤʩʸʫʰ) oder ‚Fremde‘ (ʤʸʦ) genannt wird und als stereotype Außenseiterin der Gemeinschaft in Erscheinung tritt. Während das Hebräische und das Englische viele verschiedene Begriffe haben, um Andersartigkeit oder Fremdheit zu benennen, umfasst das deutsche Wort „fremd“ all diese Bedeutungen. 21
FISCHER, Gotteslehrerinnen, 150, 167–168, zufolge könnte die Adressatin in V. 29 eine königliche Tochter sein, wenn man die Mutter des Königs auch als Sprecherin von Spr 31,10–31 annimmt.
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In Spr 6,24 wird diese Gestalt die „böse Frau“ (ʲʸ ʺˇʠ) genannt, während Spr 6,26 sie als „die Frau eines anderen Mannes“ (ˇʩʠ ʺˇʠ) bezeichnet und als schädlicher als eine Prostituierte (ʤʰʥʦ ʤˇʠ) einschätzt. In direkter Gegenüberstellung mit Frau Weisheit wird die Gestalt in Spr 9,13 als „Frau Torheit“ (ʺʥʬʩʱʫ ʺˇʠ) bezeichnet. Vier Lehrreden in Spr 1–9 (2,16–20; 5,1–23; 6,20–35; 7,1–27) warnen einen jungen Mann, der „mein Sohn“ genannt wird, vor dieser geheimnisvollen Frau, deren Charakterisierung mit negativen Merkmalen angehäuft ist. Gemäß Spr 2,17 ist sie ihrem menschlichen Partner (vgl. 7,19) und ihrem Gott gegenüber untreu. Aus dem Blickwinkel der Lehrperson kann nur ein Mann, der der Weisheit zuneigt und daher Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit kennt, dieser Frau widerstehen (2,6.9.16). Die Lehrrede in Spr 5 warnt den Sohn vor den geschmeidigen Worten dieser ehebrecherischen Frau und droht ihm bei Ungehorsam den Verlust von Besitz und gutem Ruf in der Gemeinschaft an (V. 9–14). Anstatt die ‚fremde‘ Frau zu umarmen, empfiehlt ihm die Lehrperson, seine eigene Frau als Quelle befriedigender Sexualität zu entdecken (V. 15–19). Eine weitere Mahnung in Spr 6,20–35 weist enge intertextuelle Beziehungen zu den Verboten des Stehlens, Ehebrechens und Begehrens der Frau des Nächsten im Dekalog auf.22 Die Lehrperson argumentiert, dass diese Frau, die mit einem einzigen Augenaufschlag das Feuer der Leidenschaft entfachen kann, den verführten jungen Mann in Schande und sogar in gerichtliche Auseinandersetzungen, d. h. in den sozialen Tod, treiben wird. Spr 7 schließlich beschreibt eine Szene, die den gefährlichen Vorwand der fremden Frau, die Potiphars Frau gleicht (vgl. Gen 39,7–12), entlarven soll. Während der Ehemann und Hausherr abwesend ist (V. 19), streift sie im Schutz der Dämmerung durch die Straßen, um ihrem Opfer aufzulauern (V. 9.12). Sie überredet einen willenlosen Mann mit schmeichelnden und trügerischen Worten (V. 14–20) und lockt ihn in ihr Haus und auf ihr Bett, das mit feinen Decken und Parfümen hergerichtet ist. Die Warnung wird durch drastische Metaphorik verstärkt, die das Haus der fremden Frau als Vorzimmer der Unterwelt darstellt (V. 26f., vgl. 2,18f.; 5,4–6; 9,18). Obwohl diese Metaphorik an die altorientalische Liebes- und Kriegsgöttin Ischtar erinnert, hat die fremde Frau in Spr 7 weder Eigenschaften einer Gottheit noch erscheint sie als Verehrerin einer Göttin. Eine Verbindung zu kultischem Frevel entsteht nur implizit, wenn man die Vorstellung, dass fremde Frauen fremde Gottheiten verehren, zugrunde legt, die sich in Num 25,1–3; Esra 9–10 und Neh 13,26 findet. Claudia Camp erkennt implizite Bezüge auf fremde Kultpraktiken in Ähnlichkeiten der Charakterisierung der Frau in Spr 2,17 und 7,14 mit prophetischen Texten, die Fremdgottverehrung mit Hilfe der Metapher des ‚Ehebruchs‘ kritisieren (Jer 3,3–5; 13,21.25; Jes 57,7; Sach 5,5–11). 23
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Vgl. Christl MAIER, „‚Begehre nicht ihre Schönheit in deinem Herzen‘ (Prov 6,25): Eine Aktualisierung des Ehebruchsverbots aus persischer Zeit“, BibInt 5 (1997): 46–63. Vgl. Claudia V. CAMP, Wise, Strange and Holy: The Strange Woman and the Making of the Bible (JSOTSup 320; Sheffield: Sheffield Academic Press, 2000), 42–53.
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Die Benennung der Frau als ‚ausländisch‘ oder ‚fremd‘ beinhaltet verschiedene Nebenbedeutungen und spielt auch auf die Ablehnung der Ehen mit ‚fremden‘ Frauen (ʺʥʩʸʫʰ ʭʩˇʰ) an, die in Esra 9–10 und Neh 13,23–31 erwähnt sind.24 Der offenkundige Nachdruck auf ihrem sexuellen Verhalten aber gründet sich auf das aus der älteren Weisheitstradition bekannte Stereotyp der gefährlichen Prostituierten. Ihre Beschreibung als promiskuitiv, d. h. mit mehreren Partnern sexuell verkehrend, verleumdet sie und lehnt sie als mögliche Heiratskandidatin ab. Stattdessen wird sie zur Gegenfigur sowohl der ‚guten‘ Frau als auch von Frau Weisheit. In ihr werden Anklänge an ethnische, kultische und moralische Abweichung zu einem rhetorischen Konstrukt vereint, das alles Fremde weiblich konnotiert: P
Die wechselnden metonymischen Bezüge zwischen Frau und Fremdheit – das weibliche Blut steht für jegliche Verunreinigung, ausländische Frauen stehen für alle fremden Dinge, ehebrecherische Frauen für das abtrünnige Israel – haben eine ‚ordnungsstiftende Metapher‘ gegenständlich hervorgebracht: die Fremdheit ist eine Frau. 25
Das Porträt der Verführerin – in Spr 1–9 die ‘Fremde‘ genannt – stellt somit einen klaren Fall von Ausgrenzung als ‚Andere‘ dar, die körperliche, das Verhalten betreffende, ethnische und soziale Aspekte zu einem kulturellen Stereotyp verdichtet. 26 Vor dem Hintergrund der persischen Zeit und ihrer Herausforderung des Wiederaufbaus einer israelitischen Gemeinschaft in der Provinz Jehud, unterstützt das Porträt der Verführerin die ideologische Botschaft an die jungen Männer, nicht eigenständig nach einer Heiratspartnerin zu suchen, sondern sich auf die Einsicht ihrer Eltern und Lehrer zu verlassen um eine ‚gute‘ Frau zu finden. 27 Obwohl sich die Mahnungen explizit nur 24
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Nancy Nam Hoon TAN, The „Foreignness“ of the Foreign Woman in Proverbs 1–9: A Study of the Origin and the Development of a Biblical Motif (BZAW 381; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2008) untersucht die Gestalt in Spr 1–9 hauptsächlich im Blick auf anGHUH7H[WH]XÃIUHPGHQǥ)UDXHQ'HXWHURQRPLVWLVFKHV*HVFKLFKWVZHUN(VUD-Nehemia). Sie behauptet, dass die ‚fremde‘ Frau in Spr 1–9 für die religiöse Abtrünnigkeit stehe (S. 104), was meiner Meinung nach eher die Vorstellung der griechischen Übersetzung der Proverbien darstellt. Zum Thema der sog. „Mischehen“ vgl. die Aufsätze von Tamara Cohn Eskenazi und Sara Japhet in diesem Band. Vgl. auch Tamara C. ESKENAZI and Eleanore P. JUDD, „Marriage to a Stranger in Ezra 9–10“, in Second Temple Studies 2: Temple and Community in the Persian Period (hg. v. Tamara C. Eskenazi und Kent H. Richards; JSOTSup 175; Sheffield: JSOT Press, 1994), 266–285; Christl M. MAIER, „Der Diskurs um interkulturelle Ehen in Jehud als antikes Beispiel von Intersektionalität“, in Doing Gender – Doing Religion (hg. v. Ute Eisen et al.; WUNT; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013), 129–153. CAMP, Wise, Strange and Holy, 59 (Übersetzung C.M). Deshalb umgreift die Fremdheit der Gestalt mehrere Aspekte, von der Realität abgeleitete wie auch metaphorische; sie kann nicht auf nur eine Bedeutung eingegrenzt werden wie Michael V. FOX, Proverbs 1–9 (AB 18A; New York: Doubleday, 2000), 134–141 und Daniel J. ESTES, „What Makes the Strange Woman of Proverbs 1–9 Strange?“ in Ethical and Unethical in the Old Testament: God and Humans in Dialogue (hg. v. Katherine Dell; LHBOTS 528; New York/London: T&T Clark, 2010), 151–169 zu begründen versuchen. Für eine umfassendere Darstellung des sozialgeschichtlichen Hintergrunds von Spr 1–9 vgl. meine Dissertation Die ‘fremde Frau’ in Proverbien 1–9. Eine exegetische und sozialge-
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an den Sohn wenden, bietet das negative Stereotyp der ‚fremden‘ Frau auch für Töchter ein Rollenmodell an, freilich in umgekehrter Form, d. h. insofern Töchter ernsthaft gewarnt werden, nicht zur ‚fremden‘ Frau oder sogar zur Prostituierten zu werden. Für eine Gesellschaft, die mit wirtschaftlichen und politischen Einschränkungen zu kämpfen hat, mag die Erziehung der nächsten Generation mittels einer ‚konservativen‘, d. h. Werte bewahrenden, Ethik angemessen erscheinen. Dennoch sollten sich AuslegerInnen der möglicherweise negativen Wirkungen bewusst sein, die solche Texte auf heutige LeserInnen ausüben, wenn sie als selbstverständlich betrachtet werden. In meinen Augen ist die verunglimpfende Charakterisierung der ‚verführerischen‘ Frau androzentrisch und nachteilig für das Frauenbild als Ganzes. 2.3 Die Ratgeberin Proverbien 1,8 und 6,20 bestätigen ausdrücklich, dass ein Vater oder eine Mutter in die Rolle des Weisheitslehrers schlüpfen können. Diese Vorstellung ist auch, wenngleich nur implizit, in der älteren Spruchweisheit vorhanden (Spr 10,1; vgl. 15,20; 20,20; 23,22; 29,15). Außerdem tritt in Spr 31,1 die Mutter Lemuels, des Königs von Massa, als persönliche und politische Beraterin ihres Sohnes auf; wie die Lehrperson in Spr 7,1 warnt sie ihn vor sexuellem Fehlverhalten und Trinkgelagen. Diese ausländische Mutter dient als positives Rollenmodell: Sie wiederholt die ethischen Mahnungen der personifizierten Weisheit, nämlich gerecht zu urteilen (vgl. Spr 1,3; 8,15–16 mit 31,9) und den Notleidenden und Armen zu helfen (vgl. Spr 8,27–31 mit 31,8–9). Frau Weisheit und die ‚starke‘ Frau sind die herausragendsten Beispiele für Ratgeberinnen. Die Weisheit lobt ihre Fähigkeit, guten Rat zu geben (8,14–16) und schilt diejenigen, die ihren Mahnungen nicht folgen wollen (1,23–25.30). Die starke Frau öffnet ihren Mund mit Weisheit und gibt gute Unterweisung (31,26). Wie Silvia Schroer in Bezug auf die Erzählungen der Hebräischen Bibel gezeigt hat, gehört die Aufgabe der guten Ratgeberin ihres Mannes zur idealen Charakterisierung der Ehefrau. 28 Nur Ijob folgt dem Rat seiner Ehefrau nicht und weist ihren Vorschlag sogar zurück, was die Auslegenden dazu veranlasst, ihre Rolle kontrovers zu beurteilen. Auch Ijobs Frau erfährt den Verlust ihrer Kinder und ihres Besitzes, aber sie wird weder als Figur ausgearbeitet noch erhält sie einen Namen. Obwohl sie Ijob bis zu seiner Genesung zu begleiten scheint, nennt der Epilog weder sie noch eine andere Frau als Mutter der zehn Kinder Ijobs, die ihm nach seiner Wiederherstellung geboren werden (42,13). Im Prolog spricht sie nur zwei kurze Sätze: „Auch jetzt hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit. Segne Gott und stirb!“ (2,9). Das Hebräische lässt offen, ob der erste Satz eine Aussage oder eine Frage ist und ob sie Ijob auffordert, Gott zu segnen oder zu fluchen. Im zweiten Fall wäre das hebräische Verb ʪʸʡ „segnen“ ein
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schichtliche Studie (OBO 144; Freiburg: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995), 25–68, 264–269. SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 63–79.
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Euphemismus, ein beschönigender Ausdruck. Der Vorschlag von Ijobs Frau wird herkömmlich als Ausdruck des Unverständnisses und Spotts gedeutet, weil er die Voraussage des Anklägers (des Satan) wieder aufnimmt, dass Ijob Gott ins Angesicht segnen oder fluchen werde (2,5). Der Kirchenvater Augustin beispielsweise bezeichnete die Frau als diaboli adiutrix „Helferin des Satans“, die Ijob herausfordere – er benutzte also das Stereotyp der streitsüchtigen Ehefrau. Die Rede der Frau nimmt jedoch nicht nur die Worte des Anklägers auf, sondern auch die Ankündigung Gottes, dass Ijob an seiner Frömmigkeit festhalten werde (2,3).29 Der Text lässt die Bedeutung von ʪʸʡ absichtlich in der Schwebe: als Fluch im Sinne einer Abwehr des Unheilvollen oder als Segen im Sinne des Lobes dessen, was lobenswert ist. 30 Er kann als Empfehlung gelesen werden, Ijob möge Gott noch einmal preisen, solange er festhält oder festhalten kann an seiner Frömmigkeit und nach diesem Abschied im Frieden mit Gott sterben. 31 Die Worte der Frau Ijobs können aber auch so gedeutet werden, dass sie auf die Widersinnigkeit von Ijobs Festhalten an Gott hinweist und ihm vorschlägt, sich fluchend von diesem Gott, der ihn fallen ließ, abzuwenden und dann zu sterben, weil Gotteslästerung die Todesstrafe nach sich ziehen würde (vgl. Lev 24,16). In beiden Fällen könnte statt Spott oder Sarkasmus auch Mitleid, jedenfalls gesunder Menschenverstand im Spiel sein. So wird Ijobs Frau dargestellt als eine, die einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit, und sei es durch den Tod, empfiehlt. Ijob aber weist sie zurück als „eine der Törinnen“ (ʺʥʬʡʰʤ ʺʧʠ 32, 2,10). Obwohl Ijob dem Rat seiner Frau eine Abfuhr erteilt, ist sie es, durch die die Handlung voranschreitet und Ijob einen Punkt erreicht, an dem er sogar die Möglichkeit erwägt, das Böse von Gott nicht mehr anzunehmen. 33 Die Leerstelle im hebräischen Text wurde bei folgendem, erneutem Lesen der Geschichte Ijobs ausgefüllt. Die griechische Textüberlieferung hat eine längere Fassung des Dialogs der Eheleute bewahrt, in dem Ijobs Frau über ihren Leidensweg spricht, Arbeit zu finden und ihren kranken Mann und sich selbst am Leben zu erhalten: Nachdem aber viel Zeit vorübergangen war, sagte seine Frau zu ihm: Wie lange wirst du standhaft sein und sagen: Siehe, ich warte noch eine kleine Zeit ab und erwarte die Hoffnung auf meine Rettung? Denn siehe, ausgelöscht ist dein Andenken von der Erde, (die) Söhne und Töchter, Geburtsschmerzen und Beschwernisse meines Schoßes, 29
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Zu dieser Auslegung siehe Jürgen EBACH, Hiobs Post: Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, zu Themen biblischer Theologie und zur Methodik der Exegese (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1995), 68–70. Vgl. Tod LINAFELT, „The Undecidability of brk in the Prologue of Job and Beyond“, BibInt 4 (1996): 165–172; Magdalene L. FRETTLÖH, Theologie des Segens: Biblische und dogmatische Wahrnehmungen (Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 21998), 308–314. So ein Midrasch zu Ijob 2,9; vgl. Solomon A. WERTHEIMER (ed.), Batei Midrashot II (Jerusalem: Mosad ha-Rav Kuk, 21968), 165. Neben der Idee der Torheit kennzeichnet der gleichbedeutende hebräische, maskuline Begriff ʬʡʰ eine sozial niedrig stehende Person (Spr 30,8) und eine, die Gott ablehnt (Ps 14,1). Diese Auslegung wird vorgeschlagen von Ellen VAN WOLDE, „The Development of Job: Mrs Job as Catalyst“, in A Feminist Companion to Wisdom Literature (hg. v. Athalya Brenner; FCB 9; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1995), 201–221.
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Christl M. Maier mit denen ich mich umsonst abgemüht habe mit Qualen. Du selbst sitzt im Moder des Gewürms und verbringst die Nacht im Freien und ich irre umher, und zwar als Tagelöhnerin, von Ort zu Ort und von Haus zu Haus, (und) warte darauf, wann die Sonne untergehen wird, damit ich ausruhe von den Qualen und Beschwerden, die mich jetzt umfangen. Also: Sage irgendein Wort zum Herrn und stirb! 34 (Ijob 2,9 LXX)
Während die Herkunft dieses längeren Textes umstritten ist, wird er meist noch später als die Septuaginta datiert und stellt also eine erweiternde Deutung dar. 35 Die Rede der Frau unterstreicht Ijobs Standhaftigkeit, aber sie vergegenwärtigt auch ihr Elend und ihre Trauer und macht sie sympathisch. Das Testament Ijobs, das wahrscheinlich im 2. Jh. n. Chr. geschrieben wurde, basiert in seiner Beschreibung der Frau Ijobs auf diesem griechischen Text. In dieser Schrift wird Ijobs Frau sympathisch gezeichnet, voller Mitgefühl und Loyalität ihrem Mann gegenüber, sie sorgt für ihn, nährt ihn und gibt sogar ihr Haar, um Brot zu kaufen (TestIjob 23,2–10). 36 6LHHUKlOWDXFKHLQHQ1DPHQ6LWLVȈȚIJȓȢ GDVDQǹȣıȓIJȚȢGLH griechische Übersetzung von Uz, der Heimat IjobVHULQQHUWRGHUȈȚIJȓįȠȢHLQH$QVSLelung auf das griechische Verb ıȚIJȓȗİȚȞ „Brot geben“. Am Ende stirbt sie, und Ijob bekommt eine zweite Frau namens Dina, mit der er weitere Kinder, darunter drei Töchter, hat, die auch einen Teil von Ijobs Besitz mit einer besonderen geistigen Bedeutung erben (vgl. Ijob 42,14–15 mit TestIjob 46). 37 Diese späteren Erzähltraditionen und die gegensätzlichen Auslegungen von Ijob 2,9 zeigen, dass es von der Vorstellungskraft der LeserInnen abhängt, ob Ijobs Frau als streitsüchtig oder gewissenhaft, als böse oder gute Ehefrau eingeschätzt wird. Da ihre Charakterisierung im Ijobbuch nicht ausgeführt ist und sie nur kurz erwähnt wird, kann sie mithilfe des Stereotyps der nörgelnden Ehefrau oder der hilfreichen Ratgeberin gedeutet werden.
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Übersetzung von Martina KEPPER und Markus WITTE, „Job: Das Buch Ijob (Hiob)“, in Septuaginta Deutsch: Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung (hg. v. Wolfgang Kraus et al.; Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2009), 1010. Vgl. Martina KEPPER und Markus WITTE, „Job/Das Buch Ijob/Hiob“, in: Septuaginta Deutsch: Erläuterungen und Kommentare II (hg. v. Martin Karrer et al.: Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011), 2047–48; David J. A. CLINES, Job 1–20 (WBC 17; o.O.: Thomas Nelson Publishers, 1989), 53. Vgl. Pieter W. VAN DER HORST, „Images of Women in the Testament of Job“, in Studies on the Testament of Job (hg. v. Michael A. Knibb und Pieter W. van der Horst; SNTSMS 66; Cambridge: Cambridge University Press, 1989), 93–116. Für eine feministische Auslegung dieser Schrift vgl. Luzia SUTTER REHMANN, „Das Testament Hiobs: Hiob, Dina und ihre Töchter“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 3 2007), 465–473.
Gute und schlechte Frauen in Proverbien und Ijob
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Obwohl das Stereotyp der Ratgeberin, wie das der fleißigen Ehefrau, den Beitrag von Frauen zu Ehe und Familie positiv bewertet, ist es ebenso eingebettet in einen patriarchalen Kontext und eine Geschlechterhierarchie, in deren Zentrum der Ehemann steht. 2.4 Die arme Witwe Aus der androzentrischen Perspektive auf die ‚gute‘ Ehefrau erscheinen Witwen und Waisen, deren gesellschaftliche Stellung durch die Abwesenheit des Ehemannes und Vaters definiert wird, als an den Rand gedrängt und in Gefahr, ihren Besitz zu verlieren. Spr 23,10 übermittelt das Verbot, die Grenzen des Feldes der Witwe zu verletzen, das auch aus der ägyptischen Lehre des Amenope bekannt ist (7,11ff.),38 in die israelitische Weisheitstradition. Wenn Spr 15,25 JHWH als den beschreibt, der die Grenze der Witwe sichert, wird jegliche Verletzung ihres Landbesitzes als Vergehen gegen Gott angesehen (vgl. auch Spr 22,28). Beide Sentenzen unterstreichen, dass im antiken Israel Frauen und Kinder geringere Rechte hatten und sich selbst nicht vor Gericht vertreten konnten. 39 Im Buch Ijob weisen besonders die Existenz der armen Witwe und der Waisen auf die gestörte Weltordnung hin (Ijob 24,1.21). Die Beschreibung des Elends der Gemeinschaft in Ijob 24 erwähnt unfruchtbare, kinderlose Frauen und Witwen, deren Säuglinge verpfändet werden, weil sie in Schulden geraten sind. Während Elifas Ijob anklagt, er habe Witwen mit leeren Händen fortgeschickt (22,9), verteidigt dieser sich mit dem Hinweis, er habe Witwen und Waisen stets unterstützt (29,12–13; 31,16–17). Als reicher Landbesitzer habe er die Prinzipien der Solidarität mit den Armen, die in der Tora niedergelegt sind (Dtn 24,17.19–22), eingehalten. Obwohl sich das Stereotyp der armen und unterdrückten Witwe besonders in politischen und wirtschaftlichen Krisenzeiten bestimmt auf die Erfahrung zahlreicher Frauen gründete, entlarvt es auch den androzentrischen Standpunkt, dass Frauen und Kinder ohne männlichen Beistand nicht überleben können. Das Gedicht über die starke Frau in Spr 31 dagegen widerspricht der Vorstellung, dass Frauen wirtschaftlich von ihren Ehemännern abhängig seien. Allerdings muss man einräumen, dass der Mann der starken Frau noch lebt. Auch wenn tatsächlich viele Witwen arm waren, verengt das Stereotyp der ‚armen Witwe‘ die Wirklichkeit auf unangemessene Weise (vgl. die reiche Witwe Judit, Jdt 8,7).
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Vgl. BRUNNER, Weisheit, 241. Zur gesellschaftlichen Stellung der Witwen vgl. Christl MAIER und Karin LEHMEIER, „Witwe“, in Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel (hg. v. Frank Crüsemann et al.; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009), 667–668.
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Christl M. Maier
3. Funktion und Bedeutung kultureller Stereotype in der Weisheitsliteratur Kulturelle Stereotype sind, so habe ich argumentiert, notwendig, um die eigene Welt zu ordnen, mit den eigenen Ängsten und der Unbeständigkeit der Wahrnehmung zurechtzukommen. Die Reihe der kulturellen Stereotype über Frauen in Proverbien und Ijob, die hier präsentiert wurden, nimmt klare Unterscheidungen zwischen der ‚bösen‘ und der ‚guten‘ Frau vor. Die stark festgelegten Charakterisierungen und deutlich negativen oder positiven Bewertungen der fleißigen Ehefrau, der Verführerin, der Ratgeberin und der armen Witwe sollen die HörerInnen und LeserInnen dazu anleiten, den ‚richtigen‘ Weg zu wählen, die ‚gute‘ Ehefrau zu finden. Für junge Männer bedeutet das, der religiösen Tradition der Eltern und vor allem ihrem Vorschlag für eine Ehefrau zu folgen, anstatt ihren Besitz und guten Ruf durch den Umgang mit einer ‚fremden‘ Frau zu gefährden. Das Buch der Sprichwörter, besonders seine nachexilische Rahmung, zielt darauf, Söhne der wohlhabenden und Land besitzenden Oberschicht zu unterweisen, einen Lebensweg einzuschlagen, der im besten Sinne ‚konservativ‘, d. h. überlieferte Werte bewahrend, ist. Die Lehrreden und Gedichte haben die unverblümte didaktische Absicht, einem männlichen Adressaten beizubringen, wie er ein erfolgreiches Leben führen kann. Umgekehrt zeigt die Geschichte Ijobs den Verlust eines solchen Lebens und den Zusammenbruch der Beziehungen der männlichen Hauptfigur zu seiner Ehefrau, seinen Kindern, Freunden und zu anderen Personen. Über eine individuelle Ebene hinaus unterrichten beide Schriften ihr Publikum über gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten. In Ijobs Erklärungen, er habe sich um seinen Haushalt gekümmert, die Armen ernährt und niemals ein Auge auf die Frau seines Nachbarn geworfen (Ijob 29,12–16; 31,9–10), spiegelt sich das ideale Verhalten eines männlichen Familienoberhaupts. Das Gedicht über die starke Frau (Spr 31,10–31) entfaltet prägnant das Ideal einer Ehefrau und Hausvorsteherin. Diese stereotypen Charakterisierungen von Frauen und Männern dienen dazu, die Vielschichtigkeit des Lebens zu vereinfachen. Ich behaupte, dass alle in Proverbien und Ijob gesammelten Traditionen den Einfluss von Frauen auf Männer und die Bedeutung von Frauen für das Funktionieren der Familie und des Haushalts aufzeigen. Neuere Untersuchungen zur sozialen Gestalt und wirtschaftlichen Situation der JudäerInnen in der persischen Provinz Jehud verweisen darauf, dass der Beitrag von Frauen zum Lebensunterhalt der Familie, ihre Rolle als weise Ratgeberinnen ihrer Männer und ihre Erziehung der kleinen Kinder bedeutsam waren, weil der Haushalt die grundlegende Wirtschaftseinheit der Gesellschaft bildete. 40 Ihre Rolle und ihr Einfluss bedeuteten jedoch nicht, dass die patriarchale Struktur der Familie aufgebrochen wurde. Nur einige Frauen der Oberschicht konnten Erbrechte oder Heiratsverträge aushandeln, die ihr persönliches Vermögen schützten und sie wirtschaftlich unabhängig machten. 41 Außerdem waren Frauen an der Erzeugung kultureller Stereotype wie dem der ‚fremden‘ Frau und der fleißigen Ehefrau beteiligt, worauf die Rolle der Mutter als Lehrerin (Spr 1,8; 6,20; 31,1)
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Vgl. YODER, Wisdom; MAIER, „Der Diskurs um interkulturelle Ehen“, 141–146. Vgl. dazu den Beitrag von Tamara Cohn Eskenazi in diesem Band.
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verweist. Daher muss man einräumen, dass auch die Frauen im antiken Israel die aufgezeigte androzentrische Sicht teilten. Obwohl eine solche Bildung von Stereotypen in Bezug auf den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Texte erklärt werden kann, ist sie keineswegs harmlos, sondern hat eine direkte Wirkung auf die Bewertung von Frauen und ihren Rollen. Diese Wirkung ist in den verschiedenen Deutungen von Ijobs Frau zu erkennen, die als ‚gute‘ Ratgeberin oder als streitsüchtige und deshalb ‚schlechte‘ Ehefrau angesehen wird, je nachdem welches Stereotyp der jeweilige Ausleger bzw. die Auslegerin bevorzugt. Aus feministischer Perspektive können die Ausgrenzung der ‚fremden‘ Frau als ‚Andere‘ und die negative Beurteilung von Ijobs Frau nicht widerspruchslos hingenommen werden, auch wenn Frau Weisheit, die starke Frau und die Mutter des ausländischen Königs gelobt und positiv dargestellt werden. Dass die weiblichen Stereotype in Proverbien und Ijob eine abträgliche Wirkung auf die allgemeine Beurteilung von Frauen hatten, ist an späteren Weisheitsschriften ersichtlich: Sirach wiederholt und verstärkt die Unterscheidung zwischen ‚guten‘ (Sir 26,1–4.13–18) und ‚schlechten‘ Frauen (Sir 25,15–26; 26,7–12.22–27) und bezeichnet Töchter als Quelle andauernder Sorge für den Vater (Sir 7,24–25; 42,9–10).42 Kohelet und Sirach diskutieren sogar, ob ‚die Frau‘ die Ursache allen Übels sei (Koh 7,26; Sir 25,24). 43 Mit Worten, die der Charakterisierung der ‚fremden‘ Frau in Spr 1–9 ähnlich sind, beschreibt ein Text aus Qumran, der zunächst „The Wiles of the Wicked Woman“ (4Q184) genannt wurde, eine verführerische Frau, die ins Verderben führt. 44 In der Wirkungsgeschichte weiblicher Gestalten führte diese Stereotypisierung in Gegensatzpaaren schließlich zur Unterscheidung von ‚Hure‘ und ‚Heilige‘, der sexuell promiskuitiven Verführerin und der treuen, fast geschlechtslosen Mutter – Stereotype, die bis heute einen gewissen Einfluss ausüben. Mein Bemühen, die Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit der Porträts von Frauen in den Büchern Proverbien und Ijob hervorzuheben, will heutige LeserInnen auf deren gefährliches Potenzial, Vorurteile gegenüber allen Frauen zu verfestigen, aufmerksam machen. Mit Blick auf die ausgrenzende Wirkung der stereotypen Einordnung von Frauen als ‚weise‘ oder ‚fremd‘, ‚gut‘ oder ‚böse‘, plädiere ich für eine dekonstruktivistische Leseweise, die die Zwiespältigkeit solcher androzentrischer Blickwinkel herausarbeitet. Vielleicht können so jenseits aller Stereotype neue Bilder von Frauen (und Männern) entstehen.
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Vgl. den Beitrag von Nuria Calduch-Benages in diesem Band. Zur Bewertung von Koh 7,26 vgl. den Beitrag von Vittoria D’Alario in diesem Band. Vgl. dazu TAN, Foreign Woman, 112–121. Es ist jedoch unklar, ob 4Q184 lebende Frauen typisiert oder kultische Abtrünnigkeit in weiblicher Gestalt personifiziert.
Zwischen Frauenfeindlichkeit und Aufwertung Blicke auf die Frauen im Buch Kohelet Vittoria D’Alario Päpstliche Theologische +RFKVFKXOH Süd-Italiens, Abteilung San Luigi, Neapel
1. Einleitung Im Buch Kohelet steht das Thema der Frauen im Kontext umfassenderer Überlegungen über die Menschen (ʭʣʠ) und ihre Verletzlichkeit (ʬʡʤ). Tatsächlich hat Kohelet1 vor allem ein anthropologisches Interesse, wie die Frage am Anfang des Werkes erkennen lässt: „Was hat der Mensch für einen Gewinn von all seiner Mühe, die er unter der Sonne hat?“ (1,3). 2 Bei seinen Forschungen befasst sich der Weisheitslehrer mit der menschlichen Erfahrung, die er in vielen Facetten präsentiert. Seine Aufmerksamkeit schweift von sozialen Phänomenen wie Ungerechtigkeit und Unterdrückung (3,16; 4,1–3: 8,9; 9,3) zu Problemen des täglichen Lebens wie dem Sinn der Arbeit (2,11.17–22; 5,12–17; 6,1–12) und dem Wert zwischenmenschlicher Beziehungen (4,8–12), ohne die politische Sphäre zu vernachlässigen (4,13–16; 5,7–8, 10,5–7). Der Hauptgegenstand seines Nachdenkens ist der Mensch in der ganzen Vielfalt seiner Erfahrungen, aber auch in seinen Ansprüchen und Grenzen. In den ersten sechs Kapiteln des Buches unternimmt es Kohelet, anhand von Überlegungen und Beispielen zu zeigen, dass die menschlichen Anstrengungen vergeblich sind, insbesondere, wenn sie sich auf Selbstbestätigung und Allmacht richten. Im zweiten Teil des Werkes (7,1–11,6) betrachtet er die Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis und damit die Grenzen der Weisheit. Die Fragen in Koh 6,10–12 stellen eines der Grundprinzipien zur Diskussion, auf dem die weisheitlichen Überlegungen basieren: die Fähigkeit der Menschen, sich in der Gegenwart zu orientieren und ihre Zukunft zu entwerfen. P21F
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Denn wer weiß, was dem Menschen nützlich ist im Leben, in seinen kurzen, eitlen Tagen, die er verbringt wie einen Schatten? Oder wer will dem Menschen sagen, was nach ihm kommen wird unter der Sonne? (Koh 6,10–12)
Im zweiten Teil des Buches befinden sich auch die Texte, die Frauen betreffen und trotz ihrer Seltenheit besonders wichtig für unser Thema sind: 7,26–28 und 9,9. Bei einer ersten Lektüre scheinen sich die beiden Texte über Frauen komplett zu widersprechen, wie es im ganzen Buch auch bei anderen Themenbereichen oft vorkommt. In 7,26–28 scheint Kohelet sich bei seiner negativen Beurteilung der Frauen
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Zur Bedeutung des hebräischen Wortes „Kohelet“ siehe unten Abschnitt 2.4. Die Autorin versteht Kohelet als einen Mann und Weisheitslehrer. Die Bibeltexte wurden gemäß der Übersetzung der Autorin ins Deutsche übersetzt, unter Zuhilfenahme der Übersetzung nach Martin Luther in der Revision von 1984.
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mit allen anderen frauenfeindlichen Autoren der antiken Welt einig zu sein;3 in 9,9 hingegen findet sich die positive Aufforderung, die Beziehung mit der eigenen Frau voller Freude zu genießen. Von einer pessimistischen Sichtweise, die an den Schmerzpunkten des Frauenbildes ansetzt, geht er also zu dessen Aufwertung über.
2. „Die Frau“ und das Geheimnis des göttlichen Werkes (Koh 7,23–29) Um Kohelets Gedanken angemessen zu verstehen, ist es wichtig, seine Überlegungen zunächst im direkten Kontext und erst dann im Gesamtzusammenhang des Buches zu betrachten. Es ist sinnvoll, die Analyse nicht auf einzelne Verse zu beschränken, sondern Kohelets Argumentationen über den gesamten Abschnitt, in dem sich die jeweiligen Äußerungen befinden, einzubeziehen und deren Logik zu respektieren, auch wenn es sich oft um eine Logik handelt, die uns fremd ist. 4 2.1 Ist Kohelet ein Frauenfeind (Koh 7,26–28)? Der erste zu untersuchende Text ist Koh 7,26–285 in seinem unmittelbaren Umfeld (7,25–29): 25 Ich richtete meinen Sinn erneut darauf, Weisheit zu erfahren, zu erforschen und zu suchen und auch die Ursache der Dinge (ʯʥʡˇʧ), und zu erfahren, dass die Bosheit Torheit ist und Dummheit Wahn. 26 Ich finde, dass die Frau bitterer als der Tod ist, wenn (weil) sie ganz aus Fesseln besteht: ein Netz ist ihr Herz und Ketten sind ihre Arme. Wer Gott gefällt, wird ihr entrinnen; aber der Sünder bleibt in ihr gefangen. 27 Schau, das habe ich herausgefunden, sagt Kohelet, indem ich eins mit dem anderen verglichen habe, um zu einem abschließenden Ergebnis zu gelangen (ʠʶʮ) 28 das ich P
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Es erstaunt nicht, dass die feministische Literatur diese Stelle aus dem Buch Kohelet nie geschätzt hat, in der der Verfasser angeblich seine persönliche Erfahrung verarbeitet. Vgl. Athalya BRENNER, „Figurations of Women in Wisdom Literature“, in A Feminist Companion to Wisdom Literature (hg. v. Athalya Brenner; FCB 9; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1995), 50–66; 59–60; Carole R. FONTAINE, „Ecclesiastes“, in Women’s Bible Commentary: Expanded Edition (hg. v. Carol A. Newsom und Sharon H. Ringe; Louisville: Westminster John Knox Press, 1998), 161–163. Eine kritische Bewertung, die auf die unterschiedlichen Herangehensweisen an den Kohelet-Text eingeht, findet sich bei Jennifer L. KOOSED, (Per)mutations of Qohelet: Reading the Body in the Book (LHBOTS 429; New York: T&T Clark, 2006), 77–87. Zur Beziehung zwischen Logik und Rhetorik im Buch Kohelet vgl. Vittoria D’ALARIO, Il libro del Qohelet: Struttura letteraria e retorica (RivBibSup 27; Bologna: Dehoniane, 1993), 185–231. Ich schlage hier meine eigene Übersetzung des Textes vor, die im Laufe der Untersuchung erklärt wird.
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immer noch suche und nicht finde. Unter tausend habe ich einen Mann gefunden, aber eine Frau habe ich unter allen nicht gefunden. 29 Schau, nur das habe ich herausgefunden: Gott hat den Menschen aufrichtig gemacht; aber sie machen sich auf die Suche nach vielen Machenschaften (ʺʥʰʡˇʧ).
Wir finden uns vor einem Text, der deswegen zu den meistdiskutierten des Buches Kohelet gehört, weil er sich für unterschiedliche Übersetzungen und Interpretationen eignet. Eine erste Schwierigkeit besteht in der Frage, wer die mysteriöse weibliche Gestalt aus V. 26 ist. Ist es „die Frau“ im Allgemeinen oder eine bestimmter Typ Frau? Einige WissenschaftlerInnen haben auch die Hypothese vorgeschlagen, dass Kohelet in diesem Text die Metapher der „Frau Weisheit“ aufgreift, die insbesondere im Buch der Sprichwörter vorkommt. Würde man diese Kohelet-Verse isoliert betrachten, blieben sie für immer ein Rätsel; untersucht man sie aber im Licht des Kontextes, in dem sie stehen, kann man sie besser begreifen. Über den unmittelbaren Kontext gibt es keinen Zweifel: Es geht um V. 25–29, die aus zwei Gründen eine abgeschlossene Einheit darstellen. Zum einen behandeln sie das Thema der beharrlichen und leidenschaftlichen Suche des Weisen, zum anderen erlauben die literarischen Indizien eine recht präzise Eingrenzung der Perikope.6 Als Allererstes fällt die Inklusion durch ʯʥʡˇʧ, „Urteil“, „Endergebnis“ (V. 25) und ʺʥʰʡˇʧ, „Machenschaften“ (V. 29) ins Auge; es handelt sich mit Sicherheit um eines der Schlüsselwörter dieses Textes, auf das ich später eingehen werde. Weiterhin herrscht die erste Person Singular vor, das Ich des Weisen, der sich mit dem Problem „Frau“ auseinandersetzt. Sie wird zum Gegenstand einer beharrlichen Suche, die in der siebenmaligen Wiederholung des Verbs ʠʶʮ, „finden“, zum Ausdruck kommt. Kohelets Nachdenken über die Frau steht jedoch in einem noch größeren Zusammenhang, der von 7,23 bis 8,1 reicht: Darin nimmt Kohelet das Problem der weisheitlichen Suche in Angriff und bewertet deren Ergebnisse. Betrachten wir zunächst V. 23–24, in denen die Unzugänglichkeit der Weisheit gezeigt wird und ein Schleier des Mysteriums über alles fällt, was Kohelet gesucht und gefunden hat: All das habe ich mit Weisheit (ʤʮʫʧʡ) untersucht und habe gesagt: „Ich will weise sein!“, aber die Weisheit ist fern von mir! Das, was gewesen ist, ist fern und tief, sehr tief. Wer kann es begreifen ʠʶʮ)?
Kohelet erklärt, alles „mit Weisheit“ untersucht zu haben: ʤʮʫʧʡ bezeichnet die Weisheit als Forschungsinstrument, ein Instrument also, dessen man sich bedient, um weise zu werden. Aber die Ergebnisse, zu denen Kohelet gekommen ist, erweisen sich als nicht zufriedenstellend, weil die Weisheit ein unerreichbares Ziel ist. Kohelet sieht sich gezwungen, innezuhalten angesichts der gleichsam abgründigen Tiefe der Wirk6
Bezüglich dieser Abgrenzung der Perikope teile ich die Argumentation von José VÍLCHEZ LÍNDEZ, Eclesiastés o Qohélet (Nueva Biblia Española; Sapienciales 3; Estella: Verbo Divino, 1994), 322–333.
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lichkeit, die in vielerlei Hinsicht unbegreiflich und geheimnisvoll ist. Vers 24 schließt mit einer rhetorischen Frage: „Wer kann sie erreichen?“ Zum ersten Mal kommt hier das Verb ʠʶʮ vor, das eines der Schlüsselwörter des Textes ist. Das Verb kann verschiedene Bedeutungen annehmen, die von Mal zu Mal präzisiert werden müssen.7 In 7,24 bedeutet es „begreifen“, und unbegreiflich ist die Wirklichkeit selbst. Die Antwort auf die Frage, die Kohelet sich stellt, kann nur negativ ausfallen. Niemand kann, wie sehr er oder sie sich auch anstrengt, wirklich das Wesen der Dinge begreifen und den tiefen Sinn der Wirklichkeit verstehen.8 Das Thema „Frau“ ist also in dieser Betrachtung über das Geheimnis des Seins verortet, in der Kohelet die Fähigkeit des menschlichen Geistes infrage stellt, zu einer umfassenden Einsicht in die Wirklichkeit zu gelangen. Der Diskurs über die Frau wird so zu einem Beispiel, wie es Kohelet oft benutzt: Er greift auf „typische“ Figuren aus der Literatur und der Lebenswirklichkeit seiner Zeit zurück, um seinen Gedankengängen maximale Konkretheit und Schärfe zu verleihen. P218F
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2.2 Das Rätsel der verhängnisvollen Frau (Koh 7,25–26) Obwohl Kohelet zu dem Schluss gekommen ist, dass die Weisheit unerreichbar sei (7,24), setzt er seine Suche fort. Er verwendet das Verb ʡʡʱ, das im Einleitungsgedicht für das Wirbeln des Windes steht, der um sich selbst kreist. Dabei handelt es sich um eine Metapher für den menschlichen Verstand, der nach Gottes Willen ständig einer mühseligen und zugleich unausweichlichen Beschäftigung nachgeht, die ihn zwingt, immer wieder zu denselben Themen zurückzukehren. Dieses Um-sich-selbst-Kreisen des Geistes spiegelt sich laut einiger AuslegerInnen auch in der Struktur des Buches wider. 9 Kohelets Engagement ist an dieser Stelle so stark, dass in V. 25 eine Zunahme von Verben erkennbar wird, die mit der Suche zu tun haben: ʲʣʩ, „erkennen“, ʸʥʺ, „erforschen“, ˇʷʡ, „suchen“. Diese drei Verben haben zwei Substantive als Objekte: ʤʮʫʧ, „die Weisheit“ und ʯʥʡˇʧ, einen Begriff, der die Endergebnisse der Suche bezeichnet.10 P21F
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Beim Gebrauch des Verbs ʠʶʮ benutzt Kohelet die rhetorische Figur der antanaclasis. Vgl. Anthony R. CERESKO, „The Function of Antanaclasis (m‚ ’܈to find‘ // m‚ ’܈to reach, overtake, grasp‘) in Hebrew Poetry, Especially in the Book of Qoheleth“, CBQ 44 (1982): 551– 569; siehe auch den neueren Beitrag von Luca MAZZINGHI, „The Verbs ʠʶʮ ‚to find‘ and ʡʹʷ ‚to search‘ in the Language of Qohelet: An Exegetical Study”, in The Language of Qohelet in Its Context: Essays in Honour of Prof. A. Schoors on the Occasion of His Seventieth Birthday (hg. v. Angelika Berlejung und Pierre van Hecke; OLA 164; Leuven: Peeters, 2007), 91–120. Die Formulierung ʤʕ ʩʤʕ ˉ ʓ ʚʤʔʮ (7,24) kann sowohl das Sein („was geschehen ist“) als auch das Werden („was geschehen wird“) bezeichnen. Vgl. Antoon SCHOORS, „Words Typical of Qohelet“, in Qohelet in the Context of Wisdom (hg. v. Antoon Schoors; BETL 136; Leuven: Peeters, 1998), 17–39; 23–24. Zur zyklischen Struktur des Koheletbuchs vgl. D’ALARIO, Il libro del Qohelet, 227–229. Der Begriff ʯʥʡˇʧ wird in Kohelet und Sirach vor allem mit der Bedeutung „rechnerischgreifbares Resultat“, „praktisches Endergebnis“, „Endsumme und Ziel des ‚eins zum andern
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Kohelet hat also die Absicht, den gesamten Wissensschatz der hebräischen Weisheit zu erforschen und zu durchsuchen, und dann dessen Schlussfolgerungen zu überprüfen. Zu diesem Zweck beschäftigt er sich mit einer der Grundthesen der Tradition: Bosheit ist Torheit und Dummheit ist Wahn. In diesem Zusammenhang stellt auch er die Überlegung über ‚die Frau‘. Vers 26 beginnt mit dem Partizip des Verbs ʠʶʮ, „ich finde“. Handelt es sich um eine persönliche Erfahrung Kohelets, die er selbst gemacht hat, dass die Frau bitterer ist als der Tod? Bringt er hier wirklich seine eigene Meinung über Frauen zum Ausdruck, oder ist es denkbar, dass dieses Sprichwort später von einem Redaktor hinzugefügt wurde, der über den kritischen Ton der Argumentation empört war?11 Es gibt außerdem die Hypothese, dass Kohelet auf seiner Suche auf den Allgemeinplatz gestoßen ist, der das Frauenbild mit Bosheit und Dummheit assoziiert. 12 Diese letzte Hypothese ist am glaubwürdigsten, vor allem wegen des Partizips, 13 mit dem Kohelet normalerweise das einleitet, was aus der Tradition stammt. 14 Das Partizip bezeichnet, was Kohelet im Laufe seiner Suche findet. Es ist jedoch schwierig zu bestimmen, aus welchen Quellen er sein so negatives Frauenbild schöpft. Es könnte sich um den jüdisch-rabbinischen Gedanken handeln, der die Macht von Frauen mit dem Thema des Todes verbindet; 15 aber vielleicht handelt es sich auch einfach um die P2F
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Tuns‘“ verwendet, zu dem man gelangt, in dem man eins zum anderen zählt (vgl. Klaus SEYBOLD, ʡʔˇʧʕ : ۊƗãab, ThWAT III (1982): 244–261; 251). Das ist die Interpretation von Maria Claustre SOLE I AUGUETS, Déu, una paraula sempre oberta: El concepte de Déu en el Qohèlet (Collectània Sant Pacià 65; Barcelona: Facultat de Teologia de Catalunya, 1999), 141–146. Ihr zufolge behielte der Text Kohelets seine Kohärenz auch ohne V. 26. Ein so negatives Urteil über die Frau findet sich an keiner anderen Stelle im Buch, obwohl Kohelet normalerweise immer wieder auf dieselben Ideen zurückkommt. Die weiteren Anspielungen auf Frauen (Koh 2,8b und 9,9) hingegen passen zu jenen Texten, die empfehlen, die Gegenwart mit Freude zu genießen (2,24; 3,12.22; 5,18b; 8,15; 11,5). Vgl. Spr 1,7–33; 8,1–9,18. Zur Antithese Weisheit/Torheit vgl. Armin LANGE, Weisheit und Torheit bei Kohelet und in seiner Umwelt: Eine Untersuchung ihrer theologischen Implikationen (EH 23; Theologie 433; Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1991), 7–48. Vgl. Diethelm MICHEL, Untersuchungen zur Eigenart des Buches Qohelet (BZAW 183; Berlin: Walter de Gruyter, 1989), 235–237; MAZZINGHI, „The Verbs ʠʶʮ and ʹʷʡ in Qohelet“, 110–111. So Norbert LOHFINK, „War Kohelet ein Frauenfeind? Ein Versuch, die Logik und den Gegenstand von Koh. 7,23–8,1a herauszufinden“, in La Sagesse de l’Ancien Testament (hg. v. Maurice Gilbert; BETL 51; Gembloux-Leuven: Leuven University, 1979), 259–287, bes. 277–287. Laut Lohfink bringt Kohelet in V. 26 nicht seine eigene Erfahrung oder sein eigenes Frauenbild zum Ausdruck, sondern eine in der traditionellen Weisheit verbreitete Meinung. Er schlägt daher vor, die indirekte Rede in direkte Rede umzuwandeln: „Ich finde, dass eine Frau bitterer als der Tod ist ...“ und interpretiert das Relativpronomen ʸˇʠ als kausal im Sinne von „weil, tatsächlich“. LOHFINK, „War Kohelet ein Frauenfeind?“, 278–283. In V. 26 werde die Frau als eine Macht dargestellt, die schrecklicher als der Tod sei, vor allem weil sie in der Lage sei, neues Leben hervorzubringen. Lohfink übersetzt deswegen das Adjektiv ʸʮ mit „stark“ anstatt mit
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Weisheitstradition, die im Buch der Sprichwörter den jungen Mann davor warnt, sich mit der „fremden“ Frau zu treffen, weil ihre Wege zum Tod führen.16 Sicher ist in jedem Fall, dass in V. 26 vor allem die verhängnisvolle Macht der Frau hervorgehoben wird, weil sie fähig ist, den Mann in eine tödliche Falle zu locken. 17 Dieselben Begriffe werden in 9,12 für Zeit und Zufall benutzt: Auch kennt der Mensch noch nicht einmal seine Stunde: Wie die Fische ins tödliche Netz geraten und wie die Vögel in der Schlinge gefangen werden, so wird auch der Mensch vom Unheil überrascht, das plötzlich über ihn hereinbricht. (Koh 9,12)
Auf der Grundlage dieser Stilelemente sieht Dominic Rudman in der Frau geradezu die Agentin einer Urgewalt, der man nicht entfliehen kann. 18 Sie sei das Symbol für die willkürliche Natur, für Gottes Eingreifen in das Leben der Menschen, von dem in 9,11–12 die Rede ist.19 In diesem Text, wie auch in 3,1–15, bringt Kohelet eine deterministische Konzeption der Zeit zum Ausdruck. Laut Rudmann könnte Kohelets Beschreibung der Frau in 7,26 eine Bestätigung in 3,8 finden, wo es um „eine Zeit für die Liebe“ geht. Des Weiteren wird in 7,26 die Rolle der Frau als Instrument des göttlichen Urteils über die Menschheit betont: „Wer Gott gefällt, wird ihr entrinnen; aber der Sünder bleibt in ihr gefangen.“ Rudman kommt zu dem Schluss: „Die Rettung vor der Frau ist deshalb ein Zeichen göttlicher Gunst. Jedoch mag jemand, der der ‚Zeit‘ (ʺʲ) zum Opfer fällt, nicht das Werk Gottes, aber Zufriedenheit finden. Kohelets Rat an den ‚Sünder‘ – die überwiegende Mehrheit, wenn nicht alle seine LeserInnen – ist es, die Entscheidung Gottes mit Gelassenheit anzunehmen.“ 20 Ist es auf der Grundlage dieser begrifflichen Hinweise möglich, an eine Beziehung zwischen den beiden Kohelet-Texten über Frauen (7,26–29 und 9,9) zu denken? Diese Möglichkeit ist nicht auszuschließen: Kohelet behandelt öfter dieselben Themen aus verschiedenen Blickwinkeln, die auch neue Interpretationen dieser Themen in sich bergen. Dies werden wir bei der Untersuchung des zweiten Textes (9,9) genauer erörtern. Was Koh 7,26–28 betrifft, so ist es vielleicht übertrieben, die Frau als Vehikel einer Urgewalt zu betrachten; es ist jedoch unleugbar, dass die Frauengestalt in 7,26 eine symbolische Qualität erhält, die weit über ihre konkrete Geschichtlichkeit hinausgeht. Es gilt nun zu verstehen, wie weit diese symbolische Überlagerung reicht. P231F
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„bitter“, weil das Hebräisch des Koheletbuchs stark vom Aramäischen beeinflusst sei, und dort ʸʮ auch „stark“ bedeuten kann. Er entdeckt außerdem eine enge Parallele zwischen Koh 7,26 und Hld 8,6, wo gesagt wird, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Einen Überblick über die verschiedenen Frauenfiguren, die mit Koh 7,26 gedanklich assoziiert werden, bietet Jean-Jacques LAVOIE, La pensée du Qohélet: Étude exégétique et intertextuelle (Héritage et projet 49; Québec: Fides, 1992), 129. Vgl. Johan Y.-S. PAHK, „The Significance of ʸˇʠ in Qoh. 7,26: More bitter than death is the woman, if she is a snare“, in Qohelet in the Context of Wisdom (hg. v. Antoon Schoors; BETL 136; Leuven: Peeters, 1998), 373–383. Dominic RUDMAN, „Woman as Divine Agent in Ecclesiastes“, JBL 116 (1997): 411–427. RUDMAN, „Woman as Divine Agent in Ecclesiastes“, 420. So RUDMAN, „Woman as Divine Agent in Ecclesiastes“, 421.
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2.3 Kohelet und die Personifizierung der Weisheit Einige AuslegerInnen haben aufgrund der Nähe von Koh 7,26 zu einigen Stellen aus dem Buch der Sprichwörter die Hypothese aufgestellt, dass Kohelet auf die personifizierte 21 „Frau Weisheit“ anspielen könnte. 22 Zweifellos kann die Beschreibung der Frau in Koh 7,26a das negative Frauenbild von Spr 5,3–5 und 7,25–27 ins Gedächtnis rufen. In diesen beiden Texten geht es um die „fremde“ Frau, die mit ihrer Verführungskunst den Mann in den Tod reißen kann. 23 Das Adjektiv ʸʮ erinnert durch die Assonanz an die Bitterkeit des Wermuts aus Spr 5,3–5: Denn die Lippen der ‚fremden‘ Frau sind süß wie Honigseim, und ihre Kehle ist glatter als Öl, danach aber ist sie bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Ihre Füße steigen zum Tode hinab; ihre Schritte führen ins Totenreich.
Die anderen Bilder in Koh 7,26 erinnern an die Beschreibung der „fremden“ Frau in Spr 7,21–27, die geradezu als Bebilderung dieses Verses betrachtet werden könnte. Das Netz und die Schlinge (Spr 7,22) stehen für die Fähigkeit der Frau, den Mann in eine tödliche Falle zu locken. Die „fremde“ Frau im Buch der Sprichwörter ist jedoch das Symbol für eine fremde Weisheit, die für den jungen Judäer gefährlich und tödlich ist. Gegenüber den Verführungskünsten der Frau gibt es zwei verschiedene mögliche Verhaltensweisen: die des Weisen, der gut ist vor Gott, und die des Sünders, der in seiner Dummheit ihr Opfer bleibt. In V. 26c wird tatsächlich die traditionelle Ethik mit ihren grundlegenden Handlungsmöglichkeiten zusammengefasst. Spielt Kohelet also auf die „Frau Weisheit“ an? Dies ist eine interessante Hypothese, die durch den Kontext bestätigt werden kann, in dem die Überlegung über Frauen steht. Meiner Meinung nach würde dies bedeuten, dass Kohelet einen Diskurs über die Weisheit und den metaphorischen Gebrauch „der Frau“ weiterführt, der in der weisheitlichen Tradition weit verbreitet ist und auch im Einklang mit dem Kontext steht. Ab 6,12 stellt sich Kohelet Fragen über die Möglichkeit der menschlichen Weisheit, herauszufinden, was für die Menschen gut ist: Denn wer weiß, was dem Menschen nützlich ist im Leben, in seinen kurzen, eitlen Tagen, die er verbringt wie ein Schatten?
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Anm. der Herausgeberinnen: Die Autorin spricht im italienischen Original von metafora „Metapher“; in der deutschen Forschung wird diese Stilfigur Personifikation genannt, die als Untergattung der Metapher verstanden wird, vgl. Abschnitt 1 des Beitrags von Gerlinde Baumann in diesem Band. Vgl. hierzu Thomas KRÜGER, „‚Frau Weisheit‘ in Koh 7,26?“, Bib 73 (1992): 394–402. Zur Gestalt der „fremden“ Frau im Buch der Sprichwörter vgl. Christl MAIER, Die „fremde Frau“ in Proverbien 1–9: Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie (OBO 144; Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995), 184–214; zur Gestalt der Weisheit vgl. Irmtraud FISCHER, Gotteslehrerinnen: Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament (Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 174–203.
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Zu dieser ersten Frage gesellt sich die zweite nach der Fähigkeit der Menschen, sich auf die Zukunft auszurichten: Oder wer will dem Menschen sagen, was nach ihm kommen wird unter der Sonne?
Beide rhetorischen Fragen in 6,12 implizieren eine negative Antwort: Niemand, nicht einmal der Weise, kann wirklich verstehen, was für den einzelnen Menschen gut ist, weil die menschliche Existenz nicht nur durch die Kürze seiner Tage charakterisiert wird, sondern vor allem durch ʬʡʤ, „Nichtigkeit“, „Windhauch“, der ihr eigenes Bild verschwimmen lässt: Die Menschen verbringen ihr Leben wie ein Schatten. In den folgenden Kapiteln, von 7,1 bis 11,6, entwickelt Kohelet diese These mit einer Reihe von Argumenten weiter, die vom Problem des Tun-Ergehen-Zusammenhangs (7,15–22) bis zum Wissen über die Zeiten reichen (8,7–8). Mit diesem Punkt befasst er sich besonders gründlich: Die Menschen können weder ihre Zukunft noch den Zeitpunkt ihres Todes kennen. Das Resümee dieser Überlegung findet sich in 8,16–17: 16 Als ich mich damit befasste, die Weisheit zu erkennen und die Mühe zu schauen, die auf Erden geschieht, – da der Mensch weder am Tag noch in der Nacht Ruhe kennt – 17 da sah ich das ganze Werk Gottes, und dass ein Mensch nicht den Grund herausfinden kann für alles, was unter der Sonne geschieht. Und so sehr der Mensch sich auch müht zu suchen, er kann ihn nicht herausfinden. Und auch wenn ein Weiser meint, ihn zu kennen, so kann doch niemand ihn finden.
In diesen Versen zeigt Kohelet sich völlig überzeugt davon, dass es unmöglich ist, die wahre Weisheit zu erreichen und den Sinn der Dinge zu durchdringen (8,1). Ein Beweis dafür ist die Unmöglichkeit, das Geheimnis „der Frau“ und ihre Beziehung mit dem Mann zu verstehen. Die Frauengestalt in Koh 7,26–28 wird zur Chiffre für die Unbegreiflichkeit der Wirklichkeit mit ihren vielen Widersprüchen. In den Kapiteln 7 und 8 führt Kohelet einen kritischen Diskurs über die Weisheit weiter, und auch der in der Tradition verbreitete, metaphorische Gebrauch des Frauenbilds wird hier zu einem konkreten Beispiel dafür, dass es unmöglich ist, absolute Kriterien auf das Verständnis der Wirklichkeit anzuwenden. Kohelet hat eine Suche in Angriff genommen, die ihn zur Konfrontation mit der traditionell negativen Auffassung von Frauen gebracht hat, wie sie als Metapher für fremde Weisheit übernommen wird. Im Buch der Sprichwörter wird die Gestalt der „fremden“ Frau als didaktisches Mittel benutzt, um den jungen Studenten vor der Faszination der fremden Kultur zu warnen, die zur Götzenverehrung und damit zum Tod führt. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass auch Kohelet ein Lehrmeister ist, wie der Epilog des Buches deutlich macht (12,9–10). Er ist jedoch kein traditioneller Lehrer, der in einer Schule unterrichtet. Er ähnelt vielmehr einem jener Wanderlehrer, wie sie für die hellenistische Zeit typisch sind, zynisch und skeptisch, von Sokrates beeinflusst.
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Kohelet war nicht nur ein Weiser, sondern brachte dem Volk auch Kenntnisse bei; er hörte zu, er forschte und schrieb selbst eine Vielzahl von Sprichwörtern. Kohelet suchte, wertvolle Sprüche zu finden und schrieb mit Genauigkeit Worte der Wahrheit auf. (Koh 12,9–10).
Die Besonderheit seiner Lehre ist es, „alles“ zur Diskussion zu stellen, und auch die Reflexion über Frauen könnte unter diese kritische Erforschung fallen. Desweiteren ist Kohelets Geist offen für alle Einflüsse der Kultur seiner Zeit: In seinem Werk finden wir viele Anspielungen auf Begriffe und Kategorien der griechischen Philosophie sowie des jüdischen und apokalyptischen Gedankengutes, mit denen Kohelet eine dialektische Beziehung eingeht. Seine Suche führt ihn durch alle Felder des Wissens; er betrachtet Themen und Probleme des traditionellen Glaubens und des täglichen Lebens. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn Kohelet in dieser Perikope über die Frauen seinen Schülern und uns allen ein weiteres Mal eine Alternative zu den Allgemeinplätzen mitteilen wollte, von denen die Kultur seiner Zeit beherrscht war. 2.4 Die menschliche Weisheit und der Plan Gottes (Koh 7,27–29) Koh 7,27 beginnt mit dem Ausdruck „Schau, das habe ich gefunden“ und ist besonders wichtig, weil er den Einschub ʺʬʤʷ ʤʸʮʠ „sagt Kohelet“ hinzufügt, der (wahrscheinlich vom Redaktor) dazu verwendet wird, die Wichtigkeit von Kohelets Behauptungen zu unterstreichen. In diesem Kontext könnte der Gebrauch der grammatikalisch weiblichen Form ʺʓʬʤʓ ௴ʷ, „Kohelet“, aber auch für die Personifizierung einer kritischen Weisheit stehen, die sich von der traditionellen unterscheidet. 24 Zum Ausdruck „Schau, das habe ich gefunden“ gehört V. 28a als Objekt: „… die ich immer noch suche und nicht finde“. Kohelet ist wie Sokrates davon überzeugt, dass die menschliche Weisheit nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu erreichen: Er weiß, dass er nichts weiß. 25 Die anfängliche Behauptung in V. 28a passt kongenial zum Stil des Suchens, der Kohelet eigentümlich ist, bei dem er nie zu endgültigen Schlussfolgerungen gelangt. Jede Etappe seiner Forschungen eröffnet weitere Vertiefungen: eine gebührende Pflicht, die Gott den Menschen auferlegt hat, auf dass sie sich damit abmühen (3,10). 26 P235F
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Einige AuslegerInnen haben auch die Hypothese aufgestellt, dass Kohelet eine Frau war. Vgl. Amos LUZZATTO, Chi era Qohelet? (Brescia: Morcelliana, 2011), 7. Um das Thema des Wissens bei Kohelet weiter zu vertiefen, vgl. Annette SCHELLENBERG, Erkenntnis als Problem: Qohelet und die alttestamentliche Diskussion um das menschliche Erkennen (OBO 188; Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002), 150–159. Agnès GUEURET, „Observations sur Qohélet“, Sémiotique et Bible 127 (2007): 25–39; 30: „Nicht aufhören zu suchen, zu wissen, dass man es nicht finden kann.“
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Im Buch Kohelet taucht immer wieder die Antithese „suchen/nicht finden“ auf. In 7,28b entwickelt er sie zu einer recht rätselhaften Erklärung weiter: 27 Unter tausend habe ich einen Mann gefunden, aber eine Frau habe ich unter allen nicht gefunden.
Was bedeutet dieser Vers? Ist Kohelet wie Diogenes, der mit einer Laterne auf die Suche nach dem Menschen ging? Die Lösung des Rätsels hängt stark von der Übersetzung des Wortes ʭʣʠ ab. Bedeutet es „Mensch“ oder „Mann“? Einige interpretieren ʭʣʠ als Synonym von ˇʩʠ, „Mann“ 28 und betonen so den Gegensatz Mann/Frau. Aber der Begriff ʭʣʠ hat bei Kohelet immer eine universelle Bedeutung, er bezieht sich auf das Menschengeschlecht. 29 Auch in diesem Fall hätte das Sprichwort jedoch einen entschieden frauenfeindlichen Klang: Wenn man die gesamte Menschheit betrachtet, ist es möglich, mindestens eine rechtschaffene Person zu finden, aber wenn man nur die Frauen betrachtet, findet man keine einzige. Dieser Interpretation, die unter ExegetInnen recht weit verbreitet ist, kann man entgegensetzen, dass Kohelet in 7,28b nicht von Gerechtigkeit spricht, sondern von der Menschheit und jenem Teil davon, der dem weiblichen Geschlecht angehört. Der Gegensatz zwischen ʭʣʠ, „Menschheit“ und ʤˇʠ, „Frau“ kann also beabsichtigt sein. Was aber bedeutet er? Im Licht dessen, was wir schon über den allgemeinen Kontext gesagt haben, könnte man den Text meiner Einschätzung nach folgendermaßen interpretieren. Wenn es darum geht, den Menschen zu erforschen, kann man ein (wenn auch bescheidenes, einer von tausend!) Ergebnis erzielen, aber wenn man „die Frau“ erforscht, kommt gar nichts dabei heraus! Die Frau bleibt immer ein Geheimnis, so wie auch die ganze Wirklichkeit des Menschen geheimnisvoll ist: als Werk Gottes bleibt er oder sie unbegreiflich für den Menschen. Die Maxime in V. 28b kann also nicht als frauenfeindlich interpretiert werden: Von Mann und Frau wird hier nicht in moralischen Kategorien geredet. Es ist vielmehr der Moralismus mit seinem Übereifer, den Kohelet in 7,16 angreift: „Sei nicht allzu gerecht und allzu weise, wieso willst du dich zugrunde richten?“ Aus Kohelets Perspektive wird die Frau zur Chiffre einer unbegreiflichen Wirklichkeit, eines Geheimnisses, das auf ein viel tieferes Geheimnis verweist: das Werk Gottes. Vers 29 schließt diese schwierige Perikope ab, indem er endlich Kohelets Standpunkt preisgibt: „Schau, nur das habe ich herausgefunden.“ Seine Suche geht nicht im absoluten Skeptizismus unter. In seiner Auseinandersetzung mit den menschlichen Meinungen über die Frau, die aus der Tradition der Metapher für die Weisheit stammen, hat Kohelet nichts erreicht („ich suche immer noch, aber finde nichts“). Also beruft er sich auf Gottes ursprünglichen Plan. Die Tatsache, dass in dieser Perikope siebenmal das Verb ʠʶʮ, „finden“ auftaucht, ist nicht zu vernachlässigen. Meiner 27
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Zur Bedeutung des Verbs ʠʶʮ in der Struktur von Koh 7,26–29 vgl. Ingrid RIESENER, „Frauenfeindschaft im Alten Testament? Zum Verständnis von Qoh 7,25-29“, in „Jedes Ding hat seine Zeit…“: Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit: Diethelm Michel zum 65. Geburtstag (hg. v. Anja A. Diesel et al.; BZAW 241; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1996), 193–207. Vgl. Mitchell DAHOOD, „Qohelet and Recent Discoveries“, Bib 39 (1958): 302–318; 310. SCHOORS, „Words Typical of Qohelet“, 17–20.
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Meinung nach ist diese Zahl bedeutsam, weil in ihr ein impliziter Verweis auf die Vollkommenheit der Schöpfung enthalten ist, der nahelegt, die Ebene der eigenen Erfahrung zu überschreiten und das Thema der Frau in einen breiteren Diskurs zu stellen, der bis auf die Anfänge der Schöpfung zurückgeht. Am Anfang hat Gott rechtschaffene Menschen erschaffen. Das Wort ʸˇʩ, „gerade“, „aufrecht“ wird in Bezug auf moralische Rechtschaffenheit benutzt, da es etwas Gerades (im Gegensatz zu etwas Gewundenem) bezeichnet. In V. 29b ist die Assoziation der Gewundenheit mit dem Wort ʺʥʰʡˇʧ, „Machenschaften“ verbunden. Sie (wahrscheinlich Kohelets Gesprächspartner) machen sich auf die Suche nach vielen Schwierigkeiten, verdunkeln schließlich jedoch Gottes Plan mit ihren gewundenen Spekulationen, genauso wie Ijobs Freunde. Gottes Weisheit hingegen ist einfach und gerade: Er hat ʭʣʠ, „den Menschen“, erschaffen, männlich und weiblich.
3. Frauen und die Lebensfreude (Koh 9,9) Der zweite zu untersuchende Text (Koh 9,9) eröffnet einen ganz anderen Blick auf Frauen, weil Kohelet darin eine eindeutig positive Würdigung der Frauen zum Ausdruck bringt, wenn auch im Kontext eines noch trostloseren und beklemmenderen Gedankengangs über das menschliche Leben (9,1–12). Ein weiteres Mal kann der Kontext entscheidend sein, um den Sinn von Kohelets Diskurs zu verstehen. Das neunte Kapitel beginnt mit einer wichtigen Behauptung: Die Gerechten und die Weisen sind mit ihren Werken in Gottes Händen (9,1). Aber diese so tröstliche Behauptung wird von der folgenden gleichsam widerrufen: „aber der Mensch weiß nicht, ob Gott Liebe oder Hass an ihm erweist“ (9,1b). Niemand kann zu wissen beanspruchen, wie Gott die Handlungen der Menschen beurteilt, weil die göttliche Logik nicht zu entziffern ist. Als Beweis für diese These setzt sich Kohelet in 9,2–3 mit dem Problem des TunErgehen-Zusammenhangs auseinander und argumentiert, dass alle dasselbe Schicksal erfahren, egal ob sie gerecht oder frevlerisch, gut oder böse, rein oder unrein sind, ob sie Opfer bringen oder nicht, schwören oder zu schwören fürchten. Der Tod erwartet alle, unabhängig von ihrem Verhalten. Auf diese unbestreitbare Erfahrung stützt sich Kohelet, um die Unzulänglichkeit der traditionellen Lehre über Tun und Ergehen zu erweisen. Die Schlussverse des Kapitels (9,11–12) greifen diese Überlegung wieder auf und nennen fünf weitere Typen: die Schnellen, Starken, Weisen, Klugen und Einsichtigen. In der Gesellschaft erfahren die Fähigkeiten der Menschen oft keine Anerkennung, und wenn das schon für das Leben gilt, dann erst recht für den Moment des Todes. Zeit und Zufall verschonen niemanden. 30 In diesem so problematischen Kontext findet sich die Einladung zur Lebensfreude, die ausführlicher als alle anderen ist (vgl. 2,24; 3,12; 3,22; 5,17; 8,15). 30
Vgl. Vittoria D’ALARIO, „Liberté de Dieu ou destin? Un autre dilemme dans l’interprétation du Qohélet“, in Qohelet in the Context of Wisdom (hg. v. Antoon Schoors; BETL 136; Leuven: Peeters, 1998), 457–463.
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3.1 Partnerin oder Ehefrau? (Koh 9,9) Auch wenn dieser Text klarer formuliert scheint, ist er nicht frei von Schwierigkeiten: Genieße (ʤʠʸ) das Leben mit (der) Frau, die du liebst an allen Tagen deines vergänglichen Lebens, das dir Gott unter der Sonne gewährt, denn das ist dein Schicksal im Leben, und bei den Mühen, die du unter der Sonne erträgst. (Koh 9,9)
Beginnen wir mit dem Verb ʤʠʸ, das normalerweise mit „genießen“ übersetzt wird. Üblicherweise steht dieses Verb mit dem Substantiv ʡʥʨ und bedeutet „das Gute genießen“ (vgl. 2,1; 3,13; 5,17; 6,6). Horacio Simian-Yofre hingegen ist der Meinung, dass die Übersetzung des Verbs ʤʠʸ als „genießen“ an dieser Stelle nicht so offensichtlich sei: Der Sinn könne auch im Wortfeld des Erkennens liegen, also „ansehen“ oder „betrachten“ meinen. Außerdem bezieht er den Relativsatz „das er dir unter der Sonne gegeben hat“ auf die Frau statt auf die vergänglichen Tage. Damit zielt seine Übersetzung in eine ganz andere Richtung als die übliche Fassung: 31 P24F
Betrachte das Leben mit der Frau, die du liebst, die er dir unter der Sonne gegeben hat, an allen Tagen deines eitlen Lebens, (an all jenen, deinen eitlen Tagen); denn das ist deine Aufgabe im Leben, und bei deiner Mühe, die du unter der Sonne erträgst.
So interessant diese Übersetzung auch ist: Sie passt nicht in den Kontext, in dem Kohelets Aufforderung steht, denn in V. 8 lädt er nicht nur Betrachtung, sondern zur Freude ein, und dazu, all jene Güter (wie Kleider oder Salben) zu genießen, die das Leben erträglicher machen. Die V. 7–10 stellen eine abgeschlossene Einheit dar, 32 in der Kohelet seine Aufforderung zur Lebensfreude noch einmal mit unkonventionellen Begriffen entwickelt, derentwegen er den Vorwurf des Hedonismus und Epikureismus auf sich zog. 33 Die Einladung, zu essen und zu trinken (V. 7), kommt auch in den anderen Texten vor, in denen Kohelet die Lebensfreude als Ideal vorschlägt. In 9,7 wird die doppelte Aufforderung durch die Wendung „dein Brot und deinen Wein“ bestimmt, die Bilder einer 31
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Horacio SIMIAN-YOFRE, „Conoscere la sapienza: Qohelet e Gen 2-3“, in Il libro del Qohelet: Tradizione, redazione, teologia (hg. v. Giuseppe Bellia und Angelo Passaro; Cammini nello Spirito; Biblica 44; Milano: Paoline, 2001), 314–336; 333. Zur Abgrenzung dieses Abschnitts vgl. Pedro Raúl ANAYA LUENGO, El hombre, destinatario de los dones de Dios en el Qohélet (Bibliotheca Salmanticensis; Estudios 296; Salamanca: Publicaciones Universidad Pontificia, 2007), 211–221. Vgl. Ernest HORTON, „Koheleth’s Concept of Opposites as Compared to Samples of Greek Philosophy and Near and far Eastern Wisdom Classics“, Numen 19 (1972): 1–21; 14–18. Zum Motiv des carpe diem bei Kohelet vgl. Ludger SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Nicht im Menschen gründet das Glück (Koh 2,24): Kohelet im Spannungsfeld jüdischer Weisheit und hellenistischer Philosophie (HBS 2; Freiburg: Herder, 1994), 204–207.
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fröhlichen Feier aus dem eigenen Erleben hervorruft. Auch die Wendungen „mit Freude“ und „mit fröhlichem Herz“ beschreiben positive Gefühle, die das alltägliche Leben erfüllen sollen. An dieser Stelle ist es wichtig, die Motivation der Einladung zu erklären, die in V. 7b zum Ausdruck kommt: „… denn deine Werke haben Gott bereits gefallen“. Über das zukünftige Urteil Gottes angesichts der Werke des Menschen gibt es keinerlei Sicherheit (vgl. 3,17; 9,1b), aber in der Gegenwart gibt es keinerlei Zweifel über das göttliche Wohlwollen, was auch explizit in 2,25 und 3,13 bestätigt wird. Das Glück ist ein Recht des Menschen und zugleich ein Geschenk Gottes; es kann kein Gefühl sein, das nur mit außergewöhnlichen Ereignissen verbunden ist (anders als Koh 3,4.7 nahelegen könnte). Tatsächlich ist es zu jeder Zeit wichtig, die eigene Freude zu zeigen, zum Beispiel mit weißen Gewändern und Öl für das Haupt (V. 8). Es geht darum, das alltägliche Leben in Schlichtheit zu genießen, ohne nutzlosen Hirngespinsten und großartigen Träumen hinterherzulaufen, die nur zu Enttäuschungen führen. Diese lustvolle Existenz soll mit der eigenen Frau erlebt werden. In 9,9 steht der Begriff „Frau“ ohne Artikel. Diese Auslassung scheint auf „irgendeine Frau“ hinzuweisen, und nicht auf die Ehefrau, die mit dem bestimmten Artikel bezeichnet wird.34 Wenn man die Hypothese in Erwägung zieht, es könnte sich nicht um die „Ehefrau“, sondern um „irgendeine Frau“ handeln, in die man verliebt ist, wäre dies eine weitere Bestätigung für Kohelets Antikonformismus. Er würde hier nicht an eine eheliche Beziehung denken, sondern an eine Liebe, die frei von jeder Fessel ist und darum im Sinne des „carpe diem“ zu einer Quelle der Freude und Lust wird. Andere AuslegerInnen hingegen sind der Meinung, die Auslassung des Artikels sei nicht entscheidend im Hebräisch Kohelets, das vom Aramäischen35 oder Phönizischen beeinflusst sein könnte, so dass ʤˇʠ auch ohne Artikel für die „Ehefrau“ stehen könnte. Johan Yeong-Sik Pahk verteidigt diese Deutung, indem er den Relativsatz „… die Gott dir gegeben hat“ auf die Frau bezieht. Er begründet das mit Parallelen nicht nur zu anderen Bibelstellen (Ex 21,4; Ri 21,18; 1 Kön 11,19), sondern auch zu anderen Texten des Alten Orients wie dem Gilgamesch-Epos (iii, 12–13), in denen die Idee einer institutionellen Familie hochgehalten wird.36 Wie wir soeben gesehen haben, hat die Frauenproblematik ein weiteres Mal Konsequenzen für die Interpretation der Identität Kohelets als Weisem. War er Antikonformist oder Traditionalist? Unheilbarer Pessimist oder Apostel der Freude? Was auch immer die Lösung dieses Problems sein mag; in diesem Aufsatz können wir uns nicht P247F
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Mit Hinblick auf dieses linguistische Element übersetzt Schoors: „Genieße das Leben mit einer Frau, die du liebst, an allen Tagen deines absurden Lebens, das Gott dir unter der Sonne gewährt…“. Vgl. Antoon SCHOORS, „L’ambiguità della gioia in Qohelet“, Il libro del Qohelet: Tradizione, redazione, teologia (hg. v. Giuseppe Bellia und Angelo Passaro; Cammini nello Spirito; Biblica 44; Milano: Paoline, 2001), 278–280. Vgl. die Bibliographie zum Thema in Johan Y.-S. PAHK, Il canto della gioia in Dio: L’itinerario sapienziale espresso dall’unità letteraria in Qohelet 8,16–9,10 e il parallelo di Gilgameš Me. iii (Dipartimento di Studi Asiatici; Series Minor 52; Napoli: Istituto Universitario Orientale, 1996), 248–258. Johan Y.-S. PAHK, „A Syntactical and Contextual Consideration of ’iš in Qoh. IX 9“, VT 51 (2001): 370–380.
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damit auseinandersetzen. Am Ende unseres Diskurses über die Frauen muss anerkannt werden, dass sie in 9,9 definitiv aufgewertet werden. Hierzu ist besonders auf die Bedeutung der Präposition ʭʲ „zusammen mit“ hinzuweisen, die eine gleichberechtigte Beziehung zwischen dem Mann und seiner Frau herstellt. 3.2 Kohelet und das Geschenk der Liebe Der zerstörerischen Kraft des Todes stellt Kohelet die Liebe entgegen; ob diese nun in Freiheit oder innerhalb einer Ehe ausgelebt werden soll, wird nicht explizit gesagt. Die Beschreibung dieser Liebesbeziehung erinnert an das Hohelied, einen Text, zu dem Kohelet eine einzigartige Nähe aufweist. Tatsächlich lässt die Antithese „suchen“ – „nicht finden“ in Koh 7,28 an Hld 3,1–2 denken; 5,6 spielt sicherlich auf die qualvolle Suche nach Gott an, die oft in dunkelster Nacht stattfindet, wie dies auch im Buch Ijob oder in den Psalmen belegt ist. Das Buch Kohelet und das Hohelied haben auch den Sinn für das Geheimnisvolle gemeinsam. Das Hohelied erforscht das Rätsel der Liebe, die das Geheimnis der Schöpfung in sich trägt. 37 Kohelet befasst sich mit dem Geheimnis der göttlichen Weisheit, die der menschliche Geist nicht ergründen kann, und bereitet den Weg für Gedanken über die Größe Gottes, der alles allwissend und allmächtig regiert. Das Thema „Frauen“ fügt sich in Kohelets Argumentation über das Geheimnis des göttlichen Werkes und die Grenzen der menschlichen Weisheit ein. Das menschliche Leben ist ʬʡʤ, alles kann sich von einem Augenblick zum anderen in Rauch auflösen, aber Gott lässt den Menschen nicht am Abgrund des Nichts allein. Mit seinen Gaben ist er in den Freuden des Alltags präsent. Auch die Liebe ist ein Geschenk Gottes, das Mann und Frau teilen können, um so die Tage ihres vergänglichen Lebens mit Glück zu erfüllen. Können diese Freuden das Gefühl der Vergeblichkeit und Unbeständigkeit des Lebens ganz aufwiegen? Es ist schwierig, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Sicher ist jedoch, dass Mann und Frau durch ihr gemeinsames Schicksal vereint sind, durch ein Leben, das vom Leid wie von der Freude geprägt ist. Vielleicht findet sich die Antwort auf unsere Fragen in dieser Aufforderung Kohelets: Am freudigen Tag sei fröhlich, und am traurigen Tag bedenke: Gott hat den einen wie den anderen gemacht… (Koh 7,14).
Der Mensch ist verpflichtet, dem Willen Gottes zu entsprechen, indem er oder sie mit Gelassenheit die glücklichen wie die traurigen Momente akzeptiert. Das Leben ist ein Geschenk Gottes, das zusammen mit dem Partner oder der Partnerin in vollen Zügen gelebt werden soll. Aber wichtiger als alles andere ist es, Gott zu fürchten und seine Gebote einzuhalten (12,13). Aus dem Italienischen übersetzt von Antonia Weber und Michaela Geiger 37
Vgl. Gianfranco RAVASI, Il Cantico dei Cantici (Bologna: Dehoniane, 1992), 69, sowie den Beitrag von Gianni Barbiero in diesem Band.
Gute und schlechte Ehefrauen im Buch Jesus Sirach – eine harmlose Unterscheidung? Nuria Calduch-Benages Päpstliche Universität Gregoriana, Rom (Italien)
1. Einleitung Das Buch Jesus Sirach (auch als Ecclesiasticus oder Ben Sira bekannt) wurde zwischen 200 und 180 v. Chr. in Jerusalem verfasst, wo sein Autor, ein professioneller Schreiber, eine Art Weisheitsschule oder -akademie leitete. Die Krise, die durch den Versuch der Hellenisierung der Jüdinnen und Juden unter dem seleukidischen König Antiochos IV. Epiphanes (175–163) ausgelöst wurde, war zur Zeit Jesus Sirachs schon latent. In den ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s v. Chr. hatte die Konfrontation zwischen den neuen hellenistischen Ideen und den traditionellen Werten der jüdischen Religion schon begonnen. Dennoch schrieb Jesus Sirach sein Buch nicht, um sich dem Hellenismus entgegenzustellen oder sich seiner zu erwehren, sondern vielmehr, um den Glauben und das Vertrauen seines Volkes zu stärken. Mit anderen Worten, sein Hauptziel war es, Jüdinnen und Juden dazu zu ermutigen, ihrer Religion, der Weisheit und den Traditionen ihrer Vorfahren treu zu bleiben. 1 Verglichen mit dem Sprüchebuch, Hiob, Kohelet und dem Buch der Weisheit ist das Buch Jesus Sirach dasjenige, das Frauen am meisten Raum widmet. Tatsächlich beziehen sich 10% der Lehrtexte des Jerusalemer Weisen auf bestimmte Frauen; in seltenen Fällen enthält es auch typisch weibliche Bilder, die sich z. B. auf Mutterschaft („der Mutterleib/Mutterschoß“, 1,14; 40,1; 46,13Hb; 49,7; 50,22) oder auf Geburt („von der Frau geboren“, 10,18) beziehen. Mütter, Ehefrauen, Witwen, Töchter, Jungfrauen, Dienerinnen, Sängerinnen, Kurtisanen, Ehebrecherinnen und Prostituierte treten immer im Verhältnis zu dem Mann auf, der ihren einzigen Bezugspunkt bildet: dem Sohn, Ehemann, Vater, Eunuchen, Hausherrn oder Freier/Opfer. Mehr noch, alle bewegen sich im Schatten der Anonymität, ohne Identität, als Mitglieder einer unbestimmten Gesamtgruppe. Nicht einmal im „Lob der Vorfahren“ (Sir 44–50), einem regelrechten Aufmarsch bedeutender Persönlichkeiten der Geschichte Israels, wird auch nur eine einzige Frau mit Namen erwähnt. Bei dieser Gelegenheit hätte Jesus 1
Eine gute Einleitung in englischer Sprache findet sich bei Richard J. COGGINS, Sirach (Guides to the Apocrypha and Pseudepigrapha 6; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1998); in deutscher Sprache vgl. Johannes MARBÖCK, „Das Buch Jesus Sirach“, in Einleitung in das Alte Testament (hg. v. Erich Zenger et al.; Kohlhammer: Stuttgart, 72008), 408–416. Alle deutschen Übersetzungen aus dem Buch Sirach folgen den spanischen Übersetzungen der Autorin, da die deutschen Bibelübersetzungen z. T. unterschiedliche Textversionen zugrundelegen. Die Autorin hat griechische und lateinische Quellen ins Spanische übersetzt, worauf der Begriff „eigene Übersetzung“ in der Anmerkung verweist. Wo es deutsche Textausgaben zu diesen Quellen gibt, wurden diese zitiert, ansonsten wurde die spanische Übersetzung der Quellen ins Deutsche übertragen.
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Sirach durchaus die Erzmütter oder auch die Heldinnen seines Volkes aufnehmen können, aber er entschied sich dafür, sie zu verschweigen und so ihre Geschichten und ihre Erinnerung zum Schweigen zu bringen. 2 Nun ist unsere Absicht aber nicht, die Frau im Buch Jesus Sirach im Allgemeinen darzustellen,3 da dies unsere Möglichkeiten übersteigen würde, sondern uns mit einer einzigen Kategorie von Frauen zu befassen, den Ehefrauen, und mit ihrer Unterscheidung in „gute“ und „schlechte“, ausgehend vom hebräischen Text (der nicht immer zur Verfügung steht) und der griechischen Übersetzung. 4 Worauf antwortet diese Unterscheidung? Welche Kriterien liegen ihr zugrunde? Welche Absicht verfolgt der Weise damit? Was sind ihre Implikationen? Alle diese Fragen scheinen Andrew Davidson, den Verfasser des ersten Beitrags zum Thema „Jesus Sirach und die Frauen“, der Ende des 19. Jh.s geschrieben wurde, nicht besonders zu bekümmern: Das Urteil Jesus-ben-Siras ... Frauen betreffend, wird allgemein als sehr verdammend aufgefasst. Diese Meinung ist kaum gerechtfertigt. Sirach glaubt, dass es schlechte und 2
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Nuria CALDUCH-BENAGES, „The Absence of Named Women from Ben Sira’s Praise of the Ancestors“, in Rewriting Biblical History: Essays on Chronicles and Ben Sira in Honour of Pancratius C. Beentjes (hg. v. Jeremy Corley und Harm van Grol; DCLS 7; Berlin: Walter de Gruyter, 2011), 301–317. Vgl. besonders die folgenden Monographien: Warren C. TRENCHARD, Ben Sira’s View of Women: A Literary Analysis (BJS 38; Chico: Scholars Press, 1982); Ursula RAPP, „Weisheitsbeziehung und Geschlechterverhältnis: Untersuchungen zu Texten über Frauen und Ehe im Buch Jesus Sirach“ (Habilitationsschrift; Universität Bamberg, 2010) und Ibolya BALLA, Ben Sira on Family, Gender and Sexuality (DCLS 8; Berlin: Walter de Gruyter, 2011). Siehe auch Nuria CALDUCH-BENAGES, „Ben Sira y las mujeres“, Reseña Bíblica 41 (2004): 37–44; Judith E. MCKINLAY, Gendering Wisdom the Host: Biblical Invitations to Eat and Drink (JSOTSup 216; Sheffield: Academic Press, 1996), 160–178 und Angelika STROTMANN, „Das Buch Jesus Sirach“, in Kompendium feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 428– 440. Für die syrische Übersetzung vgl. Nuria CALDUCH-BENAGES, „La mujer en la versión siríaca (Peshitta) de Ben Sira: ¿Sesgos de género?“, in Congreso Internacional „Biblia, memoria histórica y encrucijada de culturas“ (hg. v. Jesús Campos Santiago und Víctor Pastor Julián; Zamora: Asociación Bíblica Española, 2004), 686–693. Die Textgeschichte von Jesus Sirach ist ohne Zweifel eine der kompliziertesten unter allen Büchern des Alten Testaments. Jesus Sirach schrieb auf Hebräisch (Hb), aber sein Werk ist hauptsächlich auf Griechisch (Gr), Syrisch (Syr) und Latein (Lat) erhalten. Seit 1896 hat man Fragmente des hebräischen Textes wiedergefunden, von dem wir gegenwärtig ungefähr zwei Drittel besitzen. Trotz der vielen Fragen, die diesbezüglich noch der Beantwortung harren, stimmt die Mehrzahl der Fachleute in der Annahme von zwei Textgestalten überein, einer kurzen und einer langen, sowohl im hebräischen Text (HbI und HbII) als auch in der griechischen Übersetzung (GrI und GrII). Zu dieser Frage vgl. Patrick W. SKEHAN und Alexander A. Di LELLA, The Wisdom of Ben Sira: A New Translation with Notes by Patrick W. Skehan, Introduction and Commentary by Alexander A. Di Lella (AB 39; New York: Doubleday, 1987), 51–62; Maurice GILBERT, „Siracide“, DBSup XII (1996): 1389–1437; 1390– 1402 und Nuria CALDUCH-BENAGES, En el crisol de la prueba: Estudio exegético de Sir 2,1–18 (ABE 32; Estella: Verbo Divino, 1997), 113–121.
Gute und schlechte Ehefrauen im Buch Jesus Sirach
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gute Frauen gebe, und wenn die Schlechtigkeit einer schlechten Frau etwas absolut Schlechtes ist, so ist die Güte einer guten Frau etwas höchst Gutes. … Sie gleichen sich gut gegenseitig aus. 5
Wir beabsichtigen, in dieses angebliche Gleichgewicht zwischen ‚gut‘ und ‚schlecht‘ einzudringen, um die Bedeutung der besagten Unterscheidung zu entdecken, ihre Funktion in der Lehre des Weisen ebenso wie die ideologischen Voraussetzungen, die sie stützen. Unsere Arbeitsmethode zielt darauf, das Profil der ausgewählten Texte hervorzuheben, indem besonders auf die kommunikativen Strategien geachtet wird, die der Autor verwendet, ebenso wie auf den Einfluss des sozialen und historischen Umfelds auf sein Werk und seine Lehre. Doch bevor wir mit unserer Studie beginnen, möchten wir eine wichtige Beobachtung festhalten. Ben Sira ist Erbe einer alten weisheitlichen Tradition, in der die Frauen (Mutterschaft, Ehe, Ehebruch und Prostitution) eines der Hauptthemen darstellen. Deren Verfasser pflegen sie in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ einzuteilen und beziehen sich oft in einem ironischen bis satirischen Tonfall auf sie. Einige bezeichnende Beispiele sind die demotischen Weisungen Anchscheschonqis (24–25) 6 und der Papyrus Insinger (IX. Weisung) 7, die Anthologie oder das Florilegium des Johannes Stobäus (XXII–XXIII) 8 als Muster der hellenistischen gnomischen Weisheit oder die Einzeiler des Komödienschreibers Menander. 9 So gesehen, setzen die Texte des Siraziden, die wir im Folgenden vorstellen, nur eine Linie des Denkens fort, die in der Epoche des Weisen andauert.
2. Zwei Hauptkategorien von Ehefrauen Zusammen mit den Töchtern (7,24–25; 22,3–5; 42,9–14) und den gefährlichen Frauen (9,1–9; 23,22–26) erfahren die Ehefrauen besondere Aufmerksamkeit von Seiten Ben Siras. Wie schon angemerkt, klassifiziert der Weise sie ausgehend von den ethischen Grundkategorien ‚gut‘ und ‚schlecht‘, denselben, die er verwendet, wenn er sich auf die Menschen im Allgemeinen bezieht. Dabei fällt auf, dass nur die SklavInnen wie die Ehefrauen als gut/umsichtig/intelligent (7,20–21; 10,25) oder schlecht (33,27; 42,5) 5
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Vgl. Andrew B. DAVIDSON, „Sirach’s Judgment of Women“, ExpTim 6 (1984/85): 402– 404; 402. Miriam LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom Literature in the International Context: A Study of Demotic Instructions (OBO 52; Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983), 88–90. LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom Literature, 203–205. Curt WACHSMITH und Otto HENSE (Hg.), Ioannis Stobaei Anthologium, vol. IV: Anthologii libri quarti partem priorem ab Ottone Hense editam continens (Berlin: Weidman, 1909), 494–599 (capp. XXII–XXIII = capp. 67–74 in der Ausgabe von A. Meinecke, Ioannis Stobaei Florilegium [Lipsiae: Teubner, 1857]). Siehe besonders das Gedicht über die Frauen von Semonides von Amorgos in XXII,193 (S. 561–566), das erste frauenfeindliche Werk der westlichen Literatur (6. Jh. v. Chr.). LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom Literature, 50.
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Nuria Calduch-Benages
charakterisiert werden.10 Wir wollen nicht vergessen, dass Ehefrauen und SklavInnenȱ in der Epoche des Weisen ebenso wie Söhne, Töchter und Vieh als unumschränkter Besitz des pater familias angesehen wurden (vgl. 7,18–28). Die aussagekräftigsten Texte über Ehefrauen sind in Kap. 25–26 konzentriert 11, unmittelbar im Anschluss an das Selbstlob der Frau Weisheit.12 War in Kap. 24 die geheimnisvolle Gestalt der personifizierten Weisheit die Protagonistin, sind es jetzt die konkreten und realen Frauen des täglichen Lebens, die im Mittelpunkt der Szene stehen. Während Erstere durch den Glanz ihrer Rede hervorsticht, scheinen die letzteren keine Stimme zu haben. Sie sprechen kein einziges Wort; vielmehr wird ständig über sie geredet. Sie sind Gegenstand der Lehre des Weisen. Die Belehrungen über die Ehefrauen wechseln sich nach folgendem Muster ab: 25,13–26 (schlechte Ehefrauen) 13; 26,1–4 (gute Ehefrauen); 26,5–12 (schlechte Ehefrauen); 26,13–18 (gute Ehefrauen). 14 Diesen Passagen ist der Abschnitt 36,21–27 (über die gute Ehefrau) hinzuzufügen, der sich inmitten einer Passage über die Kunst der Unterscheidung befindet (36,18–37,31). Schließlich vervollständigen zahlreiche Verse, die über das ganze Werk verstreut sind, das Porträt der guten (7,19.26a; 9,1; 25,1.8; 28,15; 40,19.23) und der schlechten Ehefrau (7,26b; 9,2; 33,19ab; 37,11a; 42,6; 47,19). Alle diese Texte setzen eine männliche Zuhörerschaft voraus, insbesondere die heranwachsenden jungen Männer, die die Schule Ben Siras in Jerusalem besuchten. Sie gehörten den gutsituierten Familien der Stadt an und bereiteten sich darauf vor, in der Zukunft verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen. An sie richtet der Weise seine Lehren über die Ehefrauen. Daher spiegeln alle Ratschläge die Einstellung und den Blickwinkel eines erfahrenen Ehemannes wider (alles im Buch legt nahe, dass Ben Sira 10
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Frau und Diener erscheinen gemeinsam in der Weisung Anchscheschonqis (13,17): „Öffne nicht dein Herz Deiner Frau oder Deinem Diener“ (Übersetzung von Heinz J. Thissen in TUAT III/2 [1991], 263); vgl. LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom Literature, 78. Vgl. Ursula RAPP, „Der gottesfürchtigen Frau ein guter Mann? Zur Lektüre der Aussagen über gute und schlechte Ehefrauen im Sirachbuch“, in Auf den Spuren der schriftgelehrten Weisen: FS J. Marböck (hg. v. Irmtraud Fischer et al.; BZAW 331; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2003), 325–338 und Rainer KESSLER, „«Zänkisches Weib» und «Tüchtige Hausfrau»: Blicke auf Frauen in jüdischen Schriften aus persischer und hellenistischer Zeit“, in Zwischen Vernunft und Gefühl: Weibliche Religiosität von der Antike bis heute (hg. v. Christa Bertelsmeier-Kierst; Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit 3; Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang, 2010) 1–10, bes. 1–5. Zur Weisheitsgestalt in Sir 24 vgl. den Beitrag von Gerlinde Baumann in diesem Band. Zu diesem Abschnitt vgl. Renate EGGER-WENZEL, „‚Denn harte Knechtschaft und Schande ist es, wenn eine Frau ihren Mann ernährt‘ (Sir 25,22)“, in Der Einzelne und seine Gemeinschaft (hg. v. Renate Egger-Wenzel und Ingrid Krammer; BZAW 270; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1998), 23–49. Der folgende Abschnitt (26,19–27) liegt nur auf Syrisch und in der langen Form der griechischen Übersetzung vor (GrII), weshalb er wohl nicht ursprünglich zu Ben Sira dazugehört (vgl. zur umgekehrten Auffassung SKEHAN und DI LELLA, The Wisdom of Ben Sira, 351). Die V. 19–21 handeln von der Wahl der Ehefrau, und die V. 22–27 enthalten im Wechsel positive und negative Maximen über die Frauen und die Ehe. Vgl. dazu BALLA, Ben Sira on Family, 107–110.
Gute und schlechte Ehefrauen im Buch Jesus Sirach
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verheiratet war), der die zukünftigen Ehemänner über die Tugenden unterrichten will, die es bei einer künftigen Ehefrau zu suchen, und die Gefahren, die es zu meiden gilt. So reflektiert die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Ehefrauen, aus einer androzentrischen Sichtweise heraus vorgenommen, ausschließlich das Glück, die Wünsche, das Wohlbefinden, die Ehre und die Autorität des Ehemannes. Aus diesem Grund sind auch einige Feststellungen des Weisen über die eheliche Harmonie, in denen Ehemann und Frau auf derselben Ebene zu stehen scheinen, keine Überraschung, zum Beispiel: „Drei Dinge gefallen mir, und sie sind schön in den Augen Gottes und der Menschen: Einvernehmen unter Geschwistern, Freundschaft unter Nachbarn und Mann und Frau, die gut miteinander umgehen (ΗΙΐΔΉΕΚΉΕϱΐΉΑΓ)“ 15 (25,1), oder: „Freund und Gefährte kommen zur rechten Zeit zusammen, aber mehr noch Frau und Ehemann“ (40,23Gr). 16 In diesen Versen ist die Reihenfolge, in der die Eheleute angeführt werden, bemerkenswert: Mann und Frau, Frau und Mann; ebenso fehlen besitzanzeigender Fürwörter, um die Beziehung zwischen beiden anzuzeigen. 2.1 Schlechte Ehefrauen In den Texten, die sich auf schlechte Ehefrauen beziehen, erscheint dreimal der hebräische Ausdruck ʤʹʠ [ʺ]ʲʸ, „Schlechtigkeit der Frau“ (25,13.17.19) und viermal der griechische Ausdruck ·ΙΑχȱΔΓΑΕΣ, „die schlechte/böse Frau“ (25,6.25; 26,7; 42,6 17). Auf den ersten Blick ist nicht klar, worin die Schlechtigkeit der Frau besteht, denn sowohl das Substantiv als auch das Adjektiv werden in einem sehr weiten Sinn gebraucht. Nur im Licht des Kontexts und in einigen Fällen mit Hilfe der alten Übersetzungen lassen sich genauere Bedeutungen, Nuancen und Anspielungen entdecken. In jedem Fall ist offensichtlich, dass die Schlechtigkeit der Frau schlimmer als jede andere Art von Schlechtigkeit ist (25,13.19a), weshalb die böse Frau das Geschick des Sünders verdient (25,19b), das heißt, dass sie sich mit einem Sünder verheiratet und nicht mit einem gerechten Mann, so dass sie zu einer Strafe für ihren Mann wird.18 Dieselbe Vorstellung teilt Hesiod, auch ohne von Sünde und Strafe zu sprechen: „Ein Mann gewinnt ja … nichts Schauerlicheres … als eine schlechte, eine fressgierige [Gattin]. Die versengt ihren Mann, und sei er noch so kräftig, ohne Fackel und lässt ihn vorzeitig altern“ (Werke und Tage, 695). 19 Auf derselben Linie schreibt Euripides: P265F
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Zu diesem Ausdruck vgl. BALLA, Ben Sira on Family, 58–60. Vgl. im Unterschied dazu den hebräischen Text der Handschrift B im zweiten Halbvers (der erste ist verderbt): „... aber mehr als beide ist eine verständige Frau (ʺʬʫʹʮʤʹʠ)“. Vgl. im Manuskript Bmg (Randnotiz): ʤʹʴʨ, „verrückt“. John J. COLLINS, Jewish Wisdom in the Hellenistic Age (OTL; Louisville: Westminster John Knox Press, 1997), 67 und Charles MOPSIK, La Sagesse de ben Sira: Traduction de l’hébreu, introduction et annotation par Charles Mopsik (Collection „Les Dix Paroles“; Paris: Verdier, 2003), 173, Anm. 2. Martin L. WEST (Hg.), Hesiod, Works and Days: Edited with Prolegomena and Commentary by M. L. West (Oxford: Clarendon Press, 1978), 129. Deutsche Übersetzung von Otto
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„Schrecklich ist die Gewalt der Meeresbrandung, schrecklich das Ungestüm der Flüsse und der glühende Hauch des Feuers, schrecklich die Armut und tausend andere Dinge, aber von allen Unglücksfällen ist der schrecklichste die Frau“ (Fragmente, 1059). 20 Viel später formuliert der Midrasch zu Psalm 59,2: „Wenn eine Frau eine schlechte Ehefrau ist, hat ihre Schlechtigkeit kein Ende“ 21, um nur einige Beispiele zu zitieren. 2.1.1 Kommunikative Strategien Als guter Lehrmeister und Pädagoge benutzt Ben Sira verschiedene kommunikative Strategien, um seine Lehre zu übermitteln und seine Zuhörerschaft zu überzeugen. In den zwei längeren Kompositionen über die schlechten Ehefrauen, 25,13–26 und 26,5–12, ragen der gewiss geistreiche Gebrauch der grammatikalischen Personen und die Konzentration von Bildern heraus (letztere werden im folgenden Unterpunkt behandelt). In beiden Abschnitten überwiegen Sentenzen, allgemeiner oder konkreter Art, die in dritter Person in deutlich sprichwortartigem Stil ausgedrückt werden: „Keine Wunde ist wie die des Herzens, keine Schlechtigkeit ist wie die der Frau“ (25,13), „Ein schlecht angelegtes Ochsenjoch ist die böse Frau, wer sie besitzt, ist wie einer, der einen Skorpion ergreift“ (26,7). Zwischen die Sentenzen sind Ratschläge eingefügt, die an den Schüler in der zweiten Person gerichtet und negativ formuliert sind: „Erlieg nicht der Schönheit einer Frau und begehre sie nicht wegen ihres Vermögens“ (25,21); „Gib dem Wasser keinen Abfluss noch Vertrauen einer bösen Frau“ (25,25)22; und positiv formuliert: „Wache gut über der widerspenstigen Tochter/Ehefrau“ (26,10); „Hüte dich gut vor der, die schamlos dreinblickt“ (26,11). Ausgerechnet einer dieser Ratschläge bildet den Höhepunkt der ersten Komposition, in der Ben Sira nicht zögert, dem Ehemann die Scheidung zu empfehlen, wenn die Frau sich weigert, sich seinem Willen zu unterwerfen: „Wenn sie deinen Wünschen nicht folgt (wörtlich: wenn sie nicht nach deiner Hand geht), trenne sie ab von deiner Seite“ (25,26). 23 Unserem Urteil zufolge aber beruht die rhetorische Kraft des Textes auf dem Gebrauch der ersten Person Singular: „Ich ziehe es vor, mit einem Löwen oder Drachen zusammenzuwohnen, anstatt mit einer bösen Frau“ (25,16). Mit diesem Stilmittel,
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Schönberger, Hesiod, Werke und Tage: Griechisch/Deutsch (Reclam 9445; Stuttgart: Reclam, 1996), 53. August NAUCK, Tragicorum Graecorum Fragmenta: Supplementum adiecit Bruno Snell (Hildesheim: Georg Olms Verlagsbuchhandlung, 1964), 695 (eigene Übersetzung). The Midrash on Psalms (vol. 1), translated from the Hebrew and Aramaic by William G. Braude (Yale Judaica Series 13; New Haven: Yale University Press, 31976), 509 (eigene Übersetzung). Vgl. auch Papyrus Insinger VIII,10 (LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom Literature, 204). Weitere Beispiele in 7,26; 9,2; 33,20ab; 37,11a. Siehe Nuria CALDUCH-BENAGES, „‚Cut Her Away from Your Flesh‘: Divorce in Ben Sira“, in Studies in the Book of Ben Sira: Papers of the Third International Conference on the Deuterocanonical Books, Shime‘on Centre, Pápa, Hungary, 18-20 May, 2006 (hg. v. Géza G. Xeravits und József Zsengellér; JSJSup 127; Leiden: Brill, 2008), 81–95; 90–92.
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das häufig im Buch vorkommt, 24 macht der Weise nicht nur seine eigene Meinung öffentlich (die in abgemilderter Form in 25,19b erscheint), sondern drängt sich auch seinen Schülern als Autorität auf, für die die Worte des Meisters besondere Bedeutung haben. Seine Unterweisung beruht nicht allein auf dem Erbe der Tradition oder der volkstümlichen Weisheit, sondern auf seiner persönlichen Erfahrung. Diese ist es, die seinen Worten auf besondere Art Glaubwürdigkeit verleiht. Mehr noch, in 25,24 – diesmal in der ersten Person Plural – spricht Ben Sira als bevollmächtigter Meister und scheint sich darüber hinaus zum Sprecher aller Ehemänner zu machen. Dies gilt, wenn wir die von Jack Levison vorgeschlagene Deutung akzeptieren, die im Text keinen Bezug auf die Sünde Evas sieht (vgl. Gen 3,6), sondern ihn direkt auf den Kontext bezieht: „Von der Frau (und zwar: der schlechten) (stammt) der Anfang der Sünde, und ihretwegen sterben wir alle (und zwar: wir Ehemänner).“ 25 2.1.2 Die Beschreibung der schlechten Ehefrau In 25,13–26 und 26,5–12 legt Ben Sira der „schlechten“ Ehefrau weitere Attribute bei, mit denen er ein genaueres Porträt unserer Protagonistin zeichnet. Er beschreibt sie als geschwätzig (25,20: ʯʥʹʬ ʺʹʠ, ·ΏΝΗΗЏΈΖǼ, eifersüchtig auf andere Frauen (26,6: ΦΑΘϟΊΏΓΖȱ πΔϠȱ ·ΙΑ΅ΎϠǼǰ trunksüchtig (26,8: ΐνΌΙΗΓΖ), unzüchtig/ehebrecherisch (26,9: ΔΓΕΑΉϟ΅ȱ ·ΙΑ΅ΎϲΖǼǰ unbelehrbar (26,10: πΔϠȱ ΌΙ·΅ΘΕϠȱ ΦΈ΅ΘΕνΔΘУ) 26 und schamlos (26,11:ȱΦΑ΅ΈΓІΖȱϴΚΌ΅ΏΐΓІǼǯ Mit Ausnahme des ersten gehören die Attribute zur sexuellen Sphäre oder sind durch den Kontext mit ihr verbunden. So kann zum Beispiel die Eifersucht zwischen Frauen von sexuellen Fragen motiviert sein, die Trunksucht wird mit unanständigem Benehmen und unerlaubten Beziehungen assoziiert (26,8b; vgl. 9,9; 19,2), und die Widerspenstigkeit der Ehefrau wird auf die Kränkung des Ehemannes auf sexuellem Gebiet bezogen (vgl. 26,11a). So versteht es Luis Alonso Schökel, wenn er übersetzt: „Wache gut über dem schamlosen (anstatt: dem unbelehrbaren) Mädchen (das heißt: der Ehefrau), damit sie nicht die Gelegenheit zum Herumhuren ausnutzt“ (26,10). 27 Schließlich ist es die böse Ehefrau, die ihren Mann ökonomisch unterhält (25,22) und ihn nicht glücklich macht (25,23). In diese Kategorie gehört auch die „gehasste“ oder „verhasste“ Ehefrau (ʠʤʥʰʹ, ΐΗΓΙΐνΑϙ), das heißt die weniger geliebte Frau, möglicherweise in einer bigamen Ehe, oder aber die verabscheute und unerwünschte, die schließlich vom Ehemann verstoßen wird. So oder 24
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Vgl. Jan LIESEN, „Strategical Self-references in Ben Sira“, in Treasures of Wisdom: Studies in Ben Sira and the Book of Wisdom: Festschrift M. Gilbert (hg. v. Nuria Calduch-Benages und Jacques Vermeylen; BETL 143; Leuven: Peeters, 1999), 63–74. Siehe Jack LEVISON, „Is Eve to Blame? A Contextual Analysis of Sirach 25:24“, CBQ 47 (1985): 617–623. Zu einer abweichenden Meinung vgl. die jüngste Studie von Teresa Ann ELLIS, „Is Eve the ‚Woman‘ in Sirach 25:24?“, CBQ 73 (2011): 723–742. Auch wenn der griechische Text von der Tochter spricht, kann diese Bezeichnung gemäß dem semitischen Gebrauch (vgl. Gen 30,13; Spr 31,29) die Ehefrau meinen, vgl. Antonino MINISSALE, Siracide (Ecclesiastico) (Nuovissima versione della Bibbia dai testi originali 23; Roma: Paoline, 1980), 135. Vgl. Luis ALONSO SCHÖKEL, Proverbios y Eclesiástico (Los Libros Sagrados VIII.1; Madrid: Cristiandad, 1968), 238.
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so ist der Rat, den der Weise dem Ehemann gibt, heftig: „Vertraue ihr nicht!“ (vgl. 7,26) 28. Wie oben bemerkt, ist der Gebrauch der Bilder ein charakteristisches Merkmal des Textes. Ben Sira benutzt sie, um seine junge Zuhörerschaft zu beeindrucken und sie auf den Augenblick vorzubereiten, wenn sie eine Ehefrau wählen. Die Fülle von Bildern, die aus der Tierwelt genommen sind, sticht hervor. 29 Mit Ausnahme des Ochsen sind die Tiere, die in Bezug auf die böse Ehefrau erwähnt werden, äußerst gefährlich: die Schlange, der Löwe, der Drache, der Bär und der Skorpion. 30 In zwei gewagten Hyperbeln setzt Ben Sira das Gift der Schlange mit dem Hass der Frau gleich (25,15) und gesteht, lieber mit Löwen und Drachen leben zu wollen als mit einer bösen Frau (25,16). 31 Dieser zuletzt genannte Text erinnert uns an die gewiss milderen Aphorismen von Spr 21,9.19; 25,24. Während es mühselig, aber doch durchführbar ist, „in der Wüste zu leben“ (Spr 21,19) oder „in einer Ecke des Daches“ (Spr 21,9; 25,24), bringt der in Sir 25,16 gebrauchte Vergleich zum Ausdruck, dass das Zusammenleben mit der bösen Frau etwas völlig Unmögliches ist. Das Bild des Bären, verknüpft mit seiner sprichwörtlichen Wildheit (vgl. 1 Sam 17,34; 2 Sam 17,8), spiegelt sich im düsteren Gesicht der bösen Frau wider (25,17). In 26,7 scheint das schlecht sitzende Ochsenjoch (das Stöße verursacht) an 25,8 zu erinnern, wo auf die Unverträglichkeit zwischen Eheleuten angespielt wird. Dort fällt die Schwierigkeit allein auf die Frau zurück, die eine ständige Störung für den Mann darstellt. Eine böse Frau unter Kontrolle halten zu wollen, ist, als wolle man einen Skorpion ergreifen. Es handelt sich um ein mühsames und riskantes Unterfangen, denn dieses kleine Tier ist ständig in Bewegung, und sein Stachel enthält tödliches Gift (vgl. Dtn 8,15). Andere Metaphern beziehen sich auf den menschlichen Körper. Die Schlechtigkeit der Frau zeigt sich nicht nur in ihrem Aussehen (25,17), sondern hat Auswirkungen auf die Gesundheit des Ehemannes: Bewegungslose Hände machen ihn zur Arbeit unfähig, und zitternde Knie hindern ihn daran, sich agil und sicher zu bewegen (25,23). Durch die Schuld einer bösen Ehefrau wird sein Leben zu einem mühseligen Marsch auf bewegtem Gelände („sandiger Aufstieg für alte Füße“ 25,20), das heißt ein Unterfangen, dem die Festigkeit fehlt,32 ohne Zukunftsperspektive, immer von den Umständen des Augenblicks abhängig. Die Lehre des Weisen schließt in 26,12 mit einer Reihe suggestiver und doppeldeutiger Bilder für das maßlose sexuelle Verlangen der bösen Ehefrau, die an das promiskuitive Verhalten Jerusalems in Ez 16,25 erinnern. Wie die sich prostituierende 28 29
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Zu diesem Vers vgl. CALDUCH-BENAGES, „‚Cut Her Away from Your Flesh‘“, 86–88. Vgl. die Unterweisung Anchscheschonqis (15,11–12): „Wenn ein Mann nach Parfüm riecht, ist seine Frau (wie) ein Affe vor ihm: Wenn ein Mann betrübt ist, ist seine Frau (wie) eine Löwin vor ihm“ (Übersetzung von Heinz J. Thissen in TUAT III/2 [1991], 265; vgl. LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom Literature, 80). Vgl. ferner 26,25, nur Syr und GrII: „Eine zügellose Frau ist einer Hündin gleich zu achten.“ Vgl. EGGER-WENZEL, „‚Denn harte Knechtschaft und Schande ist es…“, 29–30. Víctor MORLA ASENSIO, Eclesiástico: Texto y Comentario (El Mensaje del Antiguo Testamento 20; Estella: Verbo Divino et al., 1992), 134.
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Stadt bietet sich die schlechte Ehefrau jedem beliebigen Mann an, den sie auf dem Weg trifft: „Wie ein durstiger Wanderer seinen Mund öffnet und von jeder Quelle trinkt, die er findet, so setzt sie sich vor jedem Pflock nieder und öffnet jedem Pfeil ihren Köcher.“ 2.1.3 Der Ehemann der bösen Frau Der Ehemann der bösen Frau ist im Text bis zum Überdruss gegenwärtig. Er findet sich allenthalben, sei es in expliziter Form („ihr Mann“ dreimal, „friedfertiger Mann“ einmal), sei es implizit. Erinnern wir uns daran, dass ein Ehemann die Lehre erteilt (ich, wir) und dass sie an andere Männer gerichtet ist, die entweder schon verheiratet sind oder noch keine Ehefrau gewählt haben (du). In seiner Lehre betont Ben Sira die physischen und psychologischen Auswirkungen, die das Zusammenleben mit der bösen Frau auf den Ehemann hat: Ihm fehlen die Kräfte, und die Traurigkeit erobert sein Herz, wenn er sich unter Freunden befindet (25,18.23Hb und Gr). Mit ihrem aufreizenden Verhalten und ihrer bissigen Sprache (25,20; 26,6–7) entreißt die Ehefrau ihm das Glück. Daher rät der Weise, Leidenschaft für eine böse Frau zu vermeiden, erst recht, wenn diese schön oder reich ist (25,21). 33 Denn die Ehre des Ehemannes wird befleckt werden, wenn er gezwungen ist, von ihrem Vermögen abhängig zu sein.34 Ein solcher Zustand war für die damalige Mentalität unvorstellbar und darum wird von dem Weisen als „harte Sklaverei“ 35 und „große Schande“ gedeutet. Auch ist die Ehre des Ehemannes ernsthaft bedroht, wenn seine Frau dem Laster des Alkohols verfällt (26,8) oder im schlimmsten Fall unerlaubte Beziehungen zu anderen Männern unterhält, um ihr sexuelles Begehren zu stillen (26,9–12). Es ist also klar, dass der Ehemann die böse Frau unter Kontrolle halten muss. Es reicht, an Salomos Schicksal zu erinnern, und an die Schande, die es für ihn bedeutete, den Frauen zu erliegen, seine Autorität über sie zu verlieren und, das Schlimmste von allem, von ihnen kontrolliert zu werden (47,19). Mit anderen Worten, der Weise beschreibt uns „einen von Frauen ‚entmannten‘ Mann“ 36. Um zu vermeiden, dass sich diese blamable Geschichte wiederholt, gibt Ben Sira dem Ehemann folgende Empfehlungen: der bösen Frau nicht zu vertrauen (25,25; 7,26; 9,2), ihr keine Macht zu geben (33,20ab), ihr zu misstrauen (42,6) oder, als ultima ratio, ihr den Scheidungsbrief auszuhändigen (25,26). Für Judith McKinlay ist die Scheidung die einzige Alternative für den Ehemann, der den Wunsch hat, „die Kontrolle zu behalten und vermutlich auch 33
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Rudolph SMEND, Die Weisheit Jesus Sirach (Berlin: Reimer, 1906), 231: „Die reiche Frau ist Lockspeise und Falle zugleich.“ Vgl. Claudia V. CAMP, „Understanding a Patriarchy: Women in Second Century Jerusalem Through the Eyes of Ben Sira“, in ‚Women Like This‘: New Perspectives on Jewish Women in the Greco-Roman World (hg. v. Amy-Jill Levine; Atlanta: Scholars Press, 1991), 1–40; 29. Dies ist eine mögliche Anspielung auf die Unterdrückung, die die Israeliten in Ägypten erlitten (Ex 1,14; 6,9; Dtn 26,6). Vgl. BALLA, Ben Sira on Family, 150.
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als einer wahrgenommen zu werden, der die Kontrolle behält – um seiner Ehre und seines Rufes willen“. 37 2.2 Gute Ehefrauen In den Abschnitten über gute Ehefrauen taucht zweimal der Ausdruck ʤʡʥʨ ʤʹʠ, „gute Ehefrau“, auf (26,1.3), dem im Griechischen die ·ΙΑχȱΦ·΅Όχ entspricht (26,1.3.16 38; 7,19 39). Die Güte der Ehefrau stellt, wie Burkhard Zapff in seinem Kommentar hervorhebt, nicht so sehr eine moralische Qualität dar, sondern vielmehr „die Vorstellung, dass sich die Frau als lebensförderlich für ihren Ehemann erweist“40. Gewiss ist Ben Sira nicht der erste, der zu erkennen gibt, wie gewinnbringend eine gute Ehefrau für ihren Mann ist (vgl. Spr 31,11–12.23). Diese Vorstellung finden wir auch in der demotischen Lehre Anchscheschonqis: „Eine schöne Frau von edlem Charakter ist (wie) eine Speise, die zur Hungersnot zum Vorschein kommt“ (24,21) 41, oder bei Hesiod: „Ein Mann gewinnt ja nichts Besseres als eine gute Gattin“ (Werke und Tage, 695) 42 und bei Theognis: „Nichts, Kyrnos, ist angenehmer als eine gute Ehefrau“ (1225). 43 P286F
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2.2.1 Kommunikative Strategien Die kommunikativen Strategien, die in den Texten über die guten Ehefrauen hervorstechen, sind der Makarismus oder die Seligpreisung in 26,1–4, der ausschließliche Gebrauch der dritten Person und der neuartige Charakter einiger Bilder in 26,13–18 und 32,21–17 (vgl. den folgenden Unterpunkt). Es überrascht, dass der erste Vers eines Gedichts, das der guten Ehefrau gewidmet ist, eine Aussage über das Glück des Mannes enthält. 44 Anstelle von „Glücklich der Ehemann einer guten Frau“ (so die gängige Übersetzung von 26,1 nach dem griechischen Text, vgl. 25,8c) sollte man etwas erwarten wie: „Glücklich die gute Frau, denn …“. So fiele die Betonung auf die vorgebliche Protagonistin und nicht auf ihren Mann. Man muss anmerken, dass der hebräische Text von Manuskript C (und auch der syrische) eine betonende Wortstellung verwendet: „Die gute Frau, glücklich ihr 37 38 39 40 41
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Vgl. MCKINLAY, Gendering Wisdom the Host, 171. MsC: ʤʴʩ [ʤʹ]ʠ „schöne Ehefrau“. *UȖȣȞĮȚțઁȢıȠijોȢțĮ ਕȖĮșોȢ0V$ʤʹʠʺʬʫʹʮ. Burkard M. ZAPFF, Jesus Sirach 25–51 (NEchtB 39; Würzburg: Echter, 2010), 150. Übersetzung von Heinz J. Thissen in TUAT III/2 (1991), 274; vgl. LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom, 89. WEST, Hesiod, Works and Day, 129 (Übersetzung von Otto Schönberger, Hesiod, Werke und Tage, 53). Martin L. WEST (Hg.), Iambi et elegi graeci ante Alexandrum cantati, vol. I: Archilochus, Hipponax, Theognidea (Oxford: Oxford University Press, 21989), 233 (eigene Übersetzung). Für Claudia Camp wiederum „geht es nicht darum, dass er sich innerlich glücklich fühlt, sondern eine Ehre erreicht hat, die sozialer Anerkennung wert ist“ (vgl. CAMP, „Understanding a Patriarchy“, 24).
Gute und schlechte Ehefrauen im Buch Jesus Sirach
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Ehemann“. Auf jeden Fall ist wichtig, dass dieser anfängliche Makarismus den Rhythmus von 26,1–4 vorgibt, der, unterbrochen von 26,5–12 (über die schlechte Ehefrau), in 26,13–18 von Neuem aufgenommen wird. Wir haben gesehen, dass die Texte über die schlechten Ehefrauen durch den abwechselnden Gebrauch der grammatikalischen Personen und besonders die Gegenwart des „Ich“ (wir) des Weisen charakterisiert werden. Das ist in den Abschnitten über die guten Ehefrauen anders, denn in ihrer Mehrzahl sind sie in einem unpersönlichen Stil formuliert, Aussagen in der dritten Person werden durch gelegentliche rhetorische Fragen variiert, wie zum Beispiel in 36,26Gr. Die einzigen Ausnahmen sind die Empfehlungen, die in 7,19 direkt an den Ehemann/Schüler gerichtet sind: „Schicke eine verständige Ehefrau nicht fort“ (Hb), „Wende dich nicht ab von einer weisen und guten Frau …“ (Gr), oder in 9,1: „Sei nicht eifersüchtig wegen der Frau deiner Jugend …“. Mit anderen Worten, der persönliche und in hohem Maße eindringliche Ton der Unterweisung über die schlechte Ehefrau ist verschwunden und hat einer Reflexion Raum gegeben, die einen sprichwörtlichen, objektiveren und folglich für die Zuhörerschaft weniger beeindruckenden Charakter hat. Auch hier hätten wir gerne die Stimme des Weisen direkt gehört. Er hat es aber vorgezogen – wir wissen nicht, aus welchen Gründen –, sich in indirekter, weniger leidenschaftlicher Art auszudrücken. 2.2.2 Die Beschreibung der guten Ehefrau In 26,1–4.13–18 und 36,21–27 erhält die gute Ehefrau weitere Attribute wie „stark, tatkräftig“ (26,2: ʬʩʧ ʤʹʠ, ·ΙΑχȱ ΦΑΈΕΉϟ΅) 45, „bezaubernd/anmutig“ (26,13a: ʤʹʠ [ʯʧ], ΛΣΕΖȱ ·ΙΑ΅ΎϲΖ), „umsichtig“ (26,13b: ʤʬʫʹ, ψȱ πΔΗΘφΐȱ ΅ЁΘϛΖ), „schweigsam“ (26,14: ·ΙΑχȱ Η·ΕΣ), „schön“ (26,15: ʤʴʩ ʤʹʠ; vgl. „die Schönheit einer Frau“, ʤʹʠ ʸʠʥʺ in 36,22); „schönes Gesicht“ (26,17: ΎΣΏΏΓΖ ΔΕΓΗЏΔΓΙ) und „hübsche Füße/Beine“ (26,18 ΔϱΈΉΖ БΕ΅ϧΓ); „bescheiden“ (26,15:ȱ ·ΙΑχȱ ΅ϢΗΛΙΑΘΕΣ), „von keuschem Gemüt“ oder „die sich zu beherrschen weiß“ (26,15: π·ΎΕ΅ΘΓІΖ ΜΙΛϛΖ), „von friedfertiger und wohltuender Sprache“ (36,23: ʠʴʸʮ ʯʥʹʬ) und „mitfühlend und freundlich/sanft“ (36,23: πΔϠ ·ΏЏΗΗΖȱ ΅ЁΘϛΖȱ σΏΉΓΖȱ Ύ΅Ϡȱ ΔΕ΅ЉΘΖ). Ziehen wir den Rest des Buches in Betracht, dann wird die gute Ehefrau auch als „verständig“ beschrieben (7,19; 25,8 ·ΙΑ΅ΎϠ ΗΙΑΉΘϜ; 40,23: ʺʬʫʹʮ ʤʹʠ), als „weise“ (7,19:ȱ ·ΙΑ΅ΎϠ ΗΓΠϛΖ), „bescheiden“ (40,19: ʺʷʹʧʰ ʤʹʠ) und „unbescholten/ohne Schuld oder Fehler“ (40,19: ·ΙΑχȱΩΐΡΐΓΖ). Aus diesem kurzen Durchgang durch das Vokabular geht auf den ersten Blick hervor, dass die Schönheit diejenige Eigenschaft ist, die an der guten Ehefrau am meisten geschätzt wird. In 36,21–27 zum Beispiel steht sie nicht nur an der Spitze der Attribute, sondern wird auch superlativisch beschrieben („sie übertrifft alles Wünschenswerte“). Während Ben Sira in diesen Texten allein und ausschließlich die positive Seite der weiblichen Schönheit herausstellt (vgl. auch 7,19), warnt er bei anderen Gelegenheiten auch vor ihren Gefahren (9,8; 25,21; 42,12). Selbstverständlich ist in beiden Fällen die Perspektive immer die des Mannes/Gatten. Zusammen mit der Schönheit verdient die Tugend der Verschwiegenheit besondere Aufmerksamkeit, die 45
Ebenso in 28,15 (im Plural).
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traditionellerweise von den Weisen gepriesen wird. Das Überraschende ist, dass sie das einzige Attribut ist, das von einer ausdrücklichen Erwähnung Gottes begleitet wird: „Eine schweigsame Frau ist eine Gottesgabe“ (26,14; vgl. 26,3). Für den syrischen Menander ist die Bändigung der Zunge ein entscheidendes Kriterium für die Wahl der Ehefrau: „Und wenn du eine Frau nehmen willst, stelle erst Nachforschungen über ihre Zunge an, und verheirate dich (erst) danach. Denn eine geschwätzige Frau ist die Hölle und … ein böser Mann eine tödliche Plage“ (Sentenzen, 118–122). 46 Und in einem Einzeiler des griechischen Dichters Menander, des Hauptvertreters der Neuen Komödie, lesen wir: „Die Verschwiegenheit ist der Schmuck einer jeden Frau“ (83).47 Neben den charakteristischen Begriffen geben die Bilder reichlich Auskunft über die gute Ehefrau. Inspiriert von Spr 19,14 („Haus und Besitz sind das Erbe der Eltern, eine verständige Frau gewährt JHWH“) vergleicht Ben Sira die gute Ehefrau mit einem „großzügigen Geschenk“ (einem guten Los oder guten Anteil), das Gott dem gewährt, der ihn fürchtet, das heißt, einem guten und frommen Ehemann (26,3). Von anderer und ganz unterschiedlicher Art ist das Bild des „versiegelten Mundes“, das wir in 26,15 antreffen. Tatsächlich handelt es sich um ein ambivalentes Bild, denn es kann sich auf die Kontrolle über die Zunge oder auf die Keuschheit der Ehefrau beziehen, die ihre Sexualität nicht außerhalb der Ehe leben darf.48 Letztere Bedeutung lässt sich in der griechischen Übersetzung erahnen, die das Bild durch den Ausdruck „Person oder Charakter mit Selbstbeherrschung“ ersetzt, was auf die „bescheidene Frau“ des ersten Halbverses zurückweist. Die gute und schöne Ehefrau ist so attraktiv, dass sie in 26,15a mit dem großartigen Schauspiel verglichen wird, das die Sonne bietet, wenn sie über den Höhen aufgeht.49 Die ungewöhnlichsten Bilder sind ohne Zweifel die, die in 26,17–18 als Abschluss des Abschnitts 26,13–18 erscheinen. Das bringt Charles Mopsik so zum Ausdruck: „Der Vergleich der Schönheit und des Anmuts der Ehefrau dessen, der Gott fürchtet, mit den heiligen Gegenständen des Jerusalemer Tempels ist ganz außergewöhnlich in der antiken hebräischen Literatur“. 50 Sehen wir uns den Text in der griechischen Ausgabe an: 17 Wie das Licht, das auf dem heiligen Leuchter erstrahlt, ist die Schönheit (ihres) Gesichts 51 auf graziler Gestalt. 18 Wie goldene Säulen auf silberner Basis sind schöne Beine auf festen Fersen. 52 46
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Tjitze BAARDA, „The Sentences of the Syriac Menander (Third Century A. D.): A New Translation and Introduction“, in The Old Testament Pseudepigrapha, vol. 2 (hg. v. James H. Charlesworth; Garden City: Doubleday, 1985), 583–606; 595 (eigene Übersetzung). LICHTHEIM, Late Egyptian Wisdom Literature, 50 (eigene Übersetzung). Nach Di Lella ist „versiegelter Mund“ ein Euphemismus für eine „verschlossene Vagina“ (SKEHAN und DI LELLA, The Wisdom of Ben Sira, 350). Das meint auch MOPSIK, La Sagesse de ben Sira, 175. Im zweiten Halbvers weichen hebräischer und griechischer Text beträchtlich voneinander ab. Vgl. dazu BALLA, Ben Sira on Family, 66–67. Siehe MOPSIK, La Sagesse de ben Sira, 176 (Hervorhebung N. C.-B.). Manuskript C liest: „der Glanz eines Gesichts“.
Gute und schlechte Ehefrauen im Buch Jesus Sirach
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Hat der Weise im voranstehenden Vers die gute Ehefrau mit dem edelsten und strahlendsten Gestirn der Natur verglichen (vgl. 43,1–5), so vergleicht er sie jetzt mit den edelsten und strahlendsten Gegenständen des Kults. Wir schreiten also von der kosmischen Ordnung in die religiös-kultische Welt. Das schöne Gesicht der Ehefrau, getragen von einem wohl geformten Körper, glänzt wie das Licht des heiligen Leuchters, und ihre schönen Beine, gestützt von festen Fersen, erinnern an die majestätischen goldenen Säulen des Tempels mit ihren silbernen Säulenbasen. Diese Vergleiche rufen viele Fragen hervor, zum Beispiel: Hat also die Gestalt der guten Ehefrau, wie sie in 26,17–18 beschrieben wird, „etwas Heiliges“? 53 Ist sie in der Lage, der „Liturgie des Herdes“ Würde beizumessen? 54 Warum wird ein solches Gewicht auf die körperliche Schönheit gelegt? Wo sind die menschlichen, moralischen und religiösen Werte der Ehefrau (vgl. demgegenüber Spr 31,10–30)? Sind diese Verse ein echtes Kompliment für die Frau oder übermitteln sie eine andere, weniger schmeichelhafte Botschaft?55 Unserer Auffassung nach verweist die enge Beziehung, die zwischen der Frau und dem heiligen liturgischen Raum hergestellt wird, auf die Rede der Frau Weisheit, genauer auf 24,10–11.15, wo der Weise mittels einer Reihe sehr suggestiver Ausdrücke und Bilder die liturgische Funktion der Protagonistin beschreibt. 56 In 24,10 erklärt sie selbst ihre aktive Teilhabe am kultischen Dienst: „Ich diente im heiligen Zelt vor ihm, und so wurde ich auf dem Zion fest eingesetzt.“ Doch wie McKinlay mit Bezug auf 26,17–18 richtig feststellt, handelt es sich um „ein statisches Bild; in diesen Versen ist die Ehefrau hauptsächlich ein Objekt, das geprüft wird, im Gegensatz zu dem Bild der Weisheit und Simeons, die aktiv an den liturgischen Diensten teilnehmen“ 57. Was Ben Sira lobt, ist in der Tat die Schönheit der Ehefrau, ihres Gesichts, ihres Körpers und implizit ihre sexuelle Attraktivität. Zwischen den Zeilen lässt sich etwas lesen, was der Weise nicht offen sagt: Je schöner die Ehefrau ist, desto mehr wird sie ihr Mann begehren (vgl. 36,22 in Manuskript B: „Die Schönheit einer Frau lässt das Gesicht strahlen und übersteigt jedes menschliche Verlangen [wörtl. des Auges]).“ Schließlich beschreibt der Weise in 36,24–25 die gute Ehefrau mit zwei Bildern, die sich auf das städtische bzw. ländliche Leben beziehen, nämlich als Säule (vertikale Dimension) und Zaun (horizontale Dimension) des Ehelebens. Einerseits legt das Bild der Säule den Gedanken von Unterstützung (Fundament, Erholung) nahe, andererseits das Bild des Zaunes den von Schutz (Sicherheit, Wachsamkeit). 58 Es ist schwierig zu präzisieren, worin konkret die Unterstützung und der Schutz bestehen, denn der Verfasser bietet keinerlei Einzelheiten. Dem Hauptziel von 36,21–27 entsprechend, 52 53 54 55 56
57 58
Der gesamte V. 18 fehlt in Manuskript C. ALONSO SCHÖKEL, Proverbios y Eclesiástico, 238. MORLA ASENSIO, Eclesiástico, 136. Vgl. SKEHAN und DI LELLA, The Wisdom of Ben Sira, 351. Vgl. Nuria CALDUCH-BENAGES, „Aromas, fragancias y perfumes en el Sirácida“, in Treasures of Wisdom: Studies on Ben Sira and the Book of Wisdom: Festschrift Maurice Gilbert (hg. v. Nuria Calduch-Benages und Jacques Vermeylen; BETL 143; Leuven: Peeters, 1999) 15–30. Vgl. MCKINLAY, Gendering Wisdom the Host, 172. MORLA ASENSIO, Eclesiástico, 180.
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Kriterien für die Wahl einer Ehefrau anzugeben, verstehen wir den Text auf jeden Fall so, dass die angeführten Bilder nur die entscheidende Bedeutung einer Frau im Leben eines Mannes hervorheben wollen. Die Rabbinen lehrten, „wer keine Ehefrau hat, lebt ohne Wohltat, ohne einen, der ihm hilft, ohne Heiterkeit, ohne Segen und ohne Vergebung“ (Midrasch Gen. Rab. 17,2 zu Gen 2,18). 59 2.2.3 Die Beziehung einer guten Ehefrau zum Ehemann Leser und Leserin stellen also fest, dass die gute Ehefrau nicht für den ihr innewohnenden Wert, als Person, gepriesen wird, sondern in Bezug auf das, was sie für den Mann ist, tut und bedeutet. Ebenso wie in den Texten über die schlechte Ehefrau spürt man hier die Gegenwart des Mannes mit Macht, entweder ausdrücklich („[ihr] Ehemann“ viermal, „Mann“ zweimal) oder impliziter durch männliche Pronomen oder Adjektive. Tatsächlich ist nicht so sehr die gute Ehefrau das Hauptthema der untersuchten Texte, vielmehr geht es um die Vorteile, die ihr Mann durch sie empfängt. Da nicht alle Männer eine solche Ehefrau verdienen, gewährt Gott sie dem Mann, der ihn fürchtet (26,3.14). Es handelt sich um ein unschätzbares Geschenk, kostbarer als Korallen und Gold, ein so wertvolles Geschenk, dass es keinen Kaufpreis hat (7,19; 26,14.15; vgl. Spr 31,10). Es ist ein Segen, der sich in einem langen, friedvollen und genussreichen Leben auswirkt (26,1–2). Die Güte der Ehefrau ist ein Wert, der die ökonomischen Möglichkeiten des Mannes übersteigt, sie hat positive Auswirkungen auf seinen körperlichen wie seelischen Zustand –, unabhängig davon, ob er reich oder arm ist: Heiterkeit ergießt sich in sein Herz und spiegelt sich in seinem Gesicht wider (26,2.4; 36,22). Anders betrachtet, erfreut die gute Frau ihren Ehemann mit ihrem körperlichen Zauber (oder mit ihrer Liebenswürdigkeit) und lässt ihn durch ihre Übersicht und ihr Geschick ökonomisch prosperieren (26,13; vgl. 40,19cd). Es ist unmöglich, sich nicht an das Gedicht über die starke Frau in Spr 31 zu erinnern, besonders an V. 11–12: „Ihr Mann vertraut auf sie, so fehlt es ihm nie an Reichtümern. Sie bringt ihm Gewinn und keinen Verlust alle Tage seines Lebens.“ 60 Bezaubert von ihrer Schönheit, ihrer Bescheidenheit, ihrem sanften und liebenswerten Reden 61 oder von ihrem Schweigen verwandelt sich der Mann in ein außergewöhnliches Wesen, das einmalig unter dem Rest der Sterblichen ist, in eine Art Engel auf Erden (36,23). Deshalb formuliert Ben Sira: „Wer eine Ehefrau erwirbt (gedacht ist an eine gute Ehefrau), macht den Anfang für ein Vermögen, eine Hilfe und eine stützende Säule“ (36,24). Der Mann braucht sie, um ein Heim, eine Familie, eine Nachkommenschaft zu schaffen, vor allem aber, um sozial anerkannt zu werden, denn die Ehefrau
59
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Midrash Rabbah translated into English with Notes, Glossary and Indices under the Editorship of Rabbi Dr. M. Freedman and Maurice Simon, vol. 1 (London: The Soncino Press, 3 1961), 132 (eigene Übersetzung). Vgl. zu diesem Gedicht den Beitrag von Christl M. Maier, Abschnitt 2.1, in diesem Band. Nach Alonso Schökel ist die gute Ehefrau eine Frau, „die zärtlich spricht“, vgl. ALONSO SCHÖKEL, Proverbios y Eclesiástico, 274.
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ist, wie Maurice Gilbert zu Recht betont, das „Prinzip der sozialen Integration“ 62. Mit Sicherheit erhielt der Ehemann der „starken Frau“ im Buch der Sprichwörter soziale Anerkennung. Von ihm heißt es: „Er ist geachtet in den Toren, wenn er sich unter die Ältesten der Stadt setzt“ (Spr 31,23). Die andere Seite der Medaille beschreibt der Weise in Sir 36,25–27, in drei Versen, die man folgendermaßen zusammenfassen könnte: Wer vertraut einem Herumtreiber, ohne Frau, ohne Familie und ohne Heim? Und schon weiß der junge Schüler Bescheid und, so ist anzunehmen, hat die Botschaft verstanden.
3. Schlussfolgerung Ein kurzer Vergleich der Texte, die sich mit der schlechten und der guten Ehefrau befassen, liefert die Ergebnisse, die wir im Folgenden zusammentragen. Unserer Auffassung nach scheint Ben Sira an der schlechten Ehefrau mehr interessiert zu sein als an der guten. Tatsächlich nimmt die schlechte Ehefrau nicht nur einen hervorgehobenen Platz in seiner Unterweisung ein (den ersten in der Reihenfolge, vgl. 25,13–26), sondern erhält auch viel mehr Aufmerksamkeit (vgl. die Zahl der Verse, die den beiden jeweils gewidmet sind). Ferner spricht der Weise in einem sehr persönlichen, lebendigen und eindringlichen Stil von ihr. Dasselbe gilt für die Ratschläge und Empfehlungen, die er den Schülern über sie gibt, was in einem auffälligen Kontrast zu dem unpersönlichen und weniger leidenschaftlichen Ton steht, den er anschlägt, wenn er sich auf die gute Ehefrau bezieht. Sprach der Weise aus Erfahrung? Gehört seine Frau zur Kategorie der „schlechten“ Ehefrauen? Sicher wissen wir das nicht, aber die Texte weisen in diese Richtung. Allerdings stellt der Weise beide Ehefrauen, die gute und die schlechte, nach denselben Kriterien dar, nämlich mit Bezug auf die äußere Erscheinung, die Kontrolle über die Zunge und ihr Verhalten im sexuellen Bereich (was im Fall der schlechten Ehefrau stärker betont wird), soweit diese drei Aspekte sich positiv oder negativ auf das persönliche und gesellschaftliche Leben des Ehemannes auswirken. Daher ist der Bezugspunkt aller behandelten Texte nicht, wie zu erwarten wäre, die gute oder schlechte Gestalt der Ehefrau, sondern die ihres Mannes in seiner umfassenden Rolle als pater familias. Die Klassifizierung, die Ben Sira vorschlägt, funktioniert also auf die folgende Weise: Die Ehefrau ist gut, wenn sie für den Mann gut ist, und schlecht, wenn sie für den Mann schlecht ist. Dieselbe androzentrische Sicht findet man in der Einleitung zum Kommentar von Hilaire Duesberg und Irénée Fransen: „Es wäre interessant zu wissen, ob Ben Sira in seiner Familie glücklich war oder nicht.“ Sie fahren fort: „Er hat zu uns von beiden Fällen mit derselben Anschaulichkeit gesprochen. Aus seiner Eloquenz lässt sich nichts ableiten, weder im einen noch im anderen
62
Maurice GILBERT, „Ben Sira et la femme“, RTL 7 (1976): 426–442; 438.
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Sinn“ 63, was nebenbei bemerkt nicht ganz präzise ist. Die beiden Fälle, auf die sich die Autoren beziehen, sind selbstverständlich die des Ehemannes, der in seiner Ehe glücklich oder unglücklich ist. Ben Sira besteht auf der patriarchalen Kontrolle über die Frau, besonders über die Ehefrau. Mit Gemeinplätzen, die in allen Kulturen auf Frauen angewendet werden (Schönheit, Bescheidenheit, Verschwiegenheit und Sanftmut), wird die gute Ehefrau dazu aufgerufen, der Autorität ihres Ehemannes unterwürfig zu folgen, ihm in allem zu gefallen und insbesondere seine Ehre mit ihren Worten, Gesten und ihrem Verhalten nicht zu gefährden. Mit anderen Worten: Die Ehefrau wird als effektive Unterstützung angesehen, die trotzdem ständig unter Kontrolle bleiben muss. Und wer die Kontrolle hat, hat die Macht. Wie soll man über die Gedanken und die Lehre des Weisen über die Ehefrauen urteilen? Wie soll man seine scheinbar harmlose Unterscheidung in „gute und schlechte Ehefrauen“ beurteilen? Unserer Auffassung nach darf man die Antwort nicht allein und ausschließlich in der aufbrausenden Frauenfeindlichkeit des Weisen suchen, eventuell in Verbindung mit einer negativen familiären Erfahrung; auch nicht in der Mentalität und den Sitten, die einer Gesellschaft und Kultur eigen sind, in der die Frau keine Rechte hatte und vom Mann völlig abhängig war, noch im Einfluss, den die antiken Weisheitstraditionen auf sein Werk hatten.64 Kann es nicht sein, dass Ben Sira diese Einstellung aufrecht erhalten wollte, und sie darum voller Überzeugung seinen jungen Schülern eingeschärft hat? Schließlich würden sie den Auftrag haben, diese Haltung den neuen Generationen weiterzugeben, das heißt, sie in seinem Volk fortzuführen. Ben Sira war nicht der einzige Weise im Jerusalem des 2. Jh.s v. Chr. Tatsächlich repräsentiert er ein Kollektiv, eine Weisheitsgruppe oder -schule, die in Auseinandersetzungen mit anderen steht, die abweichende oder sogar entgegengesetzte Vorstellungen vertreten, wie zum Beispiel die Kreise, die die Henoch-Schriften hervorgebracht haben. Ben Sira steht auch in Auseinandersetzung mit dem vordringenden Hellenismus und bringt seine Alternativen ein.65 Wie schon in der Einleitung erwähnt, nahm Ben Sira keine polemische Haltung gegenüber der hellenistischen Kultur und Philosophie ein, sondern suchte einen Weg der Versöhnung. Vom Anfang bis zum Ende seines Buches hält er ein eindrückliches Gleichgewicht aufrecht – mittels abgewogener Ausdrücke, passender Auslassungen, impliziter Anspielungen und feiner Ironie. Sein Ziel ist es, die authentische Weisheit (Gottesfurcht, Liebe zum Gesetz, zur Tora und zur Tradition) an die neuen Generationen so weiterzugeben, dass die jungen Schüler sich in der gemeinsamen Vergangenheit selbst erkennen und diese als Teil ihrer Identität annehmen können. Im Hinblick auf die Frauen (die Ehefrauen) macht der Weise 63
64
65
Hilaire DUESBERG und Irénée FRANSEN (Hg.), Ecclesiastico (La Sacra Bibbia volgata latina e traduzione italiana dai testi originali illustrate con note critiche e commentate a cura di Mons. Salvatore Garofalo. Antico Testamento sotto la direzione di P. Giovanni Rinaldi C. R. S.; Torino/Roma: Marietti, 1966), 50. Vgl. Silvia SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut: Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften (Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1996), 96–109; 97–98. CALDUCH-BENAGES, „The Absence of Named Women“, 312–313.
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keinerlei Zugeständnis. Eine noch so geringe Veränderung zugunsten der Frauen hätte das patriarchale System, das ihn schützte, wanken lassen, und das wäre allzu gefährlich gewesen. Wer die Kontrolle verliert, verliert die Macht. Aus dem Spanischen übersetzt von Rainer Kessler
Altorientalische Bilder als Schlüssel zu biblischen Metaphern Silvia Schroer Universität Bern (Schweiz) Bezüge zwischen der altorientalischen Kunst und biblischen Texten sind nicht nur für die Genderforschung von Interesse. Es ist grundsätzlich erhellend, diese Zusammenhänge zu prüfen, um ein literarisches Motiv oder Thema religionsgeschichtlich und theologisch präzise zu verorten und die Aussage des biblischen Textes besser zu verstehen. Die theologische und exegetische Genderforschung ist jedoch in besonderer Weise auf außerbiblische Quellen angewiesen, die Informationen über die Geschichte von Frauen oder die Entstehung religiöser Vorstellungen liefern und die oft helfen können, androzentrische Perspektiven biblischer Texte zu durchschauen. In diesem Beitrag wird es nicht um Illustrationen zur Lebenswelt, also die sog. Realienkunde, gehen. Zwar ist es beispielsweise durchaus legitim und wichtig, die Feldszenen im Buch Rut mit ägyptischen Darstellungen von verarmten Frauen in Beziehung zu setzen, die hinter den Schnittern Getreide aufsammeln (Abb. 1). 1 Das Bild aus Ägypten
Abb. 1: Wandmalerei aus dem Grab des Menna (um 1400 v. Chr.). Bei der Gerstenernte auf den Feldern führt Menna, der in einer Hütte sitzt, die Aufsicht über die ArbeiterInnen. Arme, nackte Frauen, die Nachlese halten, geraten in Streit. [STAUBLI, Begleiter, Abb. 12]
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Alle Abbildungen dieses Beitrags sind mit freundlicher Genehmigung des Bibel + Orient Museums Fribourg abgedruckt.
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veranschaulicht dabei eine ähnliche soziale Realität, wie sie auch im Buch Rut vorausgesetzt wird. Die Kenntnis solcher Darstellungen erweitert unser Wissen über das konkrete Leben in antiken Kulturen. Eine innere oder engere Beziehung zwischen dem Buch Rut und dem ägyptischen Bild gibt es jedoch nicht. Bei den im Folgenden ausgewählten Themenkreisen ist das anders. Hier geht es um Bezüge zwischen Texten und Bildtraditionen, die aus der gemeinsamen Teilhabe beider an einem kulturellen Motivschatz resultieren oder die einem Zitat ähnlich sind: Ein Text zitiert quasi eine Bildtradition. Innerhalb der ʭʩʡʥʺʫ sind es besonders die poetischen Schriften, die Psalmen, die Weisheitsbücher und das Hohelied, deren Metaphorik auf Schritt und Tritt ein Fenster zu ikonographischen Traditionen Palästinas/Israels und der umliegenden Kulturen öffnet bzw. von diesen Bildmotiven her besser verständlich wird. 2 Anders als im Fall der Tora sind diese Bezüge nun häufig nicht nur punktuell, sondern an größeren thematischen Komplexen auszumachen. Die Psalmenmetaphern stellen beispielsweise in ihrer Gesamtheit eine Rezeption und Aktualisierung altorientalischer Bildtraditionen dar, ja der Psalter ist als Corpus eine Fundgrube altorientalischer Bildsymbolik. 3 Viele Metaphern, die in der Gebetssprache Israels selbstverständlich vorkommen, sind ohne diesen Hintergrund schwer verständlich. In vielen Fällen sind Genderfragen impliziert, und zwar sowohl auf der Ebene der Menschen- wie auch der Gottesbilder.4 Im Bereich der Schöpfungstheologie bieten gerade die Psalmen viele erstaunliche und in mancher Hinsicht genderrelevante Impulse (Ps 8; 104). 5 Die Einstellung der IsraelitInnen zum Sterbenmüssen und zum Tod, wie sie durchgängig in den Schriften des Ersten Testaments, besonders aber in den Psalmen und noch im Buch Kohelet (3,19–21) festgehalten wird, stellt eine für die feministische Theologie geradezu aktuelle Herausforderung dar. Aber nicht nur die Psalmen sind reich an bildhaften Vorstellungen. Die Gottesreden im Buch Ijob basieren auf ikonographischen Motiven wie dem „Herrn der Tiere” oder dem Kampf des Horus gegen Nilpferd und Krokodil. Auf den ersten Blick ist die Bedeutung der Schöpfungstheologie, die sich mit diesen Motiven P1F
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Die Zusammenhänge zwischen der Ikonographie und biblischen Texten werden auch in jedem Band des Standardwerks Othmar KEEL und Silvia SCHROER, Die Ikonographie Palästinas/Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern (IPIAO) Band I: Vom ausgehenden Mesolithikum bis zur Frühbronzezeit, 2005; Silvia SCHROER, Band II: Mittelbronzezeit (2008); Silvia SCHROER, Band III: Spätbronzezeit (2011) (Freiburg CH: Academic Press) summarisch behandelt. Im Folgenden zitiert als IPIAO I, II, III. Vgl. das Standardwerk von Othmar KEEL, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik: Am Beispiel der Psalmen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 51996). Vgl. zu den offenkundigen und verborgenen weiblichen Gottesbildern Othmar KEEL, Gott weiblich: Eine verborgene Seite des biblischen Gottes (Liebefeld: Bibel + Orient, 2008). Vgl. Othmar KEEL und Silvia SCHROER, Schöpfung: Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen (Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 22008). Auch das gesamte Themenfeld der Tiere in der biblischen Tradition öffnet Zugänge zu einem Menschen- und Weltbild mit interessanten Genderkomponenten; vgl. Silvia SCHROER, Die Tiere in der Bibel: Eine kulturgeschichtliche Reise (Freiburg i.Br.: Herder, 2010).
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verbindet, für feministische Fragestellungen vielleicht wenig evident. Der zweite Blick zeigt aber, wie kritisch dieses Modell sich zu den Schöpfungskonzepten von Gen 1 und Gen 2 verhält, insofern es den Menschen gerade nicht zum Maß und zur Krone der gesamten geschaffenen Welt erklärt.6 Das Hohelied füllt die Erfahrungen und Beschreibungen der Liebenden mit Bildern, die göttliche Schönheit und göttliches Wirken ausdrücken und von traditionsreichen Götterbildern sowohl des Vorderen Orients als auch Ägyptens gespeist sind. 7 Es ist ursprünglich eine Sammlung von Sehnsuchts- und Liebesliedern aus Palästina/Israel. Von der Gattung her sind diese Lieder sehr eng verwandt mit ägyptischer Liebeslyrik des Neuen Reiches. Auch wenn man sie bestimmt an Hochzeiten gern gesungen hat, handelt es sich nicht um eigentliche Hochzeitslieder. Die beschriebene Beziehung zwischen Mann und Frau ist außerhalb oder am Rand der gesellschaftlichen Normen angesiedelt, und findet teilweise nur in der sehnsüchtigen Phantasie statt. So rückt sie in die Nähe der paradiesischen Beziehung von Mann und Frau, wie sie in Gen 2 beschrieben wird, jenseits von oder noch vor den Belastungen einer Wirklichkeit von Familiengründungen, Kinderaufzucht und den Normen ehelicher Beziehungen. Mann und Frau sind in Gen 2 wie im Hohelied in partnerschaftlicher Gleichstellung aufeinander bezogen. Seit der Mittelbronzezeit gibt es Paardarstellungen in der Kunst, die zeigen, dass es neben und trotz der patriarchalen und hierarchischen Gesellschaftsordnung die Erfahrung der Gleichheit der Geschlechter in der Liebe immer gegeben hat. Die Themen und Motive der hebräischen Liebeslieder sind getränkt mit Bildern und Metaphern, die teilweise ägyptischer Herkunft sind und teilweise auf den Motivschatz Vorderasiens zurückgehen. Besonders die Geliebte wird in den Liedern des Hohelieds immer wieder transparent für die Göttinnen Palästinas/Israels, aber auch Syriens, Anatoliens und – etwas seltener – Ägyptens. Die schillernde Theomorphie scheint recht früh ein Verständnis der Texte im Sinn einer Begegnung von Himmel und Erde, Transzendenz und Immanenz motiviert zu haben. Die Erotik hat eine kosmische und religiöse Dimension, die sich aus älteren, in der Kunst manifesten Vorstellungen speist. 8 Die Schriften datieren teilweise in die nachexilische oder gar in die beginnende hellenistische Zeit. Der zeitliche Abstand zu den mythologischen Traditionen und der konkreten darstellenden Kunst, auf die zurückgegriffen wird, kann im Einzelfall groß sein. Der „Herr der Tiere“, eine Gestalt der vorderorientalischen Ikonographie, die seit dem 3. Jt. kontinuierlich bezeugt ist, steht zweifellos hinter dem kunstvoll entfalteten Gottesbild in Ijob 39. In diesem speziellen Fall lässt sich der Nachweis erbringen, dass in der zeitgenössischen, d. h. perserzeitlichen Rollsiegelkunst das Motiv immer noch 6
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Christl MAIER und Silvia SCHROER, „Das Buch Ijob: Anfragen an das Buch vom leidenden Gerechten“, in Kompendium Feministische Bibelauslegung (hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 32007), 192–207. Othmar KEEL, Deine Blicke sind Tauben: Zur Metaphorik des Hohen Liedes (SBS 114/115; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1984); DERS., Das Hohelied (ZBK 18; Zürich: Theologischer Verlag, 1986). Martti NISSINEN, „Die heilige Hochzeit und das Hohelied“, lectio difficilior 1 (2006), online: http://www.lectio.unibe.ch/06_1/nissinen_hochzeit.htm (15.05.2012).
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sehr lebendig war und dass in der Stempelsiegelkunst Palästinas/Israels der „Herr der Tiere“ ebenfalls bezeugt ist. Man kann also annehmen, dass die Verfasser des Ijobbuches das Bild und konkrete Artefakte aus eigener Anschauung kannten. Nicht immer lassen sich die Motivketten so lückenlos aufzeigen. Die scherzende Weisheit in Spr 8,22–31 geht auf „Vorbilder“ in der Kunst Syriens und Ägyptens zurück, aber welche Darstellungen die Verfasser dieses Textes konkret vor Augen hatten, und ob sie sie aus eigener Anschauung kannten, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Kunsttraditionen sind im Alten Orient allerdings traditionshandwerklich geprägt und oft nicht nur Jahrhunderte, sondern Jahrtausende lang stabil. So haben wir zwar manchmal nur zwei lose Enden in der Hand, einen Bildtypus und ein biblisches Motiv oder eine Metapher, ohne den Weg der Tradition vom einen zum anderen wirklich zu kennen. Dennoch wäre es unsinnig, aufgrund fehlender Elemente in der Traditionskette eine solche einfach auszuschließen. Auch literarische Verwandtschaften wie die zwischen dem Buch Ijob und den teilweise erheblich älteren mesopotamischen Vorläufern des „leidenden Gerechten“ oder die zwischen Spr 22,17–23,11 und der ägyptischen Lehre des Amenemope sind nicht grundsätzlich bestreitbar, auch wenn die Rekonstruktion des Wegs der Überlieferung keineswegs immer befriedigend geklärt ist.9 Motivkonstellationen wie der „Herr der Tiere“ oder die „Frau am Fenster“ sind grundsätzlich geeigneter, um eine Spurensicherung des Traditionswegs vorzunehmen, als ein isoliertes Ikonem, wie beispielsweise ein Zweig allein. Dass die Schriftgelehrten oder Verfassergruppen, denen wir bestimmte Psalmen oder das Hohelied oder das Buch der Sprichwörter (Proverbien) zu verdanken haben, am Schreibtisch saßen und eine Aussage wie die, dass die BeterInnen sich im Schatten der Flügel Gottes bergen wollen, „nur noch“ metaphorisch verstanden (wissen wollten), dass sie den mythologischen bzw. ikonographischen Bezug gar nicht kannten oder jedenfalls bei ihren HörerInnen oder LeserInnen nicht evozieren wollten, ist eine Annahme, die moderne Vorstellungen von Textentstehung in die Antike hineinträgt und der Bildnähe gerade der hebräischen Sprache zu wenig Rechnung trägt. Jede Psalmenmetapher, z. B. die von Gott als Hebamme (Ps 22,10f.), rief eine Vorstellungswelt auf, die von Mythos, Kult, mentalen Bildern und literarischen Metaphern getragen wurde. „Reine“ Metaphern, also Stilfiguren, die den mythologisch-bildhaften Hintergrund nicht mehr reaktivieren, zu postulieren, ist anachronistisch. Die folgende Auswahl der Beispiele orientiert sich an Motivgruppen und Metaphern mit ikonographischen Hintergründen, welche in den ʭʩʡʥʺʫ „Schriften“ zentral oder mehrfach vorkommen und die zugleich eine feministische oder genderspezifische Relevanz haben. Weitgehend bewegen wir uns dabei im Bereich der Gottesvorstellungen und der Götter- bzw. Göttinnenbilder.
9
Bernd U. SCHIPPER, „Die Lehre des Amenemope und Prov 22,17–24,22 – eine Neubestimmung des literarischen Verhältnisses (Teil 1)“, ZAW 117 (2005): 53–72; (Teil 2), ZAW 117 (2005): 232–248.
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1. Bilder des Vertrauens: Gottes fürsorgliche Qualitäten 1.1 Schwangerschaft, Geburt und Mutter-Kind-Beziehung Die hebräische Anthropologie widmet der „Geburtlichkeit“ von Menschen viel Aufmerksamkeit. 10 Von einer Frau geboren zu sein, ist ein Grunddatum des Menschseins. Auf vielfältige Weise wird dieses Geborenwerden mit göttlicher Gegenwart und göttlichem Handeln verbunden. Israels Gott ist am Werden des Embryos im Mutterleib beteiligt, hilft dem Kind wie eine Hebamme bei der Geburt ans Licht, legt es an die Mutterbrust. Die göttliche Unterstützung bei Schwangerschaften und Geburten war für Frauen in antiken Kulturen unverzichtbar. Unzählige Votivfiguren haben die Bitten um gute Geburten und das Leben von Müttern und Neugeborenen sowie Kleinkindern verewigt (Abb. 2–3). Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, du bargst mich an der Brust der Mutter. Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an, vom Bauch meiner Mutter her bist du mein Gott. (Ps 22,10f.) 11
Abb. 2: Terrakottafigur aus Nordisrael oder Phönizien (6./5. Jh. v. Chr.). Ab der Perserzeit werden nackte oder mit einem Überwurf bekleidete Frauen als Schwangere oder als Frauen mit einem Säugling dargestellt. In den früheren Epochen wird Schwangerschaft, wenn überhaupt, nur sehr diskret angedeutet. [KEEL/SCHROER, Schöpfung, Abb. 76]
Abb. 3: Zyprische Terrakotta einer Frau mit einem Kind aus Kition/Larnaka (wahrscheinlich 6. Jh. v. Chr.). [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 385]
10
11
Vgl. schon Silvia SCHROER, „Altorientalische Bilder als Schlüssel zu biblischen Texten“, in Tora (hg. v. Irmtraud Fischer et al.; Die Bibel und die Frauen: Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, 1.1; Stuttgart: Kohlhammer, 2010), 36–62; 44f. Zur Geburt im Alten Testament vgl. Detlef DIECKMANN und Dorothea ERBELE-KÜSTER (Hg.), Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen: Beiträge zur Geburt im Alten Testament (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2006); Marianne GROHMANN, Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen (FAT 53; Tübingen: Mohr Siebeck, 2007). Die Übersetzungen biblischer Passagen stammen von der Autorin.
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In Ps 131 vergleicht eine Beterin die Befindlichkeit des Kindes, das sie auf sich oder bei sich trägt, mit ihrer eigenen Befindlichkeit bei JHWH. 12 Das Bild des Kindes an der Mutterbrust ist ein Bild der Sattheit, des Friedens und der Sicherheit: Wie ein kleines Kind auf/bei seiner Mutter, wie das kleine Kind auf/bei mir – ist meine ˇʓʴʓʰ. (Ps 131,2)
Ps 139,15 legt nahe, dass ein einzelner Mensch in der Erde „gewirkt“ und von der Mutter Erde geboren wird. Zugleich aber ist es JHWH, Israels Gott, der den Menschen im Mutterschoß erschafft. Der Mutterleib wird mit dem Leib der Erde assoziiert, sodass nach altisraelitischer Vorstellung der Mensch beim Tod nackt wieder „dorthin“, in die mütterliche Erde, zurückkehrt (Ijob 1,21; Sir 40,1). Diese Metaphorik stellt insofern eine Besonderheit dar, als die israelitische Schöpfungstheologie und Kosmologie mit biologistischen Vorstellungen von Entstehen und Werden insgesamt sehr zurückhaltend umgeht. 13 In Ps 90,2 wird das Bild der Geburt sogar auf die Berge (vgl. Spr 8,22f.) und die Erde übertragen, die von Gott geboren werden. In Dtn 32,18 wird an Gottes Wehen bei der Geburt eines einzelnen Menschen erinnert.14 Darstellungen von Mutter und Kind treten in Palästina/Israel erst ab der frühen Eisenzeit (ca. 1100 v. Chr.), häufiger dann in der Perserzeit (6./5. Jh. v. Chr.) auf (Abb. 4–6). Die Mutter-Kind-Ikone hat eine nahezu göttliche Aura – ähnlich wie das Abb. 4: Fragmentarische Terrakottafigur aus BetSchean (frühe Eisenzeit, 1100–1000 v. Chr.). Eine mit Armreifen, Gürtel, Kreuzband auf der Brust und Halsgeschmeide geschmückte Frau hält ein Kind auf dem Arm, das dem Betrachter oder der Betrachterin das Gesicht zuwendet. Von der Haltung her handelt es sich eher um ein Kleinkind als einen Säugling oder gar ein Neugeborenes. [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 57]
12
13 14
Erich ZENGER, „,Wie das Kind bei mir ...‘: Das weibliche Gottesbild von Ps 131“, in »Gott bin ich, kein Mann«: Beiträge zur Hermeneutik der biblischen Gottesrede: FS für Helen Schüngel-Straumann zum 65. Geburtstag (hg. v. Ilona Riedel-Spangenberger und Erich Zenger; Paderborn et al.: Ferdinand Schöningh, 2006), 177–195. Vgl. KEEL und SCHROER, Schöpfung, 108–121. Der Schoß der Frau erhält dadurch eine besondere Dignität, dass Gott selbst vom Mitgefühl, das in der Gebärmutter verortet wurde, heimgesucht wird. Aus dieser Gebärmutter kommt Leben und die Fähigkeit zur Empathie, die Lebendiges schützt und schont. Vgl. Silvia SCHROER und Thomas STAUBLI, Die Körpersymbolik der Bibel (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 22005), 57–66.
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Abb. 5: Terrakottaplakette einer nur mit einem Gürtel bekleideten, schön frisierten Frau, die ein Kind auf dem Arm trägt, aus Pella (9. Jh. v. Chr.). [Zeichnung Ulrike Zurkinden-Kolberg nach: POTTS et al., „Preliminary Report“, 141 mit Pl. XXII,3]
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Abb. 6: Phönizische Terrakotta einer Frau mit Kind vom Tell Zippor (5. Jh. v. Chr.). [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 60]
Motiv „Kuh und Kalb“, das ebenfalls göttliche Fürsorge zum Ausdruck bringt 15 – und löst damit zugleich eine Ikone ab, die in den polytheistischen Religionen seit dem 3. Jt. anzutreffen ist, nämlich das Bild eines königlichen Kindes, das an einer göttlichen Brust trinken darf.16 In der ägyptischen Ikonographie ist ab der 3. Zwischenzeit (ab 1070 v. Chr.) das Bild der stillenden Isis mit dem Horuskind auf dem Schoß anzutreffen, das sich auch in Palästina/Israel großer Beliebtheit erfreute (Abb. 7–8). Obwohl Mutter und Kind mythische und königliche Personen sind, spielt die Isis mit dem Kind in der Frömmigkeit auch der einfacheren Bevölkerung eine große Rolle. Ebenso grundlegend wie das Ernährtwerden an der Mutterbrust ist die Erfahrung des AngeAbb. 7: Ägyptische Bronzefigur der Isis schautwerdens, das freundlich zugewandte mit dem Kind (6./5. Gesicht. 17 Das gütige Angesicht Gottes ist in den Jh. v. Chr.). Die Psalmen ein wiederkehrendes Motiv der GebetsGöttin ist hier, wie sprache (Ps 17,15; 31,17; 41,13; 104,29). Die es häufig der Fall ist, mit dem KuhgeMetapher gründet in Bildern von freundlich zugehörn und der Sonwandten Gesichtern von Göttinnen, weniger von nenscheibe gekrönt, Göttern. In Palästina/Israel ist es die einheimische die eigentlich für die Göttin Hathor Erd- und Vegetationsgöttin, die in dieser Weise typisch ist. [WINihre VerehrerInnen gütig anschaut und die zudem TER, Frau und Götgroße Ohren hat, um deren Anliegen zu hören (vgl. tin, Abb. 405] Ps 130,2) und zu erhören (Abb. 9). So stecken in den geschlechtsneutralen Textmetaphern bisweilen religionsgeschichtliche Gendervorzeichen.
15 16 17
Vgl. SCHROER, „Bilder als Schlüssel zu biblischen Texten“, 55, Abb. 26–27. Vgl. SCHROER, „Bilder als Schlüssel zu biblischen Texten“, 53, Abb. 23. Vgl. SCHROER, „Bilder als Schlüssel zu biblischen Texten“, 58f., Abb. 32–33.
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Abb. 8: Amulett aus Megiddo (um 1000 v. Chr.). Das Amulett stellt die stillende Göttin Isis mit dem Horusknaben dar. Hinter dem Bild steht ein ganzer mythischer Zyklus von Horus, der vom wiederbelebten Osiris gezeugt, von Isis empfangen und geboren, von Seth verfolgt, von Isis gerettet und beschützt wird. Frauen erhofften sich vom Bild einer so schutzmächtigen Göttin Beistand für sich und ihr Kind. [HERMANN, Ägyptische Amulette, No. 42]
Abb. 9: Silberanhänger aus Ugarit (14./13. Jh. v. Chr.). Hervorgehoben ist bei diesem stark schematisierten Bild einer Göttin neben der Vulva, die durch den Zweig mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wird, und den kleinen Brüsten, das Gesicht der Göttin. Es ist ein zugewandtes Gesicht einer schönen, der Hathor ähnlichen Göttin. Frisur und Halsschmuck sind besonders betont, aber auch die Ohren, die fast übergroß und nicht unter der Haarpracht verborgen sind. [SCHROER, IPIAO 3, No. 839]
1.2 „Im Schatten deiner Flügel“ Wie köstlich ist deine Freundlichkeit, Gott! Im Schatten deiner Flügel bergen sich die Menschenkinder. (Ps 36,8f.) Wer unter dem Schirm des Höchsten wohnt, wer im Schatten des Allmächtigen ruht, darf sprechen zu JHWH: Meine Zuflucht, meine Feste, mein Gott, auf den ich vertraue! Denn er errettet dich aus der Schlinge des Jägers, vor Tod und Verderben. Mit seinem Fittich bedeckt er dich, und unter seinen Flügeln findest du Zuflucht. … Du brauchst dich nicht zu fürchten ... (Ps 91,1–5*)
Zu den Geborgenheitsmetaphern gehört auch das mehrfach bezeugte Verlangen von PsalmenbeterInnen, sich im Schatten der Flügel Gottes bergen zu wollen (vgl. auch Ps 17,8f.; 57,2; 61,4f.; 63,8f.). 18 Flügel werden im Alten Orient mit Potenz, 19 aber 18
Silvia SCHROER, „,Im Schatten deiner Flügel‘: Religionsgeschichtliche und feministische Blicke auf die Metaphorik der Flügel Gottes in den Psalmen, in Ex 19,4; Dtn 32,11 und in
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häufig auch mit Schutz assoziiert. In erster Linie sind vogelgestaltige Götter und Göttinnen geflügelt, so in Ägypten seit dem 3. Jt. v. Chr. Horus, aber auch Mut und Nechbet, die Geiergöttinnen (Abb. 10–11). Die Göttin Maat trägt in ihrer weiblichen Gestalt Abb. 10: Granitstatue aus Tanis (Zeit Ramses’ II. 1279–1213 v. Chr.). Wie Horus wurde im Delta Ägyptens auch der Gott Horon, von der Herkunft her ein kanaanäischer Unterweltsgott, als Falke dargestellt. Hier nimmt er den als Kind dargestellten Pharao Ramses II. in Schutz. [SCHROER, IPIAO 3, No. 689]
Abb. 11: Pektoral (Brustschmuck) aus Gold, mit Einlagen aus Lapislazuli und Glas, auf der Mumie Tutanchamuns, Tal der Könige (1333– 1323 v. Chr.). Der Gänsegeier verkörpert seit dem Alten Reich die Göttinnen Nechbet und Mut, gelegentlich auch Nut. Der Geier mit den beiden Schen-Ringen, Symbolen des Schutzes, begleitete die Könige zu Lebzeiten und im Tod. [SCHROER, IPIAO 3, No. 732]
oft Geierflügel (Abb. 12). Prinzipiell kann fast jede Göttin und jeder Gott in bestimmten Rollen mit Flügeln ausgerüstet werden. 20 Der Schützling der geflügelten Gottheiten Ägyptens ist zunächst der König, oder im Falle der Isis Osiris. Da die Verstorbenen
19
20
Mal 3,20“, in “Ihr Völker alle, klatscht in die Hände!”: FS für Erhard S. Gerstenberger zum 65. Geburtstag (hg. v. Rainer Kessler et al.; Münster: LIT, 1997), 296–316. Flügel wachsen nach Belieben beispielsweise dem „Herrn der Tiere“, der in der Glyptik des Vorderen Orients wechselweise ohne Flügel, geflügelt oder gar vierflügelig erscheint. In diesem Fall sind die Flügel Ausdruck der Numinosität, der übermenschlichen Fähigkeiten der dargestellten Figur. In Vorderasien erscheint Ischtar bereits auf Siegeln des 3. Jt.s mit Flügeln, doch fehlt hier der Schutzaspekt. So erscheint auch die thronende Isis mit dem Kind auf Skarabäen des 5./4. Jh.s v. Chr. bisweilen geflügelt; vgl. Othmar KEEL und Christoph UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Gottessymbole: Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134; Freiburg i.Br.: Herder, 52001), Abb. 363b.
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sich mit Osiris identifizieren, kommt es zu einer Popularisierung der Vorstellung, dass unter den Flügeln von Göttinnen wie Isis, Nephthys oder Nut Zuflucht zu finden ist (Abb. 13–14). Auch der Schutzgott Bes erscheint häufig mit Flügeln. Ob hinter dem Bild der Flügel Gottes in den Psalmen tiergestaltige Gottesbilder, also Vogelbilder, oder die noch sehr plastische Anschauung von großen Vogelflügeln einer ansonsten anthropomorphen, vielleicht sogar gynaikomorphen Gestalt steht, wird diskutiert.21 Eine weitere Assoziationsmöglichkeit liegt im Bereich der geflügelten Sonnenscheiben, die in Ägypten und in Vorderasien eine lange Tradition haben. Eine völlige Abstrahierung von den ursprünglichen Bildspendern ist jedenfalls kaum anzunehmen. Als ein seine Brut umsorgender Geier stellt sich JHWH auch in Ex 19,4 und Dtn 32,11 dar. 22
Abb. 12: Gegengewicht eines Brustschmucks aus Gold, Silber und farbigen Glaseinlagen, aus dem Grab Tutanchamuns, Tal der Könige (1333–1323 v. Chr.). Die Göttin Maat steht hier ausnahmsweise nicht hinter, sondern vor dem thronenden König, um ihn mit ihren Flügeln zu beschützen. [SCHROER, IPIAO 3, No. 699]
Abb. 13: Brustschmuck aus Quarz, Einlagen aus Glas und Gold, aus dem Grab Tutanchamuns (1333–1323 v. Chr.). Die Schwestern des Osiris, Isis und Nephthys, schützen mit ihren Flügeln den DjedPfeiler, der Osiris repräsentiert. [SCHROER, IPIAO 3, No. 795]
21
22
Joel M. LEMON, Yahweh’s Winged Form in the Psalms: Exploring Congruent Iconography and Texts (OBO 242; Fribourg: Academic Press und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010). Vgl. SCHROER, „Bilder als Schlüssel zu biblischen Texten“, 52ff.
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Abb. 14: Geschnitztes Elfenbeinplättchen aus Samaria (9./8. Jh. v. Chr.). Die knienden Göttinnen am Djed-Pfeiler des Osiris sind nicht mehr durch ihre traditionellen Attribute als Isis und Nephthys gekennzeichnet, sondern tragen Sonnenscheiben auf dem Kopf. [KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, Abb. 243]
2. Schöpfungstheologie: Gott als „Herr der Tiere“ Das Buch Ijob feministisch zu lesen, stellt hohe Anforderungen.23 Die Hauptfiguren in diesem Buch sind männlich, Frauen kommen nur in Nebenrollen, wenn auch nicht unbedeutenden, vor. In der Rahmenerzählung treten Gott und Satan, einer der Göttersöhne, auf die Bühne, in den Reden sprechen im Wechsel Ijob, seine drei, dann vier Freunde, schließlich Gott selbst. Für die Exegese des Buches von entscheidender Relevanz ist die Deutung der Gottesreden. Othmar Keel hat mit seiner Erforschung der Motive des „Herrn der Tiere“ und des Chaoskampfes gegen Behemot und Leviatan in Ijob 39–41 die Interpretation dieser Kapitel auf sichere Füße gestellt. 24 Nachdem sich Gott in Kapitel 38 mit traditionellen Motiven als Schöpfer der Welt ausgewiesen hat, präsentiert er sich in Ijob 38,39–39,30 als ein Hirte und „Herr der Tiere“ der Wildnis. Fünf Tierpaare werden hier als Beispiele für Gottes Fürsorge und sein souveränes Handeln angeführt: Löwe und Rabe, Steinbock und Hirsch, Wildesel (Onager) und Wildstier, Strauß und Kriegspferd, ein Greifvogel und der Gänsegeier. Gott kümmert sich um die wilden Tiere, 25 hält sie und die unbezwungene, für Menschen unbewohnbare Welt, in der sie leben, unter Kontrolle. Dieselben zehn Tiere, die im zweiten Teil der ersten Gottesrede Erwähnung finden, sind in der Ikonographie Vorderasiens in Verbindung mit einer männlichen Gestalt anzutreffen. Ein nackter Heros, ein geflügeltes numinoses Wesen oder ein (persischer) König packen in dominierendem Gestus links und rechts Löwen, Ziegen, Strauße usw. am Nacken oder an den Hinterläufen (Abb. 15–16). Auch die Tiere können geflügelt dargestellt sein, was die mythische Dimension der Szene deutlich hervorhebt. Der „Herr der Tiere“ ist eine quasi göttliche Figur, die die Dominanz über das Chaos verkörpert. Aus Juda stammen Stempelsiegel (Abb. 17–18) mit einem „Herrn der Strauße“ und „Herrn der Wildziegen“, die bezeugen, dass diese Gestalt in der Region bevorzugt in dieser lokalen Variante verehrt 23 24
25
Vgl. MAIER und SCHROER, „Das Buch Ijob“. Othmar KEEL, Jahwes Entgegnung an Ijob: Eine Deutung von Ijob 38-41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst (FRLANT 121; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978). Nur das Pferd repräsentiert nicht die chaotische Gegenwelt, wie sie mit der Schöpfung gegeben ist, sondern eine von Menschen geschaffene feindliche Welt des Krieges und der Dominanz.
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wurde, dass sie möglicherweise sogar ein mit dem Gott JHWH zu verbindendes, authentisches Gottesbild darstellt.26 Im Buch Ijob wird das Motiv aus der Bildkunst, das seit dem 3. Jt. v. Chr. über fast 2000 Jahre in Vorderasien und bis in die Ägäis verbreitet ist, narrativ entfaltet. Anders als die Schöpfungserzählungen in Gen 1–2 ist die Schöpfungstheologie der Gottesreden nicht auf den Menschen hin orientiert. Gott erweist sich als Herr und Hirte der gesamten Schöpfung. Den wilden Tieren, die für Menschen nichts leisten, wird ein unabhängiges Existenzrecht zugesprochen, ähnlich wie in Psalm 104. Gott ernährt auch die Steinböcke und andere Lebewesen, die ihre eigenen Biotope und ein eigenes Lebensrecht unabhängig von und ohne Zugriff der Menschen haben sollen. Wenn auch vordergründig für einen feministischen Zugang das Bild eines die Tiere bezwingenden Heros wenig attraktiv erscheinen mag – theologisch trägt es für das besondere Schöpfungs- und Schöpferverständnis der Weisheitsschriften einiges aus.
Abb. 15: Mittelassyrisches Rollsiegel (14.–11. Jh. v. Chr.). Ein „Herr der Tiere“, dessen Gesicht und Oberkörper frontal abgebildet sind, packt zwei Wildziegen oder Steinböcke links und rechts bei den Hörnern und reißt sie so vom stilisierten Weltenbaum zurück, an dem sie sich aufrichten, um von seinen Blättern zu fressen. Die Welt der Tiere, die Wildnis, wird so in Schach gehalten zugunsten der geordneten Welt. [KEEL/SCHROER, Schöpfung, Abb. 156]
Abb. 16: Neuassyrisches Rollsiegel (9.–7. Jh. v. Chr.). Ein vierflügeliger „Herr der Tiere“ packt zwei aufgerichtete Wildstiere an einem Vorderlauf. Die Flügel unterstreichen die Potenz des göttlichen Helden. Auch er scheint die wilden Tiere von einer stilisierten Palme, die die geordnete Welt symbolisiert, wegzureißen. [KEEL/SCHROER, Schöpfung, Abb. 157]
26
Othmar KEEL, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus (OLB 4,1; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007), 205–211.
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Abb. 17: Skaraboid aus Bet Schemesch (um 1000 v. Chr.). Ein stark schematisierter judäischer „Herr der Tiere“ hat zwei Strauße im Griff. [KEEL/SCHROER, Schöpfung, Abb. 162]
Abb. 18: Siegelabdruck aus Dan (frühe Eisenzeit, 980–840 v. Chr.). Ein „Herr der Tiere“ packt zwei Wildziegen am Hals und reißt sie zurück. [KEEL, Corpus der Stempelsiegel-Amulette II, Dan No. 6]
3. Frauenbilder – Göttinnenbilder Die Verdrängung der Göttinnen setzt im religiösen Symbolsystem der südlichen Levante bereits unter der ägyptischen Vorherrschaft in der Spätbronzezeit, d. h. in der zweiten Hälfte des 2. Jt. v. Chr. ein. 27 Kämpferisch-kriegerische, hauptsächlich männliche Gottheiten beherrschen das Bildrepertoire, die Präsenz der Göttinnen wird immer häufiger durch „Statthalter“ wie den Zweig, die Ziegen am Baum, die Taube usw. angedeutet. Die Göttinnen werden nicht mehr in ihrer vollen Gestalt und kaum mehr auf wertvollen Materialien abgebildet. Dieser Trend hält in den darauffolgenden Jahrhunderten, in denen es die Staaten Israel und Juda, später nur noch Juda, gab, an, jedoch ist im 8.–7. Jh. v. Chr. ein Revival von vollgestaltigen Göttinnen in der Terrakottakunst festzustellen. Die Verehrung der einheimischen Göttin scheint bis zum Exil nie ganz zum Erliegen gekommen zu sein. Die biblischen Texte dokumentieren in Gestalt ihrer polemischen Ablehnung, dass es Kulte wie den für die Aschera oder die Himmelskönigin gab und dass sie wohl kaum marginale Erscheinungen waren. Die JHWH-Religion vermochte zugleich wichtige Traditionen des Göttinnenerbes fruchtbar aufzunehmen und zu integrieren. Ein Teil dieses Erbes floss in die Vorstellungen vom Gott Israels und der göttlichen Weisheit ein. Ein anderer Teil blieb lebendig, indem Erfahrungen des Göttlichen in der Schöpfung und in der Liebe in den traditionsreichen Bildern der Göttinnenkulte ausgedrückt wurden. Ein weiterer Teil fand Eingang in die Frauenbilder und -rollen Israels. Frauen- und Göttinnenbilder liegen, wie schon Urs Winter ezeigt hat,28 oft sehr nahe beieinander. Jede Frau konnte in einer imitatio deae (Nachahmung der Göttin) versuchen, der Göttin ähnlich zu sein. Die Göttinnen der Levante sind zudem in der darstellenden Kunst anders als die Göttinnen Ägyptens oder Mesopotamiens nicht unbedingt durch Kronen, Zepter, Kleidung und Attribute als Göttinnen ausgewiesen. Die Tendenz zur Ähnlichkeit wirkt also in beide Richtungen, ein 27 28
Vgl. dazu ausführlich KEEL und UEHLINGER, Göttinnen. Urs WINTER, Frau und Göttin: Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen Umwelt (OBO 53; Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21987).
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Phänomen, das durchaus mit dem Gedanken der verwandtschaftsbedingten Gottebenbildlichkeit nach Gen 1,28 in Verbindung gebracht werden kann. Diese wird in der biblischen Formulierung geschlechtsübergreifend geltend gemacht. Terrakottafigürchen aus MesopotaAbb. 19: Terrakotta aus der mien, Syrien und Palästina/Israel betonen Levante (1900–1600 v. Chr.). dieselben Körperpartien wie die BeAuffällig an diesem stilisierten Figürchen sind die kunstschreibungen der Frau im Hohelied, beivolle Frisur, das Geschmeide spielsweise den Nabel (Hld 7,3), die stolum den Hals und die Hüfte, zen Brüste (Hld 8,8-10) oder den stolzen, die betonten Augen und der große Nabel, während Brüste, hochgereckten und mit Halsketten geGesicht und Arme nicht ausschmückten Hals (Hld 4,4; 7,5) und die gestaltet wurden. In den OhHaarpracht (Abb. 19). ren dürften Ringe angebracht gewesen sein. [SCHROER, IPIAO 2, No. 395]
3.1 Das Weiterleben der Zweig- und Baumgöttinnen Die mittelbronzezeitliche Erd- und Vegetationsgöttin Palästinas/Israels (1750–1550 v. Chr.) ist durch Zweige charakterisiert. Sie sind ihr Hauptattribut, das in der Ikonographie und Religionsgeschichte des Landes noch Jahrhunderte lang eine Rolle spielen soll. Der mächtige Baum heißt im Hebräischen ʤʕʬʠʒ „Göttin“ (Abb. 20). Im Buch der
Abb. 20: Fragmentarischer Tonkrug aus Lachisch (Ende 13. Jh. v. Chr.). Von der Inschrift „Gabe: ein Geschenk für meinen Herrin Elat/die Göttin“ kommt das Wort ʺʔʬʠʒ genau über einem von Capriden flankierten Baum zu stehen. [SCHROER, IPIAO 3, No. 852]
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Sprichwörter, aber auch in den Psalmen, tritt häufiger das Motiv eines „Lebensbaums“ auf, mit dem auch die göttliche Weisheit verglichen wird: Wer nach ihr greift, dem ist sie ein Lebensbaum, wer sie festhält, ist glücklich zu nennen. (Spr 3,18)
Das Ergreifen und Festhalten einer Palme oder eines stilisierten Bäumchens wird in der Siegelkunst gern dargestellt (Abb. 21–22). Die nach den Zweigen greifen, greifen nach dem Leben, das sie versinnbildlichen. So heißt es noch im Buch Jesus Sirach: Wurzel der Weisheit ist die Furcht JHWHs, und ihre Zweige sind langes Leben. (Sir 1,20) Abb. 21: Skarabäus aus Sichem (17./16. Jh. v. Chr.). Zwei kniende Verehrerinnen halten oder berühren einen großen Zweig oder ein Bäumchen. Über diesem steht der Göttinnenfetisch, der die in Palästina/Israel beheimatete Zweiggöttin repräsentiert, hier aber durch Uräen, Horusfalken und ein Goldzeichen in den ägyptischen Kontext der Hathorverehrung gesetzt wurde. [SCHROER, IPIAO 2, No. 418]
Abb. 22: Skaraboid aus Ekron (7. Jh. v. Chr.). Ein Verehrer, bekleidet mit einem langen Gewand, berührt mit einer Hand einen Baum, während er in der anderen eine Gabe zu tragen scheint. [KEEL, Corpus der StempelsiegelAmulette II, Ekron No. 51]
Nicht nur die levantinische Tradition der Zweige und der mächtigen Bäume der Göttin, sondern auch die Palme, die sowohl in Mesopotamien wie in Ägypten verbreitet und beliebt war, hat in der biblischen Metaphorik Spuren hinterlassen. Wie schön bist du und wie freundlich, Liebste, Tochter aller Wonnen. Dein Wuchs ist so, dass er einer Palme gleicht, und deine Brüste den Datteltrauben. Ich denke: Ich will die Palme erklettern, ihre Rispen ergreifen. Dann werden deine Brüste wie die Weintrauben sein, der Atem deiner Nase wie der Duft der Äpfel und dein Gaumen wie der beste Wein, wenn er weich auf meine Liebkosungen eingeht, und noch die Lippen der Schlafenden netzt. (Hld 7,7–10)
Der Vergleich der Frau mit einer nährenden, köstliche Früchte bietenden Palme geht auf Bildtraditionen vor allem Mesopotamiens zurück, wo die Göttin Ischtar schon im 3. Jt. mit Dattelpalmen assoziiert wurde (Abb. 23). Im Hof des Ischtartempels von Mari standen auch Jahrhunderte später große Dattelpalmen (Abb. 24). Die Assoziation der Dattelpalme mit nährenden Brüsten ist, wenn auch selten, in der Kunst des 1. Jt.s v. Chr. anzutreffen (Abb. 25).
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Silvia Schroer Abb. 23: Rollsiegel der Akkad-Zeit (um 2300–2200 v. Chr.). Ein Beter wird von einer Gottheit vor die thronende Göttin Ischtar geführt. Neben dieser Einführungsszene sieht man links zwei Frauen beim Dattelpflücken. Während die Göttin selbst in ihrer kriegerischen Montur dargestellt ist, weist die Dattel auf ihre eher nährenden Aspekte hin. [SCHROER/KEEL, IPIAO 1, No. 260]
Abb. 24: Farbige Wandmalerei aus dem Palast von Mari (1800 v. Chr.). Das Bild war rechts vom Eingang zum Thronsaal angebracht und zeigt den Tempel der Ischtar, in dem sich der Herrscher von Mari und die Göttin Ischtar begegnen. Der Tempel steht in einem großen Park, zu dem stilisierte Bäume und Dattelpalmen gehören. An den schlanken Stämmen klettern je zwei Männer empor (Ernte oder Bestäubung?). In der erhaltenen Palmenkrone rechts fliegt eine weiße Taube auf. [SCHROER, IPIAO 2, No. 434]
Bei Jesus Sirach wird die Weisheit weniger stark von der Idee der Weltordnungs- und Lebensbäume beeinflusst, 29 sondern vielmehr als Nahrung und Trank spendende Baumgöttin beschrieben. Gepriesen wird der Mensch, der die Nähe der Weisheit sucht: 29
Vgl. dazu Urs WINTER, „Der ,Lebensbaum‘ in der altorientalischen Bildsymbolik“, in ... Bäume braucht man doch: Das Symbol des Baumes zwischen Hoffnung und Zerstörung (hg. v. Harald Schweizer; Sigmaringen: Thorbecke, 1986), 57–88; DERS., „Der stilisierte Baum: Zu einem auffälligen Aspekt altorientalischer Baumsymbolik und seiner Rezeption im Alten Testament“, Bibel und Kirche 41 (1986): 171–177.
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... der sein Nest in ihr Laub hineinbaut und in ihren Zweigen nächtigt und in ihrem Schatten sich vor der Hitze birgt und in ihren Zufluchtsstätten sich niederlässt. Also tut, wer JHWH fürchtet, und die Weisheit erlangt, wer am Gesetz festhält. Sie geht ihm entgegen wie eine Mutter, und wie die Frau seiner Jugend nimmt sie ihn auf. Und sie speist ihn mit dem Brote der Einsicht, und mit dem Wasser der Klugheit tränkt sie ihn. (Sir 14,20–15,10)
Die göttliche Weisheit, die sich im Buch Jesus Sirach in einer Fülle von Bäumen manifestiert, lädt ein: Kommt her zu mir, die ihr mich begehrt, und sättigt euch an meinen Früchten! Denn mein zu gedenken, ist süßer als Honig, und mich zu besitzen, geht über Honigwaben. Wer von mir isst, wird weiter nach mir hungern, und wer von mir trinkt, wird weiter nach mir dürsten. (Sir 24,19–21)
Abb. 25: Relief aus Karatepe (um 700 v.Chr.). Unter einer Dattelpalme reicht eine Frau, entweder eine Königin, königliche Amme oder eine Göttin, einem Kind, wahrscheinlich einem Prinzen, die Brust. Wie auf älteren ägyptischen Bildern dieses Typs trinkt der Thronfolger im Stehen. [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 411]
Die kanaanäische Tradition der Erd- und Vegetationsgöttinnen mag auch hier im Hintergrund stehen, aber die Erwähnung des Speisens und Tränkens weist eher auf eine ägyptische Tradition. Im Neuen Reich werden seit Thutmosis III. in Grabmalereien verschiedene Göttinnen in ihrer nährenden, Schatten und Erfrischung spendenden Rolle als Baumgöttinnen dargestellt. Sie neigen sich aus den Baumkronen, um die Verstorbenen zu verpflegen. Anfänglich reichen sie ihnen sogar die Brust, bald setzt sich aber die Variante der Darbietung von Speisen und Getränken durch, wobei die Göttinnen, wie die Beischriften verraten, einladende Worte sprechen. Häufig wurden Baumgöttinnen als Sykomoren oder als Dattelpalmen vorgestellt (Abb. 26–27). In der Levante wuchsen Palmen längst nicht überall, man hat sie als etwas Besonderes geschätzt und ihren imposanten Wuchs sehr bewundert. Die süßen Datteln waren bei damaligen Menschen, die außer Honig und Fruchtzucker keine Süßigkeiten hatten und herstellen konnten, außerordentlich beliebt. Jesus Sirach bezieht sich wahrscheinlich auf die Abb. 26: Relief aus Abusir in Ägypten (13. Jh. v. Chr.). Die Dattelpalme hat hier nur menschliche Arme und Hände, die ein Tablett mit Speisen und eine Kanne halten. Meistens wird jedoch auch der Oberkörper oder Kopf der Göttin in der Baumkrone sichtbar. [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 464]
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ägyptische Ikone der Baumgöttin, versetzt sie jedoch aus dem Kontext der Totenwelt in die Welt der Lebenden.30 Der ägyptische Hintergrund der Liebesmetaphorik kommt zum Zug, wenn die Lippen der Liebenden oder der Schoß der Frau mit dem erfrischenden Lotos (Hld 2,1f.16; 4,5; 5,13; 6,2; 7,3) verglichen werden (Abb. 28). Zweige und Lotosblüten sind in der Kunst der Levante, besonders bei stilisierten Darstellungen, oft austauschbar (Abb. 29–30). Abb. 28 (unten): Ägyptische Fayenceschale (1350–1300 v. Chr.). Lotosblüten umgeben das Gesicht der Göttin Hathor. Diese Göttin wurde besonders gern mit dem Biotop Sumpf und den zugehörigen Pflanzen, Papyrus und Lotos, sowie Tieren, z. B. Enten, in Verbindung gebracht. Der Lotos ist ein Symbol von Frische und Lebenserneuerung, da sich die Blüten in größter Reinheit jeden Morgen wieder öffnen. [SCHROER, IPIAO 3, No. 748]
Abb. 27 (oben): Malerei aus dem Grab des Paschedu in Der el-Medineh (um 1100 v. Chr.). Der Verstorbene kniet im Schatten einer Baumkrone, aus der sich eine Göttin ihm zuneigt, die ihm Wasser spendet und Brot entgegenstreckt. [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 462]
Abb. 29 (links): Zeichnung auf einem Krug aus Kuntillet Adschrud (um 800 v. Chr.). Zwei Steinböcke richten sich an einem stilisierten Lotosknospenbäumchen auf. Ziegen am Baum sind über große Zeiträume hinweg ein Motiv, das mit den Göttinnen der Levante eng verbunden ist. Hier erscheint es über einem schreitenden Löwen, sodass die Parallele zu Konstellationen mit einer vollgestaltig abgebildeten Göttin (nächste Abbildung) auf der Hand liegt. [KEEL, Deine Blicke, Abb. 107]
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Silvia SCHROER, „Die Zweiggöttin in Palästina/Israel: Von der Mittelbronze IIB-Zeit bis zu Jesus Sirach“, in Jerusalem: Texte – Bilder – Steine (hg. v. Max Küchler und Christoph Uehlinger; NTOA 6; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987), 201–225. Zur anhaltenden Bedeutung der Zweige in der Religionsgeschichte Palästinas/Israels vgl. auch Thomas STAUBLI, „Land der sprießenden Zweige“, Bibel und Kirche 60 (2005): 16–22.
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Abb. 30: Goldanhänger aus Minet el-Beida, dem Hafen von Ugarit (um 1400 v. Chr.). Die unbekleidete, aber mit Hals-, Arm- und Hüftketten geschmückte Göttin mit der schönen Hathorfrisur steht auf einem schreitenden Löwen. Neben den Wildziegen, die sie an den Hinterläufen emporstemmt, gehören auch die Schlangen, die sich hinter ihr kreuzen, in ihre Einflusssphäre. [SCHROER, IPIAO 3, No. 859]
3.2 Die Göttinnen und ihre Tiere Im Umfeld der erotischen Göttinnen Syriens und Palästinas/Israels erscheinen seit dem 2. Jt. Tauben. Sie repräsentieren die Liebe und den Sexappeal der Göttin, fliegen als Botin zu ihrem Partner, dem Wettergott oder Stadtfürsten und werden zum Emblem für die Liebe (Abb. 31–33). Die Augen der Liebenden mit ihren verliebten Blicken werden so in der Poesie des Hohelieds mit Tauben verglichen, nicht etwa mit deren Form oder Aussehen, sondern mit der Botschaft, die sie übermitteln: Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe du bist schön. Deine Blicke sind Tauben. (Hld 1,15; vgl. 4,1; 5,12)
Ein andermal wird die Geliebte selbst als Taube angesprochen: Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Klippe, lass mich deine Erscheinung sehen, lass mich deine Stimme hören, denn deine Stimme ist betörend und deine Erscheinung hinreißend. (Hld 2,14)
Weitere typische Attributtiere der Göttinnen sind die Gazellen, Hirschkühe und Wildziegen (Abb. 34–35). Bei ihnen – und nicht bei JHWH – wird im Hohelied zum Schutz der Verliebten geschworen: Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder (gar) den Hinden der Wildnis: Weckt sie nicht, stört sie nicht, die Liebe, bis es ihr gefällt. (Hld 2,7; vgl. 3,5; 8,4)
Die Frau wird wie die ältesten Göttinnentypen des Vorderen Orients (Abb. 36) mit prachtvollem Lockenschopf vorgestellt, wobei ihr schwarzes Haar den verliebten Mann an die vitalen Ziegen erinnert: Dein Haar ist schwarz wie eine Herde von Ziegen, die vom Gileadgebirge herabstürmt. (Hld 4,1)
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Wie die neolithischen Frauenfigürchen und wie die Göttin Ischtar (Abb. 37) erscheint sie in Gesellschaft von Löwen und Panthern (vgl. oben 2.), die sich in die unwirtlichen Bergregionen zurückziehen: Mit mir vom Libanon, Braut, mit mir wirst du vom Libanon kommen, wirst du vom Gipfel des Amana herabsteigen, vom Gipfel des Senir und des Hermon, von den Löwenwohnungen, von den Pantherbergen. (Hld 4,8)
Abb. 31: Altsyrisches Rollsiegel (18. Jh. v. Chr.). Die syrische Göttin entschleiert sich vor einem thronenden Stadtfürsten. Tauben fliegen von ihr zu ihrem Partner, um die erotische Aura der Szene zu unterstreichen. Zu dieser gehören auch die liegenden Hasen und Capriden. [SCHROER, IPIAO 2, No. 439]
Abb. 33: Zyprische Kalksteinfigur (wahrscheinlich hellenistisch, 3.–1. Jh. v. Chr.). Das Schnäbeln der Tauben, das bis heute als verliebtes Turteln interpretiert wird, hat die Vögel schon in der Antike in die Nähe der Liebesgöttinnen und der Liebe rücken lassen. [KEEL, Deine Blicke, Abb. 39]
Abb. 32: Etruskischer Spiegel (5. Jh. v. Chr.). Die Taube fliegt von der thronenden Göttin Aphrodite zu ihrem Geliebten, Adonis. [KEEL, Deine Blicke, Abb. 53]
Abb. 34: Mittelassyrisches Rollsiegel (13. Jh. v. Chr.). Die leichtfüßigen Hirsche und Gazellen wurden wegen ihrer behenden, grazilen Beweglichkeit bewundert. Als scheue Tiere der Wildnis wurden sie mit den Liebesgöttinnen assoziiert. [KEEL, Deine Blicke, Abb. 80]
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Abb. 35: Skarabäus der ausgehenden Mittelbronze- oder Spätbronzezeit (15./14. Jh. v. Chr.) vom Tell Beit Mirsim. Liegende Wildziegen, in späteren Epochen auch sehr häufig säugende Ziegen oder Steingeißen, rufen das Ambiente der Göttinnen wach. Die Zweige unterstreichen diese assoziative Verbindung. [SCHROER, IPIAO 2, No. 843]
Abb. 36: Fragment eines Steingefäßes aus dem südlichen Irak (2400–2250 v. Chr.). Die Göttin mit dem üppigen Haar und einer Hörnerkrone, in welcher Ähren oder Zweige zu stecken scheinen, trägt in der Hand eine Datteltraube. [SCHROER/KEEL, IPIAO 1, No. 212]
Abb. 37: Terrakottaplakette aus Mari (um 1800 v. Chr.). Die Göttin Ischtar mit dem Kreuzband auf der Brust und Waffen in den Händen stellt in der klassischen Pose einen Fuß auf einen liegenden Löwen. Sie ist in Begleitung von zwei mit Beilen bewaffneten Göttern oder Herrschern. Die ganze Gruppe steht in frontaler Darstellung auf einem durch Schuppenmuster angedeuteten Berg. [SCHROER, IPIAO 2, No. 449]
3.3 Frauen- und Göttinnenbilder als Elemente der Tempel- und Palastarchitektur Ps 144 vergleicht in einer Ausmalung des Segens, den Gott Israel beschert, die jungen Männer des Landes mit gut gewachsenen Bäumen und die jungen Frauen mit besonderen Elementen der Prunkgebäude damaliger Zeit, der Palast- oder Tempelhalle. 31 Es 31
Vgl. Silvia SCHROER, „Frauenkörper als architektonische Elemente: Zum Hintergrund von Ps 144,12“, in Bilder als Quellen/Images as Sources: Studies on Ancient Near Eastern Artefacts and the Bible Inspired by the Work of Othmar Keel (OBO Sonderband; hg. v. Susanne
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fällt auf, dass in dieser Metapher die Frauen mit Architekturelementen und die Männer mit Pflanzen assoziiert werden: Damit/sodass unsere Söhne seien wie Pflänzlinge, großgezogen von ihrer Jugendzeit auf, unsere Töchter zugehauen/geschnitzt wie Ecken (nach) Palastbauweise/Tempelmodell. (Ps 144,12)
Der Vergleich junger Männer oder der Gerechten mit gut wachsenden Bäumen ist auch sonst häufiger anzutreffen (Dtn 20,19; Ps 1; Jer 17,8; vgl. Ps 128,4; Sir 50,12). Die Verbindung von Frau und Bauwerk oder „Bauen“ wird bereits in Gen 2,21f. vorausgesetzt, wenn JHWH die Frau aus der Rippe des Mannes „baut“. 32 Vor allem Tempelmodelle aus der Levante legen ebenfalls einen Zusammenhang von Frauenkörpern und Architektur nahe. Nackte Frauen stehen oft wie Säulen an den Fenstern und Eingängen von Tempelchen und scheinen, bisweilen zusammen mit Löwen, eine Wächterinnenrolle einzunehmen (Abb. 38–39). Die nackten Frauenkörper am besonders zu schützenden Eingang dürften eine „entwaffnende“ Wirkung gehabt haben. Sie werden bei anderen Modellen durch Säulen oder Pilaster ersetzt (Abb. 40). Der Hortfund von Terrakotta-Modellen aus Yavneh bei Tel Aviv enthält sehr viele Exemplare, die nackte Abb. 38: Fragmentarischer TerrakotFrauenfigürchen oder stilisierte Bäume oder taständer aus Pella in Jordanien Säulen/Pilaster, aber auch Ziegen am Lebensbaum (11./10. Jh. v. Chr.). Zwei nackte Frauen stehen seitlich neben einer fensteraroder Keruben darstellen. 33 tigen Öffnung, beide ursprünglich über Ein Motiv, das nicht nur in den Schriften, einem Löwenkopf, von denen aber nur sondern auch in den Propheten bezeugt ist, und einer erhalten ist. Diese Art von Kerazweifellos einem einschlägigen Ikon der Elfenbein- mikständern evoziert, wie die Tempelmodelle, die Fassade eines Heiligtums. schnitzerei entspricht, ist die „Frau am Fenster“ [SCHROER, Images and Sources, fig. 9] (Spr 7,6). Die Verführerin des jungen Judäers, vor der in der Rahmung des Buches der Sprichwörter eindringlich gewarnt wird, ist im 7. Kapitel eine verheiratete Fremde. Sie wird als Frau gezeichnet, die nichts anderes im Schild führt als während der Abwesenheit ihres Ehemannes junge Männer für ein
32
33
Bickel et al.; Fribourg: Academic Press und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007), 425–450. In Spr 9,1 wird ein Zusammenhang zwischen der göttlichen Weisheit, die ihr Haus baut und ihre sieben Säulen schnitzt, hergestellt. Vgl. Raz KLETTER et al., Yavneh I: The Excavation of the ‚Temple Hill‘ Repository Pit and the Cult Stands (OBOSA 30; Fribourg: Academic Press, 2010).
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Abb. 39: Terrakottamodell aus Kerak in Jordanien (11./10. Jh. v. Chr.). Zwei nackte, aber mit Ringen und Geschmeide geschmückte und mit einem schönen Kopftuch bedeckte Frauen flankieren den Eingang des Tempelmodells. Sie halten wahrscheinlich eine Handtrommel vor der linken Brust. [SCHROER, Images and Sources, fig. 8]
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Abb. 40: Terrakottamodell vom Tell el-Fara Nord (Ende 10. Jh. v. Chr.). An Stelle der Frauengestalten sind hier nur Pilaster mit volutenartigen Kapitellen zu sehen, zwischen denen ein Sichelmond steht. [SCHROER, Images and Sources, fig. 11]
sexuelles Abenteuer in ihr Haus zu locken. Ihr professioneller Raubzug beginnt mit der Ausschau nach Beute vom Fenster des Hauses aus. 34 Nun ist das Motiv einer Oberschichtsfrau am Fenster eines Hauses ein bedeutendes Motiv der Kunst, besonders der phönizischen Elfenbeinkunst des 1. Jt.s v. Chr. (Abb. 41), aber auch der Monumentalkunst (Abb. 42). Elfenbeinplättchen mit einer schön geschmückten und frisierten, frontal dargestellten Frau am Palastfenster zierten Möbel und Wände an den Höfen oder in den Schlafzimmern der Beamten. Es ist allerdings schwierig, die Identität der Frau und damit auch die Bedeutung des Motivs näher einzugrenzen. Handelt es sich um eine Göttin oder eher um eine Frau, die wie die Göttin stolz und anziehend erscheinen will? Sollte auf erotische Begegnungen, gar käufliche Liebe angespielt werden, oder vertreten diese Gesichter vor allem mächtige Frauen, deren Auftreten am Fenster eine andere Art von Botschaft beinhaltete? Der Ort des Fensters legt eine Situation des Ausspähens nahe. Andere biblische Texte, wie die Erzählung von der Mutter Siseras (Ri 5,28–30), von Michal (2 Sam 6,16) und Isebel (2 Kön 9,30–34) zeigen, dass mit dem Spähen unmittelbar Krisensituationen, Machtfragen und entscheidende Worte verbunden sein konnten. In Spr 7,6 handelt es sich zwar nicht um eine politische Szenerie, aber auch hier folgen dem Auftreten der Frau am Fenster schicksalhafte Wendungen, zumindest für den Mann. Die „Frau am Fenster“ übt auf ihn eine nahezu magische Anziehung aus. Die gilt im Weiteren dann auch für das Lager, das sie für ihn und sich vorbereitet. Das Bett, auf dem die Liebespaare liegen, steht schon seit der frühbronzezeitlichen Kunst Palästinas/Israels (3. Jt. v. Chr.) als pars pro toto für die 34
Vgl. den Beitrag von Christl M. Maier in diesem Band.
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Freuden und Erwartungen der Liebe von Mann und Frau (Abb. 43). In einem weniger problematisierten Kontext werden solche Liebeslagerszenen auch im Hohelied beschrieben: Seine Linke liegt unter meinem Kopf und seine Rechte liebkost mich. (Hld 2,6)
Abb. 41: Elfenbeinplakette aus Arslan Tasch (8. Jh. v. Chr.). Eine schön frisierte Frau mit einem Diadem oder Kopfschmuck schaut aus einem Fenster, das sich über einer Palastbalustrade zu befinden scheint. Betont sind die Ohren der Frau. Das Kreuz auf dem Schmuck könnte Zugehörigkeit zur Göttin markieren. [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 308]
Abb. 42: Doppelseitig bearbeiteter Steinkopf, in Amman (7. Jh. v. Chr.). Der 30 cm hohe Kopf war Teil einer Balustrade, die von beiden Seiten eingesehen werden konnte. [SCHROER, Images and Sources, fig. 20]
Abb. 43: Altbabylonische Terrakottaplakette (18./17. Jh. v. Chr.). Eine Frau und ein Mann liegen unbekleidet auf ihrem Liebeslager. Das Bett scheint mit einem schönen Überwurf bedeckt zu sein. [WINTER, Frau und Göttin, Abb. 360]
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3.4 Die Liebe(sgöttin) als mythische Gegenspielerin der Todesmacht In Hld 8,6 wird eine programmatische Aussage über das Verhältnis von Tod und Liebe gemacht. Die Frau sichert ihrem Geliebten zu: ... so stark wie der Tod (ist meine) Liebe, so unerbittlich wie die Unterwelt (ist meine) Leidenschaft.
Es sind mythologische, große Wörter ohne Artikel, die im hebräischen Text auftreten: ʺˣʮ bzw. ʺʓʥʮʕ (Tod), ʬʥʠˇ (Unterwelt), ʤʡʤʠ (Liebe), ʤʠʰʷ (Leidenschaft), aber auch die Fortsetzung mit Bildern von feurigen Pfeilen, von Blitzen und von kosmischen Gewalten wie Wassermassen. Sowohl ʺʥʮ (Tod) als auch ʭʩʴˇʸ (Pfeile) sind rein etymologisch mit semitischen Gottheiten verbunden. In Ugarit ist Mot der Gott der tödlichen Dürre. 35 Reschef ist ein gefürchteter, mit Speer und Lanze bewaffneter Gott, der Seuchen bringt, aber auch abwehrt. 36 Hinter der abstrakten „Liebe“ steht die liebende Frau; ihre Liebe ist es, die so stark ist wie der Tod und deshalb als Amulett am Arm des Geliebten wirken kann. Diese Rolle wiederum ist ohne die konkreten Liebesgöttinnen des Alten Orients nicht verständlich, die sich gegen den Tod ihrer Brüder oder Ehegatten auflehnen. 37 Es sind nicht nur Bilder, die diese Mythologie und die Verehrung von Göttinnen, die den Tod bezwingen, dokumentieren. Die Bilder aber lassen häufig den Kerntypus, beispielsweise der über den Tod des Bruders/Geliebten „klagenden“ Frau, besser erkennen als die narrativ entfalteten Mythen. In Ugarit kämpfen der Gott der lebensfeindlichen Dürre, Mot, und der Wettergott Baal gegeneinander. Baal unterliegt, doch bevor er von Mot ins Totenreich verschleppt wird, empfängt die kämpferische Göttin Anat, die hier zugleich Aspekte einer Liebesgöttin hat, von Baal noch einen Stier, den neuen Baal. So ersteht Baal im Zyklus der Jahreszeiten immer wieder neu dank Anat, die Mot trotzt. Im östlichen Mittelmeerraum ist diese Tradition spätestens in hellenistischer Zeit mit dem Schicksal des Geliebten der Aphrodite, Adonis, verquickt worden, doch beschränkte sich der weibliche Part, soweit die Quellen berichten, stärker auf das Klagen. Klage um die Toten und Widerstand gegen den Tod spielen auch in den ägyptischen Osiris-Isis-Mythen eine zentrale Rolle. Osiris wird von seinem Bruder Seth umgebracht. Seine Schwester und Gemahlin Isis sammelt die Leichenteile und empfängt vom Toten noch einen Sohn und Rächer, den Horus, der dem Leben gegen die Gewalt und Zerstörungskraft Seths wieder zum Durchbruch und zum Sieg verhelfen kann. Vom 13. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. wird in ägyptischen Osiriskapellen diese Zeugung des Horus dargestellt, wie auf der berühmten Darstellung aus dem P34F
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Vgl. John F. HEALEY, „Mot“, in Dictionary of Deities and Demons in the Bible (hg. v. Karel van der Toorn et al.; Leiden: Brill, 21999), 598–603. Vgl. Izak CORNELIUS, The Iconography of the Canaanite Gods Reshef and Ba‘al: Late Bronze and Iron Age I Periods (c 1500–1000 BCE) (OBO 140; Fribourg: University Press und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994). Vgl. Silvia SCHROER, „Liebe und Tod im Ersten (Alten) Testament“ in Liebe und Tod: Gegensätze – Abhängigkeiten – Wechselwirkungen (hg. v. Peter Rusterholz und Sara M. Zwahlen; Bern: Haupt Verlag, 2006), 35–52.
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Totentempel Sethos’ I. in Abydos (Abb. 44). So siegt das Leben über den Tod dank Isis. Dass die Klagefrauen Isis und Nephthys in Palästina/Israel bekannt waren, bezeugen Bilddokumente aus Lachisch und Samaria (vgl. oben). Die Vorstellung, dass weibliche Erotik auch die Toten wieder mit Leben anzustecken vermag, dürfte aber gemeinorientalisch und sehr alt sein. Erotische nackte Frauenfigürchen gibt es im Alten Orient seit dem Neolithikum, und zwar in weit größerer Zahl als männliche Figürchen. Bisweilen werden vor allem Terrakotten auch in Gräbern gefunden, direkt bei den Toten, denen sie vielleicht einen Hauch pulsierenden Lebens vermitteln sollten. 38 Abb. 44: Bemaltes Kalksteinrelief aus Abydos (1290–1279 v. Chr.). Isis steht in Frauengestalt zu Häupten des verstorbenen Osiris, der auf der Totenbahre liegt. In Gestalt eines Falkenweibchens empfängt sie, auf dem Phallus des Osiris sitzend, den Horus. Der Falkenköpfige zu Füßen des Osiris repräsentiert den bereits erwachsenen Horus. Die Göttinnen Isis und Nephtys sind zudem in Falkengestalt links und rechts zu sehen. [SCHROER, IPIAO 3, No. 801]
Die liebenden Göttinnen, die dem Tod die Stirn bieten, werden in der erzählenden Literatur Israels durch irdische Frauen abgelöst, die es mit dem Tod in seinen verschiedenen Facetten aufnehmen. So kämpfen Frauen, manchmal auf recht riskante und sogar anstößige Weise, um die Weitergabe des Lebens (die Töchter Lots in Gen 19,30–38; die kinderlose Witwe Tamar in Gen 38; Rut und Noomi im Buch Rut). Daneben gibt es eine Fülle von Geschichten, in denen Frauen sich als Schützerinnen und Retterinnen des Lebens auszeichnen (Michal in 1 Sam 19,8–17; Abigajil in 1 Sam 25; die weise Frau von Abel-bet-Maacha in 2 Sam 20,14–22). Auch die Hebammen Schifra und Pua (Ex 1,15–22), und viel später Ester und Judit sind solche todesmutigen Retterinnen des ganzen Volkes. Still, aber eindrücklich und wirksam ist das Zeugnis von der Liebe der Rizpa, die Tag und Nacht die wilden Tiere von den unbestatteten Leichen ihrer Söhne vertreibt, die Opfer eines politischen Mordes wurden (2 Sam 21,8–14).
4. Göttinnen als Vorbilder der (personifizierten) Weisheit Die ʤʮʫʧ (griech. ıȠijȓĮ ODW Vapientia) wird in den Weisheitsschriften der nachexilischen Zeit gern personifiziert.39 Sie tritt in verschiedenen Rollen agierend auf, so in der P38F
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Vgl. Othmar KEEL und Silvia SCHROER, Eva – Mutter alles Lebendigen: Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient (Fribourg: Academic Press, 32011). Vgl. Silvia SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut: Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften (Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1996).
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Rahmung des Buches der Sprichwörter (Proverbien), in zentralen Kapiteln des Buches Jesus Sirach und in späten Schriften wie Baruch oder der Sapientia Salomonis. 40 Die ʤʮʫʧ „Weisheit“ ist keine Göttin, weder Verehrung noch Kult sind für sie nachweisbar. Sie entstammt einem monotheistischen, nicht polytheistischen Symbolsystem. Dennoch bezieht sie ihre Bedeutung, auch ihre Anschaulichkeit, ihre Farben und Konturen von den Göttinnen der polytheistischen Umwelt Israels. Besonders grundlegend ist die Verwandtschaft zwischen der ägyptischen Maat-Theologie und der israelitischen Weisheitstheologie. Die ägyptischen Konzeptionen von Maat, der „rechten Ordnung“, sind in Texten wie in Bildern umfassend dokumentiert. 41 Die Weisheit des Ersten Testaments ist wie die ägyptische Göttin Maat von der Idee einer umfassenden gerechten Ordnung und dem Tun der Gerechtigkeit nicht zu trennen. Die ʤʮʫʧ ist Prophetin und Lehrerin der Gerechtigkeit; das Studium der Weisheit dient der ʤʷʣʶ „Gerechtigkeit“, ja die Weisheit ist so etwas wie die Innenseite der Gerechtigkeit. Die Einleitung zum Buch der Sprüche beginnt mit Versen, die genau diesen Zusammenhang von Weisheit, Gerechtigkeit, Recht und Geradheit (Spr 1,2f.) herstellen. In der Rede der ʤʮʫʧ in Spr 8,1–21 kommt die Wurzel ʷʣʶ nicht weniger als fünfmal vor (V. 8.15.16.18.20). Auch das Buch der Weisheit setzt den Appell zur Gerechtigkeit programmatisch an den Anfang (Weish 1,1). Der israelitische Begriff ʤʷʣʶ setzt den Akzent auf den sozialen Aspekt der Gerechtigkeit. Die ägyptische Vorstellung von Maat ist weiter gefasst und impliziert auch die kosmischen und natürlichen Ordnungen, weshalb man ihr Bild im Zusammenhang von Musik, Richteramt, Totengericht und Kult antreffen kann. Die ʤʮʫʧ wendet sich mit ihren Appellen besonders an die Mächtigen: Durch mich regieren die Könige und entscheiden die Machthaber, wie es Recht ist. Durch mich versehen die Herrscher ihr Amt, die Vornehmen und alle Verwalter des Rechts. (Spr 8,15f.)
Zum Tun der Gerechtigkeit sind zwar alle Menschen aufgerufen, aber der Herrscher hat eine besondere Aufgabe, für Recht und gerechte Ordnung einzutreten (Abb. 45), sie zu stärken und zu verteidigen und sich damit als Sohn Gottes zu erweisen, der diese Weltordnung (hebr. ʤʮʫʧ oder ʤʶʲ) geschaffen hat und daher nach Ijob 28 der Einzige Abb. 45: Skarabäus vom Tell el-Aggul (1390–1353 v. Chr.). Der Thronname Amenophis’ III., des Vaters Echnatons, beinhaltet das Bild der sitzenden Göttin Maat mit der Feder auf dem Kopf und einem Lebenszeichen (Anch) auf ihren Knien. Der Name des Königs „Herr der Maat ist der Sonnengott“ ist eine programmatische Bekräftigung, dass der König durch seine Regierung die gerechte Ordnung (Maat) des Sonnengottes Re respektiert und in Kraft setzt. [SCHROER, IPIAO 3, No. 693]
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Vgl. den Beitrag von Gerlinde Baumann in diesem Band. Vgl. das grundlegende Werk von Jan ASSMANN, Ma‘at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten (München: Beck, 1990).
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ist, der den Weg zur verborgenen Weisheit kennt. Der Maat, die in der Sonnenbarke vor Re-Harachte sitzt oder steht (Abb. 46), entspricht der biblische Gedanke von der Gerechtigkeit, die vor JHWH einhergeht (Ps 85,14). Während in Ägypten die kultische Darbringung der Maat durch den König (Abb. 47) als wirksames Ritual zur Sicherung von Recht und Ordnung galt, findet sich in den biblischen Traditionen, sowohl den prophetischen als auch den weisheitlichen (z. B. Ps 50), eine starke Abwertung der kultisch-magischen „Darbringung“ von Gerechtigkeit zugunsten des EthischReligiösen (Ps 40,7–11; 50,14f.; 51,18f.; 69,31f.). Der König und der Mensch allgemein können nach dem Verständnis biblischer VerfasserInnen die Gerechtigkeit JHWHs nicht mehren, weil dieser sie schon vollumfänglich besitzt (Ps 36,7.11; 48,11f.; 85,11.14; 89,17). Der König empfängt vielmehr von JHWH Gerechtigkeit (Ps 72,1f.) und gelobt, an der göttlichen Gerechtigkeit festzuhalten (Ps 101).
Abb. 46: Pektoral (Brustschmuck) des Königs Scheschonk II. aus Tanis (10. Jh. v. Chr.). Zusammen mit der Göttin Hathor schützt Maat (rechts mit der Straußenfeder) die Sonnenscheibe in ihrer Barke. Zugleich steht sie innerhalb der Sonnenscheibe anbetend vor dem thronenden Sonnengott Amun-Re. [KEEL/SCHROER, Schöpfung, Abb. 167]
Abb. 47: Reliefszene auf einer Sandsteinsäule aus dem Tempel Sethos’ I. in Abydos (1290–1279 v. Chr.). Der König bringt die sitzende Figur der Göttin Maat auf seiner Hand dem Gott Ptah dar, der in einer Kapelle steht. [SCHROER, IPIAO 3, No. 720]
Der Text, in welchem die mythologischen Eierschalen der personifizierten Weisheit noch am deutlichsten zu erkennen sind, ist Spr 8,22–31. Zur Legitimation ihrer göttlichen Autorität erzählt die ʤʮʫʧ hier von ihren Uranfängen und ihrer den Schöpfergott beglückenden Präsenz bei der Erschaffung der Welt. Die Ich-Rede der Weisheit ist als literarische Textgattung vor allem von ägyptischen Götterreden beeinflusst, sie ähnelt im Ton auch späteren hellenistischen Aretalogien. Othmar Keel hat als erster den ikonographischen Hintergrund der vor JHWH scherzenden, Späße machenden Weisheit
Altorientalische Bilder als Schlüssel zu biblischen Metaphern
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Abb. 48: Altsyrisches Rollsiegel (1850–1750 v. Chr.). Eine nackte Göttin entschleiert sich, möglicherweise tanzend, vor dem Wettergott. Dieser schreitet über Bergkuppen, während die Göttin ihm auf seinem Attributtier, dem Stier, entgegentritt. Verehrerprozessionen begleiten die sakrale Begegnung, die das Gedeihen von Pflanzen, Tieren und Menschen im Land gewährleistet. Gegenüber den ägyptischen Göttinnen, die nicht tanzend dargestellt sind, haben die älteren syrischen Göttinnen, die in Palästina/Israel ikonographisch in den besonderen Typ der Zweiggöttinnen einmündeten, ein starkes Sex-Appeal und werden in Aktion, beim sich Entschleiern und wohl auch Tanzen, vor einem Fürsten oder Gott repräsentiert. [KEEL/ SCHROER, Schöpfung, Abb. 89]
erkannt und beschrieben. 42 Es sind lebensbejahende, muntere Göttinnengestalten wie die ägyptische Hathor, 43 aber auch die älteren syrischen Göttinnen, die hier Patin standen (Abb. 48). Der biblische Text zeichnet die ʤʮʫʧ in den Farben dieser Göttinnen als Gegenüber des Schöpfergotts Israels. Schöpfung ereignet sich hier, ganz anders als in Gen 1–2, in Beziehung. Wenn die Weisheit in der Sapientia Salomonis mit dem einschlägigen griechischen Wort als Paredros („Throngenossin“) des Gottes Israels bezeichnet wird, so ruft eine solche Betitelung polytheistische Bilder von göttlichen Paaren wach (Abb. 49): Die Menschen hast du mit Hilfe der Weisheit erschaffen. ... Gib mir die Weisheit, die neben dir auf dem Thron sitzt, und verstoße mich nicht aus der Schar deiner Kinder. (Weish 9,2.4)
Das Buch der Weisheit (Sapientia Salomonis) bezieht sich literarisch, wie von verschiedenen AutorInnen nachgewiesen wurde, auf die Isis-Verehrung im griechisch geprägten Ägypten des Hellenismus und der beginnenden Römerzeit. Isis ist jedoch in ihrer Mutterrolle (vgl. oben zu Isis und dem Horuskind) und anderen Aspekten ikonographisch viel stärker präsent als in ihrer Rolle als regierende Gattin, sie ist wohl kaum die Paredros (Throngenossin), an die in Weish 9 gedacht wird. 42
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Othmar KEEL, Die Weisheit spielt vor Gott: Ein ikonographischer Beitrag zur Deutung des meVDۊäqät in Sprüche 8,30f. (Freiburg CH: Universitätsverlag und Göttingen: Vandenhoeck ʔ ʮʍ ) bezieht sich auf ein Scherzen & Ruprecht, 1974). Das hebräische Wort meVDۊäqät (ʺ ʓʷʓʧˈ oder Possenreißen, das jemanden zum Lachen bringt oder einfach erfreut. Es ist dasselbe Wort, das beim kultischen Tanz Davids vor der Lade in 2 Sam 6,5.21 zur Anwendung kommt. ʷʧˈ bedeutet nicht „spielen“ im Sinn des Spielens eines Kindes, eher ein spielerisches, vergnügtes Scherzen, Kokettieren, Springen oder Tanzen. Dass das Wort erotisch konnotiert sein kann, beweist in 2 Sam 6,20 die Reaktion Michals, die Davids Sprünge für beschämend hält. Anders Gerlinde Baumann im vorliegenden Band, S. 62. Von Hathor wird im ägyptischen Mythos „Streit zwischen Horus und Seth“ (TUAT III, 938) erzählt, dass sie den ermüdeten und alternden Schöpfergott Re durch ihren erotischen Tanz wieder zu Kräften brachte.
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Silvia Schroer
Abb. 49: Relief an der Westwand der großen Hypostylenhalle im Amun-Tempel von Karnak. Mut und Amun-Re thronen gemeinsam in einer Kapelle, vor ihnen Ramses II. (1279–1213 v. Chr.). [NELSON, The Great Hypostyle Hall, Pl. 39]
Weibliche Symbole und Metaphern im Psalter Donatella Scaiola Päpstliche Universität Urbaniana, Rom (Italien)
1. Einführung Im Alten Testament gibt es viele weibliche Symbole und Metaphern, das gilt insbesondere für den Psalter. Wir stellen die Hypothese, die dieser Untersuchung zugrunde liegt, an den Anfang. Für den Moment hat sie heuristischen Wert: Sie muss durch die Analyse der Texte verifiziert werden. Die weibliche Symbolik innerhalb des Psalters wird allgemein mit einer positiven Wirklichkeit assoziiert. Im Unterschied zu anderen Weisheitsbüchern, wie z. B. dem Buch der Sprichwörter, kommen im Psalter keine weiblichen Figuren vor, die doppeldeutig oder problematisch sind, wie die Ehebrecherin, die Götzenanbeterin oder die Verführerin. Und frauenfeindliche Züge wie z. B. in Ijob 2,9–10 oder Koh 7,26 sind gar nicht zu verzeichnen (zusätzlich könnte auch Tob 2,14 genannt werden, auch wenn diese Schrift nicht im hebräischen Kanon vorhanden ist).1 Titel und Untertitel des vorliegenden Beitrags definieren den Textbereich und grenzen ihn ein. Er umfasst den Psalter im Allgemeinen und die genauere Analyse einiger Texte daraus im Besonderen. Die Begrenzung, wie man sich leicht vorstellen kann, liegt darin begründet, dass eine solche Darstellung keine Vollständigkeit beansprucht, sondern eher sinnbildlichen Charakter hat. Im begrenzten Umfang dieses Beitrags ist es tatsächlich nicht realistisch, alle infrage kommenden weiblichen Symbole und Metaphern abschreiten zu wollen, die es im Psalter gibt. Es ist jedoch möglich, einige signifikante Beispiele unter die Lupe zu nehmen, um die aufgestellten heuristischen Hypothesen unseres Beitrags zu überprüfen. Zwei Metaphern, die einen hohen symbolischen Wert haben, werden auf den folgenden Seiten entwickelt: Die Metaphern der Mutter und der Stadt. Diese sind zum Teil miteinander verknüpft, zum Teil überschneiden sie sich auch in den untersuchten Psalmen. Am Ende der Analysen stellen wir abschließende Überlegungen theologischer Art vor. Was schließlich die angewandte Methode betrifft, möchten wir von Anfang an klarstellen, dass unsere Untersuchung kanonischer Art ist und also auf synchroner Ebene erfolgt. Wir gehen also von der Endgestalt des Psalters aus und respektieren den Masoretischen Text, indem wir, in den Grenzen des Möglichen, keine Textkorrekturen oder Hypothesen zur Redaktionsgeschichte der Texte vorschlagen.
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Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten von Ijob 2,9–10 vgl. den Beitrag von Christl M. Maier (Abschnitt 2.3), zu Koh 7,26 den Beitrag von Vittoria D’Alario (Abschnitt 2) in diesem Band.
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2. Die mütterliche Metapher: „Vom Schoß meiner Mutter an bist du mein Gott“ In einigen Psalmen wird Gott als Mutter dargestellt 2 oder jedenfalls mit der Geburt eines Individuums und den sukzessiven Phasen des Aufwachsens verbunden. Die im Folgenden analysierten Texte sind, der Reihe nach, Ps 139,13–16; 22,10–12; 131,1–2; 71,5–9.17–18. 2.1 Ps 139,13–16: Schwangerschaft und Geburt 3 In vielen Texten 4 reflektiert die Bibel die Phase, die der Geburt vorangeht, die pränatale Zeit, und legt nahe, dass die Annahme der eigenen Person als Geschöpf, das von Gott geformt ist, in Beziehung steht zur Annahme als Kind, das im Mutterleib getragen wurde. Es handelt sich nicht um zwei, sondern um eine einzige anthropologische und spirituelle Erfahrung, deren besonderes Charakteristikum darin besteht, dass wir uns als Geschöpfe erkennen, die ihr Leben nicht sich selbst verdanken, es nicht autonom erschaffen und das wir vielleicht nicht einmal gewollt haben. Uns darin wiederzuerkennen und als Kreatur sowie als Kind anzunehmen, das sind jedoch keine verschiedenartigen Erfahrungen; beides ist vielmehr Ausdruck desselben Gewahrseins, das auch Entrüstung hervorrufen könnte. Diese kann jedoch in einem Prozess des vertrauensvollen Loslassens überwunden werden. In Ps 139 wird ein Weg vorgezeichnet, der von der Entdeckung Gottes als allwissendem (V. 1–6) und allgegenwärtigem (V. 7–12) Schöpfer ausgeht, vor dem die betende Person zu fliehen sucht, indem er oder sie Fluchtwege testet, die gerade bis an die Grenze der Selbst-Vernichtung führen.5 Die betende Person kommt schließlich
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Eine Analyse der verschiedenen Psalmen, die sich damit auseinandersetzen und dieses Thema weiterentwickeln, kann man bei Marianne GROHMANN, Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen (FAT 53; Tübingen: Mohr Siebeck, 2007) finden. Für die Vertiefung des Diskurses verweisen wir auf dieses Werk. Vgl. Marianne GROHMANN, Fruchtbarkeit und Geburt, 27–50. In der Ausarbeitung dieses Teiles beziehen wir uns v. a. auf Roberto VIGNOLO, „Il legame più complesso: Luci e ombre delle relazioni parentali nella Bibbia“, in Genitori e figli nella famiglia affettiva (hg. v. Giuseppe Angelini; Disputatio; Milano: Glossa, 2002), 147–215. Vgl. in geringerem Maße Roberto VIGNOLO und Laura GIANGRECO, „Paternità e maternità“, in Temi teologici della Bibbia (hg. v. Romano Penna et al.; Dizionari San Paolo; Cinisello Balsamo: Edizioni San Paolo, 2010), 980–985. Ps 139,11 „Spräche ich: Finsternis breche über mich herein, und Nacht sei das Licht um mich her“, beschreibt einen Versuch, zum ursprünglichen Chaos zurückzukehren und die Ordnung der Schöpfung umzuwerfen, indem die Trennung von Licht und Dunkel beseitigt wird (Gen 1,2–3). Dabei werden Begriffe verwendet, die z. B. an die Erfahrung von Ijob 3 erinnern.
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soweit, ihre Gottesbeziehung wieder aufzunehmen und gewinnt so ihren eigenen ursprünglichen kreatürlichen Zustand zurück. Der Text lautet: 6 13 Denn du bist es, der meine Nieren geschaffen 7, der mich im Leib meiner Mutter gewoben 8 hat. 14 Ich preise dich, dass ich so herrlich, so wunderbar geschaffen bin; wunderbar sind deine Werke, meine Seele weiß dies wohl. 15 Mein Gebein war dir nicht verborgen, als ich im Dunkeln gemacht wurde, kunstvoll gewirkt 9 in den Tiefen der Erde. 16 Noch bevor ich geboren war 10, sahen mich deine Augen, in deinem Buch war alles verzeichnet, die Tage waren schon geformt, als noch keiner von ihnen da war. 11
Wie auch in anderen Texten (Ijob 10,8–11; Jer 1,5) wird das Leben im Mutterleib mit einem Gefühl der Bewunderung beschrieben und als außerordentliches göttliches Werk anerkannt. Es wird im Verborgenen vollbracht, im Mutterleib, der mit ‚Mutter Erde‘ parallelisiert wird (139,13.15). Um dieses göttliches Werk zu beschreiben, verwendet 6
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Soweit nicht anders vermerkt, folgen alle deutschen Bibelzitate der Übersetzung der Zürcher Bibel 2007, wobei das Tetragramm durch JHWH angezeigt wird. Vergleiche das Verb ʤʰʷ im Hebräischen, das eine doppelte Bedeutung hat: „erwerben, besitzen“ und „formen, schaffen, erzeugen“ (Gen 4,1; 14,19.22; Ex 15,16; Dtn 32,6; Spr 8,22; Ps 78,54 u. a.). Das Verb wird mit verschiedene Subjekten verwendet (Gott, der Mensch), unter ihnen Eva in Gen 4,1. Das Verb ʪʫʱ bedeutet „weben“ und „schützen“ und formt ein Wortspiel, das nicht übersetzt werden kann, jedoch vom theologischen Gesichtspunkt her viel wirkungsvoller ist, da es Schöpfung und Vorsehung untrennbar miteinander verbindet – und dies „seit dem“ Mutterleib (indem der Präposition ʡ die Bedeutung „von“ zugeschrieben wird.) Das Verb ʭʷʸ, hier im Pual (Hapaxlegomenon), ist sehr suggestiv, denn es steht für einen Brokatstoff in vielerlei Farben. Vgl. weitere acht Stellen in Exodus (26,36; 27,16; 28,39; 35,35; 36,37; 38,18.23; 39,29), hier in einem sakralen Kontext – es wird auch zur Beschreibung des Vorhangs vor der Bundeslade verwendet (Ex 26,36). Das Wort ʩʮʑ ʬʍ ˏʕ ist ein Hapaxlegomenon, das auf verschiedene Weise übersetzt wurde. Es ruft etwas Aufgerolltes hervor (2 Kön 2,8 – das ist das einzige Mal, dass die Wurzel ʭʬʢ vorkommt), von dem man vielleicht die gängige Bedeutung von „Embryo“ ableiten kann, das demnach etwas Gerolltes, Zusammengeklebtes wäre. Es könnte nützlich sein im Vergleich zu dem sehr ähnlichen Text Ijob 10,8–11, in dem vom Formen des Menschen gesprochen wird – die Metapher der Verdichtung der Milch, die zu Käse gerinnt, wird dabei verwendet. Die Übersetzung von Ps 139,6 könnte so heißen: „Meinen Embryo sahen deine Augen.“ Auch dieser Teil des V. 16 ist problematisch, da er wörtlich besagt: „In deinem Buch sind all jene (also „die Tage“) aufgeschrieben, die Tage sind geformt und nicht einer in ihnen.“ Natürlich wurde eine Vielzahl von Textänderungen vorgeschlagen. Das Bild des göttlichen Buches wiederholt sich mit einer gewissen Häufigkeit in der Schrift, z. B. in den folgenden Texten: Ps 56,9; 69,29; 87,6 (in diesem Fall haben wir die Verbform gewählt zum Übersetzen, nicht das Substantiv).
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der/die Betende eine kunsthandwerkliche Metapher, das Weben eines Tuches (139,13.15), und nimmt Bezug auf das Buch Gottes als Buch des Lebens (139,16). JHWH „webt“ die inneren Organe des Menschen (die Nieren 12, die Knochen) und verziert sie dann (nur hier hat das Verb Gott zum Subjekt). Hier kommt die Vorstellung einer besonderen Aufmerksamkeit zum Vorschein, die Gott jedem einzelnen Menschen vorbehält, obwohl auch eine Serienproduktion vorstellbar wäre. Das umfasst eine behutsame Behandlung, die die individuellen Charakterzüge würdigt (die verschiedenen Farben, aus denen das Gewebe gefertigt ist). Als Schöpfer „kennt“ Gott sein Geschöpf schon vor dem ersten Augenblick seines Lebens (139,14–16; vgl. Jes 44,2.24; 49,1.5; Jer 1,5). Folglich bedeutet die Tatsache, dass wir empfangen und im Mutterschoß geformt wurden, zugleich, dass wir Gott bekannt sind, noch bevor wir ihn kennen. Dennoch ist es, als wäre diese Urerfahrung, an die wir keine Erinnerung behalten, in unsere Gene eingeschrieben. In Momenten der Angst, die das ursprüngliche Gute der menschlichen Existenz infrage zu stellen scheinen, ist es nötig, dahin zurückkehren oder auch, weniger dramatisch, in verschiedenen Lebensphasen. Das Leben besteht demnach aus einem Teil, der für uns unsichtbar ist, kurz zwar, doch gleichermaßen real – wie es die betende Person in den untersuchten Versen beschrieben hat – charakterisiert durch die vorausschauende und schöpferische Sorge Gottes. Der andere Teil des Lebens ist uns zugänglich; er ist länger und oft leidvoll, wie Ps 22, unser zweiter Beispieltext, deutlich macht. 2.2 Ps 22,10–11: Geburt als Initiation in das Vertrauen Auch in Bezug auf Ps 22 werden wir nur einige Verse des ersten Teiles betrachten (V. 2–12). Dieser eröffnet (V. 2–3) und schließt (V. 11b–12a) mit einer Anrufung Gottes („mein Gott“; hebräisch ʩʑʬʠʒ ), die mit der Wurzel ʷʧʸ „weit weg zu sein“ (V. 2.12) verbunden wird. In diesem Psalm versucht der/die Betende, der bzw. die sich von Gott verlassen und vom Volk ausgeschlossen fühlt, den Kontakt mit Gott wiederzufinden, indem er/sie die Urerfahrung des Vertrauens zurückgewinnt, die im vorhergehenden Beispiel beschrieben wurde. Um die Gegenwart zu bewältigen, in der Gott weit entfernt scheint und taub gegenüber dem eigenen Schrei (22,2–3), versucht der/die Betende in erster Linie, sich die kollektive Erfahrung des Vertrauens wieder anzueignen, wie es auch die Väter
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Nach der biblischen Anthropologie sind die Nieren mit den Gefühlen und den Leidenschaften verbunden; oft werden sie zusammen mit dem Herzen erwähnt (Ps 7,10; 26,2; 73,21). Vgl. Silvia SCHROER und Thomas STAUBLI, Die Körpersymbolik der Bibel (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998), 77–78.
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und Mütter während des Exodus getan hatten (22,5–6). 13 Damals hatten die Vorfahren auf Gott vertraut, ihn angerufen und wurden gerettet. Der/die Betende bezieht sich nicht auf „meinen Vater“, sondern erinnert an „meine Mutter“ in V. 10 und 11. 14 Indem er „unsere Väter und Mütter“ erwähnt, verwurzelt er/sie die Bitte in der Gemeinde und in der Geschichte des Volkes. Der Versuch der betenden Person scheint jedoch von Misserfolg gekrönt, da sie als „Wurm“ behandelt wird, nicht mehr als Mensch (22,7–9). Um eine Ebene des Vertrauens zurückzugewinnen, die noch ursprünglicher ist als die ihres Volkes, geht die betende Person von Gott als Retter zu Gott als Mutter über. Die V. 10–11 können so übersetzt werden: 15 10 Du bist es, die mich aus dem Schoß herauswarf 16 und mich an der Brust meiner Mutter gelehrt 17 hast, mich anzuvertrauen. 11 Bei meiner Geburt hast du mich aufgefangen 18, vom Schoß meiner Mutter an bist du mein Gott.
Anders als in der bereits fernen Geschichte der Vorfahren wurzelt die Beziehung zwischen dem/der Betenden und Gott in der Rolle, die JHWH im Moment der Zeugung eingenommen hat. 19 In V. 10–11 ist JHWH das Subjekt von vier Verben, die ihn in Beziehung zur Mutter und zu seinem Geschöpf stellen. Es wurde bereits gesagt, dass das Hapaxlegomenon ʩʑʧ௴ˏ auf die Wasser anspielt, die aus dem Uterus hervorbrechen, und damit auf die Wehen. Die betonte Wiederholung des Personalpronomens „du“ (ʤʺʠ) scheint außerdem vom grammatikalischen Gesichtspunkt her notwendig. Zu Beginn von V. 10 und am Schluss von V. 11 werden Gott dadurch Handlungen zugeschrieben, die ihn zum Initiator des Lebens des/der Betenden machen. Ihm wird eine elterliche Funktion zugeschrieben, die noch tiefgreifender als die menschliche ist, nämlich väterlich und mütterlich zugleich. 20 Eine solche P19F
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Es gibt insgesamt etwa 53 Bezugnahmen auf „unsere Väter und Mütter“, die für die Erzeltern und die Generation stehen, die den Exodus erlebt haben, mit besonderer Hervorhebung der Landverheißung und des Bundes (Num 36,3.4; Dtn 5,23; 6,23; 26,3.7.15; u. a.). Vgl. Marianne GROHMANN, Fruchtbarkeit und Geburt, 52–69. Es folgt die Übersetzung der Autorin, ins Deutsche übertragen. Der hebräische Begriff ʩʑʧ௴ˏ ist ein Hapaxlegomenon, das entweder von der Wurzel ʤʧʢ „ziehen“ oder von ʧʩʢ „herausfließen, herausschreien“ abgeleitet werden kann. Das seltene Vorkommen der zweiten Wurzel (Ri 20,33; 2 Sam 2,24; Ijob 38,8; 40,23; Mi 4,10) scheint den – mitunter reißenden – Fluss der Wasser anzudeuten und so auf Wehen und Geburt anzuspielen. Vgl. im Hebräischen das Partizip Hifil von der Wurzel ʧʨʡ, das im Kontext ingressive Bedeutung annehmen kann. Wörtlich kann man übersetzen: „Auf dich wurde ich aus dem Bauch geworfen.“ Für eine Vertiefung dieses Punktes verweisen wir u. a. auf Alessandro CAVICCHIA, Le sorti e le vesti: La „Scrittura“ alle radici del messianismo giovanneo tra re-interpretazione e adempimento: Sal 22 (21) a Qumran e in Giovanni (Tesi Gregoriana; Serie Teologia 81; Roma: Editrice Pontificia Università Gregoriana, 2010). Natürlich stimmen nicht alle AuslegerInnen mit dieser Deutung überein. Für einige könnte das folgende Zitat gelten: „Wenn man sagen würde, dass Gott als eine Hebamme handelt,
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Idee wird in V. 11 nahegelegt, der mit dem Ausdruck ʪʩʬʲ, „auf dich“ eröffnet und mit dem Glaubensbekenntnis des Betenden, „du mein Gott“ (ʤʺʠʩʬʠ) schließt. Das Vertrauen, das das Neugeborene im Arm der Mutter gewinnt, wird mit den Erfahrungen der Väter und Mütter beim Exodus parallelisiert; die Wiederholung des Verbs ʧʨʡ „vertrauen“ in den V. 5–6.10 macht das deutlich. Gott ist in doppelter Weise die Hauptfigur bei der Entstehung des/der Betenden: Er hat zuerst die Vorfahren vor dem Tod bewahrt und ist im Folgenden dann zum Subjekt bei der Geburt des/der Betenden geworden. Nachdem er die Urerfahrung des Vertrauens zurückgewonnen hat, fühlt sich der/die Betende durch die Beziehung zu Gott innerlich gestärkt, die ihm/ihr erlaubt, der beängstigenden Lage, in der er/sie sich befindet, entgegenzutreten und sie zu überwinden. 2.3 Ps 131,1–2: Die Entwöhnung Der nach Schwangerschaft und Entbindung als nächstes folgende Schritt ist die Entwöhnung, die in Ps 131,1–2 beschrieben wird. Darin erscheint das Kind nicht mehr abhängig von der Mutter und ihrer Brust, sondern ist nun schon in der Lage, sie als Gesprächspartnerin zu wählen: 1 JHWH, mein Herz will nicht hoch hinaus, und meine Augen blicken nicht hochmütig, ich gehe nicht mit großen Dingen um, mit Dingen, die mir zu wunderbar sind. 2 Fürwahr, ich habe meine Seele besänftigt und beruhigt; wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter, wie das entwöhnte Kind ist mein Begehren ruhig in mir.
Das Bild, das der Psalm beschreibt, zeigt einen Menschen, der einen Prozess der inneren Einigung vollendet hat, die nicht nur mental ist, sondern den ganzen Körper ins Spiel bringt. Der Weg geht vom Herzen aus, das nachdenkt, und geht weiter zu den Augen, die man sich als eine Art Schwelle zwischen Außen und Innen vorstellen kann. Mit ihnen beurteilt man die Wirklichkeit und bewertet sie, um dann Entscheidungen zu treffen, die mit dieser Einschätzung übereinstimmen. Diesen folgenden Schritt führt der Psalm ein, er wendet sich den Wahlmöglichkeiten des Lebens im Blick auf das eigene Verhalten zu. Man könnte sagen, dass sich in der Sekunde der Beurteilung der Wirklichkeit, die durch die Augen vermittelt wird, verschiedene Stile und Entscheidungen des Lebens entwickeln. Die menschliche Person wird als organisches und harmonisches Ganzes beschrieben, in dem der physische und der psychische Aspekt gut ineinander greifen. Am Ende
dann zieht er das Geschöpf mit Kraft heraus, fast mit Gewalt, legt es friedlich und still hin, damit es Milch aus der Brust seiner Mutter trinken kann, er fängt es auf, als wäre es geworfen worden, ihm zugeworfen“, so Luis ALONSO-SCHÖKEL und Cecilia CARNITI, I Salmi, I (Roma: Borla, 1992–1993), 439. Eine analoge Leseperspektive wird hier von Vignolo und von Grohmann in den bereits zitierten Werken eingenommen.
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des Psalms wird mit der Erwähnung des Begehrens auf den Zielpunkt, die Mitte des Ganzen, hingewiesen. 21 Die Metapher, die der Psalmist in V. 2 verwendet, ist die eines Kindes, das, nachdem es den Prozess der Entwöhnung (mit etwa drei Jahren) abgeschlossen hat, an seiner Mutter ruht. Es bleibt in den Armen der Mutter, nicht weil es dafür eine Notwendigkeit gäbe, sondern weil es in ihr eine Art Ruhe findet. Das Kind ist schon in gewisser Weise unabhängig geworden, sucht jedoch bei der Mutter Ruhe, Schutz und Frieden. Gott wird hier mit einer Mutter verglichen, auf die sich der Weg der Suche und der inneren Einigung des/der Betenden richtet. 2.4 Ps 71,5–9.17–18: Rückblick auf das eigene Leben im Alter Psalm 71 gehört zur Komposition Ps 70–72, in der die Ps 70–71 eine einzige Einheit anthologischen 22 Typs bilden, sie werden durch einen Refrain charakterisiert, der mit leichten Variationen dreimal wiederholt wird: „In Schmach und Schande sollen geraten, die mir nach dem Leben trachten, es sollen zurückweichen und sich schämen, die mein Unglück wollen“ (Ps 70,3; 71,13.24b). Die Originalität von Ps 71 besteht darin, dass er einer alten Person eine Stimme verleiht: 5 Denn du bist meine Hoffnung, Herr, JHWH, mein Gott, meine Zuversicht von Jugend an. 6 Auf dich habe ich mich verlassen vom Mutterleib an, vom Schoß meiner Mutter hast du mich getrennt, dir gilt mein Lobpreis allezeit. 9 Verwirf mich nicht in der Zeit des Alters, wenn meine Kraft schwindet, verlass mich nicht. 21
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So übersetzen wir den Begriff ˇʓʴʓʰ, der so viele Bedeutungen hat und dem sehr viel Literatur gewidmet wurde. Wenn wir uns auf einige grundlegende Beobachtungen beschränken, können wir feststellen, dass der erste semantische Bereich sehr konkret ist: Denn ˇʓʴʓʰ bedeutet „Hauch, Atem, Kehle, Rachen“ etc. Mit diesem Wort bezieht man sich oft auf den ganzen Menschen und betrachtet ihn als lebendiges Wesen, das atmet. Denn häufig bedeutet der Ausdruck „meine ˇʓʴʓʰ“ schlichtweg „ich“. Der Begriff hat außerdem verschiedene metaphorische Bedeutungen wie Gier, Verlangen, Anmaßung, und kann in einigen Fällen die hier übersetzte Bedeutung „Begehren“ annehmen. In den modernen Übersetzungen wird ˇʓʴʓʰ im Allgemeinen mit „Seele“ wiedergegeben, aber das ist insofern keine glückliche Übersetzung, als sie nicht der biblischen Anthropologie entspricht, in der nicht zwischen dem (sterblichen) Körper und der (unsterblichen) Seele unterschieden wird, weil die menschliche Person als Ganzheit aufgefasst wird. Um diese allzu schematischen Bemerkungen zu vertiefen, verweisen wir (in chronologischer Reihenfolge) auf Claus WESTERMANN, „ˇʓʴʓʰ, QǙpæš“, THAT II (1976): 71–96; Horst SEEBASS, „ˇʓʴʓʰ, næpæš“, ThWAT V (1986): 531–555 und die dort aufgelistete Literatur sowie auf SCHROER und STAUBLI, Körpersymbolik der Bibel, 61–73. Jean-Marie AUWERS, La composition littéraire du Psautier: Un état de la question (Paris: Gabalda, 2000), 103 und 136.
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17 Gott, du hast mich gelehrt von Jugend an, bis heute verkünde ich deine Wunder. 18 Auch bis ins hohe Alter, Gott, verlass mich nicht, damit ich der Nachwelt deine Taten verkünde, allen, die noch kommen werden, deine Macht.
In diesen Versen spürt man das Echo von Ps 22, in dem, wie wir gesehen haben, die Erinnerung an die eigene Geburt den Ausgangspunkt des Gebets bildete. Im vorliegenden Text jedoch nimmt diese Erinnerung die Perspektive einer vollständigen Neulektüre ein, einer Neuauslegung der eigenen Existenz ausgehend vom Alter. Der Ton dieses Psalms ist weniger verängstigt als der von Ps 22, ist aber besonders interessant, da er das einzige Beispiel dieser Art innerhalb des Psalters ist. Der/die Betende, nun am Ende seines/ihres Lebens angelangt, kann bestätigen, dass Gott sein/ihr ganzes Leben lang eine Zuflucht gewesen ist, ein wesentlicher Bezugspunkt, noch tiefgreifender als die Bindung, die im Allgemeinen für grundlegend gehalten wird – die zu den eigenen Eltern. 2.5 Zum Schluss Die Psalmen, die hier kurz bedacht wurden, haben uns erlaubt, den Weg von Zeugung, Geburt, Aufwachsen nachzuzeichnen – bis dahin, dass Gott durch mütterliche Metaphern, bzw. allgemeiner durch Fortpflanzungsmetaphern, repräsentiert wird. Auf diesem Weg, der zugleich menschlich und spirituell ist, fördert Gott-Mutter die fortschreitende Emanzipation ihres Geschöpfs, ohne es in einer verschmelzenden oder narzisstischen Weise an sich zu binden, fördert dessen Freiheit und Autonomie (Ps 131,1–2). Dieser Weg ist kein Sprung ins Dunkle und wird auch nicht als Geworfensein ins Leere beschrieben. Er wurzelt vielmehr in einer echten Urerfahrung, auch wenn wir davon keine Kenntnis haben: der Urerfahrung, dass Gott uns kennt, schon bevor wir im Mutterleib gebildet wurden. Eine solche Erfahrung ist das Fundament des Vertrauens des/der Betenden, aus ihr entsteht das Gebet. Sie bleibt sogar im Extremfall wirksam, in dem der natürliche Vater oder die natürliche Mutter ihr eigenes Geschöpf verlassen (Ps 27,10). Die Erinnerung an die eigene Geburt und die damit verbundene Fürsorge werden in jedem Fall zum Halt des Lebens, wie es der oder die inzwischen alt gewordene Betende in Ps 71 bezeugt.
3. Die Stadt als Mutter: „Alle sind dort geboren“ Dieser zweite Teil des Beitrags ist der Illustration einer Metapher gewidmet, die sich von der vorhergehenden unterscheidet und doch mit dieser verbunden ist. Von der individuellen Erfahrung der Erzeugung kommen wir zu der sozusagen universalen Dimension, die mit der „Metropole“ verbunden ist, der Stadt als Mutter aller Völker.
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Dabei handelt es sich um ein Symbol, das im Alten Testament sehr präsent ist und das im Psalter, nämlich in Ps 87, in einer originellen und neuartigen Weise interpretiert wird. 23 Im Unterschied zur Methode, die im ersten Teil dieses Beitrags angewandt wurde, untersuchen wir in diesem Fall ein einziges Beispiel, nämlich Ps 87, den wir für besonders bedeutend halten, auch wenn der Psalm aufgrund seiner Kürze eine Vielzahl textlicher Probleme aufweist, die das Verständnis einiger Begriffe und Verse erschweren. 3.1 Der Text und seine Struktur Wir stellen eine gegliederte Übersetzung des Textes von Ps 87 voran, 24 bevor wir einige Überlegungen theologischer Art anführen. 1 Von den Korachitern. Ein Psalm. Ein Lied. Seine Gründung 26 auf heiligen Bergen 27,
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Vgl. z. B. Jes 49,22; 51,18; 54,1. Vgl. dazu Christl M. MAIER, Daughter Zion, Mother Zion: Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel (Minneapolis: Fortress Press, 2008). Wir haben nicht vor, alle philologischen Probleme des Psalms erschöpfend zu behandeln, sondern präsentieren nur die wichtigsten, um vor allem die vorgeschlagene Übersetzung zu rechtfertigen, auf der die folgenden Überlegungen hermeneutischer Art basieren. Zur Klärung von Fragen zum Text verweisen wir auf die reichhaltige Literatur zu diesem Thema, z. B. auf Gianni BARBIERO, „‚Di Sion si dirà: ognuno è stato generato in essa‘: Studio esemplare del Sal 87“, in Biblical Exegesis in Progress: Old and New Testament Essays (hg. v. Jean-Noël Aletti und Jean-Louis Ska; AnBib 176; Roma: Pontificio Istituto Biblico, 2009), 209–264; Stanislaw B$=